EDUCATION DEF
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Pädagogifde Studien.
Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein.
9, Heft.
Herder als Pädagog.
Dr. Eduard Worres.
Wien und Leipzig.
Verlag von U. Pichler’s Witwe & Sohn.
Buchhandlung für pädagogiiche Literatur und Lehrmittel + Anftalt,
&
EDUCATION
Drud von Fiſcher & Wittig in Leipzig.
1876.
Seinem verehrten Lehrer und Freunde
dem
em Andrens Tontfd
Profeſſor am evangel.fähl. Seminar zu Kronftadt in Siebenbürgen
aus Dankbarkeit zugeeignet.
543301
Inhaltsverzeichniß,
Cinleitung :
B. Serder’s Pädagogik.
!) Aufgabe der Erziehun;
5) Metbobijche Nachträge und Anjichten über bas — a
6) Die Schulregierung und ihre Mahregeln im Unterricht . 2 2 2020...
LE er ——F—
Einleitung.
Wie body Herder von jeher als Pädagog gefhägt werben, beweilt au
dentlichften der Umſtand, daß er im biefer Beziehung fhon zu wiederholten
Malen zum Gegenftand mehr oder weniger eingehender Unterfuhungen ges
macht worben. Und zwar zunächſt von Raumer in feiner Geſchichte ver
Paädagogik, IL Bd., ©. 267 ff.; ferner von Heiland in Schmid's Ency-
flopädie, ILL Br, ©. 440 ff, dann von demfelben Berfaffer in der Abhaud—
lung „Herder als Ephorus des Gymnaſiums zu Weimar“ in ber Schrift:
„Die Aufgabe des evangelifhen Öymnafiums“, 1860, ©. 238 f.; ferner findet
fih in 9. Sauppe’s „Weimarifhen Schulreden“ (1856) eine aud über
Herder's Berdienfte um das Schulweſen. Endlich bat noch Dr. Renner
„Das Verhältniß Herder's zur Schule” im Göttinger Gymnafialprogramm
1871 dargeftellt. Bei einer fo großen Anzahl von Bearbeitungen follte man
meinen, daß unfer Thema völlig erſchöpft fei und weitere Unterfuhungen
als durchaus überflüffig erfcheinen müßten. Dem ift aber thatſächlich nicht
alſo, wie eine kurze kritiſche Charakteriftif der genannten Schriften ergeben
wird. —
Raumer liefert ein äußerſt knappes Referat über die wichtigſten
pädagogiihen Schriften Herder's und verweift am Schluffe feiner Darftellung
ganz allgemein auf deſſen übrige Werke; dazu fügt er die Bemerkung, es
fei nicht feine Abficht geweſen, „möglichit erfchöpfende Auszüge“ zu geben,
er habe blos fo viel darbieten wollen, „als nöthig, um die Päragogen
unferer Zeit zu reizen, welche bei Ueberfhägung der Gegenwart tieffinnige
u. j. w. Gebanfen früherer großer Geiſter leicht bintanfegen“. Ganz ab-
geſehen von den Schriftflüden, die Raumer gar nicht berüdfichtigt, find nun
die vorliegenden „Ausziige” in der That fo unzulänglich, daß man fih an
Herder felbft wenden muß, um feiner Bedeutung in der Pädagogik inne zu
werden. Raumer verfchweigt mehr als billig if. So tbeilt er uns aus
der — wie ſich zeigen wird — fehr inhalt» und beveutungsvollen, übrigens
in vielen Lefebühern abgedrudten Rede von ver „Annehmlidhleit und Nüglich-
keit des geographiihen Studiums“ blos fo viel mit, daß nad) derſelben vie
Geographie in Verbindung mit der Naturgefhichte die Baſis der Völker—
geihichte bilde. In ähnlicher Weile werben nody andere Neben ganz kurz
abgefertigt, fo daß mitunter nicht einmal die Hauptgedanfen derjelben hervor—
treten. Ein anderer Uebelftand ift der, daß Raumer, ftatt nah fachlichen
Gefihtöpuntten den pädagogiſchen Stoff zufammen zu ftellen, ann
Morres, Herder als Pädagog.
2
vergeht und — abgejehen von vereinzelten unbebeutenren Abmweihungen —
in dronologifher Folge referirt, worurd die völlige Zerfplitterung ver
Sache unvermeiblih geworben ift.
In Heiland's Ariikel in der Schmid'ſchen Enchflopädie hingegen ift
zunädft die jahgemäße Ordnung und Eintheilung wohlthuend ; nit minder
finden wir bier eine vortrefflihe Darlegung der wichtigften Gedanken Her-
der's über das Studium der Griechen und Römer, wie über die Pflege der
Mutterſprache. Es wäre wünfchenswerth geweſen, wenn der Berfafler auch
andere Seiten mit gleiher Ausführlichkeit dargelegt hätte, fo namentlich bie
äußerſt werthuollen Bemerkungen über die Aufgabe und die Mittel der Er-
ziehung, wie über die Gefhichte und Naturkunde, melde Herber in fein
Keifejournal, zum Theil auch in die Humanitätsbriefe eingeftreut hat.
Freilich hat der BVerfafler diefe Schriften von den genannten Gefihtspunften
aus gar nicht zu Rathe gezogen und feiner Darftellung überhaupt faft aus-
ſchließlich die Schulreden zu Grunde gelegt, die allerdings Herber’s päda—
gogifhe Hauptleiftung find, aber nod recht wohl aus jenen andern Schriften
ergänzt werben fönnen. Bei Heiland wie bei Raumer vermifjen wir endlich
ein Eingehen auf die nicht geringen Berbienfte Herber’s um bie Gründung
und Peitung des Weimarer Volksſchullehrerſeminars. Heiland berührt diefen
Gegenftand ganz furz, und Raumer theilt und von den achtzehn Paragraphen
des Entwurfes blos denjenigen mit, der fi auf den Zwed bezieht, weiter
nichts. Selbft E. L. Schweiger giebt uns in feiner fonft dankenswerthen
Jubiläumſchrift: „Geſchichtliche Nachrichten über das Großherzogliche Schul-
lehrerfeminar zu Weimar“ (1838) über die erfte Periode deſſelben, in ber
Herder die Hauptrolle jpielt, nur ungenügende, wenn auch fpeciellere Aus—
funft, ja, es find ihm fogar die erften Anfänge des Seminars, bie ber
eigentlihen Gründung im Jahre 1788 vorangehen, unbekannt geblieben,
obwohl ihrer in den aus jener Zeit ftammenden Oberconfiftorialacten wieder:
holt Erwähnung geſchieht; fie find in Herber’s Entwürfen felbft angedeutet.
Im Eingang der genannten Abhandlung „Herder als Ephorus des
Gymnaſiums zu Weimar“, entrollt uns Heiland ein treues Bild von den
traurigen Schulzuftänden aus ber erften Hälfte des vorigen Jahrhunderts,
aud mit befonvderer Nüdfiht auf das Weimarer Gymnafium, um nachher
Herder’s Bedeutung mit um fo größerem Nachdruck in das rechte Licht ftellen
zu können. Er wird zunächft in feinem perfönlihen und amtlichen Ber-
hältniß zum Gymnaſium vorgeführt. Nah Erörterung des ſchönen Denk—
mals, welches ©. H. v. Schubert feinem großen Meifter im erften Bande feiner
Eelbftbiographie gejegt, lernen wir Herber als Eraminator, Hofpitant, als
gewifienhaften Bertheiler von Stipendien u. f. w. fennen. Auch feine An-
fihten über die Aufgaben des Gymnaſiums finden wir, ähnlich wie in ber
Enchflopädie, in knappen Zügen bargeftelt. Mit Heiland müſſen wir eben-
falls bedauern, daß die das Gymnaſium betreffenden Reformpläne Herder's
verloren gegangen find. Leider haben fich viefelben bis auf den heutigen
Tag nicht gefunden, und nur wenn fie wieder zum Vorſchein fommen, wird
es möglich fein, eine zufammenhängende Gefhichte des Weimarer Gymnaſiums
zu fchreiben, zu welcher die noch in großer Fülle vorhandenen Gymnaſial-⸗
acten aud ein fehr ergiebiges Material liefern würben. Im feinen Wei-
mariſchen Schulreven entwirft ferner Sauppe mit furzen treffenden Worten
eine Charafteriftif von Herder's Wirken und Anfichten in feinem ganzen
Berufsleben, in Wiſſenſchaft, Kirhe und Schule, wobei auf feine pädagogische
Bedeutung bejondere Rüdfiht genommen wird. Das Ganze wird nad) ein-
zelnen Tugenden — wie Energie, Gemifienhaftigfeit und Treue in Amts-
pflihten u. f. f. — dargeftelt. Doch ift die Rede blos eine furze Skizze
und will größere Anſprüche auch gar nicht machen.
Die geiftreic gefchriebene und große Belejenheit verrathende Programm
arbeit von Dr. Renner: „Herder's Verhältniß zur Schule“, betrachtet deſſen
pädagogifche Bedeutung, wie ſchon der Titel andentet, mehr von der äuferen Seite,
ohne in die pädagogiſchen Grundfäge jelbft tiefer einzubringen; was Dr. Renner
in Bezug auf den liefländiſchen Idealſchulplan ziemlih ausführlid vorbringt,
fönnen wir nur als einen guten Anſatz dazu bezeichnen, da er die Schul-
reden, das päbagogifhe Hauptwerk Herder's, nur gelegentlih heranzieht.
Als einen befonteren Vorzug der Renner'ſchen Schrift möchten wir hervor—
heben die Berüdfichtigung von Herder's Verhältnig zu einigen Vorgängern und
Zeitgenoffen. Nach vem VBorgange Hettners fucht Renner namentlich Roufjeau’s
Einfluß auf feine ganze Richtung und auf mande feiner pädagogifhen Grund:
jäge nachzuweiſen; ebenjo werben bier einige wenige Andeutungen gegeben,
wie Herder mit einigen grundlegenden Gedanken gleichgefinnt neben Peftalozzi
und in Beziehung auf die ſchulmäßige Behandlung der altclaffiihen Sprachen
von gleicher Ueberzeugung durhdrungen neben I. M. Gesner fteht; endlich
wird flüchtig berührt, daf er von den „großen Realiſten“ Baco, Montaigne,
Comenius u. a. angeregt worden. Wie bei den Frühern, fo wird auch hier
das Seminar ganz furz berührt. Ob endlich, wie der Verfaſſer mit Heiland
glaubt, Herder's Grundfäge ein Gemeingut unferer Schulen geworben, dürfte
noch fraglih fein; wir erlauben uns zu behaupten und glauben es mit
unferer Darftellung aud beweijen zu können, daß Herber’s Ideal ber öffent-
lihen Schulerziehung in gar mander Beziehung noch unerreiht daſteht.
Diefe Bemerkungen werden genügen, um den Beweis zu liefern, daß
es an einer umfaflenden Beleuchtung von Herber’s Pädagogik und Wirken
im Schulweſen no fehlt, indem zunächſt jene Verfaſſer einzelne mehr ober
weniger wichtige päbagogifhe Schriften nicht benugt haben; namentlich
möchten wir in biefer Beziehung nur zwei Bücher hervorheben, aus denen
fie gar nicht geihöpft haben, nämlich das „Buchſtaben- und Leſebuch“ (1786)
und „Luthers Katechismus mit einer Fatechetifchen Erklärung zum Gebraud
der Schulen“ (1798), beide von Herder bearbeitet und mir Anweifungen für
die Lehrer verjehen.*) Außerdem fanden fid auch in den das Echulmejen
betreffenden alten Akten, die bisher nicht grüntlich genug ausgebeuter worben
find, mande Beiträge zu vorliegender Arbeit, namentlidy zur Geſchichte bes
Seminars. **)
Aus der Charakteriftit jener Schriften geht ferner, wie ſchon angebeutet,
hervor, daß diefelben ins eigentlihe pädagogiſche Detail nicht tief genug
*) Diefe und noch andere Bücher find mir vom Großherzoglichen Bibliothefar
zu Weimar, Herrn Dr. R. Köhler, mit der größten Bereitwilligfeit zur Verfügung
geftellt worden, wofür ih ihm hiermit beſtens banfe.
**) Für die Benügung biefer Acten jage ich dem Chef des Großberzoglih Säch—
fiihen Gultus = Departements, Herrn Gcheimrath Dr. Stihling, einem Enkel Herder's,
meinen tiefgefühlten Danf,
1 *
4
eindringen, woburd das ganze Bild an veutlicher Ausprägung nothwendig
verlieren muß. Die allgemeinere Haltung verfehlt ihren Zwed infofern
nicht, als fie uns Klarheit über Herder's Stanbpunft verjhafft, aber wie
nun die allgemeinen Grundſätze, bie leitenden Ideen, in concrete Formen
fih verkörpert haben, tritt nur ungenügend hervor, und gerabe für bieje
Seite gilt, was Heiland ganz treffend hervorhebt, daß pie Schulreden
Herder’8 eine wahre Fundgrube pädagogiſcher Weisheit
find. Unfererfeits wollen wir auf dieſen Punkt ein beſonderes Gewicht
legen und bie eigentliche Pädagogik jpecieller darzuftellen uns bemühen, als
bisher gefchehen ift. In diefer Abficht wollen wir foviel als möglich Herder
ſelbſt ſprechen laſſen und unnöthige Neflerionen vermeiden ; das glauben wir
ſchon Herdern jchuldig zu fein, da er ein Feind alles Paraphrafirens iſt.
— Der Pädagogik Herder's haben wir die wichtigften Züge aus feinem
Entwidelungsgang und feinem Wirken als Lehrer und Ephorus vorangeftellt,
einerfeit8 um etwas relativ Ganzes zu bieten, andererſeits aber, um auch
bier einige Lücken auszufülen.
A.
Herder's Entwickelungsgang und fein Wirken auf dem
Gebiete des Schulwefens.
In Mohrungen.
Es ift eine weitverbreitete Anficht, daß ein wahres Talent ſich unter
allen Umſtänden, trotz aller Hinverniffe, ven Weg bahne und fi empor
arbeite, um die Miffion zu erfüllen, die ihm in irgend einem Berufsfreife
angewiejen iſt. Diefe Meinung finden wir aud bei Herder beftätigt, wenn
wir ung feine Yugendgefchichte wergegenwärtigen. In wie fern biefelbe fein
Emporfteigen zur epochemachenden Stellung in ver deutſchen Viteratur zur
Anſchauung bringt, wollen wir bier, uns ftreng an unfere Aufgabe haltend,
unerörtert laffen, mithin blos zeigen, wie Herder fhon in feinen Knabenjahren
auf diejenige Laufbahn gelenkt wurde, auf welder wir ihn begleiten wollen.
Geboren am 25. Auguft 1744 zu Mohrungen in Oftpreußen, wuchs
Herder unter ben bürftigften Verbältnifien auf. Bon entfcheidendem Ein-
fluß auf feine Gemüthsbildung war der fromme, biedere Charakter feiner
Eltern, von denen er frühzeitig auf das Kirchenlied wie auf die Bibel ge—
wiefen worden, während vorzugsweife der Stand feines Vaters — er war
Mädchenſchullehrer — ihm bleibende Zuneigung zum Lehrerberuf einflößte,
um fo mehr, da er fhon in feinem 14. Jahre die erften Verſuche in dem—
felben anzuftellen veranlaft wurde. Da er fih nämlih vor allen feinen
Schulgenoſſen in hervorragender Weife auszeichnete, wozu ihm namentlich
ein Schnelles Auffaffen, ftarfes Gedächtniß und ſcharfes Urtheil verhalfen *),
24 J. G. von Herder’d Lebensbild von E. ©, v, Herber (1846), III. Bb., ©. 33
und 99,
5
ſo wurde er bereits in dieſer Lebensperiode, als ſein Vater einſt verreiſt
war, an deſſen Stelle zur Unterweiſung jüngerer Schüler herangezogen.
Dieſe erſte Probe beſtand er ſo vortrefflich, daß er auch ſpäterhin vielfach
als Supplent verwendet wurde. Dabei zeichnete er ſich durch zweckmäßige
Fragen, Beſtimmtheit und Deutlichkeit in der Auseinanderſetzung der Begriffe
ganz beſonders aus, wußte die Aufmerkſamkeit der Schüler in hohem Grade
rege zu machen und erwarb ſich durch feine ganze Haltung unter den Mit-
ihülern ein hohes Anfehen.*) So ſehen wir Herder in eine Sphäre ein-
getaucht, die jedenfalls für die Richtung feiner folgenden Entwidelung von
großer Bedentung war und ihm die Möglichkeit recht nahe rüdte, ſich für
den Lehrerberuf eine (günftige) Befähigung zu erwerben, die ſchon nad)
wenigen Jahren fegensreih wirkend ſich entfalten ſollte. Wie aber follte
der arme Glödnersfohn, der überdies eine nur mangelhafte Schulbilpung
genoffen hatte, ſich über die brüdende Enge feiner Verhältniſſe erheben ?
woher die Mittel nehmen, um eine gelehrte Laufbahn einzufchlagen ?
Der erfte Schritt zum höhern Ziel war fein Eintritt als Famulus in die
Dienfte des Predigers Treſcho, bei dem er neben häuslihen Verrichtungen
auch Aufjüge abzufchreiben hatte, die jener regelmäßig für eine in Königs»
berg erſcheinende Zeitfchrift verfahte. Da der arme Famulus tiefes Geſchäft
denkend vollzog, fo floß feinem wiffenspurftigen Geifte mande Anregung und
Erweiterung feiner Senntnifje zu. Im weit höherem Maße förberte ihn
Treſcho's Bibliothek, die er zum Theil ohne Willen feines Dienftherrn in
ftillen Nächten ſehr fleißig benugte, um fich beſonders in die griechifche,
römiſche und deutſche Literatur zu vertiefen. Uber auch auf andern Ge—
bieten ſuchte er ſich zu orientiren, fo daß er allmälig aus eigener Kraft
zu einer Öymnafialbildung gelangte, die ihn fpäter zum erfolgreihen Be—
fud der Univerfität befähigt. Bei diefer glüdlihen Wendung des Schid-
fals ift e8 nur zu bevauern, daß Trefcho feinem Famulus in feiner Weile
wohlmwollend oder fürbernd entgegenfam — man fünnte nad einigen An
deutungen in den Quellen zur Jugendgeſchichte Herber’s gerade das Gegen-
theil behaupten. Ebenſo wenig fümmerte er fidy um deſſen poetifches Talent,
auf das er aud vom Königsberger Buchhändler Kanter ausprüdlih auf:
merffjam gemadht worden war. 9a, als ihm Herder’s Eltern um Rath
fragten, ob ihr Sohn nicht vielleicht dem Gelehrienberuf zugeführt werben
könnte, jo verhielt er fi mehr als zweidentig und rieth ihnen von dieſem
Plane ab. Gegen folde Nüdfichtslofigkeiten wird im „Lebensbild“ wieder:
holt Klage geführt.*) Unter dieſen Berhältniffen verlor Herder alles Selbit-
gefühl, wurde ängftlih und zog ſich mit feinem ganzen Denken in das
Innerfte feines Gemürhslebens zurüd. ine gleich niederdrüdende Ein-
wirkung mochte er durch einen harten Schulzwang unter dem Rector Grimm,
von dem er im die lateinische Sprade durch einen geiftlofen Unterricht ein-
geführt worben, erfahren haben. Daher finden wir es begreiflih, wenn
Herver jpäter aus Weimar am 2. December 17857 an Treſcho ſchreibt:
„Die erften Bilder meiner Jugend find meiftens traurige Bilver, und mande
Einprüde ver Sclaveret möchte ih, wenn ich mid, ihrer erinnere, mit theuern
0.00, S. 146.
*) Lebensbild I, S. 61 u. 37,
6
Blutstropfen abkaufen.“ Dennoh war der Aufenthalt bei Treſcho eine
nothwendige Vorftufe zu einer höheren Beftimmung; venn bier lernte ihn
jener menfchenfreundliche Regimentschirurgus fennen, der ihn vom qualvollen
Drud erlöfen und in Königsberg Chirurgie ftubiren laſſen wollte.
Bon Königsberg bis Zückeburg.
Herber vernahm im diefer Aufforderung einen Ruf des Himmels und
z0g mit feinem Wohlthäter 1762 zur alten preußiſchen Krönungsftabt. Doc
waren feine „zarten Nerven“ zur Chirurgie wenig geeignet. Bei Gelegen-
heit einer Section fanf er in Ohnmacht, fo daß er fid) genöthigt ſah, dieſe
BDerufsbahn für immer zu verlaflen, um einer andern, auch feinen perjün-
lihen Neigungen mebr zufagenvden fih zu widmen. Nah glüdlih über—
ftandenem Eramen ließ er fih in die theologifhe Facultät aufnehmen. Aber
auch philofophiihe Wiſſenſchaften beihäftigten ihn eingehend, und unter ben
Profefforen empfing er von Kant, bei dem er Logik, Metaphyſik, Moral
und phyſiſche Geographie hörte, und mit dem er aud im näberen perfünlichen
Beziehungen ftand, die nahhaltigften Anregungen. *) Im Schmwunge ber
Begeifterung, welhe die Ideen ver Kant'ſchen Philofopbie in feinem Gemüth
hervorriefen, fingt er in einer Ode:
Da fam Apoll, der Gott,
Mein Erdenblid warb hoch,
Er gab mir Kant. **)
Ueber dieſe Eindrücke giebt er übrigens felbft, dreißig Jahre jpäter,
im 79. Humanitätsbriefe einen ausführliheren Bericht, der bier aufgenommen
zu werben verdient: „Ich babe das Glück genofien, einen Philofephen zu
fennen, der mein Lehrer war. Er, in feinen blübendften Jahren, hatte die
fröhlihe Munterfeit eines Jünglings, die, wie ich glaube, ihn auch in fein
greifeftes Alter begleitet. Seine offene, zum Denken gebaute Stirn war
ein Sitz unzerftörbarer Heiterkeit und Freude; bie gebanfenreichfte Rede
flog von feinen Lippen; Scherz und Wig und Laune ftanden ihm zu Ge-
bote, und fein lehrender Vortrag war der unterhaltendfte Umgang. Mit
eben dem Geift, mit dem er Leibniz, Wolff, Baumgarten, Erufius, Hume
prüfte und die Naturgefege Keppler's, Newton’s, der Phyſiker, verfolgte,
nahm er aud die damals erſcheinenden Schriften Rouffeau’s, feinen ‚Emil‘
und feine ‚Heloife‘, ſowie jede ihm befannt geworbene Naturentdeckung auf,
wiürbigte fie und fam immer zurüd auf unbefangene Kenntniß der Natur
und auf moraliihen Werth des Menſchen. Menichen-, Böller-, Natur—
geihichte, Naturlehre, Mathematif und Erfahrung waren die Quellen, aus
denen er feinen Vortrag und Umgang belebte; nichts Wilfenswürdiges war
ihm gleihgültig. Er munterte auf und zwang angenehm zum Gelbftventen ;
Despotismus war feinem Gemüthe fremd. Diefer Mann, den id mit ber
größten Dankbarkeit und Hohadhtung nenne, ift Immanuel Kant. “***)
Aus dem Gefagten wollen wir vorläufig blos die Thatſache bervorbeben,
daß Herder von Kant in Rouſſeau's Schriften eingeführt worden, wodurch
9 Erinnerungen aus dem Leben J. G. von Herders, 3 Theile, 1830. 1. Theil,
Seite 63,
**, Vergleiche auch Lebensbild I, ©. 199 und 227.
**) Nergleihe Erinnerungen, 1. Theil, ©. 67 f.
7
eine neue Welt voll ftürmender Gedanken in feiner empfänglihen Gecle
emporftieg.*) „Komm, fei mein Führer, Rouſſeau!“ ruft er in einer Ode**)
ans und vertieft fih mit großem Eifer in deſſen Werke. Wie fehr er
namentlih vom „Emil“ in feinem innerften Streben beeinflußt und an—
gejpornt worden, fann gerade in päbagogifcher Beziehung nicht hoch genug
angefhlagen werben. Wir werden im Berlauf unferer Darftellung wieber-
bolt Gelegenheit finden, darauf noch zurüd zu kommen. Solde Anregungen
hatten zunächſt die wichtige Folge, daß Herder für immer dem Lehrerberuf
gewonnen wurde. Damit ftimmt es überein, wenn er im Sommer 1767
an Treſcho fchreibt, er habe fih immer eine Stelle gewünfcht, wo er in ber
Erziehung der Jugend mit feinen Talenten und Senntniffen Nuten jtiften
fönne.***) Aber fhon die Ungunft feiner Bermögensverhältniffe nöthigte ihn,
bald nady feiner Ankunft in Königsberg um ein Lehramt fi zu bewerben.
Durch Vermittelung feines Freundes Hamann, der ihn mit Shafespeare
vertraut machte und ihm Sympathie und Verſtändniß für die einfache,
rührende Naturſprache der Volkslieder eingeflößt, wurde er zu Dftern 1763
— 19 Jahre alt — am Collegium Fridericianum anfangs in einer Elementar-
claffe, bald in den oberften Claſſen angeftellt, wo er Latein, Frauzöſiſch
und andere Fächer vortrug. Dafelbft hielt er an Sonntagen auch Katechi—
jationen, in denen er wegen ber Herzlichfeit und Wärme, mit ber er bie
Gegenftände behandelte, und wegen der Beftimmtheit feiner Fragen, durch
die er die Begriffe zu entwideln wußte, der Anziehungspunft vieler Zuhörer
war.}) Die Liebe feiner Schüler beſaß er in hohem Grade. So ftreng
er auf ernfte Thätigkeit und Ordnung hielt, fo theilnehmend und liebevoll
war er, baber ihm feine Schüler nod in fpäteren Jahren ihr dankbares
Andenken bezeugten. 17) Da ihm aber der religiöfe Stanbpunft der Schule
nicht gefiel, fo jehnte er ſich fhon nad achtzehnmonatlicher Wirkſamkeit weg.
Hamann empfahl ihn nad Riga, und meint in dem betreffenden Briefe an
den Rector Lindner vom 17. October 1764, Herder habe mehr als mittel»
mäßige Erfahrung in Schularbeiten und ein fehr glüdlihes Talent, feine
Gegenftände leicht zu behandeln. +7}) Das Zeugniß half. Am 7. December
— —
*) An Schäffner ſchreibt Herder am 4. October 1766: „Ah, ber von Kant in
die Roujjeauiana und Humiana gleihfam eingeweiht bin, ber beibe Männer täglich
Icfe u. ſ. w.” — und am 31. October 1767: „Mein (verloren gegangenes) philo—
ſophiſches Lehrgebiht ‚Kant‘ war das Aufftoßen eines von Rouffeau’ihen Schriften
überladenen Magens,‘
**) Lebensbild I, ©. 252.
*##) a. a, O., 2. Abth., ©. 264. — Am 26. April 1784 ſchreibt er an Gleim:
„Täglich komme ich mehr darauf zurüd, daß die Wiſſenſchaft und thätlihe Bildung
Anderer, inſonderheit der Augend, das reellfte Gejhäft meines Standes fei, worin man,
wenn man bas Glüd echter Unterftügung genießt, allein Befriedigung boffen und
finden mag.“
) a. a. O. J, S. 161.
fr) Erinnerungen, 1. Thl., ©. 60 f.
+rFr) Hervorragend war auch feine Fäbigfeit, mit bem Kindern in ibrer Sprache
zu fprechen und baburd im ber verftänblichften MWeife mit ihnen zu verkehren. Die
rößte Meifterfchaft hierin tritt offen zu Tage in feinen 1788 aus Rom an feine
Öhne gerichteten Briefen, wo er an den vierzehnjährigen Gottfried über die Wohn:
ftätten bedeutender römifcher Schriftjteller und über wichtige biftoriihe Punkte berichtet,
dem zwölfjährigen Auguft über Göttergeftalten des vaticanifhen Muſeums, dem noch
jüngeren Wilhelm über merkwürdige Bauten, und dem jüngjten Abelbert über Dar:
8
befielben Jahres trat er feine Stelle als Collaborator an der Domfchule zu
Riga an und unterridtete in der Geſchichte, Naturgeihichte, Mathematik,
im Franzöfiihen und im Stil.*) Am 27. Juni 1765 hielt er bie für
feine ganze Stellung zum Lehrerberuf höchſt charakteriftiiche Antrittsrede:
xwie fern auch in ber Schule die Grazie herrſchen müſſe“.**) Diefelbe
werden wir im Gapitel von der Schulregierung näher zu betrachten haben.
Ueber feinen Unterriht mar aud hier, wie in Königsberg, nur eine Stimme
des Beifalls und der Liebe; nad feinem Tode ſchreibt ein Paftor: „Auch
ih war Herder’! Schüler. Seine Lehrmethode war fo vortrefflid, fein Um—
gang mit feinen Schülern fo human, daß fie feiner Yection mit größerer
Luft beimohnten, als derjenigen, die von ihm gegeben warb.” ***, Auch
andere Zeugniffe find vol Yobes über fein liebenswürbiges Verhältniß zu
feinen Schülern. Der Ruf von Herder's hervorragender Tüchtigfeit drang
bis nad Petersburg, wohin er am 24. April 1767 als Director an eine
große Erziehungsanftalt berufen wurde. Zwar war diefer Wirkungsfreis
nad feinem Geſchmack, aber viel zu complicirt; er wollte lieber jelbft un-
mittelbar erziehend eingreifen, als eine große Menge von Lehrern dirigiren. 7)
Da der Nigaer Rath feinen Abgang befürchtete, fo übertrug er ihm, um
ihn feſt zu halten, vie Stelle eines Paſtor adjunctus und befchränfte bie
Zahl feiner Lehrftunden, die ihm der neue Rector verleiver hatte. Sein
freies Auftreten in religiöfen Dingen zog ibm jevod bald den Haß mehrerer
GSeiftlihen zu, und als er wegen der „Fragmente“ und ber „kritiſchen
Wälder“, die er im dieſer Periode herausgab, von verſchiedenen Geiten heftig
angegriffen wurde, erfchien ihm fein Zuſtand unerträglid. Aufs tiefite
verlegt und herabgeftimmt, entſchloß er fih, ins Ausland zu reifen; und
zwar wollte er in Frankreich, England, Holland und Deutſchland die beften
Erziehungsanftalten und gelehrten Inftitute kennen lernen, und dann nad)
Riga zurüdfehren, um ſelbſt ein Erziehungsinftitut zu gründen. In ſchwung—
vol begeifterter Sprache legt der 2djährige Jüngling den Plan zu demfelben
in dem Reifejournal nieder, welches er zum Theil auf der Geefahrt von
Kiga nad) Nantes, zum Theil in Frankreich ſchrieb. Da mill er „ben
menfhlih milden Emil des Rouſſeau zum Nationalfinde Lieflands machen“.
Sodann ruft er aus: „O ihr Locke und Rouſſeau und Clarke ımb Franke
und Heder’8 und Ehler's und Büfching’s, euch eifere ich nad, ich will euch
leien, durchdenken, nationalijiren, und wenn Redlichkeit, Eifer und Teuer
hilft, fo werbe ich euch nugen und ein Werk ftiften, das Ewigkeiten bauere
und Jahrhunderte und eine Provinz bilte.“ +7) Und am Schluß jeines
fühnen Entwurfes bricht er enthufiaftifh in die Worte aus: „D Zwech,
ftellungen aus ber Thierwelt ſchreibt. Wie fih bier ber liebevolle Water mit feiner
ganzen Screibart an bie verfchiedenen Altersftufen feiner Kinder anpaßt, auf ihre
Interejfen, auf ihre individuellen Neigungen mit feinem Tacte fo innig eingeht, iſt
ee — Die betreffenden Briefe jtehen in ben Erinnerungen, 3. Theil,
. 287— 306,
*) Ebenda S. 42—63; vergl. ©. 63— 7).
**) Grinnerungen, 1. Theil, S. 9.
**#), (Srinnerungen, 1. Theil, ©. 94,
f) Lebenebild I, 2, Abtb., S. 264.
71) a. a. O. II, S. 19.
9
großer Zweck, nimm alle meine Kräfte, Eifer, Begierden! Ich gehe durch
vie Welt, was habe ich in ihr, wenn ich mich nicht unſterblich mache!“ *)
Rouffenu hatte er zwar zu feinem Führer auserforen, fi aber ihm nicht
blind anvertraut, ſondern geprüft und das Beſte behalten. Zeugniß davon
giebt ſchon eine allgemeine Vergleihung der Pädagogik Beider. Wie jonder-
bar beſchräukt und egoiftifch erſcheint Rouſſeau's Erziehungsmoral, wenn er
fügt: „Die einzige fittlihe Unterweifung, die ſich fir Kinder eignet und
für jedes Alter tie wichtigſte ift, heißt, nie Demand übles thun.“**) Welch
ein unnatürliches Phantafiegefhöpf ift der Emil, den Rouſſeau von allem
nähern gejellihaftlichen Verkehr ifolirt und dem er baburd jede Möglichkeit
abſchneidet, fih in den erften chriftlihen Tugenten auszubilden und nad
abgejchloffener Erziehung feiner Zeit und feinen Volke fich dienend hinzugeben ;
denn ihm war Alles Unnatur, Narrenthum und Widerfprud in den menſch—
lihen Einrihtungen. ***) Während Rouſſeau für den Naturzuſtand ſchwärmt
und den Menjhen von Natur für gut hält, will Herver „mit ihm nicht
Zeiten preifen, die nicht mehr find und nicht gewefen find; denn pas find
atle Nomanbilder, die nur zu unſerm Mifvergnügen dienen“.}) Und
jpäter betont er wiederholt, daß der Menſch feiner Natur nad) weder gut,
nch böje jei, aber beides werben fünne. +) Endlich meint er, Rouſſeau
jet zwar in Bezug auf anthropologifhe Kenntniffe ein großer Lehrer, aber
im Katechismus der Pflichten könne er fein Lehrer fein. Trr) Bezeichnend ift
es aud, wie ſich Herder über die Uebertreibungen Rouſſeau's äußert: „Bei
Rouſſeau muß Alles die Wendung des Paradoren annehmen, die ihn ver-
dirbt, die ihm verführt, die ihn gemeine Sachen neu, Heine groß, wahre
unwahr, unmwahre wahr machen lehrt. Nichts wirb bei ihm fimple Be—
hauptung ; Alles nei, frappant, wunderbar: jo wirb das an fih Schöne
doeh übertrieben: das Wahre zu allgemein und hört auf, Wahrheit zu
fein: e8 muß ihm feine falfhe Tour genommen, e8 muß in unfere Welt
zurüdgeführt werben, wer aber fann das ?..... und wird nicht alio
Rouſſeau dur feinen Geift unbrauhbar oder ſchädlich bei aller jeiner
Größe?” 4*5) Ein Mann wie Bafevom konnte jehr wohl mande Berfehrt-
heiten nahäffen, möglicher Weife auch noch bis zur Garricatur übertreiben,
aber ein Geift wie Herder z0g aus dem Studium von Rouſſeau's Schriften
den größten Nugen. Bon venfelben mädtig angeregt, wollte aud er bie
Natur fuchen, aber nicht ifolirt von aller menjhlihen Gejelihaft, ſondern
in den gegebenen BVerhältnifjen, vie er für das Refultat einer natürlich ab—
gelaufenen ulturentwidelungsreihe anſah; aber auch in der Bildung des
jugendlichen Gedankenkreiſes Iehrte er eine naturgemäße, den phyſiſchen Ges
*) a. a. O., S. 241,
**) Emil oder über A ra von 3. X. Rouſſeau. Deutſch von K. Große.
9. Aufl. 1867, 1. Theil, S
**) Ebenda ©. 70,
+) Lebensbild II, ©, 185.
+7) 123. Humtanitätsbrief.
) Lebensbild II, ©. 191.
7*) Ebenda S. 265. — Herder's fpäteres Urtheil = Rouffeau vergleiche in
feinen Briefen über das Stubium der Theologie, 2, Aufl, ©. 350 f.
10
fegen entſprechende Erziehung, was wir in ber zweiten Abtheilung unferer
Urbeit eingehend zur Sprade bringen werben. *)
Unter folhen ftürmifhen Reformgedanken vollendete Herver die See—
reife, langte im Spätſommer in Nantes an, das er jevod bald mir Paris
vertaufhte, um ſich im geiftigen Verkehr mit hervorragenden Männern in
die franzöfifhe Spradhe und Literatur hinein zu leben. Unerwartet über:
rajchte ihn bier jchon nad wenigen Monaten eine Berufung an ven Hof
zu Eutin, von wo aus er den Sohn des Fürftbifchofs als Inftructor und
Keifeprebiger in das Ausland begleiten ſollte. Diejer Antrag fam ibm zur
Berwirklihung feines eigenen Planes fehr gelegen. Ueber Hamburg, wo
er Leſſing, Reimarus, Claudius u. a. kennen lernte, gelangte er nad Eutin.
Die Abreife erfolgte im Sommer 1770. Während eines kurzen Aufenthaltes
am Hof zu Darmftabt, mit weldhem der Prinz verwandt war, machte Herber
bafelbft die erfte Bekanntſchaft mit feiner Braut.**) Allein die faum be—
gonnene Reife jollte nicht lange dauern. Da Herder mit dem Hofmeifter
bes Prinzen fi nicht recht vertragen konnte, jo trennte er fih in Straßburg
von feinen Neijegefährten und nahm einen Ruf als Oberprebiger und
Conſiſtorialrath nah Büdeburg an, verweilte aber nod einige Zeit im ber
alten Reichsſtadt, um fih das Auge operiren zu laſſen. Hier traf er aud
mit Goethe zufammen: für beide Theile ein Ereigniß von ver folgenreichften
Bedeutung. ***) Im feinem neuen Wirkungsfreife zu Büdeburg richtete er fein
Augenmerk bald auf die in tiefen Berfall gerarhenen Schulen und wendete
ſich mit Reformvorfhlägen an den regierenden Grafen Wilhelm; dieſer hatte
zwar den guten Willen zu helfen, aber e8 waren feine Mittel vorhanden ;
übrigens wurde Herder auf den Tod des alten Rectors vertröftet, der jedoch
während feines Dortfeins nicht erfolgte.) Auf einer anderen Seite fonnte
er feinem inneren Drange, pädagogiſch thätig zu fein, Befriedigung ver-
ihaffen, da er beauftragt wurde, den Pagen der Gräfin in allen Edul-
wiffenfhaften zu unterrichten. Ueber feinen zu diefem Zwede ausgearbeiteten
Lehrplanyt) äußerte der Graf: „So ift wohl nody Fein König unterrichtet
worden!“ Die Briefe, die diefer Schüler fpäter als Major an feinen Lehrer
richtete, find gefühlvolle Ergüffe eines von Danf erfüllten Herzens. Fr) Im
Mai 1773 holte Herder feine Braut beim, blieb aber nur kurze Zeit bier,
weil ihm fein Wirkungskreis zu beſchränkt und zu entlegen war.
Herder in Weimar.
Nachdem die Bemühungen feiner Freunde, ihn als Profeffor der Theo-
logie nach Göttingen zu bringen, fehlgefhlagen, wurbe er durch Wieland's
*) Ebenda wirb auch ber Tieflinbiihe Schulplan zur PVerwertbung gelangen,
wie auch einige Grundjäge Roufjeau’s, bie in Herder's püdagogifhen Anfichten hervor—
treten, angezogen werben.
An ihrem beiberjeitigen Briefwechfel ift vielfah von Rouſſeau bie Rebe.
Sie ftubirt den Emil mit dem größten Anterefje und will, daß alle ibre „Bübchen
und Mädchen & la Roufjeau erzogen werben‘ (Herber's Nachlaß von Düntzer, ni. Bd.,
S. 84). — Ein Sohn Herder's hieß Emil!
**) Vergl. das X. Bud in Goethe's Dichtung und Wahrheit.
7) Erinnerungen, 1. Theil, ©. 186.
jr) Er fieht in Herder’s jümmtliden Werfen: „Zur Pbilofopbie und Geſchichte“,
XI. Theil, Sophron genannt, ©. 249—258, Ausg. 1810.
fir) Erinnerungen, 1. Theil, ©. 200 f.
11
Anregung und Goethe's Bemühungen am 23. Januar 1776 als Oberbof-
prediger und ©eneralfuperintendent nah Weimar berufen; aber erft am
2. October hielt er feinen Einzug. In der Beftallung *) vom 11. Dctober
intreffiren uns namentlih folgende Bedingungen: „Der Generalfuperin-
tendent folle den großen und ben fleinen Katehismus Lutheri in einfältigem
rechten Berftanve, ohne Einmifhung unnöthigen Wortgezänts, Weitläuftigkeit
und gefährlihe Mißveutung ... in gebührender Beſcheidenheit Lehren.“
Dafelbft wurden ihm aud ſämmtliche Schulangelegenheiten des Landes, das
Ephorat, die Bertheilung der Stipendien und die Abhaltung der Candidaten—
eramina, amvertrant. Ferner wird er verpflichtet, bei dem alljährigen Gym—
nafialeramen, fowie bei der Einführung neuer Lehrer und bei Todesfällen
an berfelben Anftalt, Reden zu halten. Endlich fol er vie Lehrſtunden an
dem Gymnafio zuweilen unvermuthet befuchen, zu prüfen, ob Docentes und
Discentes ihrem Amte ein Gnügen leiften, und allenthalben, wo er Mängel
finden follte, nöthige Erinnerungen thun. — Wir werden uns im Folgenden
überzeugen, in wie großartiger Weije er diefe Bedingungen erfüllt hat.
1) Herder’s Derhältnif zum Gpmnafium.
Mit dem Auftreten Herver’s in Weimar begann für das gefammte
Schulweſen in Stabt und Land eine neue Epoche. Zunächſt wendete er
feine Sorgfalt dem Gymnaſium zu, das unerachtet der einfichtsoollen Be—
mühungen ber Herzogin Anna Amalia und Heinze's trefjlicher Leitung fich
aus dem früheren Berfall noch nidt erholt hatte. Erft als Herder bie
Hand ans Werk legte, wurbe mit dem alten Schlendrian gänzlich gebrochen,
und eine ganz neue Ordnung trat an Stelle veffelben. 1783 von Goethe
aufgefordert **), verfaßte Herder feinen reformirenden Lehrplan für das Gym—
nafium, nebft Anweifungen fir die Lehrer; zwei Jahre fpäter ertheilte ihm
ver Herzog zur Ausführung deſſelben unbedingte Vollmacht. Daß die be-
treffenden Schriftftiide verloren gegangen find, haben wir bereits erwähnt.
Herder's Gattin heilt fiber biefelben nur fo viel mit, daß die untern Claſſen
„Realichule für nüslihe Bürger, die obern ein wiſſenſchaftliches Gymnafium
für Studirende“ werben follten.*** Auf biefe Reform bezügliche Berord-
nungen und Berichte find unter den Acten zwar nod vorhanden, berühren
fie aber blos äußerlich und bieten darum feinerlei beftimmten Aufihluf.
Am wihtigften darunter find einige Rechnungen mit Liften von Büchern,
Yanbfarten, geometrifhen und phyſikaliſchen Modellen und Apparaten, die für
die einzelnen Clafjen des Gymnaſiums angefhafft wurden — ein ſchlagendes
Zeugniß für Herder's durchgreifende Neformen. So forgte er auch für An-
legung einer Schulbibliothef, zu der er die Mittel aus allen möglichen
Quellen herbeizuſchaffen fuchte. Dadurch erwuchs reihe Nahrung für ven
vrivatfleiß, zu welchem er die Schüler bei jeder Gelegenheit ermunterte.
Wo es ſich um Vertheilung von Stipendien handelte, beſtellte er die Con—
ic *) Enthalten in ben OberconfiftorialsNcten, bie Berufung Herder’s betrefjend,
45. Blatt.
Herder's Nachlaß I, ©. 73,
***) Grinnerungen, III. Theil, ©. 36 f.
\
12
enrrenten zu ſich, prüfte fie, ließ fie fchriftliche Arbeiten, Ueberſetzungen an-
fertigen, und nur den Würdigften fiel der Preis zu. — Aber aud über
den innern Zuſtand des Gymnaſiums hatte er ſtets ein wachſames Auge,
er hefpitirte, ertheilte den Lehrern methodiſche Winke, fungirte im Notbfall
als Supplent, lobte die Fleifigen und zeichnete die Hervorragendften ganz
bejonders aus; dagegen tadelte er die Trägen ganz unerbittlih. Namentlich
waren es feine durh Inhalt und Wärme fo wirfungsvollen Schulreven,
durch die er einen unmittelbar erzieherifhen Einfluß auszuüben ſuchte. Wie
innig wird er die jugendblihen Gemüther ergriffen haben, wie wird die aus
dem edeln Herzen fließende Rede wieder zum Herzen gegangen fein, wenn er
über die „Nothwendigkeit der Schulzucht“, über ven „Genius der Schule“,
über „Gymnaſien als Uebungsftätten“, als „Werkftätten des Geiftes Gottes”,
iiber die „Heiligkeit der Schulen” fprah! Da wendete er ſich gegen bie
Berberbnig der Sitten und fleht: „der Geift Gottes fehre zurüd in bie
Schulen, um da einen guten Grund in den Gemüthern ber Jünglinge zu
legen, um ihnen den feften reinen Charakter anzubilden, der fid) durch bie
ausgelaffene Unfittlichkeit, die grobe Frechheit, die nafeweife Zupringlichkeit,
die jest in fo vielen Schriften herrfcht, micht verführen laffe, ſondern ber
auf einem reinen Selbft unwantelbar feftfteht und nicht wankt“. „O kehre,
Geiſt Gottes, zurück! Geift Gottes der alten und älteften Zeiten, als bie
Weisheit noch Uebung, als das Lernen nod Weisheit war." „Bon Jugend
auf, von Innen wehe, Seift Wortes, ung an; denn von Außen leben wir
zu unferer Zeit in einer böfen Zugluft, in der garftigen Dämonenwelt.“ *)
Herder hatte Urjache, fo zu ſprechen, denn die Beziehungen vieler Schüler
zum Theater und die Folgen berfelben waren feinem Echarfblid nit ent=
gangen. Darum jpricht er in ber zehnten Rede warnend zu den Schülern:
„Jeden Winter kommen Comödianten ber, und zwar größtentheils elende
Comödianten, die ſchwerlich verdienen, von einem Menfhen, ver Geſchmack
bat, jahraus, jahrein gejehen zu werben. Für euch ift diefe äußerſt mittel:
mäßige Bande gar nicht; glaubt mir dies auf mein ehrlihes Wort. Ich
haſſe das Theater nicht, aber ein ſchlechtes Theater ift das jämmerlichfte
Ding, nit nur unter der Sonne, fondern aud bei Abendlichtern. Und
fi mit diefer Bande einzulafjen, mit Comöbianten Umgang zu haben,
Comödiantenweiber zu befuchen und fi durch Abjchreiben der Rollen auf
dem Parterre einen Freiplag zu erwerben, ift für einen Gymnaſiaſten durch—
aus unanftändig und abſcheulich.“ Dieje Zuftände geftalteren fi) fogar noch
ſchlimmer, ſeitdem Goethe als Theaterbirector (von 1791 an) Gymnaſiaſten
zur aushülfsweifen Mitwirkung am Schaufpiel und am Opernchor nicht nur
beranzog, ſondern fogar verpflichtete. Herder bereitete e8 das größte Herze-
leid, wenn er in den VBormittagsftunden hojpitirend mitunter eine große
Anzahl der Schüler nicht in ven Claffen fand, da fie unterdeffen in ben
Theaterproben beihäftigt wurden. So verfüumten fie viele Unterrichtsftunden
und waren hinter den Couliffen ven größten Gefahren ausgejegt. Energiſch
wendet ſich Herder in einigen Vorſtellungen an den Herzog gegen viefen
argen Mißbrauch und erzielte auch bald mwenigitens den Erfolg, dag Schul-
verfänmniffe nicht mehr vorkamen, indem tie Proben auf ſchulfreie Stunden
*) Sophron, 19. Rebe.
verlegt wurden.*) Da es im Uebrigen beim Alten blieb, jo ſcheute Herver
feine Mühe, im Verein mit den Lehrern, denen er große Wachſamkeit empfahl,
das Einreifen der Sittenverberbniß zu verhindern und zu befämpfen. Im
dieſem Beftreben hören wir ihn in den genannten Reden als treuen Seelen-
büter in wahrhaft väterliher Weife zu den Zöglingen ſprechen, bittend, er-
mahnend, drohend. Er weift fie darauf bin, wie fehr der ganze Werth des
Menſchen von feiner fittlihen Ausbildung abhängt und daß alle Wiffen-
ihaften und Künfte nichts helfen, ja dem Böfen vienen fünnen, wenn fie
nicht von einem moralifhen Willen getragen werben. **) Aud gute äußere
Sitten und anftändiges Betragen empfahl er***), und nicht weniger wirfte
er mit feinen Reden nad der intellcetuellen Seite hin, indem er die hohe
Bedeutung und richtige Auffaffung der Wilfenfhaften den Schülern vor
Augen legte und in ihnen für diefelben ein reges Intreffe zu erweden fuchte ;
dabei zeigte er ihnen auch den Weg, wie tiefe Gegenftände am erfolgreichiten
betrieben werden fünnen.}) Wie viel aber auch die Fehrer aus diefen Reden
in Bezug auf die Auffafiung des ganzen Schulunterrihts und einzelner
Unterrichtsfäher, wie in Bezug auf Methodik lernen fonnten, werten die
in der zweiten Hälfte unferer Abhandlung dargelegten pädagogiſchen An—
fihten Herber’3 zu beweijen haben. In dieſer Weife fuhr Herder bis an
fein Ende fort, in Treue und Beharrlichfeit das feinem Schutze empfohlene
Gymnaſium in jeder Beziehung zu heben. Dazu bedurfte er aber auch
tüchtiger Mitarbeiter. Soweit e8 in feinen Kräften ftand, ſuchte er folde
beranzuziehen und die Wirbigften dem Herzog zu Beförderungen und Aus—
zeihnungen zu empfehlen. In feinen Borfchlägen für Anftellung von Lehrern
war er ſehr gemwillenhaft und behutſam; nur auf Grund unzweifelhafter
Borzüge, über die er fich beftimmt zu orientiren fuchte, gab er fein ent—
ſcheidendes Botum für diefelben ab. Den fhönften Beleg hierfür bieten die
Böttiger's Berufung zum Rector des Gymnaſiums betreffenten Actenftüde,
denen aud Privatbriefe anderer Bewerber und Herber’s ausführlihes Gut-
achten (vom 22, December 1790) über deren fchrififtellerifhe und anderen
Leiftungen beigefügt find. Da legt er auch auf die Autorität bes Rectors
ein großes Gewicht, indem er jagt: „Der Mangel an Autorität ift das ge—
fährlichfte Ding bei einem Director, der nicht nur feiner Glaffe, ſondern dem
ganzen Schulkörper vorftehen, Allem ein Leben geben, Alles in Gang ſetzen
oder darin erhalten fol, und mehr fhon durd die Meinung, die man von
ihm bat, wirten fol, als durh That und Disciplin.* Auch für die Ber:
mebrung und beffere Befoldung der Lehrer trug er Sorgert). Im feiner
„Borlage zur Ständeverfammlung” im Sommer 1777 rühmte er vom Bafe-
dow'ſchen Yuftitut, daß es halb jo viel Lehrer habe als Schüler, während
*) E. W. Weber, Zur Gedichte des Weimarer Theaters, 1865, ©. 227 ff.
**), Im Sinne von Kants Grundlegung zur Metaphyſik ber Sitten, vergleiche
den 1. Abjchnitt.
**2) Sophron, 10. Rede.
7) Ebenda, 2., 3., 4., 6., 9., 17., 20. und 23. Rebe.
tr) 1787 ſtellte er 5. B. ben Antrag, die Garnifonpredigerftelle follte eingezogen
und bie mit berfelben verbundenen Einkünfte zur bejjeren Befoldbung namentlich der
Gpmnafiallebrer verwendet werden. „In weld’ armjeligen Umftänden die Geiftlichen
und Schullebrer, zumal in der Hauptftabt, leben, ijt befannt. Ihre VBefoldungen find
vor zwei Jahrhunderten gejtiftet; es ift aber Jedermann befannt, wie ungeheuer fid
14
das Weimarer Oymnafium blos über 7 Lehrer und über 7 unbefolvete
Sollaboratoren verfüge. Solche Borftellungen hatten immer wenigftens theil—
meilen Erfolg; denn Herder's Worte fielen ſchwer ins Gewicht. Geine
Ueberlegenheit in allen Fragen der Schule und fein feiner pädagogiſcher Tact
fand aud in ven höchſten Kreifen ungetheilte Anerfennung.*) Unter einer
fo pflihttreuen Amtsführung gelangte das Weimarer Gymuafium bald zu
einer Höhe, der mit Ausnahme der Fürftenfchulen von Pforte, Meißen und
Grimma kaum ein Oymnafium im übrigen Deutſchland gleid fam. Das
ihönfte Zeugniß dafür, das zugleih ein Beweis ift, wie Herder die Seele
des Ganzen bildete, finden wir in ber Gelbftbiographie des Naturforſchers
G. H. v. Schubert. Als diefer im Winter 1797/98 das Weimarer Gym—
nafium als Primaner bezog, waren ihm feine Schulgenofjen bei Weitem über-
legen, fo daß er bewundernd zu ihnen aufblidtee Im Greiz war er einer
der Erften, in Weimar hingegen unter den Yegten, obwohl hier 60 Schüler
in einer Clafje beifammen faßen. „Und wie erjtaunte ic) da, wie bewunberte
ih es, wenn id von meinen Mitſchülern Antworten auf Fragen vernahm,
welche über den Kreis meines beſchränkten Willens und Denkens weit hin—
aus lagen, oder wenn idy in ihren mündlichen oder fhriftlichen Ueberfegungen
ein Verſtändniß des claſſiſchen Alterthums und feiner Spraden bemerkte,
zu deſſen Höhe ih wie nad einem für mich unerfteiglih bohen Thurme
aufſah.“ Seine Mitfchüler wußten felbft im gefelligen Umgang über Dinge
ganz verftändig zu ſprechen, von benen er niemals Etwas gefehen, noch ge—
hört hatte.**) Schubert giebt uns zugleich ein ſchlagendes Beifpiel von dem
Eifer, der das Gymnaſium unter Herber’s Wirken belebte, wenn er erzählt,
daß er umerfättlich gewefen jet im Leſen und Berftehen der griecifchen
Claſſiker. „Im Winter war id Shen 5 Uhr Morgens und des Abends
bis gegen Mitternacht im dem geiftigen Verkehr mit den Heroengeftalten
meines lieben Homer, durchwanderte mit Herobot die alten Herrfcherreiche
der Erde, trug den Sophofles bei meinen einfamen Wanberungen nicht blos
in der Taſche, fonvern faßte die Welt, in die derjelbe mid einführte, recht
ernftlih ins Auge und ins Herz.“ ***) Während einer Ferienreiſe fragte
ihn fein Oheim in Halle, wie ibm Schulpforte gefallen habe, voll jugend—
liher Begeifterung erwiderte Schubert, daß er Schulpforte jeder andern
Schule, die er fennen gelernt habe, vorziehen würde, nur Weimar wäre ihm
ber Werth ber Dinge in biefer Zeit verändert hat... . Einige Lehrer bes biefigen
Gymnaſii fichen jo ſchlecht, daß es ihnen, wenn jie gleich wie am Joche bis tief in
die Nadıt arbeiten, dennoch jchwer ober beinahe unmöglich fällt, mit ben Ihrigen zu
ubfiitiren.‘
*) Der Miniiter Goethe fchreibt an ihn am 29, Auguft 1783: „Ich bitte Dich,
Deine Gedanken über unfer fümmtlihes Schulwefen zu jammeln. Ich will gern zu
Allem, was Du für ausführbar hältſt, das Meinige beitragen”; und am 6, Januar
1786: „Ah erfuhe Di, ben Plan auf bie Militärfhule zu erftreden, aber nach Be—
lieben zu falten, Ich wünſche, Du birigirtejt mit einem Finger bie Erziehung ber
M.... Erſt waren fie bi 9... wie Schweine, jebt find fie bei L. wie bie
Schafe, und es will nichts Menjchliches aus ben Knaben werben. Dann empfehle ich
Dir E, Stein und wollte, Du nähmeſt einmal auch rigen vor, damit man bie Zus
funft einleitete und vorbereitete.“ (Nachlaß I, ©. 73 und 87.) Ebenſo erſucht er ihn
(1792), den lateiniſchen Unterricht des Prinzen anzuordnen,
**) Selbitbiographie, I. Bo., S. 251; vergl. S. 256 f.
***) Ebenda, ©. 262,
15
lieber; denn „es lebt bort ein Mann, dem ich, wenn es fein müßte, zu Fuße
und barfuß, in Hige und Froft, Hunger und Durft, mitten hinein nad
Aften nachziehen möchte, um mid an feinem Anblide und Worte zu erfreuen
und zu beleben, diefer Mann heißt Herder.“*) Und 38 Jahre fpäter
fhreikt er aus Smyrna an einen Freund: „Was uns damals fobald be-
frenndete, das war bie gemeinfame Liebe zu einem hohen edlen Geift, zu
einem großen Berftorbenen, der Ihnen in feinen Schriften, mir aber über-
dies auch durch Wort und That ein Führer auf der Bahn des Erfennens
und Wirkens geweſen ift, die gemeinfame Liebe zu Herder. Das Un-
venfen an dieſen theuern Mann ift mir auf meiner Reife, auf der Fahrt
durch die Propontis und vorüber an den Küften von Troja, mit einer folhen
Lebhaftigkeit nachgegangen, daß mir ganze Stellen aus feinen Werken vor
die Seele traten, daß mir e8 war, als fei ich erft geftern in Weimar. ge
weſen und habe die Stimme vernommen, welche längft für das Obr aus
Staub, nicht aber für ein Herz voll dankbarer Liebe und Ehrfurcht ver-
ſtummt ift.“ **)
2) Herder’s Keziehungen zur Dolksfchule und zum Seminar.
Wie am Gymnaſium, fo finden wir Herder aud in den Volksſchulen
der Städte und Dörfer des Herzogthums thätig; überall hauchte er meues
Leben ein. Zwar find aud bier die Neformpläne leider abhanden ge=
fommen, nicht aber die erfrenlichften Zeugniffe für die wohlthätigen Folgen
derselben. Unter den Acten aus diefer Periode finden fih von verſchiedenen
Volksſchullehrern Berichte über die Ziele, die in ihren Claſſen erreicht
worden, Schülerverzeihniffe mit Cenſuren; Alles das und noch mandes
Andere ließ ſich Herder zuſenden. Wie ernft und grünbli er die Sache
behantelte, zeigen beutlid einige Blätter, wo ein Paftor aufgefordert wird,
ren gefunfenen Zuftand der Schule feiner Gemeinde zu rechtfertigen. Bald
taranf erjcheint der Befragte mit einem ausführlihen Beriht und enthüllt
uns bie traurigften Bilder aus der Landſchulmeiſterwelt. Unermüdlich fuchte
Herder überall zu helfen, mo es vie Berbeflerung ter Schulen und bie
Hebung des von ihm hochgeachteten Lehrerftandes betraf. Namentlich jammerte
ihn vie Auferft bürftige Beſoldung der Landſchullehrer. Er regte bei ber
Regierung Ueberlegungen an, wie die blutarmen Edulftellen des Landes an
Einkünften verbeffert werden könnten. ***) „Der Staat*, fagt Herver in
einer feiner Reden, „muß der Schule die Aufmerkſamkeit ſchenken, die ihr
als der widhtigften Angelegenheit des Staates, durd welche feine künftigen
Bürger und Diener in allen Ständen gebildet werden follen, gebührt. Die
Lehrer müſſen zu leben haben, und nicht wie die Lafttragenden Efel nad)
einer Reihe ermattender Stunden von Dornen und Difteln fih nähren.“ T)
„Was hilft ihnen alle falomenifhe Weisheit, wenn fie bei Mißwachs oder
einem theuern Jahr Gefahr laufen, mit Weib und Kindern zu ver-
bungern ?* Tr)
*) Ebenda, S, 777.
**) Meimarifches Herberalbum, 1345, ©. 247, — Vergl. Renner, ©. 7.
***) Zweiter Entwurf zur Organifation des Seminars, $ 18,
7) Sophron, 10. Rebe,
77) Entwurf, 8 18,
16
Herder ſah fofort ein, daß die großen Mifftände, befonders bie äußerſt
mangelhafte Borbildung der Lehrer, nicht eher befeitigt werben fünnten, als
bis durch eine zwedmäßige Vorbereitungsanftalt für gehörige Ausrüftung
Sorge getragen würde. So fafte er das Uebel an der Wurzel und drang
auf vie Gründung eines Schulmeifterfeminariums.
Es darf aber nicht unerwähnt bleiben, daß ſchon vor dieſen Reformen
Herders Einiges für die Vorbildung ver Landſchullehrer gefchehen war,
woritber uns Schweiger feine Nachrichten mittheilt. Die Sache verhält fich
alfo: die für vie Hebung des ganzen Schulwejens eifrig bemühte Herzogin
Anna Amalia hatte 1771 eine Freifhule gegründet und im biefelbe einen
tüchtigen Clementarlehrer eingejegt, der zugleih Bediente, entlafjene Sol—
daten u. dgl. für den Unterricht an niedern Schulen in ber rechten Methode
anweiſen follte; außerdem wurben dieſe „Schulbedienten“ vom Satecheten
in einer Stunde wöhentlih im Katechismus unterwiejen und in der unter=
richtlihen Behandlung vefjelben belehrt, vielleicht auch praftiich geübt. Doch
bewährte ſich dieſe primitive Einrichtung nicht. Da tauchte im Ober—
confiftorium 1775 ver Gedanke auf, zur Gründung eines ordentlihen Lehrer—
feminars die nöthigen Schritte zu thun. Die günftige Gelegenheit bot fid)
dar, als zum Sommer 1777 eine Ständeverfammlung ausgefchrieben wurde,
zu welder tie Behörden ihre Bitten und Beſchwerden einjenden konnten.
Der Dberconfiftorialratd Schneider entwarf nod vor Herders Berufung
eine auf das Schulweien fid) beziehende Vorlage, in welder er mit Hinweis
auf die Nachbarſtaaten befonders die Nothwendigkeit der Errihtung eines
Landichullehrerjeminars hervorhob und den Herzog um Unterjtügung bat.
Als Herder nad Weimar Fam, befräftigte er dieſe Vorſchläge aus voller
Geele. Die Beihlüffe der Stände fielen fehr günftig aus. Am 24. November
erfolgte die officiele Verordnung, im welder ver geforderte Beitrag zur
Gründung des Seminars zugefagt wurde; nur follte zunächſt ein Organifa-
tionsplan vorgelegt werden. Mit der Ausarbeitung befjelben wurde Herber
betraut. Erft am 1. November 1780 reicht er ihn ein und bittet im
Begleitfehreiben den Herzog wegen der langen Frift um Entihuldigung,
denn er babe fih von jolhen Anftalten erft in andern Ländern Kenntniß
verſchaffen müſſen. Der Plan war nun fertig, aber bis zur Verwirklichung
deſſelben jollten noch mehrere Jahre vergehen. Die Stände konnten fi
über die Ausführung viejes Entwurfes, der tief aud in die übrigen Schulen
Weimars eingriff, nicht einigen. 1783 wird der Plan nochmals vorgelegt,
und bald darauf ergeht der herzogliche Befehl, es jollten neben dem Seminar-
plan auch Vorlagen über die Unterrichtögegenftände und deren Methobe,
fowie über eine beſſere Einrichtung der Schulen, befonders auf dem Yande,
eingereicht werden, damit aus der Sade ein Ganzes gemacht werben könnte.
Die Verzögerung einer fo wichtigen Angelegenheit verdroß Herbern jehr.
Natürlich follte er nun aud den Geſammtplan ausarbeiten. Am 17. Mai
1786 reicht er den Entwurf zum Seminar in etwas abgeänberter Form
ein — die übrigen Vorlagen ſcheint er nicht eingefenvet zu haben, ba in
den Xcten feine Spur davon zu fehen ift —, und ein Yahr darauf endlich
erfolgt von Seiten des Herzogs der Befehl, das Seminar folle nun ein-
gerichtet werden. Im April 1788 melvet Herder an den Herzog, daß bie
Anftalt am Montag nad Quaſimodogeniti, d. i. am 31. März, eröffnet
17
werben ſei und wünſcht der Sache einen fo guten Fortgang, als der Anfang
zu verfprechen ſcheine.
Wir wollen und nun die Einridtung des Seminars vergegenwärtigen,
ſoweit fie fih aus Herbers beiden Entwürfen und anderen Actenjtüden zu—
fammenftellen läßt. Wie fehr Herdern das Seminar am Herzen lag, läßt
fih ſchon daraus ableiten, daß er felbft das Directorat übernahm, und zwar
aus dem bejonderen Grunde, weil er als Öeneralfuperintendent zugleich die
Dberauffiht über das Schulwefen des ganzen Yandes führte, und er fo einen
unmittelbaren Einfluß auf die Heranbildung tüchtiger Lehrer ausüben wollte.
In diefer Stellung ſtand er den Seminarlehrern rathend und belfend zur
Seite, vollzog die Prüfungen ver in das Seminar Eintretenden, leitete das
Jahreseramen — neben dem der Gymmafiaften —, über weldes er au den
Herzog Bericht zu erjtatten hatte, und bejegte dann aud die Landſchul—
ftellen. Im ter Wahl ver Lehrer bewies er auch hier große Sorgfalt. Der
oben erwähnte Kath Schneider ſchlug die Anftelung jenes Freiſchullehrers
zum Seminarlehrer vor; dagegen ſtemmte ſich Herder ganz entfhieden und
brachte feine Gründe in eine Beilage zum erften Entwurf. Da bebt er
hervor, daß jener als Elementarlehrer zwar tüchtig, aber fein Stubierter ſei;
er könne feine Kinder nod fo gut inftruiren, daraus folge aber nicht, daß
er Lehrer vorzubereiten fähig fei; er müſſe im Stande fein, feine Uebungen
auch Andern deutlich zu machen und auf beftimmte Begriffe zu reduciren.
Dann fet er aber auch zu alı. Zu einem neuen Inftitut gehöre ein junger,
eifriger Lehrer, der eine Zeit lang fein Hauptwerk aus dieſer Sache made
und dem zu wünjchen fei, daß er andere ähnliche Inftitute beſuche, um
jeinen Fleiß und Eifer aufzumuntern. Ein bejahrter Lehrer bringe felten
in eine junge Anftalt Feuer und Yeben; er habe das Seine auf ver Welt
gerhan und thue es in der Stille fort; es ſei fo unbejheiden, als unnüg,
ibm zuzumutben, daß er eine andere Denk» und Lehrart ergreife over fie
mir dem Jugendeifer unterftüge und behandele als ein Anderer, der hierin
uch Laufbahn und Berbienft fuche Wie gewöhnlich, jo fiegte Herder aud
diesmal. Es wurde ein junger Candidat ald Seminarlehrer angeftellt, ver
in der bibliſchen und Brofan- Gefhichte, im der Geographie und Naturs
geihichte und in Auffagübungen zu unterridten und aud für Untermweifung
in einer guten Methode des Buchftabirens Sorge zu tragen hatte. Endlich
jollte er Über die lehrenden Seminariften genaue Auffiht führen und viertel-
jährlich einen Bericht über den Zuſtand und die Yeiftungen der Anftalt an
das Oberconfiftorium einliefern. Dieſe beiven legtern Yunctionen hatte er
mit dem fogenannten Seminarinfpector gemein. Derſelbe unterweift bie
Seminariften in dem Katehismus und im der unterrichtlihen Behandlung
deſſelben, läßt fie bei feinen fonftigen Katehifationen hofpitiren, bofpitirt
daun felbft bei den Lehrenden, auch in andern Fächern, ertheilt ihnen
merhodifche Winke und macht fie auf ihre Fehler aufmerkjam; kann er nicht
abbelfen, jo hat er fih an den Director zu wenden. Golde praftifche
Uebungen hält Herber (im erften Entwurf) für hochnöthig. Nur „mit guten
Zeugniffen ausgeſtattete Subjecte* und zwar secundae ober tertiae classis
gymnasii im Alter von mindeftens 14 Jahren werden nad überjtandener
Prüfung ins Seminar aufgenommen. Die Seminariften theilen fih in blos
Vernende, die den Unterricht zum Theil am Gymnaſium genießen, und in
Morres, Herder ald Pädagog. 2
18
joldye, die au regelmäßigen Unterriht an den Stadtſchulen ertheilen; und
zwar werben jedesmal vom Director die ſechs Tüchtigſten zu Lehrenden
ausermählt, die dann aud Gehalt beziehen. Auf dieſe innige Verbindung
des Seminars mit allen übrigen Schulen der Stadt legte Herder großes
Gewicht. In der genannten Beilage fchreibt er: „Abſichtlich wollte ich das
Seminar mit den übrigen Anflalten verflehten, weil ich ütberzeugt bin, daß
alle ifolirten Pläne nichts helfen; fie erreichen jelten ihre Wirkung oder
verfallen in kurzer Zeit; dahingegen ein Inftitur, das feine Wurzeln in
und um allerlei Inftitute fchlingt und ihnen nützlich wird, mit dieſen allen
beftehen muß.“ Wir werben uns jofort überzeugen, wie jehr Herder in
den damaligen Berbältniffen mit feinem Grundſatze recht hatte, wenn fi)
verfelbe auch nicht fo allgemein anwenden läßt. Die Vereinigung gereidhte
dem Seminar, wie den übrigen Anftalten, in der That zum größten Segen.
In feinem Beriht über das erfte Seminareramen (vom 30. Juli 1788),
welches mit günftigem Erfolge abgehalten worden, hebt Herder ausprüdlic
hervor, daß die Mägpleinihule, am welder zwei Seminariften mitwirkten,
den früheren Jahren gegenüber, fi) kaum mehr glei je. Es war be—
greiflih; denn früher hatte der einzige Lehrer über hundert Schülerinen
zu unterrichten (1788 waren 150). Noch deutlicher traten die mohlthätigen
Folgen der Verbindung mir der Freifchule hervor, welcher ebenfalls zwei
Seminariften als Mitarbeiter zugetheilt waren. Hier verſahen fie den
Unterriht von 1798 an vier Jahre ganz jelbftändig, da der altersſchwache
Lehrer nad langwieriger Krankheit geftorben war und feine Stelle nod
zwei Jahre vacant blieb. Eine folhe Verfhmelzung des Seminars mit den
übrigen Anftalten ift zugleich ein deutlicher Beweis, einen wie großen Werth
Herder auf die praftifche Ausbildung der Seminariften legte. Darum be=
ftimmt er den Zwed des Seminars dahin, jungen Leuten, die fih zu Land—
ichulmeifterftellen vorbereiten wollen, „das Nothwendige und wahrhaft Nüß-
liche ihres künftigen Berufs in einen zwedmäßigen Unterriht und durch
eigene Uebung zu lernen; denn die befte Geſchicklichkeit eines Schul—
fehrers wird nur durch Methode und Hebung erlangt.“ *) Die nod)
engere Vereinigung mit dem Gymnaſium, gemäß welher vie untere Ab-
theilung der Seminariften daſelbſt einen großen Theil des Unterrichts
empfing, tft ebenfalls gerechtfertigt, wenn man bebenft, daß das Seminar
nur über fehr geringe Mittel verfügen konnte; blos dur die Anlehnung
ans Gymnaſium konnte auf fihere Forteriftenz deſſelben gerechnet werben.
Speciellere zuverläffige Beftimmungen über die erfte Einrichtung des Seminars
werden fih nad den vorhandenen fpärlihen Zeugniffen faum zuſammen—
ftellen laſſen. Nady der erwähnten Eintheilung der Seminariften fünnen
nicht mehr als zwei Abtheilungen gewejen fein. Eine eigentliche Klaffen-
eintheilung war nicht vorhanden. An einem volftändigen Stundenplan
fehlt es; im ven Berichten der Lehrer find blos die Stunden von 9—10
und von 3—4 angemerkt. Der mufifalifhe Unterricht wurde von dem
Ständen zu Jena einer bejonderen Pflege empfohlen. —
Schon aus dem Geſagten leuchtet deutlich hervor, wie fehr Herder auch
diefer Anftalt feine Sorgfalt zumwandte Aus dem Umftande, daß er jevesmat
*) Entwurf, $ 3,
19
die für dem Unterricht beftimmten ſechs Seminariften auswählte, läßt fih recht
wehl ſchließen, daß er mit dem innerften Getriebe des Seminars vertraut
gemejen fein muß. Die Examreden, deren Charakter wir in Bezug auf bie
Gnmnafiaften flüchtig berührt, galten aud den Seminariften. Auch von
ihnen betheiligten fih Cinzelne am Theater, namentlih am Opernchor.
dadurch wurde die ernfte Kirchenmuſik, deren Pflege Herver fi ſehr an-
gelegen fein ließ, vor Allem auf dem Lande in hohem Grade gefährbet und
nach einigen Zeugniffen auch thatſächlich geſchädigt. Dieſer Uebeljtand drohte
vollends einzureißen, als der katholiſch-franzöſiſche Concertmeiſter am Theater
turh Goethe's Bemühungen als Mufiklehrer am Gymnafium und Seminar
angejtellt wurde, obwohl Herder dagegen mit der größten Energie anfümpfte.
dech verhalten feine auf Abhilfe dringenden Gefuche, die er an deu Herzog
einreichte, nicht vollſtändig. Goethe fand die Sache ſchließlich ſelbſt etwas
bevenflih, fo dag er dem Rathe Herbers folgend, der das Geſchehene nicht
ändern konnte und nachzugeben genöthigt war, auf ein Probejahr einwilligte,
das zu Herder's Genugthuung ganz ungünftig ausfiel. Sofort wurde ber
Goncertmeifter entlaffen und ein anderer, geeigneter Lehrer angeftellt.*) So
war Herder aud hier bemüht, tüchtige Lehrkräfte an feine Seite zu bringen
und alle ſchädlichen Einfliffe von der Anftalt fern zu halten. Zu bevauern
ft nur, daß die Lehrer gerade in der erften Zeit ſehr häufig wechſelten,
wodurch das Seminar in feiner Entwidelung zurüdgebalten wurde. **)
Soviel ift aber gewiß, daß nun die Sculftellen im weit beſſerer Weife
bejegt werden konnten, als es früher möglich war. Herder wußte feinen
Lehrern auch das nörhige Werkzeug in die Hände zu geben. So jchrieb er
zunächſt das „Buchſtaben- und Leſebuch“ 1786, welches 16 Seiten ftark ift,
und eine „Anweijung für verftändige Scullehrer* enthält. Mit vemjelben
half Herder einem jehr dringenden Bedürfniſſe ab, da die damaligen Bücher
tiefer Art blos auf geiftlofen Mechanismus des Lejenlernens berechnet, und,
wie fih Herder beflagt, ver Faflungskraft der Kinder gar nicht angemeſſen
waren ; Ausführlicheres darüber im der zweiten Abtheilung. Aehnlich verhält
es fih mit dem Katechismus, den Herder zwölf Jahre jpäter herausgab. ***)
In einem Geſuch vom 16. September 1797 baten die Stände den Herzog,
et möge den von Herder verfaßten Katehismus betätigen, denn der bisherige
jet „außerft ſchlecht“. Schon nad) ſechs Tagen erfolgte die Bewilligung und
1798 erjchien die erjte Ausgabe, der nod viele andere, gewöhnlich ohne
Jahreszahl, folgten. Die erjte Abtheilung des Buches enthält zunächſt die
Hauptſtücke ohne Lurhers Erklärung, ſodann mit verjelben. Die zweite
Abrheilung bietet die katechetiſch geordnete Erklärung des Katechismus mit
*) Zur Gejchichte des Weimarer Theaters von E. W. Weber, ©. 240 fi.
**), Ausführliches darüber bei Schweiger, Gefhichtlihe Nachrichten, ©. 12 f.
*) In ben Erinnerungen (III. Theil, ©. 64 f.) wird mitgetheilt, daß Herder
dad Manufcript vor dem Drude an feine Gollegen zur Begutachtung geſchickt. Aus
den Begleitworten wollen wir Folgendes hervorheben: „Bon den 20 oder 3U Katechismen,
die ih vor mir gehabt habe, babe ich Manches benugt, aber feinen durchaus zu Grunde
gelegt, weil in den meijten eine zu fünftlihe componirte, theologiſche Sprache, in ben
andern die fhändlichite Schluderei herrſchet. Ein echter Katechismus muß viel, Alles
aber auf die feichtefte, faßlichſte Weiſe leiften. Compendienweisheit und ein trodier
Stammbaum von Lehren und Pflichten ijt ein todtes Ding, jo kurz man auch bamit
dinfommt,”
2*
—
20
voranftehender Aumweifung für Lehrer. Diefer Katehismus fteht in feiner
Zeit ohne Zweifel einzig da, und aud in unferen Tagen, wo über
Schwankungen zwifhen den Exrtremen geklagt wird, fteht er wenigftens
ebenbürtig neben den beften ähnlichen Büchern. Ein freier, edler hriftlicher
Geift weht im demfelben, und aud in pädagogiſcher Beziehung ift er eine
bemerfenswerthe Erfcheinung. Der Director Dr. Horn hat, die Vortrefflich-
teit deffelben erfeunend, 1810 ein befonderes umfangreiches „Handbuch für
Scullehrer zur Beförderung eines zwedmäßigen Gebrauhs des Herder'ſchen
Karehismus“ herausgegeben. *) Im Vorwort zur erften Auflage hören wir
von ihm folgendes treffende Urtheil: „Der Herber’ihe Katehismus enthält
einen ſolchen Reichthum religiöfer und moralifher Gedanken, fo viel praftifche
Andeutungen, fo viel ſchöne Anfihten; es herrſchet ein fo frommes Leben
in ihm, daß man nicht aufhören kaun, fih mit ihm zu beihäftigen und daß
er dem Nachdenkenden auch bei täglicher Beihäftigung mit ihm, immer neu,
immer belehrend und ermunternd zum Öuten bleibt, fo daß man fi ven
beiten Erfolg verfpregen muß, wenn er im Geifte Herder's behandelt wird.“
Horn har mit feinem Handbuch felbft den Beweis geliefert, daß er es viel-
leiht am beften verftanden, das Werk im Geifte feines Meifters zu erfaflen
und weiter auözubauen. Auch eine beilere Ausgabe des Gefangbudes
bejorgte Herder, da im alten mande Texte entftellt oder ohne allen Werth
waren. **) Eundlich hatte Herder noch die Abficht, zwei Leſebücher für bie
unteren Schulen zufammenzuftelen. Das eine follte eine „Auswahl ber
vorzüglicften Beifpiele zur Nahahmung, zur Vereblung des Herzens, zur
Schärfung des Urtheils und des BVerftandes enthalten.“ Diefem jollte ein
naturhiftorifches Leſebuch für die nieveren Schulen folgen, durch welches ben
Kindern „richtige Begriffe von den ihnen zunächſt liegenden natärlihen und
ölonomifhen Dingen, von niüglichen oder ſchädlichen Pflanzen und Thieren,
vom Menfhen, von Naturerfheinungen, und etwas allgemein Berftändliches
von der Naturlehre beigebradht werden.“ ***) Diefen und noch manden andern
Plan, ver fih auf das Schulweſen bezog, hat er leider nicht ausführen
fönnen. Er ftarb am 18. December 1803.
*) Die 2. Auflage 1826, 3. Auflage 1837.
**) Am 3. April 1793 reichte er feine fehr ausführlige Kritif des alten Ge—
fangbucdes ein; das neue erſchien 1795,
***) Gtinnerungen, III. Theil, ©. 21.
B.
Herder’s Pädagogik.
1) Aufgabe der Erziehung.*)
„Don Kindheit auf empfangen wir den beften Theil unjeres Wefens
von Andern durch Erziehung, dur Unterricht und gleihjam durch mit-
getheilte Erfahrung. Das Haus unferer Eltern, ja der Schooß und die
Bruft der Mutter ift unfere erfte Schule. Aus heiler Haut können uns
zwar Gefhmwüre, Kröpfe und Beulen wachen, niht aber Wiffenfhaften und
Künſte.“ „Es fällt auch nirgend ein Meifter vom Himmel.” „Was wir
wiffen, wiffen wir durch Antere, was wir gebrauden und zu gebrauchen
felbit lernen mitffen, haben Andere erfunden. Das ganze Menſchengeſchlecht
it gewiffermaßen eine durch Jahrhunderte fortgefegte Schule, und ein neu—
gebornes Kind, das plöglich viefer Schule entnommen, das biefer Kette des
Unterrichts entriffen, auf eine wüfte Infel gejegt würde, märe mit allem
feinem angeborenen Genie ein armes Thier, ja in zehnfachem Betracht elender
als die Thiere.* **) Mithin muß es innerhalb des Gefellichaftsfreifes erzogen
werben, alfo im Gegenfat zu Rouffenu, der feinen Zögling von aller Cultur
tolir. Während Rouſſeau außerdem in feinem „Emil“ den natürlichen
Gang einfchlagend die größte Sorgfalt auf das phyſiſche Auferzieben wendet,
fiehbt Herder von demfelben da, wo es ſich um Erziehung im eigentlichen
Einne handelt, ab; denn diefe bezieht er auf das Geiftesleben und bezeichnet
fie als eine Bildung des Innern. ***) Freilich bat ſich Herder aud zum
Bewußtſein gebracht, daß der Geift Kraft und Leben nur in einem „ge
funden, tüchtigen und fröhlihen Organ“ zeigen kann.}) In ver Seele
des Kindes liegt, ehe es mit der Außenwelt in Wechfelmirkung getreten,
nichts Fertiges vor. Bon Natur ift e8 werer gut, noch böfe, aber im fein
weihes Gemüth kann fich beides eindrüden. FF) Da nun ver Menfch feiner
phyſiſchen Natur nah ſchwach ift, fo verfällt er leicht dem Einnengenuß und
läßt fih von Begierden beherrihen, fo daß dann das Böſe in ihm zur Macht
gelangen kann. Hingegen müſſen von Seiten der Eltern und Lehrer gemein-
fame Beranftaltungen getroffen werben, „fonft ift das Kind verloren“.+rr) Und
die Gejellfhaft, in der es aufwächſt, hat im eigenen Intereſſe zu forgen,
daß es nicht auf falfche Wege gelenkt, daß feine Erziehung nit ſchwer oder
unmöglich gemacht werde. j*)
Welche Aufgabe hat nun die Erziehung zu löfen? Oft glaubt man
mit der Anhäufung von Kenntniffen, mit Erweiterung und Verfeinerung der
Verftandesfräfte genug gethan zu haben. Die Vervollkommnung hängt aber
*) Größtentbeils Herber’s eigene Worte.
**) Sophron, 5, Rebe.
*##) Ebenda, 19. Mebe.
+) Ebenda.
tr) 123. Sumanitätsbrief.
rrr) Sopbron, 17, Rede und Lebensbilb I, 2, Abtheilung, ©. 56.
7*) 25. Humanitätöbrief, $ 4.
22
nicht von der Vermehrung ver blofen Kenntniffe ab, denn aud den Dämonen
fhreiben wir Berftand zu, und in den Händen des Böfewichts find ver-
mehrte Mittel vermehrte Uebel.*) „Was helfen alle Wiffenfhaften obne
Sitten? Was helfen alle erworbenen Kenntnifie ohne Gemüth? Wir wiffen
Ale, daß unfern Zeiten mit Recht der Vorwurf gemacht wird, daß nicht,
wie in den alten und älteften Zeiten, unfre Weisheit im Leben ausgebrüdt
wird, und von Sitten ausgehend, auf Sitten zurüdfehret. Sie wohnet
bei uns mehr im Kopf als im Herzen, und hat meiftens nur das Gedächtniß
bereichert, als die Sinnesart gebilbet."” Darum ift die Sinnesart, ein ge:
ftärkter, guter Wille, das weſentlichſte Erforderniß in der Bildung unjerer
Jugend ; Hauptfahe in der Erziehung ift alfo die Heranbildung eines feiten
moralifhen Charafters.**) Diefer muß über alle Kenntmiffe die Oberhand
gewinnen und als eine im Innern wohnende Weisheit den ganzen Menſchen,
die Einheit aller feiner Kräfte in allem feinem Wollen und Handeln bes
ftimmen, fo daß er dadurd als eine firtliche Perfönlichkeit fih offenbart und
al fein Thun und Laſſen als ein Ausfluß verfelben erfcheint. ***) „Was
nie zerſtückt fein darf, das ift der menjchlihe Charakter.“ 7) Cine jolde
moralifhe Bildung verleiht dem Menſchen den höchſten Werth, und bewirkt,
daß er fich blos in den Dienft edler Zwecke ftellt.
Herner bezeichnet diefe fittlihe Durchbildung des menfhlihen Charakters
wohl als Humanität, obſchon der Begriff, den er mit diefem Ausprude ver-
bindet, fi oft in ſchwimmenden, ſchwankenden Umriffen zu verlieren fcheint,
und bald mehr auf die fpecifiih claffiihe Bildung beſchränkt, bald, und aller-
dingft zumeift, über das gefammte Gebiet menfhlichen Geifteslebens erftredt,
indem er „echte Menſchenvernunft, wahren Menfchenverftand, reine menjchliche
Empfindung“ zugleich befaßt. „Betrachten wir die Menfchheit“, jagt Herder,
wie wir fie fennen, nad ben Gefegen, die in ihr liegen, fo fennen wir
nichts Höheres als Humanität im Menſchen.“ Fr) Dahin gehört die uneigen-
nügige, wohlwollende Liebe zu unfern Mitmenfchen Frr), gehört Alles, was
wahrbaftig, ehrbar, gerecht, feufch, lieb ift und wohllautet. Noch beftimmter
*) 24. und 123. Humanitätsbrief.
**) Sopbron, Rebe 19, 14, 1 und 123. Humanitätsbrief.
**x*) Im Sinne Hamann's.
7) Sopbron, 14. Rede.
+r) Ideen zur Philoſophie der Geſchichte ber Menſchheit, XV. Band, 1. Gapitel.
ir) 32. Humanitätsbrief. Hierüber jtellt Herber folgende Betrachtung an: „Das
weiche Mitgefühl mit ben Schwächen unferes Gejchlehts, das wir gewöhnlicher Weife
Menjchlichkeit nennen, macht die ganze Humanität nicht aus. Zu rechter Zeit, am
rechten Ort, ziert e8 den Menfchen allerdings, da Sumpatbie in reinem Verjtande, d. i.
eine lebhafte, ſchnelle Verfepung in ben Zuftand bes Fehlenden, Irrenden, Leidenden,
Gequälten, der zartefte Kitt ber Vereinigung ähnlicher Geſchöpfe und unter Menſchen
das lindeſte Band ihrer Verbindung iſt . . . . So notbwendig inbefen eine menichliche
Lindigfeit und Milde gegen bie fehler und Leiden unferer Nebengejchöpfe bleibt, jo
muß fie bob, wenn fie zu weich und ausſchließend wird, den Charakter erfchlaffen und
kann eben dadurch die härteſte Graufamfeit werben, Obne Gerechtigkeit beſteht Billig=
feit nicht; eine Nachſicht ohne Einſicht ber Schwächen und Fehler iſt eine Ber—
zärtelung, die eiternde Wunden mit Roſen bebedt und eben dadurch Schmerzen und
Gefahr mehrt.“ Damit bat Herber das reine Woblwollen ſcharf genug hervorgehoben.
Der Woblwollende erbebt fid Über bie ſchwankenden Gefühle der Sympathie, welche
bier mehr ein Mitleiven bedeuten, erfaßt mittelit feiner Ginficht den AZuftand des
Leidenden als folden und fucht ihn durch die That zu lindern.
23
und noch weiter ausgreifend heit es dann an anderer Stelle: „Was zum
Charakter unferes Gejchlehts gehört, jede mögliche Ausbildung und Vervoll—
tommmung befjelben, dies ift das Object, das der humane Mann vor fi
bat, wonach er ftrebt, wozu er wirkt.” „Humanität ift der Charafter unfers
Geſchlechts; er ift uns aber nur in Anlagen angeboren und muß uns eigent-
{ih angebilvet werben ; wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit, auf
der Welt aber foll er das Ziel unferes Beftrebens, die Summe unjerer
Uebungen, unjer Werth fein.“ Endlich mit fürzeftem und umfaſſendſten Aus-
trud: „Humanität ift der Schag und die Ausbeute aller menfhlihen Be—
mühungen, gleihjam die Kunft unfers Gejchledhts." *) Was nun die nähere
Beftimmung und die VBerwirklihung dieſes Humanttätsbegriffes Betrifft, fo
gebt uns Herder folgenden Auffhluß: „Zur Menſchheit und für die Menjch-
beit gebilvet foll unfer Geift werben, und was uns dazu bildet, ift studium
humanitatis.“ **) „Zu dieſem Zwed iſt unfere Natur organifirt; zu ihm
find unfere feinern Sinne und Triebe, unfere Vernunft und Freiheit, unfere
zarte und dauernde Geſundheit, unfere Sprade, Kunft und Religion uns
gegeben.“ ***) „Dies ift das wahre studium humanitatis, in weldem uns
Griechen und Römer vortrefflic vorgegangen find.*7) „Was in ven Schriften
der Alten und Neuen zuv Bildung der Humanität eines Menſchen dienet,
gehört zu den humanioribus, e8 möge foldyes Beredtſamkeit oder Poefie, Philo—
fopbie oder Geſchichte heißen. Fr) Aber nicht nur diefe Wiffenfchaften, ſondern
auch die Künfte fünnen, wenn fie von rechter Art find, feinen andern Zweck
haben, als uns zu humanifiren.“ +r}) So ift „auch die griechifche Kunft eine
Schule ver Humanität; unglüdlih ift wer fie anders betrachtet! Ohne bie
Kunft der Griechen würden wir manche Gedanken ihrer Dichter und Weifen
nicht verftehen ; als öde Worte ſchwebten fie vor uns vorüber. Nun bat
fie die Kunſt ſichtbar gemacht und damit and) den ganzen Geift der Com-
pofition ihrer Schriften, ven Zweck ihrer Eittenformung, und was fie ſonſt
unterjcheidet, in anjehnlihen Bildern dem menschlichen Verſtande vorgeftelt,
kurz, anfchauliche Categorien der Menſchheit gegründet.“ F*)
Ebenſo find nad Herder aud alle Einrichtungen der menſchlichen Ges
jelihaft und menfhlihen Natur auf Bildung zur Humanität berechnet. „In
allen Zuftänden und Geſellſchaften hat ver Menſch durchaus nichts Anderes
im Sinn haben, nichts Anderes anbauen künnen, als Humanität, wie er ſich
biefelbe auch dachte. Ihr zu gut find die Anordnungen unferer Geſchlechter
und Vebensalter von der Natur gemacht, daß unfere Kinpheit länger dauere
und nur mit Hilfe der Erziehung eine Art Humanität lerne; ihr zu gut
find auf der weiten Erde alle Yebensarten der Menſchen eingerichtet, alle
Gattungen der Gefelfchaft eingeführt worten..... Was alſo in ver Ge—
Ihichte je Gutes gethan ward, ift für die Humaniät gethan worden.“ +**)
*) 27. Humanitätsbrief,
) Sophron, 9. Rebe,
**) Ebenda.
+) 29. Humanitätsbrief,
tr) Sopbron, 9. Rede; — 2. ” Humanität bei den Alten und in ber Ge:
ſchichte, vergleiche Gapitel II und IV,
trr) 32. Humanitätisbrief.
1*) 63, Humanitätebrief.
7**) Ioeen zur Philoſophie der Geſchichte der Menfchbeit, XV. Band, 1. Gapitel,
24
Endlich ift au die Religion ein hervorragendes Mittel zur Humani-—
tätsbildung. „Dahin ging die Sorge der Geſetzgeber und Weijen, daß fie
in Worten und Gebräuchen den Menfchen die unentbehrlihen und. heiligen
Pflichten gegen ihre Mitmenfhen anempfahlen und dadurch das ältefte
Menihen- und Völferreht gründeten. Religion wars, vom Morde fich
zu enthalten, vem Schwachen heizufpringen, dem Irrenden ben rechten Weg
zu zeigen, des Berwundeten zu pflegen, ven Todten zu begraben. In Religion
wurden bie Pflichten des Ehebunds, der Eltern gegen die Kinder, der Kinder
gegen die Eltern, des Einheimifhen gegen den Fremden eingehüllt und all»
mählig dies Erbarmen auch auf die Feinde vorbereitet.**) Das Chriften-
thum aber gebietet die reinfte Humanität auf dem reinften Wege: verzeihende
Duldung, eine das Böfe mit dem Guten überwindende thätige Liebe. Es
giebt Fichte und Leben der Menfchheit, durch Vorbild und liebende That. **)
Was mithin die Moral gebietet, finden wir aud in der riftlihen Religion,
aber in einem erhöhten, verflärten Olanz ; fie flößt uns die Zuverfiht ein,
daß eine höhere Weisheit dem firtlih Guten den Sieg verleiht. Dieſe
Religion ift die höchſte Humanität, die erhabenfte Blüthe der menfhlihen
Seele.***) Darum foll man begründen und befeftigen, in den jungen Ge-
müthern, was wahrhaft Religon ift. +)
Demnach ift die Aufgabe der Erziehung nach Herder die Bildung zur
Humanität, zum fittlichereligiöfen reinen Menſchenthum. Diefes Ziel ift ver
Endpunkt aller erzieherifhen Thätigkeiten ; daffelbe muß aud der Echule
vorſchweben, denn fie ift eine Erziehungsanftalt, die Volksſchule in gleichem
Einne, wenn aud nicht im gleicher Weife wie das Gymnaſium. Der edle
Charakter ver Menfchheit, die Humanität, muß an jedem Schüler ausgeprägt
werben. Eine folhe Menfhenbildung geht aller Berufsbildung voraus. Der
Zögling muß vor Allem Menſch werden, ehe an einen beftimmten Beruf
gedaht werden kaun. Wehe ihm, wenn er in feinem zufünftigen Beruf
vergißt, Menſch zu bleiben. Fr)
Aus allen diefen Anführungen erhellt, wie richtig Herder die Aufgabe
ter Erziehung erfaßt. Es erhellt aber auch, daß Herder feinen Humani-
tätebegriff nicht aus Rouffeau’s „Emil“ gefhöpft haben wird. Für Rouſſeau's
Bildungsideal ift der Sag mahgebend, daß der Menfh von Natur
gut fei. Herder leugnet diefen Sag mit Recht. Iſt nun aber der Menſch
von Natur gut, jo hat die Erziehung nah Rouſſeau nur zu „verhindern,
daß eiwas geſchehe.“ Frr) „Die erfte Erziehung (bis zum 12. Jahre) darf alfo
bloß rein negativ fein. Cie befteht nicht darin, daß man Tugend und Pater
unterjheiden lehre, fondern daß man das Herz vor Fehlern, den Verſtand
*) 28, Humanitätsbrief.
**) 124. Humanitätsbrief. — 25. Humanitätsbrief, S. 29 und 30,
***) Ideen zur Pbilojopbie der Gefchichte der Menſchheit, IV. Band, 6. Gapitel,
+) Briefe über das Stubium ber Theologie, 21. Brief,
tr) Sopbron, 7. Rebe. — Ebenda fagt Herder noch Folgendes: „Sobald man
fih auf die fünftige Beitimmung jedes einzelnen Zöglings einläßt, fo müßten jtatt
Einer, Sieben Schulen fein, aus denen Juriiten und Kuchenbäder, Gameraliften und
Leinweber hervorgehen. Aber Menſchen find wir eher, als wir Profeffioniiten werden.“
ee all > Erziehungsſchulen von den Berufsihulen jcharf ab,
) il, ©. 16.
25
ver Irrthümern bemahre —” *) eine Mafregel, die wir natürlich finden,
wenn der Menſch ſchon von Natur aus gut fein fell; dann wäre jede Ver—
evelung des Gemüthes durchaus überflüſſig. Nach dieſer Methode, „ohne
Vorſchriften zu leiten und Alles durch Nichtsthun auszurichten“ **), glaubte
Kouffean felbft ein „Wunder der Erziehung“ zu Stande zu bringen. ***)
Selche Mafregeln können nah dem bisherigen blo8 darauf berechnet fein,
im Zögling den Naturmenfhen zu erhalten und zu bilden. In ber That
iſt Köouſſeau's Bildungsideal der Naturmenſch, deſſen Tugen-
den zunächſt in der Selbſterhaltung, in einem naturgemäßen Leben beſtehen,
deſſen Beſtrebungen auf ein glückliches Leben, auf die Zufriedenheit gerichtet
find, die blos „darin beſteht, daß man das Ueberwuchern unſerer Wünſche
über unſere Kräfte beſchneide und das Können mit dem Wollen in voll—
fommene Einftimmung bringe*. „Und“, fagt Nouffeau weiter, „je mehr ver
Menfh in feinem natürlihen Zuftande verblieben tft, deſto geringer ift ver
Abftand feiner Kräfte von feinen Wünſchen, defto weniger ift er folglih von
dem Glück entfernt.“ So feben wir, wie confequent Rouffeau das Bildungs-
iveal des Naturmenfchen fefthält und zur Geltung bringen will. Und wenn
er enblih an einem anderen Orte fagt: „Man nehme die Kraft, die Ge-
fundheit, die Zufriedenheit von uns hinweg, fo find alle Gitter des Yebens
nur Dinge der Einbildung“ +), fo können auch diefe Worte nur zur Be-
fätigung dienen. Diefe Stellen mögen zur Charafteriftit des Rouſſeau'ſchen
Erziehungszwedes im Allgemeinen genügen und zugleich beweifen, daß Herder,
ter Priefter der Humanität, unmöglid aus biefer getrübten Quelle jhöpfen
fonnte, fo fehr er fonft die Vorzüge des „menſchlich wilden Emil“ anerkannte.
Nur da, wo Rouſſeau von feiner Glüdfeligfeitslehre und vom angeblichen
Naturmenfchen abſehend ein Lobredner der Tugend wird, fittlihe Charafter-
bildung fordert und die Menfchenbildung aller Berufsbildung voran geftellt
baben will, nur da konnte ihm Herder beiftimmen.
2) Erzießnngsmittel im Allgemeinen.
Wenn Herder einen hriftlih-humanen, charakterfeſten Willen als Er—
ziehungszweck hinftellte, jo war er ſich ebenfo deutlich aud der Mittel be-
wußt, durch welche derfelbe geförbert und erreicht werden fünne. Der Wille
des Einzelnen fann nur durh Einfiht in andere Willensver-
bältniffe, die als Vorbilder dienen, feiner Beitimmung entgegengefübrt
werden. Darum wird die Vorführung, Beiprehung und Beurtheilung folder
Vorbilder dem Zweck der Erziehung am nächſten kommen. Diejelben finden
fh vor Allem im wirklihen Leben, im Umgang, indem die Eltern und
Lehrer zum Kinde in bie imnigfte Beziehung treten. Der Lehrer muß in
feiner ganzen firtlihen Erſcheinung den Schülern als ein Mufter voran«
leudhten; denn „wir wiffen Alle, daß der Knabe von jedem ihm öffentlich
dargeftellten Vorbilde gewiß, auch ohne daß er es will, ein gutes oder böfes
—
*) Ebenda I, ©, 87.
*) Ebenda I, ©. 124,
») Ebenda I, ©. 87.
7) Emil I, ©. 67 f.
26
Beifpiel nehme, da wir im jungen Jahren unausbleiblih die Sitten, Ge—
berven und Reden annehmen, die wir täglich vor ung fehen, die fih ung
im lauten Schalle eindrüden und vie fih durch das Anſehen eines Lehrers
oder Vaters ganz befonders empfehlen.“* Jedoch find die Millensverbält-
niffe der Vorbilver, die der Zögling durd eigene Erfahrung fennen lernt,
auf einen viel zu engen Kreis beſchräukt; daher muß diefer im Unterricht
erweitert werben, wie Herber fagt, „durch mitgetheilte Erfahrung“, d. h. durch
einen gedachten Umgang, ver ven Zögling in vorbilplihe Willensverhält-
niffe einführt, die in Darftellung aus dem Menſchenleben, in ber biblifchen
und Profan-Gefhihte, in fagenhaften Stoffen und Erzählungen aus dem
Leben angetroffen werben. Auf allen viefen Gebieten ift das erhabenite
Mufterbild Chriftus. „Diefer Chriftus ift menſchlich“, fehreibt Herder, „er
ift fein Bild in den Wolfen zum Anftaunen, fondern ein Borbild auf Erden
zur Nahahmung und Lehre.“ **) Zu den biblifhen und profangefhichtlihen
Stoffen, die wir „Geſinnungsſtoffe“ nennen fünnen, gebören aud) viele alt=
claffiihe Schriften, die im Gymnaſium gerade nad dieſer Seite bejonvers
ausgebeutet werden müſſen, weil fie die reinfte Humanität in der evelften
MWeife zum Ausdruck bringen. „Die Alten ſchildern Charaktere, Grundjäge,
Sitten und Meinungen, diefe barzuftellen und zu verknüpfen, war der Zwed
ihrer erlefenften Werke. Ihre beiten Schriftfteller zeigen auf die Tugend
als das Zinglein der Waage menfhliher Handlungen und ben eveliten
Rampfpreis des menfhlichen Lebens. Licht und Schatten ftellen fie dar, fie
contraftiren und gruppiren Geftalten, Sinnesarten und Meinungen, und
flößen uns fo das moralifhe Gefühl des Schidlihen, des Großen, Schönen,
Anmuthigen und Erlen ein. Diejes Gefühl duch Leſung der Alten in uns
zu weden und zu erhalten, ift um fo nöthiger, da in der gegenwärtigen
Welt eine Convenienz in niederträchtigen, frehen Meinungen, die für Grund
füge gelten und in offenem Gebraud find, daſſelbe ganz zu erjtiden droht.“
„Wer aber in feiner Jugend nad der Humanität gebilvet wurde, ber kann
fie nicht vergeffen; fie bat fich feinem Gemüthe eingevrüdt als das Herz
jeines Herzens, als bie Seele feiner Seele.“ ***)
Neben den genannten hiftorifhen Stoffen foll ferner Luthers Katechis-
mus „recht innig auswendig gelernt werden“. „Was Baſedow aud über
das Jüdiſche der zehn Gebote fage, mit rechten Erflärungen und leichten
Einleitungen find fie eine ſchöne Moral für die Kinder. *+) Enplih follen
ſchöne inhaltreihe Bibelfprüce, volksthümliche Sprüchwörter und Dichterworte,
welhe Tugenden fhildern, der Jugend „Gedächtnißſprüche“ werben,
da fie die Grundfeften aller moralifhen Wahrheiten enthalten. +7) Ale diefe
Regeln der Eittenlehre ſollen mit Gründen und Beiipielen aus dem ge—
*) Sophron, 18. Rede.
**), Briefe über das Stubium der Theologie, 21. Brief. Von biefem Geſichts—
punft aus ijt es vollfommen gerechtfertigt, wenn Frande u, U. im Grziehungsziel
fordern, ber Zögling folle zu Chrijto geführt werben.
**#) 94. Humanitätsbrief.
7) Lebensbild II, ©. 200 f.
Tr) 33. Humanitätsbrief; vergleiche dazu bie Anweifung zum Buchſtaben⸗ und
Leſebuch, $ 7.
27
meinen Leben, ver biblifhen und Profan-Gefhichte unterftüst werben; denn
das giebt einen lebendigern Einprud. *)
Das Gefagte läßt leicht erkennen, wie entſchieden Herver bie gefinnungs-
bildenden Stoffe in den Vordergrund ftellt. Und ſicherlich liefern fie zur
fung der Erziehungsaufgabe den bedeutendſten Beitrag. Allein tie fittlidh-
religiöje Erziehung des Zöglings, bie durch die genannten Stoffe in unmittel-
barer Weiſe angeftrebt wird, tft nur eine Seite der geiftigen Ausbildung,
wenn gleich die vornehmfte; auch die übrigen Anlagen des Menſchen dürfen
nicht verfümmern; darum fordert Herder, die Erziehung jolle die Aus:
bildung aller unferer Kräfte und Anlagen auf den mannigfachſten Gebieten
des Willens anftreben, aber in der rechten Proportion.**) Daß diefe Viel-
feitigfeit der Geiftesbildung auch durch befondere Gründe geboten wird, mag
bier nur angedeutet fein. Sol nämlid die moralifhe Gefinnung zur Herr—
ihaft gelangen und mit Erfolg wirkſam werben, jo fett das die Kenntniß
ter Naturgefege, überhaupt berjenigen Bedingungen voraus, unter denen
ein weitreihendes Wollen und Handeln erft möglich ift; mit andern Worten:
ter Gedankenkreis, welher bie Grundlage aller Gefühle, Wallungen, Ges
finnungen und Handlungen ift, muß im Unterricht erſt aufgebaut werben,
und zwar durch Heranziehung anderer Fächer, als z. B. Naturwiſſenſchaften,
Spradhen, Mathematik ꝛc. Zugleich mag die Bielfeitigfeit ver Tehritoffe dazu
dienen, dem verſchiedenen Individualitäten der Zöglinge die ihnen entſprechen—
den Gebiete näher zu bringen, die fie nad Ablauf der Erziehungspericde
berufsmäßig betreten fünnen. In diefem Sinne, meint audy Herder, jolle
man für's Leben lernen, aber thöricht fei es, bei jeder einzelnen Aufgabe
des Unterrichts zu fragen: wozu kann id e8 anwenden? Man Fünne Das
nicht vorherfehen. ***) Das non scholae, sed vitae discendum bezieht Herder
übrigens noch ganz befonvders auf die Bildung des Herzens und Charafters,
dem die Herrſchaft über alles Andere zufommen müjje. F)
3) Semerkungen über das Berhältnik der Anterridtsfäder
zu einander.
Wenn in den theoretiichen Erörterungen über die Aufgabe der Erziehung
die Forderung hingeftellt worden, daß der ganze Gedanfenfreis des Zöglings
von der Einbeit des fittlihen Charafters beherrfht werde, fo müſſen aud)
in der Erziehungspraris Vorkehrungen getroffen werben, welde eine ſolche
Vereinigung aller feiner Vorftellungen um den gemeinfamen maßgebeuden
Mittelpunkt möglich mahen. Es müſſen daher auch im Unterricht diejenigen
*) Sophron, ©. 239.
**) Sophron, 23. Rebe.
Auch in biefer Beziehung erhebt ſich Herder weit Über Rouſſeau und Baſedow,
die im Unterricht überhaupt das mittelbare Antereffe zu ſehr in den Borbergrund
hellen. Sie fuchen die Aufmerkfamfeit und ben Eifer des Kindes, durch Hinweifung
auf den Nutzen zu beleben, der aus den gelernten Dingen gezogen würde, Vergleiche
beſonders „Emil“, II. Theil, ©. 24 ff.
7) Sophron, 23. Rebe.
28
Fächer die berrfchenven fein, in denen fittlich-religiäfe Willensverhältniſſe als
Borbilder angetroffen werden; das find nun, wie wir bereits willen, haupt-
ſächlich vie biblifche und Profan-Geihichte und „Gedächtnißſprüche“. Mithin
jollen zu diefen Gebieten die übrigen Unterrichtögegenftänte unmittelbar oder
mittelbar in Beziehung gefegt werben, damit jene Einigung und die Herr-
Schaft der fittlihen Perfönlichkeit über alles Wollen und Handeln zu Stande
gebracht werben fünne. Ein derartiges Concentriren der Schulwiffenihaften
hat Herder zwar nirgends planmäßig erörtert, aber in Wahrheit bat er es
doch gelehrt, wie aus einigen Zeugniffen ganz unverkennbar hervorleuchtet.
Er wies darauf hin und bat es auch durch Beifpiele erläutert, daß in
jenen Öefinnungsftoffen verſchiedene VBerhältniffe und Dinge aus dem Natur:
und Menfchenleben angetroffen werden, weldhe zum Ausgangspunft für andere
Unterrihtsfächer gemacht werden fünnen.*) Darauf hielt er, wie ein Acten-
ftitf verräth, auch in den Weimarer Schulen. Es meldet ihm daſelbſt ein
Lehrer, den er in feiner Methore zweifellos beeinflußt, er habe im abge
laufenen Bierteljahre neben heimathlichen Naturobjecten, die er aufzählt, aud)
diejenigen Thiere behandelt, die im Buche Hiob ftehen. Die Concentration
bezieht fih aber aud auf die Profangefhihte Darum fordert Herder, daß
32. ®. die Geographie ſich ftets an jene anzufchliefen babe Und um bie
Geographie zu verftehen, müſſe die Naturkunde unbedingt herangezogen
werden ; denn zur Erdbeſchreibung gehören auch die Naturproducte ver be
treffenden Länderſtriche; an die Naturlehre ſchließen fih endlich Mathematik
und Zeihnen an. Nicht weniger ftehen die Sprachen im Dienft des Huma-
nitätsideales; denn fie find „Schlüffel zu vielen Schatzkammern“; durch fie
hört man jeden größten Geift mit feiner Zunge. **) Der Zwed ver latei-
nifhen Sprache 3. B. ift hauptfächlih der, um durch fie Gefchichte zu lernen
und in den Geift großer Männer zu bliden.***) Audy die griechiſche Sprade
dient zunächſt als Mittel, den Zögling in die Humanität der Alten einzu-
führen. Wie fehr Herder für eine derartige Vereinigung und Vertiefung
der Kräfte eintritt, werben wir ſpäter bei Vorführung der einzelnen Fächer
noch fehen; erwähnen wir nur noch, daß Herder fehr entſchieden auch auf
die Schäden des entgegengejegten Verfahrens hinweiſt, wenn er 3. B. in
Bezug auf Gefhmadsbildung jagt: „Dur PVielwifferei und PVielthueret
wird der Gefhmad bunt; grelle Bilder und Farben treten zufammen und
vernichten einander oder fie werben zu lächerlichem Quodlibet, zu verädt-
lihem Sammelfurium und Furfur“; oder wenn er in derſelben Rede gegen
jeve thörichte „Zertheilung ver Seele” eifernd ausruft: „Einheit ift ber
Grund alles Zählens und aller Zahlen; ohne Mittelpunkt ift fein Zirkel.
Wer ſich jelbft verliert, hat Alles verloren, wer aus ſich läuft, befigt ſich
nidt mehr.“ })
*) Pebensbild II, S. 204.
**) Lebensbild I, 2. Abtheilung, ©. 156.
***) Fragmente, bie beutfche Literatur betreffend, 1767, II. Band, ©. 35.
+) Sopbron, 25. Rebe.
29
4) Die Anterrihtsfäder als Erziefungsmittel im DBefonderen.
a. Religionsunterridht.
Herder preift die Bibel als die tiefite Quelle der Weisheit und bie
verfelben entlehnten Geſchichten als ein hervorragendes Erziebungsmittel.
Sie follen in einer zufammenhängenden Reihe vorgeführt darftellen die Er-
ziehung des Volkes Iſrael durch Jehovah bis zur Gründung des Chrijten-
thums, mit andern Worten : die allmälige Entwidelung ver fittlich-religiöfen
Anfhauungen und Gultureinrihtungen der Juden bis zur Vollendung des
ſutlichen Yebens, wie es und in der Perfon Chriftt verkörpert entgegentritt;
und diefen Entwidelungsgang fol der Lehrer aub in ver Schule vor:
fübren.*) Die Art, wie Gott die Menfchheit immer weiter zu böberer
Erkenntniß der Wahrheit geführt hat, ift Herdern die ſchönſte Methode.**)
Ja der Auswahl und Behandlung der biblifhen Erzählungen empfiehlt er
große Sorgfalt. „Alles bios Jüdiſche und noch mehr Aergerlihe“ joll ver:
mieden werden. ***) Ferner fordert er, die kernige Bibelfprahe Luthers folle
auch in der Schule aufreht erhalten werben. „Unfere Zeit“, jchreibt er
an Lavater, „hat fih aus einem fonverbaren Borurtbeil, ala wenn ein Find
und Menfch das Alles nicht verftebe, was es nicht definiren kann, Dagegen
als orientaliih Gefhwäg verfhworen und will Alles in laue Umſchreibung
und kalte Definition auflöſen.“ Dadurch gebt aber das Urgepräge des
Ueberlieferten verloren, und der echte Geiſt verfliegt; denn ber gewöhnliche
Paraphraft fpriht aus feiner Zeit, mir feinen Anfchauungen,; man bört
ihn und nit den urfprünglihen Autor. So verſchwindet die lebendige
Friſche des Driginals, und die Möglichkeit liegt dann nicht mehr fo nabe,
den Geift deflelben mit dem Zöglinge nadzuempfinden. 7) In den Er—
zählungen tes alten Teftaments, bebt Herder hervor, finden wir ben
urwüchfigen Ausdruck der religiöfen Gefühle, wie fie auf eine natürliche
Weiſe aus dem Volksgeift entfprangen, und erft allmälig im Gewande ver
hebräiſchen Poeſie zu feiten Glaubensfägen fih ausgebildet haben. Er tabelt
es, daß dieſe aus Falter Bernunft durch Disputation entwidelt werben, und
forvert, daß ftatt beffen Scenen aus ber Entwidelung der Menjchheit vor-
geführt werden mögen, welde dem Gemüthe den Glauben an jene Wahr:
beiten recht nahe rüden. Diefes Verfahren folle in allen Beweiſen für die
görtlihe Weltorpuung angewendet werben. +f) Diefer Grundfag wird mus
bald zu einer weiter gehenden Betrachtung führen. Wie wir bereits wiflen,
legt Herder auf die Erlernung des Katehismus und auf „Gedächtnißſprüche“
(Bibel-Volksſprüche und Kirchenliever), in welchen fittlich - religtöfe Wahr-
beiten und Lebensregeln ausgeſprochen find, einen großen Werth; gute
Sprühe und Lieder find ihm der wahre Katechismus des Volkes, den man
) Ein folder findet ſich ausführlih in ben Briefen über bad Stubium der
Theologie, als Skizze auch in einem Briefe an Lavater (Herder's Nachlaß IL, ©. 46 ff.).
**), Brief an Lavater.
**) Lebensbild II, ©. 199 und Sophron, ©. 239.
}) Briefe über das Studium der Theologie, ©. 239 f.
j1) Brief an Lavater.
30
nit nur gern ins Gedächtniß faht, fondern aud im Herzen und Gemüthe
trägt. *) Das Auswendiglernen hält er nur dann für zuläffig, wenn vorher
für das nöthige Verſtändniß geforgt worden. Dazu follen namentlid Bei:
ipiele aus der biblifhen und Profan- Geihichte und aus dem Leben, wie
auch Zergliederungen und Fragen, zunächſt ohne Luthers Erklärungen **),
das Ihrige beitragen. Im feinen Katechismus hat Herder, wohl der Kürze
wegen, nur hie und da Beiſpiele eingeftreut; dafür hat aber Horn jenen
Grundiag in feinem genannten Handbuh im Geifte Hervers confequent
durchgeführt.
b. Geſchichte.
Neben dem Keligionsunterricht reip. der bibliihen Geſchichte fteht als
Gefinnungsftoff gleichbedeutend die Profan-Geſchichte. „Wenn irgend mo
menſchliche Gefinnungen herrſchen follen“, jagt Herder, „So iſt's im Felde
der Geſchichte; denn fie erzählt menfchlihe Handlungen, die den Wertb des
Menſchen entſcheiden.“ „Der Geift der Gedichte behandelt die Menſchen,
als unter einem Sittengejeg ftehend, das in ihnen allen ſpricht, zuerft Linde
warnt, dann härter ftraft umd jede gute Geſinnung durch ſich und ihre
Folgen belohnt.” Im diefer Beziehung, meint Herder, fei Herodot mufter-
haft, der unbefangen die Begebenheiten erzähle und bemerfe, wie allent-
halben nur Mäfigung die Völker glüdlich mache und jeder Uebermuth feine
Nemefis hinter fi habe. „Diefes Maß ver Nemefis ift der einzige und
ewige Maßſtab aller Menfhengeihichte. Dede böfe That hat ihre Strafe
hinter fih, ie ſpäter, deſto jchredliher. Die Schuld der Väter häuft fih
mit zerfchmetterndem Gewicht auf die Kinder und Enfel; auf ver andern
Seite wird aber auch jedes Gute belohnt und erhalten; jeder Seufzer des
Unterdrüdten ftieg gen Himmel und fand zw feiner Zeit einen Helfer.“
„Wie milde, wie janft aufmunternd, aber aud wie ernft und zuſammen—
haltend ift dieſer Geift ver Menſchengeſchichte! Er läßt jedes Bolt an Stelle
und Ort; denn jeves bat feine Regel des Rechts, fein Maß der Glüd-
feligfeit in fih. Er ſchont Alle und verzärtelt Keines. Sündigen vie Bölfer,
fo büßen fie und büßen jo lange und ſchwer, bis fie nicht mehr ſündigen.
Wollen fie nicht Kinder fein, fo erzieht die Natur fie als Sklanen.“ ***)
Was die Unordnung des hifterifhen Stoffes betrifft, fo findet pas ſchon
bei der bibliſchen Geſchichte hervorgerretene Princip feine durchgängige An—
wendung. Die Gefchichtsreibe, fordert Herder, hat ſich nad dem Cultur—
fortfchritt zu richten, und der Zögling ſoll mithin durch die einzelnen Stufen
der Gulturentwidelung hindurch geführt werten. Den hierbei maßgebenden
Geſichtspunkt weiß ung Herder treffend auseinander zu fegen, wenn er jagt:
„Die Gefhichte ift nicht eine Geſchichte der Kriege und Könige, nicht ein
Verzeihnig von Friedensſchlüſſen und Jahreszahlen, ſondern eine Geſchichte
der allgemeinen menſchlichen ulturentwidelung. In der Geſchichte ſoll nad
gewiefen werden, wie fid die einzelnen Zweige der Gultur, wie fi die
*) Anweifung zum Katehismus, $ 5; vergl. bie Anweifung zum Quchfaben:
und Leſebuch, $ 7.
**) Anweilung zum Katehismus 1, 2, 3, 5.
***) Das Ganze ift wörtlich aus dem 121. Humanitärsbriefe entlehnt.
31
Biffenfhaften, Künfte, Erfindungen, Sitten u. f. w. allmählig entwidelt
haben. Durch eine ſolche Reihe ver Eulturentwidelung fällt alſo die ifolirte
Geihihte von Fürften, Schlachten und Geſetzen weg; Alles vereinigt fih in
ver Entwidelungsreihe der Menfchheit.*) Im der griehifhen Geſchichte
„B. foll vorgeführt werden die Bildung der Griechen „zu Kleinen Bölfern
und Staaten, zu Kiünften und Wilfenfhaften, und zur Tugend des Bürgers,
der Piebe des Vaterlandes. Alle Begebenheiten, Perjonen, Facta, müffen in
dies Yicht treten, weil ed das Nützlichſte, Wahre und Einzige ift, was ber
Knabe begreift.“ Jeder Fortſchritt in der Entwidelung, „jede große Er-
findung,, Unternehmung und That, jeder Schritt zur Abjhaffung von Miß—
bräuhen kommt da auf feine Stelle, und fo wird der Berfolg der Geſchichte
für den jungen Lehrling ein Anblid ver Karte der Menſchheit und des
durch alle Lafter, Fehler und Zugenden zum Beten ringenden menſchlichen
Geiſtes.“ **)
Es fragt fih nun, wie die Öefhichte in Bezug auf den innerjten, fitt-
lichen Gehalt aufgefaßt und behandelt werden fol! Herder weiß ung
darüber Bieles zu jagen. Er fragt ſich zunächſt ſelbſt: „Wozu lernt man
Geihihte? um einen faljhen Glanz anzuftaunen? um Mifjerhaten, vie —
wer es aud fei — Griechen, Römer, Deutiche, Franken, Kalmuden, Hunnen
und Tartaren als Menjhenwirger und Weltverwüfter begangen, gevanfenlos
orer mit knechtiſcher Ehrfurcht hronologiih herzuerzählen? Die Zeiten find
vorüber. Urtheil, menſchliches Urtheil fol durch die Geſchichte gebilver und
geihärft werden, fonft bleibt fie ein verworrenes oder wird ein ſchädliches
Bud. Auch Griechen und Römer follen wir mit diejem Urtheil Lejen.
Xerander der Welteroberer, der Trunfenbold, der Graufame, der Eitle und
Alexander der Beihüger der Künfte, der Förderer der Willenichaften, ber
Erbauer ver Städte, der Yändervereiniger, find in derſelben Perfon nicht
Eine Berfon, nicht zwei Perjonen von Einem Werth. So mehrere viel»
fipfige und vielgefichtige Ungeheuer.“ ***) „Die Gejchichte ift ein Spiegel
ver Menihen und Menfchenalter, ein Yicht der Zeiten, eine Fackel ver
Wahrheit. Eben in ihr und durd fie, müfjen wir bewundern lernen, was
zu bewundern ift, und lieben lernen, was zu lieben ift; aber au halfen,
verachten, verabjchenen lernen, was abſcheulich, häßlich, verächtlich ift, fonft
werden wir veruntreuende Mörvder der Menjchengejhichte.“ Darum joll
' *) Pebensbild II, S. 206 fi. Sophron, ©. 241 und 20. Rede. Vergl. aud
ie 4, Rebe.
**) Sophron, ©. 243. — Sehr wertbvolle Züge für eine richtige Auffaffung
der menjchlichen Gulturentwidelung bat Herder namentlidy in feinen „Ideen“ geliefert;
jo im I. Buch 6. Gapitel, II. Buch 3. Gapitel, im VII. Bud 1. Gapitel, VIIL Bud)
2. und 3. Gapitel, im IX. Bud 3. und 4. Gapitel (trefflihe Darftellung über die
Gntwidelung der Regierungsformen), endblih im XV. Bud 3. Gapitel. — Außerdem
bat er auch in feinem „Grundriß des Unterrichts für einen jungen Abeligen“ (im
Sophron) die allgemeine Culturentwidelungsreihe einzuhalten geſucht. In ber ganzen
Auffafjung der Gejchichte hat Montesquieu großen Einfluß auf Herder ausgeübt.
***) Im 119. Humanitätsbrief macht Herder auch darauf aufmerfjam, daß bei
der Beurtheilung ein Unterfchiedb zu machen jei, ob ber Ruhm, das Berbienit eines
Mannes aus der Gunſt des Augenblids hervorgehe oder feit wurzelnd im einheitlichen
Charakter feinen Urjprung babe, denn in jenem Falle babe man es gewöhnlich mit
falſchem Schimmer zu thun.
32
man im Gefhichtsunterriht „raifonniren“, damit der Schüler „die Engel
oder Dämonen der Menfhen mit reifem Urtheil kennen lerne”. *)
Die Richtigkeit dieſer Gedanken, die wir wegen ihrer originellen Be-
ftimmtheit wörtlich darzubieten für werth hielten, bezweifelt heute Niemand
mehr. In denfelben fordert Herder entfchieven genug zur Beiprehung und
Beurtheilung der vorkommenden Willensverhältuiffe auf, gerade fo, wie in
der bibliſchen Geſchichte. Dean fol ſich alfo nit begnügen mit einem
biofen Wirkenlaffen des Hiftorifhen und mit der gedächtnißmäßigen An-
eignung beifelben, foubern fol mit dem Schüler raifonnirende, d. i. ver—
nünftige Betrachtungen anftellen, damit fein firtliches Urtheil gebilvet werbe.
Daraus ergeben fi dann, wie in der biblifhen Geſchichte, gewiſſe fittliche
Örundanfhauungen, gleihfam ethiſche Kryftalle, die ihren wefentlihen Bei—
trag zum Ausbau des „Katehismus der Menſchheit“ liefern, der fid) mit
dem Luther'ſchen Katehismus zufammen ſchließen jol.**)
Bei der Betrachtung der Erziehungsmittel haben wir unter Anderem
den Gedanken berührt, dag die Gefinnungsftoffe darauf beredinet find, den
an Wilensverhältniffen befhränkten wirklihen Umgang des Zöglings zu
erweitern. Bon diefem Gefihtspunft aus betrachtet ift es völlig gerecht—
fertigt, wenn Herder fordert, ver Schüler folle fo hinein verfegt werden im
die mannigfahen, eutlegenen Gefinnungen, Handlungen und Begebenheiten,
als ob er viefelben thatſächlich erlebe. Soll das erreicht werden, hören wir
Herber weiter, fo genügt ein trodenes Erzählen nicht, ebenfo wenig wie ein
jtelettartiger Yeitfaden. Lebenpig muß die Darftellung fein, wenn ber
Lehrer Facta und Perfonen mit voller Klarheit vor das geiftige Auge der
Schüler zaubern, wenn er mit ihnen hinein in fremde Länber und Völker
wandeln will. Die Gefhichte muß alfo anfhaulid vorgeführt werben. ***)
Den Schülern empfiehlt er, Tabellen über die Gefhichtsreihen zu entwerfen;
ber Lehrer follte folhe von ihnen nah dem Lehrbuhe ausarbeiten laſſen,
weil fie die Gefchichte mehr ins Gedächtniß prägen, als lange Dictate je
thun würden. Außerdem fei das eine fehr angenehme Uebung, die ven Kopf
der Schüler aud für andere Wifjenfhaften aufräume, weil fie gewöhne, Be
griffe in Ordnung zu fegen und fie in folder zu denken. f)
In Rouſſeau's „Emil“ finden fit) manche Anklänge an Herder's An-
fihten über den Gefhichtsunterricht, wie wenn er z. B. beklagt, daß man
in die Gefhichte blos große Umwälzungen bineinziehe und nur finnlih auf
fallende und hervorſtechende Thaten aufzeichne, die man durch Namen, Orte
und Jahreszahlen fefthalten fünne Man laffe die Völker erſt auftreten,
wenn fie mit Nachbarſtaaten in Conflict gerathen, wenn fie im Fall begriffen
find. Dagegen verfhiweige man das Emporfeimen unter der Ruhe einer
friedlichen Regierung und die ftufenweis fortfchreitenden Urſachen der Ereig-
niffe. Außerdem tavelt Rouffeau die Geſchichtsſchreiber, die ihr Urtheil in ihre
Werke hineingeflohten und verlangt für den Zögling blos Thatſachen:
„Beurtheilen joll er fie felbft. Nur dann kaun er Menſchenkenntniß fammeln.
*) Sophron, 20. Rebe.
**) Lebensbild IL, S. 202.
*«**x) Pebensbild IL, ©. 202, 210 f. und Sophron, 1. Rebe.
7) Sophron, ©. 242,
33
Wenn des Berfaflers Urtheil ihn unaufhörlich leitet, fo fieht er nur dur
das Glas eines Anderen.” Dagegen lobt er die Alten, namentlich diejenigen,
die am einfachften erzählen. Für einen folhen hält er Thukydides, der aber
leider zu viel von Schlachten und Kriegen erzähle; dagegen „der gute Herodot,
ver ohne Malereien, ohne untergelegte Marimen, aber fließend, naiv erzählt
und in intereffante Einzelheiten eingeht, wäre vielleicht ber befte unter ven
Sifterifern . . .” *)
c. Geographie.
Seine Gedanken über dieſelbe hat Herder in der berühmten Schulrede
„von der Annehmlichkeit, Nüglichkeit und Nothmwendigfeit des Studiums ter
Geographie” (1784) mit einem päbagogifhen Scharfblid und mit einer Tiefe
tes wiſſenſchaftlichen Verftändniffes dargelegt, wie e8 bisher noch nicht ge-
ihehen war. Im Eingang weift er bie von einem Ungenannten gemachte
Bemerkung, daß die Geographie ein trödenes Studium fei, zurüd, und er-
wiedert, daß fie nad feinem Begriffen ebenfo troden fei, wie die Ilm oder
das Weltmeer, er kenne wenige Wilfenfchaften, die fo reih an nützlichen und
angenehmen SKenntniffen jeien; jeder wohlerzogene Jüngling ſollte fi) die—
felben aneignen.
Um das zu beweifen, will er „ein Feines Gemälde der Materie und
der Form entwerfen, in der er fie felbft in ven beiten Jahren feines Lebens
mt dem äußerſten Bergnügen gelernt und mit ebenfo vielem Bergnügen
Anderen gelehrt habe“. Auh hier wollen wir ihn felbft ſprechen laſſen,
indem uns nur einige Umftellungen erlaubt fein mögen.
Die Geographie dient zunächſt der Geſchichte; ohne jene ift dieſe ein
Luftgebäude; man muß wiffen, wo etwas gefchehen. So wird die Geographie
zu einer illuminirten Karte für die Einbildungsfraft, ja auch für die Be—
urtheilungsfraft ; denn nur durch ihre Mitwirkung wird es deutlich, warum
diefe und feine anderen Völker folde und feine andere Rolle auf dem Schau-
plage unferer Erde fpielten; warum dies Neid lang, jenes kurz dauern
mußte; warum dieſe Kegenten bier, jene dort berrfchen fonnten; warum bie
Monardhien und Reiche fo und nicht anders auf einander folgen, fo und
nicht anders zufammengrenzen, fi) befehden oder vereinigen konnten; woher
die Wiffenfchaften und die Eultur, die Erfindungen und Künfte diefe und
keine andere Laufbahn nahmen, und wie von der Höhe Aſiens durch Affyrer,
Perfer, Aegypter, Griechen, Römer, Araber u. a. Bölfer enplih ver Ball
der Weltbegebenheiten und Weltftreitigfeiten jegt hieher, dann dorthin ge—
ſchoben worden. Kurz, die Geographie ift die Bafis der Gefchichte, und bie
Geihichte ift nichts als eine in Bewegung gefegte Geographie der Zeiten
und Völker. Wer eine ohne bie andere treibt, verfteht feine, und wer beide
verachtet, follte wie der Maulwurf nicht auf, fondern unter der Erde wohnen.
Die Gefhichte ift das Buch und die Geographie der Schauplag der Haus—
haltung Gottes auf unferer Welt. Soll nun die Geographie den Schüler
mit diefem Schauplag vertraut mahen, fo fann und darf fie nicht ein
*) Emil II, ©. 108—113; vergl. I, ©. 111—114.
Morres, Herder ald Vädagog.
ee
—
trockenes Namensverzeichniß von Ländern, Städten, Grenzen und Flüſſen
fein. Das wäre blos eine trodene, aber auch unwürdig behandelte und
mißverftandene Wortfenntniß, die nicht nur nicht bildend, fondern in hohem
Grade abjchredend, faft- und Fraftlos wäre. Alle jene Dinge find noth-
wendige Materialien, aber das Gebäude muß davon erbaut werben,
fonft find fie Steine und Kalk, d. i. Schutt, an dem ſich fein Menſch freut,
in dem Feine lebendige Seele wohnt. Die Farben find dem’Maler noth-
wendig, aber er braudt fie zum Gemälde, alsdaun erft erfreuen fie das
Auge und unterrichten die Seele. Geographie ift das, was fhon der Name
biefer Wilfenfhaft jagt: Erpbefhreibung Darum ift vor Allem
phufiihe Geographie nothwendig. Die Erde, den wunderbaren Schauplag,
auf den uns die fchaffende Weisheit und Güte zu fegen für gut befunden,
muß der Schiller „von feiner fihtlihen Situation“ *) ausgehend kennen
lernen nad) feiner Bodenbejhaffenheit, nad) Producten, Gattungen von Ge—
ſchöpfen, verfchiedenen Gebräuden, Sitten, Religionen, Regierungsarten.
Das Alles lebendig und anfhaulic erzählt und unterfudht, wie es in guten
Neifebefhreibungen dargeftellt wird, erwedt in ver Geele des Schülers leb—
bhafte Bilder von dem Schauplatz, auf welchem die Helden der Geſchichte
gewandelt. Im viefer Weife foll die Geographie eine Bilderfammlung
werben. **)
Daß die Geographie von der Heimath ausgehen müffe, haben wir
bereits erwähnt. Herder hat fich fihherlih auch die Schwierigfeiten in der
methodifhen Behandlung einfacher geographifcher Grundbegriffe zum Be—
wußtfein gebracht, deutet fie aber blos an und hat ihre Yöfung, zu ber
Rouſſeau einen guten Anfag gemacht, leiver nicht nievergejchrieben. Er hält
die Anfangsgründe der Geographie für das Schwerfte und fragt fih: wie
ih von meiner fihtlihen Situation ausgehe? wie ich eine Inſel, Halbinfel
u. f. w. in der Natur finde? wie das Alles auf eine Karte fomme? wie
eine Karte der Welt werde? wie fih Meer und feftes Land im Ganzen
verhalte? wie Flüſſe und Gebirge werden ? wie die Erbe rund fein fünne?
wie fie fi) umfchiffen laſſe? wie fie im der Luft ſchwebe? wie Tag und
Naht werde? Alles das find Probleme, die der Lehrer mit jeinen Schülern
in ber phyſiſchen Geographie in den erften Schuljahren zu Löfen hat. ***)
Zum erften geographiſchen Unterricht mögen nod folgende im Sophron
als Fragment mitgetheilte Bemerkungen, die in mander Beziehung das bisher
Geſagte beftätigen oder näher beleuchten, ihre Stelle finden. — „In der
unterften Glaffe fol die Geographie blos naturhiftorifch gelehrt werben.
Die Hauprftädte, die Namen der Könige und vergleichen bleiben dem Knaben
noch völlig verborgen. Dafür lernt er blos phyfifhe Geographie,
d. i. Länder, Berge, Flüffe, Meere, fonderbare Gewächſe und Thiere kennen,
vorausgefegt die ganze Geftalt und den Bau der Erbe. Er lernt, wo Renn-
thiere und Elephanten, wo Affen und Kameele find, wo Kaffee und Thee
wählt, welche Nationen fie holen, wie vie Leute ausfehen, die dort und hier
wohnen und dergleihen. Die vornehmften diefer Sahen müffen in Kupfern
*) Lebensbilb II, ©. 204,
**) Ebenda II, &. 205.
***) Ebenda I, ©. 204 f.
35
gezeigt werben. Die politifhe Geographie wird aber für einmal nicht ge-
trieben. Die angenehme, faßlihe und für die Kinder fehr lehrreiche Lection
in der phyſiſchen Geographie wird in der folgenden Claſſe fortgefegt und
algemah mit der politifhen Geographie verbunden, doch fo, daß
alles Unverftändlihe und für den gemeinen Mann Unbrauchbare übergangen
wird. Außer ven Merkwürdigkeiten der Natur in ben verfchiedenen Ländern
und Welttheilen werden den Schülern von der verjchiedenen Lebensart und
den Sitten der Bölfer, von ihren Religionen und NRegierungsarten vie
Kenniniffe beigebradt, die ihnen, eine Zeitung zu verftehen ober einem Ge—
Irräde von dem, was in ber Welt gefchieht, nicht ohne Schande beizumohnen,
nöthig find." —
Wie jehr Herder aud in Bezug auf den geographifhen Unterricht von
Rouſſeau angeregt wurbe, zeigen vielleicht am dentlichften folgende Stellen
aus dem Emil: „Bei jedem Studium, es fei auch, welches es wolle, find
ohne den Begriff von den bezeichneten Gegenftänden die blofen Bezeich—
nungen nichts. Gleihwohl jhränft man die Kinder immer auf diefe Zeichen
ein, ohne ihnen jemals etwas von den egenftänden, die dieſe Zeichen
repräfentiren, begreiflih zu machen. Man glaubt ihnen eine Beſchreibung
der Erbe zu liefern, wenn man fie die Landkarte kennen lehrt; man lehrt
fie Namen von Städten, Ländern, Flüffen, wovon fie glauben, daß fie
nirgend mo anders eriftiren, als nur auf dem Papier. Ich erinnere mid),
irgend wo eine Geographie geiehen zu haben, welde aljo anfing: ‚Was
ift die Erbe? Gie ift eine Kugel von Pappe!‘ So ift gerade bie Erb-
befhreibung der Kinder. Ich bin vollfommen überzeugt, daß Fein Kind von
schn Jahren, und wenn es zwei Jahre Unterricht in der Sphärif und
Kosmographie gehabt hat, nach den angegebenen Regeln, fih von Paris nad)
St. Denis zu finden vermag. Ich behaupte, daß nicht ein einziges im
Stande fei, nah dem gezeichneten Plane von feines Vaters Garten ben
Gängen darin zu folgen, ohne ſich zu verirren. Da feht ihr die gelehrten
Leutchen, die auf ein Haar genau wiſſen, wo Beling, Iſpahan, Merifo und
alle die Länder der Erde liegen.“ *) Mehr pofitiver Natur ift folgende
treffende Bemerfung: „Seine (des Kindes) beiden erften geographiſchen
Hanptpunfte mögen die Stadt fein, woher das Rind ift, und das Yandhaus
feines Vaters. Darauf folgen die Orte, die zwiſchen beiden liegen, darnach
die Flüſſe der Nahbarfhaft, enplic die Beihauung der Sonne und das
Verfahren ſich zu orientiren. Hier ift der Punkt der Wiedervereinigung.
Es entwerfe fi felbft eine Karte, die anfänglih nur von den obigen zwei
Orten gebildet wird, zu benen es nad und nad) die anderen hinzufegt...“ **)
Zur Erweiterung der geograpbifchen u. a. Kenntniffe empfiehlt Rouſſeau auch
das Reifen und Reifebefchreibungen. Auf diefe Vorſchläge macht auch Herber
ausprüdlih aufmerkfam.***)
*) Emil, I. Theil, ©. 110.
**) Ebenda, II. Theil, ©. 12 f.; vergl. S. 27 f. — Schon Chr. Semler
(1739) fordert, daß die Kenntniß der nächſten Umgebung, ber Heimath, des Vaterlandes
vorangebe; „derjelben Kenntniß ift viel nöthiger, als daß man wiſſe, wo in ber Welt
Dublin, Aftracan und Adrianopel liegt.” (Raumer, Gefhichte ber Pädagogik II, ©, 133).
**) Debensbilb IL, ©. 206.
3
36
d. Naturkunde und Mathematik.
In der vorigen Betradhtung fahen wir, wie die Geographie die Grund
lage der Gefhichte bilden fol. Es entging uns auch nicht, in wie nabe
Beziehung Herder die Naturkunde zur Geographie fegte. Jeder Landſtrich,
bebt er hervor, bat feine eigenthümlichen Producte, feine merfwürbigen Thiere,
die in der Erpbeihreibung niemals fehlen dürfen, weil fie nützlicher und
wichtiger find als politiihe Betradhtungen. „Das arabifhe Roß, das ägyp-
tiihe Kameel, der indijhe Elephant u. f. w. find denkwürdigere Symbole
und Wappenzüge einzelner Länder, als die wandelbaren Grenzen, bie irgend
ein triglicher Friede zog und vielleidht der erfte neue Krieg verändert. “ *)
Mit Rüdfiht auf diefe nahe Berührung der Geographie mit der Naturkunde
ift es begreiflih, wenn Herder die erftere für die Bafis der legteren —
wie der Geſchichte — erflärt; denn wo von Natur-Producten, -Erſcheinungen
und -Kräften geſprochen wird, da muß nothwendig ein Schauplag voraus-
gefegt werben, an ben ber naturfundliche Unterricht anzufnüpfen bat. So
„erinnert der Berg an Metalle und Steine, an Quellen und Ströme“, ber
ganze Landſtrich an die auf vemfelben vorfommenven Thiere und Pflanzen.
„Alles das fügt fih im einander und entwirft in dem Geift des Zöglings
ein unvergehliches Gemälde voll lehrreiher Züge. Durch die Naturgefchichte
zeichnet ſich jedes Land, jedes Meer, jede Infel, jedes Klima, jedes Menſchen—
geihleht, jeder Welttheil bei ihm mit unverlöfhbarem Charakter aus, um
fo mebr, da dieſe Charaftere beftändig find und nicht mit dem Namen eines
fterblihen Regenten wechſeln.“**) So hat die Naturkunde ihre Objecte aus
der Geographie zu holen, freilich nicht ausschließlich; Ausgangspunfte fünnen
aud die hiftorifchen Stoffe bieten. Natürlich ift Herder nach dem ſchon früher
Bemerkten weit davon entfernt, gleich anfangs fremdländiihe Dinge heran
ziehen zu laffen, wo bie Heimarh mit ihren Objecten fo nahe liegt. Er
fordert ausdrüdlich, die Naturgefchichte des zunächſt Liegenden gehe voran***),
und biefen Grundſatz brachte er auch im Seminar, wie ber genannte Be-
richt jenes Lehrers beweiſen dürfte, zur Geltung. Für die erfte Zeit
empfiehlt er zunädft „alle merkwürdigen Sachen, die man täglich braudıt
und fieht und nicht Kennt, Kaffee, Thee, Zuder und Gewürze, Bier, Wein,
Brot u. f. w.“, überhaupt die gemeinfamen Bebürfniffe des Yebens und die
Thiere, die das Kind fo Tieb hat.}) In den naturfunblihen Unterricht
follen ſich auch Künſte, Handwerkfe, Erfindungen u. f. w. einfchlingen, da fie
mit der Natur in naher Beziehung ftehen. +) Daß dabei die Naturlehre
eine reiche Ausbeute findet, braucht faum erinnert zu werben.
Herder dringt bei allem naturkundlichen Unterricht mit allem Nachdruck
auf Anjhauung.
*) Sopbron, 6, Rede,
**) Ebenda.
***) Lebensbild II, ©. 197.
+) Ebenda II, ©. 197.
Tr) Ebenda II, ©. 19.
37
Es müfjen lebendige Sahen und Kupfer zu Hilfe genommen werden *),
wie aud die Narturlehre durch Experimente, durch eigene Erfahrung vor—
bereitet fein muß.*) Es miüflen die Werfftätten der Handwerfer und
Künftler befucht werben. ***) Dabei fol ver Yehrer nicht mit Worten über
die vorliegenden Dinge ſprechen, ſondern foll fie durch die Schüler anfhauen
und erklären laſſen.x) „Welde Wetteiferungen! melde Revolutionen in
der Seele des Knaben! welche Erregung von unten auf! Eifer, nicht blos
academiſch todter Erklärungen, fondern lebendiger Kenntniſſe; das erwedet
die Seele. Das giebt Luft zu lernen und zu leben: das hebt aus der
Einfhläferung der Sprade; .. das läßt ſich anwenden, das bildet auf Zeit-
lebens.“ +7) „Ein Schüler, der von Künften und Handwerken ohne lebendige
Anſchauung jhwagt, ift noch Ärger, als der von Allem nichts weiß.“ 1)
„Es wird Hauptzwed, dem Knaben von alle dem lebendige Begriffe zu
geben, was er fieht, fpricht, genießt, um ihn in feine Welt zu fegen und
ihm den Genuß auf feine ganze Lebenszeit einzuprägen. Mit einem folden
Anfange wird er nie der Wiſſenſchaften, nody weniger des Lebens überdrüſſig
werben, nie feine Schulzeit beflagen. Ein foldhes Verfahren verſchließt auf
immer ven faulen moraftigen Weg, auf Wörter, Bücher und Urtheile Anderer
ftolz Hinzutreten und ewig ein ſchwatzender Unwiffender zu bleiben. * F*)
Auf feiner Seereife, wo Herder jo ganz den Einprüden der Natur
bingegeben war, beflagt er, daß feine Jugenbbildung gerade in dieſer Be-
ziehung große Mängel zeig. Er wünſcht fih mit reellen Wiſſenſchaften
mehr bejhäftigt zu haben; jo wäre er nicht ein „Zintenfaß von gelehrter
Schriftſtellerei“, nit ein „Repertorium vol Bücher und Hefte‘, nicht ein
„Wörterbud von Künften und Wiffenihaften“ geworden, vie er nicht geſehen
babe und die er gar nicht verftände. **) MUeberall wolle er vie Naturſachen
und Inftrumentenfammlungen fennen lernen und dann nad feiner Rücklehr
Alles aufbieten, um die Nutbarkeit und Unentbehrlichkeit folder Sachen des
Anihauens zu zeigen; er will das Elende ver Worterzählungen beweifen
*) Lebensbild II, S. 197.-
**) Ebenda II, S. 203; vergl. S. 163. — Emil II, ©. 21 f. und 62 f.
**) Ebenda II, ©. 214; nad Roufjeau fol auch Emil die Werkſtätten ber
Künftler und Handwerker bejuhen und aud Hand an's Werk legen, ja ſogar ein
Handwerk erlernen (II. Theil, S. 34 und 52),
7) Ebenba II, ©. 163,
yr) Ebenda II, ©. 198 f. und I, 1. Abtheilung, ©. 45.
trf) Ebenda II, ©. 198.
7*) Ebenba II, ©. 199 f. — Im ber Forderung und Würdigung des Studiums
ber Natur war Herder mit Rouſſeau durchaus einverjtanden und juchte allen derartigen
Unterricht mie diefer auf lebendige Anjhauung zu begründen. Ueberhaupt begegnen
gerade hier wiederholt Anflänge an ben Emil. So jagt ſchon Rouſſeau: „Ich haſſe
die Bücher, man lernt aus ihnen über Dinge jprechen, bie man nicht verſteht“ (II. Th.,
&. 32); ferner: „Ich ermübde nicht, e8 zu wiederholen, daß ihr der Jugend ben Unter:
tiht mehr in Thaten als in Worten ertbeilen müßt. Was fie aus der Erfahrung
lernen fönnen, jollen fie nicht aus Büchern lejen“ (II. Th., ©. 128 f.). „Saden!
Sachen! ich kann es nicht oft genug wieberholen, daß wir den Worten zu viel Gewalt
einräumen. Mit unferer ſchwatzhaften Erziebungsweife bilden wir nichts als Schwätzer!“
MI. Th., ©. 25 f.). BVergleihe dazu bie vielen (allerdings vielfach dem bloien Nütz—
ligfeitsprincip fröhnenden) naturfundlichen Erperimente im Anfang des II. Theile.
f**) Ebenda II, ©. 158.
38
und nicht ruhen, bis die Schule einen Schag von Inftrumenten und Natu-
ralien befigt.*) Wiederholt empfiehlt er auch Bilder zur Benügung**), an
einer Stelle jedoch mit der richtigen Bemerkung, daß fie nur ein bürftiger
Norhbehelf find für Dinge, die man in der Wirklichkeit nicht betrachten
fann. Wer blos das Bild der Sache bat, jagt er, kann aud und zwar
fehr angenehm biscuriren; Bild aber ift einmal nicht Sade; vom Bilo
biscuriren und genofjene Wahrheit anjhauen, ift nicht daffelbe.***) Ganz
unerbittlic aber ift Herber gegen die Worterzählungen, gegen ben jogenannten
Berbalrealismus und das Operiren mit abftracten, unverftandenen Begriffen. f)
Bon biefem Standpunkt ausgehend hat er auch jenem idealen Schulplan des
Jahres 1769 entworfen. In jeder der drei Claſſen unterfheidet er drei
Stufen, die das allmählige Auffteigen vom Concreten zum Abftracten fenn-
zeichnen: 1) die naturfundlih-mathematifche, 2) die hiſtoriſch-geographiſche,
3) die religiös = philofophifche. +7)
Ueber Mathematit bat Herder nur wenige fragmentarifche Bemerkungen
niebergeichrieben, die wir hier in freier Zufammenftellung wiedergeben wollen.
Herder will, daß die Mathematit mit der Naturfunde, namentlih mit der
Phyſik in Verbindung gebracht werde, ebenjo mit der Geographie, da die
Geometrie dem Verſtändniß der Karten nothwendig zu Hülfe fommen müfje.trr)
Das Zeichnen empfiehlt Herder als ein hervorragendes Bildungsmittel zur
Geometrie: „Durch daſſelbe befommt der Schüler Verhältniſſe in's Auge,
Veftigkeit in die Hand, Proportion in die Seele, wenn er aud tie Schärfe
der Demonftration noch nicht, oder nicht immer begriffen.“ „Ye mehr bie
Knaben hübſche Zeichnungen machen, deſto mehr wird fi ihre Luft ver:
mehren, deſto mehr befommen fie auch Augenmaß, Geſchicklichkeit in die Hand
und lernen zugleich die praftifche Anwendung zu allerlei Dingen des Lebens.“
Nach folhen Vorübungen können die Schüler in der Geometrie, die an
Körpern auſchaulich und begreiflich gemacht werben muß, zu Schwierigeren
geführt werden. Die Geometrie bringt auf Beweisfraft in Verbindung und
Folgerung folder und nicht anderer Site Man muß fih da alfo hüten,
daß diefe Wiflenfchaft nicht blofes Gedächtnißwerk werde; die Schüler follen
vielmehr angehalten werden, in den innern Zufammenhang der Sache ein:
zubringen und foweit e8 möglich ift, ſelbſt zu erfinden. T*) Ein foldyes Ber:
geben fhärft ven Verſtand und pflanzt in die Schüler das Streben ein, in
allen Dingen fo gründlich zu verfahren +**), und feine Aufmerkjamteit auf
abftracte Wahrheiten zu richten, wozu die Mathematik überhaupt mehr als
irgend ein anderes Studium geeignet ift. T**”)
*) Lebensbild II, S. 203 f.
**) Ebenda II, ©. 197, 204 und Sophren, ©. 242.
**x*) Sophron, 24. Mebe.
Tr) a. a. O. und Lebensbild II, S. 318, 325 xc.
+f) Lebensbild IL, ©. 218 f.
rt) Ebenda II, ©. 206 und 199.
+*) Sopbron, ©. 245 f.
7**) Ebenda, 20. Rebe.
***) Ebenda, 9. Rebe. — Ueber Arithmetif fcheint ſich Herder nirgends bejonbere
ausgefproden zu baben. Im Buchitaben- und Leſebuch, das für das erite Schuljahr
beſtimmt war, fleben auf der eriten Seite unten bie Zablen 1— 20, dann in Zehnern
bis 100 und die Zahl 1000, auf ber legten Seite das Einmaleins, Dazu bemerkt
39
e. Deutſche Sprache.
Mit pfychologiſchem Scharfblid weift Herder auf die Nothwenpigfeit
einer forgfamen Pflege der Mutterfprahe; denn fie ift es, die fih uns
zuerſt im Gemüth eindrückt und fi gleihjam mit den feinften Fugen
unferer Empfindlichkeit” ausbildet. Alle Bilder, die in den erjten Jahren
unferes Lebens in unferer Seele fi) ausprägen, ftehen im innigften Zu—
ſammenhang mit den Worten, die ihnen zum erften Dale al Zeichen dienten;
und dieſe urfprüngliche Verbindung ift darum auch bie innigfte, welche vie
Grundlage für alle fpätern und fremden Eindritde darbietet. Für die fremden
Sprachen zumal ift die Mutterfpradhe derjenige Leitfaden, der in bie große
Mannigfaltigkeit derfelben Einheit bringt; „unfer Geift vergleicht insgeheim
alle Mundarten mit unferer Sprache“. Mithin muß die Pflege der Mutter-
Iprabe dem lateinifchen Unterriht voran gehen.*) Herder weift auch darauf
bin, daß die Worte, die blofe Zeichen find, niemals für ſich, ſondern fters
nur im Zufammenhang mit den Sachen gelehrt werben bürften, welde fie
ausdrücken. Nie darf Eins vom Andern getrennt werden. Dadurch erfpart
man fih Zeit und Mühe; beide fünnen auf Einem Wege erlernt werben ;
der Unterricht in den Sachgebieten wird hiernach zugleih die Sprache bilden,
und dem Spradunterricht follen ebenso ftets beitimmte Gevanfen und Sachen
zu Orunde liegen. Dadurch ift dem Unterricht in der deutſchen Sprade
unter den übrigen Schulwiffenfchaften eine ganz beftimmte Stellung zuge—
wiefen ; er geht in denfelben nicht vollftändig anf, fleht aber auch nicht ifolirt
da, fondern fließt fih an alle und zunächſt an die jahlichen Fächer an.
Siftorifches, Geographifches ıc. wird in den Spracdhunterriht aufgenommen,
bearbeitet und in furzen Zügen aufgefchrieben. Nur dadurch wirb geforgt
für Reihthum der Gedanken, Wahrheit der Darftelung, Lebhaftigfeit und
Evidenz in Gefhichten und Gemälden, für Stärke und natürlihe Empfindung
in der Vorführung der aus der Natur und Menfchenwelt entlehnten Ver—
bältmiffe. Darum follen in biefem Unterricht namentlid auch eigene Er-
fahrungen und Erlebniffe ſprachlich bearbeitet werben. **) — Herder bringt
bei allem Unterricht auch auf Deutlichkeit im Gebraud der Rede und Sprade;
denn „die Rede ift ein treuer Ausdruck der Seele, ein barftellendes Bild
unferer Gedanken und Empfindungen ; fie muß alfo Charafter haben und
nicht Tönen gleich fein, die man hinter dem Stege hervorgeiget*. Der reine
„Zon des Herzens und ber Weberzeugung“ muß in ber Rede zum Ausprud
gelangen ; dazu gehört aber vielfache Uebung, die von frühefter Jugend auf
angeftellt werben muß und zwar zunädft im Umgang mit andern Perfonen.
Hier gielt es, auf correcte fehlerfreie Ausſprache zu achten, verftändig, artig
und beftimmt zu reden und anmuthig, abgerundet zu erzählen; baran er—
leunt man den Wohlgefitteten und Gebilveten. Ganz beſonders aber hat
Herder in der Anweifung: Der Lehrer thut wohl, wenn er jene (1—1000) dem Kinde
gleih nad den Buchitaben befannt macht und während bes Gebrauches dieſes Buches
ihnen die drei erftien Species im Spiel beibringt, und mit bem Einmaleins bahnen
fih die Schüler den Weg zum weitern Rechnen.
*) Lebensbild I, 2, Abtheilung, S. 151—162.
**) Ebenda IL, ©, 222 f. u. 320; Sophron, 17. Rede und Fragmente II, ©. 50,
40
die Schule e8 fi zur Aufgabe zu machen, diefe Kunft der Rede und Sprade
auszubilden. Als ein fehr geeignetes Mittel dazu. empfiehlt Herder das
„Leſen mit Berftand und Herz, den lauten und lebendigen Bortrag jeder
Urt“. „Das, was wir in unferer Sprade fowohl in. eigenen Productionen
als Ueberjegungen haben, follte in jeder wohl eingerichteten Schule laut ge—
lefen und gelehrt werben. Kein Haffiiher Dichter und Profaift folte fein,
an deſſen beften Stellen fih nicht das Obr, die Zunge, das Gedächtniß, die
Einbildungstraft, der Verftand und Wig lernbegieriger Schüler geübt hätte. *
Wie die Griechen den Homer auswendig gelernt, die Römer die beften griedi-
ihen Schriften ſich angeeignet, die gebilveten Italiener Arioft und Taſſo, die
Engländer ihren Milton und Shafespeare verehrt und zum Theil fi ein—
geprägt, fo ſollen aud in Deutfhland Uz, Haller, Kleift, Klopftod, Leſſing
und Winkelmann gelejen und ftudirt werben. „Kein edles Bild, Feine große
Gefinnung, Aufmunterung und Warnung, wenn ed mufterhaft gedacht und
gefagt ift, follte blos in unfern deutſchen Büchern und Bibeln ftehen,
fondern in den Schulen follten, wie auf der Tenne das Korn von der Epreu
gefichtet, jedes Edelfte und Befte laut gelefen, auswendig gelernt, von Yüng-
lingen fidy zur Regel gemacht und in Herz und Seele befeftigt werben. Dies
laute Leſen und auswendige Vortragen bildet niht nur die Schreibart,
fondern es prägt auch Formen der Gedanken ein und weckt eigene Gedanlen;
e8 giebt vem Gemüth Freude, der Phantafie Nahrung, dem Herzen einen
Borgefhmad großer Gefühle und erwedt, wenn dies bei uns möglich ift,
einen Natienaldarafter.” *)
Zum guten Lefen, Memoriren und Vortragen kommen dann fchriftliche
Uebungen, Auffäge aller Art, Auszüge aus den werthvollften Büchern und
eigene Compofitionen. Die Feder ſchärft den Verſtand, berichtigt die Sprade,
*) Welch folgenreihen Einfluß Herder's geniale Einfiht in das Weſen und ben
Urfprung der Volkspoeſie auf den Entwidelungsgang ber deutfchen Literatur ausgeübt
bat, ift befannt. Es mag bier blos angebeutet werben, daß aus ber reihen Fundgrube
dieſer Errungenſchaft auch die Schule, namentlich feit der Herausgabe von „bes Knaben
Wunberborn“, von Ubland’s volksthümlichen Liedern und Balladen und feit ben ver:
bienftvollen Arbeiten der Brüder Grimm, vielfach geihöpft bat und auch fortan zu
jenen ewig frifchen Quellen wahrer Empfindung zurüdfehren muß. Unb wenn es fich
um Berwertbung und Behandlung der Volfspoefie im Unterricht handelt, fo giebt uns
nr in wenigen, inhaltsfchweren Sägen bie ficherfte Belehrung: „Ihre (ber Völker)
ejänge find das Archiv des Volks, der Schatz ihrer Wifjenfhaft und Religion, ibrer
Theogonie und Kosmogonien, ber Thaten ihrer Väter und ber Begebenheiten ihrer
Geſchichte, Abdrud ihres Herzens, Bild ihres häuslichen Lebens in Freude und Xeid,
beim Brautbett und beim Grabe... . Da malen fi alle, ba erfcheinen alle, wie
fie find, Die kriegeriſche Nation fingt Thaten, die zärtliche Liebe. Das fharffinnige
Volk macht Näthjel, das Volk von Einbildung Allegorien, Gleihniffe, lebendige Ge—
mälde. Das Volk von warmer Leidenfhaft fann nur Leidenſchaft, wie das Volf unter
ſchrecklichen Gegenftänden ſich auch fchredliche Götter dichte.“ Dichtungen von foldem
Anhalt können dem culturgefhichtlihen Unterricht (im weiteiten Sinne des Wortes)
nicht genug empfohlen werden, zumal ba fie „von Allem einen anſchauenden Begriff“
geben, und auch Vilmar bebt in feinem trefilichen „Handbüchlein für Freunde bes
deutſchen Volksliedes“ (S. 64) mit Recht hervor, daß beifpielsweije biftorifche Volks:
lieder eine lebendigere Anfhauung von Greigniffen und Zuftänden gewähren, als bogen=
lange Beſchreibungen zu thun vermögen. ine jolde Auffafjung der Volkspoefie führt
dann von felbft auf die richtige Erklärung derfelben, welche vor Allem den individuellen
Boden bloß legen wird, aus weldhem „die Blumen ber Eigenbeit“ und Gefchichte des
Volkes emporgewachſen find.
41
entwidelt Ideen und macht die Seele auf eine wunderbar angenehme Weile
thätig. Nulla dies sine linea jet darum der Wahlſpruch einer jeven Schule. *)
Da bisher über Herders „Buchſtaben- und Leſebuch“ keinerlei Mit-
theilungen gemacht worben find **), pas Büchlein überhaupt wenig befannt
zu fein fcheint, jo wollen wir uns bier auf vaflelbe näher einlaffen, indem
wir dadurd zugleich einen Kleinen Beitrag zur Geſchichte diefes Gegenftandes
zu liefern glauben.
Die Anweifung zu diefem Buchſtaben- und Leſebuch beginnt folgender-
maßen: „Jeder verftändige Schullehrer wird duch eigene faure Mühe be-
merkt haben, daß das gewöhnlihde ABE-Budh, das aus den Hauptftüden
des Katechismus beitand, ganz und gar nicht für die erften Anfänge des
Leſens ſei. Die fchwerften Worte: geheiliger, Benebeite und vergleichen
lommen gleih auf ven erften Seiten vor: die Kinder verftehben nidhts von
dem, was fie buchftabiren und leſen, fie lernen es alfo ohne Luft und Yiebe,
ja mit einer täglihen Qual. Keine von allen den Wörtern, die im ge:
meinen Leben und aud im Schreiben am meiften vorfommen, fteht in ihrem
Buchftabirbud, und das Kind finder fi alfo bei jedem andern Bud) jo un—
erfahren, als ob es noch gar nicht lefen gelernt hätte. Gegenwärtiges Bud:
ftaben- und Leſebuch wird diefen Mängeln großentheils abhelfen und jowohl
ven Lehrer, ald dem Schüler feine Arbeit erleichtern. *
Auf Seite 1 läßt Herder die Reihe der Heinen Buchſtaben nicht unter-
Ihiedslos auf einander. folgen, weil fie in diefem alle auf das ungeübte
Auge des Neulings einen verſchwommenen Eindrud ausüben würde, fondern
er trennt je drei oder vier Buchſtaben durch ftarfe Beiftriche von den übrigen.
Auf derjelben Seite ſtehen noch für ſich abgefondert die einfachen, dann bie
Toppelvocale und endlich das große ABE. Dazu giebt Herder $ 1 folgende
Anweiſung: „Der Lehrer thut wohl, wenn er viefe Rubepunfte beobachtet
und Anfangs das Kind nicht überhäuft. Es befommt mit diefen Abfügen
ein gewiſſes Maß ins Ohr, und da die Buchſtaben allefammt willkürliche
Zeihen find, fo wird damit dem Gedächtniß fehr geholfen. Sodann wird
ter Lehrer Sorge tragen, daß der Schüler die Buditaben auch außerhalb
der Ordnung erfennen, die Aehnlichkeiten, Unterjchiede und die Doppellauter
aud tem Schall nah vernehmlih ausjprehen lerne. Denn nachdem fid)
der Mund früher gewöhnt, nachdem bleibt die Ausſprache lebenslang.“
Von dieſem Geſichtspunkt ausgehend ftellt darum Herder aud auf Seite 2
die einfachen Silben mit ähnlihen Confonanten zufammen, damit der Ver—
wehelung derſelben vorgebeugt werde. Freilich kann dieſer Gefahr nur
dann mit Erfolg vorgebeugt werden, wenn man an Stelle folder finnlofer
Eilben ähnlich lautende, mit einer beftimmten Bedeutung verknüpfte Worte
von verfchiedener Schreibart neben einander ftellt, damit gerade der Sinn
u einem unterftügenden Beziehungspunft für die Drtbographie werde.
Hievon macht Herder nur auf fpäteren Seiten Gebraud. In 8 9 der An—
meilung fordert er, der Lehrer folle beim Syllabiren die Buchſtaben jelbft
nennen, welde dann von den Schülern zufammengefegt werden. In ber
—
) Tas Ganze iſt aus ber höchſt lehrreichen Rede: Von ber Ausbildung der
Rede und Sprache in Kindern und Zünglingen, 1796, entlehnt (Sophron, 17. Rebe).
**), Ginzelne Gedanfen darüber im Sophron, S. 257 j.
42
Buchſtabirmethode wurde es fonft umgekehrt gehalten: der Schüler follte die
Buchſtaben ausfpreben, die dann zunädft vom Lehrer vereinigt und vom
Schüler nachgeleſen wurden. Jene Uebungen follten aud ohne Bud vor-
genommen werden. Auf Seite 3 ftehen vie Declination des Artifeld, die
vier Cafusfragen nebft Antwort mit dem Artikel, die Declination von Bater,
Mutter, Kind, ich, du, er, woran fich eine furze Reihe von anderen Perfonen-
bezeihnungen ſchließt. Seite 4 und 5 enthalten die Conjugation der Hülfs-
und anderer Berben in ihren gemöhnlicheren Zeitformen. Darüber giebt
8 3 folgende Winfe: „Die Nomina und Verba ftehen nicht dazu da, damit
das Find die Grammatik lerne, vie für dafjelbe noch nicht gehört, ſondern
weil fie die leichteften Silben und ven Grund der ganzen Sprache enthalten.
Da einerlei Worte bier oft vorlommen, fo wird das Kind diefe Seiten im
leichteften Spiel lernen und fih froh dünken, daß es ſchon fo viel kann.
Und da das ABC-Buch infonderheit laut getrieben im Gedächtniß bleibe,
fo hat es damit becliniren und conjugiren gelernt, ohne daß es weiß, was
conjugiren und becliniren heißt. Der Lehrer kann nad den verjchiedenen
Abſchnitten die Ordnungen feiner Claſſe jo abwechſeln lafien, daß fie gleichſam
in ſtetigem Wetteifer find und die ganze Claſſe dieſe Lection mit Aufmerk—
ſamkeit betreibt.“ Seite 6—8 ſtehen Hauptwörter unter beſtimmten Ueber—
ſchriften und rhythmiſch geordnet; ſo z. B. Bäume des Waldes, Baumfrüchte
u. a. naheliegende Dinge, ebenſo die Jahreszeiten, Monate, Tage, Welt:
gegenven u. |. w. Diefe Uebungen begleitet Herder in $ 4 mit folgenden
Worten: „Es folgen einige Seiten von Namen der Dinge, die im gemeinen
Leben am meiften vorkommen und bei denen das Kind aud ſchwerere Wörter
zufammenfegen lernt. Der Lehrer wird hier einen gewiffen Rhythmus be
merken, der zum Lernen überhaupt und infonderheit, wenn Viele gemein:
ihaftlih Eine Arbeit treiben, die Mühe fehr erleichtert. Auch hier möge
der Lehrer abwechſelnd leſen laffen, damit er die ganze Claſſe gleichſam im
Tact und in der Aufmerkjamkeit erhalte.“ Nah $ 6 fol das Schreiben
mit dem Lejen jobald als möglich verbunden werben, weil Eins dem Anderen
hilft, und das Kind wird fo nicht nur durch die Abwechfelung, ſondern noch
mehr durd die Uebung, indem es fiehet, daß es aud etwas thun kann,
angenehm aufgemuntert.*) Das a b ab, vie Berba und Nomina fchreibt
der Lehrer auf die Wandtafel vor und läßt die Kinder nachſchreiben; oder,
wenn fie foweit find, giebt er ihnen andere Verba vor, die fie auf bie
Schiefertafel oder Papier ſelbſt fchreiben, und fo lernen fie abermals vecli-
niren und conjugiren, ohne daß fie wiffen, was ein Cafus oder Tempus fei.
Bei dem Nominibus müſſen fie auf die Fragen: Wer? Was? bei dem Verbis
auf die Hilfswörter: ich bin, ich war, ich habe, ich hatte, merken, und fo
muß ihnen almählig das eigene Schreiben ein Spiel werben.“ Auf Seite 9
fiehen einfache Säge wit Thätigfeiten und Eigenfhaften von Thieren; auf
Seite 10 und 11 ähnlih lautende Hauptwörter (Bär, Beere) und Zeit:
wörter (ich leide, ich leite) im ihren Hauptformen untereinander, damit fie
von ven Schülern in der verfhiedenen Schreibart unterſchieden werben.
Auf derfelben Seite kommen zur Uebung befonders die Imperfecta in ein-
fahen Sägen zur Anwendung. Die Seiten 12—14 enthalten Bibelfprüde,
*) Sopbron, S. 237.
43
Kirhenlieder und volksthümliche Sprüche in kurzen Zeilen; dazu finden ſich
in $ 7 folgende Begleitworte: „Die Sprüde find deshalb abgeſetzt, damit
das verhaßte Singen aus den Schulen, das meiftens den Vorſtand zerreißt,
verhindert werde.*) Hier find, fofern es der Raum erlaubte, die Abfäge
nah dem Berftande bezeichnet, wonach fi der Lehrer und Schüler zu richten
baben, im Lefen ſowohl, als aud im Schreiben. Zugleich hat ver Lehrling
mit diefen Sprüchen die fhönften Gebote und Sittenlehren gefaßt, die ibm
auf fein ganzes Leben lieb fein werden.* Zur Würdigung berjelben tft das
Nöthige bereits geſagt. — Auf Seite 15 ftehen einfache, der kindlichen
Faflungsfraft völlig angemeffene innige Gebete, diesmal ohne Trennung ber
Silben, weil, wie Herder bemerkt, ein Kind auf biefer Stufe endlich jo weit
fein muß, daß es das Abrheilen jelbft beforgen kann. Im dieſer Beziehung
unterfcheivet fih das Buchftaben- und Leſebuch fehr vortheilhaft von Baſe—
bow’s „Heinem Buch für Kinder aller Stände”, in weldem zwiſchen ven
Eilben Beiftrihe und zwifchen den einzelnen Worten PBarallellinien angebracht
find, die nicht nur gar feinen Zwed haben, fondern aud von ftörendem und
verwirrendem Einfluß fein müffen.
Bom heutigen Standpunkt der Fibellunde wäre es ein Leichtes, über
Herder’ 8 Buchſtaben- und Lefebuh ven Stab zu breden. Das kann uns
nit einfallen. Herder's Vorzüge find ihm eigen; die Fehler des Buches
bat er mit feiner Zeit gemein; er gehört noch dem Buchftabenmerhodenzeit-
alter an, erft 1804 beginnt mit Stephani das Lautiren (obwohl viejes
ihon Balentin Idelfamer in feiner „Zeutfhen Grammatica“ (1531)
und noch einige Yahre früher in feiner verloren gegangenen Schrift: „Bon
der rechten weys leſen zu lernen“ gelehrt hatte)**), und Bogel verwirft
fpäter ganz mit Recht den mit finnlofem Lautiren beginnenden Yejeunterricht
und führt die Normalwörter ein, die noch heute in mannichfachen Motifica-
tionen die Herrichaft behaupten.
f. Alte Spraden.
In feinen Studien war Herber von Jugend auf mit befonderer Vor—
fiebe den claſſiſchen Völkern des Alterthbums, den Griehen und Nömern
jugewendet, die er in ihrem Geifte und in ihrer Zeit zu erfennen und
zu erflären unermüdlich beftrebt war. „Er fuchte Grieche zu fein mit den
Griehen und Römer mit den Römern.” Mit der Gewalt ihrer Schönheit,
Zarıheit und Wohlorbnung, mit ihrer verflärten Humanität hatten fie fein
Herz an ſich gezogen, und fo waren fie ihm nah und nad eine Geſellſchaft
von Freunden geworben, deren Umgang er über Alles Liebte.***) Unp in
diefen verebelnden Umgang fuchte Herber aud die Schüler des Gymnafiums
einzuführen, damit fie den Muftern alles Guten, Edeln und Schönen nad
ftreben und dadurch das Gefühl der Humanität, die Wahrheit und das
*) Herber meint natürlich das gebankenlofe erg in einem fingenden Ton.
*) Raumer, Geſchichte der Pädagogik III, 3 f. — Ausführlihere Mit:
theilungen über Ickelſamer's u enthält das „Allgemeine Schulblatt für Volks—
und Mittelfhulen*. 1875, 6. Heft, ©. 330—332.
”**) Danz, 3. G. von Herber’s Anfichten bes claffifhen Altertbums, 1805, Vorrebe.
44
Schöne im Sinne der ten mit hinüber nehmen möchten in alle ihre
Wiffenihaft und Kunft.*)
Wir fehen und haben uns aud ſchon früher überzeugt, wie Herber
fein Hauptaugenmerk im Studium der Alten ganz im Geiſte des von ihm
hochgeſchätzten 9. M. Gesners auf den würdigen Inhalt, auf die in den
beften Schriftftelern enthaltenen Gedauken richtet. Darum fordert er auch,
es jollten im Gymnaſium nicht Wortfrämer, fondern römische und griechiſche
Sachgelehrte gebildet werben; nur jo könnten Yünglinge die Blume des
Alterthums in Dichtkunſt, Geſchichte, Kunft und Weisheit erfühlen und
fennen lernen. Schon in feiner Sturm und Drangzeit fümpft Herber
energiſch an gegen die damals herrſchende, geiftlofe unterrichtlihe Behanplung
der claffifhen Spraden; die bloße Form hatte zu ſehr das Uebergewicht
über den Inhalt erlangt und wurde in einer Weiſe cultivirt, als ob fie ber
Zwed und nicht vielmehr blofes Mittel zum idealen Zwed wäre Im dieſem
Sinne jagt Herder: „Sobald man es zu einem legten Zwed macht, latein
zu lernen und dieſe an fi) fo angenehme und nüglihe Sprache nicht bios
als Mittel gebraudt, um durch fie Gefchichte zu lernen, in den Geift großer
Männer zu bliden, fo wird den Mufen Latiums zu viel Raum im ben
Schulen und zu viel Antheil an der Erziehung gelaſſen. .... Seufzen muß
der Menfchenfreund, wenn er fieht, wie in ven Schulen, die mit dem Namen
Iateinifher Schulen prangen, die erfte junge Luft ermüdet, die erfte friſche
Kraft zurüdgehalten, das Talent im Staub vergrabeh wird, bis es wie eine
zu lange zurüdgehaltene Fever feine Krafı verliert.“ **) Den öden Zuftand
einer Grammatiſtenſchule und die traurigen Früchte derſelben ſchildernd, ruft
Herder zu bderfelben Zeit aus: „Weg Grammatiken und Grammatiter !
Mein Kind fol jede Sprade lebendig und fo lernen, als ob es viefelbe
felbft erfände.“ ***) Darum empfiehlt er für den erften lateinifhen Unter—
richt leicht verftändliche Autoren, wie C. Nepos, in denen lebendige Sachen,
Charaktere und Facta befprohen werben; mithin darf die Sprade nad)
Herder nicht aus der Grammatik, fondern umgekehrt muß dieſe aus ben
Autoren erft abftrahirt werden. Ebenfo foll e8 aud im Griechiſchen gehalten
werden, wo glei mit Herodor, Homer oder Xenopbon begonnen werben
faun.}) So kommt man bald auf den Kern der Sache und vergeuder nicht
die fhönften Jugendjahre mit abgeriffenen Sägen und trodenen Sprach—
formen. Wenn Herder im Reiſejournal ausruft: „Weg alfo pas Latein,
um an ihm Grammatik zu lernen; hierzu fei feine andere in der Welt,
als unfere Mutterſprache“, fo jheint ung viefer befremdliche Ausſpruch nur
infofern richtig, al8 unter Grammatik, um mit Herder zu reben, Philoſophie
und Logik der Sprache überhaupt verſtanden wird und als die Mutterſprache,
wenn fie aud nit aus Lehrbüchern gelernt wird, den gemeinfamen, leben-
digen Beziehungspunft für die Grammatif und das Verftänpnig aller fremden
Spraden bilde. Wenn es fi aber darum handelt, ob aud fremdſprach⸗
liche Grammatik gepflegt werben ſolle, jo iſt Herder, während er fie in ſeiner
*) Lebensbild I, 2. Abtheilung, S. 156; Sophron, 4. 9. und 11. Rebe.
**) Tragmente II, ©. 35 f.
#**) Gebensbild II, ©. 320 f.
+) Ebenda, ©. 221-236,
45
erfter Periode, entrüftet über den geiftlofen Unfug der Grammatiften, zurück“
gedrängt wiſſen will, in den Weimarer Schulreden durchaus für dieſelbe
und legt großes Gewicht auf ihre Kenntniß. „Nichts rächt fih fo ſehr als
eine vernachläffigte Grammatik;“ „denn fie ift ein Modell für Ordnung,
Genauigkeit und Klarheit der Begriffe im Kopfe“ und „das Leitſeil im
groken Yabyrinthe der Worte und Sprachen“ *).
Niht minder betont Herver auch die äſthetiſchen Verhältniffe in ven
Sprahformen. Im 94. Humanitätsbrief hebt er hervor, daß in ver Com—
pofitton der Alten Alles Zwed, Plan und Orbnung habe. „Nichts fteht am
unrehten Ort, nichts ift müßig und unfhidlih dahin geworfen; und im
Ganzen herrſcht eine lebendige Darftellung und Handlung. Die griechiſche
Sprache z. B. ift von der Bildung der Worte an bis zum Bau der Silben-
maße und Perioven ein Mufter des Wohlflanges, der Zufammenfügung, ver
Bedeutfamkeit und Grazie des Ausdrucks; die lateinifhe Sprache eifert ihr
nd. Wie in Statuen und Gebäuden die Kunft der Alten Einfalt und
Würde, Bedeutung und Anmuth zu vereinigen wußte, jo vereinigen es bie
Meifterwerfe ihrer Sprade. Wer in Homer und Pindar, in Herodot, Plato,
Cicero, Yivius und Horaz diefe Schielichkeit und Congruenz der Theile zur
Eurhythmie des Ganzen weder zu finden, noch anfhaulich zu machen weiß,
der ıft des Geiftes, in dem fie arbeiteten und dachten, nicht inne geworben....
Einfalt alſo und Würde, Bebeutfamkeit und Wohlordnung haben wir von
den Alten zu lernen, um unferer Denfart und Sprade im Kleinften und
Größten eine ſolche Geftalt zu geben.“ So iſt denn die Kegel, die wir
aus den Alten ziehen, eine „ethiſche, logifhe und poetiſche“**).
Mit dem größten Nachdruck und wiederholt regt Herder in feinen
Schulrevden die Gymnaſiaſten zum Studium der Alten an und fordert fie
zu forgfältigen Weberjegungen auf, die mit der eveln Schreibart der ur—
ſprünglichen Schriftfteller wetteifern, nicht aber erzmungenes Sculerercitien-
werk bleiben follen. Großes Gewicht legt er auch auf das Leberfegen aus dem
Deutſchen ins Lateinifche; denn das jei „ein Probirftein, der das falſche
Gold unbeftimmter Gedanken, ausfchweifender Bilder, ungefüger Perioden,
leerer Wiederholungen in feinem ganzen Betruge zeige****). Endlich em—
pfiehlt er auch bier freie Auffäge mit dem Grundſatz: nulla dies sine linea.
Die Bemühungen Herder's für die pädagogiſche Pflege und Verwerthung
der claffiihen Autoren an den Gymnaſien blieben nicht fruchtlos; beſonders
verdient hervor gehoben zu werben, daß er dem Griechiſchen, deſſen Ein-
führung ſchon Gesner eifrig angeftrebt, aber nur in engen Kreifen hatte zur
Geltung bringen können, eine ehrenvolle Stellung in den Schulplänen von
Deutſchlands Gymnafien errang, nachdem er in Weimar mit einem mufter-
haften Beifpiel vorangegangen war. f)
*) Sopbron, 2. und 5. Rebe.
**) 94, Humanitätsbrief; vergl. auch ben 91.—93. und Sophron, 9. Nebe.
**) Sopbron, 9. Rebe.
7) Außerdem ftehen Gesner und Herder aud im Kampf gegen bie geiftlofe Bes
bandlung des Spradunterrichts gleihgefinnt neben einander. Gesner’s Grundſatz beim
Eprahunterriht war: „verborum disciplina a rerum cognitione nunquam sepa-
rande.“ Wenn biemit auch Rouffeau und Bafebow ———— ſind, ſo ſtehen ſie
doch in ihrem ganzen Verhältniſſe zu den Alten tief unter Herder.
46
Fortſetzung Dazu: Ueber Das Fronzöfiide.
Schließlich no einige Worte über Herder's Verhältniß zur franzö—
ſiſchen Sprade. Herder hatte, wie fein Reifejournal zeigt, ſehr viele An-
regungen den Tranzofen zu verdanken, beren Sprade und Literatur er da—
rum aud im liefländifhen Schulplan befonders bevorzugt. Nach der Mutter-
ſprache jollte die franzöfifche folgen, weil fie ihm „pie allgemeinfte und un—
entbehrlihfte in Europa“ ſchien. „Sie ift“, meint Herver, „nad unjerer
Denkart die gebilvetfte ; der fchöne Stil, ver Ausdruck des Geihmads iſt am
meiften in ihr geformt und von ihr in andere übertragen: fie ift die leich-
tefte und einförmigfte (vd. h. einfachfte und regelrechtefte), um an ihr einen
praegustus ber philofophifhen Grammatik zu nehmen: fie ift die ordentlichfte
zu Sachen der Erzählung, der Bernunft und bes Raifonnements. Sie muß
aljo nah unferer Welt unmittelbar auf die Mutterfpradhe folgen, und vor
jeder andern, felbft vor ber Lateinifchen voraus gehen. Id will, daß jelbft
der Gelehrte beſſer Franzöftfh als Latein könne.” Nicht nur findet Herder
für die Schule angemeffene Autoren in der von ihm jegt fo jehr gepriejenen
Sprade, „jondern die franzöfifhe Grammatik ift aud die leichtefte unter
allen Spradhen. Die Sprade ift einförmig, philoſophiſch an ſich ſchon, ver-
nünftig; ungleich leichter als die deutſche und lateinifhe, alfo ſchon jehr
bearbeitet“. Das Franzöſiſche ſoll zugleich für das Latein vorbereiten; bie
italtenifhe Sprache wäre als VBermittlerin zwiichen biefen beiden empfehlens-
werthb, könne aber unter den gegebenen Berhältniffen nicht herangezogen
werben (Lebensbild Il, S. 228— 232). Bon diefer Ueberfhägung der fran-
zöſiſchen Sprache fam Herder zum Theil ſchon während feines Aufenthaltes
in Frankreich zurüd. Darum hören wir feit diefer Zeit fofort andere Ur—
theile von ihm: die franzöfifhe Sprade, wie die Nation, habe wenig
Tugend und innere Stärke. „Ein gewiffer Adel in Gedanken, eine gewifje
Freiheit im Ausprud, eine Politeffe in der Manier der Worte und in ber
Wendung, das ift das Gepräge der franzöfiichen Sprache, wie der franzö—
fiihen Sitten.“ „Die Galanterie ift jo fein ausgebildet unter dieſem Bolf,
als nirgends fonft. Immer bemüth, nicht Wahrheit der Empfindung und
Zärtlichkeit zu ſchildern“, fondern fi artig und einnehmend auszudrüden —
„it die Oalanterie der franzöfifhen Romane und die Coquetterie des fran-
zöfifchen Stils entftanvden, der immer zeigen will, daß er zu leben und zu
erobern weiß. Daher die Freiheit der Wendungen, wenn fie auch nichts
find, damit man nur zeige, daß man fie machen fünne Daher die Com-
plimente, wenn fie nur nicht niedrig find. .... Man will gefallen, dazu
ift der große Ueberfluß der Sprache an Anftands-, Höflichkeit, Umgangs-
auspritdungen, an Bezeihnungen fürs Gefälige* Dazu wollen bie Frau—
zofen immer Veränderung; „man ift der Wahrheit müde: man will was
Neues, und jo muß endlich der barodfte Gefhmad herhalten, um was Neues
zu verfhaffen. Dies Neue, das Öefällige und Amilfante iſt Hauptton*.
„Wer von diefer Seite die franzöfiihe Sprache inne har, kennt fie aus dem
Grunde, kennt fie als eine Kunft zu brilliren und in unferer Welt zu ge:
fallen, kennt fie als eine Logif der Pebensart. Infonderheit aber wollen bie
Wendungen berfelben bier berechnet fein! Sie find immer gedreht, fie jagen
nie, was fie wollen: fie machen immer eine Beziehung von dem, ver ba
47
fpricht, auf den, mit dem man fpricht: fie verfchieben alfo immer die Haupt-
fahe zur Nebenſache, und die Relation wird Hauptfahe, und ift das nicht
Etiquette des Umgangs! ... Die Alten kannten dies Ding galanter Ver—
fhiebungen nicht” (Xebensbilver, ©. 278— 284). „Biel leichter können wir
uns unter Griehen und Römer, unter Spanier, Italiener und Engländer
verfegen, al® in ihren Kreis anmuthiger Frivolitäten und Wortjpiele.
Geſchieht dies enblih, zwingen wir und von Jugend an biefe Formen auf,
gelangen wir mit faurer Mühe zu der Bortrefflichkeit, wozu Wenige gelangen,
franzöfifch zu denken, zu fherzen und zu amphibolifiren: was haben wir
gewonnen? .... Schwerlich giebt es eine fchimpflichere Sclaverei als vie
Dienftbarkeit unter franzöſiſchem Wig und Gefhmad, in franzöfiihen Wort-
feſſeln“ (111. Humanitätsbrief). „Die Philoſophie der Franzojen, die in
der Sprade liegt, ihr Reichthum an Abftractionen, tft gelernt; alſo nur
dunkel beftimmt, über und unter angewandte, alfo feine Philofophie mehr !
Man ſchreibt alfo aud immer nur beinahe wahr, nie völlig wahr... .
Die Philofophie der franzöfiihen Sprache hindert alſo die Philofophie der
Gedanken.” Die franzöfifhe Sprade kann nur dann philofophifc fein, wenn
fie nicht von Franzofen und nicht für Franzofen gejchrieben witrde (Lebens-
bild IL, S.278— 284). Wenn Herber endlich den Franzofen noch den gerechten
Vorwurf macht, daß fie das Alterthum verfälfcht, daß „galliiche Eitelkeit
manchen hohen Begriff, mandes edle Wort auch der alten Römerſprache
geſchmückt, entnervt, verderbt“, jo werben wir es begreiflich finden, wenn er
während feiner Weimarer Periode das Franzöfifhe im den Hintergrund
treten ließ.
5) Methodifhe Aachträge und Anfihten über das Examen.
Herber will den Unterricht nicht einem bloßen unzuverläffigen Tact
überlaffen, fondern er fordert, die ganze Methodik des Lehrers, ver als
Gedanken- und Sittenbildner zugleich Künftler fein fol, müſſe fi nad ver
eigenthümlichen Beſchaffenheit des kindlichen Geiftes richten. *) Wiederholt
wünſcht ſich Herber ein ſolches Bud, in welchem durd genaue Beobachtungen
alle Vorgänge im Seelenleben bargeftellt würden, damit man barnadı be=
. fimmen fünne, „welde und in welder Ordnung und Madt die Einprüde
von Außen gegeben werden jollten“.**) Da es ihm an einem derartigen
zwedmäßigen Buche fehlte, jo war er jelbjt unabläffig bemüth, Baufteine
namentlich aus den empirischen Unterfuhungen der Engländer zufammen zu
tragen ; biefelbe Gabe, vie ihn in fo wunderbarer Weife befühigte, bie
Seele der Völker aud in ihren verborgeneren Zügen zu verftehen, ließ ihn
auch in das Seelenleben des Einzelnen tiefe Blide thun. Seinen reichen
pfychologiſchen Erfahrungen begegnen wir nicht blos auf Schritt und Tritt
in feinen pädagogischen Anfichten, wo fo oft ein genialer Scharfblid hervor-
leuchtet, ſondern aud in felbftänpiger Darlegung, zunächſt im Reiſejournal
(U. Band vom Lebensbilvde, befonders Seite 318— 334), wo er fie gleich
auf die Pädagogik anwendet, ferner in den „Ipeen“ (5. Band IV, 4. Band I
—_
*) Vergl. Lebensbild II, ©. 318—334 und ben 63. Humanitätsbrief.
**) Lebensbild II, S. 190 und 325 f.
48
u.a. D.) und endlid in der „Metafritif”, wo er bie an manchen tiefgreifen-
den pſychologiſchen Gebrechen leidende „Kritif der reinen Vernunft” Kant’s
zu befämpfen ſuchte. Es kann bier nicht unfere Abficht fein, Herder's Pſycho—
logie zufammen zu ftellen, da dies zu weit führen würde; wohl aber dürfte
es ſich mit unferer Aufgabe eher vereinbaren, wenn wir die auf den Unter:
richt bezüglichen wichtigſten pfychologifch - pädagogifchen Grundſätze, fo weit
fie von Herder dargeboten werben, vorzuführen verſuchen.
Eine Bildung des Gedankenkreiſes beginnt nad Herder damit, daß in
der Seele durch Bermittelung der Sinnesorgane Empfindungen, Senfationen
entjtehen ; in ver erften Jugend nichts als Begriffe durch die Sinne; es
muß überhaupt jede Wiſſenſchaft in allen Begriffen und jede Sprade in
allen Worten auf die Sinne zuritd geführt werben, in denen fie entftanben
find. *) Nur jo können fih VBorftelungen und Begriffe ausbilden, wenn fie
eine erfahrungsmäßige Grundlage haben; erft dann liegen den Worten, die
ſich mit jenen geiftigen Gebilden vereinigen, beftimmte Sachen zu Grunde:
man muß ſich hüten, Worte zu lehren, wo feine Sachen dahinter fteden.
„Nur mechanische Köpfe erfreuen fi) an bloßen Worten, mit denen fie, wie
mit Nechenpfennigen den Cours des gemeinen Redeſpiels halten.“ **) Im ber
Schule aber jollen „jachenreidye Köpfe” gebildet werden, denen Worte blos
als Zeichen für beftimmte Sachen dienen. Das ift aber nur möglid, wenn
blos über folhe Dinge geſprochen wird, welde von den Schülern gefehen,
gehört, angetaftet ***), in ihr eigenes Selbft umgewandelt, erfiihlt worden
*) Lebensbild II, ©. 321 u. 323.
**) Sophron, 23. Rebe.
***) Lebensbild IL, ©. 323 u. a. D.; vergleiche hierzu auch die vortrefflichen Be-
merkungen in ben Abhandlungen zur Plaſtik; ebenda, ©. 361 f. Herder betont das
Taſten, das er oft auch Gefuͤhl nennt, mit beſonderem Nachdruck; er nennt es ein
vortreffliches Werk, zu unterſuchen, wie weit wir mit dem blofen Gefühl (Taften)
fommen würben ; denn das ijt bie Tofidefte, profunbeite, erſte Hand der Seele. Das
Auge iſt Trug und Oberfläche. Ein blos Fühlender iſt in ſich ſelbſt eingefchloffen ;
jeine Empfindungen gehören ihm unmittelbar zu und find mit feinem Ich verbunden,
Das Auge wirft und weit von und weg: bie Pas find das Gefühl, das uns noch
am weitelten von uns entfernt“ (Lebensbildb Il, ©. 388). „Ein Fühlender ift am
wenigiten Idealiſt. Alles ijt eben außer Ihm: in jeinem Gefühle wenigſtens: es reicht
nur an bafjelbe, an fein Taſten“ (©. 393) — gewiß richtige Winke zur Ausbildung
von Raumpvorftellungen, die auch von der heutigen Piychologie vor Allem auf die Mit: *
wirfung des Tajtfinnes zurüd geführt wird, Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß
ſchon Roufjeau in ähnlicher Weife wie Herder und noch beitimmter bie Bedeutung
des Tajtens hervorhebt; Band I, ©. 144 im „Emil“ beißt es: „Wir find nicht
auf gleiche Weije Meifter aller unferer Sinne, Wir befigen einen, das Gefühl (le
toucher) nämlich, das ftets thätig ift, jo lange wir wachen. Es ijt über die ganze
Oberfläche des Körpers verbreitet, um uns Alles zu melden, was ben Körper verlegen
fann. Auch ift dies derjelbe Sinn, durch befjen immerwährenbe Uebung wir, mögen
wir wollen oder nicht, bie frühejte Erfahrung ſammeln;“ unb S. 151 bemerft Roufieau,
daß der Verſtand fajt jedesmal ohne den Tajtfinn urtbeilt, weil das Auge ben Gegen:
ftand eber erreicht, als e8 die Hand kann. „Zur Ausgleihung bafür find eben bie
Beurtheilungen des Tajtfinnes bie ſicherſten, gerade weil ſie die beſchränkteſten ſind;
denn ſie erſtrecken ſich ſoweit, als unſere Hand zu reichen vermag, und verbeſſern ba-
durch die Uebereilung ber übrigen Sinne, welde aus einer Entfernung auf die Gegen-
ftände Jagd machen, aus der fie jie fauım gewahr werden, während das Gefühl bas,
was e8 wahrnimmt, genau unterfudht . . .. Der Zaitfinn if daher unter allen Sinnen
derjenige, welder uns am beiten von dem Einbrud unterrichtet, ben frembe Körper
auf uns machen können, es ijt der Sinn, ben wir am häufigiten anwenben, und ber
49
find. — So fehen wir, wie Herber von ganz richtigen pfuchologifchen
Gründen geleitet zu einem auf Anfhauung beruhenden Unterriht kommt.
Die verfhiedenen Dinge müfjen wahrgenommen und angefchaut werden, wenn
fie im Unterricht beſprochen werben follen, denn, jagt Herber treffend, „ber
Lehrer kann mir feine eigenen Gedanken nicht eintrichtern ; durch jeine Worte
wedt er blos meine Gedanken, die aber in meinem Geifte fhon vorhanden
fein müſſen“. Diefen Anfichten gemäß nahm Herber, wie wir fhon wiffen,
in feinen Schulplan für die Anfangsftiufen des Unterrichts in jeder Claſſe
concrete Fächer auf, die von unmittelbaren Erfahrungen ausgehen follten.
Dem Erzieher, meint Herder weiter, darf e8 aber nicht gleichgültig bleiben,
welder Art die erften Eindrüde find. Sie follen zumal anfangs die beften
und wahrften fein; das Häßlihe und Falſche dagegen halte man möglichft
fern.*) Dabei miüffen aber die Senfationen aud ftark, lebhaft und getreu
fein, denn nur fo entftehen ftarke, lebhafte und getreue Gedanken **), vie ſich
tief in die Seele einprägen und ein bleibendes Beſitzthum derfelben bilden
jellen ; darum ftellt Herber die Regel auf: „Mache deine Bilder der Ein-
bildungskraft jo ewig, daß du fie nicht verlierft, wiederhole fie aber auch
nicht zur Unzeit.“***) Diefe Einprüde bleiben aber nicht ifolirt und un—
verändert, ſondern treten in der Seele zu einander in Beziehung, werben
bei neuen Eindrüden reproducirt, bilden mannigfadhe Verbindungen, Phan-
taftenorftellungen, in deren Ausbildung der Erfindungsgeift ver Schüler geübt
werden muß; ebenfo gehen die abftracten Begriffe aus einem complicirten
pfychiſchen Procef‘hervor, der im Unterricht weder überfprungen, noch abgekürzt
werden barf.
Wiederholt kommt Herder auf ein gründliches und freies Lernen zu
ſprechen, auf ein Lernen, in welhem ver Unterrichtsftoff in Saft und Blut
des Schülers umgewandelt wird. „Der befte Prüfftein, ob Jemand etwas
gefaßt hat, ift, daß er es nachmachen, daß er es felbft vortragen kann, nad)
feiner eigenen Art, mit feinen eigenen Worten.” —) „Merkt euch viefes, ihr
Kateheten! Das ewige Wenden und Drehen vom Subject aufs Prädikat,
vom Prädikat aufs Subject: wer hat di erfchaffen? ... wen hat er er-
ihaffen ? ift noch fein Katechiſiren, fondern ein leibhaftes Wortgähnen“, wo
die Fragen auf Antworten mit beftimmten Wortlaut berechnet find. „In
eigenen Worten muß man fatechifiren, eigene Worte muß man dem Katechi-
firten herauslocken, feine eigenften Worte; diefe, dieſe allein bezeichnen
ieine Gedanfen. Ihnen muß man folgen, an fie feine eigenen Gedanken
und die unmittelbarjte Kenntniß verichafft, die unfere Erhaltung verlangt.“ ©. 159:
„Man muß bas Sehen lange Zeit hindurch mit dem Fühlen zufammen geitellt haben,
um ben erjten biefer beiden Sinne zu gewöhnen, daß er und einen treuen Bericht von
den Formen und Entfernungen liefert“ und a. O
*) Lebensbild II, ©. 326.
**) Ebenda IL, ©. 324.
**) Ghenba Il, ©. 333. Er
+) In diefem Sinne fagte Herber oft zu ben re „Ih verdanke bem
Dociren die Entwidelung mancher Jdeen und ihre Mare Beſtimmtheit; wer fich dieſe
in irgend einer Sache erwerben will, ber bocire fie!“ (Er. I, ©. 60.) Und an feinen
Sohn Auguft fehreibt er am 24. II. 1797: „Das Referiven giebt deutlichen Begriff,
bringt Ordnung in ben Vortrag und Zufammenbang in Grund und Folge von beiden
Seiten.” (Herder's Nachlaß II, ©. 459.)
Morres, Herder ale Pädagog. 4
50
knüpfen.“*) Die fihere und freie Aneignung läßt fih aber nur durch
häufige Uebung erreihen. AU’ unfer Willen muß geübt werben, damit es
zum Können erhoben werde. „Nur was wir üben, wiſſen wir; und wir
fönnen nur foviel, als wir geübt haben.“ **) „Die Schulen jelbft feien
Vebungsanftalten (Öymnafien) zur beften und nüglidhften Uebung.“ „Mit
Anlagen kommen wir auf die Welt; ausgebildet werben dieſe Anlagen nur
durch Uebung. Unſer ganzes Leben ift für uns Gymnaſium. Was aus ung
werben fol, muß in uns durch Uebung werben“, die „die Mutter aller
Vollkommenheiten“ (3. Rebe) if. „Vom erften Moment des Lebens an
haben wir ung Alles, was wir fönnen und wiffen, Vieles ohne daß wir
es gewahr wurden, durch Uebung erworben. Wie unfer Fuß gehen, jo hat
unfer Auge jehen, unſer Ohr hören, unjre Zunge fpreden gelernt, durch
Uebung gelernt. Auch das Buchſtabiren, Leſen, Schreiben und Rechnen
enthalten die vielfachften Uebungen unferer Seelenkräfte.“ Beiſpielsweiſe
führt Herder an, ein Philofoph habe berechnet, „daß unfere Seele einige
vierzig Uebungen vornimmt, indem fie die große Kunft lernt zu buchſtabiren“.
„So find alle unfere Kenntniffe, Gewohnheiten, Gefinnungen und Fertig.
feiten Refultate unferer Uebungen.” Erſt vielfahe und ſchwere Uebung
überwindet die Unbeholfenheit und macht bildſam und gewandt. Durd bie
fleifige Hebung wird dann der Schüler auf die Bahn der gelingenten Thätig-
feit gelenft, woraus ein unnennbares Vergnügen entfpringt, das auf allen
Unterriht, auf alles Lernen fürberlih wirft; „die Hebung befeelt jeves
Merk, indem es unfere Anlage zur felbftbemußten Kraft, Fähigkeit und
Vertigfeit erhöht. Nur durch willige, frohe, unabläffig fortgefegte Uebung
wird man feiner Kunft Meifter.“***) Co weit die allgemein methodischen
Bemerkungen Herder's. —
Es erübrigt uns, noch feine Anfihten über das Echuleramen vorzu-
führen ***): pas Eramen fol dem Lehrer nicht Gelegenheit bieten, fi durch
glänzente Lectionen hervor zu thun; er darf tarum in folhen Fällen nidt
lange ſprechen, aud nicht erläutern oder lehren, ſondern bat durch Furze,
gefhidte einleitende Fragen bie Kenntniffe der Zöglinge zu Tage zu fördern.
Auf tiefed Eindringen in das Detail einer Sade kommt es hier gar nicht
an, wenn auch in feiner Claffe ver Lehrer bis ins Kleinfte gründlich und
genau fein muß; jeßt zeige er nur, daß er genau und gründlich gemejen.
Die Wurzel bleibe in der Erbe; er zeige uns ihr Gewächs, deſſen Blumen
und Früchte „Nur dann wird ein Examen für die Antwortenden und
Hörer angenehm, wenn jede Fection fo lange feft gehalten wird, bis bie
Profectus der Claſſe in derfelben wie ein Gemälde mit Licht und Schatten
erfcheinen und man dadurch zum neuen Gemälde der folgenden Tection vor
bereitet, geftärft und orientirt wird. Ein Lehrer, ver feine Claſſe fennet
und liebt, wird alfo die Fragen fo einrichten, daß fie beantwortet werben
fünnen und wird fie an ſolche richten, bie fie ihm etwa am beten beantworten
fünnen ; daraus entfpringt Nadeiferung, die beſſer ift als Beſchämung.“
Fehlern des Antwortenden fomme er gejhidt zuvor und verbeffere fie in
*) Scphron, 23. Rebe.
**) Ebenda, 1. u. 5. Rebe,
***) Ebenda, 16, Rebe; vergl. auch den Schluß ber 25.
51
leihter und gewanbter Weile. „Ungeachtet der kurzen Zeit zeigt ſich bei
einem öffentlihen Eramen ver Lehrer vielleicht mehr als er es felbft meiner.
Nicht nur feine Lehrart wird offenbar, fondern aud der Geift und das
Gemüth, mit welchem er feine Claſſe betrachtet und behandelt.” —
Einige Tage vor ber Prüfung ließ Herber, auf eine Anregung Heinze’s
bin, als Ephorus den Lehrern Anweifungen zufommen über die Materie, die
er vornehmen laffen wollte; denn das ganze Jahrespenſum fünne man gar
nicht fordern. Dur jene Mafregel werde der Lehrer zugleih in Stand
gelegt, fich die Lection anzufehen, damit er ruhig und gelaffen fragen könne.
‚sa, er fann jelbft den Schülern einen Winf geben, worauf fie fih un-
gefähr in den legten Stunden vorbereiten mögen, damit fie nicht eine unver-
nünftige Furcht betäube oder fie gar im der legten Angft über Alles hin-
weg fahren, fih zu Allem rüften wollen und wenns zum Treffen kommt,
gar ungerüftet daftehen. Cine Wachtparade in ven Lectionen fol das Eramen
nicht fein, fondern eine vernünftige väterliche Uebung.* In demjelben wird
zugleich von den Bertretern ber Gefellihaft öffentlih unterſucht, wiefern bie
vorgefchriebenen Gefege, jowohl die Yectionen als die Zucht und Ordnung
berreffend, im Gange find oder nicht. Mängel follen verbeflert, Fehler und
Unordnungen abgeftelt, Klagen gehört, Ungehorfam zurecht gewiefen, ver
Fleiß gelobt, ver Unfleiß getadelt und über dies Alles umparteiticher Bericht
abgeftattet werben. *)
6) Die Schulregierung und ihre Maßregeln im Anterriht.
Es ift dies eine Frage, bie Herder mit weitblidender Einfiht beant-
wertet; merkwürdig nur, daß fie von den bisherigen Bearbeitern ber
Herder'ſchen Pädagogik fo wenig, faft gar nicht beachtet worden. Offenbar
haben dieſelben die gerade im biefer Beziehung fo wichtige Antrittsreve
Herder's in Riga: „wie fern die Grazie in der Schule herrſchen müſſe“
niht gefannt. Aber auch die im „Sophron“ ftehenven Reden enthalten
mande werthwolle Beiträge zur Beantwortung unjeres Themas.
Wenn der Erzieher durch den Unterricht ven Gedankenkreis der Zög—
linge dem Erziehungszweck entſprechend geftalten und in dieſem Gejchäft
auf fiheren Erfolg rehnen will, jo müffen vor dem Unterricht und während
deſſelben mande äufere Beringungen erfüllt fein. Der Erzieher fest
mächft voraus, daß das Schulzimmer und feine ganze Einrichtung für den
Unterricht zwedbienlih ift und nit etwa der Mangel an Borkehrungen,
melde auf die phyſiſch nothwendigen Bedürfniſſe der Zöglinge berechnet jein
jollen, Beranlafiung zu Störungen wird. Im dieſem Sinne fagt Herder:
„Die Schule muß fein ftaubiger Kerker fein, in welchen wie in eine dunkle
Höhle junges Vieh zufammen getrieben werde, damit es frohlodend hinten
ausihlage, wenn es dem Kerker entfommt.“ **)
a *) Vergl. über Herber’s Auftreten im Gramen: Schubert, Selbitbiograpbie I,
€. 369 f,
*) Sopbron, 10. Rede. — Mit Beitimmtheit liegt hierin die Forderung, minbeftens
geräumige und Inftreine Schulzimmer zu jchaffen, damit nicht in Ermangelung berjelben
den Kindern das Sitzen in der Schule zur Laſt werde. ft diefer letztere Fall ein-
getreten, jo können die Schüler nimmermehr mit ungetbeilter Aufmerffamfeit und
Empfänglicfeit den Worten des Lehrers entgegen fommen; denn es liegt eine Störung
4*
532
Sind derartige äußere Hinberniffe befeitigt oder gar nicht vorhanden,
fo muß zunächſt ein beftinmtes, georbnetes Verhältniß zwilchen Lehrer und
Schüler hergeftellt werben, welches ebenfalls Störungen vorbeugen fell
Kurz gefagt: der Erzieher muß, um das ibm vor der Geele ftehenve Er-
ztehungsideal verwirklihen zu können, vollfländig freie Hand haben, und
der Zögling muß ſich ber Einficht defielben unbedingt unterwerfen. Hierauf
legt Herber großen Werth, Ohne Umftände hat fi der Schüler unter den
Willen des Lehrers zu beugen, ber jenem felbft bei Fehlgriffen feine Ver—
antwortung ſchuldig ift. Herder fordert, in der Schule müſſe pünktlicher
Gehorſam und unbedingte Subordination berrfhen, in gleicher
Weife wie im Kriegsheer und auf dem Schiff.*) Nur dur unumfchränfte
Herrfhaft in der Schule hat ver Lehrer aub die Macht in den Händen,
pie nöthigen Anoronungen zu treffen und ungeftört feine Pläne zu verwirk-
lihen. Er wird zunächſt für gehörige Ordnung forgen. Im zahlreicher
Berfammlung von Menihen, jagt Herber treffend, muß Ordnung herrſchen,
wenn nit Alles zum Chaos werben ſoll; Ordnung aber fann nur ftatt:
finden, wenn fie mit ernfter Strenge feftgehalten wird; eine Menge kann
ohne Ordnung und ftrenge Einrihtung nicht beftehen; und in der 18. Rede
des Sophron madht er die ausdrückliche Anwendung dieſer Worte auf das
Schulleben, indem er die fefte Regelmäßigkeit in Arbeiten, Ge—
wohnheiten und Sitten beſonders betont.**) Beiſpielsweiſe führt er
an einer anderen Stelle an, die Ordnung der Arbeiten müfje fo feft fein,
„daß jedes Kind wife, was e8 auf den folgenden Tag haben wird;* dadurch
befomme es „einen Gefhäftsfalender in die Beine“, der ihm gewiß gut
thue.**) Es muß aljo die ordnungsmäßige Eintihtung des Schulförpers
zur Gewohnheit werben. Weiter muß der Lehrer varauf halten, daß vie
Schüler den Unterriht mit Aufmerkſamkeit verfolgen und durch Fleiß
ben ungeftörten Fortgang deſſelben unterftügen. „Ordnung und Fleiß in
den Claſſen, Achtſamkeit gegen feinen Lehrer und ftiller Gehorjam find
Ruder und Steuer des Schiffs; ohne fie ift Schule und Schiff verloren.“ 7)
Das vornehmfte Mittel zu dieſer allgemeinen Ordnung ift aber wiederum
die Beihäftigung, die lebhafte Beihäftigung ver Seele des Knaben
durch den Unterricht. 7f) Sol diefelbe in den rechten Gang kommen, jo ift
zunächſt erforderlich, daß der Schüler dem Vortrag des Lehrers die nöthige
innere Ruhe und Empfänglichfeit entgegen bringe; denn „nicht im Sturm
ſäet man edeln Samen.“ trf) Bon fremden Gedanken werde die Seele ge
reinigt, fonft träumt fie fort, und ihre Kräfte werben nicht geübt. Ein guter
Lehrer weiß auch bier abzuhelfen. Anfhaulicher Unterricht r*), Methode
vor, beren Bejeitigung ber Erzieher anzuftreben hat, wenn ibm am Erfolg feiner Arbeit
etwas gelegen iſt. — In der genannten Vorlage zur Ständeverfammlung 1777, alfo
bald nad feinem Amtsantritt bittet Herder um einen Beitrag zur Anlegung eines
Fonds für die Inſtandhaltung der Schulgebäude und Subjellien.
*) Sophron, 18. u. 1, Rebe.
**) Ghenda, 18, Rebe,
“er, Ebenda, ©. 247.
7) Ebenda, 1. Rebe.
fr) Ebenda, 18. Rebe.
rt) Ebenba, 25. Rebe.
7*) Ebenda, 3. Rebe,
53
iſts, das bie Aufmerffamfeit feſſelt. „Wenn der Lehrer lebhaft ſpricht, Jedes
auf ſeiner neueſten Seite zeigt, geſchickt combinirt, jeden Augenblick ganz die
Seele des Zöglings anfüllt, jede Saite der Aufmerkſamkeit trifft, jedem
Schlupfwinkel der Zerſtreuung zuvor kommt, wenn er nicht in einer fieber—
haften Methode wallt, die bald fliegt, bald kriecht, ſondern ſtets mit gleichem
Auge fortſchreitet und Alle bemerkt — fo läßt ſich Erfolg erzielen.” *) Aus
der Seele des Lehrers theilt fi das Feuer mit und verbreitet fi auf bie
Fleißigen und von biefen auf die Faulen.**) So muß ver Lehrer alle Maf-
regeln treffen, um durch lebhafte Beihäftigung Aufmerkſamkeit und reges
Intereffe zu erwecken und zu erhalten; „jo lange man feinen unmittelbaren
Reiz an der Sache fieht, wählt man fie nicht; man treibt jie, um fie ge—
trieben zu haben. Der Reiz, d. h. diefes unmittelbare Intereſſe ift das
Leitband, das die Jugend feflelt.“ **) Aus dem Gefagten geht hervor, daß
der Unterricht felbft eim höchſt bedeutendes Mittel ift für die allgemeine
Ordnung, die von der Schulregierung gefordert wird. Die lebhafte Be-
ihäftigung durch den Unterricht läht Störungen gar nicht auffommen ; ver
Knabe gewinnt gar feine Zeit, müßig zu fein oder auszufchmeifen.***) Alle
Schüler müſſen am Unterricht in gleicher Weife lebendigen Antheil nehmen.
„Der Bortrag muß darum alfo beſchaffen fein, daß er die ganze auch zahl-
reihe Claſſe befhäftige und nicht der eine Theil im Todesichlaf liege, während
der andere erercirt." Wenn nod fo viele Schüler in der Claſſe find, fo
folen fie dennoch Alle berüdfichtigt werden. Wird aber Einer zu biefer
lebendigen Betheiligung nicht heran gezogen und „weiß er, daß er bies un—
würdige Amt ganze Stunden ober gar halbe Yahre befleiven darf, dann
wehe den ſtummen Pythagoräern“. Ihr Fleiß ermattet, und fie treiben böje
Dinge. Der Lehrer muß es fi darum zu einem „Hauptgefeg feiner Me—
thode machen, daß nie Jemand und der Schwähere am mwenigften müßig
bleibe”. Die Beihäftigung beugt dann allen Störungen vor.T) Sie darf
aber nicht einförmig fein, fonft erwächſt eine neue Duelle von Störungen.
Es muß demnah für angemeffene Abwehfelung in den Unter-
richtsfächern geforgt werben. tr) Sotann darf ein Unterrichtögegenftand
in zufammenhängender Zeitreihe auch nicht zu lange Dauer in Anſpruch
nehmen, fonft nützt fi die Spige der Aufmerkſamkeit ab, aud bei Er—
wahjenen, und es tritt Erſchlaffung, ja Trägheit ein, vie fich leicht auf
alle Gebiete übertragen fann.Trf) Es muß mithin für das rechte Ber-
bhältniß zwiſchen Arbeit und Erholung Sorge getragen werben ;
denn „die menjhlihe Natur erliegt unter einer raftlofen Anftrengung ;
während der Ruhe, während des Spiels zwanglofer Uebungen gewinnt fie
Munterkeit und friſche Kräfte”. F*)
Treten während des Unterrichts trotz aller VBorforge Störungen ein, fo
wird „ein Wort, ein Blick, ein leifer Wink vom Lehrer mehr ausrichten,
—
*) Lebensbild I, 2. Abth., S. 57; Ähnliche Gebanfen im Sophron, 3. Rebe,
**) Ebenba, a, a, O., ©, 52.
*##) Sophron, 18. Rebe,
+) Sopbron, 10. Rebe.
+f) Ebenda, ©. 247,
) Ebenba.
7*) 51. Humanitätsbrief.
54
als hundert Scheltworte und anfahrende Sittenprebigten, die nur müßig
ums Ohr faufen“ *); ebenfo wenig liegt in den Körperftrafen eine Auf-
munterung; „fie können Bosheiten betrafen, aber nicht Tugenden weden.
Und Strafen durch Ehrbegierde (Herder meint an dem Ehrgefühl) find nur
für feine Gemüther, nur im Anfange und felten zu gebrauden, wenn fie
nicht den Werth verlieren follen.” **)
Bei aller Schulregierung fällt endlihb die ganze Erſcheinung
des Tehrers und fein perfönlihes Berhältniß zu pen Shü-
lern entjheidend in die Wagſchale. Herder war im dieſer Beziehung jelbft
höchſt glüdlich begabt, wie uns aus einem jeden feiner Wirkungskreiſe gleich-
mäßig günftig berichtet wird; er konnte uns daher aus dem reichen Schage
eigener Erziehertugenven dieſe legte wichtige Frage beantworten. Um ben
Eindruck durch Contraft zu erhöhen, führt er in feiner Rede „wie fern bie
Grazie in der Schule herrſchen müfje* **), ftatt jenes ibm vor der Geele
ftehenden Lehrerideals zunächſt einen handwerksmäßigen, düſtern Schul»
pedanten vor, „deſſen Weisheit vom Donat an bis zu verſchiedenen leeren
Unterfuhungen über das ontologiſche Ding reiht”; „feine Methode iſt Pe—
danterie, jeine guten Sitten offenbaren fih in einem knechtiſchen Schul—
zwang.“ . Selten fiehbt man „Annehmlichkeit auf feinem Angeſicht.“ Ernit
und finfter findet man ihn oft mit dem Schulfcepter in der Hand, pedantiſch
abgeichloffen und fteif — und fo erjheinen den Knaben die Schulen als
Gefängniſſe. Eines folhen Lehrers Unterrichtet empfindet der Schüler als
Zwang; „er lernt, um aufzufagen und gieft nachher ven Becher der Ver—
geffenheit darüber.“ ***) Inter folhen Berhältniffen fann an einen Erfolg
des Unterrichts gar nicht gedacht werben. „Ein Uebel zieht das andere nad
fih, und fo finft die ganze Schule in den tiefften Verfall.“ — Diejem
häßlichen Bilde gegenüber zeichnet Herder dann um fo berebter das glänzende
Gegenbild. — Damit das rechte Verhältnig zwiſchen Lehrer und Schüler zu
Stande komme, muß diefer vor Allem Zutrauen zu jenem haben; es
muß in ihm das Bewußtfein eutftehen, daß aller Unterricht und alle Maß—
regeln jeines Lehrers zu feinem eigenen Wohle gereihen und fein Beftes
befördern wollen. Diefes Zutrauen bat fi aber der Lehrer felbit erft zu
erwerben, zunähft durch Einfiht und Treue in feinen Berufspflidten.
„Sinfiht und Treue find die beiden Eovelgefteine, die den Amtsſchild eines
Lehrers ſchmücken.“ Einfiht ift aber nit ein „Atlas von Gelehrſam—
feit*; fie befteht vielmehr zunähft im päbagogifhen Talent und in einer
naturgemäßen Methode. „Zalente muß ein Lehrer haben, um leiht und
doch gründlih, ganz und fpielend feinen Lieblingen die Wiffenfhaften ein—
zuzaubern.“}) Hierher gehört au, daß ber Lehrer als wahrer Seeljorger
feine Zöglinge befonders durch unmittelbar erzieberifhe Einwirkung, durch
die Zucht, mit heiligem Ernſt dem fittlihen Bildungsideal entgegen führen
*) Sophron, 18. Rebe.
**) Lebensbild I, 2. Abth., ©. 42—63. — Herber batte bie Abfiht, die dort
ſtehende Rebe zum Gegenftand einer ausführlidern Abhandlung zu machen; doch Fam
er über ben Anfang nicht hinaus; das vorhandene Fragment (S. 635—75) enthält
feinen erwähnenswerthen nenen Gedanfen.
***) Ebenda I, 2, Abth. S. 47—52,
7) Ebenda I, 2, Abth. S. 50 f.
55
fönne.*) Dazu muß er aber felbft in allen feinen Sitten und Tugenden
den Schülern als Mufter voran leuchten **), dagegen fid vor aller Erniedrigung,
ver jedem Eingriff in die Rechte feiner geiftigen Pflegebefohlenen hüten,
überhaupt Alles vermeiden, was fein Anfehen, feine Autorität beeinträchtigen
könnte. Endlich hat er ihnen ftets mit Treue und wohlwollender
Güte entgegenzulommen. Der Schüler „muß auf des Lehrers Stirne
gleihfam die einfältige und erhabene Wahrheit eines Baters leſen können,
der nichts Spricht, was er nicht denkt, er muß in ihm das liebenswürdige
mitempfindende Herz eines Freundes fehen — und alsvann hat der Lehrer
Alles gewonnen; die Schüler folgen ihm auch auf befchmwerlihem Wege;
Ales, was er vorträgt, ift Schön, fie bangen an feinen Lippen; der Lehrer
wandelt mit heiterer Stirn zwifchen Freunden, die ihre ganze Seele ihm
geben.“ ***) „Glüdlic ift der Lehrer, der das Herz feiner Schüler fo in ber
Hand bat und es lenken faun, wohin er will; glüdlich ift der, dem fie
felgen, felbft wenn fie aud nod nicht wilfen, warum er fie dieſes Weges
führe.” Im diefer Weiſe ſoll der Erzieher feinen Zöglingen „einen zu—
trauenden und offenherzigen Umgang, ein väterlih freundſchaftliches, wohl:
meinende8 Herz“ entgegenbringen; dann tft auch die Möglichkeit nahe, daß
fih alle diefe Geſinnungen allmälig auf die Schüler felbft übertragen. F)
Ueberblidt man Herder's pädagogiihes Streben und Wirken, fo darf
man vielleiht jagen, daß in ihm zum erften Male die lange verfeindeten
Rihtungen des Idealismus und Realismus fih einigten und in bie Er-
iheinung einer wahrhaft großherzigen und alles menfhlihd Schöne umfaffen-
den Humanität verſchmolzen. Herder war fein Humanift im Sinne des
15. und 16. Jahrhunderts; aber er war noch weniger ein Nealift im Sinne
von Comenius, und fo Vieles er von Rouffeau gelernt, fo mande Züge in
feinem „Schulideal“ von 1769 felbit an Baſedow erinnern, fo bat er fi
befanntlich beiden gegenüber die unabhängifte Stellung gewahrt und über
Baſedow fogar in fpätern Jahren daß entfchiedenfte Berwerfungsurtheil
auögefprodhen. Jedenfalls hat Herder in glänzender Weiſe geftrebt, eine ber
beventenften Bilvungsaufgaben des vorigen Jahrhunderts, mit der fih aud
Schiller in feinen philojophifhen Abhandlungen fo eifrig und gründlich be—
ihäftigt: die Berehtigung und verfühnende Vereinigung von
real und Natur, an einer andern Eeite angefaßt, auf die Schule an-
gewendet umd and glüdlich gelöſt. Diefelbe Bahn, die Herver aufgefucht
und betreten, hat im neuen Jahrhundert Herbart, unabhängig von jenem,
wieder eingefchlagen. Was Herber mit gefunden Tact und oft im kühnſten
Burf der Rede ausgefprohen, hat Herbart, wenn auch mit wenigen Ab—
weichungen, auf Grundlage einer wifjenfchaftlihen Pſychologie felbftändig
miammen getragen und meiter ausgeführt. —
*) Sophron, 1. Rebe.
*) Lebensbild I, 2, — ei 57; Sophron, 18, Rebe.
”##) Ebenda I, 2. Abtb.,
T) Ebenda und — 18 Rebe.
Anmerkungen.
Zu Seite 28 unten. In der Gegenwart wird die Concentration im
angebeuteten Sinne nur im ganz vereinzelten Kreifen gepflegt, im Allgemeinen
aber nicht beachtet oder gar nicht verftanden. Um uns biefelbe noch beut-
licher zu machen, ſei es uns geftattet, ein Beifpiel vorzuführen und nachher
mande Einwendungen gegen die Concentration zu prüfen.
Im Gefhichtsunterriht ift vom deutſchen König Heinrid die Rebe.
Die betreffenden Stüde werben vom Lehrer vorerzählt oder mit den Schülern
gelefen, von dieſen wieder erzählt, forann nah ihren culturgeſchichtlichen
und ethiſchen Beziehungen durchgeſprochen und das Nefultat davon, reip.
der fittlihe Kern, durch Gedächtnißſprüche feitgehalten. Die hiſtoriſchen
BVerhältniffe find aber von der übrigen Welt nicht ifolirt ; fie bewegen ſich
auf einem beftimmten Grund und Boden, ohne deſſen Erwähnung und Be
trachtung die Geſchichte gar nicht denkbar if. So müſſen aud im vorliegenden
Beifpiele die Länder und Städte, in denen fih Heinrich aufhielt, und aud
ver Harz, an und auf mweldhem jene zum Theil liegen, genannt werben.
Der geegrapifhe Unterricht hat bier reiche Ausbeute; er geht auf bie in
fein Bereich fallenden Ortsbeftimmungen näher ein, die nad Umftänden auch
erweitert werben fünnen ; dahin gehören aber aud die im Harz herrſchenden
eigenthümlichen Culturzuftände, die mit der ganzen Bodenbeſchaffenheit In
der engften Beziehung ftehen, wie Bergbau, Vogelzucht, Holzcultur u. |. Wr
wie es die befchreibende Geographie fordert; alles dieſes nicht ohne Be
ziehung auf die Vorzeit. Bei folder Behandlung der Geographie fann man
der innigften Berührung mit der Naturkunde gar nicht entgehen. Metalle,
Bäume und Singvögel wären das nächſte, was der naturfundliche Unterricht
aufzunehmen und zu bearbeiten hätte. Die bisherige Beihäftigung wat
durchgehends fahlih; nun kann auch ber deutſche Spradhunterricht hinzu
treten, intem er einen Theil von den genannten Stoffen auch ſprachlich
durchdenken und in kurzen Zügen oder auch im größerer freier Bearbeitung,
je nad der Leiftungsfraft ver Schüler, aufſchreiben läßt. Im größern Leſe—
bud von Curtmann 3. B. handelt ein Stüd vom Bergbau im Harz, wo
unter Anderem auch die jährliche Ausbeute von Eifen, Blei, Kupfer und
Silber in Zahlen angegeben if. Wie natürlih ift nun die Anknüpfung
für den Nechenunterriht! Selbft wenn dieſes Leſeſtück nicht vorliegt, ergiebt
fie fid) ganz ungezwungen, indem jene Zahlen ſchon von der Geographie
dargeboten oder im Auſchluß am dieſelbe beftimmt werden, damit für ben
Rechenunterricht auch ein Ausgangspunkt gewonnen werde. Wie mannigfade
Operationen dabei möglih find, braucht nicht ‚noch gefagt zu werben.
Geometrie und Zeichnen können ihre Stoffe von den beim Bergbau vor
fommenden Geräthen und einfahen Mafchinen hernehmen, die aud für DIE
Naturlehre manchen Anknüpfungspunkt darzubieten vermögen. Im Anſchluß
an dieſe Stofffülle wird ſich für den Geſangunterricht gewiß auch ein Lied
ausfindig machen laſſen, ſei es ein auf den Bergbau, auf die Natur oder
auf das Hiſtoriſche bezügliches.
Eine ſolche Einheit in der Ordnung der Fächer, nach welcher der
Geſinnungsſtoff im Centrum ſteht und unmittelbar oder mittelbar der Aus—
gangspunkt wird für andere Gebiete, wodurch von jenen Verbindungsfäden
57
zu diefen hinüber leiten, ift für die Erreihung der Erziehungsaufgabe die
fiherfte, pſychologiſch gerechtfertigte Veranftaltung. Die gewöhnliche Schul-
praxis fcheint fih um dieſe Frage wenig zu kümmern; fie lehrt ein Fach
neben dem andern, ohne bie innern Beziehungen berfelben aufzudeden und
zu verfolgen. Schon die herfümmlichen Lehrpläne find auf eine folde Ein-
beit gar wenig angelegt, indem bie einzelnen Unterrichtögegeuftände tfolirt
und im ſyſtematiſcher Folge angeordnet werden, als ob wir es nicht mit
Erziehungsihulen, fondern mit wiſſenſchaftlichen Fachſchulen zu thun hätten.
Die Eoncentration hat indeß auch ihre bevenflihen Seiten, und es
find darum gegen biefelbe von jeher nicht zu unterfhägende Einwendungen
erhoben worden, deren Vorführung und Beiprehung etwas mehr Licht in
die ganze Frage bringen wird. — Man bat zunädft behauptet, nad dieſem
Berfahren würden die einzelnen Fächer ihre Selbftftänpigfeit verlieren; fie
würden zu blojen Dienern herabgewürdigt. Daran ift zunächſt nur foviel
wahr, daß fie allerdings zu den Gefinnungsfähern zum Theil in ein
gewiffes Abhängigkeitsverhältnig treten, aber das will nur foviel fagen,
daß allem Willen und Können nur infofern ein ethifcher Werth beigelegt
werden kann, als es unter der Führung eines guten Willens ftehend gedacht
wird, worauf jene einheitlihe Anordnung der Unterrichtsgegenſtände doch
berechnet if. Geographie, Naturkunde u. f. w. fnüpfen, wenn für fie
etwas da ift, an, behalten aber im UWebrigen ihre volle Freiheit und
werden darum felbftverftändlih in befondern Stunden, wie der gewöhnliche
Fahunterriht, behandelt. — Der Selbitftändigfeit der Fächer droht aber
uch von einer andern Seite her Gefahr. Bein concentrirenden Unterricht
bat e8 den äußern Anjchein, als ob die untergeorbneten Fächer ihr Material
aus den Gefinnungsftoffen in der größten Unordnung herausheben und be—
arbeiten müßten; fo die Naturkunde 3. B. bald einen Vogel, bald ein
Metall oder fogar eine einfache Maſchine — jedenfalls ein großer Verſtoß
gegen das hergebradhte ſyſtematiſche Verfahren. Wahr ift, daß da leicht
Zerjplitterung eintreten faun, wenn man fih um andere päbagogifche For—
derungen nicht kümmert, da es in diefem Falle eigentlich nahe liegt, jebes
Object vereinzelt für fi zu bearbeiten, wodurdh Hemmung und Vernichtung
unter den Borftelungsmafien unausbleiblih wäre. Dem ift aber baburdı
erfolgreich bereit8 vorgebeugt worden, daß man den Öruppenunterricht ein-
geführt hat, wonad zum herausgehobenen einzelnen Object nody andere von
ähnliher Natur, die im Gefinnungsftoff jelbft nicht ftehen, herangezogen
werden. Durch die gleichzeitige oder in innigfter- Succeffion erfolgende Be:
bandlung der Glieder einer folhen Gruppe werben die fahwiflenshaftlichen
Intereffen gewahrt und die Gefahren eines einfeitigen Concentrirens ver:
mieden, wobei man zugleich nod den großen Bortheil gewinnt, daß bie
einzelnen Dbjecte der Gruppe durd ihre Aehnlichkeiten und Verfchievenheiten
an Klarheit und Deutlichkeit viel bejtimmter aufgefaßt werden, als wenn
fie ifolirt da ftünden. Die Gruppen nehmen mit den Jahren an Erweiterung
ertenfiv und intenfio zu, bis ſchließlich das ganze Syſtem, ſoweit e8 in bie
betreffende Schule gehört, ausgebaut ift. Nun bilden aber bie fo vollendeten
Fäherfufteme, die den fahwiffenfhaftlihen Forderungen entfprehen müſſen,
nicht für fich beftehenve ifolirte Complexe, jondern fie ftehen auch unter einander
in den mannigfachften Verbindungen, da durch jene unmittelbaren und mittel»
baren Anfnüpfungen an ven Gefinnungsftoff unter ven Fächergruppen Hinüber-
58
leitungen und Verbindungsweiſen ftattgefunden haben, die fi im Gebanfen-
freis feftfegen und reproducirt werben fünnen. So wird das geiftige Innere
des Zöglings zu Einem Guß, zu einem Webermeifterftüd, wie Mephifte den
Schüler belehrt, wo Tauſende von Fäden aufs innigfte mit einander ver-
flohten find; und die ethifchen Gefinnungen jollten darin den rothen Faden
bilden, der das Ganze zufammen hält und beherrſcht, der mit Einem Tritt
taufend Fäden regt. Damit ift zugleich in ber erfprieflidhften Weiſe für
formale Bildung gejorgt, die niemals durch vereinzelte Fächer erreicht werben
fann, jondern nur durch einen Zuſammenſchluß aller Fächergruppen.
Noch ein anderer Einwand ift gegen die Concentration gemacht worben ;
man fagt: ihr concentrirt nad) enern Öefinnungsftoffen, bringt aud Gruppen
zu Stande, aber das Terrain der Gefinnungsftoffe ift viel zu bejchränft,
als daß ihr zu einem gewiſſen ſyſtematiſchen Abſchluß gelangen könntet !
Namentlich gilt diefer Einwurf der Geographie, da fih die biblifhe und
Profan-Geſchichte, an welche ſich jene anfchliegen fol, verhältnifmäßig auf
einem Heinen Gebiet bewegen. Wie follte man da 3. B. auf Sibirien,
Auftralien u. f. w. zu fprehen fommen? Als Entgegnung wollen wir zu-
nächſt nur darauf hinwetjen, daß es felbft für die entfernteften Erpftriche und
andere Dinge an Anfnüpfungspunkten nicht fehlt, wenn fie auch nicht fo
unmittelbar zu Tage treten, wie im früher vorgeführten Beifpiel. So z. B.
fann die Entvefung Amerifa’s nicht blos zu Oſtindien und China, ſondern auch
zur Entdedung von Auftralien und zu den Südſee- und andere Infeln leiten,
ebenjo die Betrachtung europäifcher Tiefebenen zur norbafiatifchen, zu Sibirien
u. ſ. w. Solche entlegene Gebiete fünnten aber auch durch Unterhaltungs-
ſtunden einer Betrachtung unterworfen und erſt dann in den Organismus
des Unterrichts einverleibt werden. Außerdem liegt aber ſchon in der Wahr-
nehmung von Lüden die Weifung, diefelben auszufüllen. — Nod mehr
wird der zulegt gemachte Einwand bei der folgenden Erörterung ſchwinden,
die noch einen wichtigen Knoten löſen fol. Man darf nicht meinen, daß
nad) dem concentrirenden Berfahren der Unterricht das zunächſt Liegende,
die Heimath, ignoriren müßte, um auf fremdem Boden, unter fernen Völkern
umberzuftreifen, von Dlivenbäumen, Cedern, Löwen u. ſ. w. zu ſprechen,
während die heimathlihen Bäume und Thiere unberüdjichtigt bleiben, wenn
fie nit in der Concentrationsreihe ftehen. So ift es aber nicht, jo darf
e8 auch nicht fein; denn den fremdartigen, entlegenen Dingen, die man bem
Schüler zur Anjhauung nit vorführen kann, vermag diefer gewiß nicht
mit dem möthigen Berftännnig entgegen zu kommen, eine Borftellung von
denſelben fann in feinem Geiſte nicht entftehen, wenn er nicht ſchon vorher
ähnliche Dbjecte in der Heimath durch eigene Anſchauung, welder der Unter-
richt noh zu Hülfe kommt, kennen gelernt bat. So z. B. fann in der
Schule von einem Löwen nur dann die Rede fein, wenn die Knaben bie
Hauskatze nad ihren charakteriſtiſchen Merkmalen bereits fennen, damit eine
Bergleihung und Unterjheidung zwifchen beiden und eine annähernd richtige
Auffaffung des erftern ftattfinden fünne Im diefer Weiſe bilden vie Vor—
ftellungen von heimathlichen Objecten durchgängig feftftehende Apperceptions-
maffen für alles Fremdartige. Bon dieſer pſychologiſchen Thatſache macht
aud der Erwachſene ganz unwillfürlih Gebrauch, wenn er aus der Ferne
zu den Seinigen zurüdgefehrt, von Dingen erzählt, die in der Heimath nicht
vorfommen, ihnen alfo völlig fremd find; da hilft er ſich dadurch, daß er
59
dem Unbekannten Aehnliches, Bekanntes aus der nächften Umgebung fubftituirt,
diefes erläutert, befchränft, erweitert oder in eigenthümlicher Weife combinirt,
damit er feinen Zuhörern verftändlicd werden fünne. Diejes Berfahren
wärde auch im Unterricht feinen Zwed nicht verfehlen. Wie follte z. 2.
ein Veipziger Kind zur Vorftelung von Abrahams urjprünglicher Heimath
gelangen, wenn es nicht vor dem Auftreten der betreffenden Erzählung mit
der Grasebene zwiſchen der Elfter und Pleife vertraut gemadt wird? So
geht es bei allem Lernen, auf allen Gebieten des Wiſſens; denn bie aus
unzäblbaren Gliedern beſtehende Vorftellung des Heimathskreiſes bildet, wie
gefagt, eine feftftehenne Apperceptionsmaffe, weldye unfer gefammtes geiftiges
Befigthum durchzieht. Aus diefem Grunde ift darum von jeher, namentlid)
fit Finger, in ven erften Schuljahren ver Pflege der Heimathskunde mit
vollem Recht eine ganz befondere Sorgfalt zugewendet worden. Und aud)
der concentrirende Unterricht wartet nicht erft auf frembartige Weifungen,
ſondern beginnt die Ausbildung des kindlichen Geiftes auf dem zunächſt
liegenden Boden der Heimath. Wenn das Kind mit den Dingen und Ver—
hältniffen feiner Heimath auf gemeinfamen Spaziergängen und fonft in
nähere Berührung fommt, fo Liegt ſchon darin eine Aufforderung an ben
Unterricht, ven Zögling in erfter Linie mit feinem eigenen Umfreis vertraut
zu machen, in welchen allerdings namentlih in den erften Schuljahren aud)
die Gefinnungsftoffe hinein führen künnen, wie das in Profeffor Zillers
Uebungsſchule thatſächlich der Fal if. Daß im der erften Schulzeit von ber
Heimath ausgegangen werben folle, betont auch Herder, wenn er forbert:
Dinge, die das Kind täglih braucht, fieht und nicht fennt und die ganze
äußere Welt, in deren Mitte e8 fteht, jollen angefhaut und erflärt werben.
Es wird auf dem Unterfchied, die Aehnlichkeiten und Befhaffenheiten der
Thiere geführt, die es jo liebt. Die gemeinften Bebürfnifje des Lebens,
Erfindungen und Fünfte werden ihm gezeigt, damit es fich felbft fennen, im
feinem Umkreiſe fühlen und Alles brauchen Ierne.*) — Wenn man dieje
richtige Forderung befolgt, fo wirb jene noch nicht völlig erledigte Ein-
wendung vollftändig zurüdtreten, denn nun bietet uns die Heimarh felbft
Ausgangspunkte zu allen möglichen Dingen; fo führt ver Kaffee, den wir
tüglich genießen, zur Beiprehung der Heimath deſſelben, alfo nah Arabien
und Indien, der Zuder nicht blos auf unfere Runkelrüben, fondern aud)
auf das Zuderrohr und nah Weftindien, Porzellan, Seide und Thee nad)
China, Japan und Rußland; zu letzterem Land aud das Pelzwerf,
das auch aus Sibirien geholt wird u. f. w. Es wird alſo durch Ver—
mittelung ter Heimath auch dasjenige Material herbeigeihafft, wozu
in der Concentrationsreihe feine Weifung liegt. Aus den bisherigen Er-
Örterungen geht nunmehr hervor, daß die Concentration nur in dem Falle
pädagogiſch gerechtfertigt und fruchtbringend ift, wenn fie auf die ausſchließ—
lie, einfeitige Herrfhaft Verzicht Leiftet und ven Heimathfreis mit feinen
mannihfahen Objecten als Bundesgenoffen annimmt. Ginerfeits hat biejer
jelbftftändige Berechtigung, andererfeits aber liefert er das nöthige An—
hauungsmaterial, auf weldes die Gefinnungsftoffe weifen und bereitet bie
Vorftellungen von folden Objecten vor, die aus der Concentrationsreibe
berausgehoben werben und frembartig find; auferdem bietet er jelbft für
*) Lebensbild II, S. 197.
60
das Entlegene Ausgangspunfte zur Erweiterung und zum Abſchluß unvoll-
enbeter Gruppen und Reiben.
Zu Seite 30, Zeile 9 von oben. Jedenfalls verdient dieſes Ber-
fahren Anerkennung; es war das ein großer Fortfchritt gegen die alte
mehanifhe Behandlungsweiſe, und im Allgemeinen haben fi auch unjere
heutigen Schulen nicht höher ſchwingen fünnen, obwohl ein weiterer Fortſchritt
von ber wifienfhaftlihen Pädagogik angebahnt worden iſt. Man hat fich zunächſt
vergegenwärtigt, daß der Katehismus ideale, aljo für die unmittelbare Auf-
faffung abftracte Wahrheiten und Belehrungen enthält, die in einem
geordneten Spftem ftehen. Für die richtige Perception berjelben wird
zwar durch Beifpiele Sorge getragen, aber vie logiſche Ordnung, bie ein
erwachjener Denker auf Grund vielfaher Tebenserfahrungen zufammen ges
ſtellt hat, follte nicht dem Kinde ſchon in den erften Schuljahren aufgemöthigt
werben. Jedes Syſtem muß, wie wir gejeben, im Geift des Zöglings erft
entftehen ; jo auch das foftematifche Material des Religionsunterrihts aus
den nad den Culturfortſchritten geordneten Gefinnungsftoffen, die im ihrer
Zufammenftellung eine naturgemäße Entwidelung repräfentiren. Und aus
ber Beiprehung der in dem Gliedern dieſer Reihe vorkommenden fittlid-
teligiöfen und culturgefhichtlihen Berhältniffe treten, wie von ſelbſt, bas
Äyftematifche Material des Katechismus und bie ſich anſchließenden Gedächtniß—
ſprüche gleihfam als Kryſtalle hervor, die in durchſichtigen und leicht überſchau—
baren Formen almälig zum ganzen Syſtem heranwachſen. So wird die Ord—
nung des Katehismus anfangs natürlich eine andere fein, als die hergebrachte,
ebenfo gewiß, als die allgemeine Eulturentwidelung fid nit mach derfelben
richten konnte; aber e8 macht im Grunde aud gar nichts aus, ob die Kinder
das vierte Gebot zuerft lernen oder das erfte, und ob die von Luther feitge:
ftellte Drbnung früher oder fpäter zu Stande fommt; genug, fie fommt zu Stande
und bildet dann mit ganz bebentenden Erweiterungen, mit ben vielen hinein
geflochtenen Gedächtnißſprüchen, die Quinteſſenz des ganzen Gefinnungsunter:
richts. Wollte man dennoh die fyftematifhe Ordnung des Katechismus
einhalten, jo würbe man in einen andern Fehler gerathen, indem man bie
zur Erläuterung bienenden Beifpiele in der bunteften Folge beranziehen
müßte, die fih aber, da fie eines gemeinfamen Leitfadens entbehren, gegen:
feitig ftören und verbunfeln wirden. Außerdem gelangt man im biefer
Weife erft dur einen mithevellen und zeitraubenden Ummweg zum Ziel,
indem man fid genöthigt fieht, die Beiſpiele aus der chronologiſchen Reihe,
die man ohnehin einmal vurhläuft, zu plündern. Solche Umwege erſpart
man fi Hingegen, wenn man beide Thätigfeiten: das Durchlaufen ber
Culturentwidelungsreibe und die Ausbildung des Katehismus in Eine
Arbeit vereinigt. Bei diefer Behandlungsweife fallen die Erflirungen Luthers
anfangs ganz von felbft weg, weil die an ben Gefinnungsftoff ſich an-
jhließende gemeinfame Disputation fir die nöthigen Erklärungen ſchon a priori
Sorge trägt. Auch abgefehen davon ift es nicht richtig, Erklärungen ohne
Weiteres Iefen und lernen zu lafien, zumal wenn fie itber ihre abgegrenzte
Beftimmung hinaus gehen. Herder hat Diefes, wie fein Katehismus zeigt,
deutlih erkannt. Die Luther'ſche Erflärung läßt er darum anfangs ganz
weg und fordert, der Lehrer fole die Schiller anleiten, daß fie felbft auf
diefelben fommen und ſich über das Dargebotene frei erklären können.
— — —
Pädagogifhe Studien.
Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein.
10. Heft.
Die
Seminar-Vorbildung.
Dr. Otto Boodflein,
Seminardirector zu Hilchenbach.
Nicht deine Arı ſollſt du dem Schüler fchenten ;
Was feiner Art gemäß und was ihm frommt,
Das mwolleft du bedenten!
Wien und Leipzig.
ER Berlag von A. Pichler’s Witwe & Cohn.
handlung für pädagogifhe Literatur und Lehrmittel + Anftalt.
Drud von Fiiher & Wittig in Leipzig.
1876.
Vorwort.
Nachſlehende Studie erhebt keinen Anſpruch darauf, originell
zu ſein. Sie will aber manche Mißſtände in Erwägung ziehen,
unter denen die Arbeit des Seminars leidet. Daß Verfaſſer dabei
vorzugsweiſe preußiſche Verhältniſſe im Auge gehabt hat, liegt in
ſeiner Stellung; doch hat er ſeine Augen auch nicht geſchloſſen
gegen das, was außerhalb Preußens Geltung gewonnen hat, und
bat es empfohlen oder widerrathen, je nachdem es das Eine oder
Andere zu verdienen jchien. Eine unfehlbare Entſcheidung zu geben,
hat er nicht gewagt. Wenn manches herbeigezogen ift, was jcheinbar
weit ablag, jo fcheint das doch nur jo: Verfaſſer bat fich bemrüht,
fireng bei der Stange zu bleiben. Im Mebrigen kann er fagen:
Mit meinem WBorte Hab’ ich nie gefpielt:
Das ich gefagt, das Habe ich gefühlt.
Hilchenbach, September 1876.
Dr. Otto Boodſlein.
Die Einrihtung befonderer Fachſchulen ift eine Errungenihaft ber
neueren, faft fann man fagen: der meueften Zeit. Sie hängt ganz eng
zufammen mit ber Erkenntniß, daß eine Theilung ber Arbeit bei der ge-
waltigen Erweiterung des Wiffens und Könnens eine dringende Nothwendig-
feit ſei, und ift nichts weiter als eine Folge diefer Erkenntniß. Zwar
fönnte man die Nhetorenfhulen des Altertbums und die Klerikerihulen des
Mittelalters allenfalls auch Fachſchulen nennen; doch waren fie e8 meift nur
in ganz beſchränktem Sinne Denn wenn erftere vornehmlid von ſolchen
befucht wurden, die zu politifhem Einfluß und Anfehen und zu ftaatlichen
Ehrenftellen zu gelangen wünſchten und daher einer folhen allgemeinen Bil-
dung bedurften, vermöge deren fie befähigt waren, öffentlich als Redner auf:
zutreten; jo gingen letztere vorzugsweiſe darauf aus, den Geift innerhalb
beftimmter Schranken zu entwideln, vor jeder Berührung mit freifinnigen
Ideen zu bewahren und die Fünftigen Geiftlihen an Erelufivität und an
die Abhängigkeit von den firdhlichen Oberen zu gewöhnen. Es waren alfe
unleugbar ganz andere Motive als die einer Theilung der Arbeit und einer
Bertiefung in ein beftimmtes Berufsfah. ALS fi indeß fpäter die Noth—
wendigkeit einer Berüdfichtigung beider Momente ergab, da gab für bie
Seftaltung der Fachſchulen zunähft mehr die Erzielung eines beftimmten
Könnens als die eines auch das Können begründenden Wiffens den Aus-
Ihlag, bis fih nah und nad die Ueberzeugung Bahn brach, daß eines ohne
das andere nur fehr bedingten Wertb habe. Seit dieſer Zeit ftrebt man
darnach, in den Fachſchulen ebenſowohl ein gründliches Wiffen ald auch ein
gebeihlihes Können zu vermitteln und eine der Hauptaufgaben unferer Zeit,
wie ſich dies ja aud faft überall erfeunen läßt an der eifrigen Arbeit auf
biefem Gebiete, ift es, Ziele, Mittel und Wege feftzuftellen für eine erſprieß—
lihe Bereinigung beider Factoren.
Was im Allgemeinen gejagt ift von allen Fachſchulen überhaupt, das
gilt auch im Befonveren von den Lehrerbilpdungsanftalten. Auch fie find
eine Errungenfhaft der Neuzeit; auch fie haben zunächft mehr das Können
als das Wiffen betont; auch betreffs ihrer ift man noch in rüftiger Arbeit
begriffen und, wenn felbft einig über die Ziele, fo doch keineswegs über vie
Mittel und Wege zur Vereinigung beider Factoren. Ein fummarifcher Blid
auf die Gefchichte ihrer Entwidelung fann das darthun. Die erften Lehrer:
bildungsanftalten datiren aus dem vorigen Jahrhundert. Will man Das
seminarium praeceptorum und das seminarium selectum praeceptorum von
Auguft Hermann Franfe und das von Heder mit feiner Realſchule ver-
bundene Seminar ausnehmen, fo fällt die erfte Gründung von Lehrer:
bildungs - Anftalten gar erft in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts.
Und auch da gebt man nur fehr langfam und fehr fporadifh mit ber
5
Errihtung neuer Anftalten vorwärts. Wüßte man aber aud) fonft nichts über
dieſe Anftalten, fo fünnte man doch ſchon aus der Dauer des ganzen Curſus
auf die Art und ben Grad ber vermittelten Bildung Schließen: das Marimum
der Bildungszeit betrug 1 Jahr. Da nun ver Grab der verlangten Bor:
bildung auch fehr befheiden war — ein Würzburger biſchöfliches Decret
som 30. September 1770 verlangt, daß bie aufzunehmenden Perfonen „be—
reits im Leſen und Schreiben, aud in der Mufif einigermaßen erfahren
feien“ vergl. Geſchichte des k. Schullehrer - Seminars zu Würzburg von
IN. Huber, ©. 4 —, fo läft ſich erfennen, daß es im beften alle nur
möglich war, eine auf den praktiſchen Schuldienft berechnete Abrichtung oder,
wenn dies Wort zu hart Flingen follte, Beibringung von Lehrgeſchicklichkeit
zu bewirken. Cine Curſusdauer von nit größerem Umfang hat fi bis
zur Mitte der fechziger Jahre dieſes Jahrhunderts no in einer ganzen Reihe
von beutihen Seminarien erhalten; die hannöverihen Bezirks - Seminare
„ B. behielten bis in die legte Zeit ihre Zöglinge nur ein Jahr lang, und
nch gar nicht fo lange ift es ber, daß für die jogenannten „wilden“ Schul-
amts-Caudidaten, die dann die fogenannten „Commiffionsprüfungen“ ab-
legten, nur halbjährige, bisweilen noch kürzere praftiihe Seminarcurfe ein-
gerichtet waren, in benen mit aller Haft ein bischen praftifches Wiffen und
Können eingeheimft wurde, vermittelft deifen dann weiter aus ber Hanb in
ten Mund gelebt wurde. Die Norh kannte eben fein Gebot. Glüdlicher-
weife waren die zulegt erwähnten Nothſtände in ben legten Jahrzehnten
mehr Ausnahmen als Regeln und die Gründung von Seminarien mit
längerer Curſusdauer oder die Erweiterung der beftehenden Anftalten zu
längerer Dauer wurde allgemein üblih. Gegenwärtig faun man, abgefehen
von geringfügigen Ausnahmen, die zubem meift nicht principieller Natur
find, als Normalzeit für den Aufenthalt im Seminar bezeihnen: drei ober
vier Jahre. Die nur zweijährigen Curſe in den königl. bayrifhen Se—
minarien nämlich werben durch obligatorifche breijährige Präparanden-
curfe im befonveren Anftalten derartig umterftügt, daß die zweicurfigen
bayriihen Seminare im Wefentlihen dieſelben Lehrziele verfolgen lünnen
wie die beiden oberen Curſe in breiclaffigen Seminaren. Befonders trifft
das zu für folde Seminare, die für die Präparandenbildung nur zwei Jahre
verwenden, jo daß auch für ihre Zöglinge die gefammte Bildungszeit nur
fünf Jahre beträgt. Trog diefer, befonders im Vergleich mit den Anfängen,
erheblihen Verlängerung ver Lehrzeit erfcheinen durch die Refultate gar oft
weder die Lehrer jelbft, no die Seminare, noch enplih die Staatsbehörben
und das intereffirte Publikum befriedigt. Wenigftens werden nod immer
vielfahe Klagen laut: bald Magen die Staatsbehörven oder das Publikum
über die Lehrer, bald diefe wieder über die Bildungsanftalten — und biefe
legteren flagen wieder über die ihnen zugemuthete Ueberlaftung. So bewegt
ih die Klage im Kreislauf oder wie eine Schraube ohne Ente Wo figt
denn aber bei den Seminaren das Uebel? — Nun, id) glaube, es figt ſowohl
vorn als hinten. Meift haben nämlih die Seminare in dem erften, oft,
fogar noch in dem beiden erften Jahren noch fo viel elementaren Lernftoff
mitzutheilen, daß fie eine tiefere Begründung und Durchdringung der Fächer
gar nicht erft verſuchen fünnen, vielmehr zufrieden fein müſſen, wenn fie
nur das rein Elementare einigermaßen einprägen. Man tritt alfo in dem
6
erften oder in dem beiden erften Jahren oft weber ſtofflich noch betreffs der
Form in eine Behandlung der einzelnen Fächer, wie folhe dem Seminare
zufüme. Was aber in dem erften oder in ben beiden erften Jahren ver-
ſäumt ift, müßte nun, foweit foldes noch möglid wäre, in ben legten nad):
geholt und eingebracht werben. Meiftentheils wird fi das aber gar nicht
machen laſſen oder, wo e8 gefhähe, wieder nur auf Koften derjenigen
Aufgaben, die fonft den legten Jahren eigenthiümlich und vorbehalten wären,
nämlih der praftiihen und auf das Lehramt unmittelbar bezüglichen.
Können nun derartige (zwar nicht angenehme, aber bei der gegenwärtigen
Lage der Sache faft unvermeibliche) Defecte vorbergefeben werben, fo wird
ihre Dedung gleih in bem Lehrplan und ven Yehrzielen in's Auge gefaßt:
legtere werben möglichft niedrig geftedt, uud die fir die eigentliche Berufs—
bildung anszufegenden Stunden werben foweit rebucirt, als fich ſolches
irgendwie mit Anftand thun läßt. Daher erflärt fid) die auferorventlid be
fhränfte Anzahl von Stunden fir die Pädagogik und ihre Hülfswiffenfhaften
in vielen Seminaren und das BVorhandenfein einer Reihe von Stunden, bie
reinen Lernftoff zu vermitteln haben, nody in der Oberclaffe — Wenn unter
folden Berhältniffen die Seminare felbft von ihren Leiftungen nicht befriedigt
find und nicht befriedigt fein fünnen, wenn fie über Ueberlaftung vorn und
hinten, oben und unten Hagen, jo fann man biefem Mangel an Befrievigung
die Berechtigung nicht abfprechen, und es ift unſchwer zu prophezeihen, daß bieje
Klagen nicht eher aufhören werben, als bis man den Anftalten eine folde
Drganifation giebt, vermöge deren fie im Stande find, fich lediglich ihren
fpeciellen Aufgaben zu widmen. Erweiſt fid) aber eine Neorganifation als
notbwendig, fo vollzieht fich felbe zwedmäßiger von unten auf als von oben
an, zumal bie mangelhaften Zuftände oben jedenfalls mitverfhuldet find
durch die mangelhaften Zuftände unten. Das ift zwar ſchon feit langem
eingefehen worden und fchon feit langem denkt man den bezüglichen Mitteln
nah, verfucht fie auch im Einzelnen, dod haben dieſe Mittel bisher die
allgemeine Zuftimmung nod nicht gefunden, weil feines berjelben allfeitigen
und vollftändigen Erfolg verbürgt. — Dabei foll indeß nidyt beftritten
werben, daß in einzelnen Fällen jede der betretenen Richtungen erfreulice
Erfolge zu verzeichnen hatte So habe ich beifpielsweife manche von ein—
zelnen Lehrern vorbereitete Afpiranten kennen gelernt, vie ſich ſehr zu ihrem
Bortheil vor anderen, die in befonderen Anftalten vorgebilvet waren, aus
zeihneten. Auch fann ich mir fehr wohl denfen, daß es Lehrer geben könnt,
die fo tüchtig im Wiffen und Können find, und zwar in allen in Betracht
kommenden Fächern, daß fie allein ein ganzes Collegium von brei oder
vier Lehrern zu erjegen vermöhten. Ich fann mir ferner fehr wohl denken,
daß fie durch ihre ganze Perfönlichkeit im fittlicher und erziehlicher Beziehung
viel vortheilhafter auf ihre Zöglinge einzumwirken im Stande wären ald ein
Collegium von drei oder vier Lehrern, von denen jeder darnach ftrebte, fich
und nur ſich zur Geltung zu bringen. Auch der ganze Unterrichtsgaug
würde unzweifelhaft ein viel einheitlicher fein fünnen. Kurz und gut, ID
thesi fann ich bergleihen recht wohl zugeben; aber ob einem ſolchen Lehrer,
der ja die Präparanvenbildung nur als Nebenamt betreiben könnte, bei
gewiffenbafter Berwaltung feines Hauptamtes foriel Zeit
und Kraft übrig bliebe, daß er einen bis drei Zöglinge (vrei war } d.
7
in den preußifhen Regulativen als Marimum hingeftellt) in durchaus an-
gemefjener Weije vorzubilvden im Stande wäre, fcheint mir zweifelhafter.
Und felbft zugegeben, daß bei einzelnen Lehrern alle viefe Borausfegungen
zuträfen, ich will nicht einmal hinzufügen: zeitweilig zuträfen, faun es
denn ſolche Mufterlehrer in folder Anzahl geben, daß fie, wie bie Regula—
tive annahmen und anorbneten, bem gejammten Bebürfniffe an Seminar:
Apiranten zu genügen vermöhten? Wo e8 einzelne folder außerordentlich
reih begabter Lehrer giebt, da möge man fie in Gottes Namen weiter im
Dienjte der Seminarvorbildung mitwirken laffen, aber nur fo lange, als vie
oben bezeichneten Borausfegungen und Bedingungen betreffs des Wiffens und
Könnens, der Zeit und Kraft durchaus bei ihnen zuträfen. — Scheint mir
demnach bie Präparandenbildung dur einzelne Lehrer (eventuell auch Geift-
liche) nur in fehr jeltenen Ausnahmefällen ausreichend gefichert, fo kann id)
einer freien Bereinigung mehrerer Lehrer zu gleihem Zwede aud nur
unter beftimmten Borausjegungen Gedeihen und fihern Erfolg zugeftehen.
Die Stärke einer ſolchen Vereinigung, die Freiheit des Zuſammenwirkens
mehrerer von lebhaftem Intereffe für die Sache erfüllte Lehrer, birgt in
vielen Fällen nämlich auch zugleih die Keime und Urſachen ihrer Schwäche.
Die felbftlofe Hingabe an einen Zwed, der vor allen Dingen ein durchaus
einheitliches Verfahren aller Mitwirkenden verlangt, bie freiwillige Unter-
ordnung unter einen Collegen, der mit allen Befugniffen eines Dirigenten
auszuftatten wäre, endlich aud die Uebernahme ver Berpflihtung zur Mit-
wirfung auf längere Zeit, — alles das find Opfer, zu benen gerabe tüch—
tige, aber auch felbftbewußte Männer, die am liebften ihren individuellen
Eingebungen folgen, nur ſehr ſchwer fi) werben verftehen wollen. Und doch
it von dieſen Forderungen durchaus nicht abzufehen, weil fonft der Keim
des Zerfalld von vornherein in der Bereinigung läge. Rechne ich hierzu
noch die Forderung erheblihen Aufwandes an Zeit und Kraft und die
Forderung tüchtigen Wiffens und Könnens in den von jedem Einzelnen
vertretenen Fächern — und das alles bei jpärlihem Yohn für verantwort-
lihe Arbeit — fo ſcheint e8 mir nicht zu verwundern, daß nur wenige
jelher freien Vereinigungen fi aufthaten. Noch weniger wunderbar aber
Iheint e8 mir, daß die meiften ſich bald wieder ſchloſſen, nachdem fie faum
ein oder zwei Jahre hindurch ihr Dafein gefriftet hatten. Im folder Zahl
aber, daß fie bei den Behörden in Betracht kamen, haben die oben gefenn-
zeichneten Anftalten nie beftanden, da fie, abgefehen von den geſchilderten
inneren Schwierigkeiten und Eriftenzbedingungen, auch noch von Äußeren
Zufälligkeiten mannigfaher Art abhingen. Sie waren faft nur möglih an
Orten, in denen eine größere Anzahl von Lehrern, die die erforderliche Aus-
wahl geftatteten, vorhanden waren; fte festen auch benahbarte Refrutirungs-
bezirfe und folde örtlichen Verhältniffe voraus, daß eine bequeme und nicht
zu foftipielige Unterbringung auswärtiger Zöglinge möglid war. Ein Zus
jammentreffen aller viefer Umftände, das Erfennen dieſes Zufammentreffens
und die Bereitwilligfeit der geeigneten Lehrkräfte mag — ich fchließe das
lediglich aus der Seltenheit folder Anftalten — der Verwirflihung der an
und für ſich Iebensfähigen Idee vielfah im Wege geſtanden haben; wo
aber alles fi) gefunden hätte, fehlte es oft am der Initiative zur gehörigen
Zeit, oft wohl aud an ber nöthigen Förderung der Idee durch die höheren
8
Inftanzgen. Daß aber an manden Orten nidt blos ber Gedanke jelbft
auftrat, fondern daß auch bezügliche Verſuche gemacht wurden, die nicht fehl-
ſchlugen, fondern Erfolg hatten, fann ich aus eigner Erfahrung bezeugen.
Wenn die Berſuche fich nicht immer fortfegen ließen oder fortgefegt wurben,
fo lag die Schuld an dem Aufhören ber einen oder anderen Griftenz-
bebingung.
Diefe beiden Arten von Seminar Vorbilpdungs-Anftalten berubten auf
freiwilliger, jeves äußeren Zwanges und jeber äußeren Anregung ent»
behrenten Thätigkeit einzelner oder mehrerer zu gemeinfamem Thun ver—
einigter Lehrkräfte. Zu ihmen trat als dritte Art die Errichtung bejonderer
Anftalten mit eigens dazu beftellten Lehrern. Diefe Anftalten, Präparandien,
Proſeminare, Lehrervorbildungs - Anftalten oder fonftwie genannt, hatten vor
den zuerft erwähnten zunächft dem Vortheil, daß ihre Lehrer ihnen nicht
blos im Nebenamte, ſondern im Hauptamte dienten; daß ferner ihre
Drganifation nicht anf freiwilligen, jederzeit zurüdziehbaren Leiftungen be—
ruhte, fondern auf dauernden, hinfichtlich ihrer Befoldung, ihrer Befugniffe
uud Pflichten gehörig georbneten, auch die äußere Tage fihernden Verhält-
niffen; daß endlich durch mehr oder minder feſten Anſchluß an beftimmte
Seminare Ziele, Mittel und Wege fih genauer feftftellen und die gewünſchten
Erfolge beffer verbürgen ließen. Freilich ftehen mit diefen Vortheilen and
gewiffe Nachtheile in Verbindung: die Zahl der Lehrer ift nothwendig eine
beſchränktere; der einzelne bedarf einer größeren Vielfeitigfeit; die Aus—
ſcheidung umngeeigneter Kräfte iſt viel fchwieriger zu bewerfftelligen ; bie
Stellung des Lehrers zur Sahe gründet fi mehr auf amtliche Pflicht als
anf lebendiges perfönliches Intereſſe; der individuellen Auffaffiung des
Einzelnen find engere Schranfen gefegt; die gefammte Borbildung geftaltet
fih Leicht zu fehr zu einer Bildung ad hoc; bie allgemeine Bildung bes
Lehrers, die fhon um feiner geſellſchaftlichen Stellung willen ver des höheren
Bürgerftandes gleichftehen müßte, erfcheint durch dieſe Anftalten gefährdet,
— und was folder Bedenken noch mehr find. Indeß alle die genannten
Schattenfeiten laffen fi umgehen oder wenigftens ſchwächen, fobald fie als
wirflih vorhanden erfannt find. Zunächſt ſcheinen die Lichtfeiten zu über-
wiegen und die Errichtung eigener Anftalten fir die Vorbildung (ſoweit
ſolche nicht, wie 3. B. in dem Königreih Sachen, mit den Seminaren felbft
verbunden find) ift von den meiften deutfchen oder deutſch redenden Staaten
in Angriff genommen. Weil fie fomit volftändig der Gegenwart angehören,
fo müſſen wir fpäter nod einmal mit ihnen rechnen; für diefe, zunächſt
biftorifch gehaltene Ueberfiht, genügt ihre Erwähnung an gehöriger Stelle,
Was ich aber fhon bier zu erwähnen hätte, wäre die große Verſchiedenheit
ber bezüglihen Einrichtungen. Diefe Verſchiedenheit ift nicht geringer als
die von Fehr in feinem befannten Bericht (Siebenter Jahresbericht über
das Tehrer-Seminar zu Gotha. Schuljahr 1871/72. Gotha, E. F. Thiene-
mann) gezeichnete der deutſchen Schullehrer-Seminarien. Weder Lehrpläne,
Lehrziele und Methoden, neh die Disciplin und die inneren wie äußeren
Einrihtungen ſtimmen überein; gleiches gilt von den Aufnahme-Beringungen,
Curſusdauern, gewünfhten Refultaten und anderem mehr. Ueberaus ver-
ſchieden ift auch bei diefen Anftalten der Koftenpunft: während einzelne
Anftalten Tediglih auf fih angemwiefen find und feitens des Staates feine
9
oder nur geringfügige Subvention erhalten, beziehen andere Anftalten Sub—
ventionen bis zu 12,000 Mark und darüber. Demgemäß find aud bie
Leiſtungen der Zöglinge betrefjs des Unterrichtsgelves Aufßerft mannigfaltig:
einige Anftalten verlangen keinerlei Unterrichtsgeld und gewähren ihren
Zöglingen durhichnittlih 90 bis 120 Mark Unterftägung, andere Anftalten
innen nur in Ausnahmefällen freien Unterricht und Unterftüsungen gewähren
und erheben von der Mehrzahl bis zu 90 Markt Schulgeld. Erfcheinen
diefe zuletzt erwähnten Differenzen aud für ven erſten Blick als unwefentlid,
als Adiaphora, fo find fie doch bei genauer Betrachtung nicht ohne Bedeu—
tung: Sie kennzeichnen nämlid oft das Nefrutirungsgebiet ber künftigen
Lehrer, die Stände, aus denen biefe hervorgehen und — das Angebot und
die Nachfrage in den einzelnen Bezirken. Wer nun barauf Werth legt,
daß bie Lehrer nicht vorwiegend aus ben unteren, ganz mittellofen und
deshalb abhängigen Ständen hervorgehen ; daß fie bei Wahl ihres Berufes
mehr einem freien, inneren, auch zu Opfern bereiten Triebe folgen, als daß
fie im Berufe nur den Broterwerb fehen, jederzeit bereit, venfelben mit
einem beſſer lohnenden zu vertaufhen; ber wirb biefe Umftände nicht außer
Acht laſſen Dürfen, weil von dem Meberwiegen bes einen ober anderen
Elementes vie Zukunft der Schule abhängt.
Die erwähnten drei Arten der VBorbildungs-Anftalten für das Seminar
haben mit einander gemein die ansgefprohene Beziehung auf
tas Seminar, und ed fann baher bei ihnen faum fehlen, daß fie bei
ihrer Anlage mehr das Beftehen der Aufnahmeprüfung in die Fachfchule
ald die Bermittelung einer wirkli abgerundeten allgemeinen Bildung ins
Auge faſſen, ſoviel folhes auch von einzelnen Leitern und Lehrern behauptet
werden mag. Die ſolchergeſtalt gebotene Erweiterung oder Beſchränkung
der Unterrichtögebiete fann nicht ohne Folgen - fein. Die Aufnahme einer
größeren Anzahl von Mufifftunden — (und für Violine-, Clavier-, unter
Umftänden auch für Drgel=- Unterricht zufanmengenommen dürften doch pro
Kopf und Woche 30 Minuten oder eine halbe Stunde nicht zuviel angefegt
jein, da diefer Unterricht fi doch immer mehr oder weniger wird individuell
geftalten müſſen und nicht als reiner Claffen- oder Abtheilungsunterricht) —
wird die Zahl der Unterrichtöftunden für andere Fächer nothwendigerweiſe
beihränfen. Nicht anders wird dies fein mit dem Religionsunterricht, der
wegen der Forderung einer tüchtigen Portion von Memorirftoff und einer
ziemlich umfafjenden Bekanntſchaft mit Bibel, Katechismus und Gefangbud)
minteftend 4, unter Umftänvden gar 6 Stunden erfordern wird, während
die mittleren und oberen Stufen anderer Anftalten fih mit 2 wöchentlichen
Stunden begnügen können. Häufig fällt deshalb der nicht in unmittelbarer
Beziehung zum Seminar ftehende fremdſprachliche Unterricht ganz weg ober
muß fih mit einem folhen Brudtbeil von Stunden begnügen, daß das
erzielte Rejultat nah keiner Seite hin andy nur annähernd befriebigt. Wo
man aber ohne Rückſicht anf die Faſſungskraft einzelner Schitler feinem
Fach etwas abbricht, dagegen die oben beichriebenen unabweislichen For—
derungen berüdfichtigt, da macht man häufig die Rechnung ohne den Wirth:
das allzugroße Bielerlei der Fächer und die allzugroße Anzahl von Stunden
bindert Die volftändige und fihere Aneignung des gefammten Bildungs-
ſtefſes, macht das Zurechtfinden in demſelben fat unmöglih, ftumpft dem
10
Geiſt ab, indem auf die vorgängige allzugroße Anſpannung nicht blos zeit—
weilige Abjpannung und Erſchlaffung, ſondern oft dauernde Unfähigkeit zur
Sammlung und Berhätigung der geiftigen Kräfte folgt. Die Vielſeitigkeit
des Bildungsftoffes nennt ein tüchtiger Pädagoge geradezu ben ficherften
Meg, das Auffommen genialer Naturen zu vereiteln,
Aus diefen und ähnlichen Gründen haben ſich Pädagogen und
Behörden bejtimmen Iafien, von befonderen Borbildungs = Anftalten für das
Seminar ganz abzufehen und die Seminarbildung auf einer Vorbildung
aufzubauen, welde durch Abjolvirung beftinnmter Curſe höherer Schulen
erworben iſt. Daß bezüglid der geftellten Forderungen aud bier eine recht
bunte Mannigfaltigfeit herrſche, kann faum befremden, da die gemachten
Vorſchläge bisher mehr auf Gefühls- als auf Vernunftgründen berubten
und ſicherlich feinerlei unmittelbare Erfahrung für fi hatten. So blieh
denn der Phantafie ein ziemlich weiter Spielraum, und innerhalb vieles
Spielraums gab es viele Stationen, die ſämmtlich zu Ausgangspunften
gemacht werden konnten und wirflih gemadht wurden. Wollen wir inner
balb dieſer verfhiedenen Meinungen eine Scheidung vornehmen, fo ergiebt
ſich ſolche zunächſt aus dem Charakter der zu Grunde zu legenden Schule,
ob Gymnaſium oder Realſchule. Für erfteres traten nur wenige ein, weil
bie durch daſſelbe vermittelte Bildung, vermöge bes Uebergewichtes der alten
Spraden, der Volfsfhulbildung minder homogen erfchien als die Realſchule
mit ihren moderneren LUnterrichtsftoffen. Deunoch fehlte es nicht ganz an
Stimmen, und wenn es aud meines Wiffens Niemandem beifam, das
Oymnafialabiturienten » Eramen zu verlangen, fo wurben doch gerade bie
oberen Claffen in Betracht gezogen. Dem entjprehend verlangten mande
für das Seminar viefelbe Neife wie für ven einjährigen Dienft (Ober-
fecunda); mande dagegen waren fhon mit ber abfolvirten Tertia oder ber
Neife für die Unter- Secunda zufrieden (Gotha). $ 15 der Verordnung
bes öfterreihifhen Gultusminifters vom 12. Juli 1869, betr. Bildungs:
anftalten für Lehrer und Lehrerinnen, refervirt denjenigen „Aufuchnsbewerbern,
weldhe mehrere Oberclaffen einer Mittelfhule (Gymnaſium oder Realſchule)
beſucht haben, auf Antrag des Lehrförpers die Zulaffung gleich in einen
höheren Jahrgang“. Galten diefe Beftimmungen nun meiſt auch gleichzeitig
für die entiprechenden Nealclafien, fo zeigt doch der Umftand, daß fie das
Gymnaſium nicht grundſätzlich ausſchloſſen, daß man glaubte, auch auf
gymunaſialer Grundlage weiterbauen zu können. Bei ven unmittelbaren
Fahmännern fanden indeß dieſe Vorfhläge nur fehr fühle Aufnahme. Die
Gründe find fhon angedeutet und laſſen fid) etwa dahin zufammenfallen,
dag man bie gewonnene Bildung weder für abgerundet noch für gebiegen
genug zu halten vermochte, da fie eines regelmäßigen Abjchluffes entbehrte
und auf Fundamenten aufgebaut war, bie fpäter unbenützt bleiben mußten.
Wenn, was allerdings nicht geleugnet werden foll, einzelne aus dem Gym—
nafium bervorgegangene Seminariften ſich ſchließlich doch noch gut entwidelten
und bewährten, fo lag der Grund jevenfalls weniger an ihrem früheren
Beſuche des Gymnaſiums als in ihrer natürlichen Begabung und geiftigen Reg”
ſamleit. Beite mochten in der burd das Gymnaſium vermittelten formalen
Schulung pafjende Anregung empfangen haben, und dieſe kam ihnen fpäter gut zu
Statten. Solche Beijpiele geftatten aber höchſtens die Folgerung, daß auch das
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Gymnafium eine Reihe von Bildungselementen mittheilt, die zu Gunften ver
Lehrerbildung gut zu verwerthen wären. Aber was von einzelnen Bildungs-
elementen gilt, das braucht noch nicht für alle zu gelten; überbies könnte ja bie
erwähnte „Formale“ Schulung vielleicht auch mit Hülfe anderer Unterrichteftoffe
bewerkftelligt werben. Endlich kann auch durch Urtbeile bewährter Seminar:
lehrer (ich verweife nur auf eine Aeußerung des Geheimen Rathes Dr. Karl
Schneider in Berlin in der zweiten Sigung der Seminarfection der Ham-
burger Lehrerverfammlung im Mai 1872) feftgeftellt werben, baß die Mehr:
zabl der bisher aus Gymnafien in Seminare übergehenden Zöglinge legteren
wenig willkommen waren, da e8 erfahrungsgemäß faft nur foldhe waren, bie
in den Gymnaſien nichts geleiftet hatten und deshalb auf eine Verfolgung
der Gymnafiallaufbahn verzichten mußten. Ließe ſich alfo jelbft theoretifch
nichts gegen den unvollftändigen Gymnaſialbeſuch anführen, fo wöge doch
der Hinweis auf die gemachten Erfahrungen, die ich perſönlich beſtätigen
fönnte, ſchwer genug, um die Mitbringung einer gymnaſialen Torſobildung
ins Seminar als zweifelhaften Gewinn erfcheinen zu laffen. Beſſer wird
fih aber die Sache kaum fielen hinfichtlich derer, die aus der Realſchule,
ohne fie vollftändig abfolvirt zu haben, ins Geminar übergingen. Das
geringe Plus von Kenntniffen in den Realien und neueren Sprachen dürfte
kaum ven Ausſchlag geben, da es ja aud nicht abgerundet ift und nicht
minder als Torſobildung zu bezeichnen wäre als die halbe oder zweibrittel
Öymnafialbildung. Lettere hätte vor jener vielleicht fogar die Fähigkeit
des rafcheren Affimilirens logifher und pſychologiſcher Bildungselemente
voraus. Kurz und gut, diefe beiden Bildungsgänge möchten ſich hinſichtlich
ihres Werthes als BVBorbildungen für das Seminar die Wage balten, vd. h.
feine von beiden gewährte genügende Sicherheit ald Grundlage für ben
Weiterbau.
Wie aber ſtände es mit der Abſolvirung der Realſchule?
Vorgeſchlagen wird dieſelbe in drei Schriften, welche ſich mit der Reform
der Lehrerbildung beſchäftigen und von Männern herrühren, die als päda—
gogiſche Schriftſteller Ruf oder wenigſtens bedeutenden Anhang haben. Karl
Schmidt, der befannte gothaiſche Schulrath und Seminardirector, thut ſolches
auf S. 24 ſeiner Schrift: „Zur Reform der Lehrerſeminare und der Volks—
ſchule“ (Cöthen 1863, bei Schettler); Karl Richter, der Leipziger Schulmann
und Herausgeber der pädagogifhen Bibliothek, auf ©. 135 feiner Schrift:
„Die Reform der Lehrer -Seminare nad) den Forderungen unferer Zeit und
der heutigen Pädagogik“ (Leipzig 1874, bei Branpdftetter), und Ernft Wunderlich,
der Herausgeber einer vielgelefenen Schulzeitung, in feinen polemifhen Ab—
bandlungen : „Die Seminarfrage*, ©. 49—59 (Leipzig 1874, bei Giegis-
mund & Bolkening)., Während aber Karl Schmidt fi wicht weiter über
die Organifation der Realſchule ausfpriht und felbe alfo jo acceptirt, wie
fie ſich bis 1863 entwidelt hatte, fo festen Nichter und Wunderlich eine
tbeilmeife Umgeftaltung der Nealfchule voraus. Richter denkt zunädhft an
eine Realſchule zweiter Ordnung (Wegfall der oberften Claſſe, ©. 131), und
wärbe dieſe noch eine Vereinfachung des Lehrplans, die Beſchränkung ein-
jelner Umterrichtsftoffe, zwedmäßigere Vertheilung des legteren vornehmen,
endlich bie inbuctive, entwidelnde Methode annehmen müflen. Wunpderlid
will ähnliches, befonvers eine ausreichende VBerüdfihtigung des Elementaren
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der Umnterrichtögegenftände, von bem der fpätere Lehrer ſtets auszugehen hat
(S. 58). MUebrigens will er ftatt des Befuhs einer Realſchule auch ven
einer allgemeinen Fortbildungsſchule geftatten. Diefe ſoll aber fehsjährigen
Curſus haben und erft mit dem 18. ober 20. Jahre entlaffen. Seine
Forderungen bezüglih ber inneren Einrichtung der letteren bürften auf
Widerſpruch ftoßen: obligatorifches Latein, facultative Muſik und faculta-
tives Englifh oder Franzöfifh, endlich ein Schulgeld, wie foldes in ver
Realſchule gefordert werbe, und ähnliches müßte außerhalb und innerhalb
der fachverftändigen Kreife doch einigermaßen befremven. Einmal dürfte
das obligatorische Latein beanftandet werben, da fih mit feiner Ein-
führung in die Fortbildungsihule und demgemäß auch ins Geminar
fiherlih Beftrebungen zu feiner Einführung in die Volksſchule einstellen
würben, über deren Zweckmäßigkeit jelbft folche, die den Bildungswerth bes
Lateinifchen ſehr Hoch ftellen, wenig erbaut fein müßten. Sodann haben
facultative Fächer, und zwar im größerer Anzahl, immer nur einen jehr
bedingten Werth. Ich verweife hierbei auf die Erfahrungen, die die Gym—
naften betreffs des Hebräifchen faft immer gemadht haben: die Leiftungen
entfprachen meift entfernt nicht den Opfern an Mühe und Zeit, die gebracht
werben mußten. Aber felbft angenonmen, daß die vis inertiae nicht viele
veranlaßte, ſich von den facultativen Fächern zurüdzuhalten, was wäre mit
denen anzufangen, die beifpielsweife alle brei facultativen Fächer mit be
treiben wollten? Gäbe das nicht eine heillofe Ueberbürdung, die nur im
den feltenften Fällen nit vom Uebel wäre? nur in den jeltenften Fällen
die obligatorifhen Fächer nicht ſchädigte?
Enplid die hohen Echulgelver! Während nämlich; Herr Richter volle und
allgemeine Unentgeltlichfeit des Unterrichts verlangt (©. 335), erjcheint Herrn
Wunderli „keine Borbildpung zu koftfpielig“ (©. 58). Beide ver-
folgen mit diametral entgegengefegten Mitteln denſelben Zwed. Schon dieſer
Umftand könnte gegen beide Auffafiungen mißtrauiſch machen ; indeß kommt ber
foctalpolitifhe Gefihtspunft, auf den beide losfteuern, die leidige Geldfrage,
für uns nicht fo fehr in Betradht. Das Zweckmäßige wirb wohl aud hier
in ber Mitte liegen: alles, was fich zu Gunften der Erlegung eines mäßigen
Unterrichtsgeldes anführen läßt, dürfte auch für jede Art von höherer Schule,
zu beren Beſuch feinerlei Zwang verpflichtet, gelten; weshalb alfo nicht auch
bier? Auf gelegentlihen Erlaß vefielben, ſowie auf Unterftügungen anderer
Art brauchte ja damit noch Feineswegs verzichtet zu werden ; ſolche Benefizien
hätten für arme, aber würdige Schüler boppelten Werth. Doc laſſen
wir an biefer Stelle die mehr untergeorbnete Finanzfrage und ftellen wir
vielmehr nur das Wefentlihe und Gemeinfame der zulegt erwähnten beiden
Reformvorſchläge feft, fo ergiebt fi zunähft die Forderung des Be—
juh8 einer Höheren Schule (Real- oder Fortbildungsſchule), ſodann
die der vollftändigen Abfolvirung der Anſtalt, endlich aber bie
Forderung einer theilweifen Umgeftaltung diefer Anftalten.
Könnten wir aber vielleicht Forderung 1 und 2, wenigſtens in ihrer
Allgemeinheit, acceptiren, jo müffen wir doch Forderung 3, als zunädft
nidht vor unfer Forum gehörig, abweifen. Denn wenn ich auch wicht zu
denen gehöre, die betreffs der Realſchulen das „sunt ut sint“ fefthielten und
jedes Reorganifationsbebürfniß beftritten, jo glaube ich doch, daß die Schwächen
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unjerer Realjhulen in anderen Urfahen liegen als in folden, um beren
willen ihnen die Seminarvorbildung nur unter den oben angebenteten
Richter'ſchen und Wunderlich'ſchen Borausfegungen und Bedingungen anver-
traut werben dürfte Beide Herren verfennen die Natur biefer Anftalten,
bie zudem in fo mannigfaltigen Geftaltungen, oft in fo ftarf verjüngtem
Maßſtabe auftreten, daß es ſchwer hält, bei ihnen nur einigermaßen gleich-
artige Yeiftungen vorauszufegen. Aber felbft wenn dem nicht jo wäre, wenn
es nur eime Art von Realſchulen gäbe — und nicht ſolche erfter, zweiter,
bis gar Feiner Ordnung, höhere Bürgerfhulen und wie fie fih fonft nennen
mögen — find denn die Realſchulen, vie viefen Namen ftaatlih zuerkannt
befamen, nicht ihrer ganzen Anlage nad vor allen Dingen Borbereitungs-
ihulen für die fünftigen Angehörigen ver höheren gewerblidhen Stände,
wie die Gymnaſien ſolche für die gelehrten Stände? Stehen fie nicht in der
That, wie die Gymnaſien, außer aller Verbindung mit der Volksſchule?
Hieße es nicht im der That fie ihrer urjprüngliden Beftimmung ent=
fremden, wollte man fie zu einer größeren Beihränfung ihrer Unterridhts-
ftoffe, zu einer bejonderen Berüdfihtigung des Elementaren, von dem ber
ſpätere Volksſchullehrer ſtets auszugehen hat, zu einer Bereinfahung des
ganzen Lehrplans, kurz und gut zu einer Berallgemeinerung und Herab—
vrüdung ihres Lehrziels veranlaffen? Und, um aud einer anderen Seite
der Betrachtung gerecht zu werben, was hälfe es den Seminarien, wenn fie
Zöglinge befämen, die ihrem ganzen Bildungsgange nad der Volksſchule
völlig fremd wären? Würden die alfo vorgebilveten fi aud im Bereiche
der Volksſchule acclimatifiren können, fih in ihm wohl fühlen? Wenn bie
Gymnaſien verlangen dürfen, daß ihre Lehrer das Gymnaſium vollftändig
abfolvirt haben; wenn ferner die Real- und höheren Bürgerfhulen es für
unerläßlih halten (ih verweife in Bezug hierauf auf das Bud von
Sheibert: „Ueber das Weſen ver höheren Bürgerfchule”, vergl. bie
Programmabhandlung von H. Kern, dem verbienten früheren Director einer
Berliner Gewerbeſchule Realſchule ohne Latein]: „Zur Realſchulfrage“ [S.12ff.];
ferner auf den diesjährigen [26.] Iahresberiht der Realſchule in Reichen:
ah im Boigtlande, S. S—20), daß die Fünftigen wiffenfhaftlihen Lehrer
der Realſchule fih ihre Vorbildung auf diefen Anftalten gewinnen; wie
bürften die künftigen Lehrer an Volksſchulen darauf verzichten, in Anftalten
ausgebildet zu werden, die mit der Volksſchule in organifhen Zufanımen-
bange ftehen und fih aus venfelben entwidelt haben? — Zu diefen Argu-
menten kommt noch eim nicht minder wichtiges, welches Kehr in einem
Bertrage tiber denfelben Gegenftand zum Ausdruck bradte: „wir würben
wohl ein Seminar, aber feine Seminariften haben, weil ihre Borbildung zu
toftipielig wäre”. Diefe Koftfpieligteit hängt mit ber relativen Geltenheit
der Anftalten, mit der langen Curfusdauer, mit ihrem Vorkommen nur in
größeren Städten und ähnlichem zufammen; fie wird beritdfidhtigt werden
mäflen trog der Einwürfe von Wunderlich ; denn um eines Principes willen,
welhes nicht entfernten Anſpruch auf allgemeine Gültigkeit und Anerkennung
bat, die Lehrerbildungsanftalten lieber veröden zu laſſen, ſcheint mir doch
eine bevenfliche Weisheit. Der VBolfsbildung wäre damit wenig gedient, und
den Lehrern, wie ich glaube, aud nicht viel, da ein auf biefem Umwege
Tünftlich erzeugter Lehrermangel allen Theilen ungefähr den gleihen Segen
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bräcdte, wie ein glüdlih durchgeführter Arbeiterftrife, vd. 5. Einbuße an
volfswirthichaftlihem, vor allem aber an fittlihem Capital. — Ziehen
wir die Summe aus biefem Abjchnitte, jo werden wir aud die abjolvirte
Realjchule nicht als die allgemein geeignete Borbildungs -Anftalt für das
Seminar gelten laffen dürfen, wenigftens nicht in fomweit als vie ſoeben
geltend gemachten Bedenken zutreffen. Daß trogdem auch einzelne Real—
ſchul-Abiturienten fi) in Seminaren und im Schulamte ſchließlich recht gut
bewähren fünnen und vielleicht auch jchon bewährt haben, ift ja bamit gar
nicht ausgeichloffen.
Um nun aber nicht bei ven bisherigen, mehr oder weniger negativen
Refultaten ftehen zu bleiben, füme es darauf an, vor dem Formuliren
pofitiver Vorjchläge für die Seminar-BVorbildung die Grenzen zu beftimmen,
innerhalb veren dieſelbe fich zu bewegen hätte. Zu dieſem Zwede wären
einerfeit8 die Aufgaben des Seminars, ambererjeitd die Aufgaben und
Leiftungen der Volksſchule zu erörtern. Bezeichneten erftere den Zielpunfkt,
fo legtere den Ausgangspunkt, und zwar find beide als etwas Praktiſch-Ge—
gebenes, nicht erft als zu Konftruirendes anzufehen. Bei folder Betrachtung
ift aber als Mafftab anzulegen nicht das unter allerlei ungünftigen Ver—
bältniffen wirklich Erreichte, jondern das bei normaler Entwidelung Er—
reihbare, weil man, lebiglic auf erfteres fich beichränfend, auf eine Erhöhung
der Yeiftungsfähigkeit von vornherein verzichtete. Das darf aber unter allen
Umftänden nicht der Fall jein; vielmehr wird bei dem innigen Zufammen-
bange zwifchen Seminar und Volksſchule die Hebung des einen auch die Des
anderen, der Stillftand oder Rüdgang des einen den Rüdgang des anderen
zur Folge haben müfjen. Welchen Zwed hätte aber die Steigerung der
Leiftungsfähigfeit des Seminars, wenn man nicht dadurch im letter Linie
die Volksſchul- und die allgemeine Volksbildung zu heben trachtete? Anderer-
feits bliebe aber auch der Verſuch, die Ziele des Seminars in die Höhe zu
ſchrauben, ohne Erfolg, wenn man nicht zugleid die Volksſchule, aus welcher
hauptſächlich und factifh das Seminar ſich refrutirt, zu ſtets gediegeneren
Leiftungen befähigte. So treibt und jpornt naturgemäß das eine das andere;
beide bleiben aber ſtets von einander abhängig. — Aber nicht blos bie
Aufgaben beider wären zu erörtern, jondern, und zwar in viel eingehenderer
Weiſe, die Mittel zur Löſung der Aufgaben. — Denn bezüglidh der lesteren
ift viel eher ein Diffenfus möglich als bezüglicd ver erfteren, die man mit
furzen Worten beftinnmen könnte und die in Schulgefegen und Abhandlungen
oft genug ziemlich übereinftimmend beftimmt worden find, fo daß bie etwaigen
Unterfchiede mehr die Norm, die größere oder geringere Ausführlichfeit oder
Präcifion als den Inhalt der Definition betrafen. Faſſen wir die Seminare
als Lehrer = Bildungsanftalten, jo ergiebt ſich zunächſt die Frage: wie muß
der Lehrer beichaffen jein? Die Antwort darauf müßte die drei Gefichts-
punkte des Willens, Könnens und Wollens beritdfichtigen und fünnte etwa
lauten: 1) der Lehrer muß foviel wijfen, daß er die Perſonen, die er zu
erziehen hat, nad) ihrem Entwidelungsgange, und die Dinge, die er zu lehren
hat, in ihrem organifhen Zufammenhange begreift; 2) der Lehrer muß den
rechten Unterrichtsftoff auszuwählen und in angemefjener Form, zur rechten
Zeit und am rechten Orte zu übermitteln im Stande fein; 3) der Lehrer
muß den feften Willen haben, fein ganzes Wiffen und Können, feine
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innere und äußere Erfahrung im Dienfte der Liebe an der Jugend zu ver-
wenden. Es beftände alfo die Aufgabe des Seminars darin, daß es die ihm
anvertrauten Zöglinge dahin brächte, diefen Forderungen nicht nur entiprechen
zu fönnen, fondern auch entfpredhen zu wollen. Daß das Seminar hierzu
der Mitwirkung der Zöglinge felbft bedarf, brauche ich als felbftverftändlich
niht erjt beſonders zu erwähnen. Diefe Mitwirkung jedoch vorausgefeßt,
bat e8 in feinen Maßnahmen nichts zu unterlaffen, was die Erreihung des
Zwedes fürdern könnte Daß es bisher fchon in biefer Richtung eifrig
beftrebt gemwefen ift, darf nicht geleugnet werben ; jelbft eifrige Gegner unferer
Seminarorganifation haben zugeftehen müſſen, daß die Seminarien unter
allen höheren Schulen wohl das größte Stüd Arbeit in fürzefter Zeit fertig
brächten. Trotzdem eriheint dies große Stüd Arbeit noch nicht groß genug.
Es bliebe aljo nur übrig, entweber die Arbeit im Seminar noch inten=
ſiver zu geftalten, oder aber die Zeit für die Arbeit zu verlängern.
Eine Steigerung der Imtenfität der Arbeit dürfte ſich ſchon mit Riüdficht
auf die Förperliche Entwidelung der künftigen Lehrer verbieten. Wer Ge-
fegenheit hatte, die durchweg gewaltige körperliche Abſpannung unferer
Sceminar- Abiturienten, und zwar gerade der tüchtigen, begabten und allfeitig
frebfamen, zu beobachten, der wird nicht umhin können, einen Theil der
Schuld an der ungünftigen Mortalitäts- Statiftif des Lehrerftandes vielleicht
der förperlichen Ueberanftrengung im Seminar zuzufchreiben. Wären wie für
den Eintritt ins Seminar, fo auch für den Eintritt ins Schulamt, alfo un-
mittelbar nad) dem Austritt aus dem Seminar, genaue ärztliche Unterſuchungen
vorgefchrieben, jo würde, wie ich zu glauben mandhen Grund babe, mander
der jungen Schulamts-Candidaten nicht blos als zeitlich, fondern als dauernd
unbrauchbar ausgemuftert werben müſſen. Iſt es denn Zufall, daß nur
etwa der fünfte oder ſechſte Theil der aus den Seminaren entlafjenen Zög—
linge für militärbienftfähig erachtet werben fann? Dabei kann man ben
Militär - Erfagbehörvden durchaus nicht nachſagen, als verfahren fie zu
wählerifh. Manche Werzte glauben geradewegs mit dem Verordnen ber
ſechswöchentlichen Dienftzeit den jungen Lehrern eine Wohltbat zu erweifen
und find nicht fparfam mit der Brauchbarkeits-Erflärung. Ich für meinen
Theil bin auch weit entfernt davon, die Wohlthätigfeit diefer Mafregel in
Abrede zu ftellen; aber ich führe die Thatjahe an, weil fie betreffs der
gegenwärtigen Seminar - Organifation manderlei zu denken giebt. — Doch
nicht blos Rückſichten auf die Gefundheitsverhältniffe der Seminarzöglinge
dürften von einer Steigerung der Intenfität der Arbeit im Seminar ab»
rathen ; auch Beobachtungen betreffs des Willens und Könnens, zum Theil
auch des Wollens der Zöglinge möchten ein Gleiches thun. Ganz gleich—
mäßig gute Leiftungen in allen den vielen Fächern gehören zu ben Gelten-
beiten. Den erforderlihen Beweis vermöchten die Cenſurbücher, die Ab—
gangszeugniffe zu liefern. Und felbft diefe tragen fehr oft mehr dem gezeigten
guten Willen als den wirklichen Leiftungen Rehnung: man will dem armen
Teufel, der ſtets viel guten Willen gehabt, fleifig und gehorfam gewefen ift,
nicht das Zeugniß verderben und giebt deshalb jehr häufig höhere Leiftungs-
präbicate als man bürfte, nur damit die gefammten Leiftungen im Einflang
ftehen. Gleichwohl fehen die meiften Zeugniffe immer nod bunt genug aus.
Daß dies aber mindeftens in der Hälfte aller Fälle nicht zufammenhängt
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mit mangelnder oder nicht für alle Fächer gleihmäßiger Beanlagung, läßt
fih erkennen aus der immer fi mindernden Berheiligung an den nidı
obligatorifchen Fächern. Bon 11 refp. 13 Zöglingen deſſelben Aufnahme-
Jahrgangs betheiligten fih jchlieglih nur je 5 bis zum Schluß ihrer
Seminarlaufbahn am franzöfifhen Unterrichte; dabei war aber die Zulaffung
zu biefem facultativen Fade von vornherein abhängig gemacht worden von
dem Nachmweife beftinmter Kenntniſſe. Wo blieb die anfängliche Begeifterung,
die die Aufnahme einer fremden Spradhe in den Seminarunterridht bervor-
gerufen hatte? Sie wurde bald genug abgekühlt durch die Erkenntniß, daß
das blos angenehme oder nügliche ver dem notbwendigen zurüdftehen müſſe.
Gerade die tüchtigften jener, einen Dispens vom Franzöfifhen nachſuchenden
Seminariften erklärten mir: fie hätten das Gefühl einer Zerjplitterung
ihrer Kräfte und das Bedürfniß einer größeren Concentration und Be«
ſchränkung. — Innerhalb ver facultativen Theile des Muſikunterrichts
machen fih ähnliche Erſcheinungen geltend. — Reicht dem gegenüber bie
Erklärung aus, daß man dann die betreffenden Fächer ausfheiden mülle?
Im Interefie und auf Grund energifher Forderungen der Lehrerwelt find
fie in den Seminarunterriht aufgenommen worden, und nun follte man fie
ohne langes Befinnen raſch wieder über Bord werfen? Man thäte damit
den Seminaren und ben Lehrern und ben anderen dabei intereffirten Kreijen
nicht den geringften Gefallen.
Ein weiterer Uebelftand ift die für eine ganze Anzahl von Fächern
geradezu völlig unzureichende Anzahl von Stunden. Bor allem gehört bier-
ber, wenn ich an die preußifhen und vie nad) preußiſchem Mufter eingerid)-
teten Seminare denke, die Pädagogik. Diefe weifen für Pädagogik im
Ganzen 6 Stunden, für jede der drei Claſſen 2 Stunden wöhentlih auf;
nur im der Oberelaſſe dient noch eine dritte Stunde zur Beiprehung ber
Wahrnehmungen, die in der Seminarfchule gelegentlich der Lehrübungen
der Lehrfeminariften von den Uebungslehrern gemacht wurden. Die große
Maſſe des durchzunehmenden Stoffs ergiebt fih aus den Wufgaben und
Zielen, wie fie in $ 18 des betreffenden Abfchnitts der „Allgemeinen Be:
ftimmungen vom 15. October 1872“ feftgeftellt find. „Claſſe III: Das
Wefentlihfte aus der Geſchichte der Erziehung und des Unterrichts, und
Einführung in die Hauptwerfe der pädagogiſchen Literatur mit obligater
Lectüre derfelben.“ Die Lectüre „wird derart behandelt, daß die Seminariften
den Inhalt eines längeren Schriftſtückes ſelbſtändig und verftändig auffaflen
lernen“. „Claſſe I: Allgemeine Erziehungs- und Unterrichtslehre unter
Hinzunahme des Nothwendigen aus der Logik und Pſychologie.“ „Claſſe I:
Die fpecielle Unterrichtsichre (Methovit), Das Schulamt. Die Schul
verwaltung. Der erweiterte Amtsfreis und die Wortbildung bes Lehrers.
Defanntmahen mit den im Bezirke geltenden allgemeinen Beftimmungen
über den Volksſchulunterricht.“ Ohne bier Bedenken erheben zu wollen gegen
die Anordnung des Stoffs, die ja mannigfah von der anderwärts üblichen
Anordnung abweicht, will ich doch nicht verfhweigen, daß zu einer felbft-
ftändigen und verftändigen Auffaffung des gefammten Stoff durch bie
Schüler, zu einer einigermaßen eingehenden, überall auf concreten Beifpielen
fußenden Entwidelung des Stoffs durd den Lehrer die verwendbare Zeit
durchweg als viel zu knapp bemeffen erfcheint. Diefe Meinung tbeile id
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mit recht vielen preußiſchen Collegen. Unfere Meinung wird aber auch
beitätigt dur außerpreußiſchen Gebrauch. Die königlih fühfifhe Lehr-
ordnung fegt für Päragogif in Claſſe II 4, in Claſſe IT und I je 5, im
Ganzen alfo 14 Stunden an; durch den Lehrplan des Hamburgifchen
Lehrerfeminars wurden 5 und 4, zufammen 9 Stunden; durch den öfter-
reihifchen Lehrplan für Lehrerbildungsanftalten wenigftens 7 Stunden theore-
tiihen Unterrihts; im Gothaifhen Seminar (vergl. den 7. Jahresbericht,
©. 58 und 59) 12 Stunden dafür beſtimmt. Alle dieſe Lehrpläne find
hervorgegangen aus den Berathungen und Erfahrungen zum Theil ſehr nam—
bafter Praktiker, von denen fehr viele durchaus erhaben find über den Vorwurf
eines gefliffentlihen Breittretens ihres Stoffes. Wenn diefe alle nun erheb-
ih mebr Zeit für den Gegenftand beanspruchen, jollten wir Preußen uns
da mnterfangen, im der Hälfte oder in einem anderen Bruchtheil der Zeit
daffelbe leiften zu wollen? Als ih die Univerfität befuchte, laſen einzelne
Profefforen abwechſend, bald im Sommer-, bald im Winterfemefter, Logik.
Da num erfteres oft mindeftens 1/, kürzer war, als letteres, fg kamen auf
erfteres and; viel weniger Stunden. Die Folge war, daß die Sommer-
Iogit durchweg in der Schätung ſehr viel niedriger ftand als die Logik
vs Winterfemefterd. Sollten wir Preußen uns betreffs unjerer Päpagogif
auch mit einer geringeren Schägung begnügen? Ich wiirde mir aber wenig
aus einer geringeren Schägung machen, wenn ich nur wüßte, daß wir im
unferer knapp bemeflenen Zeit wirflih das Erforderliche, das Nothwendige
leiften könnten. Nach meinen Erfahrungen im Seminar indeß und nad
ven Erfahrungen bei der zweiten Lehrerprüfung muß id) es bezweifeln.
Bohl zeigt bier und da ber Eine oder Andere genügende Kenntniffe und
eine befriedigende Einfiht; das Gros weift nur Fragmente auf: von einer
ücheren Beherrfhung und Wiedergabe in einfacher, aber gewandter und
logiſchdurchdachter Sprache ift meift wenig die Rebe; gelegentlihe Remini-
keenzen aus dem Vortrage des Lehrers, der f. 3. mechaniſch-gedächtnißmäßig
teproducirt wurde, find das Fett, von dem oft gezehrt wirt. Faſt erjchiene es
beſſer, daß von dem hodtönenden Namen für das Fach wieder abgefehen
und zurückgekehrt werde zu dem der bloßen „Schulkunde“. Dort ift ja ein
wiffenfhaftliher Zufammenhang nicht weiter erforderlih, wenn nur bas-
jenige vermittelt wird, was eine unmittelbare Verwendung in der Schul-
praris geftatte. Wer wollte aber einen ſolchen Rüdjchritt winfhen? —
Die Frage wäre nun: wo follten die erforderlihen Mebrftunden ohne ,
Schädigung anderweitiger Intereffen hergenommen, wohin follten fie gelegt
werden? — Leider befinden fih aber aud andere Fächer in gleicher Ver—
dammniß mie die Pädagogik: So reicht z. DB. die eine Stunde Kirchen—
geihichte im legten Schuljahr nicht bin, nicht her; nicht beffer geht es mit
der einen Stunde Bibelkunde, in der auch noch ein gut Theil der Bibel
gelejen und die Methodik des Religionsunterrichts veranfhaulicht, auch An-
leitung für die Fortbildung gegeben werben fol. Und ähnlich geht es im
den andern Fächern; wenigftens erflärt felten einmal ein Lehrer, er ſei in
feinem Fache ausreihend mit Stunden bedacht. Go hilfe fih nun ein
Jeder durch möglicht kräftige Förderung des Privatftudiums, durch Anſetzung
von Ertraftunden in der Freizeit und vergleihen. Die armen Seminariften,
im Gefühl der Unzulänglichkeit ihres Wiſſens, thun nad — mit, bis
Boodſtein, Seminar-Vorbildung.
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diefe Kräfte zu Ende find. Der Erfolg diefer Ueberanftrengung ift aber
häufig genug ein durchaus negativer: mit bem sanum corpus geht aud,
häufig genug die sanitas mentis in bie Brüche.
Aber nicht nur das Willen, aud das Können kann meiſt nicht nad)
Gebühr gefördert werben. Die gegenwärtige Mittelclaffe oder der zweite
Iahrgang hat wöchentlich 36 bis 38 Lernftunden, für deren jede doch mindeftens
1/, Stunde Vorbereitung, Uebung und Wiererholung nothwendig fein bürfte.
Das giebt für den Wochentag 9 bis 10 Stunden Hände- und Kopfarbeit.
Bon diefer Arbeitäzeit erhebliches abzubrehen, gebt ſchon um der großen
Fülle des zu bewältigenden Stoffes willen nit gut an. Nun follen aber
diefelben Zöglinge, deren Unterricht nur zum Theil in die Schulzeit fällt,
in der Uebungsſchule den Lectionen der Seminarlehrer zuhören, Helferbienfte
leiften und ſich in eigenen Lehrproben verfuhen. Sollen fie hiervon wirt
lihen Nugen haben und, wenn ihnen im legten Jahre fortlaufender Unter-
richt in der Schule zuertheilt wird, mit einiger Sicherheit auftreten fünnen
und über das ganze burdzunehmente Penfum genügend orientirt fein, fo
müßten fie wenigftens an den Hauptgegenjtänden planmäßig durd Hofpitiren
und Probiren die bedeutfamften Elemente der Unterrichtsfunft praktiſch
fennen gelernt haben, über die Bertheilung des Lehrftoffs für die einzelnen
Abſchnitte des Schuljahres und über die im einzelnen Falle anzuwendende
Lehrform im Wefentlihen durch Hinweis und eigene Beobachtung ins Klare
gebracht fein. Eine foldhe Vorbereitung erfordert aber auch wieder erheblide
Zeit: mit der jet vielfach gebräuchlichen Praris ver Berwendung von
3 bis 4 wöhentlihen Stunden in der zweiten Hälfte des zweiten Schul-
jahres wird dem Bedürfniß jevenfalls nicht genügt, zumal die Behandlung
der fpeciellen Methodik, die anderwärts das Penſum der Mittelclaffe bilvet
und welde die mangelnde eigene Auſchauung zu ergänzen im Stande wäre,
jegt in den preußifhen Seminarien zum Haupttheil des Penſums der Ober
clafle geworben ift, fo daß die jungen Sehranfänger neben dem, was fie
aus eigenem Talent oder Inftinft beizutragen vermögen, fat lediglich auf
die Inftruction des Uebungslehrers angewiefen find. Daß diefer aber nicht
ſehr fpecielle Weifungen zu geben im Stande ift, hängt ſchon damit zu—
ſammen, daß er eventuell für 4 oder 5 Klaffen die Anweifungen zu geben
und die Vorbereitungen zu controliten hat. Daher find die Lehranfänge
der jungen Lehrjeminariften meift nicht befonders ermuthigender Art, und
Cehrfeminariften, Uebungslehrer und auch die Uebungsſchüler befinden fh
anfänglich meift nicht im bejonders bebaglihem Zuftande Es mag ihnen
allen jo zu Muthe fein wie ven Pferden und Infaffen einer von einem
Fahranfänger geleiteten Poſtkutſche: fie laboriren ale etwas am der Ger
krankheit.
Habe ich in dem Vorſtehenden weſentlich Zuſtände in dreijährigen
Seminareurſen geſchildert und bin ich betreffs der inneren Einrichtung
vorzugsweiſe dem gefolgt, was innerhalb Preußens angeordnet iſt, ſo ſo
damit gar nicht bezweifelt werden, daß nicht im Einzelnen von Seminar—
leitern und Lehrern gar manches geſchah, was geeignet war, ber Leber
bürdung der Seminariften einigermaßen vorzubeugen und gleihwohl theoretiſch
und praktiſch möglichſt gute Erfolge zu fichern. Uebrigens iſt die Frage
wegen Meberbürbung ver Zöglinge mit Stunden im preußiſchen Miniſterium
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des Unterrihts jhen gegen Ende des Jahres 1874 zur Erörterung ges
fommen. Die Folge davon war eine Anfrage nah der in jevem Seminare
ven Zöglingen zur Erholung freigegebenen Zeit. Wie die Antworten aus—
fielen, weiß ich nicht; doch fchienen fie günftig genug gelautet zu haben;
menigftens ift feine allgemeine Verfügung auf jene Antworten hin erfolgt.
Andrerjeits bleibt freilich die Möglichkeit nicht ausgeſchloſſen, daß von all
gemeinen Verfügungen deshalb abgefehen wurde, weil ohne tiefeinfchneidende
Veränderungen eine Befferung doch nicht herbeizuführen gewejen wäre. Wie
dem aber auch jei, eine Steigerung der Intenſität der Arbeit
dürfte kaum möglich fein; eine Herabdrüdung der Ziele geht erft recht
nicht an, denn eine foldhe würde alle bisher unter fchweren Kämpfen er-
rungenen Fortſchritte in Frage ftellen; fo bleibt aljo nur übrig an eine
Verlängerung der Arbeitszeit im Seminar zu benfen: ber
treijähbrige Curſus müßte zu einem vierjährigen um—
seftaltet werden. j
Ueber die Schwierigkeiten einer ſolchen Umgeftaltung bin ich durchaus
nicht im Unklaren, zumal wo es fich handelt um einen großen Staat, wie
8 der preußiſche iſt. Enthält doch ſchon $ 3 der Lehrorbnung für bie
vreufifchen Seminare (vom 15. October 1872) den bemerfenswerthen Wort-
laut: „Der Unterridtscurjus im Seminar dauert drei Jahre An den—
jmigen Anftalten, wo verjelbe bis jeßt eine kürzere Dauer hat, ift die
Cinrihtung des dreijährigen Curſus anzuftreben” Das
teiheidene Wörtlein „anzuftreben“ deutet ſchon verftedt die Schwierig-
fetten an, die eimer folhen Umwandlung entgegenftehen dürften. Bei den
bundert Seminaren der preußiſchen Monarchie hieße das eine Einrichtung
von 100 neuen Seminarclaffen, die Anftellung von 150 bis 200 neuen
Yehrern und was der anberweitigen materiellen Aufwendungen noch mehr
wire Daß ſich dergleihen nicht im Handumdrehen machen laffen, ſondern
ine hübfche Reihe von Jahren erfordern würde, ift mir wohlbewußt. Indeß,
was von anderen Staaten jchen ohne Weiteres bewerfftelligt und aus—
gehalten werden fonnte, das fcheint mir nicht unmöglich für den preußiſchen
Staat. Defterreih bat einen vierjährigen Curſus für feine Lehrer- und
Vehrerinnen = Bildungsanftalten eingeführt jeit dem 19. Yuli 1870; das
Königreich) Sachſen hat fogar feit dem 14. Juli 1873 nur fechsclaffige
Seminare, deren vier obere Claffen unferen Seminarclaffen entfprechen
türften; im Großherzogthbum Sachſen (Weimar: Eifenah) find zwar nur
‚wer Claſſen, doch hat jede derſelben einen zweijährigen Curjus, das ganze
Zeminar deshalb einen vierjährigen Curſus. Sollte nun, um von anderen
Beifpielen adzufehen, dem Großſtaate Preußen ein gleicher Aufwand un-
möglih fein? — Wie id) mir diefe vierjährigen Curſe eingerichtet denke,
kann ich bier nicht weitläufig entwideln, da es mid von meinem eigentlichen
Thema, von welchem ich mid ſcheinbar jo wie jo ſchon fehr weit entfernt
babe, noch weiter entfernen würde. Auch ift ja aus den Mifftänden, bie
ih der gegenwärtigen, auf drei Jahre berechneten Seminar » Einridhtung
nahgefagt habe, zu erfehen, worauf ich losſteuere. Indeß foll eine kurze
beftimmte Andeutung nicht fehlen. Die letten beiden Seminarjahre müßten
faſt ausſchließlich der eigentlichen Berufsbildung gewidmet fein: innerhalb
ihrer müßte alfo jowohl die theoretifche als die praftifhe Unterweilung und
7%
20
Ausbildung Liegen und alle hierhin gehörigen Stoffe (Pſychologie, Logik,
allgemeine und fpecielle Pädagogik, Katechetik, Gefchichte der Erziehung und
des Unterrihts, Schulfunde u. f. w.) müßten in dieſen beiden Claffen ver-
mittelt werben, und zwar ber Geftalt, daß auf das vorlegte Jahr etwa
7 reſp. 8, auf pas legte 5 refp. 4 wöchentliche, dem fpeciellen pädagogiſchen
Unterrichte angehörige Stunden fielen. Die Stunden fürs Hofpitiren, für
bie eigenen Lehrpreben der Tehranfänger und für bie fortlaufende Thätig—
feit in der Uebungsſchule wären jelbftverftändlih in obige 12 Stunden nidt
mit einbegriffen. Außer dieſen unmittelbar für bie Berufsarbeit vorberei-
tenden Stunden wären in der zweiten Claffe noch etwa 14 bis 18, im ber
erften Oberelaſſe 10 bis 14 Stunden für folhe Fächer oder Fachtheile an:
zufegen, die einen gereifteren Verftand und felbftändiges Urtheil vorausfegten,
beziehungsweife eine ununterbrodene, aber controlirte Uebung verlangten.
Ueber vie in Betracht kommenden Stoffe fann fein großer Zweifel berr-
fhen: es würden vorzugsweiſe die Materien zu berüdfichtigen fein, bie
bisher in der Oberclaffe allein mit Nuten getrieben werden fonnten. Ich
rehne bierbin: Kirchengeſchichte, Styliftif, die fchwierigeren Partien ber
Geſchichte und Literaturgefhichte, der Naturwiſſenſchaften und eine, wie
Kehr fih in einem Bortrage ausprüdt, „Speciell-beruflide* Ber-
tiefung in den anderen Fächern. Der Hauptnahdrud läge in der Be—
bandlung der einzelnen Fächer. Zwar wäre im ganzen Seminar
das entwidelnde Verfahren foweit als irgend möglih zur Anwendung zu
bringen, aber während in ven beiden eriten Jahren der Lehrer den Weg
angäbe und in den hiftorifhen Fächern den Stoff fo mittheilte, daß es ber
Schüler Aufgabe bliebe, ihn im angemeffener Weiſe zu reproduciren, fe
hätten in ven zwei legten Jahren die Schüler felbft ven Weg zu fucen,
den Stoff felbft dem Bedürfniſſe entfprehend zu finden und fo eine Thätig—
feit zu entwideln, die auf ihre fpätere jelbftändige Thätigfeit in der Schule
vorbereitete. Der Seminarlehrer wäre bier mehr eine Control = Injtanz
und ein Regulator, eine Perfünlichkeit, die nur an geeigneter Stelle neue
Impulje gäbe, nachdem er im den erften beiden Jahren ven Schülern ge
zeigt hätte, wie er felbft zu probueiren im Stande fei. Denn das halt:
ich allerdings mit Harnifh für nothwendig, daß ein Geminarlebrer zu
probuciren (nicht blos zu reproduciren) im Stande fei. So präfentirt alfo
die zweite Hälfte des ganzen Seminarcurfus ein Beifpiel, wie man lehren
muß, während bie erfte Hälfte gezeigt baben follte, wie tüchtig gelernt werben
fann. Damit ift ausgeiprohen, was die erften beiden GSeminarjahre zu
leiften hätten. Ihre Aufgabe wäre, die für die Thätigfeit des Lehrers In
der Schule und im Leben nothwendigen Kenntniffe zu ordnen, zu ergänzen
und derartig zu begründen, daß er biefelben nicht nur felbftändig zu repro—
buciren und fpäter lehrend mitzutheilen vermöchte, ſondern daß er aud im
Stande wäre und gemeigt würde, fi innerhalb biefer Gebiete jelbftändtg
weiter zu bilden. Wie folhes möglich fei, haben ja pädagogiſche Schrift:
fteller oft genug ausgeführt und auch ich felbft bin bemüht gewefen im einer
Heinen Abhandlung: „Wie wird ſich im Seminarunterriht Vorbildlichleit
und Wiſſenſchaftlichkeit herſtellen laſſen?“ (Exfter Jahresbericht über das
Lehrer - Seminar zu Hamburg. Hamburg 1873) meine Gedanken barüber
vorzutragen. Ich verweife alfo darauf und bemerfe nur, daß ih betrefi?
21 }
der Stoffe mich im Welentlihen dem anjchliefe, was in ven „Allgemeinen
Beitimmungen vom 15. October 1872* für Claſſe III und II und in ben
bezüglihen Lehrplänen anderer Staaten hierfür vorgefchrieben if. Daß ich
bier und da eine veränderte Anordnung derjelben, eine Heine Erweiterung
gern fühe, will ih nicht leugnen; doch find die Differenzen durchaus nicht
weientliher Art und beftände der Hauptunterfhieb in der Mehrforderung
von Bildungszeit, von welder ich nicht glaube abjehen zu können, da id)
für den Mangel an innerer Befriedigung, ven Lehrer und Seminariften zu
erfennen geben, einen anderen Grund nicht finden kann, als daß beide fich
abhaften und doc nicht recht fertig werben, daß fie trog des Aufgebots aller
Kräfte Doch fühlen, dag aller Eden und Enten nod etwas fehle. Da aber
die Aufgabe, wie ſchon oben gezeigt worden ift, wirklich zu groß ift, als
daß fie in 3 Jahren zur Genüge gelöft werben könnte, fo wird eine
Berlängerung der Bildungszeit niht umgangen werben
fönnen.
Slüdlihermeife befinde ich mich mit diefer Mehrforverung an Zeit
nicht blos im Einklang mit der bewährten Praris anderer Staaten, jondern
auh mit den Anfichten bewährter und über Seminarleiftungen und Be-
dürfniſſe wohlunterrichteter Schulmänner, z. B. Kehr's. Die Kleine Differenz
ver Meinungen betrifft metit lediglich den Namen der Sache. Kehr*), will
nur die beiden Oberclaffen als Seminar d. h. als pädagogiſche Fachſchule
gelten laſſen, während ich alle vier Claffen fo bezeichnen möchte. Die Gründe
für diefe Berfchiedenheit find auch weniger principieller, als, um mid) eines
kriegstechniſchen Auspruds zu bedienen, taktifcher Ar. So ſehr nämlid
Kehr die Scheidung von Berufs- und allgemein bilvdender Schule im Seminar
anjtrebt, fo leicht läßt er es fih doch aud gefallen, daß aud im den eigent-
lichen Fachclaſſen noch Elemente der allgemeinen Bildung übermittelt werben
vergl. Thefe I am Schluffe des Vortrags). Bor allem ift es ihm barum
zu ıhun, ber Weberfütterung der Seminariften vorzubeugen, denn „ihn
jammert des Volkes“. Ich dagegen halte eine folhe ftrenge Scheibung
nah rein beruflihen und allgemein = bildenden Elementen für minder ger
beten, da gerade fir den Ffünftigen Lehrer und Erzieher nit bios eine
Bermittelung der tehnifhen Seiten feines Berufs wird im Seminare
eritrebt werden müfjen, ſondern, wie id) mich im der oben amgeführten Ab-
handlung ausdrückte, zugleich eine unmittelbare Erziehung und Bil-
dung für den Beruf. Im Folge einer folden Aufgabe muß das Seminar,
unbefchadet feiner fonft unbeftreitbaren Eigenfchaft als Berufsfchule, eine ganz
andere Stellung einnehmen, wie jede beliebige andere techniſche Schule. Man
fann als Bergmann, als Kaufmann, als Techniker, als Architekt jehr tüchtig
jein und braucht doch als Menſch nur berzlih wenig zu taugen; wer wollte
aber einem zwar technifch gut ausgebildeten und rontinirten Lehrer gern
jeine Kinder zum Unterricht und zur Erziehung anvertrauen, wenn berjelbe
in fittlicher Beziehung erhebliche Defecte aufwiefe? Deshalb haben Yehrer-
und Prediger Bildungsanftalten, wenn fie anders ihrem vollen Zweck genügen
wollen, eine andere Aufgabe, die ſich durchaus nicht auf das rein techniſche
— —
*) Kehr's Referat über die Reform ber Seminarvorbildung in: Die 20. allgemeine
beutiche Lehrerverſammlung zu Hamburg (Leipzig, Drud von Klinkharbt 1872).
22
Gebiet beſchränkt. Aber ich habe auch noch einen anderen Grund, den ih gegen bie
zweiclaffigen Seminare und gegen blos zweijährige Curſe ins Feld zu führen
hätte. In einem größeren Organismus läßt fi nicht blos ganz anderes in
wiſſenſchaftlicher und berufstechnifcher Hinficht leiften, als in einem Heineren
Organismus, fondern es läßt fi auch im ethifcher Beziehung ganz anders
einwirken. Alles das haben Diejenigen, die gar fechsclaffige Seminare ein-
richteten ober wenigftens für folde eintraten, jedenfalls in erfter Linie in Rech—
nung gebracht und zwar mit vollem Fug und Recht. Die eingeftandenermaßen
bedeutenderen Erfolge der königlich jähfifhen Seminare haben unleugbar darin
ihren Grumd. Wir follten nur einmal, wie Kehr in jener erften Schlufthefe
feines Vortrags vorfhlägt, die Aufnahme in das zweiclaffige Seminar ab-
bängig madhen von einer Aufnahmeprüfung, die meinetwegen fo ftreng als
möglich auf Erfüllung beftimmter Forderungen bielte, und wir würden troß
alledem wahrjcheinlid das erfte Halbjahr, wenn nicht gar das ganze erfte
Yahr, nöthig haben, um die Zöglinge zu gleihmäßiger Bildungs—
und Leiftungsfähigfeit zu fürdern Wo bliebe dann ber Bortheil ?
Uebrigens giebt Kehr, und das muß ich der Wahrheit gemäß bier anfügen,
in feiner vierten Theſe die Möglichkeit und Berechtigung einer organifchen
Berbindung feiner vierclaffigen Seminarvorbereitungsanftalt mit einer Tehrer-
bildungsanftalt zu; will aber foldes von den örtlichen Berhältniffen abhängig
machen. Betreffs feines Ausgangspunftes und des Refultats feiner Erörterung
ftimmt er aber, und das möchte ich zu meiner eigenen Rechtfertigung aus—
drücklich hervorheben, mit mir überein: beffere Borbildung und mehr
Zeit zur berufstehnifhen Ausbildung.
Alfo vierjährige Seminarcurfe! Mit weldhen Lebensjahre jollen
aber diefe Seminarcurfe begonnen werben fünnen ?
Die Abfolvirung der Abgangsprüfung weit über das zwanzigfte Jahr
binausfhieben zu wollen, ginge ſchon um vieler Gründe willen nidht an.
Einer der triftigften ift jevenfalls, daß das Entfernen des Zieles für bie
Frequenz der Seminarien recht bedenkliche Folgen haben dürfte. Aber jelbft
davon abgejehen, würde eine ſolche Hinausfchiebung des Ziels viele Aſpiranten,
die ihre Vorbildung fhon etwa mit 16 Jahren abzufchliegen im Stande ge-
wefen wären, wieder in den Fall bringen, fogenannte Afpirantenftellen, d. b.
Lehrerftellen mit ungenügendem Gehalt, zu erftreben, und etwa ein Jahr, viel-
leicht noh länger ſchon den Herrn Pehrer zu fpielen, ehe fie ins Seminar
einträten.*) Wie bevenflih dergleichen Praris nad verſchiedenen Richtungen
bin fei, habe ich nicht weiter nöthig auszuführen. Gleichwohl ift fie mander
Orten nicht blos ftillfhweigend zugelaffen, jondern ſogar offictell gutgeheigen,
wie 3. B. in Hamburg nod vor etwa zwei Jahren. Daß Sculinfpectoren,
und manchmal jogar Schulräthe, auf vurchgefallene Seminar-Aipiranten Jagd
machten, um fie in vacanten Lehrerftellen commifjarifch zu verwenden, ift eine
nicht felten vorkommende, aber immer recht traurige Thatfahe. — Wird num
als frühefter Abgangstermin aus dem Seminar das vollendete 20. Lebensjahr
angenommen, jo ergiebt fid) als Aufnahmetermin das vollendete 16. Lebens:
*) Daß ber all noch jest bäufig genug vorfommt, bafür brauche ih nur bie
Erfahrungen der letzten biefigen Aufnahme: Prüfung anzurufen: von 44 zur Auf:
nahme gemeldeten Aipiranten hatten nur 16 noch feine Lebreritelle verwaltet; der Reit,
alfo circa %, der Geſammtſumme, fam aus Lebreritellen.
23
jahr. Daß diefer Termin nicht zu früh gegriffen fei, ergäbe ſich beiſpiels—
mweife daraus, daß die Verorbnung des dfterreihifchen Minifters (vom 12. Juli
1869, Zeile 6299) fih mit dem zurüdgelegten 15. Lebensjahre begnügt
($ 12, 2.); daß zum Eintritt in pas Hamburgiſche Lehrerfeminar, welches
doh nur drei Claſſen hatte, nur der Nachweis über das vollendete 16. Jahr
erfordert wurde (vgl. Bekanntmachung der Oberfhulbehörde, Section für das
Volksſchulweſen vom 8. November 1871); daß endlich in vie entfprechenve
Claſſe der föniglich ſächſiſchen Seminare eventuell ſchon mit vollenvetem 15. Lebens-
jahre eingetreten werden kann (vgl. Lehrorduung vom 14. Juli 1873, $ 1,
Alinea 2). Wenn ferner für die Ublegung der Tehrerinnen- Prüfung
(vgl. preußifche Prüfungsordnung vom 24. April 1874, 8. 8) das vollendete
18. Lebensjahr ausreicht, fo follte ih meinen, daß Yünglinge von 16 Jahren
die nöthige geiftige Reife zum Eintritt in ein vierclaffiges Pehrerfeminar, weldes
fie alfo früheftens mit vollenvetem 20. Lebensjahre entliege, haben Fünnten.
— Einen anderen Einwand dürften die den Schulamts-Ajpiranten durch einen
vierjährigen Aufenthalt im Seminare (ftatt des bisherigen dreijährigen)
erwachjenden Mebrkoften abgeben. Daß vier Jahre mehr foften würden als
nur drei, dürfte allerdings nicht beftritten werben fünnen ; indeß bürften nur
diejenigen Ajpiranten, vie etwa Sculftellen verwalteten (was wir oben als
eine fehr traurige und gegen das Intereffe des Seminars, der Schulamts-
Apiranten und der dieſen Ajpiranten anvertrauten Schulkinder verftoßende
Thatſache bezeihnen mußten), eriftiren fünnen, ohne zu eigenen Mitteln zu
greifen. Biele aber jelbft von diefen Schulverwaltern bedürfen, da die Stellen
oft erbärmlich dotirt find, nod eines Zufhuffes von Haufe. Diejenigen da—
gegen, welche in jener Zeit ihrer Vorbildung obliegen, haben bisweilen größere
Koften (an Unterrichtsgelp, Koftgeld u. f. w.) aufzubringen, als fie im Semi—
nare zu leiften hätten, wo der Unterſtützungsdurchſchnittsſatz per Kopf oft
zwifhen 90 bis 150 Mark jährlich beträgt, wo fie Unterrichtsgeld nicht
zu entrichten haben und zumal in den Internaten oft beifpiellos billig erhalten
werden. In einzelnen Seminaren, die fih aus wohlhabenveren Kreifen recru=
tiren, wo alfo der Unterftügungsfonds nur etwa von !/, bis 2/, der Zöglinge
in Anfprudy genommen wird (wie 3. B. bier in Hilchenbach), kommt es vor,
daß mehr als die Hälfte des jährlichen Aufwandes Einzelner durch Stipendien
beftritten wird. Wenn dies aber auch nicht ver Fall wäre, wenn der Staat
genöthigt würde, noch etwa 750 bis 900 Thaler jährlich zuzufchießen, fo würde
ter Nuten, den ein vierjähriger Seminaraufenthalt brächte, auch dieſen Unter:
ftügungsmehraufwand reichlich bezahlt machen.
Wären demnach die Einwände, die gegen eine Verlängerung des Semi-
narcurſus vorgebracht werben könnten, leicht zu wiberlegen ober wenigſtens
auf das richtige Maß zurüdzuführen, jo handelte es ſich jegt nur noch um
die Frage, ob bis zum 16. Jahre wirklih das nöthige Maß ver Kenntniffe
und Fertigkeiten, von deſſen Nachweis die Aufnahme in das Seminar abhängig
zu machen wäre, erworben werden fünhte und wie dies am zwedmäßigiten
geihähe. |
Das „ob“ glaube ich ohne Weiteres bejahen zu fünnen, da im Großen
und Ganzen, und höchſtens abgejehen von ven Leiſtungen im Clavier- und
Violinfpiel, nicht mehr verlangt wird, als was in guten mehrclafjigen Stadt—
ſchulen ohne Weiteres bis zum vollendeten 14. Jahre geleiftet werden kann.
24
Für die Aufnahme in die königlich ſächſiſchen Seminare, (die freilich ſchon mit
dem 13. bis 14. Lebensjahre aufnehmen), wird der Grad ber Vorbilpung be:
ftimmt durch das Bildungsziel der mittleren Bollsfhule*). Vergleicht man
aber in der Lehrorbnung der Seminare die Vertheilung tes Stoffes für
Glafje IV und Elaffe V mir demjenigen, was in der „Allgemeinen Berfügung
über Einrihtung, Aufgabe und Ziel der preußiſchen Volksſchule“ (vom
15. October 1872) verlangt wird, fo kann man leicht finden, daß im jenen
Seminarclaffen nur die legterwähnten Ziele erweitert, begründet, vertieft werben.
Es handelte fih alfo, und das wäre die Aufgabe für die zwei
Jahre, die zwiſchen Berlaffen ver Bolfsjhule und Aufnahme
in das Eeminar lägen, nur darum, daß die betreffenpe An-
eignung des verlangten Stoffes in felbftänpiger, bewußter
und eine Elare Ueberſicht über die erworbenen Kenntnifje
und Vertigfeiten verbürgender Weije gejhähe — Daß dem
fo fei, lehren die Erfahrungen bei der Aufnahmeprüfung veihlid. Es find
durchaus nicht immer die SKtenntnißreichften, welche die Prüfung am beften
beftehen. Sehr häufig beftanden Realſchüler, jelbit der Oberclaſſen, die, wie
ſich jpäter berausftellte, jehr hübſche und vieljeitige Kenntniffe aufzumeifen
hatten, die Prüfung wenig gut, weil fie ihre Kenntniffe, die fie auf analytiſchem
(deductivem) Wege erworben hatten, nicht zu verwerthen wußten, ſobald ber
Sraminator ven Einzelnen ausging. Es fehlte ihnen eben die flare Ueber—
fiht über das gefammte Gebiet und deshalb aud die Fähigkeit, ſich raſch über
die Tragweite einer Aufgabe zu orientiren. Sie erjchienen bisweilen wie
hülflofe Kinder, die nur mechaniſch ein beſtimmtes Wiffen in fih aufgenommen
hatten, welches fie nur wiederzugeben vermochten, fobald ihnen die Frageformel
in der gewohnten Form entgegentrat. Anders ftellte ſich oft fpäter die Sache,
nachdem fie fih an die inductive Lehrform gewöhnt und gelernt hatten, in
das Syftem, das fie von früher ber kannten, das durch ſelbſtändige Arbeit
aufgenommene Einzelne einzufügen: war für fie bie erſte Zeit ihres Aufent-
halts im Seminar oft eine Zeit unbehaglihen Umbertappens, fo befamen ſie
nad und nad nicht blos ausreichende Fühlung mit den Yernobjecten, jondern
auch Einfiht in dem ganzen Lernmodus und im Weiteren in das ganze Wejen
des Unterrihtens. — Erfahrungen anderer Art mahte man dagegen bei bis»
herigen Schulverwaltern. Trog ihres oft recht dürftigen Wiffens (zu deſſen
felbftändiger und mehrfeitiger Begründung fie durch ihre Lehrthätigkeit ge-
nöthigt wurden, da fie ſonſt überhaupt nit im Stande geweſen wären zu
unterrichten), zeigten fie dody während des Examens eine gewiſſe geiftige Ge—
wandtheit, die die Examinatoren bisweilen beftah, fo daß fie beſſer tarirı
wurden, als fie eigentlich verdient hätten. Sie zeigten vornehmlich, daß mau
trog eines fehr beſchränkten Wiffens, falls man nur innerhalb feines Gebietes
fi verftländig und felbftändig umgefehen, eine genügende geiftige Schulung fid
aneiguen Fünne, vermöge deren man ſelbſt im fremden Gebieten fi raſch zu
orientiren vermöge, fo daß die Lücken im eigentlichen Willen als nicht recht
von Belang erjchienen. Beide Arten von Examinanden hatten aber ein ge
meinfames Moment, auf deſſen Betonung es mir hier ankommt: beide hatten
*) Siehe $ 1 der Lehrordnung für die evangeliichen Bolksichulfehrer » Seminare im
Königreihe Sachſen, Alinea 3.
25
nur einen Theil ihrer Zeit, und ſelbſt diefen nur in ſehr mittelbarer Weife
zu ihrer Vorbereitung für Das Seminar verwendet; beide hatten ferner ihre
geiftigen Kräfte in zum Theil jehr zeitranbender und anftrengender Weife fir
Zwede zu verbrauchen gehabt, die fi mit den Aufgaben des Seminars nur
ganz loſe berührten, — und waren doch mit fiebzehn Jahren aufnahmefähig
geworben! Sollte deshalb die erforderliche Reife nicht in einem viel befrie-
digenderen Grade erreicht werden fünnen in eimem Zeitraume von zwar nur
wei Jahren, ver aber ausschließlich ver Erwerbung der nöthigen Kenntniffe
und Fertigkeiten gewirmet würde? — Ummittelbare Erfahrungen zu jammeln,
die das Augenommene beftätigen fünnten, war wenigftens bisher ven mit ber
Abbaltung der Aufnahmeprüfung betrauten Lehrern verfagt, ta Jünglinge von
erſt jehszehn Jahren in Preußen gar nicht zur Prüfung zugelaflen werden
durften. MUebrigens hat, und das kann aud ned für eine nur zweijährige
Vorbildungszeit angeführt werden, die Mehrzahl der preußifhen Präparanden-
Anftalten einen nur zweijährigen Curſus. Wo verjelde ſich thatſächlich auf
drei Jahre erweiterte, mußte ſolches geſchehen, weil die vorausgejegte, in (zum
Theil einclaffigen) Volksſchulen erworbene Bildung hinter den ver Volksſchule
geftedten Zielen oft jehr weit zurüdgeblieben war. Dft mag es außerdem
geihehen jein, weil man die Züglinge nicht mit fehszehn Jahren in das
Seminar eintreten laffen durfte.
Wäre jo die Frage bezüglih des „Ob?“ mit „Ia* beantwortet, jo faun
nah dem bisher Vorgeführten auch das „Wie?“ leicht beantwortet werben.
Zunächſt iſt feitzuhalten, daß die Bolfsfhule überall die natur—
gemäße Grundlage bilde für die jpecielle Vorbereitung für das Seminar.
Es zu verlangen, heißt einmal den thatjächlichen VBerhältniffen Rechnung tragen,
da notorifch mindeftens ?/,, unter allen Umftänden die überwiegende Mehrzahl
aller Seminarajpiranten aus der Volksſchule hervorgeht. Diefe Mehrzahl
nicht berücfichtigen zu wollen, hieße den Necrutirungsbezirf aufgeben, der bis—
ber Zöglinge lieferte, eine gewiſſe Gleichmäßigkeit in ber Vorbildung ficherte
und wenigſtens bie Bürgfchaft leiftete, daß ſich die fpäteren Lehrer nicht in
der Bolfsjchule unglüdlih fühlen würben, weil fie in einem Kreife arbeiten
müßten, der dem Stande, aus dem fie herworgegangen waren, nicht entiprädhe.
Sodann bildet die Volksſchule betreff3 ver darin gehanphabten Disciplin, der
ganzen Unterrichtsmweife und des Lehritoffes eime angemefjenere Grundlage für
ten künftigen Boltsjchullehrer, als jede Art ver höheren Schulen, die doch
wejentlich anderen Enpzweden dienen. Maucher Lehrer würde fehr ſchmerzlich die
während ber eigenen Schulzeit in ver Bolfsfchule gefammelten Erfahrungen ver:
miffen (wie ja befannt ift, daß jehr viele Gymnaſiallehrer ven Haupttheil der eigenen
tidaktifchen Erfahrung aus der eigenen Öymmafialzeit herleiten), wenn er auf bie
Erinnerungen aus jener Zeit verzichten follte oder ihrer überhaupt ganz entbehrte.
Denn für alle möglihen Fälle kann das Seminar nicht allzeit präfente Recepte
mitgeben, ſelbſt wenn es dies beabſichtigte. Schen ver Umftand, daß ver
Vehrer ſelbſt früher bisweilen hinter dem Buſche geftedt hat und aljo weiß,
wie es dahinter ausfieht, giebt ihm in ſehr wichtigen Fällen eine gewiſſe
Ueberlegenheit über die Kinder, aber aud das Willen davon, wie foldhe Tale
in angemefjener Weife behandelt werben. Endlich ift die Volksſchule die
einzige Anftalt, die bis zur Confirmation (bi8 zum 14. Jahre) ihrer Bildung
einen gewiffen Abſchluß und eine gewilfe Abrundung geben fanı. Der
26
Mangel an folhem Abſchluß ift ja von Pädagogen aller Schulfreife von je ber
als ein großer Uebelftand empfunden worden ; nicht minder unangenehm emt-
pfanden ihm aber auch diejenigen, die ohne ſolchen Abſchluß ihrer Bildung
in einen Beruf eintreten mußten. Dürfte man ihn nun denjenigen gegenüber
als entbehrlih hinftellen, die fpäter jelbft als Lehrer und Erzieher zu wirfen
berufen wären? — Freilich übernimmt die Volksſchule und ihre Lehrerfchaft
damit aud die ernftefte Verpflichtung, nad Kräften auf einen befrievigenven
Abſchluß und eine wirkliche Abrundung hinzuarbeiten. Leider hat fie es nicht
immer gethan, und leidet deshalb oft genug jelbft befonders unter ver Miß—
achtung, mit welcher fie frühere Schüler, Behörden und höhere Schulen anſehen.
Wo fie einen Abjhluß und eine Abrundung zu geben vermodht hat, da hat
fie auch Anerkennung gefunden, wiverwillige bisweilen, aber deshalb auh um
fo mehr ehrende Anerkennung. — Das Felthalten der Volksſchule als naturge-
mäßer Grundlage für die Seminar-Borbildung macht felbftverftändlich nicht ungerecht
gegen die Leiftungen anderer Schulen und unduldſam gegen Schüler aus ſolchen
Anftalten. Es find deshalb folhe Schüler nicht auszuſchließen, wenn nichts anderes
gegen fie fpriht, als daß fie die Grundlage ihrer Borbildung nicht in der
Bolksihule empfangen haben. Aber im Großen und Ganzen muß das Seminar
fo energifch wie möglich feinen organifhen Zuſammenhang mit der Volksſchule
wahren, weil nur dann, wenn beide mit und für einander arbeiten, beiden
eine erfprieflihe Thätigkeit, die ibre Befriedigung im ſich felbft hat und ihrer
Anerkennung von außen auf die Dauer nicht entbehren wird, geſichert ift.
Welche Anftalt aber foll nun auf dem in der Bolfsfhule
gelegten Grunde weiterbauen? Daß ih Gymnaſium und Real—
fchule von vornherein abmweife, wird niht Wunder nehmen. Führt das eine
durch die claffifche Fiteratur und die Geſchichte der Zeiten und Völker zu dem
Urfprung unferer Bildung, beleuchtet und erflärt es die Gegenwart aus ber
Vergangenheit und ſucht es auf der fe ins richtige Licht geitellten Gegenwart
die Zukunft aufzubauen, fo führt die andere durch die moderne Literatur, bie
Mathematif und Naturwiffenfchaften. Sie begnügt fih mit ven legten Er-
gebniffen ver Geihichte, mit den Spradhen und dem Leben der modernen
Welt, wirft nur flüchtige Blide auf die Vergangenheit, führt aber zu ven
Erfcheinungen der Natur, ihren Kräften und Gefegen und wendet legtere auf
das menfchlihe Leben an. Beide vollziehen ihr Werk und Iöfen ihre Aufgabe
aber nur, wenn fie vollftändig abfolvirt werden; nicht aber, wenn nur irgend
welche einzelne Stufen erflommen find. Da aber die vollftändige Abfolvirung
einer von beiden Anftalten innerhalb des in Anfprucd genommenen Zeitraumes
von zwei Jahren undenkbar ift; ein anderweitiger nur zweijähriger Aufenthalt
aber noch nicht einmal über vie Elemente des in ihnen vermittelten Wiſſens
hinausführen würde, fo ift an eine Benutzung biefer Anftalten für ven Weiter:
bau der Seminarvorbildung gar nicht zu denfen. — Es bleiben aljo, wenn
id mich auf das befchränfe, was ich zu Anfang der Abhandlung als that-
jählih vorhanden oder nur vorgefhlagen anführte, nur drei Möglichkeiten
übrig: Der unmittelbare Anſchluß an ein Seminar, wie folder in den Semi-
naren bes Königreichs Sachſen bewerfftelligt ift, oder gefonderte Präparanden-
Anftalten, mögen felbe nun von einem Lehrer oder von mehreren in freier
Bereinigung gehalten werben oder ftantlich angelegte und unterftügte fein;
endlich befonvere Anftalten, die nur mittelbar auch für dieſe Vorbildung forgen.
27
— Der unmittelbare Anfhlug an ein Seminar bat zunächſt den Vortheil,
daß er den umterrichtlichen Erfolg ziemlich ficher verbürgt, infofern es fich im
einem großen fechsftufigen Organismus, der, einheitlich geleitet, die folgende Stufe
immer auf die VBorftufen Nüdficht nehmen läßt, viel eindringender und frucht-
barer, viel mehr ohne Ummege arbeiten läßt, al8 in mehreren fleineren Orga-
nismen, die ohne einheitliche Leitung nur gelegentlid einmal mit einander
Fühlung nehmen fünnen. Kann fi der gefammte Stoff auf vier (beziehungs-
weife fech8) Jahre vertheilen, jo wird weder ein Ueberhaſten no ein Zufammen-
drängen erforberlich, beides für ſchwache und langſame Schüler eine große Gefahr.
Nicht minder läßt fich im Betreff der unmittelbaren Erziehung für ven Lehrer:
beruf ein quantitativ gimftiges Nefultat erwarten, da eine einheitliche Ge—
wöhnung und Disciplin durch ſechs Jahre hindurd, und zwar in einem Alter
beginnend, wo felbftändige Meinungen ſich nod weniger bemerflich zu machen
pflegen, ſich dauernder einprägen und eher zur zweiten Natur werden wird,
als eine von zwei verſchiedenen Lehrercollegien ausgehende, die einerfeits
zur Bergleihung herausfordert, amdererfeitS mit dem unmittelbaren Hinweis
auf den Lehrerberuf ſpäter beginnt. Endlich kann idy mir denfen, daß ein
Lehrercollegium, welches jeine Zöglinge volle ſechs Jahre zu behalten alle
Ausfiht hat, dieſe Zöglinge forgfältiger nah allen Richtungen hin prüfen
wird, als eins, welches viefelben nur etwa zwei Jahre zu unterrichten hätte.
Aber neben diefen Vorzügen machen ſich auch Schattenfeiten und Gefahren
bemerflih. Der längere Zeit dauernde Unterrichtscurfus, der ſich immer
nur in berfelben Richtung bewegt und alle Mittel vemjelben Ziele unterorpnet,
bewirkt bisweilen eine gewiſſe Einfeitigfeit und Pebanterie, die zumal den
Lehrern und Pädagogen (welchen das legtgenannte Wort ſowieſo feine Ent-
ſtehung verdankt) nicht zum Vortheil gereicht und ebenfowohl in ver Schule
als auferhalb derſelben den Einfluß des Lehrers zu hemmen ganz geeignet
ft. Schwerer nod wiegt, daß ber unmittelbare Eintritt in’® Seminar in
ein Alter fällt, in welchem vie jelbftändige Entfheidung für einen Beruf
noch kaum möglich ift, wo vielmehr allerlei äußere Einflüffe maßgebend find
und wo der Mangel an Gelbiterfenntnig und an Einfiht in die wirflichen
Berhältniffe den Schritt leicht zu einem für das ganze Lebensglüd des jungen
Menſchen verhängnißvollen geftalten fanı. Denn wenn es irgendwo erwinfcht
ift, daß nur ein reiferer Entfhluß und ein beftimmter Berufsprang die Wahl
bes Berufs veranlaft haben möge, fo ift das gewiß bei dem Pehrerberufe und
beim Eintritt in’8 Seminar der Fall. Die vielfad, graffirende Unzufrieden—
beit und Berbifjenheit in der Pehrerwelt möchte zu einem nicht geringen Theile
aus der Erkenntniß herrühren, daß man feinen Beruf verfehlt habe. Daß
man ſich außerdem noch jehr fümmerlich durchs Leben ſchlagen muß, mag den
Keft bewirken. Weshalb alſo den Eintritt in’s Seminar ohne Noth verfrüben ?
— Ferner halte ih es für nicht vortheilhaft, daß der Schulamtsbefliffene
fih jo ungemein früh ver Berührung mit dem Nachwuchs des gebildeten
Mittelftandes, dem er doch fpäter jelbit anzugehören hätte, entzogen jehen fol,
um in einer ganz erclufiven Sphäre lediglich mit Fünftigen Standesgencfjen
zu verkehren. Yetteres führt jchließlich zu einer mindeſtens einfeitigen Schätzung
jowohl des eigenen Werthes als der Stellung im Leben und erhöht durchaus
nicht den Einfluß, den der Lehrer ausüben fünnte. Den Schaden davon hat meiit
nicht nur der Lehrer, ſondern aud die Schule zu tragen. Dod genug davon:
28
alles Gefagte zufammengefaßt würbe etwa lauten: Der fehsjährige Semi-
narcurjus hat neben unleugbaren Vortheilen doch leiht zugleich
den Nachtheil, daß feine Zöglinge dem Leben mehr entfremdet
werden, als der Schule und dem Lehrer felbft gut tft.
Manches von dem bier Gefagten gilt zugleich für und gegen die Präpa—
ranven- Anftalten. Zunächſt die lebendige Beziehung auf das Eeminar ; dann
das Beitreben, den Bedürfniſſen deſſelben betreffs der Bilpungsitoffe jeiner
fünftigen Zöglinge zu entjprehen ; das Borbereiten einer gewiſſen Gleich—
artigfeit der Aufzunehmenden und was id ſchon oben (S Yfl.) zur Beur-
theilung der Auftalten beibrachte. Daneben aud als dunkle Punkte: das
frühzeitige Drängen zur Entſcheidung fir einen beftimmten Beruf; das Ent-
ziehen der Zöglinge aus der Berührung mit Altersgenoffen, die auch für
andere Stände eine weitergehende allgemeine Bildung erftreben, als vie Bolts-
ihule gewähren kann; das PVorwegnehmen von Manchem, was exit in's
Seminar felbft gehört; das leidige Vorbereiten für das Eramen jelbft, was
viele Anftalten geradeswegs zu bloßen Preſſen erniedrigt; das fait unbejehene
Aufnehmen von vielen durchaus ungeeigneten Elementen, blos damit das Haus
vol werde und damit man ſich der Regierung empfehle u. j. w. u. ſ. m.
Diefe dunklen Punkte will ich nicht allen Anftalten nachſagen; jedenfalls aber
treffen fie bei jehr vielen zu. Leider find die Regierungen nicht überall ohne
Schuld. Sie juhten den Notbftand des Lehrermangeld zu heben und be
zahlten geradeswegs Prämien für jeden durch die Präparanden - Anjtalten und
einzelne Bilduer für die Seminarien Angeworbenen. Und nit nur bie —
parandenbildner bekamen ſolche, ſondern auch die Präparanden ſelbſt:
manchen Staatsanſtalten beträgt die Unterſtützungsquote pro Kopf oft —
als diejenige für Seminariſten. Zwar verpflichtet man die jungen Leute
nicht durch Reverſe zum Eintritt in die Seminarien; indeß ſichert man ſich
doch unter der Hand den wirklichen Eintritt. Freilich werden auf dieſe Weiſe
die Seminarien ſchließlich doch gefüllt und dem Lehrermangel wird etwas
abgeholfen — und ſo mag vom Standpunkte der Staatsverwaltung damit
der Zweck der Präparanden-Anſtalten erfüllt fein. Wenn man feruer zugiebt,
daß durchſchnittlich Die durch ſolche Präparanden-Anſtalten gebildeten jungen
Leute mehr Kenntniſſe und Fertigkeiten aufzuweiſen haben, als die meiſten
früher von einzelnen Lehrern gebildeten, ſo könnten ſich ja auch die Seminarien
zufrieden geben, ſich ſogar über den Fortſchritt freuen, und nur dazu helfen,
daß noch mancher der gerügten Uebelſtände beſeitigt werde. Indeß damit
wäre noch nicht genug gethan. Gewiſſe Uebelſtände hängen eng mit der
Natur der die Vorbildung verſchaffenden Einrichtungen zuſammen, und ſind
nur zu beſeitigen, wenn man dieſe Einrichtungen ſelbſt beſeitigt. Solches
ſchon jetzt zu fordern hieße aber das Kind mit dem Bade ausſchütten und
würde zuvörderſt die Exiſtenz der Seminare ſelbſt auf's Spiel ſetzen. Das
ſei ferne!
Es käme alſo darauf an, nad) Mitteln zw ſuchen, die die Vortheile der
beftehenden Einrihtungen bewahrten und dabei ihre Nachtheile vermieden. Solche
Mittel ſcheinen mir gegeben zu ſein in den an vielen Orten neuerrichteten
Mittelſchulen. An dieſe Anſtalten würde ich folgende Forderungen ſtellen:
1) fie müßten Auſchluß an bie Vollksſchule haben, aber eine höhere Bil—
bung als dieſe gewähren, indem die im ihnen vermittelten Kenntnifle
29
und Fertigkeiten an Umfang, Tiefe und Schwierigkeit gewinnen und
dem Erziehungs- und Unterrichtsbebürfniffe des gebildeten Mittelftandes
entjprechen ;
2) fie müßten mit dem vollendeten 16. Jahre entlaſſen, aljo einſchließlich
des Volksſchuleurſus zehn Jahre umfaffen, und eine fo abgerundete
Bildung gewähren, daß fie weder als bloße Fortfegungen der Volks—
ihulen nod als Vorſchulen für Gymnaſien und Realſchulen, fondern
zwifchen beiden jelbftändig eriftirten ;
3) fie müßten eime fremde Sprade in ihren Lehrplan aufnehmen und
mindeftens deren Elemente ihren Schülern ſicher einprägen ;
4) ihre Hauptfächer wären: Religion, Deutſch, Necdnen ; auferbem ver:
tieften umd erweiterten fie die in guten Volksſchulen vertretenen Fächer
und gewährten die Möglichkeit zur elementaren Ausbildung in
der Mufit (Gefang und Geige);
5) in jedem Kreife der Monarchie müßte wenigftens eine folde
Schule fein, und wäre deren weitere Aufgabe, die Volksſchule des
Kreifes mit Anregung zu verfehen und in ihren Leiftungen zu con=
troliren. Sie felbft ftände in lebendiger Wechſelwirkung mit dem
Seminare des Bezirks, empfinge von dort aus Anregung und be-
richtete dahin ihre Erfahrungen betrefjs der in demjelben gebildeten
Volksſchullehrer. Die fonftigen KRefjortverbältniffe würden durch
diefe Wechfelwirfung nicht berührt.
Ueber diefe Forberungen habe ich nicht viel zu fagen, da fie fih aus
dem PVorangeführten und aus fich felber erflären. Die reine Bildung ad hoc,
wie fie im fechsclaffigen Seminaren gar zu leicht auftritt, entfpricht ebenfo
wenig den dauernden Intereffen der Schule und der Lehrer, wie bie gefonderte
PFräparandenbildung. Denn wenn felbft letztere fich freihielte von den oben
gerügten Mißbräuchen — und wie fünnte fie das, ohne das Aufgeben ihrer
Eriftenzbedingungen ? — fo entzöge fie doch immer ihre Zöglinge zu früh
der Gemeinfhaft mit Wltersgenofjen ans andern Ständen und verhinderte
das Gewinnen zahlreicher Berührungspunfte, das gegenfeitige Abfchleifen und
Aneinandergewöhnen ; kurz und gut, fie beförverte eine Gewöhnung und Ge-
ſinnung, die ven Schulmeifter als ſolchen kenntlich und oft nichts weniger als
beliebt madht. Daß fie auch die Entfcheidung für den Beruf in einem zu
frühen Alter nothwendig macht und den Uebergang in einen anderen Beruf
erfchwert, dient der guten Sache durchaus nicht. Unzufrievene, im Amte nur
die Äußere Verſorgung fehende, eigenfinnige, egeiftifche, lieblofe, ungeduldige
Elemente fünnen wir im Lehrerftande nicht gebraudhen; dagegen aber aud)
nicht foldhe, die ftets ihren eigenen Willen drangeben und allzubereit find,
auf höhere Weifung das sacrificio del intelletto zu Leiften, d. h. feine Charaktere
find. Bildet fih aber ver Charakter im Strom der Welt und in ber aus-
gleihennen Erwägung der eignen und fremben Intereſſen, jo erfcheint es
geboten, gerade denjenigen möglichft lange in folder Berührung mit der Welt
zu erhalten, ver mit helfen fol, Charaktere für die Welt zu erziehen. Kann
man aber mit ver Berufsbildung “nicht jo lange warten, bis fich die
ChHarafterbildung vollzogen bat, fo ſoll man wenigftens fo lange wie irgend
möglich warten und bas ivealere Intereffe einer geiftigen Gefammtbildung auf-
recht erhalten gegenüber dem Vordrängen einer ausſchießlich beruflihen Aus-
bildung, zu welcher legteren die Gegenwart fowiefo übermäßig neigt. Herbart
fagt an irgend einer Stelle jehr treffend: „Im höheren Reiche der Menjd-
heit dürfen die Arbeiten nicht bis zur gegemfeitigen Unkunde vereinzelt werben.
Alle müflen Liebhaber für Alles, Jeder muß PVirtuoje in einem Fache jein.
Die einzelne Virtuofität ift Sache der Willfür; hingegen die mannigfaltige
Empfänglichfeit, welde nur aus mannigfaltigen Anfängen des eigenen Strebens
entftehen fann, iſt Sache der Erziehung.“ Solche mannigfaltige Empfäng-
(ichfeit dem Lehrer zu erhalten und zu verſchaffen, ift von großer Wichtigfeit ;
pa jeine fpätere Berufsbildung aber einen jo großen Theil feiner geiftigen
und fittlihen Kräfte in Anfpruh nimmt, daß er für anvere Gebiete faum
noch viel übrig bat, fo ericheint es bedenklich, auch ned, dies Wenige ihm
vorzuenthalten. — Aber auch nod andere Momente ſprechen für die Berück—
fichtigung der Mittelfhulen für die Seminarvorbildung. Die durch fie ver-
mittelte Bildung braucht nicht um einen Grad ſchlechter zu fein als bie durch
Präparanden-Anftalten verſchaffte, da ihre Lehrer ganz gleihe Qualification
baben müſſen. Eher läßt fih nod annehmen, daß in den Mittelfchulen vie
einzelnen Fächer beijer vertreten fein werden, da das Lehrercollegium zahl-
reicher fein wird und dem einzelnen eine minder große Bieljeitigfeit zuge:
muthet zu werben braucht, fo daß er feine Fächer deſto intenfiver vertreten
fann. Für die Vertretung fogenannter ethifher Fächer wird vielleicht ein
Literat vorhanden fein. Der weiterführende Mufitunterriht wird nur au
die mufifalifch begabten, nicht an alle zu ertheilen fein und deshalb deſto
wirfungsvoller fein fünnen. — Daburd, daß die Anftalt einem viel weiteren
Kreife von Intereffenten dient, wird fie auch ein viel weitergehendes Intereſſe
und einen regeren Metteifer wacrufen, weldhe beide auf ihre Leiſtungen
heilſamen Einfluß ausüben fünnen. Kurz und gut: quantitativ und quali-
tativ braucht die Vorbildung der Mittelfchule gegen die ver ftaatlihen Prä-
paranden=-Anftelten nicht zurüdzuftehen. Es ift aber aud nicht zu fürchten,
daß fie weniger Zöglinge an das Seminar werde abliefern können, jowie
nur erjt befannt iſt, daß die Eeminare diefelben gern aunehmen. Sind bie
Mittelihulen, deren Bedeutung und Bedürfniß gegenwärtig ziemlich allgemein
anerfannt ift, erft im größerer Anzahl vorhanden, wie ih in Forderung 5
ausführte, etwa im jedem Kreiſe eine, fo werben felbe, auch ohne bejonvere
militärische Berechtigungen, ſtark bejucht fein. Zeigen ſich ihre Lehrer recht
eifrig und vermögen fie zu begeiftern, jo wird es auch wicht fehlen, daß fich
ungeſucht bei vielen ihrer Schüler die Neigung zur Wahl des Yehrerberufs
einftellen wird. Diefe Begeifterung bei Lehrern und Schülern zu nähren,
bat der Staat ja reihlihe Mittel und — thäte er nichts weiter, als daß
er die jehr erheblihen Summen, die er im einzelnen Bezirken ven Präpa—
randen-Anſtalten und einzelnen Bildnern zuwendet, auch für die Mittelfhulen
je nach ihren Leiſtungen flüffig machte, fo wäre mir nicht bange um reichlichen
Zuzug aud von diefen Anftalten. — Im Weiteren fönnten dann vie Mittel:
ſchulen aud eine fir vie Entwidelung der Schule und der Lehrerbildung jehr
heiljame Miſſion ausführen. Sie fünnten eine lebendigere Beziehung zwifchen
Seminar- und Bezirkslehrerſchaft herftellen, indem fie ala Mittelglieder zwifchen
beiven fungirten. Daß es daran noch jehr fehlt, ift außerordentlich zu be—
Hagen: von ihren früheren Zöglingen hören und jehen die Seminare höchſtens
dann etwas, wenn jene die zweite Prüfung ablegen ; jpäter bleiben vie früheren
3l
Schüler für das Seminar faft verfchollen. Die früheren jährlihen Schul-
bereifungen der einzelnen Bezirke durch die Seminarbirectoren haben faft
volftändig aufgehört und fo haben die Seminare gar feine Öelegenheit, bie
Früchte ihrer Arbeit ſich auch einmal in anderer Beleuchtung anzufehen. Das
it traurig genug, denn fie entbehren dadurch der Gelegenheit, entweder ſelbſt
über die Seminarzeit hinaus Anregung zu geben oder ſolche zu empfangen,
weil fie ja nicht zu fehen und zu hören befommen, was Lehrern ihres Be-
zirls north thut und was Überflüffig erjcheint. Hier könnten die Mittelfchulen
helfen. Sie haben einen Heineren Raum zu überfehen und bleiben vermöge
ter Schüler, die ihnen aus den verfchiedenen Schulen des Kreiſes überwiejen
werden, in fortwährender Beziehung zu dieſen Schulen; fie fünnten fih zu
Mittelpunften ver Kreisconferenzen und Freislehrervereine machen und An—
regung mannigfacher Art geben und empfangen. Daß letztere feine offizielle jet
und nicht auf Grund höherer amtlicher Autorität erfolge oder entgegenge-
nommen werbe, wird ihrer Wirkſamkeit nicht ſchaden, möglicherweife zu recht
wiligem Entgegenfonmen veranlaffen. — In demſelben Verhältniſſe nun wie
tie Mittelfchulen zu den Volksſchulen ihres Kreifes, ftänden die Seminare zu
ten Mittelichulen. Regelmäßige Conferenzen am Seminarort gäben Gelegen-
beit zu Meinungs und Erfahrungsaustaufch und zu wechjelfeitigen Anregungen
erfprielichfter Art. Die Seminare hätten beifpieläweife von Zeit zu Zeit
au die einzelnen Anftalten Mittheilungen zu machen über die früheren Zög—
Inge und deren Entwidelung während ihres Bildungsganges, während fie
ihrerfeits Aufjchlüffe über frühere Entwidelungs- Perioden erhielten. Daß
unter ſolchen Umftänden die gerechtfertigte Berückſichtigung der einzelnen In—
dividualitäten aufhörte Phraſe zu jein, und daß damit die Lehrerbildung einen
Schritt weiter vorzurüden im Stande wäre, will id hier nur andeuten.
Soll ih zum Schluß in gerrängtefter Weife das Ergebniß meiner Er-
örterung zufammenfaffen, jo wäre es folgendes:
Dem Seminarmußdurd Gewährung einerlängeren Bil-
dungszeit die Möglichkeit gegeben werden, feine in jelbit-
ſfändigen, aber aus der Bolfsjhule entwidelten, Anftalten
vorgebildeten Zöglinge zu Lehrern beranzubilden, die nit
blos in intellectueller und berufstehnifher Hinſicht,
jondern aud durch ihre fittlihen Eigenſchaften völlig ge—
eignet find zur Vollziehung des Dienfted der Liebe an der
Jugent. Das PBildungsziel der VBorbildungs-Anftalten wird
beſtimmt durh vie Anfnahme-Bedpingungen in's Seminar;
doch ift nicht das Beſtehen der Prüfung ein Beweis derguten
Borbildung, jondern die Bewährung im Seminar und im Amt.
1)
2)
3)
4)
5)
6)
7)
8)
Theſen,
die zur Discuſſion geſtellt werden können.
Das Seminar als pädagogiſche Fachſchule bedarf eines wenigſtens vier—
jährigen Curſus, deſſen erſte Hälfte der Ordnung, Ergänzung und
Vertiefung ber gewonnenen allgemeinen und für das Lehren unentbehr—
lihen Bildungselemente dienen müßte, während bie zweite Hälfte bie
jpeciell=- berufliche Ausbildung der künftigen Lehrer übernähme.
Die Aufnahme ins Seminar gefchieht nicht vor vollendetem 16. Lebensjahr.
Seine naturgemäße Grundlage bildet die Volfsfhule; doch find Zög—
linge anderer Anftalten, fofern fie fih in einer Aufnahmepritfung als
genügend vorgebilvet erweifen, nicht principiell abzuweiſen.
Die Zwiſchenzeit zwiichen dem Verlaſſen ver Volksſchule und dem Ein-
tritt ind Seminar wird benüßt zur Ergänzung und Abrundung ber
bisher gewonnenen Bildung in einer Fortbildungs- oder Mittelfchule,
die auch Gelegenheit zur mufifalifhen Ausbildung zu bieten hätte. Die
Aneignung des verlangten Wilfensftoffes muß bie felbftändige, bewußte
und eine Klare lleberfiht über das Gebiet befundende Verwendung
eſſelben verbürgen.
Da, wo gute Mittel» und Fortbildungsfhulen fehlen, fönnen im An:
ſchluß an beftehende Seminarien oder felbftändig befondere Vorbildungs-
Anftalten errichtet werben; doch wirb ausdrücklich dafür zu forgen fein,
daß dieſe Anftalten als Lehrziel die im Lehrplane ver Mittelſchule
geforderte allgemeine Bildung annehmen und nicht daſſelbe nur ben
zufälligen Eigenthümlichkeiten beftimmter Seminare anpaflen.
Weder ver Befuh der Mittelihule noch der einer Präparanden-Anftalt
entbindet ohne Weiteres von der Verpflichtung zur Ablegung einer be
fonderen Aufnahme» Prüfung; doch kann bewährten Anftalten, die gehörig
controlirte Abgangsprüfungen haben, das Recht zur unmittelbaren Ent:
lajfung ins Seminar als Vergünftigung zuerkannt werben.
Die Anftalten, aus denen Seminarzöglinge hervorgehen, erhalten von
Zeit zu Zeit niht nur Mittheilungen über ihre früheren Zöglinge,
jondern aud über die Bilbungserfahrungen, die an diefen gemacht worben
find. Dadurch werben Beziehungen angefnüpft, die durch gemeinfchaftliche
Eonferenzen und Befprehungen noch fruchtbarer ſich geftalten können.
Für die Unterftügung beſonders tüchtiger und würdiger Seminar:
Alpiranten während ihrer Lehrzeit gewährt ver Staat angemefjene Mittel;
Anftalten, welche ftet8 gut vorgebildete Zöglinge an die Seminarien ab-
lieferten, erhalten beſondere BVergünftigungen für Lehrer und Schüler.
— 8N—
Pädagogildhe Studien.
Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein.
16. Seft.
Welcher Antheil gebührt Staat, Schule und Haus
an dem Werke der Iugenderziehung?
Fin Beitrag
sur
Verftändigung über Prinzipien der Erziehung
mit Rüdjicht
auf das demnänft zur Beralhung kommende preußiſche Unterrihtsgefeh.
Non
Dr. Guflav Radtke,
Prorector an der Fürſtenſchule zu Pleß.
„Daf die Jugenderziehung die Hauptiorge für
den Geſetzgeber jein müſſe, darüber ift gar kein
Zweifel; und die Staaten empfinden die Vernach—
läſſigung derfelben zu ihrem Schaden.“
Aristot. Polit VIII, 1.
en Wien und Leipzig.
Verlag von U. Pichler's Witwe & Sohn.
ung für pädagogiſche Literatur und Lehrmittel » Anftalt.
Druck von Fiſcher & Wittig in Leipzig.
Seinem treuen Freunde
und
einigen Obergefelen am Gymnaſium zu Krotofchin,
Herrn Franz Wieländer,
Mberlehrer am Königl, Gymnaſium zu Schneidemähl,
widmet diefe Blätter in danfbarer Gefinnuna
der Berfaffer.
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Sieber Freund!
Als ich vor einem Decennium das Glück des perjönlichen Verkehrs
mit Div genoß, und Du ven braven Walter Berger, auf deſſen Hügel
jest Schon zum jiebenten Male vie treue Schweiterliebe friihe Blumen
planzte, und mich, uns Anfänger in der Lehrkunjt, Deiner Freundichaft
würdigteſt, erfuhren wir Jüngeren durch Dich gar manche werthuolle Förde-
rung jowohl in unferen wiljenjchaftlichen Studien als auch namentlich im der
Klärung und Feitigung unjerer pädagogifchen Grundfäge Wenn wir am
Nachmittage des legten Wochentages den traurig einförmigen Fluren Bojens
zu entkommen jtrebten und dem erften Grenzort im Lieben deutichen Bater-
lande, dem traulichen Freihan mit feinem verlafienen Schloß im Zopfitil
und feinen wenig gepflegten Parkanlagen, zuwanderten, da redeten wir
am liebjten von der Schule. Wie oft haft Du auf diefen Spaziergängen
in Deiner verföhnenden Art die Strenge und Herbheit meiner übereilten
Urteile gemilvert, wie oft meiner jugendluftigen doctrinären Neuerungs-
fuht ven Zügel Deiner Ueberlegtheit und der aus einer reichen praftijchen
Erfahrung gewonmenen Bejonnenheit angelegt !
Seitdem bin auch ich ruhiger geworden. Ob Du bei ver Lectüre
der nachfolgenden Abhandlung, die Dir meine herzlichiten Grüße vom
Fuße der Div wohlbefannten Beskiden überbringen joll, gleichfalls dieſen
Eindruck von mir gewinnen wirft? Du ſiehſt, daß die Materie, die vor
Jahren unferen Unterhaltungen jo oft zu Grunde lag, mich noch immer
beichäftigt. Der Schmerz, jehen zu müſſen, wie viele Kinderſeelen theils
durh faliche Behandlung im häuslichen reife, theils durch Directe
Vernachläffigung feitens der Eltern wenn nicht geradezu fittlich zu Grunde
geben, jo doch ven Adel der Seele einbüßen, jo daß fie ver Wilfenjchaft,
dem Baterlande und ven Idealen verloren. gehen, hat durch die Yänge
der Yahre, in denen ich jolche Erfahrungen mache, noch Nichts von feiner
Schärfe verloren. Und als vor jechs Jahren jene Briefe über Berliner
Erziehung erichienen, welche wir feiner Zeit in brieflichem Gedankenaus—
tauich bejprachen, wurde mir immer flarer, daß bier in ver That eine
wunde Stelle in unferem Volfsthum liege, daß aber eine Heilung nur zu
finden jei, wenn der Staat jelbit nicht nur den Unterricht, ſondern auch
die Erziehung des heranwachſenden Gejchlechtes unter feine Aufficht nehme.
„Zur Abwehr gegen Frankreich“ jchrieb unſer Berliner College jeine
Briefe. Zwar nicht um die Abwehr eines mit den Waffen in der Hand
vI
geführten Angriffs handelt es fich, wohl aber darum, dag der won Franf-
reich nach Deutjchland mehr und mehr übergreifenden Vergnügungsjuct
bei Zeiten entgegen getreten werde. Wer das Volk bei feinen National-
fejten, twer die Jugend bei ihren Beluftigungen ftill beobachtet, dem kann
e8 nicht entgehen, daß die Unbefangenbeit eines kindlichen Lebensgenuſſes
verſchwunden ift, daß dagegen in erfchredendem Make die Zahl derer
wächft, venen das Vergnügen, und zwar gerade das grobfinnliche, das be-
wußte Endziel alles Strebens daritelft.
In diefer Erfeheinung tritt uns nicht eine Krankheit, wohl aber das
Symptom einer ſolchen, und zwar einer bevdenflichen entgegen. „Nach Ver-
gnügungen jagt der Menſch“, jagt irgendwo E. M. Arndt, „ber feine
Freude hat.“ Wir, denen ſich die Eehnfucht vieler Generationen unſeres
Volkes jo wunderbar erfüllt hat, die e8 erleben durften, daß unfer jo
lange von den Nachbarn verfpottetes Vaterland fich zur eriten Macht ver
Welt erhob, jollten feine Freude haben? Und doch iſt e8 im Wahrheit
jo. Wohl ward unmittelbar unter dem wuchtigen und überwältigenven
Eindruck der großen Creigniffe fo Mandem das Wort Hutten’s auf die
Lippen gelegt: „OD Jahrhundert, e8 ift eine Luft, in dir zu leben!“ Und
wie von Plato Yactantius berichtet, daß er den Göttern dankte, in Athen
geboren zu fein, nicht unter den Barbaren, fodann dafür, gerade zur Zeit
des Socrates zu leben, jo mag damals wohl Mancher von zwiefachem
Danke gegen die Vorfehung erfüllt gewejen ſein, daß feine Wiege in
deutſchen Landen gejtanden hat, und dann, daß er den Aufichwung des
deutjchen Geiftes erleben durfte. „Aber jene Töne“, jagt W. Baum—
garten in feinen „Kirchliche Zeitfragen“ (Roſtock 1874), „welche den
Grund der Seele erfaffen und himmelan heben, wie die deutjche Nation
fie in den Zeiten der fFreiheitfriege vernommen“, die find dies Mal
ſchnell verflungen ; man hört fie längft nicht mehr. Und woher dieſes
raſche Herabinfen von der Höhe einer großen und jo berechtigten Be—
geifterung? Liegt der Grund wirklich nur, wie man fich jo gern jelbit
iiberreden möchte, in der wirthichaftlihen Calamität der legten Jahre?
Aber was bat doch die jtudirende Jugend mit der Gefchäftsitille und dem
Rückgang ver induftrielfen Unternehmungen zu thun? Trotz ver jtatt-
gehabten Erhebung des deutjchen Volksbewußtſeins zeigt dieſe, im welcher
fih ja wohl vie Blüthe des nationalen Lebens und der Volkskraft, wie
einft nach den Freiheitsfriegen in der frommen und von idealen Strebungen
getragenen Burſchenſchaft, abjpiegeln jollte, gar wenige Ausnahmen ab-
gerechnet, einen nur zu bezeichnenden Mangel an Begeifterungsfähigfeit.
„Es ijt die allgemeine Klage ver Schulmänner, — ich brauche die Worte
Baumgarten’8 — daß die Knaben an Zertreutheit und Schläfrigfeit
leiden, und an drei Hochſchulen haben drei hervorragende Lehrer im bei
letzten Jahren öffentlich fich beſchwert über Schlaffheit der academifchen
Jugend." Nach Vergnügungen eilen fie alle, aber jo raffinirt viefelben
fein mögen, fie fchaffen ihnen feine Freude, feine Erholung. Die über
jättigten Knaben amnticipiven die Genüffe der Jünglinge, dieſe im ihrer
Blafirtheit die der Männer, — und doch die Herzensfreude bieibt fern
von Beiden. Bald werden fie gleich jenem Perferfönig eine Belohnung
dem ausfegen wollen, ver ihnen ein neues Vergnügen erfände.
vo
Diefe Signatur der heutigen Zeit darf der Patriot, darf der rechte Lehrer
des Volkes nicht aus dem Auge verlieren. Sind wir nicht im Stande, dieſem
ſaft- und fraftraubenden Mehlthau der Vergnügungsſucht entgegenzuwirfen,
jo wird bald die allgemeine Stimmung flügellahm und dem Staube zuge:
wendet erjcheinen. Ja mehr noch! Die Vergnügungsfucht birgt die
ernfteften Gefahren für ven Beftand ver Nation. ALS der Römer Fabricius
von Cineas, dem Höfling des Königs Pyrrhus, vernommen hatte, e8 lebe
in Athen ein Mann, der als Weifer gelten wolle und der die Lehre auf:
itelle, man müjje alles, was man thue, des VBergnügens halber thun, da
je! er dem Wunjche Ausdruck gegeben haben, daß doch die Sammiten
und Pyrrhus ſelbſt dies als Wahrheit annehmen möchten, denn dann würde
der Sieg über fie um jo leichter zu erfämpfen jein.
Aber wie it zu helfen? Wo iſt die Wurzel diejes Uebels? Baum:
garten jagt richtig: „Der legte Grund liegt darin, daß der Verkehr der
Volfsjeele mit ihrem Gott, dem ewigen und einigen Urquell aller unferer
Freude, jeit lange gehemmt ift. Die ftaatsfirchliche und die Firchenftaatliche
Anftalt, diefe beiden verweltlichten Prieiterinnen, anjtatt das heilige Zwie—
geipräch zwilchen Gott und dem Volk zu vermitteln und zu pflegen,
bemmen dajjelbe durch ihr unendliches Formel- nnd Geremonienwefen. Fort
mit dieſem falſchen Priefterthum, und es wird in den Seelen wieder an—
gefaht die Glut der wahren Andacht, und vom Himmel ber wird wiederum
in den Grund der Herzen die Fülle der Freude fih ergiegen. Erſt in
der Volkskirche, welche Luther's tieffinniges Wort: „Gott und Wolf find
Correlate“ wahr machen wird, wird die wahre chrijtliche Freubigfeit geboren,
welhe die Bolfsjeele mit einer jchöpferifchen Kraft der Begeifterung
ausrüjtet“.
Die evangelifche Kirche in Preußen hat nun eine Berfaffung, die uns,
jo Gott will, diefem Ziele immer näher und näher zu kommen gejtatten
wird, Aber joll deshalb der Lehrer, der die Verantwortung für die rechte
Erziehung des heranwachjenden Geſchlechts trägt, diefe Zeit unthätig er-
warten, in der die Väter ihre Söhne wieder auf den Grund hinweijen
werden, auf dem wahre und unvergängliche Freude erblüht? Ach, dieſe
Zeit Scheint zudem noch fern. Denn |
Was einft Trojt und Heil den Maffen,
Ward zur Sabung dumpf und ſchwer;
Diefer Kirche Formen faſſen
Dein Geheimniß, Herr, nicht mebr,
Taufenden, die fromm dich rufen,
Weigert fie den Gnadenſchooß:
Wandle denn, was Menſchen jchufen,
Denn nur du bift wandellos,
Aus den dunkeln Schriftbuchſtaben,
Aus der Lehr' eritarrter Haft,
Drin der beil’ge Geift begraben,
Yaß ibn auferftebn in Kraft!
Yaß ibn übers Rund der Erde
Wieder flutben frob und frei,
Daß der Glauben Yeben werde
Und die That Belenntniß fei!
vIni
Flammend zeug’ er, was vereinigt
Einſt der Boten Mund getönt,
Wie's vom Zeitlihen gereinigt,
Sich dem Menſchengeiſt verſöhnt;
Zeug’ er, bis vor folder Kunde
Jede Zweifelftimme ſchweigt,
Und empor vom alten Grunde
Frei die neue Kirche ſteigt.
Wir Lehrer wollen dem vorſichtigen Arzte gleich auch Prophylaxe
treiben. Es gilt, ven Knaben und Züngling zu hüten, damit er nicht
auf jene abſchüſſige Bahn gerathe, die jählings abftürzt, auf ver es feinen
Halt mehr gibt; e8 gilt, den Menfchen glei) von Jugend auf dazu
anzuleiten, daß feine Freude und fein Echmerz fih an ven rechten Gegen-
jtänden erweiſe; denn das ift nach Plato und Ariftoteles die wahre Jugend—
erziehung (Plat. leg. II p. 653, Steph. p. 232, Bekk. Aristot. Nie.
Eth. U, 3, 2); es gilt, in unjerm Volfe, das ji von der grauen Vor—
zeit ber des Rufes eines warmen Herzens erfreut, die ‚Flamme der Be-
geifterung für alles Hohe, Schöne und Heilige lebendig zu erhalten. Dazu
ift freilich nöthig, das die Schule ein erweitertes Feld und umfaſſendere
Rechte für ihre Wirkjamfeit erhalte. Daß ich hierbei auf Widerſpruch
jtoßen werde, weiß ich. Der liberale Diefterweg (Päd. Wollen und
Sollen, 2 Aufl. 1875, S. 233) und der orthodore Palmer (Ev. Schulpäd.,
Stuttg. 1853, II, p. 57) find darin einig, daß die Erziehung der Rinder
ein Haußsrecht jei, in das der Staat nicht dreinreden dürfe Aber das
fann mich in meinem Borjchlage nicht irre machen. Denn eimerjeits
haben jene beiden Pädagogen eine Auffaffung vom Staate, welde die
unjrige nicht mehr jein kann, andrerjeits gebietet die Selbfterhaltung, Das
väterliche Necht injoweit zu beichränfen, daß der aufwachſende Eohn in
ven Stand gejegt werde, die Aufgaben zu löfen, die der Staat ihm ſtellen
muß. Schleiermacher wenigitens, deſſen patriotifches Herz von hoher Be-
geifterung für das Ideal des Staates erfüllt war, fennt einen Fall, in
dem der Letztere fih um die Erziehung zu kümmern bat. Er jagt in
jeiner Grziehungslehre, S. 528: „Der Staat kann einen thätigen Antheil
an der Erziehung des Bolfes nehmen, wenn e8 darauf anfommt, eine
höhere Potenz der Gemeinjchaft und des Bewußtjeins derjelben zu jtiften.
Iſt das gejchehen, jo gibt er fie in die Hände des Volfes, d. h. an Die
Gemeinden, an die Communalverfafjung zurüd, die durch ihre Gemein-
ihaft mit der Kirche und den wiljenjchaftlihen Verein, deſſen Glieder
durch ſie zerjtreut find, auch intellectuell belebt wird.“ Siehe zu, lieber
Freund, ob e8 mir, dem Du einft zum Studium Schleiermacher’8 energijch
zuredeteit, gelungen ift, in den folgenden Ausführungen diefen Standpunft
Deines Philofophen feitzubalten! In treuer Liebe
Pleh, im Wonnemonat 1877.
Dein
Radtke.
Inhaltsangabe.
I} Die Wandelung in der Auffaffung der Rechte des Staates —— dem —
Einzelnen in unſerem Jahrbundert . . .. Er tr >
!) Die Entwidelung der deutſchen Schule zur Staatsfchule EEE 4
y Yoderung des Bandes der Familie in dem ſich vervollfommmenden Stantswefen.
Familien und Staatserziebung -. -. » = 2 > 2 2 en nn nee. DB
4) Die heutige Familienerziebung . . . u
) Die Nothwendigkeit einer ftaatlichen Benuffictigung ber Binberm; —— re:
h Die Organe des Staates bei dem Wert der Erziebung . . . . — ——
‘) Bon den Mitteln der Erziehung, beſonders in den höheren Sehranftalten, Die
—
>) Zufammenftellung der Srundfäge der Sriiebimg, die in — ——
Unterrichtsgeſetz Aufnahme zu finden verdienen. » 2 2 2 2 nenn.
29
Radtte, Welcher Antheil x. 1
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1
Die Wandelung in der Auffafung der Rechte des Stantes
gegenüber dem Einzelnen in unferem Jahrhundert.
Ber Sturm» und Drangperiode, die ſich im vorigen Jahrhundert auf
dem Gebiete unjerer Yitteratur abjpielte, folgte in unferem Zeitalter eine Sturm—
und Drangperiode auf dem Gebiete des üffentliben Yebens. Wie Die evftere
gerade dadurch, Daß fie mit der Tradition des Zopfes bredend die Feſſeln
jener erjtarrten Gejege, die bis dahin gegolten, abftreifte und für das Subject
eine jchranfenloje Freiheit in Anſpruch nahm, aus ihrem Schooße Die zweite
Blüthe unjerer Yitteratur gebar, weldye bei aller Wahrung der der Genialität
und der Originalität zufommenden Freiheit doch die Geijter wieder in die
Bahn der Regeln lenkte, freilich der auf geläutertem Geſchmack gegründeten
und aus dem Studium der alten Klaſſiker gefchöpften und zu klarem Bewußt—
jein gebrachten Regeln, jo haben vor ven Augen der Zeitgenofjen die revolu—
tionären Beitrebungen in der Politif einen ähnlichen Prozeß durchlaufen und
ein ähnliches Reſultat in unſeren Tagen gezeitigt.
Wenn hierbei nun auch ımleugbar die Heldenthaten unferes Volkes in
ven legten Kriegen, die Befreiung dejielben von den das Recht ver Selbit-
beitimmung beſchränkenden Einflüſſen der Nachbarn und vor Allen die Wieder—
aufrichtung des deutſchen Reiches als die greifbarften Zeichen ver neuen Zeit
in die Augen jpringen, ſo find dieſe Thatſachen doch für den tiefer im die
Betrachtung der zeitgenöjfiichen Geſchichte eindringenden Forfcher eben nur Die
nothwendigen Folgen der inzwiſchen erfolgten Veränderung Des geſammten
Voltsgeiftes. Dieje Umgeftaltung hebt mit dem Befreiungskampfe im zweiten
Decennium unjeres Jahrhunderts an; ihre Spuren verfolgt man dann im Der
anfänglich noch wirren Oejtaltung des nationalen und freiheitlichen Gedanfens
in der Burjchenjchaft, bis dann der neue Geiſt in der Mitte unferes Säeu—
ums in wilder Leidenschaft ausbricht, in der Folge aber durd heilſame ſtaat—
lie Einrichtungen auf ein berechtigtes Gebiet gelenkt wirt, um ſich bier zum
Frommen der Nation thätig zu erweilen. Denn wahrlid, der Segen ber
— Gott Yob! — überjtandeneit politiihen Sturm: und Drangperiode zeigt
ſich nur mittelbar in den Waffenthaten und im der jegigen achtunggebietenden
Stellung unjered Volles nah aufen bin; er liegt vielmehr darin, daß ſich—
ans ihr heraus der einft verpönte Gedanke der Stantegewalt, oder, wie
die Gegner der heutigen Entwidelung fingen, der Omnipotenz des Staates,
s 1*
2
philoſophiſch geſprochen, des Vorrechtes ver Allgemeinheit vor den Sonderinter—
eſſen der Einzelnen geftaltet bat.
Denn wenn nad Hegel jedes Kulturvolf, bevor es zur Yöjung feiner
eigenthümlichen Aufgabe fommt, die Stadien der früheren Kulturvölfer zu
durchlaufen hat, jo iſt es feine Bhraje, wenn wir behaupten, daR die Deutfchen
int Yaufe des gegenwärtigen Jahrhunderts aus Hellenen zu Römern geworden
find, d. h. daß wir ums aus dem politifchen Nihilismus, dem Kosmopolitismus,
zu dem pofitivften Patriotismus und aus einem weſentlich fpeculativer Arbeit
zugewenveten Bolf zu einem energijchen und praftijchen herausgearbeitet haben.
Diefe Umwandlung im Einzelnen zu verfolgen, bietet hohes Interefje, Liegt
aber doch zu jehr außerhalb des Rahmens unferer gegenwärtigen Betrachtung.
Dennoch iſt das Factum jelbit für die Grundauffaſſung der hier zu behandeln-
den Frage nad den Umfange, in dem ver Schule, d. bh. dem vom Staat
beauftragten Inftitut, die Aufficht über die Sitten des heranwachſenden Ge—
ſchlechts und deren Erziehung obliegt, jo wichtig, daft Ausgange- und Entpunft
jener Entwidelung einer kurzen Charafterifirung wohl werth erjcheinen.
Nod vor zwei Menjcenaltern nannte ein tiefjinniger Kenner des Alter-
thbums, der alte Jacobs, Deutſchland das moderne Griechenland. Und mit
Recht. Auf allen Gebieten des geiftigen Lebens und Strebend trug unfer
Bolf die Signatur des griechiſchen Charakters mit allen feinen VBorzügen,
namentlich aber auch mit allen feinen Schwächen Ich will nicht erjt von Der
damaligen politiichen Zerriffenheit in unzählige Staaten und Staatchen, won
ver Zerflüftung im faftenartig gejchiedene Stände und Barteien reden, jo ſehr
aud gerade dieſe Züge an das Hellenenthum erinnern. Jene ſchamloſen Ber—
räthereten innerhalb der Bürgerichaften von Speyer, Worms und Frankfurt a / M.
und jener offene Abfall der Stadt Mainz zu den Franzofen gegen Ende Des
vorigen Jahrhunderts, Die Sympathien jo vieler Teutjher für die franzöfifche
Revolution und jpäter fir Napoleon I. find getrene Abbilder der ſchändlichſten
Ausſchweifungen des griechiſchen Particnlarismus, haben aber in der Gejdichte
feines andern Volkes ein Analogen. Ferner „entgegen der Erfahrung, Daß
entjcheidende Ereignifje der Weltgejchichte Der überwiegenden Mehrheit des
zunächit betroffenen Volkes dieſelbe Richtung verleihen, jah man vordem bei
den Deutſchen wie einft bei den Griechen über die Hauptmwendepunfte ihrer
Geſchichte die tieffte Meinungsverjchtedenheit. Soll ich fie aufzählen? es iſt
eine Lange Reihe! Ueber den Urfpruug des deutſchen Reiches, über vie
Natur der Kaifergewalt, über die deutſchen Kämpfe in Italien, fiber den Segen
oder Unjegen der Hausmächte, über die Neformatien, über den dreißigjährigen
Krieg, Über Friedrih den Großen und den fiebenjährigen Krieg, über Oeſter—
reihs Reformverſuche im 18. Jahrhundert, über jeine Rejtaurationspolitif
im 19., über Preußens Beruf in Deutſchland, über Defterreihs Stellung zu
beiven waren die Deutjchen völlig getheilter Meinung. Dafür gelten wir
jreilih, wie ebenfalls die Griehen, als das Denfer- und Dichterwolf xeer’
2Eoyyr. Cine Nation von Denfern und Dichtern — dem Auslande unge:
führlidy, zufrieden mit dem Looſe des Poeten in Echillers Gedicht.“ *) Dieje
*) Morte Trauttwein’s von Belle aus deffen Abhandlung „Deutiche Einheit und
deutſche Uneinigfeit. Eine zeitgenöſſiſche Studie“ in der deutſchen Bierteljabrszeitichrift
1869, Heft 1,p. I. Daß ich jedoch die weiteren Ausführungen diejes Auffages mir
nicht zu eigen mache, darf ich wohl nicht erſt verjichern.
3
doctrinäre Beanlagung, diefe Ideologie unferer Nation erfüllte fie durch alle
Stände hindurch mit tieffter Verachtung gegen Praris und Politif, Nur zu
wahr bezeichnete Yichtenberg jeine Yandsleute mit dem bekannten Ausfprud :
„Der Charakter des Deutſchen liegt in zwei Worten: patriam fugimus,“
Aus Luſt am imtellectueller Thätigfeit trieben wir Kunſt und Wiffenjchaft,
aber jede Art praftifcher Berwertbung, auch im Dienjte des VBaterlandes, hätte
ald Entweihung ver Würde „ver ſchönen Künjte und Wiſſenſchaften“ gegolten. -
Tiefe letzteren und das öffentliche Yeben wandelten auf ganz getrennten Bahnen,
Wohl conftruirten unjere Bhilofopben auch Stantöverfaffungen, aber wenn man
dieje hätte im Ernft in die Praris irgendwo übertragen wollen, jo würden fie
wohl wie Plato in dem gleichen Falle von einem ſolchen Unternehmen ſelbſt
in aller Harmlofigfeit abgerathen haben. Die Goethes und die Schillers,
die Humboldt's und die Hegel’s, die Winfelmann’s und die Wolf’s, von den
Epigonen gar nicht zu reden, fühlten fich als Gelehrte hoch über die fejleln-
den Grenzen der Nationalität erhaben. Sie wollten viel mehr Menſchen und
Veltbürger als Deutjche jein. Und in folhen Auffaffungen wurde nun aud)
die Jugend groß gezogen. Noch in den vierziger Jahren ftellte ein jehr ge:
tebrter Philolog jeinen Secundanern als Thema zur Bearbeitung: Preis des
Kosmopolitisinus; die Schitler waren angewiefen, das befannte Wort des So-
frates, mundanum se esse, zu verherrlichen. Dafür begehrte nun freilich Jeder fo
viel perfönliche Freiheit fir fich, als kaum mit dem Weſen eines Staates verträg-
lih war. Das Jade Auwoas galt jedem Familienvater, befonders aber den
doctores umbratici, die Manche heute jehr zur Unzeit in ven höheren Schulen
gern wieder erwedten, ald wirkffame Beihwörungsformel gegen die Störungen
des öffentlichen Yebens und als die wahre Grundlage zu jeder Glückſeligkeit,
ter epicureifchen wie der ſtoiſchen.
Und nım in der aus ſolcher Schulweisheit und ſolcher Kamilien-Erziehung
berausgewachjenen Generation weld’ völlig andere Geiftesrihtung! An die
Stelle der Hinneigung zur Speculation und zur Geſtaltung leerer Phantaſie—
gebilde ift auf jedem Gebiete des deutſchen Volksthums nüchterne, praktiſche,
energiiche Arbeit getreten. Neben hervorragender Intelligenz findet der eijerne
Bille berechtigte Anerkennung. ° Die kosmopolitiſchen Träumereien find einem
entbufiaftifhen Patrtotismus gewichen. Das in beichränftem und egoiſtiſchem
Selbitfinn erfaltete Einzelftreben ift in warme Begeifterung für das Allgemeine,
in Luſt am Schaffen und in opferfrendiges Wirken für die weiteren und
böheren Intereflen des deutjchen Vaterlanves übergegangen. Auch bei ung er:
fennt man jeßt wieder nach den Morten des genialen Hiſtorikers Treitjchfe
an, daß es außerhalb der Nationalität weder Kımft noch Wiſſenſchaft noc
irgend welches geiftige Yeben gebe. Dieſe letzteren find ſich jest durchweg
ihrer Verpflichtung, für das Volkswohl zu forgen, bemußt, und ihre Träger
wollen fich nicht mehr, wie ehedem, in ein einfeitiges und unfruchtbares Studium
verlieren, fie betrachten es vielmebr als ihre erſte Aufgabe, an der Förderung
des Volksthumes nah Maßgabe ihres Vermögens mitzuwirken. Welche Kräfte
nım thätig geweſen find, um viefe Umwandlung zu Wege zu bringen, läßt
fi nicht in wenig Worten darthun. Aber den einen Hinweis vermögen wir
nicht zu unterdrücken, nämlich den, daß es der preufiiche Geiſt gewejen tit,
der jo Großes gewirkt hat. Durch Friedrich Wilhelm den Erjten, den ftrengen
Zuhtmeifter der Preußen, der nah Droyjens ebenjo gründlichen wie -geijt-
4
vollen Unterfuhungen jetst endlich neben jeinem großen Sohne und Nachfolger
geblihrend gewürdigt wird, iſt dieſem Volk jenes Pflicht: und Ehrgefühl bis
ins Marf eingepflanzt worden, das dann der tiefe Denfer von Königsberg im
ein philoſophiſches Syſtem brachte. Hier find die Wurzeln der Neugeftaltung
des deutſchen Lebens. Die Thaten des großen Friedrich, dann die Nieder-
lagen bei Jena und Auerftädt, die Stein'ſche Geſetzgebung thaten das Ihrige
zu deſſen Erjtarfung. Und als nun aud in der Fitteratur mit Klopftod und
Yeifing, mit den Sängern der Freiheitöfriege und mit den ſchwäbiſchen Dichtern,
in der Philoſophie mit Fichte und Schleiermader eine nationale Richtung
durchbrach, da war die Grundlage für das neue deutſche Volksthum geihaffen.
2)
Die Entwickelung der deutſchen Schule zur Staatsſchule.
So wird denn auch unfere Pädagogik mehr und mehr eme nationale,
Nichte hatte die Schule in dieſe Bahn zu bringen getracdhtet, indem er als
oberfte Aufaabe aller Erziehung die binftellte, in allen Herzen die wahre und
allmächtine Baterlandsliebe, den Enthuſiasmus für das Allgemeine zu entzinden.
Als nah dem Freiheitsfriene Das Bedürfniß gefühlt wurde, an die Stelle Der
vielen verfchiedenen und zum Theil unter fich entgegengeſetzten Beſtimmungen
über den Bolfsunterricht, Die in den einzelnen Theilen der preußifchen Monarchte
in Geltung waren, eine allgemeine Schulordnung zu ſetzen und dadurd Die
nationale Einheit bauen zu belfen, wurde von dem Minifter von Altenftein der
Staatörath Süvern mit der Ausarbeitung eines Promemortas betraut. In dieſem
finden wir die Nationab- Iugenverziehung bereits feiter ins Auge aefaht. Es
beißt dort: „Jeder Staat wirft durd feine ganze Berfaffung, Geſetzgebung
und Berwaltung erziebend auf die Bürger ein, ift aewiffermaßen eine Erziehungs—
Anftalt im Grofen.... Geſetzgeber und Lenker der Staaten, welde Dies
erkannt, ſahen zugleich ein, daR zu einer folden Nationalerziehuma im Großen
die National= Jugenderziehung vorbereiten und des ganzen Werfes Grund legen
müſſe.“ Der nationale Aufſchwung der Freiheitskriege Mingt bier noch mächtig
wieder. In den fpäteren Zeiten ward jenes Ziel mehr und mehr aufaeneben.
Erft ſeit dem Wiedererftehen des deutſchen Neiches ertönt der Ruf nadı nationaler
Erziehung, der jo lange verſtummt war, wieder lauter und lauter und it jeßt ein
allgemeiner geworden. Aber wenn dies jo berechtigte Streben fein Ziel gewinnen
joll, jo muß auch die Schule felbit, die höhere wie Die niedere, eine nationale
Anftalt werden. Das Eine iſt in meinen Augen ein nothwendiges Complement
zum Anderen, die Staatsſchule die anders nicht zu erfegende Grundlage für
eine gedeihliche Thätigfeit der Lehrer im nationalen Sinne. Die Schule Darf
nicht mehr gang oder auch nur theilweiſe im Auftrage der Familie wirken, mie
Hegel will, auch nicht communales Inſtitut, wie vielfach heut zu Tage der Raul
ift, nod weniger kirchliches fein, fie muſt durch Staatsgeſetze organifirt, Die
Lehrer müſſen ftaatlih autorifirt, eine gewiſſe Mitwirkung aber ver Namilie,
der Gemeinde, der Kirche unter ftaatliher Aufſicht gefeglich gemährleiftet fein.
In Preußen ift die Schule, eigentlich von jeher eine ſtaatliche Einrichtung,
wenn auch Die facttichen Berbältniffe diefen Charafter derjelben vielfab und in
den verjdiedenen Zeiten bald mehr, bald weniger verbuntelten.
>
Schon Karl der Große, der bei der Gründung feines Reiches überall mit
jo glücklichem Tacte und mit jo Elarem Verſtändniß für das, was einem Staate
Noth thut, werfuhr, machte die von ihm geitiftete Schule zur Stantsanftalt.
Durch Einführung eines gewiſſen Schulzwanges gab er dieſem Inftitut eine
gejeglihe Grundlage. Dem Geifte dieſes vortrefflihen Fürſten ſchwebte eine
allgemeine Bolksbildung vor. Denn er begriff wie Kemer vor ihm, Wenige
nach ihm, welche Schätze in dem beutichen Volksgeiſt ruhten. Da er aber, wie
noch mehr jeine Nachfolger, ſich genöthigt ſah, als Lehrer Geiftliche anzuſtellen,
jo geichab, was aud in der Folge immer wieder eintreten mußte, jo oft auch
energiſche Staatsmänner die Schule als Staatsinſtitut in Anſpruch nahmen,
daß nämlich bei dem Mangel eines eigenen Yehrerftandes jich die Kirche der
Erziehung der Jugend bemächtigte.*) Die Klofter- und Domjchulen des Mittel:
alters trugen fo gut wie Nichts von ftaatlihen Charakter. Ihre Aufgabe
beitand ja auch hauptſächlich fur darin, für den geiftliben Beruf vorzubilven,
wiewohl ja auch einzelne adlige Kinder im ihnen Bildung juchten, die nicht
tem geiftlichen Amt ſich widmen wollten. **) Yuther ***) war ver Erſte, der
die Schulen ausprüdlich als nicht blos kirchliche, jondern zugleih auch ſtaat—
lihe Einrichtung aufgefaßt wilfen wollte. „Man fann die Schulen“, jagt er
ein Mal, „nicht entbebren. Wenn die Fürjten die Unterthanen zwingen können
auf die Mauer zu fteigen und zu ftreiten, um wie viel mehr jollen die Obrig-
teiten nicht die Schulpflicht einführen?“ Unbewußt gebt er damit auf den
Standpunft Karl’s des Großen zurüd. Doch jtrebt er injofern weiter denn
diefer, als er den Schulzwang auf die Mädchen ausgedehnt wiffen wil. Die
*) Habn, Geſch. Des Unterrichtsw,. in Frantreidh I, S. 13. „Nachdem aber die
Schwäche der Nachfolger Karl’s des Gr. die letsten Ueberreſte feiner koloſſalen Röntas-
macht batte dabinichwinden laffen, nachdem die öffentliche Gewalt geſchwächt und ae
theilt aus den Händen des Königs in Die der Yebensritter berabgefallen war, blieb
die Geiftlichkeit Sange Zeit in faſt unumſchränktem Befite des Bffentlichen Unterrichts,
deffen Pilege ibr Karl der Gr. nur unter ferner Oberbobeit anvertraut batte, Seit
tem 10, Rabrb. fam das Recht der Staatsgewalt über den Unterricht in VBeraeflenbeit,
um während mebr als dreier Jahrhunderte der ausſchließlichen Gefeßgebung der Biſchöfe
und Päpite Blat zu machen. “
**) Vergl. u A. Juſt, Zur Pädagog. des Mittelalters, Heft 6 dieſer Pädag.
Studien. 4.
wu a auch ſchon lange wor Putber’s Mahnung einzelne deutiche Städte, wie
Heidelberg, Pübel, Hamburg, Breslau, Yeipzig, Braunſchweig, Lüneburg, Roftod,
Greifswalte, Stettin, ja auch Fleinere wie Goldberg 1/Scht., um dem in allen Ständen
Mmals erwacten Bildungsbedürfnik zu entiprechen, Schufen ins Yeben riefen, tt be
kannt. Ja in Nürnberg bildeten die Schullchrer ſchon eine Zunft. In biefen Grün—
dungen iſt allerdings die Wiege der Vollsſchule zu ſuchen. Aber vor Luther waren
dieſe Yebranftalten, wenn gleich Die Magiftrate mit Schulmeiftern Contracte abſchloſſen,
bob nur Unternebmungen privaten Charakters. Wie der Krämer, jo lud aud ber
Lehrmeiſter“ Durch ein Aushängeſchild (ſiebe Fechter, Geſchichte des Squweſen⸗ in
Baſel bis zum Jahre 15809, S. 26) zum Beſuch ein. Erſt mit dem von Luther auf
geſtellten Prinzip der Schulpflicht ward ber eigentliche Grund der Volksſchule gelegt.
Wenn Palmer (ev. Pädag., Stuttg. 1853, Il, ©. 27) berichtet, daß die Lehrer an diejen
Schnien ftets Kleriker waren. und nur einen Ausnabmefall kennt, wo ein Mediciner
als S Schulmeiſter berufen wurde, fo iſt zu bemerken, daß dieſe Ausnabıne doch nicht ſo
ſelten geweſen zu fein ſcheint. Wenigſtens weiſt Die Reihe der Nectoren ber jüngſt auf—
aelöiten, ebemals fo beriibmten lat. Schule in Goldbera innerbalb des 1. Jabrhunderts
ibres Beftebens zwei Mediciner auf. Vergl. meinen Aufſatz über dieſe Schule in ber
Zeitſchrift von Fledeifen-Maftus, Jahrg, 1877, September- Heft.
6
proteftantiichen Firften und Städte folaten befanntlich mit einer bemunderungs-
würdigen Opferfreudigfeit vem Mahnruf des Reformators, überall Schulen zu
gründen. Die furfächfifche Kirchenordnung vom Jahre 1580 ordnet an, daß
wo in den Dörfern nod feine Schulen fir die Kinder „ver arbeitenden Yeute“
errichtet wären, mit deren Eröffnung alsbald vorgegangen werben folle „mach
Kath der Erb- und Gerichtöherren“. Die Idee der deutſchen Bolksihule wird
dann von Comenius weiter ausgeführt. Alle Knaben, ohne Ausnahme, auch
die, welche das Studium ergreifen follen, will er durch die ’allgemeine Bolts-
ihule hindurchgehen laſſen, für die er jie vom vollendeten fechiten bis zum
zwölften Yebensjahre in Anſpruch nimmt. Und in praftifber Durchführung
zeigt fich diefe Idee von der Mitte des 17. Jahrhunderts ab in dem Herzog:
thum Gotha, wo nad einem damaligen Sprichwort die Bauern nelehrter waren
als anderswo die Städter und Evelleute. Nach dem Schulmethodus des Herzogs
Ernft L, Gotha 1642, gehören alle Kinder, Knaben und Mädchen, in Dörfern
und Städten, jobald fie das fünfte Jahr zurücdgelegt haben, Sommer und
Winter der Schule, in der tüglib 3 Stunden Bor: und 3 Stunden Nach—
mittags unterrichtet werden ſoll; nur Mittwoh und Sonnabend find die Nach-
mittage frei. Den armen Schulfindern hat die Gutsherrichaft umſonſt Das
„Syllaben- und Yejebüchlein“ zu geben. Schulverſäumniſſe aber werden Seitens
der Eltern durd Geldſtrafen gebüßt.
Aber vor Allen haben die Hohenzollern von Anfang an aud auf Dem
Gebiete der Schule fih als die eigentlichen Erben des Staatsgedankens Des
großen Karl und als die Träger der proteitantifchen Geiftesfreiheit, die ohne
die Volksſchule nicht beftehen kann, gezeigt. Denn die preufifchen Regenten
begnügten ſich jo wenig wie jener Herzog von Gotha, für die ſtudirende Jugend
Gelehrtenfchulen ins Leben zu rufen und dadurd Vorſorge zu treffen, damit
fein Mangel an geeigneten Kräften zur Bejegung der Beamtenpoften eintrete *),
fondern fie richteten ihr Augenmerk noch vielmehr auf die Elementarjchule und
damit auf die Erziehung des ganzen Volkes. Schon in der brandenburgiichen
Kircheuordnung vom Jahre 1572 erhalten die Pfarrer und Küſter den Auftrag,
auf eine entjpredyende Belehrung des Volkes durd Katecbefationen Bedacht zu
nehmen. Den eigentliben Grund zur Volksſchule in Brandenburg- Preußen
legte der große Kurfürft, ver im Jahre 1662 die Verordnung erliek, daß Die
Gemeinden allen Fleiß aufwenden jollten, in den Dörfern wie in den Fleden
und Städten wohlbejtellte Schulen ing Leben zu rufen. In feine Fußtapfen
tritt Kriedrih Wilhelm I. mit dem mwohlbefannten Generalihulplan. Diefer
große Disciplinator des preufifchen Volkes organifirte trog mannigfacher
Schwierigkeiten und unter erheblihen Koften die Landſchule als ftaatliche
Ordnung und beſtimmte als jchulpflichtiges Alter die Zeit vom fünften bis
zum zwölften Lebensjahr. „Zum Oberdirectorio muß ein Weltlicher fein“,
jo lautet eines der einenhändig vom König gejchriebenen Principia. Wenn nun
*) Solhen Mangel empfand Kater Marimilian I, wie aus folgender Stelle in
Yutber’8 Predigt: „daß man Kinder zur Schulen balten solle“ 1530 (Aenaer Ausg. V, 181)
bervorgebt: „Ich hab von dem löblichen theuren Kaiſer Marimilian bören jagen, wenn
Die großen Haufen drumb murreten, das er der Schreiber fo viel brauchte zu Bot-
ſchaften und fonft, das er foll aelagt baben: ‚Wie foll ih thun? Sie wöllen fih nicht
brauchen laſſen; ſo mus ich Schreiber darzu nemen‘, Und weiter: ‚Ritter fan ich machen,
aber Doctor fan ich nicht machen‘.
7
auch die Schulmeifter in eriter Inftanz unter die Prediger geftellt wurden, jo
waren dieſe doch unter der Regierung dieſes kräftigen Königs jelbjt recht
eigentlih Staatsbeamte. Die arofe Bedeutung der Schule fir den Staat
fonnte am wenigiten Friedrich dem Großen entgehen.*) Was er für die Hebung
des Unterrichtöwefens und der Volkserziehung getban willen wollte, finden wir
am klarſten im Eingange jeines Briefe über die Erziehung ausgefprocen.
„Ih liebe es“, jagt er dort, „diefe Jugend zu betrachten, die unter unferen
Augen heranwächſt. Sie ift die Finftige Oeneration, die der Aufficht der
jegigen anvertraut iſt, ein neues Menfchengejchleht, das heranreift, um das
gegenwärtige zu erjegen; es ift die Hoffnung und die Kraft des Staates, Die
aut erzogen, feinen Glanz umd feinen Ruhm fortvauern machen jol. Darum
muß ein weifer Fürft allen jeinen Fleiß darauf verwenden, in jeinen Staaten
nüglihe und tugendhafte Bürger zu erziehen.“ **) Friedrich's Unterrichtsminifter,
der Freiherr v. Zedliß, unterftügte feinen König in den auf dies Ziel gerichteten
Beitrebungen auf das Treuefte.***) Sofort mit Beendigung des fiebenjährigen
Krieges beginnen Friedrich des Großen Sorgen für Wiederaufrichtung des
durch den Krieg ara verwüfteten Volksſchulweſens feiner Provinzen. Bereits
jieben Tage vor dem Abjchluß des Hubertusburger Friedens, den 8. Februar
1763, erläßt er an die Kurmärfiiche Kammer den gemefjenen Befehl, nur
examinirte umd tüchtig befundene Schulmeifter anzuftellen, und drei Tage vor
dem Abjchluffe diefes Friedens, am 12. Februar 1763, fchreibt er aus Leipzig
feinem damaligen Eultusminijter, v. Dandelmann, er babe adt Schulhalter in
Sachſen angenommen, wovon vier in der Kurmarf, vier in Öinterponmern auf
Aemtern angeftellt werden follten, und befahl für ihr Unterfommen zwedmäßig
zu ſorgen und fie gegen alle Berfolgung des Neides zu ſchützen, damit fie zum
Berjpiel dienen und fogar die Schulmeiſter lehren fünnten, die Jugend beſſer
zu ımterrichten. Einen Monat fpäter, am 20. März, ordnete er im einem
Schreiben an das aeiftlihe Departement in Schlefien und an den Weihbiſchof
v. Stradiwig in Breslau für die Schulen beiver Confefjionen regelmäßige
Kevifionen von Staatswegen an.) Den Schlufften endlich der Organifation
des Volksſchulweſens jette der arofe König am 12. Auauft dejjelben Jahres
mit dem Erlaß des von dem Oberconfiftorialrathb Hecker verfaßten General:
Yand-Schulreglements, das in gleiher Weiſe für alle Provinzen wie für alle
*) Deſſen Berdienfte um die Volksbildung beleuchtet in Harer und aniprechender
Darftellung Dr. Fischer, Friedr. d. Gr. umd die Volkserziebung. Berlin 1877.
**) Qeuvr.t. IX, p. 115, ich babe dies, wie die folgenden Citate aus Friedrich's
Werken der eben genannten Schrift von Fiſcher entnommen.
***) Siehe Trendelenburg, Friedrich der Große und fein Staatsminifter Freiherr
von Zedlit. Eine Skizze aus dem preuß. Unterrichtswefen. Monatsberichte ber Aka—
demie der Wiffenjchaften zu Berlin 1859. ”
F) Der latholiſche Abt Ignaz von Felbiger, der in diefer Provinz ganz befonders
die woblgemeinten Abfichten des Königs in Ausführung brachte, erließ i. I. 1772 eine
Inftruction für Die Pebrer, in der er als erften Zwed der Schule binftellte, die Kinder
tüchtin zu machen, mütsliche Glieder des Staates zu werben. Wie wenig damals bie
Confeſſion die Schulen voneinander trennte, mag man daraus entnehmen, daß ber ge-
nannte Reoraanifator der katholiſchen Schulen Echlefiens felbft das Schullebrer-Seminar
des enanaeliichen Oberconfiftorialvatbes Heder in Berlin bejuchte und demnächſt auch
obne den geringften Anftand zwei feiner Präparanden dorthin fandte, damit fie bie
it Unterrichtsmetbode erlernten und nad ibrer Zurückkunft in Schleften bekannt
wacdten,
8
Confeſſionen Geltung erhielt. Dies Geſetz gründet ſich wie ſchon der General—
Schulplan auf die allgemeine Schulpflicht, die alle Kinder wenn nicht früher
ſo doch vom fünften bis dreizehnten oder vierzehnten Jahre umfaßt. Wenn in
demſelben dem Lehrer u. A. die Aufſicht über das Betragen der Kinder auf
dem Schulwege zur Pflicht gemacht wird, jo erkennen wir bier ſchon eine Spur
der Intention, Die in der Bolfsichule liegt, nämlich vom öffentlichen Volks—
Unterricht zur öffentlichen Volks-Erziehung überzugeben. Auch das ift bezeichnend,
daß dies Reglement verorbnet, die Kinder jollten fichb zum Kirchgang vor Der
Schule verfammeln, von wo fie geordnet in das Gotteshaus zu führen feien.
Hier habe der Lehrer auf Wohlverhalten und Stille derjelben zu halten, „wie
dieſe denn bei aller Gelegenheit ſittſam, beicheiden, höflich und freundlich im
Seberden, Worten und Werfen ſich erzeigen müſſen“. Im wie hohem Grave
aber Friedrib dem Großen die Bolfsichule als Staatsanftalt aalt, erkennt
man aus ver Schlurbeftimmung jenes Geſetzes, Die befagt, daß die Super—
intendenten und Erzpriefter jährlich die aefammten Schulen ihrer Infpection
zu bereifen und über den Befund an das Ober-Confiftorium zu berichten
haben. „Winkelfchulen, fie mögen von Manns: oder Weibsperfonen gehalten
werden, follen bierdurd bei Strafe gänzlich verboten fein.“ Cine Mafrenel
vorziiglich, die Friedrich ara verdacht worden tft, bat ficherlicd nicht am wenigſten
dazu beigetragen, die Schule zum Staatsinititut zu machen. Als nämlich ver
König 1779 auf einer Imfpectionsreife durch Schlefien ſich bitter darüber
beflagte, daß er für Oberjchlefien Feine neeigneten Schulmeijter finden könne —
denn bier jaßen nirgends auf den Gütern Männer wie Rochow —, jo wurde
ihm gerathen, mit invaliven Soldaten einen Verfuh zu mahen. Mit aröftter
Bereitwilligfeit ging Friedrid auf diefen Gedanken ein, und troß des Wider-
ſpruchs des Herrn v. Zedli gelangte er zur Ausführung. Daß die ponunerfchen
und märkifchen Jungen bei dieſen alten Schnanzbärten nicht viel in litteris
et artibus gelernt haben mögen, glaube ich wohl; daß ihnen aber dafür Die
eiferne preufiiche Disciplin durch diefe alten Soldaten von Kindesbeinen auf
anerzogen wurde, war ein Gewinn, der den Nacdtbeil der geringeren
intellectuellen Ausbildung im volliten Maße ausglich. Nicht weniger als auf
die Vollsſchule richtete der aroße König fein Augenmerf auf die böberen
Schulen. Sogar die Vehrpläne derjelben waren ein Gegenftand feiner Für—
jorge. „Vom Griechiſchen und Yateiniichen gehe ich durchaus nicht ab bei Dem
Unterricht in den Schulen“ **), ichreibt er an den Cultusminifter von Zedlig.
In der Inſtruction für die Ritter-Akademie hebt er bejonders die Nothwendia-
feit der Befanntfchaft mit der neueren Geichichte hervor. „Die Ereigniffe feit
Karl V. wirken bis auf unfere Zeit fort; feinem jungen Mann, der in Die
Welt eintreten will, ift es geftattet, über Thatſachen umunterrichtet zu fein,
welche mit der Kette der laufenden Welthändel Europas zujanmenhängen und
auf fie eimmwirfen.**) Der nationale Charakter ver Schule joll feinen Ausdruck
bejonders in der Pflege der vaterländiſchen Gejchichte finden. „Mag ein Eng-
Linder Nichts von dem Leben der perſiſchen Könige willen, oder die unzählige
*) Oeuvr. t. XXVII, troisicme partie, p. 255. Diefe Willensäußerung des
Königs Sollte uns viel zu denken neben, Denn fie fommt von dem Regenten, der
wiederholt an die Spite ber Unterrichtsziele das Ziel geſetzt bat, den Knaben felbit-
ftändia denken zu lehren. Vergl. Fiſcher 1. J. S. J.
**) Oeuvr. t. IX, p. 79, und äbnlich t. VII, p. 115.
9
Menge von Päpſten, welche die Kirche beherrſcht haben, mit einander verwechſeln,
man wird es ihm verzeihen; aber man wird nicht gleiche Nachſicht mit ihm
haben, wenn er von dem Urſprung ſeines Parlaments, von den Gebräuchen
feiner Infel und von den verjchievenen Geſchlechtern der Könige, die in Eng:
(and regiert haben, Nichts weiß.“*) Was die Aufficht über die höheren
Schulen betrifft, ſo wurde fie von Zeblig den Geiftlichen als jolden genommen
und Fachmännern übertragen, welche der Provinzial Regierung beigegeben
wurden. Das war alfo der Grundftein zur Bildung der Provinzial: Schul:
Sollegien, in denen die Möglichkeit für die Einigung der Schule gegeben iſt.
Auch dürfen wir hier nicht übergehen, daß Friedrich ſich ſogar für die Ver—
beſſerung der Erziehung des weiblichen Geſchlechtes auf das Lebhafteſte inter—
eſſirte. Auf der weiblichen Jugend, ſo ſagt er, beruhe nicht minder die
Hoffnung des Staates als auf den jungen Männern, und daher dürfe der
Unterricht der Mädchen nicht vernachläſſigt werben. **) "Am Marten aber
ſprechen fich einerfeits die Beftrebungen, welche Friedrich und fein Miniſter
dem Unterrichtsweſen und ver Bollserziehung zumendeten, andererſeits vie
Grundſätze, nach denen Beide die Schule verwalteten, in den gejeßlichen Be-
ſtimmungen des großen preußiichen Gejegbuches, des Allgemeinen Yandrectes,
aus, das zwar erjt unter Friedrich's Nachfolger die gejetlihe Sanction erlangte,
aber durchaus von dem großen König veranlaßt und im feinem Geifte ent:
worfen if. Der zwöffte Titel im zweiten Theile des Allgemeinen Landrechts,
welher von den niederen und höheren Schulen handelt, bildet bis auf den
bentigen Tag Die Magna Charta umjeres geſammten Unterrichtöwefene.
„Schulen und Univerjitäten find Beranjtaltungen des Staates!” Diefer Sag,
mit welchem der Titel des Landrechts iiber das Schulweſen anbebt, ſpricht
jowohl das Necht als die Pflicht des Staates, den Unterricht der Jugend
als eine feiner wichtiaften Aufgaben zu behandeln, völlig Mar und unzwei—
dentig aus. Darum follen „vergleichen Anjtalten nur mit Vorwiſſen und
Genehmigung des Staates errichtet werden“ ; auch Privat- Schul» und Er-
ziehungsanſtalten find der Aufiicht des Staates unterworfen; ihm liegt es
ob, die wilfenichaftliche Befähigung Derjenigen, welche an öffentliben, au
Privatichulen oder in den Häufern Unterricht ertheilen wollen, zu prüfen
und feitzuftellen.***) Wo vie Beftellung der Lehrer nicht etwa gewilfen Perſonen
oder Corporationen, vermöge der Stiftung oder eines befonderen Privilegti,
zufommt, da gebührt diefelbe dem Staat. Die Lehrer bei den Gymnaſien
und andern höheren Schulen werden als Beamte des Staates angejehen.
Sonach „begegnen wir bei Friedrich der conſequenten Durchführung der Anficht
von der Schule als Staatsanftalt und der Anwendung politifcher Grundjäte
auf ihre Behandlung“.7) Jene Fundamentalſätze der landrechtlichen Schul—
geſetzgebung hält im Weſentlichen auch die Verfaſſungsurkunde vom 31. Januar
1850 feſt, welche den öffentlichen Lehrern die Rechte und Pflichten der Staats—
diener verleiht. Auch künftig, ſo ſcheint es, werden die Grundſätze des großen
Friedrich die Pfeiler bleiben müſſen, auf die ſich die preußiſchen und deutſchen
Oeuvr. t. I, p. *
**) Qeuvr. t. ix 125.
em) Aus Fiſcher, Friedrich der Gr. und die Volkserziehung, &. 36,
+) Martin Ser, Friedrich des Gr. Beziebungen zur Univerfität. Nectorats-
rede. Im neuen Reich 1876, U, ©. 761,
10
Unterrichtsgejege zu jtügen haben werden. In der modernen Zeit iſt Die
Intention, ven Umfang des staatlichen Einflufjes anf den Unterricht zu er-
weitern und aud jchon auf die Erziehung auszudehnen, in einzelnen Ver—
fügungen der Sculbehörven zu Tage getreten. So iſt 3. B., und zwar mit
vollem Recht, verordnet, daß die Venfionen der auswärtigen Schüler nur mit
Genehmigung des betreffenden Schuldirectord gewählt werben dürfen. In
legter Zeit endlich bat der Conflict mit der Fatholifchen Geiftlichfeit Dazu
Anlaß gegeben, nochmals durch ein beſonderes Geſetz die Schule als Staats-
anftalt zu bezeichnen. Den nothwendig gewordenen weiteren Ausbau der
Staatsjchule erhofft vie Nation von dem in der Berfaffungs- Urkunde ver-
heißenen Unterrichtsaejet. Wenn vafjelbe dem in der Gedichte Preußens *)
deutlih vorliegenden Entwidelungsgange folgt, jo wird es die gejamunte
zrendsie in die Hand nehmen und fomit nicht ſowohl ein Unterrichts— ale
vielmehr ein Erziehungsgeſetz jein.
Daß nämlich jenen Beitrebungen und Verordnungen Seitens hervorragender
Staatsmänner nur der Wunſch zu Grunde gelegen haben fjollte, durch Die
- Schule einen beitimmten Grad von Willen, einen rein intellectuellen Schat
zum Gemeingut des Volkes zu machen, ift eine im fich völlig unhaltbare An-
nahme. Im Gegentheil, wie der Wille fort und fort feine Anreaung und
Direction durch die Intelligenz erhält, fo hat die Staatsfhule durch Das
Medium der allgemeinen VBolksbildung auf die Bolfspisciplin eimwirfen wollen.
Schon aus Luthers Schriften geht diefe Abficht unzweideutig hervor. Durch
die Katecheſe jollte dem Bolfe eine beftinnmte Richtung nicht nur für das Denken,
jondern damit auch für das Handeln gegeben werden. Ja wir finden in Den
Schulertnungen ſchon ganz beftimmte Hinweifungen darauf, daß der Yehrer
auch das Betragen jeiner Schüler, und zwar nicht blos das in der Schul—
ftube, in den Kreis feiner Beobachtung und Aufficht ziehen fol.**) Das General:
Schul-Reglement des großen Königs legt, wie wir oben geſehen haben, Dem
Schulmeiſter die Pflicht auf, „ven Kindern nadhzufehen, wie fie fib auf Dem
Wege betragen“. Auf diefe Weije foll der Bolfslehrer zu einem Volkserzieher
werden. Die höheren Unterrichtsanftalten, und zwar nicht etwa blos die ſo—
genannten aefchlofienen, haben es ftets als ihre Aufgabe betrachtet, nicht nur
zu lehren, fondern vielmehr zu erziehen, und e8 galt hier von jeher der Grund-
jaß, daft qui profieit in litteris nee in moribus, is plus defieit quam pro-
fieit. Für die innige Verbindung, in der nad deutſcher Auffaſſungsweiſe
Unterriht und Erziehung ftehen, ift wohl der ſprecheudſte Beweis, daß unfere
großen Sculmänner ſich nie darauf bejchränften, die Didactik zu verbeflern,
fondern ſtets aucd in der Pädagogik neue Bahnen wiefen und betraten. Die
Bolksjchule trägt unzweifelhaft in ſich die Intention zur Herbeiführung einer
allgemeinen Jugenddisciplin, die unter ftaatliher Autorität und Controle gehand—
habt wird. Dafür zeugen z. B. die Polizei-Berordnungen, welde dem Lehrer
ein Züchtigungsrecht für VBergehungen der Schulkinder aud außer der Schule
zujprechen, jo 3. B. bei Fällen von Thierguälerei, Ausnehmen von Neftern u. ſ. w.
*) Auch auferbaib Preußens tritt uns bier und da im deutihen Staaten das
gleiche Beitreben, nur weniger confequent — entgegen. Vergl. J. Klaiber, Die
Hohe Karlsſchule. Im neuen Reich 1876, II, S. 663.
**) So verbieten ſchon die Schnlordnungen des 16. Jahrhunderts, auch Die Gold—
berger des Rector Trotzendorf, das öffentliche Baden, ja das Schlittſchuhlaufen.
11
Auch im Volksbewußtſein lebt die Vorſtellung von einer Sittenaufſicht, welche
der Yehrer über feine Kinder ganz allgemein führt. Iſt doch der Fall nicht
jelten, daß Privatleute das Einjchreiten dejjelben gegen Ungezogenheiten von
Schullindern in Anfpruc nehmen, ferner daß man das Verhalten der Jugend
in der Deffentlichfeit zum Mafitab der Cchulbisciplin nimmt, ja daß Eltern
in beſonders ſchweren Fällen den Lehrer um Beftrafung der eigenen Kinder
angeben.
Freilich ift das Yuftitut der Etaatsjchule keineswegs ohne Widerſpruch
geblieben. Es ift befammt, daß dem Princip der Schulpflicht gegenüber von
den ertremen Parteien die Parole der Unterrichtsfreiheit ausgegeben wurde.
Welche Gefahren aber lettere für das Volksthum in ſich birgt, dafür ift Frank—
reich ein unwiderlegliches Beijpiel, in neuerer Zeit fait noch mehr Belgien.
Nicht blos daß es der größeren Zahl. der weniger gebildeten und bemittelten
Eltern an dem rechten Berftändnik für die große Bedeutung eines geregelten
Schulumterricht® ihrer Kinder gebricht, nicht blos daß leider vielen Eltern auch
das nöthige Interefje für die fittliche Förderung ihrer Kinder fehlt, jo bemäch—
tigen fi auch gar zu leicht in Schulconventikeln ftaatsfeindlihe Parteien des
empfänglichen heranwachſenden Geſchlechts zu ihren bejonderen, dem allgemeinen
Beſten feinpfeligen Zweden. Noch entjchiedener aber wird von manchen Seiten
gegen die Verbindung von Unterricht umd Erziehung Verwahrung eingelegt
md insbejondere dem Staate das Recht abgefproden, die Yugenddisciplin in
feine Hand zu nehmen. Diefe jeltfame Auffafjungsweife gehört zunächſt der
im Eingang charakteriſirten Periode des Subjectiwismus an. Die Sitten:
aufjicht follte num infoweit dem Lehrer eingeräumt fein, als fie fih aus dem
Geſichtspunkt des Unterrichts-Interefjes mit Nothwendigteit ergab, Nur: den
Studienbetrieb ftörende Einflüffe fern zu halten, lag ihm ob. Neuerdings ift
dieje Aftertheorie, nachdem fie in Deutſchland fat ausgeftorben, wiederum über
dad Meer zu uns importirt worden*) und hat, allerdings nur vereinzelt, jogar
in den Kreifen von Pädagogen Eingang gefunden. Es ijt jedenfalls der Be-
achtung werth, daß auf der vor zwei Jahren abgehaltenen Konferenz der Direc-
toren der pommerſchen höheren Yehranjtalten won den Vertretern einer Anftalt
ten höheren Schulen die erziehliche Aufgabe völlig abgeſprochen und die Anficht
aufgeftellt wurde, „es ſei ohne Frage ganz und gar Sache ver Eltern, für die
ftlihe Ueberwachung ihrer Kinder außerhalb ver Schule entweder unmittelbar,
wenn fie am Schulort leben, oder durch angemefjene Penſionen zu forgen; die
Schule habe ihre Zucht auf den Unterricht und die zu demjelben geforberten
häuslichen Leiftungen zu befchränfen und ihre Rathſchläge und Hilfe in der
Erziehung zurädzubalten, bis die Eltern jolhe begehrten“. Doch haben folde
Stimmen glücklicherweiſe keinen Anklang gefunden, Nicht blos ift jenes Yehrer-
Collegium in Pommern mit feiner Auffafjung allein geblieben, ſondern es hat
auch die Directoren-Conferenz der Provinz Sachſen im Jahre 1574 einftimmig
die Unmöglichkeit ausgeiprochen, die erziehliche Aufgabe der höheren Yehranftalten
don der umterrichtlichen zu tremmen. Und mas nody mehr werth ift, es ift
die Anſicht, daß dem Lehrer auch die Erziehung der Schüler anvertraut ſein
müſſe, nicht etwa nur in den Kreiſen der Fachmänner nahezu allgemein feſt—
n Bay Verhandlungen der erften Directoren - Verfammlung in Sadfen, Halle
1874,
12
jtehend, ſondern jie ift gewiſſermaßen in Fleiſch und Blut des deutſchen Vollkes
übergegangen.
Wenn nun aber auch dem Zuge umferer gejammten geſchichtlichen Ent:
widlung gemäß bei uns in Preußen die Aufgabe von Erziehung und Unter-
richt als eine nothwendig einheitliche anerkannt wird, wenn dann zweitens,
da die Schule ſchon jetzt Staatsanftalt ift, auch die Erziehung zu einer Sache
des Staates thatfächlich wird, jo gehen doch im Einzelnen, namentlich über
die Grenzen der Befugnifje des Staates, die Anfichten nocd jo weit ausein-
ander, daß ein feites Ziel, nad dem wir bewußt zu jtreben hätten, noch gar
nicht ins Auge gefaßt ift, demnady die Gewinnung eines pofitiven Nefultates
no in meitem Felde zu liegen fcheint. Wenn daher über dieſe jo wichtige
Materie, die offenbar eine fundamentale Stellung bei der Conftruction bed
Unterrichtsgejeges inne bat, namentlidy gelegentlid der Directoren-Gonferenzen
die Debatte eröffnet wird, jo ift das eine umabweisbare Nothwendigfeit. Cine
Nothwendigkeit — auch im Hinblid auf die nicht zu leugnende Vernachläſſigung
der Erziehung Seitens ihrer bisherigen Hauptfactoren, der Familie und ber
Kirde. Iſt nun aber aud durch das Geſetz die Schule zur Staatsanftalt
gemacht, alfo der erſte Schritt geſchehen, auch die Erziehung, die ja won Unter:
richt nicht getrennt werden kann, als Sadye des Staates in Anspruch zu nehmen,
jo find doch die Gonfequenzen noch nicht gezogen, ja es gewinnt oft den An
jhein, als ſcheue der Staat jelbjt vor denfelben noch zurüd, wenigſtens
beſchränkt er jelbft feinen Einfluß auf die Erziehung des heranwachſenden Ge—
jchlechtes in einer Weife, welde, wie wir im Weiteren nachzuweifen gedenten,
dem öffentliben Wohle nicht fürvderlib it. Der Staat und der ausiübende
Beamte, d. i. der Pehrer, müfjen fib ein feit begründetes und bewußtes Urtbeil
über die große Aufgabe, die fie nach dem Geje bereits übernommen haben,
bilden, wenn fie anders ſich derſelben gewachſen zeigen wollen. Mit den wei:
teren Rechten hat der Staat auch jchwerere Pflichten auf fich genommen. Und
noch ein anderer Gefichtspunft ijt bier feftzuhalten. „Wie die Kirche im Mittel:
alter gerade dadurch ihre Machtjtellung gejchaffen, daß jeder ihrer Diener, ver
oberjte Kirchenfürft jo gut wie der jüngjte Yehrer an der Domſchule, von der
Intention derjelben durddrungen war, jo müſſen auch wir heute, um das
Stantsidenl zu verwirklichen, auf Grund eingehender culturhiftorifcher Studien
den Zug der Gejchichte verftehen lernen und im Einklang mit deren Kejultaten
uns eine feſt begründete Anficht über die Aufgabe des Staates und das zu
erftrebende Ziel verjcaffen. Ehe unfere Staatsmänner nicht das ſchwierige
Problem, die Schule in das Gefüge des modernen Staates zwedmäßig ein-
zugliedern, ebenjo gut zu löſen wiſſen, wie die mittelalterliche Kirche es ver:
jtanden hat, Univerfititen, Dom- und Kloſterſchulen in ihren Dienft zu nehmen,
werden wir den jegigen Zwitterzuftand im Staatsleben, der je länger deſto
drückender wird, nicht überwinden.“ *)
Nad Maßgabe unferer Kräfte einen fleinen Beitrag zur Erreichung des
Berjtändniffes für das, was die deutſche Schule als Staatsinftitut auch auf
dem Gebiete der Erziehung zu leiften bat, zu liefern, ift unjere Abficht geweſen.
Denn mit Rückſicht auf die demnächſt in der Yandesvertretung bevorſtehenden
...*) Sp ungefähr fchrieb mir vor zwei Jahren Herr Prof, Yaas in Straßburg fiber
dieſe Frage.
13
Berathungen über das preußiſche Unterrichtögejeg, das nicht ohne den ein=
ſchneidendſten Einfluß auf die Verhältniſſe von ganz Deutſchland bleiben fann,
dürfen derartige öffentlibe Beipredungen wenigitens den Anjprud erheben,
einer patriotifchen Geſinnung zu entjtanmten.
3.
Lockerung des Bandes der Familie in dem fid) vervoll-
kommmenden Staniswelen, Familien- und Stants- Erziehung.
Denn auch die Entwidelung des einzelnen Menſchen im Diesjeits ihren
Abſchluß nicht findet, wie wir gläubig vertrauen, fo ift ihm doc unlengbar
die größte Sorge dafür eingepflanzt, daß die irdiſche Arbeit, wenn er dieſe,
durch den Tod abgerufen, verläßt, in feinem Sinne fortgefet wird. Dies ijt
jo jehr der Fall, daß ven menſchlichen Geift noch im Augenblid feines Ab—
jheidens neben dem Gedanken an jeine bevorftebende Vereinigung mit Gott
der am meisten zu beichäftigen pflegt, welchen Händen er die Weiterfiihrung
jeines Werkes anvertrauen ſolle. Noch mehr! Die Erreichung irdifcher Ziele
kann ihm jo wichtig erfcheinen, daß er am diefelbe fogar das Leben freudig
dranſetzt, in der tröjtlichen Gewißbeit :
Wo immer müde Fechter
Sinten im blutigen Strauß,
Es fommen andre Gefchlechter
Und fechten es muthig aus.
Hier iſt alfo die Quelle der moraliſchen Seite des Fortpflanzungstriebes.
Allein die bloße Eriftenz der Nachkommenſchaft gibt noch Feine Gewähr für
den weiteren Bejtand oder Ausbau unſerer Schöpfungen. Dazu gehört viel-
mehr, daß das heranmwachjende Geſchlecht in eine ſolche Verfaſſung geſetzt werde,
daß es uns im ımferer Wirkſamkeit dort ablöjen könne, wo wir durd den Ein—
tritt des Todes oder durd die allmählich ſchwindende Körperfraft und Geiftes-
friſce zum Abtreten vom Schauplatz der Thätigfeit genöthigt werden. Bis
dahın aber wollen wir in ımferer Jugend ſchon Gehülfen der Arbeit ſehen. —
Kun finden wir im Alterthum überall, daß anfänglich die Familie die Form
iſt, welche dem einzelnen Menſchen feine eigenthümliche Yebensaufgabe anweiſt
und eine eigen geſtaltete Lebensidee eingibt. Erſt in zweiter Linie wirkt der
Staat, der den Beſtand der Familie vorausſetzt, beſtimmend auf den Einzelnen
ein. Was iſt daher natürlicher, als daß in der Familie mit ihren beſonderen
Traditionen, ihrer beſonderen Lebensauffaſſung, ihrer beſonderen Ehre, ihren
beſonderen Kulten die Kindererziehung beſchloſſen liegt, alſo eben in der In—
ſtitution, die ja auch phyſiſch den Fortbeſtand des Menſchengeſchlechts vermittelt?
Daher galt es bei den Juden wie bei den Griechen und Römern — ich ſehe
hier von den beſonderen Verhältniſſen der Kaiſerzeit ab — nicht ſowohl für
den Staat als vielmehr für die Familie als ein- Unglück, wenn der Kinder—
ſegen ausblieb. Dieſes wurde, je weiter wir in die Vorzeit mit Hülfe der
erhaltenen Denkmäler zurückgehen, deſto tiefer empfunden. Allerdings trat der
Staat mit ſeinen Geſetzen da ein, wo durch das Ausbleiben des Nachwuchſes
der Beſtand der Familie gefährdet war, nicht aber in ſeinem Jutereſſe, ſondern
14
in dem der familie, für deren Forteriftenz er zu jorgen hatte. Adoption und
Levirats-Ehe waren derartige Einrichtungen, um die in dem einzelnen Geſchlecht
überfonmenen Weihen, Gottesdienjte und Opferverpflichtungen auf die Nach—
welt fortzupflanzen. Denn die Familie ftellt fih in allen Beziehungen als
die eigentliche Yebensform dar. An fie ergehen die göttlihen Verheißungen,
fie haben die Verwaltung dar Götterculte, ftellen alſo die Verbindung zwiſchen
der Gottheit und dem Menſchen ber, in ihnen vererben ſich nicht nur politifche
Rechte und materielle Beſitzthümer fondern aud amtliche und priefterlice Ver—
richtungen, Kenntniffe und Fertigkeiten. So gingen, um von dem ägyptiſchen
und indifchen SKaftenzwang bier abzufehen, die priejterlicen Vorrechte vom
Vater auf den Sohn über in den Geſchlechtern ver Yeviten, der Gephyräer
und der Potitier, jo pflanzte fi in den Dichter- und Künftlerfamilien Griechen:
lands die Pflege von Kunft und Wiffenfhaft fort. An die Mitgliedſchaft in
einer Familie knüpfte ſich das ftnatlihe Bürgerrecht, und in dem pater familias
fand fi) jedes Yamilienglied in der Gemeindeverjammlung vertreten. Das
war die Zeit, wo die Familie das verjüngte Abbild eines Staates und Diejer
das vergrößerte Bild einer Familie zeigte. Wie der “exwr über den Staat,
jo herrſchte ver pater familias über die Frau, die Kinder und die Sclaven,
über die Erftere mehr rodırızas, d. b. unter VBorausjegung gleicher Rechte,
über die Kinder Aacıkırag, über die Sclaven dsorrorıxws.*) Bei Diejer
Eigenartigkeit und Abgefchlofienheit der Familien aljo ift es fein Wunder,
wenn ſich die Erziehung der Kinder völlig in ihrem Schooß vollzieht.
Allmählich aber: wuchſen die jtaatlich verbundenen Familien mehr und
mehr zu einer Einheit unter fi zufammen. Während die Kamilienverbände
in dem Staatöverbande immer merflicher aufgingen, ward dem Staat ein
eigenthümlicher einheitlicher Charakter in vemjelben Grade aufgenrüdt, in
welchem die Familien den ihrigen verloren. Das wachſende Staatsbewußtjein
fand feinen Ausdruck aud in der gejeglihen Feltitellung einer ftaatlichen
Beauffichtigung der heranwachſeuden Jugend. So in der Soloniſchen Öejeß-
gebung, in welcher fi jowohl Beitimmungen über das fdhulpflidtige Alter
und die Gegenjtände des für jeden Bürgerjohn obligatoriiden Elementarunter-
vichts finden, als aud eine Sittenaufficht über die Jugend dem Areopag zu—
geſprochen wird.**) Die Anfüte zu einer Staatserziehung find biernady bei
ben Athenern unzweideutig vorhanden. Im Yaufe der weiteren politifchen Ent—
widelung blieb zwar die äußere Form der Familie bejteben, ihres eigenthüm—
lien Inhaltes aber und ihres Geiftes wurde fie mehr und mehr beraubt.
Das Familienleben ging immer mehr in ein öffentliches über, das Familien—
gefühl erſtarb. Dabei litt die Kindererziehung in der Familie Schaden. Es
hätte, jo jcheint es, nun zwei Wege gegeben, auch für die Folgezeit ein jtarfes
Geſchlecht heranzubilden; entweder mußte die Familie als fjolde von Neuem
gefräftigt werden, oder mit Benutzung der ſchon vorhandenen Anfige Das
Prinzip der Staatserziehung zur vollfommenen Durdbführung gelangen. Au
den erjteren Weg hat damals Niemand mehr gedacht, und ed war wohl auch
unmöglich, der Familie eine neue Grundlage zu jchaffen, noch weniger möglich,
die alten, morſch gewordenen Stügen verjelben neu zu fejtigen. Einem Leichnam
*) Bergl. Aristol. Nie. Eth. VIII, 10, 4 und 5. (cap. 12 bei Better).
**) Vergl. E Curtius, Griechiſche Geſch. I, ©. 275,
15
fan man eben nicht neues Leben einhauchen. Das andere Heilmittel empfahlen
Philofophen und Staatsmänner. Allein die Annahme deſſelben jcheiterte an
dem im Diefer Zeit herrſchenden Subjectivismus, der ſelbſt an den ftantlichen
Grundlagen ſchon rüttelte. Wie die Einigung der Griechen zu einer Nation,
welhe ver Keim für eine neue, höhere Entwidelingsphafe des Hellenenthums
hätte werden fünnen, dur die Unfähigkeit dieſes Volkes, das Ich in der Liebe
md Hingebung an das Ganze aufzubeben, vereitelt wurde, fo lag es ihrer
Sinnesart noch ferner, die ftarre Autorität des Staatsaefeßes den Kindern
zeaenüber zur Geltung zu bringen. So blieben denn zwar die aefetlichen
Beitimmungen, durd die dem Staat ein Auffichtsreht itber Die Sitten der
Jugend eingeräumt war, formell beftehen, aber zu einer Fraftvollen und heil:
ſamen Ausübung dieſes Nechtes und zu einer Werterentwidelung jenes Prinzips
lieh es Die allgemeine Ungebundenheit des ariechifchen Yebens nicht mehr kommen,
jo nothwendig dieſelbe auch fir den Beſtand des Staates aewefen wäre Die
bädagogen und Grammatifer wirkten nach wie vor im privaten Auftraa, aber
ee mußte ihmen natürlich von dent Augenblide an die rechte Autorität fehlen,
da der Familienvater jelbit feine Theinahme an der Kindererziehung mehr
bewies. Und wenn wich wenigitens die Turnſchulen durch den Gymnaſiarch
eine ftaatlihe Beaufſichtigung erfuhren, jo war doc die hier gebotene Bildung
nur eine äußerliche und konnte einer Jugend nicht geung bieten, Die zu der
Löſung der Aufgabe eines pericleifhen Staates berufen war. Dazu kam, daß
die Staantsaufficht je länger je mehr beveutungslos wurde, Den letten Reſt
von Autorität büßte fie ein, als fie nicht mehr vom Areopag fendern von den
lährlih vom Volk gewählten Sophroniften geiibt wurde.“) Wie hätte wohl
dies Collegium mit Erfolg in einem Bolfe wirken follen, das durd das
Sophiſtenunweſen der fchranfenlofeften Zitaellofigfeit anheimgefallen war, und
tem der Sat als Ariom galt: dsıwor slvaı, sl um rıc daası tor dnjuov
zgarrsır, DO dv Pobknreı.*)
Während nun das eben noch hoffnungsreiche Athen aus dem Zuftande
ver höchſten Blüthe, faſt ohne jedes Zwifchenftadium, an den Rand des Ber-
derbens gerieth, und feine berühmten Mauern unter Flötenſchall von den Pelo-
pennefiern eingeriffen wurden, richteten fi die Augen der :zadol xayadol
in allen griechiſchen Landen, auch in Athen felbft, auf einen Staat, zu deſſen
Gunſten foeben das Kriegsglück entjchieven hatte, und deſſen PVerfaffung auf
meientlihb anderen Grundſätzen beruhte als die der anderen helleniſchen
Staaten. Sparta ſchien feine Probe beftanten zu haben. Hier war jeit Lycurg
Ne Staatserziehung in ihrer fchärfiten Ausprägung in Geltung. Die Familie
batte ja auch nach der Verfaffung des aenannten Geſetzgebers bei der völligen
Gleichberechtigung der Spartiaten feinen eigenen Gedanken zum Inhalt, und
folgerichtig war die Erziehung der Jugend dem Staat übergeben, der eme
Idee verförperte, nämlich die der unbedingten Staatshoheit. Schon im Alter:
thum hat es nicht an Gegnern der fpartaniichen Berfaffung gefehlt. Der
Erjte, der über fie unmuthigen Tadel ergoß, war wohl Pythagoras, der es
*) Bergl. E, Curtius, Griechiſche Geſch. II, S. 137.
*) Hen. Hell, 1, 7, 12. Das Boll von Athen wollte in dem Prozeß gegen bie
zehn Feldherren der Arginufen- Schladt feine fonweräne Gewalt nit einmal durch
die beftebenden Geſetze beſchränkt willen,
Radtke, Welcher Antheil zc. 2
16
für das größte Unrecht erflärte, Kinder und Eltern auseinander zu reifen,
Heut zu Tage hat man fi fogar gewöhnt, den Verfall des ſpartaniſchen
Staates gerade aus dem Mangel der Familie, des häuslichen Yebens, der häus:
lichen Anregungen und gemüthlihen Eindrüde auf dem Gebiete der Kinder:
erziehung berzuleiten. Aber man überfieht, daR die Auflöfung Sparta® viele
Jahrhunderte nah Einführung der Staatserziehung erfolgte, ſodann daR einer:
ſeits die Eriftenz der Familie, andrerfeits der Einfluß der Eltern, namentlich
der Mutter, auf die Kinder troß der Staatserziehung hiſtoriſch nachweisbar
ift. Iſt doch das Alterthum voll von Berichten über das Anſehen, das bie
ſpartaniſchen Matronen gleich jehr bei den Männern wie bet den Kindern
genoffen, und mehr als eine Anefoote ift aufbewahrt, aus der hervorgeht, daß
der Frau in Yacedämon mit viel größerer Ehrerbietung begegnet wurde ale
fonft in griechifchen Landen. Der Berfall diefes Staates ıft auf ganz andere
Gründe zurüdzuführen, vor allem auf den, daß feine Verfaſſung zu confer:
vativ gegründet war, als daß fie, wie es die Erweiterung der politifchen Be:
ziehungen zu den Nachbarftaaten erbeifchte, zeitgemäß hätte verbeſſert werden
können. Im der fpartanifchen Staatserziehung aber befenne ich eine, wenn
auch nicht materiell in allen Theilen, fo doch formal und prinzipiell Für uns,
wie ein Mal heute die Verhältniſſe ſich geftaltet haben, vorbildliche Inſtitution
zu erbliden. Die Theilnahme der Mädchen an verjelben und die energiſche
Ausprägung des Staatögedanfens find Züge, durch welche die fpartanifche Er-
ziehung in Griechenland einzig daſtand, und die unfer Staat bei der fell:
ftellung des Unterrichtsgefeges nicht ungeftraft außer Acht jegen dürfte Doch
wir dürfen die biftorifche Weberficht über den Sana, den die Jugenderziehung
bei ven Eulturvölfern genommen bat, nicht unterbreben und ebenfowenig ber
Darlegung unferer erziehliden Bedürfniſſe bier vorgreifen.
Bei der Confequenz, mit der fih der Staatsaedanfe in Rom Bahn ge
broden und in allen Pebenskreifen geltend gemacht bat, ſtand wohl zu erwarten,
daß dort aud die Erziehung jehr bald unter ftaatlibe Aufficht und jtaatlicen
Einfluß treten wide, wenigftens von der Zeit ab, da das Haus feinen eigen-
thiimlichen Geift verloren hatte und das Volk in feiner Gefammtheit zum
Träger der die Geifter beherrfchenden Iree geworden war. Dem war befanntlid
nicht jo. Nicht als ob die Familie eiferjüchtig das Necht der Jugenderziehung
fid) gewahrt willen wollte, — die Familie entbehrte im Gegentheil in den
legten Zeiten der Republik fat durchweg eines inneren Zufammenjchluffes *),
wie denn ein Mann, der zu den fittlidh ernfteren und würdigeren Charakteren
jeiner Zeit zählt, Cicero, fein Bedenken hatte, fid) ohne triftige Gründe nad
einem mehr als 30jährigen ehelihen Yeben von feiner Jugendgemahlin zu
ſcheiden, — nur der Stimm für Unterordnung zum Beften bes Staates war
gänzlich erftorben. Die Kaifer bejchränften zwar die patria potestas**), aber
die Nechte und Pflichten der Kindererziebung verblieben unverfürzt dem Haufe.
So haben wir nun gejehen, daR es im Alterthum — abgejehen von
Sparta — zu einer Staatserziehung auf dem Wege der politiſchen Entwidelung
*) Bezeichnend bierfür ift 3. B. Cie. de officiis III, 23, 90,
**) Das römiſche Hausrecht, nach dem fein Beamter des Staates ohne Einwilli-
gung des pater familias deilen Haus betreten durfte, fiel ebenfalls erft im ber
Raiferzeit.
17
niht fam, weil 1) zu der Zeit, wo die Familie die Erziehung an ben
Staat hätte abgeben müſſen, die Geifter zu einer Unterordnung unter das
Allgemeine nicht mehr befähigt waren, 2) weil es den damals wirfenden
Staatsmännern an dem Geſchick zu jchöpferifhen und organifivenden Ihaten
gebrach, welches nadı einem Geſetz der Weltgejchichte nur in Zeiten nationaler
Kraft gefunden wird.
Das Chriſtenthum durdgeiftigte die Kultur der alten Welt, namentlich
die griechiſche Vbilofophie, ımd das Germanenthum trat als Erbe der Römer
in die MWeltherrichaft ein. Dieſe beiden neuen VPebenselemente begritndeten
durch ihre gegenfeitige Durchdringung ein neues Zeitalter. Für die Gefchichte
der Erziehung it das Chriftenthum im vielfaher Hinficht von höchſter Bedeu—
tung geworden. Wir betrachten hier nur die Seite der hriftlichen Erziehung,
Nie für die gegenwärtige Betrachtung Intereffe hat. Das Chriſtenthum ſtellte
ale Menſchen in noch höherem Grade und confequenter, ald es der Stoicis—
mus Schon gethan, als Erafgor hin, die unter fi völlig aleichberechtigt find.
die Familie wird feineswegs aufgehoben, vielmehr ihre fittlihe Seite mehr
berporgefehrt und babei der Fran die gebührende Stellung zugewielen ; allein
ın der Gemeinſamkeit des Glaubens und Lebens ver erjten Chriften liegt es
nothwendig, daß die Abgeichloffenheit der Familie nach Außen füllt. Da nun
alle Menſchen Kinder Gottes find und demnach in gleihbem Grave Anſpruch
af Erziehung haben, fo ift damit die Grundlage zu dem neuen Prinzip der
allgemeinen Bolksbildung gegeben. Und da jett nicht mehr, wie bei ben
Örteben und Römern, die Familie ihre befonvdere ſchützende Gottheit beſitzt
und verehrt, ſondern alle Menſchen ohne Rückſicht auf ihre Abſtammung den—
ſelben einigen Gott anbeten, ſo iſt auch der Grund gefallen, die Unterweiſung
und Erziehung der Kinder im Schooße der Familien ſich vollziehen zu laſſen.
So iſt es denn Karl der Große, wie wir oben ſchon nachwieſen, der zuerſt
dieſen Gedanken einer allgemeinen Erziehung des Volles durch ſtaatliche Ver—
anſtaltung zur Ausführung zu bringen ſuchte. Nach langer dunkler Zeit iſt
es dann wieder Luther, der das Verſtändniß für dieſe jo wichtige Aufgabe
des Staates bei Fürſten und Städten weckt, und die Hohenzollern haben
gerade in ihren hervorragendſten Vertretern dieſe Sorge mit dem vollen Bewußt—
ſein ihrer Wichtigkeit in ihrer Eigenſchaft als Regenten fir fid in Anſpruch
nommen. Wohl uns nun, daß wir heute alle Beringumgen erfüllt und
überall den Boden vorbereitet finden, um die Erziehung der Jugend auf den
Staat Übertragen zu können, da die Familie in ihrer heutigen Geſtalt Die
ihwere Verantwortung für viefelbe allein auf ihren Schultern zu tragen fi)
keineswegs durchweg mehr fühig zeigt.
Das öffentliche Leben unferer Nation nimmt jegt derartig alle Kräfte
für ſich in Auſpruch, daß alle anderen Intereffen zurüdtreten, alle Gemein-
Ihaften nnd Verbände, die nicht politifher Natur find, an Bedeutung und
Zuſammenſchluß mehr und mehr verlieren. Ich erinnere an die Zünfte, an
die wiffenfchaftlihen Vereinigungen, am die Verbindungen unter den Berufs-
genoffen, jelbft an die Ständeunterfchiede, ja jogar an die Gliederungen nad)
firhlibem Belenntnif, — deren Stüten und trennende Schranken fallen mehr
und mehr. Hat doch jelbit der Stand viel von jeiner Abgeſchloſſenheit ein:
gebüßt, ver als ein Staat im Staate mit befonderer Berfaffung, mit eigenen
Geſetzen, Gerichten und Lebensauffaſſungen bejteht, der Stand der Berufs-
2*
18
ſoldaten. Hat doch felbft fo feite Bande wie die des Freimaurerordens, die
Berfolgungen aller Art nicht zu löfen vermochten, der nivellirende Geijt der
Neuzeit gelodert.
Und die Familie? Auch fie trägt feinen eigenthümlichen, nad außen
abaefchloffenen Charakter mehr. Ihre Bejonderheiten und ihre Privilegien
find der Reihe nach durch den weiteren Berband des Staates abforbirt morben,
von der Blutrache und dem alten jus talionis an, das emft 3. 3. ber
Gründung des Staates jo ſchwer fi einfchränfen ließ, bis auf die legten
politifhen Vorrechte, die bis im unfere Tage hinein fich einzelne Familien
von hohem Adel dem Staat gegenüber zu erhalten gewußt haben. Daher ift es
fein Wunder, daß auch das Gefühl fir Familienehre heute lange nicht mehr fe
rege wie in früheren Zeiten ift, wo die ımfittlibe Handlungsweije des Mit:
alieves einer Familie dieſer im Ganzen einen untilgbaren Makel zufüate
Die Familie gilt überhaupt nicht mehr als vie Lebensform, in welder ber
Menſch feine nächſte Beſtimmung findet. Es tft ein nicht abzuweiſendes Zeichen
der veränderten Yebensauffaffung, daß von Jahr zu Jahr, und zwar in allen
Ständen, der Procentfag derer fteigt, die eine Che aar nicht mehr eingeben.
Und wenn man beute, umd zwar mit Recht, Elagt über den Mangel an Häus—
lichkeit bei Männern und Frauen, fo liegt der Grund zum Theil allerdings
in der fteigenden Genußſucht unſerer Generation, aber mehr nod im dem
nicht mehr einzudämmenden Drange in das öffentliche VYeben. Für die Ver:
äußerlichung des Familienlebens gibt es feinen jchlagenveren Beweis als die
Einrichtung ber heutigen Familienwohnungen, die in den einentlihen Familien:
zimmern eine ungebührliche Bernahläjfigung, in den Gejellihaftsränmen eine
maßloſe Berfchwendung erfennen laſſen.“) Soll id num noch auf die im unſerer
Zeit auf der Tagesordnung der focialen Umwälzung ftebende Frage der Franen-
arbeit hinmeifen ? Jene Worte, die vor vier Jahren der General = Boftmeiiter
Stephan im Neichstage bezüglich der Zulaffung der Frauen zu Aemtern ver
Staatöverwaltung ſprach, welchen erniteren Charafter, welchem um das Wohl
des Vaterlandes forgenden Mann wären fie nicht aus der Seele gejprocen
gemejen? Und doch kann ich mich dem Gedanken nicht verſchließen, daß alle
retardirenden Maßnahmen der Regierung, die etwa in dem Sinne ergriffen
werden möchten, die Frau auf den Kreis der häuslichen Arbeiten einzufchränfen,
doch im Grunde wenig helfen werden. Cie werden es unjerer Meinung nad
um jo weniger, als auf gewifjen Gebieten der Staat felbft jenen Grundſätzen
zuwider handelt. Denn was heikt es anderes, als die Frauenarbeit außer dem
Haufe begünftigen, wenn das Cultusminiſterium die Anstellung von Yehrerinnen
in immer weiterem Umfange zuläßt? Im wie weit Diefe Concurrenz dem
Intereffe der Schule dient, ift bier nicht Der Ort zu unterfuden. Wie dem
aber auch fei, iſt denn nicht die Frauenarbeit in gar vielen Familien geradezu
eine Lebensfrage geworden? Nicht mehr bloß in den großen Städten arbeitet
jo mande Hausfrau ftatt für ihre Häuslichfeit für den Laden. Da wird die
Familienküche aufgehoben und jomit der Familtentifh, auf daß die Frau Zeit
gewinne, gleih dem Mann fir ven Unterhalt, öfter aber zur Beſtreitung von
Purusausgaben zu arbeiten; da forgt für die großen und aud ſchon für die
*) Hierauf macht mit vollem Recht der Berfafler der Briefe. über Berliner Er-
ziebung aufmerkſam. S. 14 und ff,
19
Kleinen Bedürfniffe an Wäſche und Kleidung nicht mehr die in allen Künften
ver häuslichen Arbeit wohl unterwiefene Hausfrau, jondern der „billige Paden“.
Ber da glaubt, daß dies beveutungslofe Kleinigkeiten find, der fennt den ge—
beimmgvollen Zauber nicht, der für Mann und Kinder gerade darin liegt,
daß die Handarbeit der Hausfrau unmittelbar den Familiengliedern zu Gute
fommt. Und wie anders müſſen auch Mutter und Töchter am Haufe hängen,
an deſſen Mobiliar jie mit jtiller Freude ihre eigene Thätigfeit nachweijen
fimmen! Aber freilih billiger jtellt ji) das im Laden gefaufte Hemd, wenn
dafür die Zeit der Mutter und der Töchter für die bejjer bezahlte Handarbeit
or für die Ertheilung von Unterricht frei wird. Wo gibt es da
dieſer Thatſache gegenüber eine Beredſamkeit, und hätte ſie Engelszungen,
welbe die Frauen vermöchte, zu der Sitte ihrer Mütter zurücdzufehren und
ber jelbft die Wäfche für ven Mann und die Kinderanzüge zu fertigen, auf
ven baaren Verdienſt aber zu verzichten? Wer, wie der Verfaſſer, das Glück
habt hat, im einer altväteriſchen Familie aufzumachien, der mag es wohl
ef beflagen, daß die heutige Zeit fich diefes gemüthvollen Zuſammenſchluſſes
am Familienherde mehr und mehr entjchlagen zu fönnen glaubt, aber dem
Staatsmann geziemt es, auf die Zeichen der Zeit zu achten und neue wirk—
ſame Injtitute zu jchaffen, wenn die alten ihre Kraft zu verlieren beginnen und
ihren Verpflichtungen nicht mehr gerecht werden.
4.
Die heutige Familienerziehung.
Wem entginge ed wohl, daß die Familienerziehung längft das nicht mehr
late, was fie zum Wohle des Ganzen zu leiften verpflichtet it? Alle päda—
ggiihen Schriften der Jeßtzeit find voll von Schilderungen der entweder ganz
mangelnden oder doc verkehrten Zucht im häuslichen reife. Schon im Jahre
1845 klagte ein um das BVolkswohl ernftlic beforgter Mann:*) „Wo ift die
zattiarchaliſche Form unferer Hausväter, wo die Zeit, da ihr Wort noch Geſetz
wur? Fuimus Troes! Wo ift das Verharren unferer Hausfrauen in ver-
!orgener Zurüdgezogenheit? Aus Frauenzimmern find Frauengafjen geworden,
wie Abraham a Sancta Clara jagt.“ Und an einer andern Stelle derjelben
Schrift: „ES fehlt an Müttern. Die befjere Zukunft kommt nur von den
Müttern.“ Auch Raumer bricht in feiner Geſchichte der Päpagogik**) in
dieſelben Klagen aus und führt die Vernachläſſigung der Erziehung des
beranwachfenden Geſchlechts theils auf die mangelnde Befähigung der heutigen
Familie für dieſe Aufgabe, theils auf das ihr mehr und mehr abhanden
fommente Imtereffe für eine gute Kinderzuct zurüd. Selbſt die Schmid'ſche
Encyelopädie erkennt in einer Reihe einfchlägiger Artikel die Unvolltommenheit
der modernen Privaterziehbung offen an. Und welcher Yehrer wüßte nicht über
tes Gapitel aus feiner eigenen Praris gar Trauriges zu berichten? Die
Einen ſuchen die Verantwortung fiir das körperliche und geiftige Gedeihen
) Scheinert, Erziebung des Vollkes, 1845,
**) 30. III, ©. 42.
20
ihrer Kinder fo zeitig als möglid auf andere Schultern zu wälzen. Nicht
erwarten können fie es, bis das fchulpflichtige Alter die Uebergabe ihrer Kinder
in die Pflege und Aufficht der Schule möglich macht und damit in ihren
Augen die Befreiung von der läftigen Verantwortlichfeit für das Verhalten
derjelben herbeiführt. Die große Beliebtheit, deren fih die Kleinfinderbewahr-
anftalten, die Spielfchulen und die Kindergärten, Schöpfungen unjerer Zeit,
zu erfreuen haben, iſt charafteriftifch für den Begriff, ven fich heute die große
Mehrheit der Eltern von ihren Pflichten gegen die Kinder macht.“) Andere
Väter und Mütter haben eine fo verkehrte Liebe zu ihren Kindern, daß ſie,
befeelt von dem Wunſch, diefe nicht zu betrüben, eine jo weitgehende Nachſicht
gegen fie im Anwendung bringen, daR fie eimerjeits feinerlei Genüſſe ihnen
verjagen, andrerſeits jelbit bei groben Unarten Strafen zu verhängen oder
auch nur ernftlihe Mifbilligung zu äußern ſich nur ſchwer oder gar nicht
entjchliegen können. Wachſen ihnen dann, wie ja unvermeidlich tft, die Kinder
über den Kopf, dann bitten fie wohl den Pehrer um feine Mithilfe, erfolgt
fie aber mit der nöthigen Energie, jo macht ſich ſofort wieder bei ihnen eine
Regung der Shwachheit geltend und fie nehmen nun das Kind gegen benjelben
Lehrer in Schuß, deſſen jtrafendes Eintreten fie eben noch ſelbſt begehrten.
Sole Imconfequenz ift uns in unjerer Pehrerpraris nicht nur ein Mal ent-
gegengetreten. Die Verkehrtheiten jo mander häuslichen Erziehung, welde
für bloße Ungejchidlicheiten des Kindes, z. B. wenn es eine Taſſe zerjchlagen
hat, die Strafe ftrenger bemißt als für ſchwere fittlihe Vergeben, z. B. für
Lüge, welche aus Untenntniß der Folgen Ungehorfam ftraflos ausgehen läft,
— dieſe und ähnliche Verfehrtheiten, die doch das Kind ſchwer fchädigen, hier
erihöpfend aufzuführen ift unmöglid; es muß genügen, bier nur darauf bin
zuweifen. Dazu fommt nun, was die die höheren Yehranftalten bejuchende
Jugend anlangt, daß eim erheblicher Theil derjelben jeine private Erziehung
in Penſionswirthſchaften erhält. Daß diefe in verhältnißmäßig jeltenen Fällen
ihre Aufgabe richtig auffaffen und mit Ernft zu löfen ſuchen, iſt eine all-
befannte Thatſache. Die Schule begegnet bier im der Negel theils in Folge
mangelnden Verſtändniſſes für ihre wohlgemeinten und wohlerwogenen An-
ordnungen, theils in Folge tadelnswerther Nachgiebigkeit gegen den einen
*) Sehr ſcharf gebt ber Berfaffer der Briefe über Berliner Erziebung mit ben
Kindergärten ins Gericht. „Diefe Anftalten (nämlich die Kindergärten) find noch nicht
alt genug, um die Größe des Vortheils oder Nachtbeils, den ſie den Kindern gemwäbren,
ganz ermeſſen zu können, nach meinen bisherigen Erfabrungen ift der letztere größer als
der erftere: ich babe wiederholt wahrnehmen müffen, daf Knaben, welde in der Methode
der Kindergärten Jahre lang erzogen worden waren, noch von neun und zehn Jabren
eine Art Traumleben führten, aus dem fie faum aufzumeden waren; das Anſchauungs—
vermögen war fo einfeitig auf Koften der Übrigen Kräfte, namentli des Berftandes,
ausgebildet, daß fie zu munterer Aufmerkſamkeit und leichter jcharfer Auffaffung ganz
unfäbig waren. — — — Der NAusdrud, den man zuweilen bört, in ben gebildeten
Kreifen feien bie Kindergärten nur für Stiefmütter und faule Mütter da, mag bart
klingen, trifft aber vollfommen die Sache, nur würde ih noch binzufligen: und für
jene eitlen, flachen Gejchöpfe, die Mütter zu beißen überhaupt nicht verdienen. — — —
Sch wäre wohl begierig bie Antwort zu hören, wollte man ſolche Mütter einmal fragen:
„In welcher Zeit erziebt Ahr denn nun Eure Kinder?““ Die Notbwendigkeit dieſes
Inftituts wird ſich troß alledem für unfere Zeit nicht mebr beftveiten laffen, im ber
nun einmal viele Mütter die Regierung im bäuslichen Kreife nicht mebr für ihre erfte
und liebfte Aufgabe halten.
21
materiellen Gewinn bringenden Benfionär einer heimlichen Oppofition, die um
jo gefährlicher wirkt, je mehr jie zugleih dem Schüler die Offenheit und
Anfrihtigfeit gegen den Yehrer abgemwöhnt und Damit das Vertrauen zu ihm
mtergräbt. Endlich ift nicht zu überjehen, daß die höheren Schulen viele
ihrer Zöglinge aus den ıumteren Ständen erhalten, die mit ihrem Eintritt in
vie oberen Klaſſen ſich gewiffermaken über das geiftige Niveau ihrer Eltern
erheben und daher Yegteren in dem meijten Füllen eine Achtung einflößen,
die jie unfähig macht, das Erziehungswerf fortzujegen. So hört denn gerade
bei diefer Klaffe von Jünglingen der bejtimmende Einfluß der Erwachſenen in
einer Periode nahezu auf, wo er am nöthigften it. Wo wir bei afademijch
gebildeten Männern auf umnleidlihen Hochmuth umd auf rückſichtsloſe Herzens:
birtigkeit ftoßen, da werben wir meijt den Grund diejer Fehler darin ent:
veden können, daß Jene, hervorgegangen aus Familien der unteren
Stände, in den Jahren des Weberganges zum Diünglingsalter ihre Eltern
überſahen.
Das düſterſte Bild von der Art, wie heute die Familie ihre Pflicht, die
Kinder zu erziehen, auffaßt, entwirft ‚ver Verfaſſer der Briefe über Berliner
Erziehung, eines Buches, Das mit Recht "alljeitig die größte Aufmerkſamkeit
erregt und bei den praftifhen Schulmännern Zuftimmung gefunden bat. Und
wenn man vielleicht einzumerfen geneigt wäre, daß dort ein mihvergnügter
Tiragoge die Dinge zu ſchwarz anficht und zeidmet, fo lefe man, wie ein
Laie über dieſen felbigen Gegenftand urtheilt, ein Laie, dem man jchwerlich
den Vorwurf wird machen wollen, daß er zu den grämlicen laudatores
temporis acti zühle. Gerade Lasker's Ausführungen über diefen Punkt ver-
dienen die vollſte Berüdjichtigung.*) Er, wie der Berliner Pädagoge, kommt
zu dem Schluß, daß es mit der Zukunft unjeres Bolfes übel bejtellt fein
würde, wenn nicht baldige Abhilfe gegen diefen von Jahr zu Bahr mehr um
fih freffenden Schaden eintrete. Beide erwarten einen Umſchwung nur dann,
wenn wir durch die öffentlihe Erziehung die Fünftigen Bäter ımd Mütter
felbjt erft in eine beſſere Richtung gebracht haben werden.
Bir hören als Dritten nod einen Nationalöfononen. Felix jagt in
ſeinem Werke „Die Arbeiter und die Gejellfchaft“ **) hierüber Folgendes: „Die
ten höheren Ständen angehörenven Perjonen vermögen es zuweilen gar nicht
zu jaffen, daß arme Handwerker, welde mehr als irgend Jemand das Ihrige
zu Rathe ziehen jollten, die ſorgſame Sparfamfeit und die Mäßigleit vermifjen
laſſen, melde fie jelbit an den Tag legen. Die einfade Erklärung jo jelt-
ſamer Erſcheinungen liegt in dem Umftande, daß dieſe Perſonen nicht zur
Sparfamkeit, fondern zum Genuß erzogen find. Das arme Kind eines Ar-
beiters, deffen Eltern fid häufig unmäßig und unreinlich zeigen, miteinander
hadern, die Zeit vergeuden nnd gar oft obne Scheu vor feiner Anweſenheit
unanjtändige Reden führen, fann, wenn überhaupt, nur erjt in der erniten
Schule des Lebens nad herben Erfahrungen, meift zu ſpät, die Eigenſchaften
würdigen lernen, melde es an feinen Eltern vermißte. Darum foll, jo führt
der Verfaffer fort, der Volkslehrer zugleih der Erzieher der ihm anverträuten
—
“
*) Siebe deffen Aufſatz über Erziehung und Anlagen in ber deutichen Rundicau I.
**) Erſchienen bei Otto Wigand in Yeipzig, 1874.
22
Kinder fein, der ſich die Aufgabe zu ftellen hat, ihnen, neben den nothmendigen
Disciplinen, durch Lehre und Uebung all vie fittlihen Eigenfchaften einzuflögen,
deren fie zu ihrem Lebensglüd nicht entbehren fünnen.“ Nicht blos zu ihrem
?ebensglüd, füge ich hinzu, jondern vor Allem zum Heile der Gejellichaft, des
Staated. Und mm bedenfe man, einen wie großen Procentfag unter dem
heranwachſenden Geſchlecht gerade die Arbeiterfinder bilden, fie, vie unzweifel-
haft in Folge der nicht mehr aus der Welt zu jchaffenden Franenarbeit und
der unleugbaren Yüfternheit der Eltern die jchlechtefte Erziehung geniehen.
Den Erwachſenen wird die ftaatlihe Zucht ſelbſt durch die ftrengiten Geſetze
nicht zur Gefeglichfeit zwingen, höchſtens zu eimer äußerlichen, die doch im
Grumde feine ift, auch feine Stüße des Staates fein fann, das Sind aber
vermag die Disciplin eines treuen und geſchulten Lehrers jo zu leiten, daß
es dereinſt als Staatsbürger zum Heile des Ganzen die Gejege aus Ueber—
zeugung vejpectirt.
Aber bei der jo tief einjchneidenden Wichtigfeit dieſer Aufgabe für die
Gefundheit unferes Volksthums — denn es handelt fi eben darum, ob unjere
Nation in derjelben Entwidelungsphafe ihren Lebensproceß abſchließen jolle wie
die Völker des Alterthbums, oder ob fie im Stande ift, durch Gründung neuer
Inftitutionen, die einen Erfag für die im Yaufe der geſchichtlichen Entwidelung
gleichſam abgenugten verjpreden, einen höheren Aufſchwung zu nehmen, — Id
jage: im diefer Frage um Sein oder Nichtfein darf es uns nicht genügen, wie
der Verfaſſer der Berliner Briefe thut, Die Erwartung auszujprehen, daß es
ver öffentlichen Erziehung gelingen werde, das drohende Verderben zu beſchwören.
Es gilt vielmehr, pofitive Vorſchläge zu machen und auf eine gejeglihe Rege—
(ung der jetzt übel vernadhläffigten Yugendrisciplin in Wort und Schrift hits
zuwirken. Man vergeffe doch ja nicht, daß gerade hier ein Zuwarten, ein
Aufſchub der dringlihen Reform ſchwere Schädigungen des Boltsthumes herbei-
führen muß. Oper wird etwa das heranwachſende Geſchlecht, das nad über:
einftimmender Schilderung bejonders in den großen Städten und in induftriellen
Bezirken nicht mit der nothwendigen Sorgfalt und pädagogiſchen Einjicht
im Haufe erzogen wird, nad menjclider Berechnung mehr Geſchick ent:
falten, feinerfeits feine Kinder zu erziehen, wenn dazu an dafjelbe die Reihe
kommt? Man ehe ji doch ja vor, daß nicht auch auf unfer Voll einſt
paſſe, was der römische Dichter von dem jeinigen mit wehmüthiger Trauer
berichtet:
Aetas parentum, pejor avis, tulit
Nos nequiores, mox daturos
Progeniem vitiosiorem,*)
Die Enten, die durh Hühner ausgebritet werden, verftehen das Brüten
jelbjt nicht mehr.
*) Hor. carm. III, 6, 46.
Die Nothwendigkeit einer ſtaatlichen Beaufſichtigung der
Kindererziehung.
Dit halben Mafregeln ift hier nichts zu gewinnen, wohl aber mehr noch
ju verlieren. Den Rath, den der Verfaſſer der Berliner Briefe den Eltern
ertheilt, bei den Seelenkranfheiten ihrer Kinder ven Pädagogen von Fach als
Hausarzt zu Nathe zu ziehen, — hat er wirklich auch nur einige Ausficht auf
Beberzigung und Befolgung bei der großen Menge, ja jelbjt bei ven gebildeten
Vätern? Es bleibt eben nur übrig, dag der Staat, allerdings mit Benugung
der Familie und anderer Injtitutionen, die im Weiteren zur Beſprechung
foumen jollen, die Erziehung injofern übernimmt, als er gejeglich gewiſſe Prin—
cipien fejtjtellt, nad) denen dieſelbe geleitet werden ſoll. Gemeindeorgane wer-
ten die Befolgung derjelben zu beauffichtigen haben. Zu diefem Schluß bringt
mic nicht nur die Wahrnehmung, wie das Haus vielfach die ihm bisher fait
ohne Einſchränkung zugefallene Erziehung der Kinder vernachläſſigt, jenbern
auch die Erwägung, daß heut zu Tage bei der Vielgefhäftigfeit unjerer Gene-
ration Die Theilung der Arbeit fi mehr und mehr vollzieht. Wohl weiß ich,
daß gerade dieje großen Gefahren für die Yebensfraft der Nation in fich birgt
md dag man ſich daher eher gegen eine weitere Durchführung derjelben ſtemmen
müßte. Allein ein Correctiv für diefelbe hat die Geſellſchaft im der Juſtiz, in
der Verwaltung des Staates, des Kreijes, der Commume, im Militärwefen, in
ver Kirche und auf jo vielen anderen Gebieten glüdlih gefunden, da in. den
genannten Sphären überall jegt neben Fachleuten berufene Yaien mit Rath und
That mitwirkend eintreten. Und wenn ich nun empfehle, die Erziehung einem
Stande, den Pehrern der Staatsjhule nämlich, von Staatswegen anzuvertrauen,
jo ift es meine Abficht durchaus nicht, diefem eine Domäne zu ſchaffen, in der
er für ſich abgeſchloſſen und ohne geiſtige Befruchtung durch die andern Be—
ſtandtheile der Nation arbeitet. Wenn aber ſchon Plato im Laches“) die Be—
merkung macht, daß die Männer ſeiner Zeit zu ſehr den Geſchäften des öffent-
liben Yebens angehörten, als daß fie nod) Interefje für die häuslichen Aufgaben,
infonderheit für die Kindererziehung hätten, jo gewinnt einerjeits durch dieſe
Worte die oben des Weiteren geſchilderte ähnliche Erſcheinung unſerer Tage
eine Erklärung, andererſeits wird uns das Mittel nahe gelegt, von Neuem
das Intereſſe für die Jugenderziehung zu erwecken. Man mache dieſelbe zu
einer öffentlichen Sache, und ſofort werden auch wieder alle geiſtigen Kräfte ſich
ihr zuzuwenden Antrieb finden.
Endlich beſtimmt mid zu meiner Auffaſſung von der unumgänglichen
Rothwendigfeit der Staatserziehung aud folgende Rückſicht. Bisher gehörte
das mit 14 Jahren aus der Schule entlafjene Kind, wenn es fein Brot in
*) Gleich im Eingange des Dialogs gedenkt Plato der Erfahrung, die er aud in
anderen Schriften in Erwägung gezogen bat, daß nämlich viele ausgezeichnete Männer
ihre Söhne nicht zu gleicher Züchtigleit erzogen bätten, Im 3. Capitel beißt es dann
mit Bezug hierauf: vowo 1« Wr Tokswr NOUTEOUCEN, avrois oytdor u raure
SUußeivei, ovrog Mytt, zei nepi neides xui ralda idıe, olıywpeisdei re xwi
euros duerideod.
24
eirem fremdem Haufe ſich erwerben mußte, der Familie an, in die e8 ale
dienendes Glied eintrat. Das Dienſtmädchen, der Pferdejunge, der Yehrling,
der Gejelle und der Knecht fogar afen am Tiſche ihres Brotherrn mit und
genoffen alle die erziehlihen Anregungen und vor Allem auch die fittlihe Hut
und Beauffichtigung, welche die Familie den eigenen Kindern zu Theil werben
lief. Das iſt inzwiſchen jelbjt in ven Keinen Städten und auf dem platten
Yande durchaus anders geworden. Das Gefinde und die Gehülfen aus ver
Merkftätte find außer der Arbeitszeit faft völlig ſich felbit überlaffen. Die
Pflicht, aufer für den leiblichen Unterhalt auch für die fittliche Förderung dieſer
jungen Leute zu forgen, ift faft vergeffen. Höchſtens wird noch auf eine Art
von Disciplin im Haufe jelbit und bei der Arbeit gefehen, aber bei den Dienit-
mädchen vielfach auch dies nicht mehr. Was außer der Wohnung der Dienſt—
berrfchaft geichieht, das fällt nad faft allgemeiner Auffafjung nicht mehr
in das Bereich der Aufficht derfelben. Daß daher Kuaben von kaum
15 Jahren in unziemliher Art und außerdem zum Schaden ihrer Gejunpheit
rauhen und unmäßig Spirituofen genießen, die Straße verftellen, lärmend und
tobend die öffentlihen Plätze durdjftreifen, das Publikum beläftigen, die Mädchen
mit unanftändigen Scherzen anrufen und verfolgen, — mer fieht es nidt,
ohne ſich über die Ohnmacht der Polizeiorgane zu wundern? Aber das find
nicht ſowohl die Folgen der neueren, allerdings ja viel zu humanen Straf
und Polizeigejege, fondern vielmehr die der heutigen Gefindeordnung. Mit
dem Zunftzwang ift auch die Disciplin der Pehrlinge gefallen. ever Meiiter
wird und das jagen. Mocten immerhin die den Erwachjenen durch die Zünfte
gezogenen Schranken in dieſen Tagen überflüffig, ja ſchädlich geworden jein, —
für die noch unerwacjene Handwerfer-Jugend mußten neue Formen gefunden
werben, um die diefem Alter jo nothiwendige Bevormundung zu fihern umd zu
regeln. Darf nun der Staat auch fernerhin diefen fo bedeutenden Procenſatz
des heranwachſenden Geſchlechts, ver fidh mit 14 Jahren, alfo gerade in ver
für phyfifches und ſittliches Gedeihen jo entſcheidungsvollen Periode des Leber:
ganges vom Knaben zum Yüngling, jedem evziehlichen Einfluß entzieht, feinem
Schidjal überlafen? Darf er auch in Zukunft die ſchon jo grell herwortre-
tenden Mängel diejes ungejunden Zuſtandes überjehen? Iſt es nad ven bie-
herigen Erfahrungen gerechtfertigt, Die fernere Erziehung diefer großen Maſſe
der Kirche allein zu überlaffen? Oder hat lettere den Beweis gegeben, daR
fie die Fürforge*) für diefen Theil der jungen Bevölkerung in der rechten Art
wahrnimmt? Darf überhaupt die Kirche von Staatswegen zu einer Art von
polizeiliher Mithilfe zugezogen werden!
Keine dieſer Fragen wird man bejahen wollen. Obſchon man damit noth⸗
wendig zur Annahme meiner Propofitionen gedrängt wird, jo babe ich dod
noch mannigfadhen Widerſpruch zu erwarten, dem ich von vornherein zu begegnen
verfuchen will.
*) Die Geiftlichkeit bat für Die jungen Handwerker in den fogenannten Gefellen-
und Fünglings- Vereinen unzweifelbaft viel getban, Wir kennen Beifpiele, daß ſich
namentlich jüngere Geiftliche mit einer böchft achtungswerthen Selbſtoerlaͤnguung und
mit unberechenbaren Opfern an Zeit, Mühe und Geld die Rortbildung dieſer Jüng—
linge angelegen fein tiefen. Allein die Lehrlinge find fib völlig allein überfaffen
geblieben,
—
Zunächſt kann es nicht auffallen, in einer Zeit, da Alles zu unbedingtem
Gehorſam und zur Unterwürfigkeit unter den Staat hindrängt, auch das andere
Ertrem vertreten zu finden: ven ſchraukenloſeſten Subjectivismus. Er wurzelt
nod) in den Ideen und Beitrebungen des Anfangs unferes Jahrhunderts. Diejer
begehrt die Erziehung al® ein unveräußerlihes Recht der Familie.
Wilhelm von Humboldt conftruirte gegen Ende des vorigen Jahrhunderts
in feiner Schrift: „Bon den wahren Grenzen der Wirkjamfeit des Staates“
eine Politie, in welder die Staatsmacht auf ein Minimum rebucirt it: eim
treues Abbild von den damald umter den Gebilveten ver Nation berr-
Ihenden Auffafjungen von dem fogenannten Nothſtaat. Selbjt der beite Staat
galt im jener Zeit eben nur für ein nothwendiges Uebel. Bon diefem Stand»
punkte aus erklärte auch Hegel in feiner zweiten Gymnaſialrede die Zucht der
Sitten als eine nicht öffentliche Sache, jondern als ein Geſchäft und eine Pflicht
der Eltern. Im der dritten Rede führt verjelbe Philofoph aus, daß die Dis-
ciplin und moraliſche Wirkſamkeit der Schule fib nicht auf den ganzen Um:
fang der Eriftenz des Schülers erftrede, der nur mit einem Fuß in derjelben
ftehe. Dieje felbit ift ihm nichts weniger als Staatsanftalt, ſie ſteht ihm
zwiichen ber Familie und der wirfliden Welt umd wirft im Yuftrage der
Familie und auf Grund des ihr von legterer geſchenkten Vertrauens.
Diefer Standpunkt mochte jo lange feine Berechtigung haben, als die
Familie ihrer Verpflichtung, auch für das fittlibe Wohl der Kinder zu jorgen,
ih bewußt blieb. Heute aber, wo die Pflichten nicht mehr von Allen geübt
werden, fünnen auch die entſprechenden Rechte nicht ungefchmälert belaſſen werben.
Das höhere Imterefie der Gejammtheit erfordert diefe Einſchränkung auf das
Entjhiedenfte. Wenn man heute übereinftimmend berechtigte Klagen vernimmt,
daft die Jugend theils in Genußſucht erſchlaffe, theils — was mehr von dem
die höheren Schulen nicht bejuchenden Theile gilt, — ſittlich verwildere, jo
möchte man freilih bei der Gleichgültigkeit, mit der bislang der Staat ſolche
Schäden hinnahm, meinen, daß derſelbe in der That ein innigeres Intereſſe
daran nicht zu nehmen brauche. Aber iſt denn der Staat nicht eine ſittliche
Anſtalt, die ohne die Sittlichkeit ihrer Angehörigen gar nicht beſtehen kann?
Und mehr noch! Der freieſte Staat braucht ohne Zweifel auch die ſittlichſten
Perſonen. In der abſoluten Monarchie iſt der Menſch nur Maſchine, nur
thätig in der Hand eines höheren Willens und bedarf daher nur inſoweit der
Erziehung, daß er gehorchen lernt. Anders im conſtitutionellen Staat. An
die Stelle des knechtiſchen Gehorſams muß bier der freie treten und eine edle
Vereitwilligkeit, dem Staat alle Opfer an Gut und Blut, an Arbeit und
Mamnesfraft zu bringen. Wie mag man hoffen, bei den jegigen Zuftinden
der Erziehung ein jo hohes Ziel zu erreihen? Mit Recht madt der Philo-
joph Ariftoteles in dieſer Beziehung darauf aufmerkjam, daß das väterliche
Gebot nicht jo zwingend ift wie das Stantögebot, und daß der Staat Alle
ohne Ausnahme über einen Peiften ſchlagen fkünne.*) Wo das Intereſſe des
*) Aristot. Nie. Eth. X, 9, 11 und ff. überjegt von Ab. Stabr: „Wenn ber
Menſch, um gut zu werben, ſinich erzogen und gewöhnt werden, und demnächſt das
ganze Thun und Treiben feines Lebens eim fittlich gutes fein und er weber mit noch
obne feinen Willen das Schlechte tbun muß, und wenn alles dies nur geicheben fanı,
wenn der Menſch nach einem gewijjen Vernunftgeſetz und nach richtigen Inftitutionen
26
Staates mitjpricdt, haben wir uns Alle zu fügen. Auf diefem Grundſatz
beruhen jchon jo viele Gejege, die das Recht des Individuums einſchränken,
wie das der Schulpflicht und des Impfzwanges, das der allgemeinen Wehr-
pflidyt, Das des Jeugenzwanges- u. j. w. Um mie viel mehr Recht hat ver
Staat dazu, die Feltjegung gewiſſer Erziehungsgrundfäge für fih in Anjprud)
zu nehmen, da ihn hierzu die Pflicht der Selbjterhaltung recht eigentlid, nöthigt !
Scheinbar ſchwerer wiegt es, wenn mein Vorſchlag den Borwurf erfährt, Daß
nad) ihm die Erziehung eimem Inſtitut iiberantwortet wird, das nur auf Dem
Utilitätsprincip erbaut je. Wo jei die erwärmende, adelnde Idee, in der Die
Jugend an der Hand eines Staatsbeamten heranwachſe? Auch hier tritt ung
wieder die Borftellung vom Staate entgegen, die wir oben ſchon zurüdwiejen.
Wo ift denn eine idealere Grumdlage für die Erziehung der Jugend zu finden
als in der Platoniſchen dexwocurn, auf welder der Staat beruht? Auch
in dem chriftlichen Staate weht ein anderer Geift nicht. Oper haben etwa
jene „chriſtlichen“ Jeſuitenſchulen, in denen das Trachten nad Ehre zum Hebel
jeder geiftigen Anjpannung und Yeiftung gemacht wurde, in einem chriſtlicheren
Geiſte die Jugend erzogen? Der chriſtliche Geift ijt ja übrigens, Gott ſei
Dank! heute nicht mehr blos bier oder da; er iſt jegt ein untrennbarer Be—
jtandtheil unjerer Cultur, ein Gemeingut des deutſchen Bolfes geworden, jo
zwar, daß gar viele Männer, die jid) äußerlich gar nicht zur Kirche halten,
mehr von ihm, wenn aud ganz unbewußt, in fih haben als jo mancher
zelotijche Bekenntnißchriſt. Darum ift e8 entweder eine Phraſe oder es verjteht
ji von jelbit, daß die Erziehung unjerer Jugend im chriſtlichen Geifte geſchehen
muß. In feinem Falle darf die von mir vorgejchlagene Staatserziehung als
in einem Gegenſatz zur chriſtlichen ſtehend aufgefaßt werben.
Endlich höre ich meine Gegner einwerfen, daß ich die Bedeutung Der
Familie in einer Weife verfenne und herabjege, die den Beſtand des Staates
jelbft in Frage ſtelle. Daſſelbe jagte man Yuther nad, als er jein Send—
ihreiben an die Städte erließ, daß fie riftlihe Schulen aufrichten jollten.
„Ein Jeglicher mag jeine Söhne und Töchter wohl jelber lehren und fie ziehen
mit Zucht.“ Ich antworte mit Luther: „Ja, man jiehet wohl, wie ſich's
lehret und zeucht!“ Sodann weiß ich jehr wohl, daß die Staaten ſich jtets
auf die Familie gründeten. Aber ich erfenne in ver Entwidelung der Menjch-
lebt, welche Kraft haben, ſich Geltung zu verfchaffen: jo hat zunächſt das wäterliche Ge—
bot nicht die dazu erforderlicde Stärle und zwingende Kraft, ebenjowenig wie überhaupt
das Gebot eines einzelnen Mannes, wenn berjelbe nicht König oder font eine mit ab-
foluter Macht bekleidete PBerfon if. Das Geſetz dagegen bat zwingende Kraft, denn es
ift eine Vorjchrift, die jo zu jagen aus der praftifchen Klugbeit und Vernunft bervor-
gegangen ift. Dazu fommt no eins: wenn e8 Weenſchen find, die unjeren Neigungen
entgegentreten, fo haſſen wir fie, auch wenn ihr Widerftand gerecht ift, das Gejeß bin-
gegen, weil e8 Überhaupt nur die Norm für das Rechte und Gute aufjtellt, erregt im
uns fein Gefühl des Widerwillens. In dem einzigen lacedämonifchen Staate, wenn
man ein paar andere ausnimmt, fcheint der Gejeßgeber fih um bie Auferziebung und
die Unterrichts- und Bildungsgegenftände der Individuen befümmert zu baben, während
dagegen in den meiften übrigen dieſe Dinge völlig verwahrloft find, und Jeder lebt,
wie er Yuft bat, auf gut kyklopiſch richtend über Weib und Kinder.“ Die legten Worte
enthalten eine Anfpielung auf Dom. Odyſſ. 9. 114. Dieje Worte paffen genau auf
unfere Berbältniffe. Die Notbwendigkeit aejetslicher Verordnungen gegenitber der elter-
lichen Nacficht, welchen ſich Alle in gleicher Weiſe zu unterwerfen haben, läßt ſich nicht
ſchärfer darthun.
27
beit die Intention, da8 Inor rrodırızor mehr und mehr darzuftellen. Und
wenn bisher die Gulturftaaten aerade in dem Zeitpunkt zufanmenfielen, wo fie
die Familie abjorbirt hatten, jo ahne ich hier dennod den Anfat zur Erflim-
mung einer höheren Stufe der Bervollfommmung, die allerdings nicht aleich bei
dem eriten Verſuch gelingt, wohl aber dann gelingen könnte, wenn die nöthigen
Zwiſchenglieder und helfenden Momente dur den Gang der Entwidelung vorber
geſchaffen ſind. Diefe mit bewußter Ueberlegung allmählich zu Schaffen, betrachte
ih als die Aufaabe unferer Zeit. Hier mögen wir von dem praftifchen und
faatsflugen Volke der Römer lernen, die zwar nie von der Vorzeit über—
fommene Inftitntionen durch Geſetze aufhoben, aber doch rechtzeitig fiir deren
Erjag durch zeitgemäßere Bedacht nahmen, wenn erftere jich überlebt zu haben
ſchienen.
6.
Die Organe des Staates bei dem Werk der Erziehung.
Es entſteht nun die Frage, durch welche Organe der Staat die Erziehung
zu leiten habe. Als ſolches gilt mir in erſter Linie die Familie. Erſt in
dieſem Sinne gefaßt, erhält ſie heute ihre rechte Bedeutung. Da die Eltern—
und die Kindesliebe die erſte Baſis für die Sittlichkeit iſt, ſo wird ſich in ihrem
Schooße auch die Erziehung in dem erſten Stadium am alüdlichiten vollziehen.
Bis zum fiebenten Jahre mögen die Kinder beiderlei Geſchlechts aanz dem
elterlihen Haufe überlaffen bleiben. Hier follen fie ſich zunächſt körperlich ent:
wideln und aud die erften geiftigen Einvrüde von der Mutter empfangen.
Die Eigenart ver Eltern mag Gelegenheit haben, ſich bei den Kindern Geltung
zu verjchaffen, damit der Charakter der Staatsbürger vor Einförmigfeit be—
wahrt bleibe.
Wo die Erziehung von Eltern unverftändig betrieben oder ganz vernad)-
füfiat wird, bat der Waiſenrath unter dem Vorſitz des Gemeindehauptes und
unter Zuziehung des Geiftlihen des bezüglichen Bekenntniſſes über die einzu:
Ihlagenden Schritte zu berathen umd zu beichließen. Wenn Nat) und Zuſpruch
fruchtlos bleiben, jo iſt es dem pflichtmäßigen Ermefjen des genannten Colle-
giums anhbeimgeftellt, das Kind anderweitig geeignet unterzubringen. Im den
aröperen Städten wird durch Einrichtung von Kindergärten denjenigen Eltern,
welche durch die Art ihrer Beihäftigung außer dem Haufe von ver Benuf-
ſichtiging der Kinder abgezogen werden, Gelegenheit zu bieten jein, dieſelben
für die Zeit ihrer Abweſenheit von Haufe fremder Obhut anzuvertrauen.
Erft mit fieben Jahren tritt das Kind in die Volksſchule ein. Wenn
Solon, Plato und Ariftoteles dies Pebensjahr für den Beginn des Unterrichtes
anjesten, jo haben wir, die wir nördlicher wohnen, e& wohl zu überlegen, ob
das fünf» und jehsjährige Kind, das bei uns gefeglich ſchon zum Schulbeſuch
verpflichtet ift, nicht befier nody von den Anftrengungen des Denkens verjchont
bleibt.*) Bon dem Eintritt in die Schule ab joll das Kind feineswegs dem
*) Menn Friedrich ber Große und ſchon deſſen Vater die Kinder wenn nicht
jrüber, fo doch wenigſtens mit dem 5. Febensjahre für die Schulen in Anſpruch nebmen,
fo möchte ich bierim den Berfuch ſehen, ſchon in möglichft frühem Alter dem Lehrer
28
elterliben Einfluß entzogen werten, wohl aber in ver Echulanftalt eine ftaat-
fihe Einrichtung rejpectiren lernen. Die Verantwortung für die Erziehung
des Kindes dem Staate gegenüber rubt auf dem Yehrer, der Fraft jeines Amtes
üiberall einzuwirfen bat, wo er das Geelenheil feines Zöglinges gefährdet ſieht.
Dabei verſteht es ſich aber von ſelbſt, daß Seitens der Schule eine tactvolle
Berückſichtigung der häuslichen Verhältniſſe ſtattfinden und eine ängſtliche Scho—
nung der Pietät genen die Eltern geübt werden muß. Je älter das Kind
wird, defto mehr rüdt der Schwerpunkt der Erziehung in die Schule. Diele
aber darf nicht durd den Lehrer allein vertreten fein. Den Unterricht zwar
leitet er allein, die Disciplin aber, foweit fie nicht unmittelbar mit dem Unter-
richt verwachſen tt, gehört einem Collegium, das unter dem Vorſitz des Rectors
oder Directors aus den Yehrern der betreffenden Anftalt und aus gewählten
Bertretern der Gemeinde befteht. Im Cinflang mit den ſtaatlich gegebenen
Sculgefegen und den erläuternden Anordnungen der berufenen Behörden bat
dieſes nicht nur die jpeciellen Schulordnungen feitzujegen, ſondern auch über
die Beachtung verjelben von Ceiten ver Familien, der Lehrer und der Schul:
jugend zu wachen und überhaupt die Schulzudt zu üben. Die Cenſuren und
BVerfetungen, die Beftimmung und Abmeffung der Strafen für gröbere Vers
gehungen, die Anoronungen bezüglich der Schulfefte u. a. gehören vor fein Forum.
Mit feiner Genehmigung erfolgt mit 14 Jahren der Austritt des Kindes aus
der Volksſchule. Dieſe Genehmigung iſt zu verfagen, wenn die intellectuelle
und fittlibe Neife bezweifelt werden muß. Der aus der Schule entlaflene
Knabe bleibt, ebenjo wie das in dem gleichen alle befindliche Mädchen, zum
regelmäßigen Beſuch der überall, namentlih auch auf dem platten Lande ein—
zuführenden Fortbildungsſchulen verpflichtet und beide treten unter den erzieh-
lihen Einfluß ımd die Disciplin des Collegiums der Fortbildungsſchule, in
welhem dem Paienelement eine entipredhend ftärfere Vertretung wegen der hinein-
ſpielenden Intereſſen der gewerblichen Stände einzuräumen iſt. Cine Stunde,
für die von diefer Behörde die Zeit feftzujeten ift, muß täglich mit Ausnahme
des Sonntags diefem Unterricht gewidmet werben. Derſelbe hat vie Kenntniß
ber Organtjation des, Staates, der Rechte und Pflichten der Staatsbürger und
der wichtigeren Gefege zu vermitteln*), die der vaterländiichen Geſchichte zu ver-
tiefen, auferdem in den Städten den Bedürfniſſen der Gewerbe zu dienen, auf
dem Pande aber die Disciplinen der Ackerbauſchulen joweit als möglich auf-
einen Einfluß auf die Erziehung des Kindes zu fihern. Denn daß em Kind in jo
zarter Jugend dem Unterricht mit Erfolg und, wenn dies, obne Schaden an feiner
ie und körperlichen Sefundbeit folgen könne, bezweifle ich nad meinen Erfabrungen.
a, ih bin ſehr geneigt, die Eriheinung, daß es unferer Zeit an berworragenden
geiftigen Capacitäten fo ſehr fehlt, auf Rechnung des zu früben Schuibefuches zu feten.
Was Ariftoteles von den Gefahren zu frübzeitiger Anftrengung Des lindlichen Körpers
durch die gymnaſtiſchen Uebungen ſagt, (P ol, VII, 4 & yag rois Okvu movixaus
dio rs arn rotis EvgoL tous aurovg vevinnxoras ‚ürdgas re zei neides, die ro veous
KoxoUrrus dparpeige ryv divauır Uno Twr avayxalor yuurasior.) findet ganz
entiprechende Anwendung auf zu früb dem Findlichen Geift zugemutbete Anſpannung.
*) Als ein ganz vorzügliches Lehrbuch für diefen Theil des Unterrichts wäre zu
enpfeblen: Deimling, Die Segnungen der menſchlichen Gejellichaft. Populäre Be-
trachtungen aus bem Gebiete des fittlihen Pebens. Ein Büchlein für das Volk und
die Jugend. Strafbura, W. Schauenbura, 1873. Dies belebrende und noch mehr an-
vegende Bud follte auch in feiner Schüler -Yejebibliothet fehlen,
29
zunehmen. Der Clementarlehrer wird auf dem Seminar diejenige Vorbildung
erhalten müffen, die ihn für die Ertheilung dieſes Fortbildungsunterridts be-
fähigt.”) Am Sonntag Nachmittag verfammelt fi) die geſammte männliche
Jugend in Stadt und Yand auf dem Turnplatze, um fi mit Spielen zu
beluftigen. Daß diefer bald der Sammelplag auch der Eltern werden und
auf diefe Weife eine wilrdigere Begehung der Sonn- und Felttage im Bolt
ih anbahnen wird, ift zu hoffen. Für die Mädchen wird ein Induftrieunter:
richt eingerichtet, der diejelben befähigt, die in der Familie vorfommenden weib-
liben Handarbeiten ohne fremde Unterftügung zu fertigen.
Den Schlufitein ver Erziehung der männlichen Jugend bildet Dann ähnlich wie
einft in Athen die militäriiche Ausbildung zur Vertheidigung des Thrones und
Vaterlandes. Erſt mit der Entlaffung von der Fahne, alfo in der Regel mit
23 Jahren, gewinnt der junge Mann das Recht der freien Selbitbeitimmung,
das Recht, einen eigenen Hausſtand zu begründen, überhaupt die Rechte eines
Staatsbürgers.**)
‚7
Von den Mitteln der Erziehung, befonders in den höheren
Lehranftalten.
Nachdem wir im großen Zügen die Inftitution der Volkserziehung ent:
worfen haben, wenden wir uns fpecieller zur Beſprechung der Erziehung,
welche die höheren Yehranftalten geben ſollen. Es fpringt jofort in die
Augen, daß den Gymnaſien, infofern fie für die Univerfititen ‚vorbereiten,
die Aufgabe zufällt, die künftigen Führer des Volkes zu bilden. Daran
folgt, daR es nicht darauf ankommen kann, die das Gymnaſium befuchende
Jugend nach der Schablone nur zum Gehorfam zu erziehen. Schen Ariftoteles,
der doch die Staatserziehung eingeführt wiffen wollte, verkennt nicht, daß die
Familienerziehung in einem Punkte einen Vorzug enthalte, nämlich infofern
fie imdividneller jei, denn jene. Der Pehrer hat alfo, um dieſen Nachtheil
Möglichft gering zu machen, ſtets zu bevenfen, daß der Menſch zu einer Berfon
gebildet werden fol. Die Intentionen der einzelnen Naturen müſſen infoweit
berüdjichtigt werden, als ihre Anlage nicht fehlerhaft it. Demnad wird man
ih zwar beifpielsweife auf das Aengftlichite zu bitten haben, einem ſich ſchon
früh entwidelnden Ehrgeiz Nahrung zu geben, amdererfeit aber wird man
Anftand nehmen, einen träumerifchen Knaben zu einen willensfräftigen machen
*) Das verlangt auch Felix, Die Arbeiter und die Gefellichaft, Leipzig 1874, S. 206.
Vergleihe auch Dr. Jürgen Borna Mever, Die Fortbildungsichule im unferer Zeit,
Berlin 1873. Muſtergültig ift das Geſetz über den Fortbildungsunterricht im Herzog
tbum Gotba vom 3. Juni 1872. Vergleiche endlich auch Dr. Viet. Böhmert, Arbeiter-
verhältniffe und Fabrifeinrichtungen der Schweiz. Bo. I. Zürich 1873,
*) Friedrich ber Große betont in jeiner Schrift de l’&ducation (Veyv. t. XXIII),
daß es ſehr Schädlich wirfe, den jungen Mann zu zeitig zu emancipiven, Er will daber
den Sobn bis zum 26, Jahre in der väterliben Vormundſchaft belaffen wiſſen. Unſere
Zeit bat, wir meinen nicht mit Recht, die Entlaffung der Mündel aus der Vormund-
Ihaft auf ein weit früberes Lebensjahr zurüdgelegt.
30
—
zu wollen, vielmehr ſich bemühen, jene Träumereien in die rechte Bahn behufs
Erhebung zu intellectueller Klarheit zu lenken. Ne quid invita Ninerva!
Damit. wollen wir aber keineswegs einem Glauben an blinden Fatalismus
das Wort reden. Wo in der Pädagogik diefer berriht, da ift die Wirkung
des Erziehers bedeutungslos und nur, wie ſich der hochverdiente Trendelenburg
in feinen Borlefingen über Päragogif und Didactik jo treffend äußerte, der
Reſultante in dem Barallelogramm der Kräfte zu vergleihen. Alſo unter
möglichfter Berückſichtigung der individuellen Anlagen lenke man den Knaben
und Jüngling zur willigen Fügſamkeit in den vernünftigen Willen des Andern ;
zeitig lerne er feinen Eonderwillen unter den des Allgemeinen, des Geſetzes
beugen. Der rechte Weg zur Erlernung der Kunft des Befehlens, die ja
gerade die Gymnaſialjugend ſich aneignen foll, fiihrt — das wußte ſchon
das Altertbum — nur durd die Aneignung der Kunſt des Gehorchens.
Den jungen Mann zu befähigen, fi) als dienendes Glied dem großen Ganzen,
dem er durch Geburt angehört, anzuſchließen, das ſei Ziel der Erziehung.
Aber wenn auch der Eigenmwille itberall zu unterdrücken ift, jo tod gewiß
nicht der eigene Wille. Müſſen wir doch gerade Charaftere zu bilden fuchen,
zumal in biefer Zeit, die au ſolchen, wie Die landläufige Klage beißt, in dem—
jelben Grade vor andern Zeiten bittern Mangel leidet, wie fie dieſelben
gerade vor andern Zeiten braucht.
Unter den Mitteln mm, die Aufgabe der Erziehung zu Löfen, unter:
ſcheiden wir directe und indirecte. Unter den erfteren fteht obenan der Unter:
riht. Diefer muß jo gewiß feine etbifche Seite haben, wie die Erziehung
unterrichtend fein muß. Abgeſehen auch von der Förderung der Intelligenz
und der Gewöhnung an ein confequentes Denken, welche beide den Willen
nothwendig beeinfluffen, bat aud die Disciplin und tie Methode des Uuter-
richte für den Schüler ungefähr diefelbe Bereutung wie der ſogenannte Drill
des Exercirplatzes fiir die militärifche Ausbildung. Der Zwang zur Auf:
merkſamkeit und gneiftigen Thätigkeit verleiht in dem Make fittliche Kraft, als
er nicht mehr blos äußerlich geübt wird. Und nicht die Put am Pernen,
Willen und Können als an folhen darf allein gepfleat werden, viel mehr
noch die Freudigkeit des Bewußtſeins erfüllter Pflicht. Namentlih von dieſer
Seite gewinnt in meinen Augen das fogenannte Exrtemporale eine pädagogiſche
Bedeutung. Bei deſſen Anfertigung arbeitet der Jüngling mit volliter An-
ſpannung aller feiner geiftigen Kräfte und hat nicht nur darzuthun, daß er
fih einen beitimmten Chat von Kenntniffen erworben hat, fondern vor Allem
daß er jein Pfund, eben dies fein Wilfen, mit Beſonnenheit und Geiſtes—
gegenwart anzuwenden und jo feine Schuldigfeit zu thun vermag. Er mu
das Gefühl haben, mur dann ein nüßliches Glied des Schulkörpers zu fein,
wenn er von feinem Willen an der rechten Stelle auch Gebraudy zu machen
verfteht. Daher gilt ed mir auch als eine umabmweisliche Pflicht jedes Lehrers,
eben damit er dieſe Gelegenheit, erziehlich auf den Schiller einzuwirfen, nicht
verliere, daß er jeine Ertemporalien ſelbſt zufammenftelle, jo zwar, daß er
im höchſten Mafe die Concentration des geſammten geiftigen Vermögens ge-
legentlich diefer Uebung bei feinen Zöglingen herbeiführe.*) Gedantenlofigfeit,
*) Diefe Rorderung ift von jeher von ben Gymnafialpädagogifern anfgeftellt
worden, jo 3. B. von Nägelsbach. Vergl. Autenrietb, Carl Friedrih von Nägelsbach's
31
diefer Mehlthau auf dem friichen Geifte des Jünglings, wird durd Nichts To
gepflegt, wie durd) Uebungsſtücke, in denen entweder Feine rechte Beziehung zu
dem zeitigen Claſſenpenſum Statt bat, oder überhaupt zu wenig Kraft umd
Aufmerkjamkeit in Anfprud genommen wird. Je älter der Knabe wird, deſto
böbere Anforderungen darf und muß das Ertemporale an ſein Leiſtungs—
vermögen jtellen. .
Demnächſt übt der Stoff des Unterrichts durch das Medium des Er-
kenntniß⸗ und Gefühlsvermögens ımzweifelhaft Einfluß auf das Willens-
vermögen. In dieſer Beziehung ift jeit Anfang diefes Jahrhunderts, bejonders
aber im den legten Jahren, immer dringender eine Reorganiſation des höheren
Shulwejens in Deutihland von Männern begehrt worden, deren Patriotismus
ihren Borjchlägen ein befonderes Gewicht verleihen dürfte. Und es iſt wahr:
baben Mir unjere Kinder wirklich zur Bollfommenheit des deutſchen Weſens
zu erziehen, jo wird fid) Das Gymnaſium einer Berückſichtigung dieſes Zieles
auch im ver Wahl ver Unterrichtsfäcder und demgemäß einer theilweifen
Aenderung feiner Anforderungen in wiſſenſchaftlicher Hinſicht nicht wohl ent-
sieben fönnen. Denn die gelehrte Schule gönnt bis jegt dem deutjchen Geiſte
immer noch wenig Spielraum. Die alten Trapitionen, welche ja freilid aus
einer großen Zeit ftammen, erweilen ſich mächtiger als ter heut ſich erhebende
Kuf nach nationaler Erziehung. Hat man vordem mit Unrecht dem Gymnaſium
den jchweren Borwurf gemadt, daß es durch feine eimfeitige und jtarre Be—
tonung des antiken Claſſicismus jene unfelige Zerriffenheit der deutſchen Nation
in Gelehrte und Ungelehrte verſchuldet habe, — ich jage mit Unrecht, denn
an welche andere Quelle hätte e8 wohl die wiſſensdurſtige Jugend führen
jollen? — jo wird man dod heut zu Tage über den Clafjifern des Alter-
thums die nationalen nicht vernachläjligen dürfen. Ja mehr noh! Wenn
der Senat der Berliner Univerfität in jeinem befannten Gutachten über Die
Möglichkeit ver Zulaffung ter Realichul- Abiturienten zu ven Univerfitäte-
Studien dem Knaben eine ideale Richtung eingeflöht wiſſen will, damit er
niht jpäter „im materiellen Treiben“ umtergehe, jo müfjen wir winfcen, daß
diefe Ideale in erjter Yinie aus dem deutjchen Geifte geichöpft werden. Das
Ztudium der deutſchen Geſchichte, Sprade und Pitteratur muß in weiteren
Grenzen betrieben, ver deutſche Aufjag der Gradmeſſer der Reife des Abiturienten,
der lateiniſche Aufjaß gänzlich abgejchafft werden. Die Sprade ift der Menſch,
und unzweifelhaft jaugt der Knabe und der Jüngling durch ven jelbitändigen
Gebrauch der lateinifchen Spradye in den Aufjägen etwas von jenem römiſchen
Seift im fi auf, der dem deutſchen Feineswegs homogen ift. „Zwei Dichter
haben mein Baterland im Liede einfach und groß charafterifirt: der eine be-
jang es als das Vaterland der Treue, der andere ald das Yand voll Pieb’
und Yeben. Bat jemals ein Volk, ſeitdem die Menſchheit nach Vervollkommnung
ringt, durch edlere Erjceinungen herworgeleuchtet? Liebe, Treue, Yeben —
das jind die drei wunderfräftigen, gewaltigen, unzerjtörbaren Wurzeln des
urdeutihen Niejenbaumes.“*) Diefer Geift der Yiebe und Treue weht in
—
Gymnafialpädagogik, Erlangen 1862, S. 110 und ff. Aber die Bedeutung des Er-
temporale bat am treffendften der verftorbene Director von Ilefeld, Sceibel, im den
Verhandlungen der Schlefiichen Divectoren - Conferenz won 1867 charalteriſirt.
*), Kaffner, Die deutſche Nationaferziebung. Berlin 1873, ©, 171.
Radite, Welder Antheil xc. 3
der lateiniſchen Sprache und Pitteratur nit. So mag denn das Herz des
deutichen Jünglings feine ven Willen beeinfluffende Begeifterung and ber
Pitteratur und Geſchichte ſeines eigenen Volkes fchöpfen. Gewiſſermaßen ein
Complement dazu bilde das Studium der Alten, durd welches eine für die
Ausbildung eines vernünftigen Willens heilfame Klarheit der Gedanken und
befonnene Intelligenz gewonnen wird. Denn an eine Cinjchränfung ober
gar Abſchaffung der altelaſſiſchen Studien kann fein Berftändiger denfen. St
doch der aeiftige Gehalt der beiden Culturvölker des Alterthums zu emem
Beitandtheil des modernen Germanenthums geworden.
„Das Leben aller Weltgeichlechter ſchloſſen
In unfres wir; wir haben fübngemutb
Den fremden Geift in deutih Gefäß gegoffen,
Die fremde Form durchſtrömt mit deutihem Blut,
Da ward, im Ringen tiefer nur genofien,
Zum Eigentbum uns das entlebnte Gut,
Und feine Blume, die mit frobem Ganze
Der Menichbeit aufging, feblt in unſrem Kranze.“*)
Wollten wir die alten Spraden aus den Gymnaſien weifen, fo würden
wir bald uns jelbft verlieren, jo untrennbar ift ihre Kenntniß mit dem
deutſchen Weſen verknüpft. VBergeblih hätten dann die großen Philologen
unjeres Volkes, Fr. A. Wolf und das Diosfurenpaar, Böckh und G. Her-
manı, die Kenntniß des Altertbums ung erſchloſſen, vergeblihd Schiller und
Goethe uns eine clafjijche Litteratur gejchaffen.
Im dritter Linie wirft auf den Menſchen auch em fubitantielles Element,
wie es Hegel nennt, erziehlich ein. Es ift dies in der Ordnung begründet,
in der er lebt und nad der er feine geiftige Organifation bequemt umb richtet,
inwiefern die Grundſätze mehr als Sitte an ihn fommen und allmählich eigene
Sewohnheiten werden. In diefer Hinfiht iſt nun die Schule ein ſittlicher
Zuftand. „Sie iſt eine Sphäre, die ihren eigenen Stoff und Gegenſtand,
ihr eigenes Geſetz und Recht, ihre Strafen und Belohnungen hat, und zwar
eine Sphäre, die eine wefentlihe Stufe in der Ausbildung des ganzen fitt-
lihen Charakters ausmacht. Die Schule fteht nämlich zwifchen der Familie
und der wirklichen Welt und macht das verbindende Mittelglied von jener in
dDiefe aus. Das Leben in der Familie ift ein perfünlices Verhältniß, ein
Verhältniß der Empfindung, der Yiebe, des natürlihen Glaubens und Zu:
trauens, es ift nicht das Band einer Sade, jondern das- natürliche Band des
Blutes, Das Kind gilt hier darum, weil es das Kind ift; es erfährt obne
Berdienft die Liebe feiner Eltern, ſowie e8 ihren Zorn, ohne ein Recht da—
gegen zu haben, zu ertragen hat. In der Welt dagegen gilt der Menſch nur
das, was er leitet, er hat den Werth nur, infofern er ihn verdient. Die
Schule nun führt den Menjhen aus dem Naturverhältniß der Empfindung
und Neigung in das Element der Sache. In der Familie herricht perfünlicher
Gehorſam und Yiebe, in der Schule Pflicht und Geſetz. Der formellen Orb:
nung halber hat das Kind dies zu thun, das Andre zu laffen, was jonft
wohl dem Einzelnen geftattet werben könnte. Nach Andern ſich richten, Zus
*) Seibel, Deutſch und Fremd, in „Gedichte und Gedenkblätter, 5. Auflage.
Stuttgart 1868.
33
trauen zu fich gewinnen, kurz die focialen Tugenden erwacjen in ihren
Räumen.“ *)
Schon der Geift der Schule muß den Zögling in den Schranfen ber
Beſcheidenheit und Sittfamkeit, ver Ordnung und Pflichttreue, des Gehorſams
und der Fügſamkeit erhalten. Plato jagt jehr richtig, daß für alle Erziehung
gewiffermaßen vie Grundpfeiler die Beſcheidenheit und der Gehorſam jeien.
In diefer Beziehung wird darauf Die Schule ihr, Augenmerk zu richten haben,
die Unerwachſenen prinzipiell von der Theilnahme an denjenigen Genüſſen und
Vergnügungen Erwachſener fern zu halten, die an ſich unbedenklich auch der
Jugend zu gejtatten wären, die aber, weil im Berein mit Erwachſenen ge-
währt, ihr das unberechtigte Gefühl, dieſen aleichzuftehen, mitzutheilen geeignet
find. Im Kreiſe der Familie find derartige Beluftigungen unverwehrt, un—
tatthaft aber, jobald ſich mehrere Familien zu einer gewifjermaßen öffentlichen
Feier zujammen vereinigen, wie dies beijpieldweife bei den Tanzluftbarkeiten
geihieht. Die Zuziehung von Schülern, und gehörten fie auch der oberjten
Claffe an, zu Reſſourcen-Ergötzlichkeiten halte ich nad den Erfahrungen, die
ih darüber gemacht, für durchaus ſchädlich. Wie will man bei derartigen
verfrühten Mafregeln nod hoffen, die Jugend vor der Blafirtheit zu be-
wahren, welche heute allerdings in Folge der durch die übel augebradte, un—
verantwortliche und geradezu grenzenloje Nacgiebigfeit gewiſſer Eltern um
jogar einzelner Lehrer verſchuldeten Anticipation der VBergnügungen Erwadhjener
in erjchredendem Maße eingerifjen ift und nicht nur die Unbefangenheit des
findlihen Herzens, den koſtbarſten chat des Knaben, jondern aud die Fähig—
fit der VBegeifterung, der Weihe des Jünglings, zu rauben droht? Mit
Recht hielten die Römer die sera juvenum aetas für das eigentliche Ziel
der Erziehung. Aber auch die alte gute Sitte in der deutſchen Familie ſchloß
ten Sohn, jo lange er Schüler war, von Bällen und Schmaufereien, ja jogar
vom häuslichen Tiſch aus, ſobald Gäſte geladen waren. Was thut die moderne
Sitte dagegen? Als ob die Söhne und Töchter noch nicht genug Unterhaltung
hätten, wenn fie an den Bergnügungen der Erwachſenen ſich betheiligen,
arrangiren bier und da Familien „von gutem Ton“ noch bejondere Kinder—
bälle.. So werden Zierpuppen erzogen, jo wird die natürliche Unbefangenheit
und Wahrheit zeitig in den jugendlichen Herzen ertödtet, und an deren Stelle
der Schein und die Phraje groß gezogen. Man bevenfe doch ja, daß „Dies
die Jahre find, in denen, wie Schiller jagt, der Knabe ſich ftolz vom Mädchen
reißt, d. h. mad der Ordnung der Natur die Geſchlechter Nichts von ein-
ander wiljen wollen“. „Dieſe Ordnung der Natur zu vejpectiren, wäre
were, jehr weiſe.“ ) Mer halb Knabe, halb Yüngling bereits feine Kinder—
*) Worte Hegel’s, feiner dritten Gymnaſialrede entnommen.
**) Briefe über Berliner Erziebung. Berlin 1872, S. 72. Ueber die Kormali-
täten bei der Einladung zu diefen Feſten beißt es S. 73: „Man erwartet eine offi-
zielle Einladung von Seiten der Eltern, und zwar, wo ein foicher vorhanden ift, durch
den galonirten Bedienten mit weißer Halsbinde, da eine Botſchaft durch das Dienit-
mädchen in ſolchem falle ſchon als ein arger Formfebler von den Eltern und natür-
Ih aud von ben Kindern — übel genommen würde; damit nicht genug: iſt Die Im
Ausfiht fiebende Gejellihaft von der entiprechenden Größe, fo ift auch jene Form nicht
mebr brauchbar, man ſchickt durch den Bedienten die litbograpbirte Einladungsfarte!“
— „Iſt die Einladung erfolgt, jo werden Die Vorbereitungen mit der entiprechenden
Wichtigleit und Gründlichkeit betrieben, denn in einem fo glänzenden Haufe können bie
3*
bälle mitgemaht hat, ber tit für den Zauber der deutſchen Minne verloren.
Ihr Eltern, bevenft es wohl, daß ihr eure Kinder für das höchſte Glüd
unempfänglid) macht, welches das Herz eines deutſchen Jünglings oder einer
deutichen Jungfrau erheben kann! Daß ihr die jchöniten Jahre aus ihrem
Yeben jtreiht, im denen das ftille Sehnen der Yiebe zum Yied begeijtert und
erröthend den Spuren der Geliebten zu folgen zwingt! Auch um ven Genuf
der herrlichſten Yitteraturichäte und um die durch deren Yectüre vermittelte
jugendliche Begeilterung bringt ihr eure Yieben! Oder jollte Siegfrieds und
Chrimbildens Yiebe und Kudruns Treue verfteben, der ſchon im Knabenröch—
hen jeine Pflichttänze zu machen gewiejen wurde ?
Noch unzmweifelhafter ift es mir, daß der Beſuch der Schanflofale, auch
in Begleitung Erwachſener, jchlechterdings zu verbieten ift. Nur wo die Noth
zwingt, aljo 5. B auf Reifen, mag man Ausnahmen ſtatuiren. Wenn nämlich
Plato es dem Erzieher einschärft, namentlih zu verhüten, daß ein Mal ein
Jüngling einen Alten etwas thun jehe oder reven höre, was mit der Sittlich—
lichfeitt und Schamhaftigkeit collivirt, jo wird dieſe Vorſchrift gerade ein unbe:
Dingtes Verbot des Bejuches der Neftaurationen nothwendig machen. Denn
daß am Biertifch die reverentia pueris debita beachtet werden würde, wird
Niemand zu behaupten wagen. In Gegenwart feines Sohnes, jo wird berichtet,
ſprach der ältere Cato mit ſolcher Vorſicht, als ob Beitalinnen zugegen wären.
Und Ariftoteles warnt eindringlich davor, die Kinder zu lange den Sklaven
zu überlaſſen, deren Einfluß leicht ein eniſcheivender werden könnte. In unſerem
Volksbewußtſein lebte einſt ein ähnliches Zartgefühl, das den Verkehr der
Kinder mit den Dienftboten mit Argwohn beobachtete. Heute überläßt die
Mutter ihren theuerſten Schatz gern dieſen Händen, um inzwiſchen ihrem Ver—
gnügen nachzugehen oder ſogenannten geſellſchaftlichen Verpflichtungen zu genügen.
Doch wir ſprachen von demBeſuch der Reſtaurationslokale! Alle übrigen Gründe,
die man für das Verbot deſſelben anführt, nämlich daß die Jugend vor Zer—
ſtreuungen bewahrt werden müſſe, ferner, daß fie nicht das Recht auf einen
durd Geld zu beichaffenden Genuß habe, da fie joldes nod nicht verdiene,
gelten nur erjt im zweiter Reihe. Kür mic iſt entſcheidend, daß die Be—
ſcheidenheit und Schamhaftigkeit der Jugend in den Gaſthäuſern yes
ausgelegt iſt.
Kinder aus einen fo glänzenden Hauſe doch nicht anders als glänzend erſcheinen. Iſt
der Tag des Feſtes da, ſo beginnen einige Stunden vor der „befohlenen“ Zeit Die
Toiletten: der Friſeur Tommt und fräufelt den Mädchen Die Loden um ben platten
Schädel, brennt den Anaben das Saar und zieht den Attapöjcheitel über den jüb
abſtürzenden Hinterkopf. Daß die Mädchen nicht obne Blumen im Haar erſcheinen
dürfen, namentlich wenn ein Tanz in Ausſicht ſteht oder geradezu zum ® Ball geladen iſt,
verftebt ſich von ſelbſt.“ — „Natürlich erſcheinen die Knaben ganz in Schwarz, die
Weſte tief ausgeſchnitten, das Jabot friſch getollt und mit den goldenen Knöpfchen ge
ziert (das faire jabot, ich verſpreche es Ahnen, wird nicht ausbleiben), darunter Das
glatt geipannte Hoſenbein und der zierliche Fadftiefet. “ — „Halten Sie e8 für möglich,
pſychologiſch möglich, daß die Kinder, welde jo zufammenfonmen, nun barmlos mit
einander wie Kinder jpielen? ft 08 micht nothwendig, daß die Gedanken in der Rid-
tung, in welder man fie zwei Stunden zu Hauſe beſchäftigt bat, forttreiben und io,
zumal im Anfang, das Hauptaeichäft ſein wird, fich gegenſeitig zu muftern u. ſ. m.“
Wabrlich, wer ein Herz für Die Jugend und für das Vaterland bat, wird nothwendig
darauf aeflibrt werden, daß bier ein vernünftigerer Wille die vom Pfade der Natur
abirrende Sitte gewaltiam zurechtweiſen müſſe.
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Mit ficherem Tacte verboten die Griechen den jungen Leuten and Das
mäßige Verweilen auf dem Markte. Die fittlihen Zuftände der heutigen
Zeit machen es durdaus nöthig, wenigitens für die Abendſtunden das gleiche
Verbot zu erlaffen. Was den Bejud des Theaters anlangt, jo empfiehlt es
jih, der Jugend mur zu den großen Theatern den Zutritt zu geſtatten. Bor
wenigen Jahren hat der Kronprinz des deutjchen Reiches ein jehr beberzigens:
werthes Urtheil über die Berliner Lokalbühne geſprochen. Auch die Poſſen,
die in den kleinen und mittleren Provinzialſtädten aufgeführt zu werden pflegen,
jündigen derartig genen Moral und Geſchmack, daß fie eigentlich polizeilic)
verboten werden müßten. Wenn Bäter und Mütter diefelben in Begleitung
ihrer Söhne und Töchter anjtandslos bejuchen und bis zum Schluß ohne
Erröthen ansharren können, fo ift damit ein neuer Beweis erbracht, daß der
Staat ohne Schaden für das Volksthum die Jugenderziehung nicht länger den
Eltern allein überlaflen darf. *)
Die Benugung der Yeihbibliothefen jeitens der Zönlinge ift mit Rückſicht
auf die lascive Romanlitteratur, die in denjelben hauptjächlich vertreten zu fein
pfleat, gänzlich zu unterjagen.
Der Beſcheidenheit und Züchtiafeit wideripricht auch jedes renommiſtiſche
Auftreten in der Deffentlichkeit. Bier wird jedoch der perfönlihe Einfluß
des Pehrers ohne directes Verbot wohl am weiteſten wirfiam fein. Schüler:
verbindungen, die ihren Grund nicht in wiflenichaftlihen Studien finden, find
ftreng zu unterbrüden. Dagegen ift ein vernünftiger Gorpsgeift innerhalb
ver Clafienverkände ſorgſam zu pflegen. Eine publicijtiiche Thätigkeit darf
dem Schitler jelbit dann nicht weftattet werden, wenn ſich Yehrer finden follten,
welche die Redaction und Verantwortung für Schitlerzeitichriften zu Übernehmen
Willens wären. Ein derartiges Öeraustreten in die Deffentlichfeit widerſpricht
allen gefunden pädagogiſchen Grundſätzen.
Endlich fann es ſich noch fragen, ob die Einführung einer Tagesordnung
für die ganze Schule oder für die Schiller einzelner Glaffen wünſchenswerth
eriheine. Dies verneine ich, ſelbſt für die unteren Claſſen, und zwar eritens,
weil die Schule nicht ohne zwingende Noth das häusliche Yeben zum Gegen:
ſtand reglementariſcher Beſtimmungen machen joll, ſodann weil wir — und
das ift die Hauptſache — einen freien Gehorfam und eine Erziehung zu
jelbftändiger Arbeit anzuftreben haben. Cine derartige Anordnung dürfte nur
ausnahmsweise in ven‘ unteren Glaffen auf Zeit, über Schüler ter oberen
Glaffen aber nur in ganz befonders qualifieirten Fällen als Strafe bei fort:
geſetzter Pflichtvernachläffigung verhängt werden, und zwar ebenfalls nur auf
eine fürzere Frift, um immer wieder die Möglichkeit zu freier Ihätigfeit zu
eröffnen.
Eine unmittelbare Einwirkung auf die Sittenzudt haben die moraliice
Belehrung und die Ahndung ver Webertretungen, von denen nun die Rede
jein wird,
„Man könnte die eriteren für überflüffig halten, weil bei jolhem Reden
und Willen häufig alle übeln Leidenſchaften, Feine Empfindungen und vor-
*, „Ferner foll das Geſetz jüngere Leute weder bei Spottipielen nod bei Komödien
als Zuſchauer zulaffen, bevor fie das Alter erreicht haben, in welchem ihnen geftattet
it, bei dem gemeinjchaftlichen Mahl ihren ordentlichen Pla einzunebmen und unge
miſchten Wein mitzutrinten,“ Aristol, Polit, VII, 15,
36
nehmlich moraliſcher Eigendünfel Pla areifen, können. Es bleibt aber dennoch
nicht weniger wichtig, nicht lediglih auf die natürliche Entwidelung des Guten
aus dem Herzen und auf die Angewöhnung dur das Beiſpiel ohne Reflexion
fih zu verlaffen, jondern das Bewußtſein mit den jittlichen Beftimmungen
befannt zu machen, die moraliſchen Neflerionen in ihm zu befeftigen und es
zum Nachdenken darin anzuleiten. Denn an-diefen Begriffen haben wir die
Gründe und Gefichtspunfte, aus denen wir und und Anderen Recyenjchaft
über unjere Handlungen geben, die Richtungslinien, die uns dur die Mannich—
faltigfeit der Erſcheinung und das unfichere Spiel der Empfindungen hindurch
leiten. Es ift der Borzug des Selbſtbewußtſeins, daß es ftatt der Feſtigkeit
des thieriichen Inſtinets einerjeits willfürlich ift und andrerjeits dieſer Willkür
and ſich felbft vdurd den Willen Schranken jegt. Das Feſte und Bindende
gegen das Unſtäte und die Widerſprüche jener Seite find die fittlihen und
dann noch mehr die reliniöfen Beftimmungen.“ *)
Deshalb fcheint es mir höchſt mothwendig, daß der Ordinarius auch ftets
der Religionslehrer jeiner Claffe it. Wenn aud oft der Fall eintreten mag,
daß der Ordinarius die Religionsfacultas entweder gar nicht oder doch nicht
für feine Clafje hat, jo wird doc ‚meines Dafürhaltens in feinem Fade fo
leicht von der Unterrichtsberechtigung, die doch nur auf Grund einer bejtimmten
Summe von Kenntniffen erworben it, abzufehen fein, wie gerade in ber
Religionswiſſenſchaft. Mir will es ſogar jcheinen, als ob es mit diejer Dis:
ciplin nicht jo fjchleht auf dem Gymnaſium bejtellt fein würde, wenn ber
Pehrer auf Einzelheiten der Dogmatif weniger einzugehen in der Lage ift.**)
Daß im Allgemeinen gerade der Ordinarius diefen Unterricht mit dem größten
Segen für das Herz und die Kräftigung des vernünftigen Willens feiner
Zöalinge geben wird, tft mir unzweifelhaft.
Der Altmeifter der Pädagogik, Duintilian, giebt befanntlih die höchſt
beherzigenswertbe Mahnung***), man möge die Zöglinge durch treue Be—
auffihtigung anleiten, zu thun, was recht ift, damit man nicht hinterher gezwungen
werde, diejelben zu ftrafen, wenn fie Unrecht thäten. Daß das Ziel Des
Lehrers in der That darauf gerichtet jein muß, dur feine geſammte Wirk:
jamfeit die Strafen unnöthig zu machen, ift unzweifelhaft. Aber ſelbſt ver
bejte Yehrer und ſelbſt die bejte Echule vermag ganz ohne Strafen wicht durch—
zufommen. Und wenn ich jchon geneigt bin, aus dem Umftande, daß ein Yehrer
häufig zu Strafen jchreiten muß, mir ein ungünftiges Urtheil über jeine päda—
. *) Aus Hegels dritter Gymnafialrede,
**) Mie weit fich der Pebrer bei ſolchen dogmatiſchen Klaubereien von den wirklich
nußbringenden Betrachtungen verlieren kann, dafür ein Beifpiel. Hollenberg, Hülfsbuch
für den ewangel. NReligionsunterridt in Gymnaſien, Berlin bei Wiegand und Griechen,
aibt zu $ 51 einen Ercurs über die Engel, indem e8 von ihnen unter Anderem wört-
lich beißt: „eine geichlechtliche Fortpflanzung findet nicht Statt." Gerade dieſe Materie
muß wobl einen befonderen Reiz zu weiteren Specnlationen bieten. So ift mir zu:
fällig bekannt, daß eim anderer Religionslehrer die Arten der Engel feine Schüler
forgfältig unterfcheiden lehrt.
**x) Quintil, inst. orat. I. 3, 14. Caedi vero discipulos — — minime velim.
Primum quia = — — postremo quod ne opus erit quidem hac castigatione,
si assiduus studiorum exactor astiterit. Nunc fere neglegentia paedagogorum
sic emendari videtur, ut pueri non facere, quae recta sunt, cogantur, sed, cum
non fecerint, puniantur.
gogiſche Gejchielichfeit und feine Treue im Amt zu bilden, jo erregt in mir
doch die Brahlerei ftrebjamer Collegen, daß fie ganz der jtrafenden Einwirkung
zu entrathen vermöcten, nod größere Bedenken über deren erziehliche
Wirkſamkeit.
Die Strafe charakteriſirt ſich als ein gewaltſamer Eingriff in die mora—
liſche Entwidelung des Zöglings.) Ihre Anwendung beruht auf dem Satz,
daß Vitia fugere est virtus et sapientia prima. Aus der Luſt über Die
Beſiegung des Fehlers entjpringt dann die höhere Luſt zur Tugend.
Die Schuljtrafen werden nicht jowohl auf die Abjchredungstheorie als
vielmehr auf die Beſſerungs- und Siühntheorie zuräüdzuführen jein. Der
Pehrer muß durch die Strafe beffern wollen, der Schiller in ihr eine Sühne
für jeine Verſchuldung um der verlegten Gerechtigkeit willen erbliden. Aus
dem erjten Sat folgt, daß die Strafen, die auf einer Reizung des Chrgefühls
beruben, mit großer Borfiht angewendet werden müſſen. Man bat zwar ges
meint, daß man die niedere Neigung zunächit nur durch Erregung einer velativ
höheren Neigung vertreiben müſſe, um jo allmählich den Zögling der fittlichen
Bolltommendeit, joweit Überhaupt dem Menſchen möglich, näher zu führen.
Die Trägheit z. B. ift Neigung der vegetabilifhen Welt, und jo jolle man
diefe durd Erregung der Najchhaftigfeit, der Neigung der thieriichen Natur,
bezwingen, dieſe demnächſt durd Erregung des Chrgeizes u. ſ. w. Allein
dagegen macht mit Hecht der verftorbene Irendelenburg die Anſicht geltend,
daß wo das Böſe gedämpft werden folle, eg nur durch das Gute geichehen
fünne. Der beberrihende Wille muß von vornherein in eine vernünftige
Richtung geleitet werden. Aus dem zweiten Sat, daß der Schüler in der
Strafe gewiſſermaßen eine Reaction des von ihm verlegten Rechts erfennen
joll, ergiebt jich, daß Strafen in der Kegel nicht erlafjen werden dürfen. Es
wärde in dieſem alle die jtrafende Thätigkeit in die Gefahr gebracht, in den
Augen des Zöglings als willfürlid zu erjcheinen und damit die Wirkung
aufgehoben werden, welde gerade in der Objectivität derjelben Liegt.
Eine dritte Kegel jei, daß der Erzieher beim Strafen fortiter in re,
suaviter in modo verfahre. Daß nur die Milde auf dem Grunde einer
vernünftigen Strenge Einprud macht, ift eine alte pädagogische Erfahrung.
In diefer Beziehung ift zu verichiedenen Zeiten in verſchiedener Weiſe ſchwer
gefehlt worden. Bald paarte ſich die Strenge mit Grauſamkeit und Roheit,
Vitterfeit und höhnijcher Freude iiber den Schmerz des Gezlichtigten, bald die
Milde mit Schwächlichkeit und mit einem jhimpflihen Bubhlen um die Gunft
der Schüler.
Wie die Strafen für öffentliche Vergehen und Verbrechen mit dem Fort:
Ihritt der menſchlichen Entwidelung gelinder werden, jo zwar, daß die Arten
der Strafen ein getreuer Gradmeſſer für die Cultur des geſammten Volfes
fund, jo ähnlich auch im Schulleben. Gegen die Prügeliucht eines Chryfippus
und der Orbilier legte Quinrilian Verwahrung ein, gegen" die wahrhaft grau—
jamen Strafen der Scholaftifer, welche in diefen Studien von Juſt „Zur
Pädagogik des Mittelalters" Abſchnitt V des Weiteren behandelt find, Eras-
*) Worte Trendefenburg’s in feinen Borlefungen Über Pädagogik und Didactil.
Aus dem Colleg dieſes hochverehrten Meiſters — auch ich durfte einſt zu ſeinen Füßen
ſitzen — ſtammt mehr als ein Gedanke, den ich bier vorgetragen habe.
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mus,” Por ihm hatte ſchon Walther von der Vogelweide geſungen: „nieman
fan mit gerten finderzuht beherten: den man z'éêren bringen mac, dem iſt
ein wort als ein jlac.“ Auch Luther mahnte befanntlih von Grauſamkeit in
der Wahl der Erziehungsmittel ab, er verwarf Strafen, die eine ſervile Ge:
finnung in den Beftraften erzeugen möchten, und wenn er aud ausdrücklich
die Prügelitrafe als nothwendig bezeichiret, jo jchärft er e& doch den Rectoren
eindringlich ein, die Kinder „höviſch“ zu behandeln. Trotzendorf danegen,
deffen Schulvisciplin etwas von dem römischen Geifte in ſich trug, firafte oft
iehr bart in der Art der Klofterfchulen, nur daß er Fein Anjehn der Berjon
gelten ließ und daher Gelvitrafen ausſchloß, weil durch diefe die Eltern und
nicht die Kinder betroffen wirden.**) Auch daß man fi) in jeiner Schule
durch eine mohlgefegte lateiniſche Rede von der Strafe gänzlich frei machen
fonnte, iſt eine Erbichaft, die der ſonſt jo eifrige Yutheraner aus der Kloſter—
bisciplin angetreten hatte. In den evangeliichen Schulorbuungen des 16. Jahr—
hunderts Spielt die Ruthe eine große Rolle. Prügelſtrafe tritt ein für Wider:
jetslichkeiten, Noheiten, aber auch für Trägheit und fogar für Unwiſſenheit.
Ganz beſonderes Intereſſe bietet die Nordhäuſer Schulordnung vom Jahre
1583 ***) nicht bloß wegen der entjeßlichen Roheiten ver Schiller, die in ver:
jelben mir Strafen bedroht werden, jondern nod mehr wegen der brutalen
Meife, in welder die dortigen Lehrer zu ftrafen Anweifung erhalten. Wo
von den Mebungen im Disputiren und Declamiren in Prima und Secunda
die Rede tft, heit es wörtlih alfo: „Der Lehrer fol Dem, welcher etwas
Falſches fagt, einen Schmit mit der Ruthe auf die Hand geben.“ Werner:
„Ein jeder Lehrer ſoll Diejenigen, welche ihre Pection nicht können, alsbald
ftäupen. Bei der Gorrectur der Arbeiten werden die Fehler gezählt, auf drei
gehört ein Schilling (d. i. Obrfeige), auf vier zwei.“ Geradezu depravirend
mußte aber das in dieſer Schulordnung befohlene Spionierſyſtem wirken.
Und nach all dieſen wahrhaft rigoroſen Beſtimmungen werben ſchließlich, die
Lehrer doch noch ermahnt, ja nicht tyranniſch (I) zu handeln, die Knaben
nicht bis aufs Blut zu ſtäupen, mit Füßen zu treten, bei den Ohren und
Haaren aufzuheben oder mit dem Stock ins Geſicht zu ſchlagen: Strafarten,
die damals doch vorgekommen ſein müſſen, da die Schulordnung es für nöthig
findet, ſie namentlich zu verbieten. Die Strafen der Schulen im 17. Jahr—
hundert entſprechen noch weniger dem Ideal des Erasmus, daß die pueri
liberaliter educandi ſeien. Die Scala derſelben iſt: Geld-, Ruthen-, Prügel-,
Carcerſtrafe und Relegation. Geldſtrafe trat für grammatikaliſche Fehler ſowie
für unentſchuldigtes Ausbleiben aus der Schule und für verſpätete Ablieferung
der fchriftlihen Arbeiten ein. Auf Rebellion ſtand Prigelitrafe, die, zu ihrer
Charafterifirung fei es gefagt, unter Zuziehung „kräftiger Männer aus dem
Volfe* zur Execution gelangte. +) Auch die Jeſuitenſchulen, melde ihr Er:
ziehungsſyſtem befanntlich auf die umlantern Triebe und Regungen der Menjchen,
anf Ehrgeiz, Selbftiucht und Eigendünfel, gründeten und daher über die Zög—
*) Vergl. Durand de Laur, Erasme, III, p. 6. Paris 1872,
**) Sonſt büßten Freie in Geld, was Unfreie mit ihrer Haut bezahlten,
FRE, Abgedruckt bei Bormbaum, ew. Schulordnungen, 1.
7) Siche die Schulordnung von Herford, mitgetbeilt von Hölfcher im Programm
des Gymnaſiums dajelbft 1874. ©. 13,
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linge mit großer Sicherheit herrichten, konnten doch der Prünelftrafe nicht
entbehren. Aber durch die Art ihrer Ausführung nabmen fie ibr ven letten
Reſt jittliher Einwirkung. Nicht der dieſelbe verhängende VYehrer, jondern
ein zu diefem Behuf bejonders angeftellter Profos vollzog ſie. Da ift es
denn Natichius, von dem hinfichtlic einer liberaleren Behandlung der Schüler
die neuere Pädagogik ihren Anfang nimmt Cr verlangt, daß der Yehrer
alle Grauſamkeit in der Beltrafung auf das Aengitlichite vermeide. Weiter
und zwar zu weit geht Yode, der ſich überhaupt gegen die Anwendung ber
Ruthe erklärt und ſchon die Kinder wie verjtindige Männer behandelt wiſſen
will. Aehulich, freilich von einem ganz andern Standpunkt aus, weilt Aug.
Herm. Frande die Prügeljtrafe ab, wenigjtens joll fie um geringer Dinge
nicht angewendet werden. Mit chriftlicher Gelindigfeit und janftmithiger
Zuſprache gedenft er viel mehr auszurichten als mit Strafen. Ebenſo jah
das Philanthropin von der Nuthe ab und führte nur folgende Strafen em:
I Verminderung ter Meritenpunfte, 2) Verwandlung einer Studienftunde
in eine Handarbeitsſtunde, 3) Einſchließung in ein einfames, kahles Zimmer,
während die Genoſſen, dem Beftraften wahrnehmbar, in einem Nachbarzimmer
geiftigen Arbeiten oblagen.
Unter dem Einfluß diefer Anftalt, der gar nicht unterſchätzt werben darf,
bat jih im Sculregiment, wenn auch im Ganzen weniger unter ben praf:
tiihen Yehrern, eine bisweilen ins Krankhafte Überjpielende humane Richtung
ausgebildet, die auch in unfern Tagen gegen jeden Gebraud der Ruthe in
der Schulſtube anfümpft. Cine befondere Stärfung erführt fie einerjeits durch
die noch immer in lebhafter Erinnerung ftehenden Porinjer’ihen Klagen, dann
aber noch mehr durch den Zeitgeift. Diejer zeigt faft auf allen Gebieten der
Staatsverwaltung eine Franfhafte Schwachherzigfeit und eine überaus milde
Beurtheilung von Bergehungen. Schon ift der Schaden dieſer weichmüthigen
Veitrebungen fir das Volksthum deutlich genug fenntlicd geworden. Ich erinnere
nur an die Erfahrungen, die unjere Zeit mit dem neuen Strafgeſetzbuch, mit
der jo rüdjichtswollen Behandlung der Etrafgefangenen, mit der milden Auf-
faſſung des jogenannten Nctienjchwindels, mit der Aufhebung der Zünfte u. ſ. w.
gemacht hat. Ein gewilfer Doctrinarismus macht jich breit, der, weil er auf
die wahren Bedürfniſſe des Volks, wie ich meine, zu wenig Rückſicht nimmt,
notbwendig jhädlic wirft. Co jtreifen denn wirklich Regierungsverordnungen
an die Grenze des Möglichen, wenn fie die fürperliche Züchtigung ganz aus
der Schule, ſogar aus der Dorfichule, entfernt wiffen wollen. In den höheren
Yehranftalten, die ſich der nichtsnutzigen Knaben im äußerſten Wall durch
Relegation entledigen können, mag die Prügelſtrafe nody entbehrt werben
finnen, nicht aber in ver Volksſchule, we eine ultima ratio für unbändige
Robeiten eine Nothwendigkeit ift.
Eine Disciplinar- Ordnung für die preußiſchen Schulen fehlt noch.
Das in Ausfiht ftehende Unterrichtsgejet wird hoffentlich auch auf diejem
Gebiet regelnd eintreten und der Willfür der einzelnen Lehrer und Schul:
Iufpectoren durch Aufftellung allgemeiner Normen iiber die Schulzuht Grenzen
jegen. Jedoch da die Strafen gemäß ihrer eigenthümlichen Natur ihre wahre
Bedeutung erſt durch den fie vwollziehenden Lehrer erhalten und, wenn fie
von Erfolg jein follen, mit Rückſicht auf die individuellen Eigenjchafen des
Zöglings in jedem einzelnen Falle gewählt werden müſſen, jo wird man jich
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gerade bier zu büten haben, durch Ertheilung zu ſpecieller Vorſchriften vie
Wirkſamkeit des Strafmittels von vornherein aufzuheben. Der Berjönlichkeit
nnd dem Gewiljen des Lehrers und des VYehrer - Collegiums muß ein gewiſſer
Spielraum gelafjen werden. Aber die allgemeinen Grundjäge wird das Geſetz
allerdings aufjtellen müfen. Diefe wären wohl folgende.
Zunächſt verfteht ſich von jelbit, daß jede Strafe von Grauſamkeit frei
bleiben muß, und ihre Berbüßung in feiner Weile Gefahren für die geiftige
oder fürperliche Gejunpheit des Schülers herbeiführen dürfe. Hinſichtlich des
Strafmaßes gelte der Grundſatz weiſer Sparjamfeit, hinfihtlih der Methode,
daß die Etrafe der Natur des Vergehens nad) Möglichkeit anzupaflen ſei.
Die Strafarten alle anzuführen, ift unmöglih, da die Individualität des
Lehrers dieſe jehr verichieven gejtalten, ihnen jehr verſchiedenen Werth geben
kaun. Schon mit dem ftrafenden Blid wird ein guter Yehrer jeine Strafen:
Skala beginnen. Wir reden im Folgenden nur nody von ven fünf allgemein
in den höheren Schulen recipirten Strafmitteln.
1) Die Strafarbeiten. Bon den meiften Pädagogen unferer Tage
werden diejelben beanjtandet. Dieſen ſchwebt dabei wohl jener in früherer
Zeit weit verbreitete Mißbrauch derjelben vor, der darin beftand, möglichſt
geiftloje und langweilige, dazu auch vecht zeitraubende Penjen zur Strafe für
jedes beliebige Vergehen, namentlich auch für Ungezogenheiten, aufzugeben.
Aber abusus non tollit usum. Die Strafarbeiten ſind meines Erachtens
da am Plage, wo ein Schüler ſich eine Saumfeligfeit over Nachläſſigkeit in
der Erfüllung feiner Pflichten hat zu Schulden kommen laffen. Die Theorie,
für jedes Vergehen eine adäquate Strafe feitzufeßen, vechtfertigt ihre An—
wendung in dem angegebenen Kalle ſicherlich. Auch wohl für unentſchuld—
bares Zuſpätkommen mag diefe Strafe ertheilt werden. Audere wollen die
Sache gelten lafjen, nehmen aber an dem Namen Anſtoß, weil es unpafjeud
jei, irgend eine Arbeit, die doch dem Schüler ftets eine Quelle der Luft fein
jolle, als Strafe zu bezeichnen. Wie man indefjen auch eine jolche Leiſtung
nennen mag, die durch den Unfleig des Schülers nöthig geworden, fie wirt,
wie Director Kramer in der Directoren - Berfammlung zu Magdeburg richtig
bemerfte,*) immer als eine Strafe empfunden werden, und indem der Schüler
durdy fie genöthigt wird, jeine Pflicht voll zu erfüllen, trägt fie auch in der
That den Charakter einer ſolchen. Die Strafarbeit ift nichts Anderes ale
die mildeſte Form der sFreiheitsentziehung, wie Bormann **) in derfelben
Verſammlung jagt. Und da bei jeder Freiheitsentziehung gleichzeitig für
eine Bejhäftigung des Schülers in diejer Zeit nothwendig zu forgen ill,
dieje Beſchäftigung doch aber nicht wohl anderer als geijtiger Art fein Fanı,
jo würde mit der Strafarbeit als folder auch jede andere Freiheitsſtrafe
fallen müſſen. So wird man denn wohl in derielben das gelindeſte Mittel
erbliden dürfen, den nadläffigen Schüler zur Pünktlichkeit und zu ftrengerer
Plichterfüllung zu zwingen. Cautelen allerdings macht diefe Strafart nöthig-
Nämlich erjtens ift von ihr alles Mechaniſche und Geifttödtende fernzuhalten,
*) Berbandlungen ber eriten Verſammlung der Directoren der Prov. Sachſen zu
Maadebura, Halle, Warenhaus 1874. ©. 87,
**), Ebenda ©. 104.
41
und ein mehrmaliges Abjchreiben deſſelben Penjums durchaus unftatthaft.
Zweitens it bei der Auswahl des Penſums darauf zu achten, daß Feine
Materie verwendet werde, die dem Schüler ein Gegenftand ehrerbietiger Scheu
oder adtungsvoller Liebe bleiben joll. Drittens darf die Strafarbeit unter
teinen Umftänden jo groß bemefjen werben, daß dem Schüler die Möglichkeit
genommen wird, die laufenden täglichen Arbeiten mit der gehörigen Sorg—
falt anzufertigen. Endlich überjehe man nit, daR, wenn jchen die übrigen
Strafen ſich durch zu häufigen Gebraud abnutzen, dies ganz bejonders von
ver Strafarbeit gilt.
2) Die Strafe des Nachſitzens wird zunächſt angewendet werden,
um den Schüler, wenn er eine Arbeit verſäumt oder im wicht zufriedenjtellen-
der Weiſe gemacht hat, zum nachträglichen, beziehungsweife zum jorgfältigeren
Anfertigen derjelben anzuhalten. Im ven leichteren Fällen diejer Art, z. B.-
bet mangelhafter Präparation auf den Schriftiteller, ungenügender Nachüber—
ſetzung u. ſ. w. wird es wohl genügen, dem Sciiler die Arbeit noch ein
Mal aufzutragen und ihm eine Zeit außerhalb der Schulſtunden feitzufeten,
u er fih dem Lehrer gegenüber in deſſen Behauſung darüber auszumeijen
bat, wie er feine Aufgabe nachgeholt habe.
Die Strafe des Nachſitzens tritt zweitens paffend für leichtjinnige Ueber-
tretungen der Schulgejete ein. Denn da die Gejegesverlegung einen Miß—
trau der Freiheit involvirt, jo it als Genenmittel eine Freiheitsentziehung
angezeigt. Ueber den Modus der Abbüßung diefer Strafe dürften noch
folgende Bemerkungen am Plage fein. 1) Ohne Aufficht eines Yehrers darf
diefe Strafe niemals verbüßt werden. Es tft ja bekannt, zu welchen ſchmutzigen
Jugendjünden, in einzelnen Fällen auch zu wie verzweifelten Entſchlüſſen Die
Einſamkeit Schüler währen des Nachſitzens ſchon veranlaft bat. Da num
dem vielbejchäftigten Yehrer nicht zugemuthet werden darf, behufs der Infpection
eines Arrejtanten ſich noch über die Schulzeit hinaus in der Claſſe aufzuhalten,
io ericheint es gerechtfertigt, daß das Nachfigen in der Wohnung des Yebrers
erfolgt. Dabei ift aber jedenfalls Borjorge zu treffen, daß hierbei das Ehr—
aefühl des Schülers nicht dadurch Schaden nehme, daß er als Delinguent
ten Mitgliedern der Familie des Yebhrers begegnet. Wenn man gegen dieſen
Modus des Arrefts eingewendet hat, daß dem Schüler dur denſelben leicht
das Gefühl abhanden kommen werde, daß es für ihn eine Auszeichnung ift,
wenn er mit dem Vehrer außerhalb ver Schule, namentlich aber in deſſen
Haufe, zuſammenkommen dürfe, jo liegt e8 doch wohl auf der Hand, daß der
Schüler eine Einladung in das Haus des Pehrers immer noch jehr gut von
einer Beftellung dahin behufs Erduldung einer Strafe zu unterſcheiden wiſſen
wird. 2) Ein gleichzeitiges Nachfigen mehrerer Schüler iſt möglichft zu ver-
meiden. Jedenfalls dürfen nicht Schiller aus mehreren Claſſen, wie dies au
einigen Anjtalten allerdings üblich geworden ift, umter der Aufficht eines dazu
beſonders beftimmten Pehrers dieſe Strafe verbüßen. Denn das Gefühl der
Gemeinſchaft vermindert ohne Zweifel erbeblid den Eindruck der Strafe und
ſtumpft zugleih das Ehrgefühl ab. 3) Eine entjprechende Arbeit ift ben
nahjigenden Schülern ftets aufzugeben und zu vermeiden, daß fie in biejer
Zeit einem gefährlichen Hinbrüten anheimfallen. 4) Diefe Strafe muß nad)
oben bin immer feltener, aljo in Secunda nur in ganz befonderen Fällen,
in Prima aber gar nicht mehr verhängt werben birfen.
42
3) Die Förperlide Zühtiaung Wie fi zu dieſer Strafe ber
moderne Zeitgeiſt ftellt, ift oben bemerkt worden. Allein fo gewiß der mittel:
hochdeutſche Dichter Net bat: Niemand kann mit Gerten Nindes Zucht be
bärten, jo gewiß ift es auch, daß allein durch das Wort noch nie ein Menſchen—
Find gut erzogen worden ift, es and) nicht werben wird, jo fange die menſch—
liche Natur viejelbe bleibt.
Man könnt’ erzonene Kinder gebären,
Wenn die Eltern erzogen wären,
Wenn freilid die Schulordnungen proteftantiicher Gymnaſien vordem die
Prügelſtrafe noch bei Unfleir und Unwiſſenheit ſogar bis im die oberften
Claſſen in Anwendung bradıten, jo werden wir fie nur für Roheit und
grobe Widerfeglichkeit, und auch nur in den beiden unteren Claſſen, in Anſpruch
nehmen. Der Sted in der Hand des umterrichtenden Lehrers iſt Schon in
Serta höchſt verwerflih und nur ein testimonium paupertatis für ben
Docenten. Auch kann es nicht gebilliat werden, wenn beim Unterricht kleine
körperliche Züchtigungen mit der Hand für mangelhafte Antworten, bewiejene
Unaufmerkſamkeit und PVernachläffiaung im der Körperhaltung angemende
werden. Gin derartiges Verfahren verdirbt den Geift der Elaffe und ſtumpft
auf Iahre bin das Gefühl der Kinder ab. Was Wieſe in feinen Briefen
über enaliiche Erziehung bimlichtlich der Anwendung der Prügelftrafe bie in
die oberiten Claffen ver Schule zu Eton erzäblt,*) darf ung in Feinem Kalle
zu der Meinung verleiten, als brauchten auch wir nicht jo ängſtlich Die Förper-
liche Züchtigung auf Die unterften Claffen einzuschränken Denn in England
ift jene Strafe eben Sitte, und Schleiermacher macht mit Recht darauf auf
merfiam, dan für die Arten der Strafe arade die Sitte von entjcheidender
Bedeutung fein müſſe. Einem Erzieher, der bei uns noch im dem oberen
Claſſen durch Schläge für das Gute zu gewinnen fuchen wollte, müßten wir
zurufen: Men das Wort nicht züchtiat, den ſchlägt auch der Stod nicht.
Schließlich iſt noch die Beſtimmung ſelbſtverſtändlich, daß die Strafe der körper—
lichen Züchtigung nicht von dem Schuldiener, ſondern allein von dem Lehrer
zur Ausführung zu bringen iſt.
4) Auch gegen die Carcerſtrafe wird neuerdings, namentlich in den
Kreiſen der Lehrer, Maucherlei, das der Beachtung werth iſt, geltend gemacht.
Das ſchwerwiegendſte Moment gegen dieſes Strafmittel ſcheinen Die anzuführen,
welche demſelben den Charakter einer Gefängnißhaft zuſprechen, die für Zög—
linge nicht angemeſſen ſein könne. Dennoch meine ich, daß ſie für Schüler
der oberen Claſſen thatſächlich nicht entbehrt werden könne. Jenes Bedenken
ſchwindet, wenn wir berückſichtigen, daß ja die Schüler der oberen Claſſen
in der That ſchon in einer gewiſſen Periode des Ueberganges in das öffent—
- liche Leben ſtehen. Der Charakter der Schulſtrafe muß aber dadurch feſt—
gehalten werden, daß die Dauer derſelben zwei Stunden nicht überſteigen darf.
*) Miefe, Briefe über enal. Erziehung ©. 33. „An Eton find jelbft die Zöglinge
der oberften Claſſen noch nicht davon erimirt, mit Schlänen beftraft zu werden. Der
Widerſpruch zwiichen dem Ertragen dieſer Bebandlung und dem reizbaren Selbſigefühl
des jungen Engländers bat darin feine Löſung: die genannte Strafe ift eine altber-
fünmliche und geſetzliche; nur der head-master in feinem vollen Amtstleide vollziebt
fie und fie bat im der allgemeinen Meinung nichts Beſchimpfendes.“
Nur als ultima ratio gegenüber jhwereren Berletungen der Schulgejete komme
fie in Anwendung. Nicht im einem verjchloffenen Glaffenzimmer werde fie
verbüßt, jondern in einem bejonders zu dieſem Zweck bejtinnmten hellen und
gefunden Raume, der zwar jeder Ausſchmückung entbehrt, aber mit Tiſch und
Stuhl verjehen it. Der Ordinarius bat dem Schüler eine Aufgabe zur Aus—
arbeitung zu stellen, venjelben bei der Arbeit im Garcer zu controliren und
ihn nach Ablauf der beſtimmten Frift zu entlaffen. Bei dieſer wie überhaupt
bet allen Strafen wird diefer Yehrer es nicht unterlafien, nachdem jie verbüßt
iſt, in geeigneter Weife durch eindringliche Zuſprache den beſſernden Eindruck
terjelben zu erhöhen.
5) Das consilium abeundi ſchließt ſich erforderlichenfalls an die
Garcerftrafe an, wenn die Wiederholung des Bergehens einen bevenklihen Ein-
fluß auf die Mitſchüler befürchten läßt. Ungehörig dürfte es jein, ein joldyes
consilium von dem Betroffenen noch umnterjcreiben zu laſſen; es erinnert
tiefe Form am ftudentiiche Sitten und harmonirt durchaus nicht mit den Ge—
wohnbeiten der väterlichen Zucht, welche die Schule ftets nad Möglichkeit
nachzuahmen bat. Dagegen find die Eltern ſtets von der Mafregel durch
ten Ordinarius in Kenntniß zu jeen.
Die Entfernung von der Anftalt it im Grunde feine Strafe mehr.
Zie tritt ein, wo die Schule nad gewiljenhafter Anwendimg aller ihr zu
Gebote ſtehenden Befjerungsverfuche ihre Aufgabe als unlösbar erfenut, jodann
wo jeitens eines Schillers ein verderbliher Einfluß auf die Mitſchüler zu
Lage tritt, endli wo ein Schüler fi durch eine unmoraliſche Haudlungs—
weife in den Augen feiner Kameraden jo vergangen bat, daß zu erwarten
ſteht, diefelben wirden ihn ihres Umganges ferner nicht würdigen. In diefen
Fällen ift es befjer, daß ein Einzelner leide, als daß Viele an diefem Einzelnen
ein Aergerniß nehmen. Man erweift ja wahrlid nicht ein Mal dem Schüler
jelbft, der die Sittengeſetze in einer ihn entehrenden Weiſe übertreten bat,
einen wahrbaften Gefallen, wenn man ihn nod länger auf der Anftalt läßt.
Denn iſt der Geift der Anftalt ein guter, jo iſt e8 ganz unvermeidlich, daß
ih die Mitſchüler von ihm mit Verachtung abwenden, und daß er jomit
mem Zuftand der Vereinſamung anheimfüllt, der das Ehrgefühl vollends
untergräbt und nichts weniger als ein Hebel zur Beljerung werden kann.
Tiefe kann nur eintreten, wo man mit Vertrauen dem Gefallenen entgegen-
!ommt. Dies aber ift nur an einer andern Anftalt möglich, wo derjelbe als
ein homo novus für feine Mitjchitler auftritt. Ich wünſchte, daß er auch
jenen neuen Pehrern als ein durchaus Unbekannter entgegentreten dürfte.
Darım meine ich, daß jede Entfernung im Stillen und ohne Mittheilung an
die benachbarten Anftalten erfolgen ſolle. Ich finde es hart, eine Exeluſion
dadurch zu verschärfen, daß gleichzeitig ausgeſprochen wird, der Gntfernte
dirfe auf feiner Anftalt je wieder Aufnahme finden. Die Möglichkeit, ſich
zu beilern, jollte man Niemandem, am wenigiten einem jungen Menjchen
An fester Stelle hätten wir nod von Dem Forum zu reden, vor das die
einzelnen Bergehungen der Schüler gehören, ſowie im Zuſammenhang damit
von dem Umfange ver Disciplinar-Strafgewalt der Yehrer.
Jeder ordentliche Yehrer wird die Disciplin während jeines Unterrichtes
voll und ganz in Anſpruch zu nehmen haben. Nur bei fortgejegtem Unfleiß
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und hartnädiger Unaufmerkſamkeit wird er es für feine Pflicht halten, mit dem
Ordinarius Rückſprache zu nehmen, um ein gemeinfames Einwirfen der Clajjen-
lehrer zu erzielen. Schitler, die in offenbar muthwilliger Art den Unterricht
jtören, wird er aus der Claſſe herausweiſen dürfen. Nah der Stunde aber
wird er davon aus dem Grunde Mittheilung an den Ordinarius und an den
Director zu machen haben, weil ein derartiger Borfall für die gefammte Beur:
theilung und Erziehung des Schülers höchſt wichtig. ıft.
Die eigentliche Erziehung des Schülers liegt dem Ordinarius ob. Diejer
wird, was zum Schaden der Sache heute oft nicht der Fall ift, immer nur
ein definitiv angeftellter, alſo ein bereits erprobter Yehrer jein. Steht dies
gejeglich feit, jo werden auch ſchon die Kräfte für die Ordinariate fich finden
lafien. Warum z. DB. ver Mathematifus nach dem jegigen Brauch nur aus:
nahmsweiſe ein Ordinariat verwaltet, iſt nicht einzufehen. Und ein älterer
Symmafial- Elementarlehrer dürfte in der Regel eine geeignetere Perjünlichkeit
für das Ordinariat von Certa oder Quinta jein als ein eben examinirter
Probe - Sandidat. Auch dafiir, daß bier und da der Director fi von ver
Führung eines Ordinariates entbindet, läßt ſich ein triftiger Grund nicht finden.
Es muß — das verlangt der Ernit der erziehlichen Aufgabe ver Schule, —
Grundſatz jein, daß gerade die älteften Pehrer des Collegiums die Ordinariate
haben. Wie heute wohl ein Streberthum hinfichtlichtlih der Stunden in ven
oberen Claſſen ſich in umerfreulicher Weife an manchen Anftalten breit macht, je
mag es lieber ala eine begehrenswerthe Ehre gelten, Ordinarius einer Claſſe
zu jein, gleich viel, welche es jei.
Der Ordinarius hat das ganze Betragen der Schüler feiner Klaſſe, ſowohl
vor den Stunden als aud in denjelben, ſowohl im Haufe als auch auf ver
Strafe, im Auge zu behalten. Ihm liegt die Aufficht über die Penfionen und
die Vermittelung zwiſchen Schule und Elternhaus ob. Wie er feine Schüler
amt beften fernen ſoll, jo wird ihm auch die ftrafende Wirkſamkeit anzuwertrauen
jein, wo es fih um Bergehungen gegen die allgemeine Schulordnung handelt.
Dennody werden feiner Strafgewalt Grenzen zu ziehen fen, und zwar am
natürlichften in der Weiſe, daß
der Ordinarius für Unfleiß und Unaufmerkſamkeit, fowie für Unarten Straf:
arbeiten und einftündiges Nachſitzen verhängen fann.
Die Disciplinargewalt der übrigen Yehrer und der Conferenz dürfte jo
zu regeln jein, daß
1) jeder Yehrer diejelbe Strafbefugniß gegenüber den in jeinen Unterrichts—
jtunden zu Tage tretenden Vergehungen bat;
2) die engere Gonferenz, zu der die definitiv angeftellten Anftaltslehrer ge-
hören, nad) Anhörung des Ordinarius bejchließt, wo es fi um Die
Beitrafung eines jchwereren, innerhalb der Schulräume verübten Ber-
gehens handelt ;
3) der weiteren Conferenz, der, wie oben $ 6 ausgeführt worden, aufer
den Yehrern der Schule auch gewählte Vertreter der Familien und der
politifhen Gemeinde angehören, die Ahndung der außerhalb der Schul:
räume vorgekommenen Bergehungen zufteht.
Ein Conferenzbeſchluß iſt nothwendig, wo eine körperliche Züchtigung (nur
in den beiden unteren Claſſen, bet Knaben bis zu 12 Jahren), eine mehr als
einjtündige Arreftitrafe (in den Mlittelelafjen) oder eine Garcerjtrafe (mur in
45
den beiden oberen Glafjen) eintreten joll; das consilium abeundi und
die Berweifung von der Anſtalt kann immer nur die weitere Conferenz
ausjprechen.
8.
Iufammenftellung der Grundfäße der Erziehung, welche in dem
bevorſtehenden Unterrichts - Gefeh Aufnahme zu finden verdienen,
Ob nun die im Vorhergehenden niedergelegten Grundſätze der Erziehung,
namentlich injofern fie beftimmend auf die Pebensweife des Zöglings eimwirfen,
in einem fogenannten Echulgejeg, das dem Knaben bei feiner Aufnahme in vie
Hand gegeben wird, niederzulegen feien oder nicht, darüber herrſcht unter den
Pädagogen getheilte Anſicht. Bis in die Mitte der fünfziger Jahre haben
wohl alle Gymnaſien ihren Schülern gedrudte Eremplare der Schulgejete ein- .
gehändigt. Seitdem hat dieſer Brauch mehr und mehr aufgehört. Man jagte,.
daß die Folge eines gejchriebenen Geſetzes nur die jein fünne, daß zwiſchen
dem Pehrer und dem Schitler ein Nechten eintrete, ein Verhältniß, das fich als
fitelich nicht erkennen laffe. Dazu komme, daß alle Geſetze beftimmte Zwecke
ing Arge faßten. Sie jeien daher im Staate notbwendig, da fidh bier die
Zwede vielfach Freuzten. Anders in der Schule, wo nur ein Zweck walte.
Tem Knaben künne durd das Gejeg der Schule Nichts gejagt werden, was
er nicht Schon ſelbſt wüßte.
Dem jei num, wie ihm wolle; aber eins ift unzweifelhaft: Das Interefje
des Staates erheiicht, daß in dem Unterrichtögejeg nicht nur die Auferen Ber:
bältmifje der Schulen und des Lehrerſtandes eine geſetzliche Regelung erfahren,
de Berechtigungen der verſchiedenen Echulgattungen feitgeftellt, die Unterrichts-
gegenftinde umd die Unterrichtöziele für jede Schulcategorie bejtimmt, jondern
daß vor Allem aud gegenüber der in deutſchen Landen einreißenden Sitten—
verwilderung, Püfternheit und Vergnügungsjucht der Jugend Erziehungs-Grund—
füge ausgeſprochen werden, die für Eltern und Pehrer, jowie für das heran—
wahjende Gejchledht unbedingt und überall maßgebend find.*) Im diefem Sinne
begehren wir, daß in dent Geſetze
I) der Staat fih nicht nur die Aufficht über die Schulen und den Unter:
richt, jondern über die Jugenderziehung im Ganzen zufprede ;
2) angeorbnet werde, daß die Jugend im Geifte der Züchtigkeit, Beſcheiden—
heit und Ordnung erzogen werden jolle, und daß ihr jomit
a. der Beſuch von Neftaurationen und Schankſtätten,
b. die Theilnahme an öffentlichen Tanzbeluſtigungen,
e. der Zutritt zu den Borftellungen von Poſſen,
d. die Benugung von Yeihbibliothefen
verjagt bleibe ;
*, Daß mit joldben generellen, für den ganzen Staat geltenden Beſtimmungen
ein ſchwerer Schlag gegen die Selbſtändigkeit der einzelnen Unterrichtsanſtalten geführt
wird, entgeht mir nicht. Allein da eine Regelung der Diseciplinar-Verhältniſſe den
eingelnen Gemeinden und Schulen nicht überlaffen bleiben kann, obne die Jugend—
ergiehung und damit das Interefie des Staates zu gefübrden, jo ift Dies Vorgehen
erechtigt. ;
46
3) nähere Beitimmungen getroffen werden, um in den Schulgemeinden Be-
hörden ins Leben zu rufen, welche die Erziehung beauffichtigen, fo zwar,
daß Die Zahl ter von den Famtlienvätern gewählten Mitglieder wenigitens
gleich ver Zahl der mitberathenden und mitſtimmenden Lehrer it;
4) diefen Behörden zugleid die Entſcheidung über Aufnahme in die Schule
und Entlaffung aus derfelben, Die Sorge für die äußeren Angelegenheiten
der Anftalt, die Anordnung von Schulfeften, ſowie namentlid die Straf:
gewalt über die Zöglinge, foweit fie nicht unmittelbar dem unterrichten-
den Lehrer oder dem Ordinarius zufommt, eingeriumt werde;
5) von den bisherigen Schulftrafen Die förperlihe Züchtigung ala Aus—
nahme: Mafregel bezeichnet werde, deren Anwendung in der Bolksſchule
möglichſt einzujchränken, in ven böheren Schulen aber nur in den beiden
unterjten Claſſen ſtatthaft jei.
— — — - —
VBädagogiſche Studien.
Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein.
12. Heft.
Gymnaſium und Kunſt.
Ein Verſuch
die äfthetiſche Erziehung zu fördern durch Berückſichtigung der Bildenden Künſte
im Anterrichte der höheren Schulen.
Dr. Rudolf Menge,
Gymnaſiallehrer in Eiſenach.
Wien und Leipzig.
* Verlag von A. Pichler's Witwe & Sohn.
Buchhandlung für pädagogifhe Literatar und Lehrmittel » Anitalt.
Drud von Fiſcher & Wittig in Leipzig.
1877.
Vorwort.
Hachfolgende Blätter geben größtentheil3 eine Rede wieder, welche
am Geburtstag Sr. Königl. Hoheit des Großherzog von Sacdjen am
24. Juni 1876 in der Aula des Gymmafiums zu Weimar gehalten
wurde. Der Verfafjer hat das Beitreben mitzuwirken an einer der größten
Aufgaben unferer Zeit: den Geſchmack unferes Volkes zu veredeln und
die Gefammtbildung deſſelben zu heben durch Entwidelung de Schön-
heitsgefühlse. Wie er mit diefer Abficht nicht vereinzelt dafteht, jo wohl
auch nicht mit feinen Anfichten über den Weg, auf dem das Biel zu
erreichen ift. Vielen wird er daher nichts Neues bringen, Manchen aber
doc vielleicht anregen, jei es auf diejelbe Weile, ſei e8 auf eine andere,
Aehnliches zu erjtreben. Der Zweck dieſes Schriftchens ift den Lehrern,
bejonder8 den Geſchichtslehrern, die ſelbſt nicht Kunfthiftorifer find, aber
den Werth und die Nothwendigfeit der äfthetichen Erziehung anerkennen,
einestheils eine Anleitung zn geben, wie fie den Schülern das Berftändnif
für die Werke der jchönen Künfte eröffnen können, anderntheils durch
Nachweis der zugänglichen Abbildungen ihnen diejes zu erleichtern. Die
Vorichläge des DVerfafjers beruhen größtentheil3 auf Erfahrung. War
die Zeit, jeitdem er jeine Verſuche machte, die Schüler in das Reich der
bildenden Kunft einzuführen, auch zu furz, um die letzten Früchte zu
zeitigen, jo glaubt er doch einen merflichen Erfolg bereit3 wahrgenommen
zu haben, nämlich ein gejteigerte3 Vermögen richtig zu jehen und ein
erhöhtes nterefje für die Werke der Kunft.
Möge man diejen bejcheidenen Beitrag zur Löſung einer großen
Aufgabe in weiteren Kreijen mit demjelben Wohlmwollen beurtheilen, mit
welchem er im engeren Kreije aufgenommen wurde.
Eifenad, im Februar 1877.
Dr. Rud. Menge.
Inhalt.
Einleitung j ;
Ueber bie Neoihwendigkeit der "äftgerifen — auf der Equle
Ueber die Wahl der Methode des äſthetiſchen Unterrichts
Darftellung ber Methode bes äjtbetijchen Unterrichts .
1) Die Kunft der orientalifhen Völker .
2) Die Kunft der Griechen bis zu Alerander des Geben zeln
a. Homeriſches Zeitalter . N
b. Die biftorifche Zeit bis nach ben Vecichen
c. Das perikleiſche Zeitalter.
d. Das Zeitalter Alerander des Großen . ;
3) Die Behandlung ber fpäteren Epoden und —— ARTEN
über Kunil . i
Nachweiſe ber Abbildungen und ———
Einleitung.
Die Höhe des ulturftandpunktes eines Volks wird zumeift gefchätt
nad) den umvergänglichen Werken ver jhönen Kunft, bie es hervorgebracht
bat. Iſt auch die momentane Bedeutung einer Nation für die gefchichtliche
Entwidelung der Weltbegebenheiten von diefen Kunfterzeugniffen unabhängig:
eine ewige Geltung, ein ftets fich erneuerndes Einwirken auf die Cultur-
verhältniffe fpäterer Völker wird nur biejenige Nation als Preis ihres
Strebens und Schaffens erlangen, die ſich durch Fünftlerifche Leiftungen mit
Auszeihnung hervorgethan hat. Daher kommt es, daß unter gleichzeitigen
fogenannten Gulturvölfern, die ſich ihrer Miffton bewußt geworben find,
teger Wetteifer entfteht um die höchſte Stelle auf dem Gebiete der ſchönen
Künfte, ein Wetteifer, der vielleicht nie ernftlihere Formen angenommen hat
ale in der Jetztzeit.
Nicht alle Völker find für diefen friedlichen geiftigen Kampf von Natur
gleich günftig ausgerüftet, felbft wenn fie fih auch am äußerer Macht gleich
find. Klima, Bodenverhältniffe und dadurch bedingter Volkswohlftend, Be—
Ihaffenheit der natürlichen Grenzen, politiihe und kirchliche Zuftände, Bor-
geihihte und Vollscharakter ſchaffen einen gar verfchierenen Boden für
ideale Beftrebungen. Je ungünftiger fich aber diefe Bedingungen in einem
Lande geftalter haben, vefto Flarer müſſen die Leiter ſich des zu erftrebenven
Zieles bewußt fein, deſto unermüblicher müſſen fie die Geſammtheit bes
Volles auf daffelbe hinzuweiſen und hinzuführen fuchen.
Unfer deutſches Volk fann mit Stolz auf Zeiten zurädbliden, wo feine
Stammesangehörigen das Höchſte geleiftet haben in allen Zweigen ver fhönen
Künfte; Dürfen wir aber von uns jest behaupten, daß die Mehrzahl auch
nur in dem fogenannten gebildeten Ständen von Begeifterung und Ber-
fändnig durchdrungen, eines richtigen Urtheils fähig ſei auf dem Gebiete
des Schönen? dürfen wir behaupten in dem Wettkampf der Nationen obzu-
fiegen ? Unfere geographiiche Lage verlangt von und mehr als andere Völker
zu verwenden auf ftarfe Sicherung unferer Grenzen, unjer verhältnigmäßig
geringer Bollswohlftand nöthigt uns zu größerem Kraftaufwand bei Be—
Ihaffung der dringendſten Bepürfniffe des Lebens; und jo ift es denn nicht
ju verwunbern, daß das Streben ver Meiften ſich auf äußere Zwede richtet
und höhere Ziele aus dem Auge verliert. Wir haben, ehrlich geftanben,
noch viel zu thun, ehe wir uns den größten Eulturvölfern ebenbürtig an
die Seite ftellen können.
Menge, Gymnaſium und Kunft. 1
2
Wenn je etwas berechtigt war, fo war es ber laute Jubel über die
Wiederbegründung unferer ftaatlihen Selbftändigkeit, über die Aufrichtung
unjeres neuen Reiches: aber dieſe Erfolge dürfen uns nicht über ung felbit
täufhen; neben biefer ftolzen Freude muß fi wieder die Erkenntniß gel
tend machen, daß wir nod vieles zu erringen, vieles gerade von unferen
überwundenen Feinden zu lernen haben. Bor allen Dingen ift dies aber
der Fall auf dem Gebiete der Kunft, oder fage ich richtiger: des Gefchmades.
Diefe Erkenntniß ift feine neue. Daß der Sinn für die Schönheit
der Form — als körperliche Linie fowohl wie ald Gewand unferer Ge
danken — bei unferem Nachbarvolk ein feinerer ift als bei uns, ift längft
ſchon unbeftritten, und man hat beit uns ſchon Mandes verfuht und mande
Anregung gegeben, um unfer Bolt aud bier zu gleicher Höhe zu heben. !)
Da diefe Mittel den gewünſchten Erfolg nody nicht gehabt haben, fo hat
man endlich den Auf erhoben, daß in den Schulen, befonders in ben
höheren Schulen, für die Ausbildung eines geläuterten Geſchmackes geforgt
werben müſſe.?)
Yeber die Hothwendigkeit der äſthetiſchen Erziehung auf der Schule.
Treten wir biefem Gedanken näher und juhen wir uns Mar zu machen,
in wie weit man beredtigt ift, von ver Schule fold eine bewußte Erziehung
zum Geſchmacke, alfo eine äfthetifhe Erziehung zu verlangen. Die richtige
Antwort dürften wir finden, wenn wir erft erörtern, ob man überhaupt zu
folder Forderung befugt ift, und dann, bis zu weldem Grave die Schule
im Stande ift, folgen Anforderungen nachzukommen.
Es find im Laufe der Jahrhunderte den Schulen gar verfchiedene Ziel-
punkte geftedt worden. Die verſchiedenen Unterrichtögegenftände der Lehr
pläne geben uns ein treues Abbild der jeweiligen Zeitrihtungen, fie beweijen
uns aber aud, daß die Organifation des Schulwefens nicht immer blos eine
Sache der Einficht, fondern aud eine Frage der Macht geweſen ift. Unſerem
modernen deutfhen Staate ift es endlich gelungen, die Schule ſicher zu
ftellen gegen alle Eingriffe einer anderen Macht, er hat die Möglichkeit, den
Schulunterricht zu einem beften zu geftalten, folglih hat er auch die Pflicht.
Muß er nun bei Aufftellung feines Lehrplanes befondere Rüdfiht nehmen
auf die äfthetifche Erziehung? Diefe Frage recht ernft zu prüfen, ift um
jo nothwendiger, da von allen Seiten jest an die Schule neue Zumuthungen
geftellt werden, die an und für ſich ganz berechtigt Klingen, deren Befrie-
digung aber fold eine Zerfplitterung des Schulunterrichtes herbeiführen
müßte, daß die Jugend, ja das ganze Volk dadurch erheblihen Schaden
leiden würde. Niemand wird leugnen, daß z. B. eine größere Vertrautheit
mit Mathematik und Narurwiffenfhaften, daß eine fichere Kenntuiß verſchie—
dener neuerer Sprachen und der Stenographie etwas Angenehmes, ja
unter Umſtänden etwas recht Vortheilhaftes iſt; aber das genügt nit, um
diefen Fächern fofort in der gewünſchten Weife Eintritt in unfere Schulen
zu verfchaffen, die im Gegentheil, foweit thunlich, von allem, was fi nicht
als nothwendig ausweiit, befreit werden müſſen. Welches aber ift bad
3
Kriterium, an dem wir das wirklich Nothwenbige als ſolches erfennen können ?
Dies füllt faft genau zufammen mit der Frage: Welches ift der Zwed des
höheren Schulunterrichtes ?
Soviel fteht feft: Wie einerfeits die Schule — die Volksſchule fowohl
wie die höhere — ihren Zweck nicht darin fehen kann, für gewiffe einzelne
Fächer vorzubereiten, jondern dies den Fachſchulen zu überlaffen hat, jo muß
fie e8 andererjeits fi) zur Aufgabe mahen, alle Kräfte, mit denen Gott
die Menjhen begabt hat, je nah Vermögen fomweit auszubilden, daß bie
Zöglinge fpäter fi dem Fachunterrichte widmen fünnen, ohne den Zufammen-
bang mit den gemeinfamen Beftrebungen des Menfchengefhlehts nad) Weiter:
bildung zu verlieren. Zu früh eintretende Einjeitigfeit oder gänzliche Ver—
nachläſſigung irgend einer Seite wirb fih an dem Einzelweſen rächen, wird
aber auch die Gefundheit des ganzen Volkes gefährben, die ja beruht auf
einer gewiffen Gleichmäßigkeit der Bildung und der Intereffen, aber
auch auf einer gehörigen Berüdfihtigung aller Intereffen.
Schiller in feinen neuerdings wieder oft beſprochenen Briefen über die
äfthetifhe Erziehung der Menjhen?) fagt: „Es giebt eine Erziehung zur
Geſundheit, eine Erziehung zur Einfiht, eine Erziehung zur Sittlichkeit,
eine Erziehung zur Schönheit, zum Gefhmad.* Man wird ohne weiteren
Nachweis zugeben, daß hier die vier Geſichtspunkte bezeichnet find, vie bei
der Erziehung gebührend ins Auge zu faffen find. Wie weit ift dies ge—
fhehen ? Die Erziehung zur Gefundheit gehört, wenn wir blos auf rift-
lihegermanifhe Cultur Rüdfiht nehmen, erft der jüngften Zeit an; denn
im Gegenfag zu dem claffifhen Heidenthum trat die Kirche diefer Richtung
der Erziehung fchroff entgegen dur die Forderung der Askeſe, welche, indem
fie die Triebe des finnlichen Leibes erftiden wollte, zugleih aud den Leib
verftümmelte. Erſt neuerdings, feitdem auch die allzuängftliden Bedenken
des Staated gegen den frohen turnerifhen Jugendmuth zerftreut find, hat
die Meberzeugung Platz gegriffen, daß die Pflege der Geſundheit, des Körpers
auch von der Schule nicht vernachläffigt werben darf, wenn fie ihren Beruf
erfüllen ſoll.
Die Erziehung zur Einſicht ift die, welche feit ver Reformation in den
proteftantifchen Yanden, ſeitdem man den Berftand nit mehr als ein
thörichtes, vorlautes Ding betrachtet), in den Vordergrund getreten, wenn
auh hie und da Einfihr und VBielwijferei noch mißverſtändlich ver-
wechfelt werben. Diefer Richtung dienen die meiften Unterrichtsfächer unferer
Öymnafien, ja e8 dürfte faum eins zugelaffen worben fein, von dem man
nicht Erziehung zur Einfiht glaubte mit Sicherheit erwarten zu dürfen.
Wie fteht e8 mit der Erziehung zur Sittlichkeit? Es ift anerkannt,
daß hier Beifpiele mehr wirken als Lehren. Diefer Theil ver Aufgabe fällt
aljo mehr dem Leben außerhalb der Schule, vor allem dem elterlichen Haufe
zu; doch bemüht fi die Schule, ſoweit fie durd Lehre es vermag, vorzüg-
lich im Religionsunterricht, fördernd beizuftehen: ift doch das Willen, was
recht ift, die erfte Vorftufe zur Uebung der Tugend! Der Gefchichtsunter-
tigt dann, welcher große Ideale den jugendlihen Gemüthern vorhält, bie
Einführung in das claffifhe Alterthum, weldes fo gewaltige, begeifternde
Seftalten aufzuweifen hat, entzündet bie Herzen zur Nacdeiferung. Tritt
dazu noh das nahahmungswerthe Beifpiel des fittlichreinen Lehrers, der
1*
4
unabläjfig bemüht ift, in felbftlofer Weife feine hohe Pflicht ald Erzieher
zu erfüllen, fo thut die Schule für fittlihe Erziehung fo viel, als billiger
Weife von ihr verlangt werden fann. Sie legt vie Grundlagen mit, auf
denen ein waderer Charakter fih aufbauen fann.
Und was gefhah und gefchieht für die äſthetiſche Erziehung? Da
die Kunft allgemein und nicht erft feit jüngfter Zeit als die höchſte Blüte
des Culturlebens angefehen wird, fo follte man erwarten, daß die Heran-
bildung zum Kunſtverſtändniß ftets als eine Hauptaufgabe des höheren Unter-
richts betrachtet worden ſei. Doch mas ift bis jest gefhehen? „Nichts“
wäre ungerecht zu erwidern ; denn Manches, ja Vieles hat man nad diefer
Seite bin theils bewußt, theils unbewußt gethan. Theils unbewuft! denn
fürwahr, wenn man lange Zeit das Studium unferer deutſchen Claffiker
felbft in den höheren Klaſſen unjerer Lateinfhulen verpönte, dagegen Den
größten Ruhm darin fuchte, daß die Schüler möglihft in Ciceronianifchem
Latein fhreiben und fprehen Fonnten, jo beweift dieſes, daß man e8 auf
Bildung des Gefhmades nicht abgelegt hatte, während man ihn doch eben
dur die Nahahmung eines lateiniſchen Stiles, der unbeftritten als mufter-
giltig angefehen wird, nicht unerheblih, wenn aud einfeitig förderte. Auch
bier ift glüdlih ein Umfhwung eingetreten. Die Beihäftigung mit Den
Hauptwerken unferer jo reihen jchönen Literatur wird nicht nur geduldet,
fondern dringend empfohlen ; und, indem zugleich der Unterriht im Griedifchen
mit mehr Nahdrud betrieben wird, find den Schülern Gebiete erſchloſſen
worden, deren Belanntihaft von felbft eine Förderung des Schönheitsfinnes
mit ſich bringt. Deun wenn das Wefen der clajfiihen Schönheit darin
befteht, daß ein gedanfenreiher Inhalt in denkbar fhönfter Form gefaßt ift,
fo bietet und deutſche und griechiſche Literatur des clafffh Schönen vie
reichfte Fülle.
Nun gut! möchte man uns einwerfen, vertieft Euch no mehr in die
Beihäftigung mit diefen Klaffifern, um den Gefhmad zu bilden, verfchont
aber die Schule mit weiteren Anforderungen! Gewiß wollen wir dieſes thun,
und hoffentlih gefchieht e8 bald in noch umfänglicherer Weiſe als bisher,
aber das genügt nody nicht, e8 wäre eine zu einfeitige Bildung, während
gerade der Geſchmack einer vielfeitigen bedarf. Oder, frage ih, würde es
3. B. auch nur einem milden Richter genügen, wenn er eine Rede hörte, wie
paffende Gebanfen in jehöner Form enthielte, aber eintönig und ausdruckslos
zum Vortrag gebracht würde? Um aber gut jpredhen zu fönnen, muß man
erft orventlich hören gelernt haben, und dieſes Verſtändniß für die Schönheit
bes Tones ebenjo wie das für die Schönheit der Linie ift es, was und noch
allzufehr fehlt. Hier alfo gilt e8 zu beſſern. Sollte es aber unmöglid fein,
auf der Schule zugleih Auge und Ohr für das Schöne empfänglih zu
machen, fo dürfte die Wahl, wonah wir vor allem zu ftreben haben, nicht
gerade jchwer fein. Denn, meine id, wenn der Sinn, welder von beiden
am leichteften auszubilden ift, zugleich auch derjenige ift, dur den wir bie
meiften und Harften Begriffe erhalten fünnen, fo ift die Frage entihieben :
es ift das Auge, der Sinn für die Linie und die Form. Und für diejes
ift bis jett in den höheren Schulen zu wenig gejhehen, während man für
die muſikaliſche Borbildung doch wenigftens durch Oefangunterricht forgt.
Ueber die Wahl der Methode des üfhetifchen Unterrichts.
Iſt nun zugeftanden, daß die Schule allgemeine harmoniſche Ausbildung
füämmtliher Anlagen des Menfhen zu erftreben habe, muß dann eingeräumt
werben, daß für die Ausbildung des Gefhmades oder die äfthetifche Erziehung
jedenfalls noch nicht genug gefchieht, jo wäre ein Widerſtand gegen jeve Mehr
ferderung unerflärlih, wenn nicht irgendwo ein ſtarkes Hinderniß vorläge.
Bir fommen hierdurch auf die Erörterung unferer zweiten Frage: Wie weit
ift die Schule im Stande, folder Forderung Gehör zu geben? Beſchränken
mir und mit ber Antwort auf die bildenden Künſte. Zuerſt ift die VBorfrage
zu erledigen: Im welcher Weife könnte man fidy überhaupt folhen äfthetifchen
Unterricht gegeben denken? Zwei Wege bieten fih dar: der fuftematifche
und der hiftorifche. Der fyftematifche fcheint auf den erften Blid für höhere
Säulen der vortheilhaftere zu fein, da er nit nur in fürzefter Weife
befannt macht mit den einfhlägigen Begriffen, ſondern aud dafür bürgt,
daß die Principien in ihren richtigen Beziehungen zu einander bargeftellt
werben (mie 3. B. bei ber Lehre von der Symmetrie und der vom Gleich—
gewicht der Theile), daß ferner die durch alle Zweige der bildenden Fünfte
durchgehenden Grundſätze gleich auch überall fofort nachgewieſen werben
lönnen, mährend bie Hiftorifhe Methode eine große Zerftüdelung des zu—
fammengebörigen Allgemeinen mit fi bringt. Doc fpricht gegen die fyftema-
tiſche Behandlung ein fehr wichtiger Umftand: biefelbe fegt ſchon eine gewiſſe,
wenigftens oberflähliche Bekanntſchaft mit den Erzeugnifien der Kunft voraus,
auf die wir bei unferen Schülern felbftverftändlih nicht zählen können.
Demnach würden wir auf den Weg der Kunſtgeſchichte angewiefen
fein, eine Behandlungsmeife, die auch noch mancherlei Vortheile vor jener
woraus hat. Sie bringt zuerft das Einfache, was dem noch nicht entwidelten
Verſtändniß am leichteften zu begreifen ift, fie zeigt itberall den Werbeprocek,
fie bringt die Kunftleiftungen einzelner Völker abgefchloffen zum Anfchauen
und unterftütt fo das Verſtändniß für Völkergeſchichte.
In der That, hätten wir Freiheit, mit der Zahl der Schulftunven
nah Belieben zu fohalten und zu walten, fo würben wir faum ber Ber-
fuhung widerſtehen Können, etwa für vie beiden Primen wöchentlich je zwei
Stunden anzufegen 5), in welchen die Geſchichte der einzelnen bildenden Künfte
oder bie Kunftgefchichte der einzelnen Völker behandelt würde. Diefer Bor-
ſchlag würde aber auf entſchiedenen Widerſpruch ftoßen. Dies können wir
mit Sicherheit daraus fchließen, daß troß ber Unzahl der Reformpläne, bie
gegenwärtig emporfchießen, mögen fie auch noch fo verſchieden fein, fi doch
nirgends die Kunftgefhichte berädfichtigt findet. in anderes Fach ift es,
das ungeftüm auftritt mit Mehrforberungen: es find die Naturwiſſenſchaften.
Man wird fie nicht zuridweifen können, da es fi nicht in Abrede ftellen
Täßt, daß es ein großer Mangel einer Schule ift, wenn ihre Zöglinge hinaus-
fhreiten ins Leben faft unbelannt mit den ewig waltenden Geſetzen ber fie
umgebenden Natur. Geben wir ihnen Raum, fo weit e8 ber Rahmen bes
Lehrplanes geftattet, ja heißen wir fie willkommen als Bundesgenofjen, da
durch biefen Unterricht beſonders die Schüler ihre Sinne zu üben, fehen und
bören lernen. Aber genügen kann uns das für unfre Zwecke nod nit;
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und fo werben wir denn durch die Lage der Dinge zu folgendem Bor-
ſchlage gebrängt:
Da befondere Stunden in den Oberflaffen für Kunftgefhichte nicht
zuläffig find, der höhere Schulunterricht aber auf die äfthetifche Erziehung
der Schüler nicht verzichten kann, jo ſuche man durch den Unterricht auch
in anderen Klaſſen und durch Berüdfihtigung der Kunft in anderen Lehr-
fächern dies Ziel zu erreichen.
Wenn ich auf die unteren und mittleren Klaſſen binweife, fo fann das
wunderbar erſcheinen, aber nur für den erften Blid. Dort kann allerdings,
und muß fogar eine gewiffe Vorbildung erreicht werben, nämlich theils,
indem beit ber üblichen Erzählung der Helvengefhichten angemefjene Ab—
bildungen zugezogen werben, theils und vorzitglic durch den Zeichenunterridt.
Iſt doch die erfte Vorbedingung für jede äſthetiſche Erziehung die Fähigkeit
feben zu können! Diefe aber wird durch nichts mehr entwidelt, al8 indem
man das Angefhaute nachzuahmen fucht®); es ſchärft fih das Auge hierbei
viel mehr als beim bloßen Anfhauen.
Die Forderung des obligatorifhen Zeichenunterrichtes hat um fo mehr
Ausfiht auf Gewährung, als felbft vie Männer, die bei der Neugeftaltung
des Schulunterrichtes eine durchaus praftifhe Richtung verfolgen, unabläffig
fie erheben. Nur muß diefer Unterricht unferem Zweck noch befonders dienſtbar
gemacht werben, indem man erftens mehr wirklich bedeutende Kunftwerfe zu
Borlagen benutzt als es vielfach gefchieht, und zweitens fie mit furzen Notizen
verfieht, welchem Bolt und welder Zeit das Original angehört. Halten wir
es doch Ähnlich mit ver Vorbereitung für den literaturgefhichtlichen Unterricht
in den mittleren und unteren Klafien, und nicht ohne erheblihen Bortheil,
da fo Bieles ohne Mühe ſich einprägt, was fpäter die Aufnahme des Neuen
bebeutend erleichtert. Im den oberen Klaffen ſodann, wo meift der Zeichen-
unterricht zuridtritt, witrbe ber Unterricht in der Gefchichte, im Deutichen,
theilweife aber auch in den alten Sprachen berjenige fein, wo die Kunft-
geſchichte und die Aefthetit pafiend berüdfichtigt würde. Geſchieht dies in
richtiger Weife, fo Tann Bieles erreicht werden, nur barf man nicht zu viel
erreihen wollen, fondern muß fi von vorn herein Mar machen, was in
einer öffentlihen Schule überhaupt zu erzielen ift.
Drei Beihränfungen find uns auferlegt, die wir wohl zu beachten
haben: daß der Lehrmittel nur wenige find; daß vor einer größeren Gemein-
ſchaft gelehrt wird; daß der Gegenftand blos nebenfählich betrieben merben
fol. Die beften Lehrmittel würden natürlih die Driginale felbft fein.
Diefe find den Schulen meift nicht zugänglid. Ein Erſatz für fie würden
jein treffende Abbildungen und Nahahmungen der größten Kunftwerfe; aber
auch auf fie müfjen wir großen Theils verzichten, d. h. foweit es die Malerei
betrifft, deren Wefen nur an koftbaren Copieen erkannt werben könnte, die
auch die Farben des Driginald wiedergeben. Denn die Farbe ift ja bas
Hauptharakteriftitum der Malerei ihren Schwefterfünften gegenüber Iſt man
fo glüdlih, dur die Fürforge eines Fkunftfinnigen Fürften oder reichen
Privaten in einem Mufeum Originalbilvder ober wenigftens eine Anzahl
guter Gopieen berühmter Bilder zu befigen, fo fann man die Malerei ein-
gehender beritdfichtigen, fonft aber wird man ſich begnügen müffen, auf
minder koſtbaren Nahbildungen die Entwidelung der Perfpective, mit der ber
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Zeihenunterricht befannt gemacht haben muß, und der Compofitionsfunft zu
verfolgen). Einen reiheren Borrath von Anſchauungsmitteln giebt es auf
dem Gebiete der Architektur und Skulptur, deren Behandlung deßhalb aus-
führliber und grümblicher fein muß. Aber auch hier dürfte ein allzutiefes
Eingehen in äfthetifhe Betrachtungen doch bevenklich fein. Denn es muß,
wie bei jeder größeren Vereinigung von Zuhörern, Rüdficht genommen werben
auf die große Zahl von minder Befähigten, bet denen, fo bald einmal das
Verſtändniß aufgehört hat, Leicht aud die Luft an dem für fie Faßbaren
Ihwindet. Außerdem hat es Schwierigkeit, einer größeren Anzahl gleichzeitig
vaffelbe zur Anfhanung zu bringen, wenn man nicht befonders große Ab-
bildungen hat?). Um aber der Verwirrung vorzubeugen, bie leicht entftebt,
wenn die Bilder erft nachträglich dem Einzelnen zu Geſicht kommen, ift es
rätblih, nur wenig auf einmal zu lehren, das Bild aber lange Allen zu—
gänglih zu machen. Iſt folh eine Behandlung des Gegenftandes aber
geboten, fo werben wir bie britte Beſchränkung, daß er nur nebenfädhlich
betrieben werben kann, nicht mehr als folde empfinden.
Darfellung der Methode des üfthetifchen Unterrichts.
Sehen wir nun näher die Methode an, nah der etwa zu ver»
fahren wäre.
Aus dem Auge darf man nicht verlieren, daß wir nicht das Ziel
verfolgen, gelehrte Archäologen auf der Schule zu erziehen, fondern pas
ſcheinbar bejcheidenere, in der That aber höhere: vie Fähigkeit dae
Shöne zu fehen bei unferen Schülern auszubilden. Diefe Aufgabe
zerfällt in zwei Theile: erftens überhaupt fehen zu lehren, zweitens Ge—
Ihmaf am Schönen einzuflößen. Beides wird erreicht, indem wir theils
harakteriftiiche, theils ſchlechthin fchöne Denkmäler ihnen vorführen, und
zwar, ſoweit e8 thunlich ift, im biftorifcher Reihenfolge. Hieraus ergiebt fich,
daß wir einem beftimmten Lehrer befonders vie Pflicht zumeifen, die Kunft-
gefhichte im einer Art Ueberſicht nad einem feften Plane varzuftellen, während
von den Lehrern der übrigen Fächer ohne Nüdfiht auf hiſtoriſche Entwide-
lung gelegentlich die Erzeugniffe der ſchönen Kunſt vorgefithrt werden. Und
zwar fällt jene größere Aufgabe naturgemäß dem Gefchichtslehrer zu, ohne
daß biefer aber den Zuwachs als Laft empfinden dürfte. Iſt man heute
darin einig, daß die Gefhichte eines Volkes nicht im der Aufzählung ber
Kriege befteht, die es glücklich oder unglüdlich geführt hat; nicht in der
Darftellung des Wirkens einzelner Männer, die über den Durchſchnitt her—
vorgeragt haben, fondern daß diefelbe das Volk in feinem ganzen Sein und
Weſen wiederfpiegeln fol, jo daß die Ereigniffe als natürliche Folge ber
Zuftände begriffen werben können: tritt mit einem Worte die ultur-
geihihte mit Recht aus dem früheren Halbdunkel hervor ins Licht, fo darf
vor allen Dingen die Kunſt der einzelnen Völker beanfpruchen, gebührend
gewärbigt zu werben. Nicht jedes Bolf hat diefe herrliche Blüte zu zeitigen
vermocht, welche nur gebeiht bei almählih wachſendem Wohlftand, dem ftet#
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um feine Eriftenz ringenden Bolfe aber ebenfo verfagt ift, wie dem plötzlich
zu Reichthum gelangenden. Wo fie aber bervorgeiproffen ift, da find bie
einzelnen Kunftepohen mit der fogenannten politifhen Geſchichte je imnig
verfuüpft, daß die eine ohne die andere zu vollem Verſtändniß nicht gebracht
werben kann. Bejonders gilt dies von ber Ardhiteftur und ber Plaſtik,
deren Werke dem Stoffe nad fo koftbar find, daß nur größere Gefammt:
beiten oder große Männer, die viefe beberrfchen und ihnen ihren Stempel
aufprüden, die einzelnen Erzeugnifje hervorrufen können; fo dag wir alfe
in diefen Denkmälern einen Ausdruck des Volkswillens oder der Geſchmacks—
rihtung und Denkweife einer ganzen Zeit befigen. Ich erinnere nur an
die Pyramiden von Negypten, die Tempel der Griechen, die Paläfte der
Römer, die Kirchen des früheren, die Profanbauten des fpäteren Mittel:
alter8 und Aehnliches.
Indem ih dazu übergehe, an einzelnen Beifpielen darzuthun, wie ih
mir beim Unterriht das äfthetifhe Moment behandelt denke, bemerke id,
daß ih mich zunächſt befchränfen werde auf die Kunfterzeugniffe einiger
Bölker des Alterthums, unter beionderer Hervorhebung der Griechen, ein
Gebiet der Gefhichte, auf dem ich felbft Berfuhe und Erfahrungen zu
mahen in ber Lage gewefen bin. Wir haben uns ftets, befonvers aber
bei der Behandlung der griechiſchen Gefchichte, zwei Fragen vorzulegen: an
welher Stelle ift es angemejfen, eimen Excurs über Kunftgefchichte einzu-
flehten? und: welche Denkmäler find hauptfählich geeignet fehen zu lehren,
ven Geſchmack zu bilden und die gefchichtliche Entwidelung der Kunft wahr:
nehmen zu laflen? dafür, vie einzelnen Fünfte ftreng gefonvert zu behanbeln,
ſcheint ein triftiger Grund nicht vorzuliegen; treten fie doch fo oft ver-
bunden auf!
1) Die Kunſt der orientalifhen Völker.
Die Gefhihte der orientalifhen Völker, beſonders bie politifche, ift als
ziemlich unfruchtbar für die Zwecke der Schule mit Recht aus derſelben
verbannt worden; die Gulturverhältniffe aber viefer Völker dürfen nict
ganz unbeachtet gelaffen werben, da fie Erfheinungen zeigen, weldye für bie
Entwidelung der Geſchichte des Menfhengefchlehtes von zu großer Beben:
tung find. So wird man nicht umhin innen, einen Blid auf bie Zu
ftände des alten Aegyptens zu werfen. Wer aber wollte leugnen, daß gerade
bie Kunftvenfmäler dieſes Volkes uns über feine ganze Art und Sinne
weife die wichtigften Aufjchliffe geben? An Abbildungen fehlt e8 ums bier
nicht; aber haben wir einerfeits nur wenig Zeit für die Beſprechung vieles
Volkes zur Verfügung, fo gilt e8 andererſeits auch bei diefem methodiſchen
Theile des Unterrichtes Maß zu halten, denn das Uebermaß des Vorgelegten
würde nur Oberflächlichleit herbeiführen, während wir es auf ernftlidee
Anfhauen, Beobachten, Vergleichen, Abftrahiren abgelegt haben; nur infe-
weit dieſes erreicht werben fol, ift es dienlich Mehreres beizuziehen.
Das erfte Blatt fei eine Abbildung der Pyramiden von Gizeh?)
Es gilt, nachdem Einiges über Grundriß, Material, Zweck des Baues vor-
ausgeſchickt ift, fürmlihe Uebungen im Sehen vorzunehmen. Bei geſchidter
Leitung kann der Schüler Mancherlei von felbft bemerken: das Maſſenhafte
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des Werkes, die mathematifhe Genauigkeit, die gleihmäßig überall wieder-
tehrende Form: das eine weift hin auf den vefpotifchen Drud, unter dem das
Bolt arbeitete, daB andere, auf bie hohe mathematifhe Ausbildung, durch
bie die freigeftaltende Phantafie in enge Banden gefhlagen war. Das
Gleiche gilt von den in der Regel als Dentkpfeiler einer Weihung dienenden
Dbelisten, die fogleih mit erwähnt werden künnen.
Die bei jenen Pyramiden befindliche Rieſenſphinx, die in einer Höhe
von 65 Fuß umd einer Yänge von über 140 Fuß aus natitrlihem Felſen ber-
ausgearbeitet worden ift, giebt ein bewundernswerthes Zeugniß, was genaue
Berechnung und technifche Fertigkeit bei einem deſpotiſch regierten Volke leiften
kann. Iſt aber auch bei der Erdichtung diefer fonderbaren Geftalt eine gewiſſe
Phantafie nicht zu verfennen, fo werden wir doch zur richtigen Schätung
viefer Kraft fogleih geführt, wenn wir als zweites Blatt eine Anfiht der
Tempelanlagen von Edfu vorlegen. 10) Hier fehen wir eine ganze
Alee von Sphinren — wie vor anderen Tempeln auch wohl Widderalleen
— in denen umveränbert genau Lage, Geftalt, Geſichtsausdruck wieder—
kehrt: das ifl Feine Kunft mehr, das ift mechaniſches Handwerk, welches es zu
großer technifcher Fertigkeit gebraht hat! Die Allee führt zu dem eigent-
lihen Tempel, deſſen Eingang von Pylonen gebildet if. Davor figen zwei
Herrfcherfiguren von riefiger Größe, deren Ehbenbilver in allen ähnlichen An-
lagen wieberfehren, mit gemau benfelben Berhältniffen der einzelnen Körper-
theile. Man lernt darans, wie die Kunft auf ihren Borftufen blos durchs
Rieſenmaß der Leiber das Erhabene auszuprüden ſich vergeblih bemüht, man
lernt, wie der Geift des GStillftandes nach Schablonen gut zu arbeiten be—
fühigt,, freie Geftaltungen aber unmöglich macht.
Im Innern fällt die enge Stellung 1!) der Säulen auf, deren Kapitel
meift 12) eine gefchloffene oder geöffnete Lotosblume darftellt. Wir fehen bie
Kunft unter dem Einfluß des Material® und der umgebenden Natur. Die enge
Stellung der Säulen ift nöthig, weil die Deden ganz aus Stein beftanden, der
ohne die zahlreihen Stüten unter feiner eigenen Schwere gebrochen wäre, bie
Lotosblume aber ift das heimifhe Gewähs Aegypten. Die genauere Be-
Iprehung der Säulen, auf deren Haupttheile hier ſchon bingewiejen werben
mag, würde ich für die griechifche Geſchichte auffparen. Der ägyptifche Tempel
beftehbt aus einer größeren Anzahl unüberfihtlich zufammengefügter Theile,
bie nach Bebürfniß aneinander gebaut find. 13) Es ift der ägyptiſchen Archi—
teftur nicht gelungen, ein organiſch gegliedertes Ganze zu erfinden, in dem
eine einheitliche Ipee ihren entſprechenden Ausdruck erhalten hätte, wie das
beim griehifhen Tempel der Fall ift.
Bon den Werken der plaftifhden Kunſt giebt e8 wohl nur wenige
der Schule zugängliche Abbildungen ; fie ift faft ausfchlieglih im Dienfte der
Architeltur geblieben, ohne aber mit ihr zu verwachſen. Pfeilerfiguren find
gewiffermaßen nur angelehnt, ftatt wie bei den Griechen etwa als Träger ver-
wenbet zu werben. Um wenigftens eine Anſchauung zu geben, könnte man
als drittes Blatt den Felfentempel von Ibſambal vorlegen, der eine
Reihe figender Figuren zeigt 1%): die Füße find noch nit von einander gelöft,
der Oberleib bat eine faft militärifche Haltung, purd die wohl Würbe aus-
gevrüdt werben fol, Arme und Hände find feft an ven Leib angeſchloſſen, aus
den aufgerichteten Gefichtern ftarrt der gleiche, nichtsfagende Blid entgegen.
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Enplid bringen wir nod ein Relief zur Betradtung, befonders um
einen Vergleich zu ermöglichen, wenn fpäter die griechiſchen Reliefs befproden
werben. 15) Die Aegypter haben in biefer ver Malerei näherftehenden Dar-
ftellungsweife Vieles geleiftet, aber nicht eben Großes: eigentliche Compofition
zu Gruppen findet fid) faum, ja nicht einmal eigentliche Individuen treten uns
unter den Figuren entgegen: oft ift nicht Alter noch Geſchlecht zu erkennen,
fondern wir fehen eine ewig gleihmäßige Wiederholung deſſelben Menfchen-
bildes mit ftarrem Lächeln, nur die Könige find durch gemiffe Abzeichen
fenntlic gemacht.
Eigentbümlich find den Aegyptern vie zahlreihen Verſchmelzungen von
verſchiedenen Thierformen, ſowie von Thierformen mit Menfchenformen. Auf:
fällig ift, daß, während vie Griehen vom Menfchen meift ven Kopf feft-
hielten, die Aegypter meift Thierköpfe den Figuren anfegten. Was aber das
Stehenbleiben auf früh erftiegener Stufe befonders bekundet: Wenngleid
Leib und Kopf der Figuren fih in Borberanfiht bietet, fo find Hände und
Füße, wie wir e8 wohl bei den Fünftlerifchen Verſuchen unferer Kleinen and
manchmal fehen, in Profil dargeftelt. Das Kaftenwefen, vie Priefterberr-
haft, die jede Neuerung hinderten, traten auch ber Entwidelung der Kunft
feindlich entgegen.
Ein glüdlicheres Aufblühen der Reliefbildnerei würden wir zu be
ſprechen haben in ber aſſyriſchen Geſchichte, wenn dieſe niht vom Schul
unterrichte ganz ausgejchloffen wäre; auf die Architektur dieſes Volkes da-
gegen läßt fih, um das beiläufig zu erwähnen, bei ver Lektüre bes britten
Buches von Xenophons Anabafis hinweiſen. Die Rieſenbauwerke aus
Lehmſtein zeigen, wie man von der Natur nicht begünftigt, ſich zu helfen
gefucht hat; Tas benugte Material löſt audy zugleich das Räthſel, warum
von den gewaltigen Werken dieſes bauluftigen Volles faft keine Reſte ſich
erhalten haben.
2) Die Kunſt der Grieden bis zu Alexander des Großen Beit.
Größere Berüdfihtigung erheifcht natürlich die Kunft bei den Griechen;
denn, ſagt Windelmann im Beginn des vierten Kapitels feiner Ge
ſchichte der Kunſt des Altertbums: „Die Abhandlung von der Kunft ber
Aegypter, der Etrurier und anderer Völker kann unſere Begriffe erweitern
und zur Richtigkeit im Urtheil führen; bie von den Griechen aber fol
fuchen, viefelben auf Eins und auf das Wahre zu beftimmen, zur Regel im
Urtheil und im Wirken“.
Indem wir und dem Griehenthum zuwenden, kann ich nicht unter
laffen, noch einmal zu betonen, daß es fih für uns nit handelt um eine
vollftändige Kunftgefhichte, noch meniger um eine Gefchichte der Künftler,
fondern daß wir nur das zu erwähnen haben, was hiftorifh oder äſthetiſch
von befonderer Bedeutung ift, während das Mittelmäßige und Untergeorbnete
unberüdfihtigt zu bleiben hat. Unvollftändigfeit dürfte alfo der in folgenven
Dlättern zu Grunde gelegten Auswahl am wenigften vorgeworfen werben.
11
a. Homeriſches Zeitalter.
Selbſtverſtändlich ift, daß der Lehrer der alten Spraden dem Gefchichts-
lehrer möglichft in die Hand arbeitet. So dürfte den erften Anlaß, über
griechiſche Kunft zu ſprechen, wohl die Lektüre der Odyſſee bieten. Eine Be-
Iprehung des bomerifhen Hauſes 16), fowie der oft gerühmten Leiftungen
auf dem Gebiete des Kunftgewerbes ift für das volle PVerftänpni des
Dichters und des von ihm gefchilverten Zeitalter8 unumgänglich nöthig. Die
Paläfte des Antinoos, des Odyſſeus, des Menelaos veranlaffen einen Blid
zu werfen auf die damalige Architektur, von der wir durch glüdliche Fiügung
in den ehrwürbigen Ruinen der fogenannten pelasgifhen Königsburgen 17)
noch belehrende Reſte überfommen haben. Steinbau und Holzbau ringen
damald noch miteinander. Während man ſchon gemwölbeartige Hallen herzu-
ftelen weiß durd Anwendung der Ueberkragung, ſcheint der eigentliche Palaft
jelbft, natürlih mit Ausnahme der Umfaffungsmauern, größtentheils aus
Holz gebaut zu fein. Das Material, Holz wie Stein, wirb theilmeife mit
blinfenden Erzplatten verfleivet, um den Glanz des Anblide zu mehren,
während an ven Deden die Holzconftruction frei zu Tage tritt. Der Palaft
mit dem Löwenthore zu Mylenae zeigt die fefte, aber noch rohe
Art des Mauerbaues, die indeß doch gegenüber ven früheren yfloptfhen Mauern
ein bedeutender Fortſchritt iſt; zeigt, wie man finnreic den fteinernen Sturz-
balten über dem Eingang durch Freilaſſung eines Dreiedes zu entlaften
wußte und zugleich diefen ausgefparten Raum benugte, um bie Plaftit zum
Shmude des Palaftes zu verwenden. Auffällig fcheint es, daß Tempelbauten
von Homer nicht gefchilvdert werben. Es ift nachzuweiſen, wie das nicht zu=
fällig, Sondern im Hiftorifhen Zufammenhange natürlih if. Denn eines-
theil8 pflegt in den von Königen beherrſchten Staaten die Architektur fich
mehr in Paläften als in Tempeln zu bethätigen, andererfeits hat der fchlichte
Naturcultus der Pelasger das Bedürfniß nah Tempeln noch weniger auf:
lommen laffen. 18)
Gehört letztere Betrachtung vielleicht ſchon mehr dem gefchichtlichen
Unterrihte an, fo wird der Erflärer der Odyſſee jedenfalls die Pflicht
haben, eingehender hinzumeifen auf die hohe Stufe des damaligen Kunft-
gewerbes, wie fie bezeugt wird buch die oft erwähnte Pracht und
Schönheit des Schmudes und der Waffen. Was wir von den wunderbaren
Eriheinungen vor und in dem Palaft des Antinous halten follen, von den
goldenen und filbernen Hunden zur Bewahung der Schwelle und ven
goldenen Jünglingen, welde die glänzenven Fadeln halten, um in ver Nacht
den Schmaufenden zu leuchten (Od. VII, 91— 102), ift ſchwer zu fagen.
Overbeck in feiner Kunftgefhichte (S. 43) meint, folde Werke, fowie aud
die Wunbergeftalten von Dienerinnen bei Hephaiftos (Ilias XVII, 418;
ſ. auch 373) habe man feinen triftigen Grund der Kunft in Homer’s Zeit-
alter abzufprehen, wenn aud die dichteriſche Ausihmüdung an der Schilve-
tung ihren Theil habe. Mag dem fein, wie ihm wolle, jedenfalls bleiben
noch andere pradtvolle Werke in Metall, wie Miſchkrüge, Keſſel, Kelce,
Spangen, Wehrgehänge, Rüſtungen, Schilde, vor allen ver Il. XVIII be-
Ihriebene Schild des Achill 19), die uns einen hohen Begriff von der damaligen
Kunftfertigkeit erzeugen müſſen.
12
b. Die hiſtoriſche Zeit bis nad den Perferkriegen.
Bauftile. — Ornamente, — Die Aegineten.
Der ungleich größere Theil der Aufgabe fält dem Geſchichtslehrer zu,
der die homerifche Zeit zwar berühren, die größere Aufmerkfamfeit aber
natürlich auf die eigentlich biftorifchen Zeiten zu lenken ſuchen wirt.
Einleitend bat er zu bemerken, daß ſicherlich, wenn es auch unflar ift,
in wie weit, bie griechiſche Kunft mit der orientalifhen zufammenhängt, und
hat zu erörtern, warum gerabe die Griechen das Unerreihbare auf dem
Gebiete der Kunft haben ſchaffen fönnen. Er kann hier der Führung Windel-
manns folgen, ber bie Gründe hierfür im vierten Kapitel feiner Gejchichte
der Kunft des Alterthbums weitläufig beſpricht. Es ift 1) der Einfluß Des
Himmels: dieſer ſchafft eine heitere Witterung und bildet ſchönere Menfchen,
die obendrein der Künftler täglih nadt vor Augen fehen fonntee 2) Der
Einfluß der Verfaffung und der Regierung. Griechenland ift meift Sig ber
Freiheit geweſen, daher ruhte niht auf einer Perfon allein das Recht groß
in feinem Bolfe zu fein und fih mit Ausihliefung Anderer verewigen zu
fönnen, fontern die Kunft wurde beanfprudt, um jedwedem Trefflihen, be=
fonders aber den Siegern in den feierlihen Spielen Denkmäler zu fegen.
Da diefe Denkmäler öffentlich gefett wurben, fo war dies ein um fo größerer
Antrieb für den Künfiler, durch feine Leiftung ſich hervorzuthun. Durd
die Freiheit bob fi) aber aud die Denkweiſe des ganzen Volkes, „vie
Griechen waren in ihrer beften Zeit denkende Wefen, welche zwanzig und mehr
Jahre ſchon gedacht hatten, ehe wir indgemein aus uns felbft zu denfen
anfangen“. 3) Die Achtung der Künftler. Im bürgerlichen Leben wurden
fie oft der höchſten Ehren theilhaftig; die Schöpfer hervorragender Kunſt-—
werfe wurden wohl felbft einer Statue gewürbigt. Das Urtheil über ihre
Leiftungen hing nit vom Eigenfinn unwiffenden Stolzes ab, fondern bie
Meifeften des ganzen Volkes beurtheilten und belohnten fi. Sie wußten,
daß fie für die Ewigkeit fhufen, wenn fie etwas Treffliches leifteten. 4) Die
Anwendung der Kunft. Da fie den Göttern geweiht und fürs Heiligfte und
Nützlichſte im Vaterland beftimmt war, und in den Häufern ber Bürger
Mäßigkeit und Einfalt wohnte, fo erhielt fie fih in ihrer Grofheit. Der
Künftler wurde nicht auf Kleinigkeiten oder auf Spielwerke durch Beſchränkung
des Drtes oder dur die Laune eines Privatmannes beruntergefegt.
Der Lehrftoff wird durch ſolche Erörterungen kaum vermehrt, denn
die Erwähnung der alten wichtigen Beziehungen zwifhen Orient und
Deeident, die Befprehung der Bedingungen, durd deren Vorhandenfein bie
herrliche Blüte des Griechenthums gezeitigt werben konnte, gehören fo ſchon
in den Kreis der Betrachtungen, wenn dem Schüler die glanzvolle Erfchei-
nung dieſes Volfes verftändlicd werben fol. Auch daß die Athener befonders
in den Vordergrund zu treten haben, ift eine Yorberung, bie wir nicht erft
wegen der Berüdfihtigung der Kunft zu erheben brauden. —
Beim Ueberfhauen der griehifhen Geſchichte wird es zunächſt als
natürlich erſcheinen, bei der Schilderung der Akropolis im perifleifhen Zeit-
alter unferen Anforderungen Genüge zu thun. Aber der Stoff wäre dann
zu reih, als daß er in kurzer Zeit, wie wir fie doch blos beanſpruchen
dürfen, mit Erfolg behandelt werben könnte. Dem plögliden Uebermaß
13
würde auch das Verſtändniß ſich verſchließen, und wir müffen deshalb ſchon
früher eine Gelegenheit ſuchen, einen Theil des Stoffes auzubringen. Dieſe
fheint fi mir pafjend zu bieten nad Beendigung der Perferkriege. 20%) Der
für Athen jo wichtige Thefeustempel?!) etwa, der ja auch in der politischen
Geihihte erwähnt werden muß, bietet einen paſſenden Anlaß. Unter Zus
jiehung einer Abbildung des ebenſo herrlihen Neptuntempelg von
Paeftum??), der ziemlich verfelben Zeit angehört, wird vorerft die doriſche
Säulenorbnung erläutert ; und um die jonifche Säule gleich mit zur Anfhauung
zu bringen, werbe eine Abbildung des Tempels ver Nike apteros?),
der etwa auch aus jener Zeit ftamımt, zuvor Betrachtung vorgelegt. An beiden
wird die Bedeutung der einzelnen Säulentheile nachgewiefen 24), die zufammen
einen völligen Organismus bilden, und dann die Beiprehung angefnüpft über
bie einfacheren Tempelformen 25) mit ihrer durchſichtigen harmonifchen Glie-
derung und die Entwidelung derſelben zu dem großartigen Kunſtbau ver
fpüteren Tempel; mit dem Namen und Zwed von Entafis, Architrav,
Metopen, Triglyphen, Tymponon, ebenjo aber aud mit ven Heineren Zier-
raten muß bekannt gemacht werben.
Die Kenntnif der einfaheren Ornamente und ihre ſymboliſche Bedeu—
tung ift für das Verſtändniß der griechiſchen Architektur jo nothwendig, wie bie
Kenntniß der griehifchen Formenlehre für das richtige Verſtändniß einer
Periode. Hervorzuheben ift bei Beiprehung verjelben, daß fie in ven beſſeren
Zeiten der Kunft nie blos die Abſicht haben zu ſchmücken, fondern ſtets die—
jenige anzubeuten, welches der Zwed eines Bautheiles innerhalb der ganzen
Conſtruction if. Die griechiſchen Ornamente 2%) find theild dem Pflanzen-
oder Thierreih entnommen, aber ftilifirt, d. h. nach Abftreifung alles Defjen,
was am Individuum zufällig oder unregelmäßig ift; theils find fie Nach—
ahmungen von Producten gewerblicher Thätigkeit, als Bänder, Seile, Schnüre.
Sie find entweder gemalt oder in erhabener Arbeit angebradt. Die wid
tigften Ornamente find: 1) sima oder Bekrönung, welche andentet, daß
ein Bautheil frei endigt, oder nicht weiter belaftet ift. Hierzu werben meift
leihte Palmetten und Kelche abwechſelnd verwendet, denen ſich zuweilen
filifirte Blüten zugejellen, aber auch Akroterien und Stirnziegeln gehören
hierher. Im Gegenfag hierzu drüdt 2) das kyma ein Belaftetfein und
Stügen aus. Es find Pflanzenelemente, kräftige Blätter, die an der Spige,
wie von einer Laft gebrüdt, ſich nach vorn überneigen; zuweilen find fie jo
fonderbar ftilifirt, daß man fpäterhin theilmeife ganz vergeflen zu haben
Iheint, welhe Idee urfprünglid zu Grunde lag. 3) Die Canellirung.
Indem dieje an die Rinnen der Pflanzenftengel erinnert, welde, wie 3. B.
der Schierling, eine ausgebreitete Blüte zu tragen haben, fol fie ben
Charakter unbeugfamer Stärke verleihen. 4) Heftbänder und Heftichnüre.
Sie ftellen eine Verknüpfung einzelner Theile dar und erjheinen demnach
immer in horizontaler Richtung. Man unterfcheidet den torus oder Gurt
in einfaher Geftalt oder als Geflechte, die taenia oder das Band, bie
bejonders häufig in ber Form des vielgeftaltigen Maeander vorlommt, und
die Schnur, theild mit aufgereihten astragali, theild gedreht. — Auf die
Bedeutung der einzelnen Ornamente wird man öfters zurüdtommen müſſen,
damit dies Kapitel recht geläufig wird. Am Tempel kommen alle viefe Orna—
mente in mehrfachen Wiederholungen vor.
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Ihrer Conftruction nah find die griehiihen Tempel hervorgegangen
aus Holzbauten, durch die Art ihres Schmudes kennzeichnen fie fih als
Außenbauten im Oegenfag zu unferen Kirchen; daher fommt es, daß fie
mit wenigen Ausnahmen auf koloſſale Verhältniſſe verzichten, ſondern ihren
Ruhm ſuchen im leicht überfihtliher Harmonie.
Die Metopen des Thefeustempels veranlaffen eine vorläufige Erwäh—
nung ber Verbindung von eigentliher Plaftit und Arhiteftur und leiten
über zur Berradhtung bes etwa gleichzeitigen Athenetempeld von Ae—
gina?), an dem uns die Giebelfelver, das werthuollfte Denkmal ber
Skulptur jener Zeit, befonders intereffiren. Wir müffen uns auf den beffer
erhaltenen Wefigiebel befhränfen. 23) Wer von Natur gut befähigt ift zu
jehen, wird ſelbſt ſchon manderlei wahrnehmen; die gefhidte Ausnutzung
bes Raumes etwa, die ein Vorbild gewefen ift für bie fpäteren Zeiten, ober
die Strenge der Symmetrie, die im peinlichfter Weife befolgt if. Trotzdem
ift übrigens Feine Steifheit vorhanden, fondern, abgejehen von ven fonder-
barer Weife Inieenden Bogenfhügen, durchaus naturgemäße Haltung ber
einzelnen Figuren. Fällt auch das gleihmäßige, faft verlegene Lächeln
ver einzelnen Perfonen auf, fo darf dagegen mit Recht gerühmt werben,
wie Körperlinien und Muskelſpiel vortrefflihd zum Ausprud gebradt worden
find. Bielleiht darf man bier die allgemeinere Bemerkung anfügen, daß
bie griehifhe Kunft bis zu ihrer höchſten Glanzperiode nicht ſowohl
Schilderung von Geelenzuftänden — wie bie riftlihe Kunft — als viel-
mehr die Darftellung äußeren Handelns und Lebens beabfichtigt hat. End»
ih bietet dieſes Bild auh noh Anlaß auf die allgemein übliche fymbo-
liſche Sprache der Kunft hinzuweiſen: Indem der Künftler rechts und Links
von der mittelften Geſtalt liegende, faft horizontale Figuren anbrachte, hob
er jene über die gewöhnliche irdiſche Größe hinaus: es ift eine Göttin;
fie ift gewappnet, ja mit der Aegis verfehen: es ift Athene; zwei Parteien
ftreiten fih um einen Leihnam; wer find fie? Die Kopfbevelung des
einen Bogenfhürzen giebt uns Antwort: die phrugifhe Mütze macht ihn
ald Paris kenntlih; wir haben einen Kampf der Griechen und Xrojaner
vor und. Um welden Leichnam, läßt mit Sicherheit fih nicht behaupten.
Dod könnte e8 wohl der vielbefungene Kampf fein um die Leiche des Achill.
Liegt eine Abbildung vor nah einer fogenannten Neftauration 2%) dieſes
Tempels, an dem die ehemals bemalten Theile bunt wiedergegeben find, fo
ift Schließlich noch darüber zu fpreden, wie bie griechifche Plaftif, um bie
einzelnen Kleineren Theile recht fihrbar zu machen, die bei der Entfernung
des Beihauers leiht hätten verfhwinden können, fih der Schweſterkunſt
bevient und durch jcharf von einander abftehende Farben die Unterſcheidung
aud des Sleineren ermöglicht bat. Um mit der Eigenthümlichkeit des
plaftifhen Stils dieſer Periode vertrauter zu machen, Könnte etwa nod ein
Bild der Artemis zu Neapel30) vorgelegt werben. Iſt daffelbe auch nit
archaiſch, fondern arhaiftifh, fo zeigt e8 doch deutlich ein anderes Charafte-
riftifum diefes Stiles, nämlich das Zierlihe in Gewand, Haar und Auftreten.
Der ganze Stoff fann auf 4 bis 6 Stunden vertheilt werden; bie
Abbildungen bleiben ausgeftellt, bis fie nad einigen Wochen bei Befprehung
des perifleifhen Zeitalters anderen weichen müſſen.
15
c. Das perifleifhe Zeitalter,
Parthenon. — Phidias, Polyflet, Myron,
Es ift bier nicht meines Amtes, die unvergleichlichen Verdienſte des
Perikles um Athen fowohl, wie um die Menfchheit zu feiern. Sein Name
ift mit der Geſchichte faft jeder Kunft unauflöslih verflodten; vie perifleifche
Periode aber wird von Jedem, ver in der Weltgefhichte die Entwidelungs-
geihichte der Menfchheit ſieht, als eine der beveutfamften, großartigften
gepriefen. Die Größe diefer Zeit läßt fih am wenigften verftändlich maden,
wenn man den Schüler nicht mindeftens etwas ahnen läßt von ihren un—
erreichten künſtleriſchen Erzeugnifien. Doch gilt es, ſich weije zu beſchränken.
Nach einer topographifhen Darftellung ver Afcopolis 31), dieſes Schagkäftleins
griehifher Kunft, und einem kurzen Blid auf Propyläen 32) und Eredhtheum ?3)
mit feiner Karparidenhalle 3), begnüge man fi) mit einer eingehenden Be-
Iprehung des Parthenon 35), dieſes koftbarften aller Evelgefteine. Kein Menfch
ift fo troden, fo phantafiearm, daß er nicht mächtig angeregt werde, wenn
der begeifterte Vortrag des Lehrers, unterftügt von guten Abbildungen, dieſes
Ihönfte Baudenkmal vielleicht aller Zeiten wieder in bie Gegenwart herein
zu zaubern fucht. Aber nicht in allgemeinen Empfindungen jhwelgen, fondern,
foweit es möglich ift, Rechenfchaft geben von dem, was uns gefällt und
warum es uns gefällt! Freilich ift eine bedenkliche Klippe zu vermeiden:
man darf nicht allzugelehrt Vielerlei in die Werke hineinlegen und heraus
interpretiren, was der naive Befhauer beim beften Willen nicht finden faun.
Am Parthenon fällt und vor allen Dingen auf die Harmonie der ein-
zelnen Theile, die einheitlihe Durdführung des Grundgedankens: der macht-
vol und mild ſchirmenden Landesgöttin bringt das durch fie reich gefegnete
Bolt in feftlihen Yubel feinen Dank dar. — Kein gewöhnlicher Tempel ift
es, fein Qultustempel, der dem Volke verfchloffen ift, ſondern ein Fefttempel,
ben es betreten darf, wenn vor dem Bilde der Göttin die Giegespreife
vertheilt werben in dem lichten, hellſchimmernden Innenraum. Wallen wir
jelbft mit hinauf nah dem Heiligtum, um zu fehen und zu bewundern!
Die erfte Berrachtung fei ven Gtebelfeldern 36) geweiht, von denen
das öftliche die Geburt Athene’s, das weftliche die Befigergreifung des artifhen
Landes durch Athene nah dem Weitkampf mit Poſeidon darftellt.
Ein neidiſches Schidjal hat dieſe koftbarften Werte, nachdem fie lange
der Zeiten Stürme getrogt hatten, zerftört und nur in Brudftüden ung
überliefert; ein Heiner Troft ift es, daß wir durch rechtzeitig aufgenommene
Zeihnungen in den Stand gefegt find, das Erhabene der Gefammtheit dieſer
Compofitionen uns einigermaßen zu vergegenwärtigen. Bon ben ftarren
Kegeln ängftliher Symmetrie hat die fortjchreitende Kunft ſich los gemadı,
an ihre Stelle ift das freiere Gefeg des Gleichgewichts getreten. Der Raum
ft au bier in kunftvollfter Weile ausgenugt. Und wie hat der Künftler
den ſchönſten, fruchtbarften Moment zu erfaflen gewußt! Am weftlichen
Giebelfeld, von dem wir mit Hilfe von Carrey's Zeichnungen uns eine aud-
teihende Vorftellung ſchaffen können, läßt ſich das am beften ermefjen. Beide
Götter, Arhene und Poſeidon, begehrten den Befig des attiſchen Landes.
Um ven Streit zu ſchlichten, finden fi beide ſammt olympifhen Göttern
16
und dem Herrſcher des Landes, Kekrops, auf der Burg ein: Wer dem Land
die größte Wohlthat erweifen würde, dem follte es zu eigen fein. Die Beiden
treten mit ihrem Gefolge in die Mitte; die Andern lagern fih umher.
Da tritt Pofeidon hervor: Ein Stoß in den Felfen! und eine falzige Duelle,
das Symbol des Meeres und der Seeherrfchaft, jprubelt hervor. Da naht
ſich Athene, fie läßt aus dem öben Geftein den erften Delbaum hervor—
wachſen, das Symbol der nährenden Fruchtbarkeit des gebirgigen Landes.
Ihr wirb der Befig der zufunftreihen Stätte zugeſprochen, ber beleivigte
Pofeidon aber eilt zürnend davon und droht mit ſchwerer Rache.
Der Künftler bat den Moment gewählt, wo eben ver Streit ent-
ſchieden iſt; die Göttin will fiegreih das feitwärts ftehende Geſpann be=
fteigen und wird freudig von ven Ihrigen begrüßt, leivenfchaftlich fchreitet
mit mädtigem Schritt andererſeits ber befiegte Gott dahin; in der Mitte
laſſen fih noh Spuren des Delbaumes und der Quelle erfennen. So ſehen
wir, was vorher geihehen, ahnen wir, was fommen wird.
Einzelnheiten zu ftubiren eigmen fih in dieſem Giebelfelde befonders
ber eine Flußgott, von dem öftlihen Giebel vor allen ver fogenannte
Thejeus und die beiden Frauengruppen, von denen ſchöne Abgüffe vielfach
eriftiren. Thefeus?”) fowie der meift Iliffos benannte Flufgott
zeigen und in fonft umerreichter Weiſe die Schönheit des menfchlichen
Körpers. Dem ungeübten Auge wird e8 no fchwer fallen, dieſe hohe
Schönheit zu erfennen; aber durd fortwährend erneuertes Anfchauen biefer
Körperlinien läßt fih lernen, was ſchön ift, läßt es fih wenigitens
fühlen. Bielleiht dürfte es fürberlich fein, des Vergleihs halber ein oder
das andere Bild aus der früheren Periode, etwa vie Aegineten in ihrer
doch noch ftarren Schönheit, daneben zu ftellen. „Wollte Jemand einwenden “,
fhreibt unlängft ein feiner Kunſtkenner 35), „er vermöge das Schöne an
ihnen nicht wahrzunehmen, fo ſchaue er fo lange und fo oft bin, bis fie ihm
gefallen. Niemand halte das für Scherz. Das Auge wird nicht anders
erzogen ald durch Gewöhnung an Gutes. Unverſehens wird es nad) einiger
Zeit Freude am Sehen und am Schönen befommen.“ Daß aber viefe Bilder
zu dem Schönſten gehören, dafür bürgt uns das Urtheil Danneder’s, ver
an Welder jchreibt 39): „Der Thejeus und der Flußgott haben mid fo
ergriffen, daß ich jagen muß, für mic ift e8 das Höchſte, was ich je in ber
ganzen Kunft gefehen habe. Sie find wie auf Natur geformt, und doch habe
ih nie das Glüd gehabt, ſolche Naturen zu jehen“.
Ihnen reihen fih die Franengruppen würdig an. Man wirb be=
dauern, daß die Köpfe fehlen; Bollftänbigfeit vermehrt die Freude am Be-
jhauen, wenn auch das Fehlende, wie ja das bei den Köpfen ver griehifchen
Statuen biefer Periode der Fal ift, nicht das Bedentfamfte if. Das Schöne
liegt bei diefen Frauenbildern beſonders in der kunftvollen Audeutung der ver-
ſchiedenen Stufen des Ueberganges aus achtlofer Ruhe in aufmerkfame Be-
wegung, liegt in ber reihen Gewandung, die troß ihrer Fülle in natür-
lichen Fluſſe ven durchſchimmernden Körperlinien fih anfügt. Hier läßt fich
das Wejen der antifen Schönheit erfennen: natürlich-einfache Haltung in
natürlich=einfacher Darftelung. Wer das nicht gleich erkennt oder fühlt,
vergleiche diefe Bilder mit den fteifen Gewandftatnen früherer Zeit, mit ven
gefucht eleganten Kunftwerfen fpäterer Periopen !
17
Von den Giebelfelvern laffen wir die Blide herabaleiten auf bie
Metopen. Da jeve Metopenplatte ein Ganzes für fi bildet, muß fie
auh eine in ſich abgefchloffene Compofition enthalten, da aber mehrere zu
gleiher Zeit überblidt werben können, jo ſetzte man diefe einzelnen Gruppen
wenigftens auf je einer Seite des Tempels unter ſich durch einen Grund—
gedanken in Beziehung. Die Höhe der Metopen über dem Befchauer und
der ftarfe Schatten des weitausladenden Dachgefimjes machten es nöthig,
die Figuren in Hochrelief zu arbeiten und den Grund, wohl aber auch
einzelne Theile der Figuren, befonders Gewand und Attribute, durch Fräf-
tige Farben abzuheben.
Der Barthenon hat 92 Metopen 0), welche den Grundgedanken aus-
vrüden, die Macht und Siegesgewalt Athenes zu verherrlihen, indem fie
tbeild die Göttin felbft, theils ihre Schüglinge im Kampf gegen die gewal-
tigen Widerfaher der neuen Welt- und Staatsorbnung zeigen. Es find
dies der Kampf gegen die Giganten, gegen die Centauren, gegen die Ama—
jonen und gegen die Trojaner. Diefe Bilder find im ſtarken Hochrelief
ausgeführt und würden uns, fo zerftört fie find, zu eingehender Betrachtung
einladen, wenn nicht ſolche Einzelftudien ver Schule fernbleiben müßten. Dod
einige dürfen wir wohl vorlegen, um zu zeigen, welde Manichfaltigkeit in
dem Gleichen der große Künftler zu entfalten verfteht. Faſt ftets find es
nur zwei Perfonen, die auf einer Metope zu einer Öruppe vereinigt er-
Iheinen. Wie verſchieden aber ihre Haltung, wie wechſelnd die Motive!
Hier der heranftürmenve Yüngling, der des Ungethümes kraftvoll Herr wird,
dort der fiegesfrohe Gentaur, der den Beflegten graufam zu Boden tritt.
Denn der Kiünftler hat dafür geforgt, daß in fchönem Wechſel bald dieſe,
bald jene Partei die Oberhand gewinnt, jo recht im Gegenſatz zu ben
Schlachtenmalern unferer Zeit, die ängſtlich die ſchließlich fiegreiche Partei
überall im Bortheile zeigen wollen.
Treten wir dann unter die Säulenhalle, die den ganzen Tempel um-
giebt, fo erbliden wir oben an der Wand der eigentlihen Cella ben koſt—
baren Friest!), dieſe großartigfte Compofition wohl aller Zeiten, die in
einer Länge von 522 Fuß die ganze Umfaffungsmaner umzog. Welcher
Peenreichthum, gepaart mit dem größten Wechfel äußerer Erfcheinung, offen-
bart fih ums hier! Welch’ großer Gedanke, dieſen langen Streifen zu
ſchmücken mit der Darftelung eines Zuges, eines Feſtzuges zu Ehren ber
Göttin! Hier durfte der plaftifche Künſtler die Schranke überfpringen, vie
ihm fonft gezogen tft, daß er nur Gleichzeitiges auf einem Bilde barftellen
darf, da das Ganze troß des engen Zuſammenhanges ſich doch in eine An-
zahl feldftändiger Gruppen auflöft, die, weil fie nicht alle gleichzeitig über-
blidt werben künnen, auch Ungleichzeitiges darftelen vürfen. Und fo ſehen
wir denn an ber Stirnfeite bereits das Feſtgewand in ber Verfammlung
der Götter von der Spike des Zuges überreihen, während auf der Nüd-
feite noch die legten Vorbereitungen für die Aufftelung des Feftzuges ge-
trofien werben. Wie ſchade, daß wir von all dem Schönen kaum einige
Gruppen vorlegen können und dürfen! Doch reichen dieſe Hin, zw zeigen,
in wie unendlichen Erfcheinungen der Künftler immer wieder die ſchöne
Geftalt darzuftellen wußte, jei e8 in andächtig wilrbevoller, fei es in leicht-
bemegter Haltung, ſei e8 im fittigen Weibe, im ernften Mann over im
Menge, Gymnaſium und Kunft. 2
"ana
18
ftürmifchen Yünglinge, jet e8 enblih in ber zur Verherrlichung ber feier
aufgebotenen Roſſepracht.
Durch ſolche Bilder vorbereitet, betrat der feftlich geftimmte Arhener
dann ben eigentlichen Tempel12), und bier ſah er vor fih vie erhabene
Göttin feldft, die Beſchützerin und Beherrſcherin feiner Stadt, feines Landes,
fie, zugleih die Krone al der Fünftlerifhen Schöpfungen, die den Partbenon
zierten. —
Und diefe wunderbaren Werke rühren im Entwurfe wohl alle, in ber
Ausführung wenigftens theilweife her von einem Manne, einem Künftler,
wie fie die Götter felbft dem alten Athen felten gefhentt, dem großen
Phidias. Daß viefer zu verfelben Zeit in Athen lebte, da der funftverftän-
dige Perifles das Staatsruder führte, ift eine befonders günftige Fügung
des Schidjale. Sein Schaffenstrieb, von feinem großen Freunde genährt
und unterftügt in feiner Richtung auf das Ideale, hat die Welt mit ben
ihönften Göttergeftalten befchenft, bie für immer vorbildlich geweſen fint.
„Er allein“, fagt Welder, „erfhaute die Bilder der Götter und madıte fie an-
ſchaulich.“
Die Athene Parthenos iſt uns nicht erhalten, ja nicht einmal eine
genauere Nachbildung von ihr. Iſt es auch möglich, durch ſorgſame Zu—
ſammenſtellung und Vergleichung aller ähnlichen Darſtellungen und aller
Notizen über ſie zu erkennen, wie ſie etwa ausgeſehen haben mag, ſo müſſen
doch ſolche Bemühungen der Schule fern bleiben; denn was nicht geſchaut
werben kann, bleibt leerer Klang. Wir werben die ſchmerzliche Lücke anders
zu ergänzen ſuchen.
Beklagenswerth ift es, daß auch von dem berrlihen Zeus von
Diympia, dem zweiten Hauptwerfe des Phidias, Nachbildungen fih nur in
Münzen 13) erhalten haben, die auch für vie Schule nicht verwendbar find. Der
fogenannte Jupiter von Dtricoli#!), der fo lange für eine Nahahmung
des olympifchen Zeus galt, ift jegt dieſer Würbe entfegt; für die Schule aber
ließe es fi dennoch empfehlen, bei diefer Gelegenheit jene vorzüglihe Düfte
vorzuführen, die immerhin noch die großartigfte der uns erhaltenen Zeus-
darftellungen ſein dürfte. Die Erfahrung lehrt, dag nah Erwähnung ber
Kunftwerte des Phidias die Zuhörer das Verlangen hegen, ein Bild des
Götterkönigs ebenfowohl zu fehen, wie auch eins der Athene, die ja bach
den geiftigen Mittelpunkt aller ver vorher befprochenen Pracht bildet. Man
erfläre die Sachlage und willfahre dem Wunſch. Und zwar würde ich mich
unter den verfchiedenen Atheneftatuen für die Ballas Giuftiniani?b) ent-
ſcheiden, nicht als ob fie harakteriftifher oder dem Werke des Phidias ähnlicher
wäre al8 andere, fondern weil fie die befanntefte und ſchönſte iſt. Indem ber
Lehrer aber den Jupiter von Dtricoli und dieſe Pallas, beides Werke aus
römifcher Zeit, vorlegt, darf er nit unterlaffen, hinzubeuten auf die Ber-
ſchiedenheit der Darftellung in diefen Bildern und in denen bes Partbenon.
So faun auch dieſes Verlaſſen der chronologiſchen Reihe lehrhaft wirken.
Wenden wir uns zunächſt dem Yupiter!!) zu. Wir verlieren viel
dadurch, daß wir nicht einen majeftätifch thronenden Zeus mit dem Reich—
thum feiner königlichen Attribute vorlegen können, daß wir auf eine Büſte
hingewiefen find mit ihrem viel fchwerer zu beutenden Ausdruck. Zu gute
fommt uns, daß dieſe Büfte einer Zeit entſtammt, die fich nicht mit fchlichter
19
Einfahheit der Darftellung begnügte, jondern dur Anwendung von mandherlei
Kunftmitteln eine gefteigerte Wirkung bervorzubringen wußte Auffällig auf
ven erften Blid ift dem naiven Beſchauer das mädtig den Kopf ummallende
Haar. Das eigentlihe Haupthaar bäumt fi gewiffermaßen erft aufwärts
und fällt kunftwol zu größeren Partieen vereinigt in mächtigem Bogen feit-
wärts, der Bart ift im vollen Yoden gekräuſelt. Zweifellos ſoll hierdurch
männlihe Kraft: und Schönheit angedeutet werben. Die itbermenfchliche
Beisheit des Gottes wird bezeihnet durch bie eigenthümlich zweitheilig ge-
baute, hohe, nad vorn ragende Stirn, während die halbgeöffneten Tippen
einen milden Ausprud verleihen, vielleiht den Schein des eine Bitte
Gewährenden erregen follen. Die kräftig geformte, breit vorfpingende Nafe
endlich pflegt das Sinnbild der Energie zu fein. Die Büfte ift berechnet
blos auf den Anblid ven vorn, denn im Profil wirkt der Bau der Stirne
unfhön, und hinten zeigt fi in ber Behandlung des Hanres große Nach—
läffigfeit. Auch viefes ift ein Kennzeichen fpäterer Kunftiibung, in der man es
auf einen Hanpteffeft ablegte und Nachläſſigkeiten an gewöhnlich nicht gefehenen
Theilen nicht ſcheute.
Auch die Atheneftatmet), die wir vorlegen wollen, ift nicht frei von
Fehlern, aber dieſe fpringen nicht in die Augen. Wir haben eigentlich nicht
vie atheniſche Stabtgöttin vor ung, welde, ſei e8 fampfbereit, fei es nad
dem Siege ruhend, immerhin aber kriegeriſch bargeftellt zu werben pflegt,
fondern die Weltgättin der Klugheit und Weisheit, die die Waffen noch als
Schmuck trägt, faſt möchte man fagen, wie zur Erinnerung an bie frühere
Zeit des Kampfes. Ihr regelmäßig ſchönes Antlig in länglicher Form und
ächt griechiſchem Profil trägt den Stempel überirbifcher Weisheit und philo=
fophifher Seelenrube. Ihr Haupt ift bebedt von bem hohen korinthifchen
Helm, deſſen Bifir, nah oben gefhoben, ven Kopf noch länger erjcheinen
läßt. Den Helm krönt nad; Phidias' Vorgang eine Sphinx, das Sinnbilo
böchfter Weisheit, während rechts und links an dem unteren Borbertheil
vefjelben im fcheinbar getriebener Arbeit zwei Widderköpfe angebradt find,
vermuthlich ala Symbole friegerifcher Thätigkeit. Ihr Gewand befteht aus
einem feinen umgefchlagenen (Doppel-) Chiton, vor dem fie an der Bruft
die Aegis mit dem Gorgoneion trägt, und einem über die linfe Schulter
gefchlagenen großen Mantel aus jchwererem Stoffe. Die Aegis deutet noch
darauf hin, daß Athene einft gleich ihrem Bater Zeus eine Göttin bes
Himmeld und fomit aud der gewitterhaften Himmelserfcheinungen war.
Sollte. über die Art der griehifchen und römischen Bekleidung mit ſchon
das Nothwendigfte als befannt vorausgejegt werben dürfen, fo ift es hier
einzuflechten 4%) ; denn die meiften meiblihen Statuen find Gewandſtatuen,
deren richtiges Verſtändniß ohne dieſe Kenntniß nicht möglich if. An ber
Arhene ift noch beſonders darauf binzumeijen, wie die Verſchiedenheit des
Stoffes durch Berfchievenheit der Falten angedeutet, wie durch gefchidte
Drapirung eine fhöne Abwechslung im Faltenwurf hervorgebradt ift, wie
enblih durchs Aufftoßen des Chiton felbft unter den vertifalen Falten eine
gefälige Manichfaltigkeit erzeugt wird. Die fchwerere Maffe der Gewan-
dung findet fih am linken Arme, als Gegengewicht dazu trägt die rede
Hand die Friegerifche Lanze. Es läßt fi nicht verfennen, daß das aller-
dings fehr faltenreihe Gewand ver Göttin eine impofante Erſcheinung ver-
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leiht; aber die Körperformen freilich gehen darunter verloren, nur an der
rechten Seite läßt fi) die Linie des Beines annähernd verfolgen. Noch iſt
die Schlange zu bemerken, welche fi) von ber linken. Seite der Göttin her
hinten um dieſelbe herumfchlängelt und rechts im gefälligen Windungen zu
ihr bis in die Kniegegend den Kopf emporhebt. Was kaun fie zu beveuten
haben? ft die Statue wirflih in einen Tempel der Minerva Medica ge=
funden, wie behauptet wird, fo ift fie die befannte Heilihlange; ebenfogut
aber kann fie aud eine Erinnerung fein an bie Schlange, welche fih Hinter
dem Schilde der. Athene Parthenos des Phidias emporringelte, und fie wäre
fomit als attiſche Lokalgöttin aufzufaflen.
Wir haben die Werke des Phidias, befonders den Barthenon, etmas
ausführlich behandelt, damit den Schülern der Begriff des idealen ftrengen
und erhabenen Stils aufgeht. Abſchied nehmen fünnen wir auch jegt noch
nicht ganz von dieſer Kunftperiode, da es unerläßlich ſcheint, wenigftens Einiges
von den faft zeitgenöffifhen Bildhauern Myron und Bolyflet zu befprechen.
Und zwar fließt fih in natürlicher Weife an die vorigen Bilder an
die Hera des Polyflet. Sie würde bei der Nachwelt wohl nit jo be—
rühmt geworben fein, wenn man nicht bis vor furzem geglaubt hätte, in
der Kolofjalbüfte ver Juno Ludoviſi) eine Nachbildung verfelben zu be-
figen. Dieſer Glaube ift und zwar geraubt, aber trogdem möchte id mir
geftatten, aus ähnlihen Gründen wie oben, biefes großartige Bild vorzu—
führen. Sind doch Windelmann, Goethe und Schiller glei vol von Be—
wunberung für biefe Büfte, bie in ver That die hoheitsvollſte Darftelung
der Himmelstönigin if. „Indem der weibliche Gott“, fagt Schiller, „unjere
Anbetung heiſcht, entzündet das gottgleiche Weib unfere Liebe, aber indem
wir uns ber himmlischen Holpfeligfeit hingeben, fchredt die himmlische Selbft-
genügfamkeit uns zurück.“ Wehnlih äußert fih Schoemann. Liebreiz und
Majeftät gepaart, treten uns in dieſem Antlig entgegen, weldes das jhöne
Weib nicht minder al8 die mächtige Gottheit zum Ausprud bringe. Die
Züge find ernft, aber nicht ftreng, Augen und Nafe befunden Feftigleit und
Klarheit; ihre ſchöne Stirn ift von anmuthig gewelltem Haar umrahmt,
welches das gewöhnliche Attribut der Götterkönigin, die Stephane, ſchmückt.
Diefe ift mit einem und aus ber Arditeftur befanntem Ornament, mit
Polmetten und Kelden geziert, und vor der Stephane umgiebt das Haupt
eine Binde, die Müller-Wiefeler als eine gefnotete oder gliederförmig ge—
flohtene Wollenbinde bezeichnet, ein Haarſchmuck, der fid) befonders bei Der
Demeter zu finden pflegt, deſſen Bebeutung mir aber unbefannt if. Einen
Schleier, den die altgriehifhen Darftellungen der Hera ſtets zu haben
pflegen, bat dieſe Büfte nit. Auf eine jpätere Entftehung dieſes Kunft-
werfes weift wie das ausdrucksvolle Gefiht fo aud der Umftand bin, daß
der Hinterfopf mit minverer Sorgfalt behandelt ift als vie Vorberfeite.
Es dürfte bier die Stelle fein, Einiges mitzutheilen über bas
Material!”), aus dem die Bildwerke hergeftelt wurden. Die brei
Statuen, von denen unfere letten Betrahtungen ausgingen, nämlid ber
Zeus und die Athene des Phidias, jowie die Hera des Polyklet, waren ge=
arbeitet aus Elfenbein und Gold in der Weife, daß der innere Stern des
Ganzen aus Holz, die äußeren förperlihen Theile aus Elfenbein, die Be—
Heivungsftüde und Attribute aus Gold gemaht waren. Diejes Material
21
war fehr koſtbar und legte dem Künftler nicht geringe Beſchränkungen auf.
In der Regel verwendete man theils Marmor, theild Metall, in jpäterer
Zeit meift Marmor zu den Werken der Plaſtik. Benutt wurde, wie auch
bei uns, beſonders die Bronce, deren Lichter, goldener Glanz, welcher anfangs
die Linien durch die vielen Reflere unklar und zitternd erſcheinen läßt, bald
ver dunfeln, grünen Patina weicht, welhe die Linien in ihrer Ruhe zur
vollen Geltung fommen läßt. Die dunkle Farbe freilid, in der das Kunft-
werf dann erfcheint, bringt einen Uebelſtand mit fih: feine, zarte Linien
werden nur mit Schwierigkeit oder gar nicht wahrgenommen. Um dem zır
begegnen, werben die Erzfiguren im ſchärferen Linien gebildet als vie
Marmorfiguren. Ein anderer Unterſchied zwifchen beiden find die fühneren
Stellungen und zarteren Einzelteile, befonders Attribute, die das fefte Erz
zuläßt, der minder haltbare Marmor aber nit. Späterhin find viele Erz-
bilder in Marmor nahgeahmt worden; der Kenner fieht — Copieen
uch das Material des Originals an.
Polgflet hat im Gegenſatz zu Phivias feine Werke meift in Erz ge-
ftaltet und unterfcheivet ſich auch dadurch mejentlih von ihm, daß er,
während jener ideale Götterbilder ſchuf, die Schönheit des menſchlichen
Körpers als Zielpunft feiner Kunft anfah und anf biefem Gebiete Mufter-
giltige® hervorzubringen wußte (Kanon). Wir wollen ein Erzbild von ihm
wäher betrachten, welches nicht den mythologiſchen Kreifen, jondern fozufagen
dem Genre angehört.
Es ift niht nur geftattet, fonbern gerabezu geboten, bei ven Kunft-
erzeugnifien der befprochenen Periode auch Bilder diefer Art zu berüdfichtigen,
weil diefelben, im Gegenſatz zu unferer Zeit, einen großen Theil der Kunft-
thätigfeit beanfprucdhten: ja nichts war gewöhnlicher in Griechenland, als
daß man Sieger, nicht etwa blos in den großen Nationalipielen, fondern
auch in anderen äffentlihen Spielen, mit einem Denfmale belohnte, das
freifih nicht ihr Portrait wiebergab, aber einen ſchönen Menjchen, vargeftellt
in der Ausübung oder mit einer Andeutung ber Kunft, in welcher der Sieg
errungen worden war. Es ſcheint nicht unangemeflen, eine Heine Anzahl
folder Genrebilver gleichzeitig vorzuführen, die durch einen einheitlichen Ge—
banfen verbunden find und zugleih von der Kunft einzelner namhafter
Blaftiker Zeugniß ablegen. Stellen wir folgende zufammen: 1) für Polyklet
den fogenannten Diabumenos*°), der früher in der Billa Farnefe ftand.
Zwar wird neuerdings bezweifelt, ob dieſe Marmorftatue wirflih nad einem
Erzoriginal des Polyklet gearbeitet fei, aber fo lange die größten Autoritäten
uch darüber getheilter Anficht find, dürfen wir getroft der Tradition folgen.
2) Für Myron, einen Künftler jener Zeit, deſſen wir nothwendig geventen
müffen, ven Disktobol#), entweder nad der Marmorcopie in ber Billa
Maffimi oder nad ber etwas abweichenden im Batifan. Diefem Tiefe ſich,
um das und unbefannte, aber intereffante Spiel des Disfuswerfens recht zu
veranfhaulichen 3) ein anderer DisfoboL>0) zugefellen, ver im Batikan fteht,
und früher als ein Werk des Naukydes, jest wohl auch als ein Werk bes
durch feine Arbeiten in Olympia berühmten Alkamenes gilt; 4) zur Er-
gänzung bed dargeftellten Borganges eine Bronceftatue eines Disfobolos
in Neapel, die ih nirgends erwähnt finde, deren Photographie 1) mir
aber vorliegt. |
22
Altamenes (oder Naufydes) führt uns einen jugendlich ſchönen Körper vor
in ruhiger Stellung, mehr aufs linfe als aufs rechte Bein geftügt. Die rechte
Hand und der Ausdruck des in einige Entfernung vor ſich hin blidenden Ge-
fiht8 zeigen uns, daß er in Gedanken den Wurf erwägt, ja, man möchte
jagen, ermißt, während er in ber fräftigen, nad unten gejtredten Linken vie
Diskusſcheibe hält, um fie im rechten Augenblid fofort der Rechten zureichen
zu können. Mit dem rechten Fuße, auf deſſen fihere Stellung viel anfommt,
taftet und gräbt er fih fürmlicd einen fiheren Stand. Iſt dem Werfer
dann der rechte Moment erfchienen, jo faht die Rechte ven herübergereichten
Disfos und holt weit aus, der Körper wirft ſich mit feinem Gewidt vor—
wärts aufs rechte Bein, an defien Knie vie linfe Hand ein Wiberlager
findet ; die rechte Hand ſchwingt die Scheibe ausholend weit nah hinten,
jo daß ber rechte Oberkörper mit zurüdgeriffen wird, und der rechte Fuß
bohrt fih mit faft krampfhaft gebogenen Zehen in den Boden ein. Dieje
Stellung, voll der höchſten Anftrengung und doch mementaner Ruhe, wo ver
Arm eben nah hinten ausgefhwungen hat und fogleih nad vorn fih be—
wegen wird, um im kräftigem Wurf die Scheibe zu entjenvden, diefe Stellung
ift in dem Disfobol des Myron wiedergegeben, der hierdurch bewies, daß
er Menjhen ebenfogut darzuftellen wußte wie Thiere.
Das Neapolitaner Erzbild zeigt dem folgenden Moment: Die Scheibe
ift entflogen, ber Augenblid der Anftrengung vorüber. Das vorher ange-
zogene, aber frei ſchwebende linfe Bein hat ſich vorgefegt, um ben ganzen
nah vorn flürzenden Körper aufzunehmen, während das rechte in feiner
Stellung geblieben ift; der Kopf und die rechte Hand find erwartungsvoll
nad vorn geftredt; man fieht dem Geficht, das nod in den Zügen die eben
beftandene Anftrengung erkennen läßt, die haftige Frage an: Habe ih das
Ziel erreicht? habe ich die Anderen überfhoffen? Die vierte Statue endlich,
der Diabumenos, ftellt einen zarten Jüngling vor, der ſich die Siegerbinde
umlegt. Worin er gefiegt hat, erfahren wir durd feine Andeutung. Biel-
leiht im Lauf? Schmädtig genug wäre der Körper dazu. Der Jüngling
ruht leicht auf dem etwas zurüdgezogenem rechten Bein, und dadurch wird
die Gleihmäßigfeit der beiden Körperhälften vermieden, die fonft entſtanden
fein würde, da die Handlung fo ſchon gleichartige Bewegung beider Hände
mit ſich brachte. Es wird als ein befonderer Fortfchritt in der Plaftif er—
wähnt, der an Polyflets Namen geknüpft wirb, daß man erfand bie Figuren
auf einem Bein ruhen zu laſſen SStandbein — Spielbein), während
man früher ven ganzen Körper gleichmäßig von beiden Beinen tragen lief. Mag
nun ber Erfinder fein, wer ba will, jevenfalls leuchtet ein, daß dieſe Er—
findung für Erreihung größerer Schönheit von höchſtem Belang geweſen ift,
ba fo erft, wenn eine tragende und eine getragene Körperhälfte unterſchieden
wurden, aumuthige Leichtigkeit und bewegte Manichfaltigkeit zum Ausdruck
gebracht werben fonnte.
Weiter dürfen wir den Kreis unferer Betrachtungen nicht ziehen, wenn wir
nicht die buch unfere Behandlungsweife geftedten Grenzen überfchreiten wollen.
Ob etwa noch Paeonios, der Künftler, welcher ven olympifhen Tempel mit
zu zieren hatte, zu behandeln ift, wird fich im nächfter Zeit entfcheiden, wenn
fih die jet herrichende freudige Aufregung über bie neuen, faum noch erwar=-
teten Bunde von Olympia zu einem befonnenen Urtheil abgeflärt haben wird.
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Den für diefe Periode gebotenen Stoff denke ich mir jo behandelt, daß
man auf die Beichreibung der Akropolis und des Parthenon eine ganze
dur nichts gekürzte Stunde verwendet, und einen Theil einer zweiten auf
Nepetition, das Webrige aber in vier auf einander folgenden Gejchichtd-
ſtunden zur Beiprehung und Anfchauung bringt.
d, Das Zeitalter Aleyander des Großen.
Der korinthiſche Bauſtil. — Stopas, Prariteles, — Die Niobiden. — Lyſippos.
Da ber peloponnefifhe Krieg ſowohl, wie die darauf folgenden blutigen
Fehden nur felten die für Kunftthätigkeit nöthige Ruhe auffommen Tiefen,
fo ift der nächſte Excurs erft einzuflechten zur Zeit Aleranders des Großen.
Der Charakter der Kunft bat fih im Laufe des Jahrhunderts nit un—
weientlih verändert. Die conftructiven Elemente find bei der Architektur
allerdings biefelben geblieben. Der Gewölbebau ift entweder in Griechenland
nie befannt gewejen, oder, was wahrjcheinlicher ift, verfchmäht worden, da
das prächtige feite Steinmaterial ihn entbehrlich machte. Aber das Streben
der Baukunſt ift einestheild mehr auf das Zierlihe und Elegante gerichtet,
anderntheils ſucht fie nicht felten durch große Ausvehnug der Bauten oder
dur große Pracht zu wirken.
Etwas vor Alerander’s Zeit entftand in Tegea unter Skopas' Leitung
ber Athenetempel, der als das prächtigſte und größte Heiligtum des ganzen
Peloponnes galt. Außen war er von jonifhen Säulen getragen, das Innere
zeigte zwei Reihen Säulen übereinander, und zwar unten borijche, oben
torinthifche, die angeblich bier das erfte Mal verwendet wurden. Der Apollo-
tempel zu Milet hatte 10:21 Säulen und einen Umfang von 164x303 Fuß.
Als das glänzenpfte Werk aber der damaligen Zeit, an dem die nambaftejten
Künftler gearbeitet hatten, galt das Maufoleum von Halikarnaffus.
Bon aller viefer Pracht und Herrlichkeit ift zu wenig erhalten, als daß
wir uns nod ein flares Bild machen könnten. Wir find für dieſe Periode
angewiefen auf einige Heine, aber höchſt zierlihe Monumente, die fi in
Athen erhalten haben, aus weldhen wir uns zu näherer Betrachtung das
fegenannte Denkmal des Iyfilrates?) auswählen. Es ift ein chora—
giſches Denkmal. Der Chorführer der Phyle, welche in den zu Ehren bes
Dionyfos aufgeführten Tragdvien und Komödien gefiegt hatte, erhielt ald Preis
einen ehernen Dreifuß, den er aber die Pflicht hatte, zur Erinnerung an biefen
Sieg öffentlich aufzuftellen. Cine ganze Straße in der Nähe des Theaters
hieß nah dieſen Dreifühen Tripodenſtraße. Je nah den Mitteln oder dem
Willen des Choragen erhielt ein foldyer Dreifuß einen mehr oder minder
foftbaren Unterfag. Das Denkmal des Lyſikrates ift aus pentelifhen Marmor
gearbeitet, mißt im der Höhe 34 Fuß und ftellt in der Form ein Feines
forinthifches Aundtempelhen vor. Der ganze Bau zerfällt in drei Theile:
den Unterbau, ven Oberbau und die Krönung. Ueber vier wenig binter-
einander zurüdtretenden Stufen erhebt ſich ein Fleiner vierediger Quaderbau
und darauf der von forinthifchen Halbjänlen getragene Oberbau. Die Kapitelle
find in der zarteften, reichiten Form gearbeitet (kallimachiſches Kapitel). Aus
einem Kelch von Akanthusblättern, welche die untere Hälfte der Höhe deſſelben
einnehmen, erheben ſich Blumenftengel, welche ſich je zu zwei an den Eden
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des aufliegenden Abafus zu einer Volute geftalten, während Heinere Stengel,
die fih in der Mitte zwiſchen je zwei Eden vereinigen, eine Palmette tragen.
Der Architrav ift dreitheilig und trägt die Weiheinihrift, aus welher man
erfährt, daß bei dem Feſtſpiele Lyſikrates Chorag war, die Phyle Alamantis
durch den Knabenchor gefiegt hat, Theon der Flötenjpieler, Lyſiades ver
Didter, Euainetos der Archon des Jahres war. Der darüber fi erhebenve
Fries ift nicht, wie dies bei dem borifchen der Fall war, in Triglyphen und
Metopen getheilt, ſondern glatt und darum geeignet, eine fortlaufende bild—
lihe Darftellung 52) aufzunehmen. Und wie geiftreih hat ein plaftifcher
Künftler diefen Raum benugt! Er führt die aus Homer und Ovid und
wohl aud aus Genelli’s Zeihnung befannte Scene vor, wie ber jugendliche
Dionyſos fih an den torrhenifchen Seeräubern rächt. Schade iſt es, daß es
wohl noch Feine Abbildungen giebt, durch die dieſe reizenden Reliefs, fo
ziemlich die einzigen Originale aus jener Zeit, der Schule zugänglich gemacht
werben fönnen. Auf den Fries folgt das Gefims mit Zahnſchnitten darunter
und Afrotherien darüber, denen auf dem Dad noch ein Kranz in ver Geftelt
des fjogenannten laufenden Hundes (überfchlagender Wellen) parallel läuft.
Die Krönung befteht in einem Marmorftänder, ver reih mit Alanthus—
blättern und Ranfen verziert ift und auf dem fi ber jegt verſchwundene
Dreifuß erhob.
Bon den plaftifhen Künftlern viefer Periode haben vor allen zwei un—
vergänglihen Ruhm erworben, Stopas und Prariteles. Auch hier Hat
fi der Stil geändert. Die Zeit, wo die erhabene leivenfchaftslofe Ruhe oder
die bloße körperliche Bewegung das Ziel der künſtleriſchen Darftellung war,
ift dahin gegangen zugleich mit den einfacheren, gemefjeneren Verhältniſſen
des früheren griehifchen Lebens. Einerſeits find in und nad den erbitterten
politifhen Kämpfen die menfhlihen Leidenſchaften und die Sinnlidfeit mehr
bervorgetreten, und die Kunft fpiegelt das Wefen ver Zeit wieder, anberer-
ſeits hat das Erhabene dem Liebreiz und der Grazie weichen müſſen. Dieſer
Zeit gelingen deshalb beſonders die Geſtalten der Götter, welche ein ſeeliſches
Leben bezeichnen und in jugendlicher Anmuth blühen, oder Gruppen, in
denen eine heftig bewegende Leidenſchaft zum Ausdrud gebracht werden foll.
As ein Beifpiel von Kunftwerten der erfteren Gattung aus biefer
Periode galt bis vor Kurzem ein Apollo Kitharvedos8%) im Batikan,
den man für eine Copie eines Werkes des Skopas hielt; eine Anſicht, die jetzt
auch bedenklich erjchiittert 54) if. Wehnlih mag aber doch wohl der Apoll
bes Skopas ausgeſehen haben, und fo dürfen wir es wohl noch wagen, dieſes
Bild vorzulegen. Wir haben vor uns den Apoll als Geber des Gefanges,
jelbft als Sänger gefleivet und bie Kithara fpielend. Das Gewand, welches
er trägt, war früher gewiffermaßen bie Tracht der gottbegeifterten Sänger,
die Kithara aber unter allen griehifhen Inftrumenten, wie Conze bemerkt,
das vollfte und Flangreichftee Das Gewand ift ein Aermelditon, der hoch
oben an der Bruft geglirtet, talarfürmig bis auf die Erbe herabwallt und
in feinen bewegten Falten ebenfo wie ber vom Ritden herabhängende Mantel
das raſche Vorwärtsjchreiten des Gottes andeutet. Die Formen des Körpers
find durd die Bekleidung hindurch zu erkennen. Die Kithara ift mit einem
breiten Bande befeftigt, mit der Linken hält fie der Gott, mit der Rechten
Ichlägt er in die Saiten des Inftrumentes, das verziert ift mit dem Bild
25
des aufgehängten Mariyas (von dem freilich nur die Fühe antik find). Das
Haupt ift befränzt mit dem Yorbeer, dem gewöhnlichen Attribute des Gottes.
Meift wurde Apollo nadt dargeftellt, und zwar in jugenblicher Schön
beit. Das jugenblichfte Bild aber von ihm ift das des Brariteles, ver foge-
nannte Sauroftonos), von vemNahbildungen in Marmor und Erz noch
exiſtiren. Es ift eines ber wenigen Bilder jener Zeit, von denen man nod
mit Sicherheit glaubt, Copieen zu haben, und verdient für uns deshalb den
Vorzug vor dem Eros deſſelben Künſtlers. ine tiefe Idee, wie wir fie fonft
in den Götterdarftellungen wohl zu finden pflegen, drüdt der Sauroktonos nicht
aus, er fann ung aber als Vertreter dienen für die Genrebilder aus dem Kreife
der Götter; denn wie die griechiſchen Dichter, fo liefen auch die anderen Künftler
die Götter nicht ungern in rein menfhlihen Yagen und Handlungen auf:
treten, bejonders Dionyfos, Aphrodite, Eros und Zeus. Unfre Statue bringt
einen jugendlich ſchönen, ſehr ſchlanken Körper zur Anſchauung, der auf dem
teten Beine nadhläffig ruht. Während der linfe Arm fih auf einen Baum-
famm ftütt, ift bie rechte Hand mit irgend etwas Spigigem bewaffnet, und
das nad vorn gebeugte Geſicht lugt nad der VBorberfeite des Baumſtammes,
an dem eine Eidechſe mit neugierig vorgeftredtem Kopfe aufwärts kriecht.
Im nähften Moment wirb ver Stachel fie treffen. Es kann beiläufig auf
die Stügen aufmerffam gemacht werben, welde das Erzbild wohl nicht hatte,
die aber bei ver Nahahmung in Marmor nöthig wurpen.
Lehrreich wäre es, bei dieſer Gelegenheit vergleichsweiſe noch die ältefte
erhaltene Statue des Apoll, die von Tenea5°), fowie diejenige mit dem höchſt
gefteigerten geiftigen Ausbrud, die im Belvedere des Vatikan 3), vorzulegen,
und fo gewilfermaßen tie Entwidelungsgefhichte der Geftaltung des Gottes
zu verauſchaulichen.
Dem apollinifhen Kreife gehört auch das großartige Kunſtwerk an, zu
deſſen Betrachtung wir uns jegt wenden, und das uns ald Mufter dienen fann
für die fogenannte freiere Gruppe, id meine die Niobiden®t), Der Glaube,
der fi längere Zeit gehalten bat, daß vie in Florenz aufbewahrten Niobiden,
ergänzt durch einige andere, urjprünglid das Giebelfeld eines Tempels
geſchmückt hätten, ift jest aufgegeben. Wie man fih ihre urfprüngliche
Stellung zu denken hat, diefe Frage ift ein umgelöftes Räthſel, auch welde
Anordnung der Figuren die richtigfte ſei, fteht noch nicht feſt; daß bie
niebrigften auf bie äußerſten Flügel gehören, ergiebt fih ans dem Geſetz
der Poramide, die bei größeren Gruppen faft ftets wiederlehrt. Halten wir
ung an die Anorbnung, wie fie Overbed giebt; fie zeigt jevenfalld die ein-
zelnen Geſtalten durch einen einheitlichen Gedanken verbunden. Mit Original-
fatuen haben wir es übrigens auch bei ven Florentiner Niobiden nicht zu
thun, fondern nur mit einer, und zwar nicht der beften von vielen Wieder-
bolungen, von denen uns fonft aber nur bürftige Nefte aufbewahrt find.
Es handelt fih um den vermuthlicd ven Schülern aus Dvid oder wenigfteng
aus der Sagengefchichte befannten Untergang der Niobe mit ihrem ganzen
Geſchlechte. Niobe, des vielbefungenen Tantalus Tochter, des thebaniſchen
Königs Amphion Gemahlin, einft Gefpielin der göttlihen Leto, hatte fi
fol; auf ihre reihe Nahlommenfhaft der früheren Freundin gegenüber
gebrüftet, die ja nur den Apollo und die Artemis geboren babe, während fie
Mutter von fieben Söhnen und fieben Töchtern ſei. Hierdurch ſchwer
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gefränft, bat die Göttin ihre Kinder, die Vermefenheit des irdiſchen Weibes
zu ftrafen, und die beiden Geſchwiſter, die Götter des langhinftredenden
Todes, ergreifen den Bogen und vollführen den granfamen Wunfh ver
Mutter. Niobe fieht in plöglichem Tode ihre ſämmtlichen Kinder ‚vahin-
fterben, fie erftarrt darüber vor Schmerz und wird von den Göttern, ver—
wandelt in Stein, auf die einfamen Höhen des Sipylus in die Nähe ihrer
Heimat verfegt, wo man in einem Tropfjteingebilde nod jest ihre Geftalt
erkennen faun.
Die Gruppe ift in dem Augenblide dargeftellt, wo bie töbtlihen Ge—
ſchoſſe treffen. Die rächenden Götter jelbft find unfidhtbar, aber die nad
zwei verjchiedenen Seiten aufwärts gerichteten Blide der Meiften deuten uns
den Standpunkt der Götter an. Die Niobiden find theils fhon verwundet,
theils ſuchen fie fih vor dem Todespfeil zu fchitgen, alle aber ftreben fie,
ſoweit fie noch können, hilfefuchend der Mitte zu, wo bie Mutter fteht, im
ihrem Schoße das jüngfte ZTöchterlein bergend. Die bewundernswerthe
Kunft in der Darftellung dieſer Schredenfcene zeigt fi, wie Dverbef mit
Recht bemerkt, befonders darin, daß wir beim Anblide derjelben nicht Ent-
jegen oder Abſcheu, ſondern Mitleid und Furcht, wie bei einer gewaltigen
Tragödie empfinden. Kein Zeichen phyſiſchen Leidens, fein Weheruf und
Angftgefchrei, jondern helvenhaftes Erliegen gegenüber der höheren, unver—
föhnlihen Madt!
Werfen wir furz einen Blick auf die Figuren, wie fie der Reihe nach
bei Overbeck angeorbnet fin. Links der erfte Sohn, der allerdings nur ver-
muthungsweife der Öruppe zugefellt wurde, ift in ven Rüden getroffen. Während
er mit ber linfen Hand nad) der Wunde greift, hebt er vie Rechte wie abwehrend
nad) oben. Der nächſte Sohn ſucht ſich fliehend zu retten, während fein Blick
nad) der Stelle gewendet ift, von der die Gefahr droht. Die nächſtfolgenden zwei
Figuren find nad) Canova's trefflicher Vermuthung zu einer Gruppe vereinigt.
Ein Sohn ftößt in feiner Flucht auf eine feiner Schweftern, bie, indem ihr
Gewand herabfällt, „still wie eine gefnidte Blume“ dahinſinkt; er fängt fie
fanft mit dem linfen Arm auf und hebt mit der Rechten fein Gewand, wie
um fie zu deden. Die nächte Geftalt ift eine Tochter, die, mit der rechten
Hand das Gewand haltend, mit angftooller Geberbe den Blid auf die Mutter
richtend, rafchen Laufes zu dieſer eilt. Wenn irgenpiwo, jo ift hier die ſchwere
Aufgabe, den rafhen Lauf fünftlerifh ſchön varzuftelen, glänzend gelöſt.
Bejonders bewundert wirb eine ältere, noch ausprudsvollere Ueberarbeitung
biefer Figur 57), die im Batifan aufbewahrt wird. Ihrem ftürmifch flatternden
Gewande, unter deſſen edlem Faltenwurf die körperlichen Formen Har hervor-
treten, glaubt man die Eile der tödtlihen Angft anzufehen. Die folgende
Schwefter, die der Mutter am nächften ift, trägt fchon die Tobeswunde in
fih, ſchmerzlich ſeufzt fie auf, ihre Züge und Muskeln erjchlaffen jhon: im
nächſten Augenblid wird fie zufammenftürzen.
Auf der anderen Seite liegt zu äußerſt töbtlich getroffen ein Sohn bin-
geftredt, die Linke hat unter der Bruft nah der Stelle gegriffen, wo er bie
Wunde empfangen hat, mit ver Rechten ſucht er im Sterben noch ſich zu ſchirmen.
Auch der nächſtfolgende Bruber ift ſchon getroffen, aber nicht gebeugt; faft
trogig blidt er noch zu der Tod entjenvenden Gottheit hinauf. Der nad) links
ſich anſchließende Bruder fteht auf der vorliegenden Abbildung mit dem rechten
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Fuße hinter einem Felſen, ob er verlegt ift, läßt ſich wohl nicht entjcheiben.
Mit hoch aufgehobener Rechten ftürmt er nad) der Mitte. Es folgt ein angftvoll
fi) zufammendridendes Mädchen, die furchtſam emporblidt und beide Hände
erhebt; ob zur Abwehr ober zur Bitte, fcheint unklar. Für ihre Jugend dürfte
das Flehen dod nicht unangemefjen fein. Dann folgen wieder zwei Geftalten,
bie man zu einer Öruppe vereinigt bat: der Pädagog mit dem jüngſten
Sohn. Mit erhobener Rechten flieht ver Knabe, fein Erzieher umfaßt ihn
ſchützend mit der Rechten, während er die Linfe wie erftaunt erhebt. Seine
Tracht giebt ihn als einen Mann zu erkennen, ver nicht zur Familie gehört;
ver Kopf ift ergänzt nach der richtigen Vermuthung, daß hier nur ber
Päragog feine Stelle haben könne.
Während alle dieſe Geftalten rechts und links mehr oder weniger im
Profil gehalten find, ift pie Mutter Niobess) als Mittelfigur kenntlich gemacht
durch ihre Stellung nah vorn, fowie auch durch den größeren Maßſtab
ihrer Formen. Während alle anderen durch die von zwei Seiten drohende
Gefahr erfchredt fliehen, ift fie nur ihrem ängſtlich die Mutter fuhenden
jüngften Töchterchen entgegengeeilt, das beweift die noch nachhallende Be—
wegung ihres Gewantes und die Haltung ber linfen Hand, die den in
Folge des rafhen Herankommens zurüdbleibenden Mantel nachzieht. Mit
der Linken ſchmiegt fie jchügend das Kind an ihr linkes Knie. An Flucht
benft fie nicht, demm fie weiß, daß zu entrinnen unmöglich ift; noch weniger
läßt fie fih zum Wlehen herab, denn fie erfennt die Rache der Göttin, die
unverſöhnlich ift: mit hoheitsvollem Schmerz ergiebt fie ſich in das furdt-
bare, unabwendliche Geſchick.
Es bedarf feiner Worte des Lobes für den Künftler, der in fo maf-
voller Weile und in fo geſchickter Manichfaltigfeit des Ausprudes und ber
Haltung dieje große Scene uns vorführt. Nur wollen wir no in einigen
Stüden jeine Kunft zu verftehen ſuchen. Um läftige Gleihmäßigfeit der Be-
wegung zu vermeiden, nimmt er an, daß die Götter von verſchiedenen
Stellen aus ohne Wahl ihre Pfeile entjenden, die in ihrer Bahn fich freuzen ;
mag man darum bie Gruppe auch anorbnen, wie man will, niemals ſehen bie
Figuren nad derfelben Stelle, noh au etwa fümmtlihe Mädchen nad ber
einen, fümmtlihe Jünglinge nad der andern. Die Zahl der Motive zu
erhöhen, hat er, wenigftens nad) ber jest beliebten geiftwollen Anorbnung,
brei befondere Gruppen innerhalb des Ganzen gebildet, in denen neben ber
Angft und Sorge um fi jelbft, zugleih Fürforge für Andere ungejucht zum
Ausprud gebracht wird.
Und wer ift dieſer Künftler, deſſen hohe Begabung und künftlerijche
Fertigkeit diefe Nachbildungen doch nur ahnen laſſen? Wir wiffen es nicht,
auch ſchon das Altertum wußte es nicht. Doc eines fteht feit, entweder ,
Stopas oder Prariteles ift ver Meifter. „ebenfalls alfo haben wir in
biefer großen jhönen Gruppe ein Zeugniß für den nod immer idealen Stil
des vierten Jahrhunderts,
Wer die Zeit dazu erübrigen kann, wird gut thun, um den Gegenſatz
zwifchen biefem Idealismus und dem in den folgenden Perioden fi ent-
widelnden Realismus der Darftellung den Schülern einigermaßen begreiflic)
zu machen, vorläufig einmal die Yaofoongruppe:?) vorzulegen, deren gründ-
lichere Beiprehung allervings ſammt der Lektüre von Leſſing's Werf für
—
Prima vorzubehalten ſein dürfte. Wie ungleich heftiger als bei den Nio—
biden iſt hier die gemüthliche Erregung im körperlichen Ausdruck dargeſtellt!
Im Laokoon ſehen wir, wie Winckelmann ſagt, „den Schmerz in allen
Muskeln, Nerven und Adern wirken, das Geblüt iſt in höchſter Wallung
durch den tödtlihen Biß ver Schlangen, und alle Theile des Körpers find
leivend und angeftrengt ausgebrüdt“. „Indem fein Leiden die Muskeln
auffhwellt und die Nerven anzieht, tritt der mit Stärke bewaffnete Geiſt
in der aufgetriebenen Stirn hervor, und die Bruft erhebt fih durch ben
beflemmten Athem —, das bange Seufzen — erfhöpft den Unterleib und
macht die Seiten hohl, welches uns gleihfam von der Bewegung feiner Ein-
geweide urtheilen läßt.“ Soweit wie bei uns geht der Kealismus der Griechen
noch nicht, ihr Geſchmack zog ihm engere Grenzen.
Entmwidelt fih diefer Stil der griehifhen Kunſt auch erft fpäter, fo
wird er doch ſchon angebahnt durch einen Künftler viefer Periode, defien wir
noch zu gedenken haben, nämlich Lyſippos. Sind Skopas und Prariteles
als Nachahıner res idealen Phidias anzufehen, fo gründet fih der Ruhm
des Lyſipp auf ftrenge Nahahmung der forgfältig beobachteten Natur, die er
möglichſt effectvoll wiederzugeben bemüht war. So wird er aud der erfte,
der das menfchliche Individuum nacdzubilden fuhrt, er ſchafft Portraits.
Bon mythologiihen Helden hat er nur den Herafles vielfah vargeftellt ; es
jheint aber feine ver erhaltenen Statuen mit Beftimmtheit auf ihn zurüd-
zuführen zu fein. Bon feinen Athletengeftalten ift ung nur nod eine in
der Copie erhalten, allerdings ein vorzügliches Werk, das Zeugniß ablegt
von feinem Naturftudium nicht minder als von der Zierlichkeit feiner Arbeit
und der Berehnung auf Wirkung. Der Aporyomeno8®) im Batilan ver—
diente eine eingehendere Betrachtung, wenn wir das athletifhe Genre nicht
fhon oben ausführlich befprohen hätten. Befonvders aber kam feine feine
Naturbeobahtung zur Geltung im Portrait, wo er verfland, die Eigenthiim-
lichkeiten der Perfon harakteriftifch wiederzugeben, ohne aber in groben Nea—
lismus zu verfallen. Die im Louvre befindliche Büfte Alerander Des
Grofen®!), der ſich der Meberlieferung nad nur von Lyſipp barftellen laſſen
wollte, könnte ihrer Treue und Aehnlichkeit wegen recht wohl auf Diefen
zurüdgeführt werben, wenn fie den Künig nicht als zu unfhön darftellte.
Mit Recht erkennt wohl Overbed (II, 96) ein urfprängliches Vorbild Lyſipps
in ber Ffapitolinifhen Büfte wieder, bie ebenfalld den Schilverungen von
Alerander entſpricht, insbefondere die befannte Neigung des Kopfes wieder-
giebt, und dabei ungleich großartiger und effectvoller hauptfählih in ber
Behandlung der Haare ift.
Daß die Portraitirfunft erft fo fpät in der griechifchen Plaſtik auf-
fommt, barf ung nit überrafhen, denn die Plaftif hing von Anfang an,
im Oegenfag zur Malerei, jo innig mit der Müthologie und Religion zu—
jammen, daß für fie hiſtoriſche Stoffe und einzelne Berjönlichfeiten eine
untergeordnete Rolle fpielten, fo lange das religiöfe Leben in Fräftiger Blüte
ftand, und erft Bedeutung gewannen, als mit bem echt republifanifchen Geifte
zugleich der religiöfe fhwand, Als dann der Ehrgeiz des Einzelnen fich
bervorbrängte, entwidelte fih die Portraitirkunſt rafh zu hoher Boll-
fommenbeit.
Aus der Zeit des Lyſipp, aber von einem und unbefannten Meifter,
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ſtammt ohne Zweifel aud das Originalbild zu einer ber ſchönſten uns
erhaltenen PBortraitftatuen, der wir zulegt nod einige Worte widmen wollen,
id meine den Sophokles 62) im Lateran. Der Dichter ift dargeftelt im
kräftigen Mannesalter, in ruhiger, jelbfibewußter, man möchte jagen abliger
Haltung, bekleidet mit einem einfachen, aber nicht ohne Sorgſamkeit gefal-
teten Gewande. Der Körper rubt auf dem reiten Beine; ver linfe Arm
ift, vom Chiton umjchlofien, leicht in die Hüfte geftemmt, bie rechte Hand
fießt aus dem über die linfe Schulter geworfenen und einen Bauſch bildenden
Gewande bis zum Handgelenfe hervor; das Haar umſchließt in gefälligen
Loden das ernfte, edle Haupt. Der Schriftfaften, der übrigens hinzu er—
gänzt ift, ift das gewöhnliche Attribut der Geiftesheroen.
Die Bemerkungen über diefe Periode der Kunſt laſſen fih anf etwa vier
Lectionen vertheilen.
3) Die Behandlung der fpäteren Epoden und gelegentlide
Bemerkungen über Sunfl.
Mit der Gefhichte Alexander des Großen und feiner Nachfolger pflegt
die politifhe Gefchichte Griechenlands auf unfern Schulen abzufchließen, und
mit Recht. Die Kunftgefchichte findet freilich hier nod feinen paſſenden
Abſchluß, denn noch mehrere Entwidelungsphafen find zu erwähnen. Nach
unferem einmal befolgten Plane künnen dieſe nicht wohl als Anhang ange-
fügt werben, vielmehr müfjen wir uns eine andere, paflendere Stelle dafür
juhen. Und diefe bietet fih im natürlicher Weife in der römifhen Ge—
Ihihte, und zwar da, wo die Griehen zum erften Male wieder auf dem
Schauplag der Gejhichte auftreten, freilih nur, um ihre Selbftändigfeit
alsbald aufzugeben. Hier ihrer Kunft zu gedenken ift um fo gerechtfertigter,
erftens, weil da das fonft fo verfommene Volk ſich wenigftens noch in dem
glänzend und groß zeigt, worin es alle Nationen überftrahlt, im Geſchmack;
und zweitens, weil feit diefer Zeit die Einwirkung des geiftig überlegenen
Griechenthums auf das allerdings in Kunftfachen ſpröde Römerthum beginnt.
Die Nachblüte der griehifhen Kunft unter den römiſchen Raifern verbient
natürlich ebenfo eine gebührenne Würdigung in ber römifhen Geſchichte.
Wir begnügen uns, die Aufgabe des Gejhichtslehrers geſchildert zu haben,
joweit e8 fih um eine methodiſche Einführung in die Kunft gelegentlich der
griechiſchen Gefchichte handelt. Die Schiller kommen folden Bemühungen
eifrig entgegen, denn die Luft am Schauen ift ja Allen angeboren. Nur
begnüge ſich der Lehrer nicht, das Wiffensmwerthe blos vorzutragen, fondern
frage e8 aud ab, damit er ſich überzeugt, daß die Schüler auch wirklich
gejehen haben, um was es fi bei jedem Kunftwerfe handelt. Auf viefe
Weiſe läßt ſich erreichen, daß gewiſſe elementare Begriffe und Anfhauungen,
ohne welhe das Anbahnen eines tieferen Verſtändniſſes für die Kunft nicht
möglich ift, allmählich ſich befeftigen. Außerdem ift e8 wünſchenswerth, daß
zur Unterftügung des eigentlichen Gejhichtsunterrichts Portraits bedeutender
Perfonen, fomweit es thunlich ift, vorgeführt werden. Wir befigen ſolche,
theils wirkfiche, theils idealifhe, außer von Sophofles und Alexander
von Homer®d), Heſiodey, Euripidesd), Anakreonse); Demo-
thenes®n), Aeſchineses); Herodot und Thufypides6%); So—
30
frate8 7%), Plato’!), Ariftoteles'?), Diogenes’), Lykurg ;
Harmodios und Ariftogeitond); Themiftofles 6), Beritles"”)
und Alkibiades?s).
Aber was der Gejchichtsunterricht bietet, ift micht das Einzige, was
der Schüler von griehifcher Kunft kennen lernen fol. Der übrige Unter-
richt fol, befonders bei ver Lektüre der alten Schriftfteller, das dort Ge—
gebene ergänzen, freilih ohne daß bier eime beftimmte Reihenfolge einge-
halten werben könnte. Werden die Gelegenheiten gehörig wahrgenommen,
jo kann erreicht werben, was für einen Gecundaner, eines Gymnaſiums
wenigftens, doch wohl höchſt wünſchenswerth fein dürfte, daß er vertraut
werde mit ben gewöhnlichen Darftellungen ber griehifhen Götter- und
Heldenwelt, vertraut werde mit den Xttributen, durch welche herfümmlicher
Meile gewiſſe Oeftalten unterſchieden werben.
Sehen wir im der Kürze nur Homer darauf an, wie oft er Anlaf
bietet, Bilder vorzulegen, die zugleih den Vortheil bringen, das Geleſene
anfhanliher zu mahen; und daß das befonders für das Verſtändniß viefes
Dichters nöthig ift, wird wohl Niemand in Abrede ftellen. Natürlich zäble
ih bloß das auf, wovon man leicht ein Bild beſchaffen kaun. Bon Göttern
fommen vor: Zeus 79), Hera80), Hades 81), Bofeidon 92%), Demeter 9), Athene st),
Apollo 85), Artemis 86), Ares"), Hephaiftos 89), Hermes 59), Aphrodite 9), Die-
nyſos 9!) ; außerdem: .Atlas 9), die Erinnyen 9), die Giganten 9), die Ne-
reiden 95), die Nymphen 9), die Mufen 9°), die Sirenen 9), die Chariten 99),
die Horen 100%), Ganymed 101); Danae 102), Niobe 103), Herakles 104), Lapithen
und Gentauren 1%), Melenger 10%), die Amazonen 19°), Kaftor und Pollur 19%),
Paris 109), Menelaos 110), Aias 114), Adilleus. 112) Daß manche von biefen
Bildern ſchon in den unteren Klaffen bei der Erzählung der Helvenfage
vorgezeigt worben find, hält natürlih nicht ab, fie noch einmal vorzulegen.
Uebrigens dürfte e8 and durchaus nicht unangemefjen erjcheinen pie Umriß—
zeihnungen von Flaxmann oder Genelli zuzuziehen oder Abbildungen der
berühmten Odyſſeelandſchaften von Preler.
Es wird hierbei, wie fhon angebeutet, noch ein anderer Zwed erreicht,
der in diefen Blättern in zweite Reihe geftellt werben mufte, ber aber
mindeftens gleihe Berüdfihtigung verdient, nämlich der, ven Unterricht ans
Ihaulih zu machen durch Belebung der Phantafiee Bricht fi das Streben
hiernach, wie zu hoffen fteht, mehr und mehr Bahn, dann wird aud eine
Lücke, die wir innerhalb unjeres entwidelten Planes haben beftehen laſſen
müſſen, an richtiger Stelle noch gebührend ausgefüllt; dann wird in Prima,
wenn die Schüler mit der griehifhen Tragödie fi zu befhäftigen anfangen,
ihnen auch das Wichtigfte über den Theaterbau mitgerheilt, dann werden
ihnen die zahlreihen Geftalten des bacchiſchen Kreijes 113) in Abbildungen
vorgeführt werben.
Wird fo von dem Lehrer der griehiihen Geſchichte, der den meiften
Anlaß, aber auch die meifte Zeit hat, die Kunft zu berüdfichtigen, ein fefter
Rahmen gegeben, wird in den folgenden Slaffen bei Behandlung der
römischen, mittleren und neueren Geſchichte in ähnlicher Weife fortgefahren,
machen e8 fi die übrigen Lehrer zur Aufgabe, in dem fie ihren Unterricht
anſchaulich zu geftalten juchen, viefen Rahmen mit auszufüllen, jo wirb ein
31
guter Grund gelegt für die äfthetifhe Erziehung, jo wird recht wohl das
beſchränkte Ziel erreiht, das die Schule fih fteden muß, nämlich ihre
Zöglinge zu befähigen, das Schöne wahrzunehmen und Gefallen daran
zu finden.
Keine Freude aber ift reiner und beglüdender als die am Schönen.
Derjenige, bei dem vie Empfänglichkeit für daſſelbe einmal gewedt ift, wird,
um diefe Freude recht oft zu empfinden, auch Alles, was er thut, gefhmad-
voll zu thun fi) bemühen und bei Anderen ähnliche Beftrebungen hervor:
rufen. So kann ber gute Gefhmad ein Gemeingut der Nation werben.
Dem Griechen galt aber das Schöne zugleih auch als das fittlich
Önte. Und mit Recht. Denn wer wird leugnen, daß das Gefühl für's
Shöne, wenn aud nicht vor jeglichem Wehltritte bewahrt, fo doch von rohen
Ausihreitungen, an denen unfere Zeit leider allzureich ift, zurüdhält? Ya,
niht nur das fittlihe, fondern auch das rein religiöfe Verhalten bes
Menfhen wird durch die Empfänglichkeit für's Schöne gehoben. Denn wer
finnte dann ſtumpf an ten zahllofen Schönheiten unferer Öotteswelt vor»
überfhreiten? Er muß inne werben, daß diefe herrliche Natur nicht ein
Verf des blinden Zufalls, der bewußtlos wirkenden Kräfte fein kann. Die
Schönheit der Welt predigt dem Zweifelnden: Es ift ein Gott, der mid
gelhaffen hat. Denn mag ber Materialismus aud alle fonftigen Erſchei—
nungen aus vielfach unbewiefenen Behauptungen erflären wollen: die Welt
als äſthetiſche Erfcheinung bleibt ihm unerklärlich!
Uachweiſe der Abbildungen und Anmerkungen,
Verfaſſer wird in den folgenden Anmerkungen auf Bildwerle und
Abbildungen hinweiſen, die er ſelbſt benutzt hat. Größtentheils auf ſeine
eigenen Mittel angewieſen, hat er wohl nicht immer das Beſte ſich ſchaffen
fönnen, glaubt aber doch Anderen, die in ähnlicher Lage find, einen Dienſt
zu erweifen, wenn er das namhaft macht, was er als brauchbar befunden
hat. — Theilweife wird auch bingewiefen werben auf ihm nicht zugänglid
gewefene Abbildungen, die vieleicht Anderen zu Gebote ftehen, befonders aus
dem Britifchen Mufeum.
Die Werke, weldhe häufig citirt werten, find bier zufammengeftellt,
damit bie Titel nicht überall vollftändig angegeben werden müſſen:
Garriere: Dr. Morik Carrière, Atlas der Plaftif und Malerei, 30 Tafeln in
Stahlſtich nebſt Tert. Leipzig, Brodhaus 1875, Duerfolio.
Conze: Alerander Gonze, Herden- und Göttergeftalten ber griechiſchen Kunſt. Zwei
Abtheilungen, mit 106 Tafeln. Wien, Waldheim 1875. —2
Eſſenwein: Dr. Eſſenwein, Atlas der Architektur, 53 Tafeln in Stahlſtich nebſt
Text. Leipzig, Brockhaus 1875. Querfolio.
Guhl und Koner: Das Leben ber Griechen und Römer, nach antiken Bildwerken
bargejtellt. Berlin, Weidbmann. 80,
Haufer: Alois Haufer, Styllehre ber arditeftonifchen Formen bes Alterthums, mit
173 Orig.Holzſchnitten. Wien, Hölder 1877. 8°,
Langl: 3. Langl’s Bilder zur Gefchichte für Gymnaſien u. ſ. w. Großfolio in Del
farbendrud unb Sepiamanier. Wien, Hölzel.
Lübke: Dr. Wild. Lübke, Grundriß ber — Stuttgart, Ebner & Seubert. 8°,
Menzel: Die Kunftwerke ber Völker bes Alterthums. Trieſt, Literarifch : artiftifche
Abtheilung bes öſterreichiſchen Lloyd. Folio.
Müller-Wiefeler: Denkmäler ber alten Kunft von E. O. Müller, bearbeitet von
F. Wiefeler, Göttingen, Dieterih, 2 Bde. Querfolio.
Dverbed: Geſchichte der griechiſchen Plaftif. 2. Aufl. Leipzig, — 1869. Gr. 80.
Rheinhard: Album des claſſiſchen Alterthums, 72 Tafeln. Stuttgart, Hoffmann
1870. Querfolio.
Britiſches Muſeum: Die angegebenen Nummern beziehen ſich auf einen von
W. A. Manſell & Co. Photographie & fine art publishers, 2. Perey, St. London
W, veröffentlichten Gatalog über Photographieen nah den Sammlungen bes britijchen
Mufeums (Catalogue of a series of photographs from the collections of the
British Museum, taken by S. Thompson, first series).
Rive: Die Zahlen beziehen ſich auf den Photographieencatalog bes Neapolitaners
Robert Rive, (Nbreife: Napoli, Sant’ Anna alla Riviera di Chiaja, Salita
St. Filippo.)
Sommer: PBhotograpbieencatalog von Giorgio Sommer, Napoli (catalogo di foto-
grafie d’Italia e Malta),
33
Um die Bilder bequem ausftellen zu können, dürfen fie nicht einges
bunden werden. Je nah der Größe des verſchiedenen Formates läßt man
jih mehrere fogenannte fliegende Rahmen mit oder ohne Glas machen; der
Rahmen ift nöthig, um den Bildern einen gehörigen Abſchluß zu geben.
Die Bilder bleiben fo lange ununterbroden in der Klaſſe hängen, bis fie
fih möglichft allen Schülern feft eingeprägt haben. Die Schüler faſſen dieſe
Aufgabe felbft fo ernft, vap Störungen der Ordnung durd das Aufhauen
in den Zwifchenftunden nicht hervorgerufen werben; aud das Vertrauen,
das man ihnen ſchenkt, indem man ihnen foftbare Bilder überläßt, willen
fie zu würdigen und belohnen es durch forgfältige Wachſamkeit über das
anvertraute Gut.
1) Wer fid mit der äfthetifhen Pädagogif im ganzen Umfange eingehender be:
Ihäftigen will, den verweifen wir auf das geiftvolle Bud von Bruno Meyer: „Aus
der äſthetiſchen Pädagogik. Sch Vorträge.” Berlin, Gebrüder PBaetel, 1873, Es wirb
dort der Reihe nach gebanbelt über: 1) Stellung und Wichtigkeit des Aeſthetiſchen als
Erziefungsmittel und Unterrichtsgegenſtand. 2) Sprade und Literatur. 3) Muſit.
4) Künftlerifche Lebensformen. 5) Die Werfe der bildenden Künſte. Die Kunft im
Handwerfe. Die jelbitthätige Uebung in ben Künften. 6) Die äſthetiſche Pädagogif
gegenüber ber Praris.
2) Siehe das lefenswertbe, ſchon 1848 erfhienene Schriftchen von Dr. Bernhard
Stark: „Kunft und Schule. Zur beutjchen Schulreform.“ Jena, Frommann. Die bort
niedergelegten Gebanfen bat Stark fpäter theils wiedergegeben, theils erweitert be-
bandelt in mehreren Artifeln, die ebenfall® unter dem Titel „Kunft und Schule“ er:
Ihienen find in ber „Allgemeinen Schulzeitung“ 1871, Nr. 16 fi.
3) Ausgabe von 1847, Bb. 12, ©, 82, Anm.
4) ©. Budle, Geſchichte der Civilifation in England, deutſch von Arnold Ruge,
5. Ausgabe, 1874, Bb. II, ©. 411 und 413, wo der Schotte Hutchefon gewilfermaßen
als Erfinder ber modernen Aeſthetik gebührend gewürdigt wir.
5) Schlie in jeiner Rebe „über die Einführung der Kunftgeichichte in dem Lehr:
plan der Gymnaſien“ (veröffentliht in: „Zwei populäre Vorträge aus dem Gebiete ber
Kunfi und Alterthumswiſſenſchaft“, Roftod 1875) S. 50 meint, „daß mit einer Stunde
wöchentlid von Secunda an, alfo mit ungefähr 160 Stunden in vier Jahren bis zum
Abiturienteneramen bin, vielleicht mit noch etwas weniger Zeit fi das ganze — Material
bewältigen lafjen müßte“. Schlie e. in biefer von großer Wärme für bie Sache
zeigenden Rede Ähnliche Zwede wie ber Berfaffer, ohne fi aber auf die Methode bes
betreffenden Unterrichts näher einzulafien. Stark a. a. O. verlangt für die eigentliche
Kunftgefhichte nur eine Stunde die Woche, bei einem einjährigen Curſus. Bei ihm
liegt aber aud der Schwerpunkt im „äſthetiſchen Anſchauungsunterricht“ und im
„Kunjtunterricht“, der nad jeiner beherzigenswerthen Mahnung während ber ganzen
Schulzeit und befonders durch den Zeihenunterricht gepflegt werben joll. Den Betrach:
tungen follen Gypsabgüfje zu Grunde gelegt werben. Aber wanı werben bie Zeiten
fommen, wo jede Schule aud nur zwanzig Gypsabgüſſe zur Verfügung haben wird ?
und wann wirb wohl jene eine Stunde, in ber oberiten Klafje natürlih, für unjeren
Zwed bewilligt werben ?
6) Das Nähere über die Behandlung des Zeihenunterridhts ift zu finden
bei Starf, a. a. D. Daß übrigens auch die Alten nad) Ariftoteles ihre Kinder im
Zeichnen unterrichteten, weil fie glaubten, daß es geſchickter mache, die Schönheit in ben
Körpern zu betradten und zu beurtheilen, erwähnt Windelmann in „Gedanken über
die Nahahmung der griehijhen Werke“ (im Anhang zu deſſen „Geſchichte der Kunft
bes Altertbums“, neuerdings herausgegeben von Julius Lejfing, Berlin, Heimann's
Verlag, 1874, ©. 283).
7) Wer aus Zahn, „Die ſchönſten Ornamente und merhwürbigiten Gemälde von
Herculanum und Pompeji”, oder Ternite, „Wandgemälde aus Pompeji und Hercu—
lanum“, oder Niccolini's Prachtwerk über eben biefe Städte feinen Schülern etwas
vorführen kann, mag es ja nicht verfäumen; es kann jo manches Vorurteil allmählich
befeitigt werben, das ſich noch immer über die Malerei der Alten findet. Geringeren
Menge, Gymnaſium und Kunit. 3
34
Anjprüchen genügt wohl auch die Kaccolta dei piü belli dipinti negli scavi di
Ercolano, Pompei, Stabiae, Napoli 1571, welde die bebeutendften Bilder des
Neapolitaner Kgl. Mujeums in mäßig gelungenen Umrißzeichnungen wiebergiebt. Eine
bejcheidene, aber brauchbare Abbildung, wenn man nur einen Begriff von Bompejanijcher
Wandmalerei beibringen will, bietet Rheinhard, Album des claffiihen Alterthums,
Stuttgart 1870, Blatt 45. — Bon den Hauptwerfen der Meifter des 15. und 16. Jahr»
bunderts, jowie auch der Neuzeit, bat fich Verfaſſer eine Sammlung meijt kleinerer,
theils großer Photographien angelegt, deren Benugung im Schulunterricht aber mißlich
it, Als Notbbehelf könnten auch dienen: „Denfmäler der Kunjt“, Stuttgart,
Ebner und Seubert, jowie: „Atlas der Plaftif und Malerei“, von Dr. Mori
Barriere, Brodhaus 1575 (Separatausgabe aus der 2. Auflage des Bilderatlas).
Eine Sammlung harafterijtifher Kupferjtihe fih anfchafien zu können, wird wohl auch
für die meiften Schulen noch lange ein frommer Wunjd bleiben,
8) Die befannten Launitz'ſchen Zafeln find theilweije recht brauchbar, theil—
weije freilich mehr groß als ſchön. Ein ſchönes, aber freilich nicht ganz billiges Hilfs—
mittel find: J. Langl's Bilder zur Geſchichte, für Gymnafien, Realihulen und
verwandte Kunjtanftalten. Ausgeführt von Eduard Hölzel’8 Kunftanftalt in Wien.
9) Abbildungen der erwähnten Denkmäler finden fi in den Anm. 7 genannten
„Denkmälern der Kunjt“; ferner im „Atlas der Arhiteftur“ von Dr. Auguit
Ejjenwein, Leipzig, Brodhaus 1575 (Separatausgabe aus der 2. Aufl. des Bilder:
atlas). Mancherlei brauchbare Abbildungen enthält ein dem Text nad allerdings wenig
werthvolles Buch: Dr. E. 4. Menzel, „Die Kunjtwerfe der Bölfer des
Altertbums“, Trieſt, Literarifch-artiftiiche Abtheilung des öfterreihiihen Lloyd.
Auch die Münchner Bilderbogen find nicht zu verſchmähen. Zur Vergrößerung
Kleiner Anfihten, bejonders zur Anfertigung größerer Grundrijje bat Berfafjer die
Kunſtfertigkeit geſchickter Schüler mit Erfolg verwandt. — Eine ftattlihe Anficht der
Pyramiden bietet Langl, No. 1, außerdem Eſſenwein, Tafel 1; Menzel, BL. 2;
Münchner Bilderbogen ; Denkm. d. Kunft, Volks: Ausg. T. 1.
10) Tempelanlagen von Edfu: ©. Ejjenwein, T. 2; Menzel, Bl. 3.
11) ©. Tempelinneres zu Philae, bei Efjenwein, Taf. 2, Fig. 3; Menzel, BL. 5;
Yangl, Ro. 5.
12) Unfichten von ägyptiſchen Kapitellen bietet auch Lübfe, Grundriß der
Kunftgefhichte, Fig. 10 u. 16,
13) Bergl. die Baugefchichte des Tempels bes Hephäftos, wie ihn Herodot nennt,
oder Ptah, bei Herodot II, 101, 121, 136, 153. Die wenigen Grunbrijje, die uns zu
—— — zeigen freilich eine regelmäßigere Anlage. ©. Lübke, Fig. 14; Eſſenwein,
Taf. 1, Fig. 7.
14) Selientempel von Ibſambul: S. Ejjenwein, Taf. 1,3; Menzel, BI. 3;
J. Yangl, No. 4.
15) Aegyptiſche Reliefs: ©. Garriere, Atlas der Plaftif u. Malerei, Taf. 1;
Lübke, Kunſtgeſch, Fig. 20 u. 21; Denkmäler d. Kunft, V.«A., Taf. 2.
16) Das bomerifhe Haus: ©, Arthur Windler, Die Wohnhäufer der
Hellenen. Berlin, Galvary u. Co. — Ein Grundriß des Haufes des Odyſſeus findet ſich
in Replaff, „Vorſchule zu Homer“, Berlin 1868, Fig. 21.
17) Belasgijhe Königsburgen: ©. Ejjenwein, Taf. 4; Menzel, 27 u. 28,
Löwenthor: Yangl, No. 14; Lübke, 55; Müller» Wiefeler I, 1; Overbed, Fig. 2.
15) Dverbed, Geſchichte ver Plajtif, 2. Aufl., Leipzig 1569, ©, 43, „Ipridt von
dem Borhandenjein zablreiher Tempel, die Homer im Einzelnen und im Allgemeinen
bezeichnet.“ Hiergegen ijt zu bemerfen, daß das Wort „Tempel“ bei Homer auffällig
jelten vorfommt, namentlidy) aber nur folgende acht Tempel aufgeführt werden: Tempel
der Athene in Athen und Ilios, des Apollo in Pytho (Delphi), Ilios und Chryſo, des
Bojeidon in Helife, Aegae und bei den Phäafen (Odyſſee VI, 266 MTossiwdijor ?)
j. Retzlaff, Vorſchule S. 55.
19) Nah Müller, Handbuch der Archäologie, $ 59, haben am Schild des
Achilleus Rejlaurationsverfuche angeitellt, früher Boivin u, Gaylus, jpäter Quatremere-
de-Quincy, Jupiter Olyıp, p. 64, Mem. de l’Institut royal T. IV, p. 102. — In
Ermangelung diefer Werfe benuge man als Beijpiel den Schild des Herafles nach Hefiod,
von Schwanthaler, lithographirt von Hellmuth; a übrigens Dverbed, Fig. 3.
20) Außer den bereits mehrfach angeführten Werfen find für die griechiſche Kunft
bejonders Photographieen größeren Formates zu benugen. Bon den Kunitwerfen, die
35
noch in Griechenland find, beſorgt Abbildungen der deutfche Buchhändler Herr Wilberg
in Athen; ferner find Photograpbieen von Paul des Granges zu beziehen durch
Kunftbändler Duaas in Berlin, das Stüd zu 2 .AM. 50 A.; ebenfo bat eine große
Auswahl W, AU, Manfell & Co., Photographie Publishers, 2, Percy Street,
London W.; von denen in Italien: Spitboever, Rom, piazza di Spagna. Am
befannteften und ſehr preiswertb ift die von Sommer in Neapel veranftaltete Samme
lung von Photograpbieen nad Anfihten und Kunftwerfen in ganz Italien, nach deſſen
Gatalog (Giorgio Sommer, Napoli) vom Jahre 1872 ich öfter citiren werde. Photo:
grapbien in ber Größe von 19><25 Etm, ohne Rand koſten ohne Garton in größerer
Anzabl bezogen 1 Franc das Stüd, Nicht minder empfehlenswertb find bie Photo:
grapbieen von Robert Rive (Napoli, alla riviera di Chiaja). — Ein billiges Hilfe:
mittel ift das „Album bes claffifchen Altertbums“, zur Anjhauung für bie Jugend,
befonder8 zum Gebraud in Gelchrtenihulen von Hermann Rheinhard, Stutt:
gart 1870. 72 Tafeln in Farbendrud nah ber Natur und nad antiken Vorbildern
mit bejchreibendem Tert. 18 .A. Meines Wiffens kann man auch einzelne Blätter
beziehen. — Ueber die griechiſchen Bauftile findet man ausreichende Auskunft in dem
billigen, trefflihen und ſchön ausgeftatteten Werfhhen: Alois Haufer, Styl-Lehre
der ardhiteltonifchen Formen des Alterthums, verfaßt im Auftrage des f. k. Miniſteriums
für Gultus und Unterridt, Mit 173 Holzichnitten. Wien 1877. — Dentmäler ber
ke zufammengeftelt von Studirenden ber Fönigl. Bauafademie zu Berlin.
1870—71, Fol.
21) Tbefeustempel: ©. Menzel, BL. 31; Lübke, Fig. 65; Rheinhard, BI. 2
(im jegigen AZujtande).
22) Neptuntempel zu PBaeftum: Photographien bei Sommer No. 1176,
1177, 1447; bei Rive, Vorberanfiht 253, 252, Seitenanfiht 251, Neptuntempel und
Bafilifa 261. — Die Anficht des Innern bei Rheinhard Nr, 14; Eſſenwein, Taf. 7;
Rive, Nr. 254. — Grunbriß bei Lübfe, Fig. 67; Effenwein, Taf. 6. — Querdurchſchnitt
bei Lübke, Sig. 61; Haufer, Fig. 62.
23) Tempel ber Nike apteros: Findet fid) mit abgebildet auf dem Afropolis:
bild in den Launik’fchen Tafeln, und bei Rheinhard, Blatt 6. Grundriß bei Haufer,
Fig. 42, Grundriß und Durchſchnitt bei Gubl und Koner im „Leben der Griechen und
Römer“, Fig. 16, 17,
24) Die nöthige Unterweifung bietet Haufer in feiner oben erwähnten „Styl-Lehre“,
Bien 1877; aber Genügenbes aud) Sub u. Koner im erften Bande; val. Rheinhard, BL. 15.
25) Wer bie verfchiebenen Tempelformen, jtatt fie felbit anzuzeichnen, in
fertigen Bildern vorlegen will, kann die Launitz'ſchen Tafeln benugen. Ach pflegte damit
die Ban ber Klaſſe friesartig zu garniren, bis Formen und Namen fi feit ein-
geprägt hatten. Für die Säulenorbnungen ift aufmerkſam zu maden auf: Haufer,
Säulenordnungen, Wandtafeln. Wien 1876, gr. Fol.
26) Größere Abbildungen ber Ornamente fenne ich nicht. Man nehme die
Kunjtfertigfeit der Schüler zu Hilfe und laſſe die im Haufer gegebenen Muſter vergrößern.
27) Athenetempel zu Aegina im jeigen Zuftande: Rheinhard, BI. 12;
Yangl, Nr. 15.
28) Die beften Abbildungen der in Münden befindlichen Giebelgruppe ber
Aegineten find bie Photographieen von Hanfflängl, das Stüd zu 2 .A. im Bud:
handel zu beziehen. — ferner Overbed, Fig. 15, 16; Garriere, BI. 2; Müller: Wiefeler
I, Nr. 28-30; Menzel, BI. 32. — Mittelgruppe bei Lübke, Fig. 78.
29) Den Athenetempel von Negina reftaurirt und in Buntdrud bietet
Rheinhard, BI. 13 (ohne Karben: Haufer, Fig. 60; Müller-Wiefeler I, Nr. 28).
30) Artemis in Neapel: Müller: Wiefeler I, Ar. 35; Overbed, Fig. 37;
Rive, Nr. 543; Sommer, Nr. 1535.
31) Grundriß der Afropolis in Athen findet fi in: SKiepert, Neuer
Atlas von Hellas, Karte 6; Guhl und Koner, Fig. 50. — Anfihten der Akropolis
im früheren Zuftande: Rheinhard, Bl. 4; Lübke, Fig. 72; Launitz'ſche Tafeln. —
Am gegenwärtigen Zuftande: Menzel, BI. 34; Langl, Nr. 16 (von Norden) und
Nr. 17 (von Süben).
32) Grundriß der Propyläen: Efjenwein, BI. 6; Lübke, Fig. 70; Suhl
und Koner, Fig. 50. — Anſicht: Efjenwein, BI. 6; Rheinhard, BI. 6.
33) Grundriß des Erechtheums: Efjenwein, BI. 6; Gubl u. Koner, Fig. 36.
— Zwei Anjihten und ein Durchſchnitt bei Eſſenwein, BI, 8. — Anficht bei
3*
36
Rheinhard, BI. 5; Menzel, PL. 37; Lübke, Fig. 71; Guhl und Koner, Fig. 37;
Sangl, Bl. 19.
i 34) Karyatiden find abgebildet bei Müller: Wiefeler I, Nr. 101; Lübfe, Fig. 90;
Guhl u, Koner, Fig. 215; Overbed, Fig. 65; Sommer, Nr. 1702.
35) Für das Folgende verweife ih auf Michaelis, „Der Parthenon“, ein
Werk, das auch für Laien in ber Archäologie verftändlich gefchrieben it und von ihnen
mit dem reichften Gewinn ftubirt werden kann. — Auf die noch herrſchende Uneinigfeit
in ber Deutung verjchiedener Figuren ift in ber Schule jelbitverftändlich nicht einzu—
gehen; der Verfafier bat fich natürlich in der Benennung ganz an Michaelis angefchlofien.
on Allem, was im Tert befprochen ift, finden ſich im Michaelis die Abbildungen, bod
balte ich e8 für zweddienlich, in meinen Nachweilen fortzufahren.
Grundriß zu dem Bartbenon: Eſſenwein, Bl. 6; Gubl u. Koner, Fig. 235
(die Launitz'ſchen Tafeln bieten fein Schema, das auf den Parthenon ganz paßte; ich
babe mir einen Grundriß nah Michaelis in der Größe der Launig’fchen Tafeln machen
laffen). — Längendurdfhnitt: Effenwein, Bl. 6, — Aeußere Anfidt: Eſſen—
wein, BI. 7; Guhl u. Koner, Fig. 24.
36) Darftellungen ber Giebelfelder des Parthenon: nad Carrey's Zeich-
nungen Overbef, Fig. 55. — Reftauration bes Weſtgiebels: bdafelbit 552; Uer:
Wieſeler I, 120, 121; Brit. Mufeum, 693— 700,
37) Theſeus im Giebel des Partbenon: Miüller-Wiefeler I, Nr. 120b; Over:
bed, Fig. 57; Brit. Muf,, Nr. 694; Lüble, Nr. 84, — Alifjos: Miller: Wiejeler I,
Nr. 1218; Overbed, Fig. 59; Brit. Muf., Nr. 700. — Frauengruppen bed Bar:
tbenon: Müller Wiejeler I, Nr. 120 u. 120e u. f.; Dverbed, Fig. 53; Garriere,
Bl. 2; Lübke, Fig. 53; Brit. Muf., 695 u. 697.
38) Vgl. „Gegenwart“ von Paul Lindau, 1875, Nr. 31, ©. 76, — Aehnlich ſpricht
ſich auch Windelmann in der Geſch. der Kunft des Altertbums (Berlin 1874, ©. 127)
aus: (Die Beichauer) „jollen vorber eingenommen fi (den Werfen ber Alten) nähern;
denn in ber Verfiherung, viel Schönes zu finden, werben fie baffelbe ſuchen, und
Einiges wird fich ihnen entdeden. Man kehre fo oft zurüd, bis man es gefunden bat;
bern es ift vorhanden.” — Auf berjelben Seite giebt Windelmann noch eine andere
beberzigenswertbe Regel für das Anjchauen von Kunſtwerken: „Sude nicht bie Mängel
und Unvollfommenbeiten in Werfen ber Kunft zu entdeden, bevor bu bas Schöne
erkennen und finden gelernt. Diefe Erinnerung gründet fich auf eine tägliche Erfahrung,
und den Meiften, weil fie den Genfor machen wollten, ehe fie Schüler zu werben amge-
fangen, ift das Schöne unerkannt geblieben. Denn fie maden es wie bie Schulfnaben,
die alle Wit genug haben, die Schwäche des Pebrmeifters zu entdeden.” — Auch auf
noch ein Wort dieſes arofen Meijters jei aufmerfiam gemacht, das er ausfpridt in
den „Gebanten über die Nachahmung ber griechiſchen Werfe* auf ber erſten Seite:
„was Jemand von Homer geſagt bat, daß Derjenige ihn bewundern lernt, ber ihn wohl
verftehen gelernt, gilt auch von den Kunftwerfen ber Alten, fonberlich der Griechen.
Man muß mit ibnen wie mit feinem Freunde befannt geworden fein, um ben Laokoon
ebenjo unnachahmlich wie den Homer zu finden.”
39) Das Wort ift entnommen aus Michaelis, Parthenon, ©. 86.
40) Metopen des Bartbenon: Brit. Muſ., Nr. 619—634; Miüller-Wiejeler
I, Nr. 111114; Overbed, Fig. 61, 62; Garriere, BI. 2; Lübke, Fig. 85.
41) Fries bes Partbenon: Brit. Muf., 635° —692; Müller : Wiejeler I,
Nr. 115—119; Overbed, Fig. 63, 64; Lübke, gig: 86—88. — Der Fries bes Parthenon,
galvanoplaftifch dargeitellt von Br. E. Braun in Rom.
42) Das Innere des Parthenon: Gffenwein, BI, 6.
43) Münzen nah dem Olympiſchen Zeus bes Phidias find abgebildet:
Müller: Wiefeler I, Nr. 103; Dverbed, Fig. 48; Eonze, 2; Garriere, BL, 4. — Eine
Reitauration des Zeus von Olympia bietet Garriere, BI. d.
44) Zeusbüjte von Otricoli: MüllersWiefeler Il, Nr. 1; Garriere, BI. 4;
Conze 3; Lübke, Fig. 30; Sommer, Nr. 1795; Rive, Nr, 1258,
45) Ballas Giufiniani: Müller-Wiefeler II, Nr. 205; Eonze, 28; Sommer,
Nr. 1717; Rive, Nr, 1212,
46) Das Nöthige über griehifche und römische Befleidung findet fi in
Suhl u. Koner; Rheinhard bietet an Bildern Nr. 65, Grieche; Nr. 66, Griedin; Nr. 67,
Römer in ber toga praetexta; Nr. 68, Römerin ; außerdem it etwa auzuziehen bie Pubdi-
citia: Sommer, Nr. 1707; Garriere, BL, 5, u. die Flora des Gapitols: Sommer, Nr, 1773.
47) Büfte der Hera Ludoviſi: Müller-Wiefeler IL, Nr. 55; Garriere, Bl. 4
Füble, Fig. 92; Photographieen von diefer herrlichen Büfte zu befommen, fcheint ebenjo
ſchwet zu fein, wie Zutritt zu ber Billa zu erhalten, in ber fie aufbewahrt wird. Dem
Berfaffer wenigftend hat Beides nicht gelingen wollen. Photographie nah Gypsabguß,
Gab. Berlin, Nr. 2365.
47*) Ueber die Bebeutung des Materials für die bildende Kunft kann man ſich
unterrichten im Lemcke, populäre Aeftbetif, oder Riegel, Grundri der bildenden Künfte.
48) Auch von bem Diabumenos find Bilder bis jet fchwer zu haben. In
Rom, wo er früher in ber Billa Karnefina fland, giebt es feine, ob in London, wo
er jet im Britifhen Mufeum ſieht, bejondere Bilder zu haben find, ift mir unbe—
lannt, aber wabrjcheinlich; mitabgebildet ift er auf einer Photographie, Brit. Muf.,
Rr. 602; eine Umrißzeihnung bietet Müller-Wiefeler I, Nr. 156,
49) Myrons Diskobol: Miüller-Wiefeler L, 139b; Overbed, Big. 43; Lübfe,
Fig. 79. Diefe drei Abbildungen find nach der Gopie in Villa Maffimi; eine Photo:
srapbie ber etwas abweichenden Eopie im Batifan bietet Sommer, Nr. 1767.
50) Disfobol des Allamenes oder Naufybes: Overbeck, Nr. 50;
Sommer, 3408.
51) Disfobol von Neapel: Sommer, Nr. 1507.
52) Denkmal des Epfilrates: Eſſenwein, BI. 8, Guhl u. Koner, Fig. 150,
reftaurirt. Im gegenwärtigen Zuftande: Rheinhard, BI. 8; Menzel, BI. 40; Langl,
Rr, 18. Der Fries findet ſich bei Overbet, Fig. 87, 88; Müller-Wiefeler I, Rr. 150.
Dafelbft auch einige Figuren in vergrößertem Mafftabe, bei. Dionyfos mit dem Panther,
der auch bei Garriere, BI. 4 abgebildet ift.
53) Apollo Kitbarvebos: Müller: Wiefeler I, Nr. 141 a; Garriere, BI. 4;
Sommer, Nr. 1735; Rive, Nr. 1256,
54) Bol. Overbed II, 19 ft.
55) Apollo Sauroftonos: Müller Wiefeler I, Nr. 147 A; Overbed‘, Fig. 80;
Sommer, Nr. 1741; Rive, Nr. 1244. — Apollo von Tenea: Dverbed, Fig. 3;
Gonze, 57: Garriere, Bl. 2. — Apollo vom Belvedere: Müller-Wiefeler II,
Rt. 124; Overbed, Fig. 103; Lübfe, Fig. 129; Garriere, Bl. 3; Gonze, 63; Rive,
Rr. 1236; Sommer, Nr. 1735.
56) Niobiden: Dverbed, Fig. 52; Müller-Wiefeler I, 142; Einzelnes in
größerem Maßſtabe wieberholt. Die Aufftellung der berühmten Statuen in ben
Uffieien zu — iſt möglichſt unglücklich. Sie ſtehen in zwei Gruppen geordnet an
den vier Wänden eines außerdem mit Oelgemälden gefüllten Saales. Die Photo—
grapbieen von Sommer, Nr, 1883, 1884 geben biefe beiben Gruppen wieder, Die
MONERE von Rive, Nr. 1500, ift mir unbelfannt,
97) Fliehende Niobide des Batifan: Sommer, Nr. 1725; Rive, Nr. 1214,
58) Niobes: Mutter: Müller: Wiefeler I, Nr. 142 Aa; Overbeck, Fig. 83;
Lübke, Fig. 96; Garriere, BL. 2; Sommer, Nr. 1893; Rive, Nr. 1501,
59) Laofoongruppe: Müller-Wiefeler I, Nr, 214; Dverbed, ig. 100, 101;
Sübfe, Ar 99; Garriere, Bl. 3; Sommer, Nr. 1734; Rive, Nr. 1229,
0) Aporyomenos: Lübke, Fig. 97; Carriere, Taf. 3; Sommer, Rr. 1713;
Rive, Nr. 1218; Overbed, Fig. 91.
61) Alexander ber Große: Üverbed, Fin. 39, 90; Müller: Wiejeler 1,
Ar. 159, 168, 170 (158 ift Abbildung der Büfte im Loupre); Garriere, BL. 3; Rive,
Nr. 1283 (bie fapitolinifhe Büfte,. — Alexanderſchlacht in Mofaif: Müller:
Wiefeler I, 273; Rheinharb, BE. 58.
62) Sophofles: Garriere, BI. 3; Lübke, Fig. 98; Sommer, Nr. 1700.
63) Büſte von Homer: Sommer, Nr. 1564; Rive, Nr. 567, beide nad bem
Eremplar in Neapel, das als das ſchönſte gilt.
64) Büfte des Hefiod im Batifan: Nive, Nr. 1217,
65) Büfte des Euripides in Neapel: Rive, Nr. 646; Statue im braccio
nuovo bes Batifan, Nr. 53; ich befige davon eine große Photographie, bie aber fein
Abzeichen des Verfertigers trägt.
66) Statue des Anafreon im Borgbefifhen Muſeum, Büſte angeblich in
Neapel, aber beide find noch nicht in Photographie zu haben.
67) Statue des Demoftbenes im Natifan: Sommer, Wr. 17125 River,
Nr. 1209; Büfte im Neapel: Rive, Nr. 638
38
68) Statue des Aeſchines (früher Ariſtides genannt) in Neapel: Sommer,
Nr. 1525; Rive, Nr. 515.
69) Herodot und Thufydides in einer Doppelherme in Neapel (photograpbiid
nicht zu haben). Von Thufydides erijtirt auch in dem Fapitolinifhen Mufeum eine
Büſte, die mir in Kupferftich vorliegt (engraved by Bovi).
70) Büfte des Sofrates: Die beite ift in Villa Albani, ſcheint aber nicht
photographirt zu fein; außerdem ijt beſonders zu nennen eine in Neapel: Sommer,
Nr. 1539; Nive, Nr. 566. Eine andere befand fich zu Friedrichs IL Zeit in
Sansfouci.
71) Eherne Büfte des Plato in Neapel: Rive, Nr. 623. Photographie
nad Gypsabguß, Gab. Berlin, 2159.
72) Statue bes Ariftoteles im Palazzo Spaba zu Rom,
73) Statue des Diogenes in Villa Albani.
74) Büfte bes Lykurg in Neapel, Rive, Nr. 643.
75) Harmodios und Nriftogeiton in Neapel: abgebildet bei Dverbed,
Fig. 14.
76) Es giebt von Themiſtokles einen Kleinen ſchlechten Kupferftih nad einer
Büfte; nad) einer Zeichnung von Garjten.
77) Büfte des Perifles im Vatikaniſchen Mufeum, Ach befike davon einen
Kupferftih (Salesa del. — Bossi ine.) und eine Berliner Photographie in Gabinet:
format nad einem Gypsabguije, Nr. 2290,
78) Eine Büfte oder vielmehr Herme von Alfibiades befige ich in Kupferilid
(Doleibene del. — Petrini seulp.) in zwei Anfichten. Die Herme trägt an ber Seite
bie Auffchrift: effossum Athenis in ruderibus Prytanei III Nonas Junias
UIIICCLXXXV. R. Worsley rest. cur.
79) Die widtigften Darftelungen des Zeus finden fi in Müller: Wiefeler
II, 1— 50 und bei Gonze, Bl. I—4; Overbeck, Atlas zur gr. Kunftmythologie. In
Photographie ift außer der Büfte von Dtricoli zu haben der jchöne 3. von Veroſpi
in der galleria delle statue des Vatikan: Sommer, Nr. 3405.
80) Die widtigften Darftellungen der Hera in Müller-Wiefeler, Bd. II, 54—65
und bei Gonze, Bl. 5—8; Overbeck, Atlas zur Kunſtmythol. Außer ber Lubovifi iſt
jedenfalls noch vorzuführen die großartige Statue im Batifan: Sommer, Nr, 1762
(auch 1763); Rive, Nr. 1260.
81) Bilder von Habes: Müller-Wiefeler, Bd. IL, 851 — 864, Conze 9, 10.
82) Poſeidon: Müller: Wiefeler, Bd. II, 67— 86; Conze 15, 16; Overbed,
Atlas zur Kunſtmythologie; Rive, Nr. 591.
83) Demeter: Müller-Wiefeler, Bd. II, 86—99 5; Conze, 52—55 ; Rive, Nr. 528.
84) Athene: Müller-Wiefeler, Bb, II, 198 — 242; Conze, 24— 28; Rive,
Nr. 517 (kann als Symbol ber Stabtbeherrfcherin dienen). Die Friegerifche Pallas der
Villa Lubovifi ift abgebildet bei Overbeck II, Fig. 109. Vgl. oben Anm. 45.
85) Apollo: Müller-Wiefeler, Bd. II, 118—153; Conze, 57 —63, Bol. oben
Anm. 53—55,
86) Artemis: Müller-Wiefeler, Bd, II, 156—178. 183; Conze, 64—67. Bal,
oben Anm. 30; ferner Sommer: 1533, 1709. Artemis v. Epheſus: Rive, Nr. 54),
1216. Die ſchönfie bleibt freilich immer die Artemis v. Verſailles im Louvre.
Eine größere Photographie von ihr fonnte ich aber weder in ben Parifer Läden er:
halten, noch durch Vermittlung beziehen; fie findet ſich Müller-Wiejeler, Bd. II,
Nr. 157; Oberbed, Fig. 103; Garriere, BI, 3,
87) Ares: eine zweifelloje Aresftatue fcheint e8 faum zu geben; im fapiteli:
nifhen Mufeum ift ein Ares-Hadrian, von bem es aber feine Abbildungen giebt;
Gonze 50, 51; Müller-Wiejeler, Bd. II, 243— 253; Earriere, BI, 6,
88) Hephaiftos: Miller:Wiefeler, Bd. II, 191— 197; Conze 34 — 36, Von
der borgheſiſchen Statue giebt e8 feine Photographieen,
89) Hermes: Müller-Wiefeler, Bd. II, 237— 337; Conze, 69— 72; Garriere, BL. 4.
Beſonders ſchön ift der im Belvedere des Vatifan: Rive, Nr. 1228; Sommer, Nr. 1733
(bier fälfchlih Antonio benannt) und der in den Ufficien zu Florenz: Rive, Nr. 1489.
90) Aphrodite: Müller: Wiefeler, Bd. II, 258 — 29; nah Prariteles:
Müller: Wiefeler, Bb. II, 1468; Aphrodite von Melos im Louvre, abgebildet
Lübke, Fig. 89; Overbed, Bd. II, Fig. 113; Garriere, Bl, 4. — Aphrodite von
Gapua: Sommer, Nr. 1515. — Aphrodite des Gapitols, Sommer, Nr. 1786,
39
1787, — Apbrobite von Mebict: Dverbed, Fig. 106; Sommer, Nr. 1892; Rive,
Nr. 1495. Im Uebrigen ſ. Conze, 37—44,
91) Dionyfos: f. Conze, 73—76; Müller:Wiefeler, II, 341—434, 443 —453,
600 Fl. 965; außerdem f. unten unter: der Kreis des Dionyfes, Anm. 113.
92) Atlas mit der Himmelsfugel in Neapel: Sommer, Nr. 1565; Rive,
Pr. 531. — Atlanten als Träger verwendet: Müller:Wiefeler, Bd. I, 102; DOverbed,
ig. 656; vgl. Müller-Wiefeler, Bd. II, 821—829,
93) Die Erinnyen: Gonze, 14; Müller-Wiefeler, Bd. II, 955—95>.
94) Die Giganten: Eonze, 100; Müller-Wiefeler, Bd. II, 343—850.
35) Die Nereiden: Gonze, 19,
%) Die Nympben: Eonze, 22; Nympben ber Artemis; Müller: Wiefeler,
®. II, 179, 180.
97) Die Mufen: Conze, 90, 91. — Müller-Wiefeler, Bb. I, 730—750. Gruppe
der Muſen auf bem Sarfopbag im Capitol: Sommer, Nr. 1777 und 1778. — Euterpe:
Rive, Nr. 545, — Thalia: Rive, Nr. 546. — Polyhymnia: Rive, Nr. 557. —
Ralliope: Rive, Nr. 558 (alle vier in Neapel). — Polyhymnia und Klio am
Ihönften in Berlin; Cab.: Photographie Nr. 2029 und 2381. — Melpomene am
Ihönftten im Louvre,
98) Die Sirenen: Müller:Wiefeler, Bd. II, 751—755; Eonze, 92.
99) Die Ehariten: Müller-Wiefeler, Bd. IL, 722— 726; Gonze, 87.
100) Die Horen: Müller-Wiefeler, Bo. II, 959— 964, — Gonze, 88, 89; Rive,
Rr. 513 (bie fogenannte Flora farnese).
101) Ganymed: Müller-Wiefeler, Bd. IL, 50—53,. — Ganymeb nad Leochares:
ri Fig. 54; Müller» Wiefeler, I, 148. — Sommer, Nr. 1708 — 1754; Rive,
. 521.
102) Danae: Müller-Wieſeler II, 48.
103) Niobe: ©. 0. Anm. 5658.
104) Herafles: Conze, 98, 99. — Der Farnefiihe Herafles: Müller - Wiefeler I,
Rt. 152; Overbed, ig. 108; Sommer, Nr. 1504; Rive, Nr. 502. — Torfo des Herafles
im Belvedere: Rive, or. 1225; Sommer, Nr. 1723; Dverbed‘, ig. 105.
105) Lapitben und Gentauren im Kampfe: Müller Wiefeler, I, 110, 123.
— Gentauren allein: Miüller-Wiefeler II, 587599; Gonze, 78, 83, — Die zwei
ſchönſten find im Kapitolinifhen Mufeum (Sommer, Nr. 1774) und im Louvre; beide
find abgebildet bei Overbed, Fig. 115.
106) Meleager: Sommer, Nr. 1729; Rive, Nr. 1226.
107) Die Amazonen: Müller Wiefeler I, 137, 138; Conze, 31—33; Dver:
bed, Fig. 69; Sommer, Nr. 1780, 1710; Rive, Nr. 1246.
108) Kaftor und Pollur: S. Photographie des Monte cavallo: Sommer,
Kr, 1050, 1086; Rive, Nr. 1015; Garriere, BI. 6.
109) Paris: Gonze, 101—103; Sommer, Nr. 1791; Rive, Nr. 1251.
110) Menelaos: Statue im Vatifan: Sommer, Nr. 1793. — Büjte im Batifan:
Rive, Nr, 1249.
111) Aias: Sommer, Nr. 1540, 1837,
112) Adhilleus: im Louvre; Garriere, BI. 3.
113) Der Kreis bes Dionyfos: ber farneſiſche Torjo des Dionyfos in
Neapel: Rive, Nr. 500, 500A, 501. — Dionvjos und Ampelos in Florenz:
Sommer, Nr. 1896, — Silen: Gonze, 80, 81; Müller-Wiefeler II, 494 — 522;
Sommer, Nr. 1547. — Silen und Dionyfos im Batifan: Sommer, Nr. 1704. —
Satyrn: Miüller-Wiefeler II, 454—487; Eonze, 79, 82, — Der Periboëtos nad
Vrariteles: Müller Wiefeler I, Nr. 143; Dverbed, Fig. 81; Sommer, Nr. 1783. —
Der Fauno sonnante in Florenz: Sommer, Nr. 1875. — Der trunfene
Zaun in Neapel: Sommer, Nr, 1505. — Der Faun di rosso antico auf bem
Rapitol: Sommer, Nr. 1776. — Mänaden: Miller: Wiefeler II, Nr. 559 — 586;
Sommer, Nr. 1794 (die Tänzerin im Cabinetto delle maschere). — Gentauren:
f. Anm, 105.
Deutſche Gedichte. Eine Muſterſammlung für mittlere und höhere Schulen ſowie
zum Privatgebraud. Nebft Anbang: Die Verslehre. — Die Dicbtungsgattungen. —
Die Bildfichkeit der Poefie. — Kurze Biographien der Dichter. Bon W. Fride
Preis 3.4 20 Pf., gebunden 3 .A 60 Bf.
Eine Zufchrift an die Verlagshandlung jagt: „Mit größtem Jutereſſe habe ich Einfiht genommen
in Fride's enge | es ift eine reihe, wohlgeorbnete und mit richtigem Geſchmack und päba-
geolidem Blidck getroffene Auswahl, die in vortbeilhaftefter Weile auch die neuefte Beit berüdfichtigt.
er Herausgeber hat fi die Aufgabe geftellt, nicht allein den Entwidelungsgang der beutidhen P in
einen —— Rahmen zu faſſen und die Schüler und Schülerinnen mit ben hervorragenderen
Dichtern und den Gattungen ber Dichtung vertraut zu machen: er war auch beftrebt, bad Befte, und nur
dieſes allein ift gut genug für die Jugend, mit bem Schulgemäßen zu vereinigen. Daß ein joldes Bud
auch denen, weiße ich mit dem Gange und dem Schönften deuticher Dichtung durch Selbititubium befannt
machen wollen, joldhen, die aus innerem Drange gern in Boefien fich — * eine willkommene Gabe
ſein wird, bezweifeln wir feinen Augenblick. Der Anhang, welcher die methodiſche und leicht faßliche
Darftellung der Bildlichleit der Poeſie, der Vers und Gaftungslehre nebſt den Biographien ber Dichter
enthält, wird dazu dienen, den Werth dieſes Buches —* für den Privat- wie Schulgebrauch zu
erhöhen.“ — Da es durd das fjorgfältigfte Arrangement des Sabes ermöglicht worden ift, zugleich die
reihhaltigfte Sammlung herzuftellen, dürfte das Buch vor älteren äbnlihen Werfen entichieben den
Borzug verdienen. Inhalts: Berzeichniffe, alphabetiich nad den Anfangszeilen der Gedichte und chrons-
togilc nah Dichtern und Anhalt georbnet, erhöhen die praktiihe VBerwenbbarteit.
Sandbuch der Allgemeinen Literaturgefhicdhte von C.S. Wollſchlaeger.
Zweite Ausgabe. Preis 4 .ABO Pf. Elegant gebunden 6 A.
Der Berfaffer beabfichtigt mit dem vorliegenden Werke eine kurzgefaßte Ueberfiht über bie Ge—
jammtliteraturgefhichte als praktiiches Hülfs- und Nachſchlagebuch zu geben, und man muß gefteben,
daß er die Aufgabe, die er fich geftellt, recht glüdlich gelöft bat. In Marer, überfichtlicher Darftellung
werben die irgendwie bedeutenden Dichter und Literatur - Erzeugnifie ſämmtlicher Eulturvölter angeführt
und nad dem heutigen Stande der Wiſſenſchaft kurz und durchweg treffend dharakterifirt. Wir empfehlen
das Wert, das troß feiner ſchlichten Art ein ebenfo ſcharfes wie anziehendes Bild von dem allmäligen
Gange der Geiftesbilbung und Eulturentwidelung der einzelnen Bölter entwirft, auf's Beſte. Der Schluh
bringt ein ausführlihes Namen: und Sadıregifter. ! s
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von Carl Hobeifel, Gymnafial-Direktor. Preis 2.440 Pf., eleg. geb. 3.4 40 Pi.
Eine Schrift, die in gedrängter Kürze, in einer leicht fahlihen, aud einem weiteren gebil-
deten Leſerkreis zugänglichen * und Sprache eine ein —— Erflärung und äſthetiſche Würdigung
aller poetiihen Hauptwerte Goethejs zujammen enthält, dürfte hoch willkommen fein. J
Melchior Merle's Reimchronik von Eiſenach, Thüringen und Heſſen. Heraus-
gegeben von Dr. H. Müller, Unterbibliothekar in Marburg. Preis 1 .A
Nad einer —— — * vom Herausgeber in der Marburger Univerſitätsbibliotbet
aufgefunden. Ein intereflanter Beitrag zur Thüringifchen, ———— Eiſe nachiſchen Lokalgeſchichte
Die Reimchronik ftammt aus dem Ende des 16. Jahrhunderts, beginnt die Erzählung aber Fon mit
dem Jahre 450. Sie ift ein reicher Beitrag zur Denk- und Anihauungsweije jener Zeit, und in fultur
biftoriicher Beziehung find einige Stellen von größtem Werthe. Der Herausgeber hat der Chronik eine
turze aniprechende Einleitung vorangeichidt. .
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Genaue und zuverläffige, in einem organiichen Zufammenhange ftehende, möglichft kurze aber auch
möglihft vollftändige, et Ueberfichtstafeln, wiſſenſchaftlich durchgeführt, liefern hier eim durch
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um mer.
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volltommen zuverläffiger Genauigkeit aufgeftelt worden ift. j
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latinae, goticae forma et usn. Bon Dr. E. Milbelm, Brofeffor in Jena.
Preis 4 AM
- ad
Pädagogifde Studien.
Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein.
13. 5 ef t.
Die
gewerbliche Bildungsfrage
und
der induſtrielle Rückgang.
Von
Drr. Karl Büder,
Lehrer der Wöhler-Schule in Frankfurt a. M.
Wien und Leipzig.
——— Verlag von A. Pichler's Witwe & Sohn.
handlung fiir pädagogiihe Literatur und Lehrmittel » Anstalt.
Drud von Fiiher & Wittig in Leipzig. 1877.
Vorwort,
Wie kommt Saul unter die Propheten, die Socialpolitit unter
die Meifter von der Schule, - der gewerbliche Nüdgang umter die
„Päbagogifchen Studien“? So mag der geneigte Lejer beim Erbliden
diefes Schriftchens ausrufen, das viel eher in die von der Unruhe der
Zeit durchtränkte gewerbliche oder volkswirthſchaftliche Fachliteratur fcheint
verwiefen werden zu müffen, als in die ftille Gefellichaft, wo die höchften
Fragen der Menfchenerziehung im Ganzen und im Einzelnen mit pein-
lichet Sorgfalt erwogen zu werden pflegen.
Allerdings ift das die landläufige Auffaffung, die wahrlich nicht
zum Mugen der Sache zwei Gebiete von einander jcheidet, welche ihrer
Natur nach im innigften Zuſammenhang ftehen.
Das große fociale Problem, welches gegenwärtig die Geifter auf:
regt und beunruhigt, hat eine recht ernſte pädagogische Seite. Und die
wichtigsten und einjchmeidenften Fragen der Pädagogik laſſen ſich hin-
wiederum fo wenig von ihrem focialen Untergrunde abtrennen, daß jeder
des Harbewußten focialpofitischen Zieles entbehrende Löſungsverſuch nur die
Verwirrung der Köpfe vermehrt, die Zerfeßung der Gejellfchaft beichleunigt.
Neben den wirthichaftlichen Gegenfägen, welche in ihren ferneren
Fortſchritten die modernen Kulturvölter in unzählige Proletarier und
wenige Millionäre fcheiden zu wollen fcheinen, ftehen die Gegenſätze der
Bildung, nicht minder ſchroff und unvermittelt, mit einem gleichen Zuge
der Vererblichkeit — neben dem Heinen Häuffein derjenigen, welche mit
1*
1
der ganzen geiſtigen Errungenſchaft alter und neuer Zeit ausgerüſtet ſind,
die große Maſſe der geiſtig Armen, deren Anſchauungen theilweis um
Jahrzehnte, ſelbſt Jahrhunderte hinter der Gegenwart zurückliegen.
Als Angehörige deſſelben Staates, als Bürger derſelben Gemeinde, als
Glieder deſſelben Wirthſchaftsorganismus erſtreben ſie daſſelbe Ziel; aber
ſie gehen neben einander und verſtehen einander nicht; ſie legen mit
gleichem Recht den Stimmzettel in die Wahlurne, und ihre Gedanken—
freife, ihre politischen Begriffe, ihre Anjchauungen von Recht und Sitte
berühren fih faum an der Peripherie. Man täufche ſich ja nicht: die
Bildungsgegenfäge find in einer ftarfen Strömung begriffen, fich zu er:
weitern und zu verjchärfen; fie tragen in ihrer lebhaften Wechſelwirkung
und theilweiſen Durchkreuzung mit den Einkommens- und Vermögens:
gegenfägen ein neues Moment der Gefahr in fi. Won ihrer Aus:
gleihung hängt es zunächſt ab, ob auf dem friedlichen Wege ftetiger
Entwidlung ſich die jocialen Reformen vollziehen werden, deren Noth—
wendigfeit ein Tag dem andern zuruft, eine Stunde der andern, oder
ob kulturmordende Erjchütterungen eintreten jollen, welche die nationale
Entwidlung und die mühjam errungenen TFreiheitsrechte aufs ernftlichite
gefährden.
Auf dem Gebiete der Volkserziehung fehlt es an der Durchführung
flarer Rechtsgrundſätze mehr als auf irgend einem andern. Die ver-
Ichrobenen Zuftände, welche aus jahrzehntelanger Vernadhläffigung und
in Folge unbegreiflicher focialpolitifcher Kurzfichtigkeit fich erzeugt Haben,
erjcheinen den Meiſten al3 das Normale, Naturgemäße. Mag die Un-
vernunft des Bejtehenden noch jo verderblich zu Tage treten, für die
Mehrzahl Liegt ſchon ein Rechtfertigungsgrund darin, daß es beiteht.
Freilich man hat „Interefje* für Bildungsfragen, tönende Phrajen und
eine ungeitige Art von fentimentalem Pathos fpielen nirgends eine
größere Rolle, ald wo unfere Berufspolitifer oder die Wäter der Stäbdte
auf die Schule zu fprechen kommen. Und erft die Prefie! Was wußte
und weiß fie nicht Alles die langen Jahre her zu erzählen von Fort:
bildungsjhulen, Bildungsvereinen, Wanderlehrern, der Realſchulfrage, der
Freiwilligenberechtigung, der Schulaufficht, der Simultan- und Kon-
feſſionsſchule — fie Magt auch wohl einmal über den chroniſchen Volks—
— v —
ſchullehrermangel, die niederen Lehrergehalte; aber ob in unſeren Schulen
das dem Volke Nothwendige gelernt wird, ob dieſelben in der eines
Kulturſtaates würdigen Verfaſſung ſich befinden, das fragt fie nicht.
Für patriotiiche Feſte und ähnliche Gelegenheiten wird der „Schul-
meifter von Sadowa“, „das Volk der Denker“ und Aehnliches aus dem
redaktionellen Phraſenkaſten hervorgeframt; man regiftrirt dicht daneben
unter der Rubrik „Rohheitsitatiftit” jeden Exceß der Straßenjugend oder
der arbeitenden Klafje; man berichtet mit Humanem Behagen von der
gejegneten Wirffamfeit des neugegründeten Thierjchugvereind; aber man
weiß nicht? davon, daß jährlich viele Zaufende von Kindern in Das
praftiiche Leben und den Kampf ums Dafein Hinausgeftoßen werden,
deren geiftige Ausbildung oder vielmehr Nichtausbildung ein Hohn ift
auf unjere jo viel gerühmte Kultur, auf die Liberalen Grundjäge unjeres
Staat3- und Rechtslebens.
Wenn im Folgenden der Verſuch gemacht iſt, eine Trage des
praftiichen Gewerbelebens in ihrem Zuſammenhang mit der allgemeinen
Bildungsfrage zu behandeln, jo erwartet der Verfaſſer, daß der konkrete
Hintergrund, vor den er feinen Gegenftand ftellen konnte, diejen in der
richtigen Beleuchtung zeigen und ihn jelbjt vor Mißverſtändniſſen und
Mifdeutungen fügen wird. Im Uebrigen muß der Verſuch fich jelbit
rechtfertigen. Daß er nicht möglich war, ohne weitverbreitete und vielen
vielleicht Tieb gewordene Vorurtheile anzutaften, ohne manche mit devotem
Eifer errichtete Altäre umzuſtürzen und den fie umgebenden Weihrauch-
duft zu zerjtreuen, kann der DVerfaffer nur aus dem einen Grunde
beflagen, daß er außer Stande ift, die angeregten Fragen an dieſer
Stelle zu erfchöpfen. Jedenfalls hat überall das Beſtreben vorgewaltet,
die realen Verhältniſſe unter den Füßen zu behalten und aus einer un—
befangenen Betrachtung derſelben die Grundgedanken für die gegenwärtig
in Fluß befindlichen Reformbeſtrebungen zu gewinnen.
Die nachſtehenden Ausführungen verdanken einem Vortrage ihre
Entſtehung, welchen der Verfaſſer im December vorigen Jahres im kauf—
männischen Verein zu Frankfurt a. M. gehalten hat. Kurz vor Boll-
endung des Druds fanden die Verhandlungen des preußiichen Ab—
geordnetenhaufes über den Wehrenpfennig’ichen Antrag betreff3 des
— vi —
gewerblichen Unterrichtsweſens Statt. Sie boten keinerlei Anlaß zur
Aenderung der vorgetragenen Anſichten, wohl aber ſtärkten fie die Ueber-
zeugung des Verfaſſers, daß bei der allgemeinen Verwirrung unflarer
Tagesmeinungen hier endlich einmal deutlich Farbe befannt werden muß.
Es jteht jonft, troß des alljeitig Fundgegebenen guten Willens, zu fürchten,
daß man auch ferner über allgemeine Redensarten und Fchwächliche
Erperimente nicht hinauskommen wird. Wenn die Herren Bolfsver-
treter ich ſelbſt mit eittem: non liquet und den Gewerbeſtand mit
einem WBechjel auf die lange Sicht des Unterrichtögefees getröftet haben,
jo iſt das ficher eine Anwendung des jetzt jo beliebten dilatorifchen
Verfahrens am unredhten Orte. Wenn man in Deutjchland warten
will, bis fich Theoretiler und Praktiker, Zeitungsfchreiber und Dugend-
politifer iiber eine Frage geeinigt haben, bei der irgend erhebliche egoiſtiſche
Snterefjen in Mitleidenschaft kommen, jo kann man wohl bis ans Ende
der Tage warten. Wollen wir zögern, big uns das Ausland nod
weiter hinter fich zurüdgelaffen hat und die Ausficht, daſſelbe einzuholen,
in immer größere Ferne gerückt ift? Mit Recht fagt ein namhafter
Induftrieller aus dem Reichslande, Herr Engel-Dollfus in Mülhauſen:
Lessentiel est que l’on ne recule devant aueun des probl&mes
si diffieiles, qui s’offrent dans l’existence industrielle. Les &luder,
c’est s’exposer presqu’a coup sur, & les retrouver plus tard, sous
une autre forme, aggraves et presqu’insolubles.
Frankfurt a/M., im Februar 1377.
Schon mit dem erſten Beginne der großen Kriſis, aus welcher unſere
wirthſchaftlichen Zuſtände ſich feit drei Jahren vergeblich emporzuarbeiten
ſuchen, hat man ängſtlich nach den Urſachen des Stillſtandes, der Noth, des
Rüdgangs auf dem Gebiete der Induſtrie geforſcht; man hat ein wahres
vollswirthſchaftliches Sündenregifter aufgeftelt und bald den Staat, bald
das Kapital, bald die Fabrikanten, bald wieder die arbeitende Klaſſe mit
Vorwürfen überſchüttet. Der Minifter wie der Handbwerkslehrling, der
ipefalirende Börfenmann wie der ftrifende Yabrikarbeiter, der Bropucent wie
ver Konfument, der Milliardenfhwindel, die moderne Gewerbegejeggebung,
die Tarifverhältniffe unferer Eifenbahnen, der Mangel an billigen Wafler:
ſtraßen, die freihändleriſchen Zolleinrihtungen, die Laften des Militarismus,
der große Krieg, die Unreellität der Yabrifanten, die Gründungen auf Aktien,
die Unbotmäßigfeit und Zügellofigkeit der Arbeiter, die hoben Löhne, die
Beihränfung der Kinderarbeit, die Socialdemofratie, felbft das „Luther-
thum“ und der Kulturfampf wurden für das hereinbredhende Elend, je nad)
Etimmung und Gelegenheit, nad Intereffe und Parteiftandpunft verantwort:
ih gemadıt.
Eine unbefangene Prüfung al’ diefer guten und ſchlechten Grüude und
Ausreden für das einmal nicht abzuleugnende Uebel wäre ein verbienftliches
Unternehmen. Sie würde in legter Linie auf die Erkeuntniß führen, daß
dem jähen Ausbrechen biefer periopifhen Krankheit Organifationsfehler unferes
geſammten Wirthſchaftsſyſtems zu Grunde liegen, an deren Fortdauer mit
Iofalen Mitteln, wie Kontraktbruchsgeſetzen, Schupzöllen u. dgl nichts
geänbert wird. Schon die eine Thatſache, daß bie gegenwärtige Geſchäfté—
frife alle Imbuftrieftaaten, den einen mehr den anderen weniger, ergriffen
bat, und jenfeits des Oceans mindeftend ebenjo verderblich wüthet als in
Europa, muß den Einfihtigen abhalten, nad) lofal wirkenden, auf die deutſche
Induftrie beſchränkten Urfahen zu ſuchen, die man dagegen für die befonderen
Leiden befonderer Induftriezweige, wie der Eifen- und Zertilbrande, immer:
bin zugeftehen Tann.
Die Reuleaur’fhen Briefe aus Philadelphia find noch in lebhafter Er-
innerung; ber Kampf der Meinungen, welchen biefelben heroorriefen, beginnt
fib nun allmählich abzufühlen. Man hat hier vielfach den Geſichtspunlt,
von welchem der Berliner Gelehrte ausgegangen war, mit den Gedanken
über die allgemeinen Urfahen der Krifis vermifcht und den legteren eine
neue hinzugefügt: die Schledhtigfeit der deutfhen Arbeits-
leiftungen. Dean ſprach wierer, wie vor einem Jahre der preußiſche
Sinanzminifter in einer allbelannten Keichstagsrede, von der „Konkurrenz-
unfähigfeit* ver deutſchen Induſtrie, nur daß man diesmal nidht die
2
hohen Arbeitslöhne, jondern die geringe Qualität ver Arbeitsprodufte ver—
antwortlih machte. Wahr ift allerdings, daß Profeffor Reuleaur' Urtheil
von einer Vergleihung der deutfhen Arbeitsleiftungen mit denen bes Aus—
landes feinen Ausgang nahm; wahr ift au, daß derſelbe den handels—
politifhen Gefihtspunft der Konkurrenz auf dem MWeltmarkte in fpäteren
Priefen berührte; aber unrichtig ift es, daß die Qualität unferer Arbeits-
feiftungen mit der gegenwärtigen Krifis in wefentlihem Zufammenhange
ſteht. Oder will man wirklich im Ernte behaupten, daß feit dem beutjch-
franzöfifhen Kriege die Umfiht unferer Fabrikanten, die Tüchtigfeit unferer
Urbeiter in dem Mafe abgenommen habe, daß wir nicht mehr leiften fünnen,
was vorher möglich war?
Damit fell die Berechtigung der am unferer Induſtrie geübten Kritif
nicht im mindeften angezweifelt werben. Das deutfche Gewerbe fteht in ver
That und ftand aud ſchon früher in der Qualität feiner Leiftungen viel-
fach hinter dem Auslante zurüd. Biele unjerer Induftrie-Erzeugnifle laſſen
Solivität der Technik, Korrektheit der Arbeit, künſtleriſche Geſchmacksbe—
thätigung vermiffen und verfperren ſich natürlich fo nicht nur den Weltmarkt,
ſondern veranlafien felbft einen beträchtlichen Theil der kauffräftigften ein-
beimifhen Konfumenten, ihren Bedarf aus dem Auslande zu deden. Aber
diefe Thatſache war lange vor ver Weltausftellung in Philadelphia befannt
und bewegte die Gemüther aller derjenigen, welche unfere gewerblichen Ver—
bhältniffe mit unbefangenen und wohlmollenden Augen betraditeten. Nur
wurden die gutgemeinten Rathſchläge und Mahnungen von ven betbeiligten
Kreifen überhört; es mußte erft die Nothlage der legten Jahre kommen ;
e8 mußte vor aller Welt erft die ſchwärende Wunte entblößt werben, bis
man fi mit unwilligem Murren zur Selbftihau und Selbftprüfung und
nah vielem Sperren und Würgen auch zu einem ſtark verflaufulirten
Sündenbekenntniß entſchloß.
Die Wichtigkeit der Frage auch für die geſammte nichtgewerbetreibende
Bevölkerung iſt einleuchtend, und fo ernſtlich oben ihre urſächliche Ber—
bindung mit der gegenwärtigen Geſchäftsſtockung zurückgewieſen wurde, ſo
wenig kann geleugnet werben, daß der Erfolg unſerer Induſtrie im Wett—
bewerb auf dem Weltmarfte wejentlih von der Güte ihrer Leiftungen ab»
hängt. Ja noh mehr: wir haben jelbft einträgliche Pofttionen bier aus
feinem anderen Grunde an das Ausland abtreten müſſen, als weil wir in
der Qualität der Produkte zurüdftanden. Aber es muß nachdrücklich vor
zu ausfchließliher Betonung dieſes Gefichtspunftes gewarnt werben; wir
laufen fonft Gefahr, daß unfere Gewerbepolitif, wie fie das feither ſchon
zu thun pflegte, die erportfähige, fapitalreihe Großinduſtrie unterftiitt,
während bie Fleineren, vorwiegend für einheimifche Konfumenten arbeitenden
Geſchäfte in ihrer alten Verkümmerung fortvegetiren.
Man Hat fih im Anuſchluß an die Reuleaur'ſchen Briefe vielfah mit
ten Urſachen des betrübenden Zurüdbleibens unferer Induftrie-Erzeugniffe
hinter den Zeitanforbungen beihäftigt; man hat neben vielem Unvernünftigen
aud manches Treffende gefagt; Vorſchläge zur Bellerung find ebenfalls
gemacht — verſchieden freilih je nah der Individualität ihrer Urheber.
Wenn ih auf dem folgenden Blättern mid an derſelben Aufgabe mit
befonderer Rückſicht auf die gewerbliche Bildungsfrage verfuche, fo made ich
3
keinen Anfpruh auf Vollſtändigkeit und Allffeitigkeit. Es kommt mir viel
mehr auf die leitenden Gefihtspunfte und bie großen wirtbfchaftlich-focialen
Zufammenhänge an; die Einzelerfheinungen führt das Leben leicht jedem
jelbft vor Augen.
Die Mängel in der Beſchaffenheit der deutfhen Inbuftrieprodufte treten
hauptſächlich auf drei einander berührenden Gebieten zu Tage:
1. In denjenigen ©ewerbözweigen, weldhe die Anwendung der
Majhine und der Arbeitstheilung in größerem Umfange geftatten,
wo demnach die billige Maffenproduftion Regel ift;
2. bei denjenigen Gewerben, welde eine höhere wifjenfhaftlid-
tehnijhe Ausbildung zur Vorausfegung haben und bei denen eine
der wiffenfchaftlihen ähnliche Forſchungsthätigkeit mit langwierigen oder
foftipieligen Verſuchen ohne NRüdfiht auf unmittelbaren Gewinn die Be
dingung des Erfolges ift;
3. bei denjenigen Arbeitsleiftungen, für welche bie handwerfsmäßige
Routine nicht ausreiht, teren Blüthe vielmehr von individuellem
Geſchmack und fünfllerifher Durchbildung, von glüdlider
Erfindung und Kombination abhängt.
Mas den erften Punkt betrifft, jo ift e8 derjenige, bei welchem befonvers
das Reuleaur'ſche „billig und ſchlecht“ feine Öeltung findet. Es ift darüber
in jüngfter Zeit fo mandherlei beigebraht worben*), daß es Raumver—
ihwendung wäre, wenn ich midy bier mit Erläuterungen aufhalten wollte.
Auch für die zweite Kategorie bedarf es deren kaum. Wenn bier der Ber-
faffer der „theoretifhen Kinematif” Mangel an Fortfchritt im rein Tech—
niihen gerügt bat, fo wird man ihm die Berechtigung dieſes Urtheils wohl
nicht im Ernte abftreiten, follte man aud für andere Gebiete feine Kom:
petenz nicht gelten lafjen wollen. Bereits im Anfange des vorigen Jahres
überreichte der preußiſche Handelsminifter dem Abgeorbnetenhaufe eine Denk:
ihrift, im welcher über die großen Schwierigkeiten bei Beſchaffung Leiftungs-
fühiger Inftrumente für den Gebraud der geopätifhen, aftronomifhen und
überhaupt der naturwiſſenſchaftlichen Staatsinftitute bitter geflagt und bie
Gewährung einer ftaatlihen Subventien für die bei der Berliner Gewerbe-
afademie beftehende mechanische Werkftätte dringend empfohlen wurde. Der
Aufſchwung anderweitiger gewerblicher Thätigkeit, fo wurde geltend gemacht,
babe „Mittel und Perſonen der Präcifionsmehanit mehr und mehr zu
Gunften folder verwandten Zweige ber Gewerbsthätigkeit entzogen, bei
denen eine Maſſenproduktion in größerem Umfange durhführbar ift, denen
ſomit die höhere Ausnugung der Arbeitsfräfte andauernd höhere Löhne zu
geben geſtattete“ Bedenkt man, daß ber hier berührte Zweig der mecha-
nifhen Technik nicht bios den ausgedehnten Kreis der naturmifienfchaft-
lihen Mefjungs- und Beobadhtungsapparate umfaßt, fondern aud bie dem
*) Bol. bie allerdings nicht ganz unparteiifhe Sammlung von Streitichriften:
F. Reuleaur und bie beutfche Andujtrie auf der Weltausftelung in Pbilabelpbia.
Leipzig. G. Hirth. 1876. Ferner Franz Wirth im „Arbeitgeber“. November und
December 1876. Januar 1877.
4
Schulunterrihte zur Grundlage dienenden Inftrumente und Modelle und
alle diejenigen mechaniſchen Mittel, welche der Mafchineninduftrie, dem Ber-
kehrsweſen, vielen fanitären und anderen Wohlfahrts-Anftalten zur Förderung
und Sicherheit dienen, ja, daß von der fchöpferiihen Thätigkeit der wiſſen—
fhaftlich-praftifhen Mechanik der Fortſchritt unferer gefammten materiellen
Kultur abhängt, fo wird man die Bedeutung jenes officiellen Geftänpniffes
und das Eingreifen bes Staates, der ja fonft der Wirthichaftspolitif des
laisser faire, laisser aller huldigt, richtig zu würdigen willen. *)
Die dritte unter den angeführten Gewerbeflafien umfaßt alles das,
was man gegenwärtig als Kunftinduftrie zu bezeichnen pflegt. Die
Beitrebungen auf dieſem Gebiete find in den legten Jahren befanntlich ſehr
lebhaft geweſen; ihr Beginn fält mit det Londoner Ausftelung von 1851
zufammen. Damals erfannte nicht blos Deutfhland, fondern auch die
übrigen Inbuftrieftaaten Europas, daß ihre Leiftungen nad der Seite des
Geſchmacks von Frankreich weit übertroffen wurden, und fie ſuchten mit
rührigem Eifer das nachzuthun, was Franfreih durch eine Generationen
alte Uebung und im gefiherten Befige eines beftinnmten Marktes entfalten
fonnte. Es wurden Mufeen, Zeitfhriften und Schulen für das Kunſtge—
werbe gegründet; mit gewaltigem Sammeleifer wurde auf bie Weberrefte
früherer Blüthe des Kunſthandwerks Jagd gemacht; die „Werfe der Väter“
wurden zur ftehenden Redensart. Voran ging England mit der Gründung
des South Kensington Museum, an das fih bald eine Gentrallehranftalt
anſchloß mit einem über das ganze Yand verbreiteten Ne von Zeichenfhulen.
Es folgte 1864 Defterreih mit Gründung des Mufeums für Kunft um
Induſtrie. In Deutfhland war man ſchon vorher auf privatem Wege
vorangegangen. in großes Vervienft hat z. B. der Münchener Kunſtge—
werbeverein, der im legten Jahre fein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum
feierte. Hier und da mifchten fi national-deutſche Gedanken mit ven ge
werbliden Nüdfihten. Man fprah von dem „wälſchen Tand“, ven man
abıhun müſſe, und meinte damit die Parifer Kunft- und Lurusinduftrie.
Auch die Etaatsbehörden nahmen fih der Sadhe an. In Bayern, Wiürttem-
berg und Baben wurden Kunftgewerbefchulen gegründet, Mufter- und Anti-
quitätenfammlungen angelegt; 1867 folgte Preußen mit dem Gewerbemufeum
in Berlin, dem fi) bald Sachſen anjhloß.**) Die rafh einander ablöfenden
Weltausftellungen boten immer wieder neuen Anlaß zur Vergleihung, neue
*) Weber das „Ideenſtehlen“ im beutfchen Mafchinenbau vgl. Schlidenien im ber
Hirtb’fhen Sammlung ©. 15. Im Allgemeinen f. Heine: Reuleaur und bie deutſche
Induſtrie. Berlin, Seybel, 1876. Schon Reuleaur erhebt in ber Vorrebe zu jeiner
„Kinematif“ Tebhafte Klagen über ben Mangel an jelbftändigen Erfindungen im
Maſchinenfach und tadelt auf das fhärfite, daß in Deutſchland bie Sucht, fremde Er:
findungen in verfchlechternder Meife nachzuahmen, um fi greife. Hierdurch fommen
jelbfiverftändlich die deutſchen Fabrifate in Mißkredit; und da der Fabrifant, welder
unredlich genug ift, fit ohne Entſchädigung fremde Erfindungen anzucignen, feine
Luft Bat, Felo Neues zu erfinnen, fo verliert die Induſtrie alles Originelle und finft
auf die niebrigite Stufe herab. er
**) Ausfuͤhrliches über bdiefe Beitrebungen bei H. Schwabe, Die Organifation
von Kunftgewerbejhulen in Verbindung mit dem beutfchen Gew.-Muſ. Berlin, 1868.
Ze fe DO. Motbes, Deutſches Kunftgewerbe und der Münchener Kongreß. Leipztg,
. ©. 18.
5
Nahrung für jene Beſtrebungen. England und Oeſterreich machten raſche
Fortſchritte und nöthigten Frankreich zu den äußerſten Anftrengungen, um
feinen Vorrang aufreht zu erhalten.*) Im Italien und der Schweiz, in
Belgien und Holland regt man fi; ſelbſt Amerika errichtet Eoloffale Kunft-
gewerbemufeen in Boften, New-York und Philavelphia.**) In Deutfch-
land ift die Bewegung in den legten Jahren ganz bejonders lebhaft geweſen;
es genügt bier an die Ausftellungen kunftgewerblicher Erzeugniffe in Dresden,
dranffurt a. M., Köln uud Münden zu erinnern. Am legten Orte war
Öelegenheit geboten, das bis jest Erreichte prüfend zu überſchauen und an
ben Leiftungen der Vergangenheit die Früchte ber modernen Beſtrebungen
zu meffen. Man bat vielfach behauptet, daß die deutſche Inbuftrie in
Münden die Scharte von Philadelphia zum Theil ausgewetzt babe. Ich
babe bei eigener Anjhauung der Ausftellung des Olaspalaftes diefe Be-
bauptung nur in fehr geringem Maße beftätigt gefunden. Biel Künftliches
gab’8 allerdings da zu ſchauen, aber aud viel Ungeſundes. Die ganze Be-
wegung wurzelt zu wenig in ber breiten Maſſe der Gewerbe; fie ift von
außen her in einzelne Gebiete derſelben hineingetragen ; fie wird von feinem
kräftigen volfsthümlihen Impuls getrieben, wie ihn das 16. Jahrhundert
zeigt, fondern riecht ftarf nad der Stubierlampe der Kunftgelehrten; fie
arbeitet nicht für die Bedürfniſſe des täglichen Gebrauchs, fie zielt nicht auf
die Gefhmadsveredelung des Unbemittelten, fondern fpefulirt auf dem liber-
reizten Luxus, wie ihn fchmell erworbener Reichthum erzeugt, ober doch auf
ven Äußeren Schein, ber die auslänvifhen Käufer Ioden fol. Wir find
auf diefem Gebiete noch weit entfernt von der gefunden Einfiht der Fran-
zofen, aus welcher unlängft in Paris die Preisaufgabe hervorging, eine
möglichft gefchmadvolle, aber zugleih auch billige und zwedentfprechende Aus-
ftattung einer Arbeiterwohnung herzuftellen. Die Bewegung hat ihre Be-
rehtigung, nur fange man unten an und hüte fi vor Abwegen. ***)
*) Mothes a. a. O. Bol. Blod, Statistique de la France I, 258 fi.
*) Reuleaux, Briefe aus Philadelphia. Braunfchweig, 1877. ©. d8f. —
Ueber Defterreih, vgl. Eitelberger von Ebelberg, Die dfterreihiihe Kunit:
Inbuftrie und bie heutige Weltlage. Wien, 1871. Derf.: Ueber Zeihenunterriht und
funftgewerblihe Fachſchulen. Wien, 1876. A. Ilg, Die kunftgewerbliden Fachſchulen
bes f. f. Handeldminifteriums. Wien, 1876. Endlich die Weliausſtellungs-Feſtſchrift:
Tas diterreichifhe Mufeum und bie Kunftgewerbejchule. 1873.
***) Ich kann mir nicht verfagen, bier einen Paſſus aus ben „reichsfreundlichen
Betrachtungen“ ber „Augsb. Allgem, Ztg.” über die Münchener Ausftelung wieberzu:
eben: „Dean täufche fich doch nicht“, jchreibt fie, „das Gewerbe hat mit dem erzielten
olg berzlih wenig zu thun. Wenn man bie Ausftellung forgfältig durchmuſterte,
wenn man bie Gegenjtände nicht blos anfchaute, fondern effektiv prüfte — was freilich
mit ziemlicher Weisheit verhütet wurbe, weil man bei 15 Mark Strafe nichts an-
rühren burfte — jo zeigte fihb im Münchener Glaspalaft ganz biefelbe Erſcheinung,
wie fie Reuleaur in Philadelphia fand. Auch im Münchener Slaspalaft ift nur bass
jenige, was in bie Sphäre der „Kunſt“ reichte, jhön und lobenswerth gewejen; nur
die Leiftungen biefer Art waren es, welchen ber große Erfolg zu danken iſt — das
vortreffliche Arrangement gehört ja auch ſchon zu ben „Kunſtleiſtungen“ — aber jobald
das eigentliche Gewerbe in Frage fam, und bei allem, was in biefe Kategorie gehörte,
da zeigte ſich vollftändig diejelbe Mifere, unter welcher jeder von uns im alltäglichen
Leben fjeufjt und welcher Reuleaur mur beredte Worte geliehen bat. Es war mir bies
nicht umerwartet; ich habe im Jahre 1854 in der damaligen Ausitellung ein Paar
Stiefel gefeben, auf deren Sohlen mit künſtleriſcher Vollendung bie Landſchaft Tegern-
—
Die Urſachen des Rückgangs der gewerblichen Arbeits—
geſchicklichkeit ſind theils ſolche, welche aus der Umgeſtaltung des ge—
ſammten Gewerbebetriebs entſprangen und ſich mehr oder weniger auch in
anderen Induſtrieländern geltend machten, theils ſolche, welche unſeren
deutſchen Verhältniſſen eigenthümlich ſind. Ich glaube dieſelben in drei
kurzen Sätzen zuſammenfaſſen zu können: |
1. Die modernen Formen bes Gewerbebetrieb haben. das perſön—
lihe Band, welches ehemals Probucenten und Konjumenten ver-
fmüpfte, entweder gänzlich zerriffen oder doch bedeutend gelodert und
damit das Gefühl der Berantmwortlidhfeit für die einzelnen
Ürbeitsleiftungen ſtark erjchüttert. E
2. Der früheren Gewerbe» Berfaffung lag die Ivee des Berufes zu
Grunde, der zum allgemeinen Beften betrieben wird, die freie
Konkurrenz maht die produktive Thätigleit zum Geſchäfte, das
in erfter Linie ven perſönlichen Vortheil verfolgt.
3. Die gegenwärtige Gewerbe-Organifation macht eine allfeitige, Den
Zeitanforderungen genügende Ausbildung des Arbeiters auf
dem berfümmlihen Wege in den meiften Fällen unmöglid.
Wenn man uns fragt, was wohl die größte Beränderung in ver
modernen gewerblichen Produktion hervorgebradht habe, fo wird jeter rafch
mit der Antwort zur Hand fein: die Machine, die Arbeitttheilung, Das
Fabrikweſen. Diefe Worte erſchöpfen aber die Sache nicht. Es handelt fich
viel weniger um die Propuftion, die Hervorbringung der Güter, als um
die Bertheilung derfelben zum Verbrauch. Denn die Konjumtion oder ihr
früberes Stadium, der Bedarf, ift urfprünglic ver bewegende Yaltor jedes
gewerblihen Schaffens ; die Mittel, den Bedarf aus engeren ober weiteren
Kreifen zu befriedigen, die Leichtigkeit und Raſchheit des Verkehrs, des
Transports, beftimmen die Art der Produktion und des Vertriebs, wie über-
haupt die ganze Geftaltung der Wirthſchaft. Im Altertum bewegte fih ver
wirthſchaftliche Kreislauf von der Probuftion bis zur Konjumtion in der
Hauptfahe felbftändig innerhalb des einzelnen Hausweiens: ed war bie
fogenannte geſchloſſene Hauswirthſchaft; nur wenige Turusgegenftände wurben
für den Export gearbeitet. Im Mittelalter bildete jede Stabt — und bie
Städte waren faft ausfchlieglih ter Sig ber gewerbliden Arbeit — einen
in ſich abgejhloffenen Wirthſchaftsorganismus, der felbftändig, je nach feinen
Bedürfniſſen, die Produktion, die Vertheilung und den Berbraud der Güter
regelte. Das Gewerbe wurde nur im Slleinen betrieben; bie Arbeit harte
eine Tünftliche und ftraffe Organifation in den Zünften, deren Hauptziwed
die angemefjene Befriedigung des ftädtifhen Bedarfs auf Grund einer Aus-
gleihung der Imtereffen von Probucenten und Konfumenten war. Diejes
Berhältniß erhielt fih nur fo lange, als die Verkehrsmittel ſchlecht und
jee durch farbige Holaftiften aufgetragen war — aber um ein Schuhwerk zu befommen,
bas waſſerdicht ift oder einen eleganten Fuß macht, muß man nah England, Baris
oder Wien gehen. Man fand auf ber Ausitellung imitirte gothiſche Schlöffer, Renaifjances
Thorbänder und Aehnliches, die einem Künftler das Herz laden machten; aber in
unferen Häufern geht fein Schloß und fchließt fein Fenſter. Wir haben Buchbinder,
deren Pebereinbände mit denen bes Mittelalters recht wohl rivalifiren können; aber
feiner bindet unfere Bücher fo, baß fie beim Auffchlagen liegen bleiben,“
7
unfiher waren; mit dem Auflommen bequemerer Straßen, größerer Sicherheit,
mit der Erfindung der Eifenbahnen, des Zelegraphen, mit der Raſchheit,
Biligkeit und Zuverläffigkeit des Perfonen-, Güter: und Briefverkehrs dehnte
fih das Abfaggebiet für die Gewerbe aus, wurde es für die Konjumenten
leichter, ihre Berürfniffe zu vermanichfaltigen und über die zunächſt ſtehende
lolale Produktion hinauszugreifen. Heute ift das einzelne Hausweſen wie
die ftädtifche und dörflihe Gemeinde oder allgemeiner: jeder Produktions»
und Konfumtionsort ein unfelbftändiges Glied in dem Organismus der
Gefammtheit aller Einzelwirthihaften; die Umwälzung in den Verfehröner-
bältniffen Hat alle Schranken zwiſchen ven einzelnen Produktionsorten nieber-
geriffen ; die Wirthſchaft nähert fih der Weltwirtbihaft und dies um fo
mehr, je mehr man die Feſſeln der alten Gewerbeverfaffung abgeftreift hat,
je mehr Gewerbe- und Handelsfreiheit herrihen. Diefe Verhältniſſe und
mit ihnen Hand in Hand eine Keihe wichtiger technifcher Erfindungen haben
erft der werbenden Kraft des Kapitald und der Ausvehnung der Großpro—
duftion den Boden geebnet, auf dem ihre Macht zur Entfaltung fommen konnte,
Der Handwerker der alten Zeit arbeitete für einen ziemlich eng be-
grenzten Iofalen Abfatkreis, für feine Kundſchaft, wie man feine fländigen
Abnehmer fehr bezeichnend zufammenfaßte. Der heutige Probucent, einerlei
ob Groß» oder Slleingewerbetreibender, arbeitet für den Weltmarkt; fein
Abnehmerkreis kennt keine Schranken, und wenn er aud auſcheinend Lokal
begrenzt bleibt, jo find es doch immer die allgemeinen Marktverhältniffe,
welhe auf Art und Preis feiner Produkte den maßgebenven Einfluß üben.
Es ift für die früheren Bertriebsverhältmiffe charafteriftifch, daß fie zwiſchen
dem Handwerker und feinen ftändigen Abnehmern ein feites, von ethifchen
Fäden durchzogenes Band fchufen. ° Der Producent fannte feine Kunden
(daher die Benennung) und ihre befonvderen Wünfhe und Bedürfniſſe; er
beftrebte fi, denſelben nad Kräften zu genügen; er fühlte eine gewiſſe
verfönliche Berantwortlichkeit für die Schönheit, Solidität und Dauerhaftigkeit
feiner Arbeiten. Heute find biefe perfönlichen Beziehungen zum guten Theile
weggefallen. Der Konjument dedt feinen Bedarf, wo er es am billigften
und zwedentjprechenpften kann, und ver Producent fieht fi gemöthigt, feine
Produktion nicht für das individuelle Bedürfniß eines bekannten Runden»
kreifes, fondern nad der allgemeinen Nahfrage des Weltmarktes, nad ber
Mode, einzurichten; es verliert das Bewußtſein der perfönlihen Haftbarkeit
für feine Leiftungen.
Um diefen allgemeinen Sag zu verdeutlichen, genügt ein kurzer Ueber:
bit über die dermaligen Hauptformen, in welchen ſich der Gewerbebetrieb
bewegt. Man kann deren fünf unterfheiden: 1) die reine Fabrikinduſtrie,
2) Manufaktur oder .Hausinduftrie, 3) Gewerbe, in welden die Arbeits-
theilung eine bebeutende Ausdehnung gewonnen hat, 4) Magazingewerbe und
5) Haudwerke und überhaupt ſolche, welche unmittelbar für den Konfumenten
arbeiten. *)
Für die Fabrifinduftrie und ben Grofbetrieb bedarf das
Geſagte keines Beweifes. Der kaufmännische Vertrieb bildet hier ein Gebiet
*) Bol. für das Einzelne G. Schmoller, Zur Gefdichte der deutfhen Kein:
gewerbe im 19. Jahrh. Halle, 1870, ©. 159—254. Ueber die Ausdehnung ber
S
für fih; der Producent tritt mit dem Konfumenten nur ausnahmsmweife
in birefte Verbindung; der lokale Verſchleiß kommt vielfah gar nicht in
Betracht. Es gehören hierher in erfter Linie Inpnftriezweige, welde won
jeher ein großes Kapital erfordert haben, ſodann ſolche, welche erft mit ven
technischen Erfindungen der Neuzeit entftanden find und erft im dritter Linie
Gewerbegebiete, auf welden eine Verdrängung des Handwerks Statt ge-
funden hat. Im erfter Linie find bier zu nennen Bergbau und Hütten:
weſen, der größte Theil der Metallverarbeitung, das ganze private Berfehrs-
weien, ſodann die Mufchineninduftrie, bie chemrifchen Fabriken, Tapeten=,
Porzellan- und Kautfhufinduftrie, endlich Webereien und Spinnereien, Zucker⸗,
Stärfe:, Farben- und Theerbereitung, die Fabrikation von Kunftwein, Bier,
Spiritus, Steingut, Glas, Papier, Kurz: und Galanteriewaaren, ein Theil
der Leder- und Holzinduftrie, Dampfmühlen, Drudereien, das ſtädtiſche
Baugewerbe ꝛc.
Die Hausinduftrie befteht befonders in denjenigen Gewerben, in
welchen die Herftellung des Produkts fih durch mehr oder weniger einfache
und leicht erlernbare Verrichtungen bewerkftelligen läßt, die ohne große
Muslelkraft auch von Frauen und Kindern, oft neben ber Landwirthſchaft,
ausgellbt werben können. Der Arbeiter oder die Arbeiterin bat mit dem
Konjumenten des Produkts gar nichts zu thun; ein faufmännifcher Unter-
nehmer beforgt den Bertrieb ; oft fteht zwifchen ihm und dem Arbeiter noch
ein Kommiffionär oder Faktor. Die Mifbräuhe und die befonteren Ein-
flüffe dieſes Verhältniffes auf die Güte der Arbeiten bedürfen keiner Er-
Örterung. Jeder benft fofort an die alte Weife der Spinnerei und Weberei,
an alle Arten von Weißzeugnäherei, Striden, Stiden, Spigenflöppeln, Filet-
arbeiten, Strob-, Draht: und Korbflehterei, an viele Arten der Heinen
Ho» und Metallinpuftrie, Giürtler- und Beinarbeiten, Nagelfhmieberet,
Uhrenfabrifation, Spielmaaren u. vgl.
Eine große Reihe von Gewerben bat ſich mit Nüdfiht auf die wirth-
ſchaftlichen Vortheile der Arbeitstheilung in mehr oder weniger zahlreiche
Specialbranden gefhieven. Denke man z. B. an die Tiſchlerei. Neben
den beiden älteren Hauptarten der Bau- und Möbelfchreineret finden fich
eine Menge Specialfäher. Es gibt Meifter, die nur Tiſche, nur Stühle,
Buffets, Sophageftelle, Fenfter, Thüren, Parketböden, Schnigarbeiten, Four nire,
Särge, Kiſten ꝛc. fabriciren. Der Drechsler beſchränkt fih auf Pfeifen,
Gigarrenfpigen, Stöde, Thürbrüder, Kegel, Spielmaaren u. dgl. Das Ge-
werbe des Bürſtenmachers zerfällt in zehn bis zwölf Specialbranden won
größerem oder geringerem Umfang. Aehnliches Tiefe fih fir die Buch»
binderei, die Taſchenuhrenfabrikation, die Blehtwaareninduftrie nachweiſen. Ein
vollftändiges Yager von Nürnberger Kleinwaaren umfaßt 1400 Nummern ;
ein großer Theil verfelben entfteht unter den Händen von Specialiften.
Selbft viele Zweige des Kunftgewerbes unterliegen der Arbeitstheilung und
Specialifirung mehr, als mande Handwerfsenthufiaften glauben, die durch
Hebuug dieſes Gebietes den gewerblihen Mittelftand erhalten zu fünnen
fünf Betriebsgebiete bürften erft bie — der mit der Ey Beitegägfung ver:
bundenen Gewerbezählung genaueren Auffchluß geben. — Bol. ch Roſcher, Ans
ſichten der ———— tr, IV: Ueber Induſtrie im Großen ** Kleinen, ©. 118 ff.
9
meinen *). — Sehr viele diefer Geſchäfte find ohne großes Kapital zu be
treiben ; fie arbeiten fir einen weiteren Markt, oft fitr große Exporthäufer,
bei denen fih die einzelnen Artikel zu Kollektionen fammeln; manche halten
daneben einen offenen Laden, in dem fie Paſſendes und Unpaſſendes mit
ihren Fabrikaten vereinigen — immer ift die Beziehung zum Konfumenten
nur eine fehr Lofe. .
Albekannt ift das Magazinfyftem Daffelbe entipricht dem Be-
dürfniffe und den Gewohnheiten des kaufenden Publitums und ift nad
vielen Richtungen hin eine wirthſchaftliche Nothwendigkeit. Der Unter:
nehmer ift entweder blos Kapitalift oder aud Techniker; bald hält er eine
eigene Werkftätte, bald gibt er den Stoff an Meine Meifter aus, bald kauft
er von den legteren das fertige Probuft; im jevem Falle ift ver kauf—
männifhe Bertrieb ihm die Hauptfahe; der Producent kommt mit bem
Konfumenten nirgends in Berührung. Als Beifpiele genügen die Magazine
von Kleidern, Schuhmwaaren, fertigem Weißzeug, Möbel, Leber, Papeterie.
Ein Mißbrauch des Syftems find die Wanderlager, die ftehend gewordenen
„Ansverfäufe”: die Rolle, welche bier ver Producent fpielt, braucht nicht
ausgemalt zu werben. **)
Was bleibt und num no übrig für das eigentlihe Handwerk alten
Stils, bei dem der Meifter gleichtüchtig in allen Einzelheiten feines Ge-
werbes, für den unmittelbaren Berbraud feiner Kunden arbeiter? Offenbar
berzlih wenig. Da find zunächſt folhe Handwerker, weldye lediglich im
Dienfte größerer Geſchäfte ftehen. Die meiften Fabriken haben ihre Schloffer-
und Reparaturwerfftätte; ein Buchbinder ift ausſchließlich für eine Verlags-
iirma, ein Küfer für eine Weinhanplung beihäftigt, ein Schreiner macht
nur Packkiſten für eine Fabrik. Daran fchließen fi die Reparaturgewerbe.
Da die früher genannten vier Arten des Gemwerbebetriebes fih nur aus-
nahmsweiſe mit der Reparatur ber von ihnen gefertigten Artikel abgeben,
je finden biefe lohmenden Erwerb. Unjere Uhr- und Büchſenmacher ver-
fertigen felten noch neue Uhren oder Schiegwaffen ; der Flickſchneider ift eine
befannte Figur ; vor furzem hat ſich dahier (in Frankfurt) fogar ein großes
Schuh » Reparatur = Gefhäft etablirt. Gewerbswiſſenſchaftliche Syſtematiker
haben früher wohl die Baugewerbe als für ewige Zeiten vor. dem fabrif-
mäßigen Betrieb gefichert bezeichnet. Wo ift heute ver „Bauherr“ des alten
*) Bol. Reuleaur, Briefe ©. 53 über die Theilung der Arbeit in der franzöſiſchen
Keramif.
**) Die Frage bat von biefer Seite noch kürzlich (11. Dechr. v. 3.) den Reichstag
beſchäftigt. Es wurde von dem Abg. Adermann u. a. geltend gemadht: „Die
Randerlager führen leichte Waare, deren Anfertigung ſchon bie Arbeiter demoralifire
und jebenfall® ber beutfchen Induſtrie jhädlich fei, die allen Grund babe, fih von dem
leider zu viel befolgten Grundfage „billig nnd jchlecht” frei zu machen. Die Wander:
lager loden gewöhnlich durch große Reflamen das Publikum an, auf bejien Täuſchung
es abgefehen ſei; während ber ſeßhafte Kaufmann zur Wahrung feines guten Rufes
unb feines Kredits von berartigen Manipulationen durchaus fih fern halten müſſe.
68 liege Grund genug vor, dem ehrenhaften Kaufmannsitand in diefer Beziehung durch
die Gejepgebung zu Hülfe zu kommen.“ Gin interefjantes franzöſiſches Urtheil über
biefe in anderen Ländern von der Öffentlichen Meinung und der gejhäftlichen Tradition
gleih ſcharf verurtbeilten Praftifen j. in db, Reforme &conomique vom 15. Februar
1876, S. 3967.
Zimmermannsfprucdes in dem Zeitalter ver „Spekulationsbauten”, der „Bau-=
fabriten*? Dem Sleinbetrieb find faft nur die Gewerbe bes lofalen An-
bringens und Reinigens — Glaſer, Ofenſetzer, Tapezierer, Scornftein-
feger —, die perfönlihen Dienftleiftungen des Barbiers, Frifeurs u. dgl, Die
Nahrungsmittelgewerbe — Bäder, Fleifher — gefiert, auf allen anderen
Gebieten machen die modernen, probuftiveren Formen reißende Fortſchritte.
Es bevarf faum eines bejonberen Hinweifes daranf, daß die fünf hier
gefhilderten Hauptformen des heutigen Gewerbeberriebes keineswegs durch
fharfe Orenzlinien von einander geſchieden find. Auf dem Lande, in in-
buftriearmen Gegenden herrſcht vielfach noch die alte Art ver Gütererzeugung
vor; and in manden Städten gibt ed noch genug Handwerker alten Schlages
und mande Bevölferungsihichten haben eine Borliebe für viefelben. Aber
fie find zufehends im Abnehmen begriffen oder verfümmern unter der durch
unfere Berkehröverhältnifie möglihen auswärtigen Konkurrenz. Die Arbeits-
theilung, die Anwendung der Majchine, felbft das Magazinſyſtem bieten zu
viele wirtbichaftliche Vortheile; unter der herrſchenden Gewerbefreiheit haben
die nieberen, weniger zeitgemäßen Formen ihnen gegenüber einen ſchweren
Stand. Bei vielen Arten der Hausinduftrie und des jpecialifirten Gewerbes
ift e8 nur eine Frage der Zeit und des Kapitals, wann die Fabrikräume
fie umfchließen follen. Offenbar ift alfo die Tendenz vorhanden, den Riß
zwiſchen Producenten und Konfumenten immer weiter und allgemeiner zu
machen, ven faufmännifchen Vertrieb überall von der Fabrikation zu trennen,
während auf dem fommterciellen Gebiet die entgegengejegte Strömung herrſcht,
die vielen Zwifchengliever zu entfernen und jever Krämer direkt vom Import-
baufe in Rotterdam oder Hamburg, vom Fabrilanten in yon oder Man—
hefter beziehen möchte. Mit der Entfernung vom Konfumenten wird wicht
mehr veffen beſonderes Bedürfniß, fondern die auf dem großen Markte be-
liebte Form und Ausftattung wie Preis der Waaren aud für ven Heinen
Gemwerbetreibenven das Beſtimmende. Dazu fehlt ihm jedes Mittel, auf den
Markt einen Einfluß auszuüben; bier herrfcht der große Fabrikant, ber
faufmännifche Unternehmer, der es in der Hand hat, den in feiner Klientel
befindlichen Heinen Specialiften, den Hausarbeiter über bie wahre Sachlage
zu täufchen, ihn immer tiefer herabzudrücken und immer abhängiger zu
machen, dabei aber den ganzen Gewinn der Produktion für fi einzufteden.
So richtig es ift, daß das Aufkommen jener faufmännifhen Mittelsperfonen
einen Fortſchritt in der Arbeitstheilung, eine weitere Bequemlichkeit für vie
Abnehmer gefhaffen hat, fo falſch ift es, daß ihre Thätigkeit für bie Billig-
keit des Produftes, die Güte der Arbeit im Ganzen förderlich geweſen ift.
Es wurde fodann weiter hervorgehoben, daß zum Schaden unferer
Urbeitsleiftungen überall im Gewerbe das reine Gefhäftsprincip
berrfchend zu werben beginnt. Der größeren Deutlichleit halber geftatte
man auch bier einen DVergleih mit dem mittelalterlihen Zunftwefen. Die
Zünfte vertraten im ihrer beften Zeit die Idee des Berufes. Die zahl-
reihen Zunftorpnungen, welche uns aus mittelalterlihen Städten erhalten
find, wurden erft fchriftlich niedergelegt, als die Zünfte felbft bereits ihre
—
volle Ausbildung erlangt hatten; ſie geben alſo nur die thatſächlich vor—
handenen Zuſtände wieder. Ueberall tritt uns nun aus ihnen die An—
ſchauung entgegen, daß die Zünfte oder Handwerksämter beſtehen „um des
gemeinen Nutzens und Beſtens willen“, daß ihre höchſte Pflicht die Förde—
rung des Gemeinwohls mittels der gewerblichen Produltion if. Dafür
gewährt die Stadt den Meiſtern ihren Lebensunterhalt in dem ausſchließ—
lichen Recht auf den ftäbtifhen Markt. Innerhalb der Zunft war fomit
jeder einzelne Meifter eine Urt von befolvetem ftäptifchen Beamten; das
Handwerf wurde zum Berufe, der manichfahe rechtliche und moralifche
Pflihten auferlegte und in welchem der Einzelne feine ganze höhere Lebens—
aufgabe bejchlofjen fand.
Die Zimfte entarteten fpäter in engherziger Beſchränkung der Gewerbe:
gerehtfjame und waren zulegt nur noch eine ftarre Form ohne gefunden
Yebensinhalt. Das, was früher ein Amt gewefen war zum allgemeinen
Beiten, wurde zum wirthſchaftlichen Monopol im Dienfte des privaten Egois-
mus, das mit eiferner Zähigfeit feftgehalten und zum Schaden ver fonfu- -
mirenden Mehrheit wie ber unfelbftändigen Arbeiter ausgebeutet wurde,
Die neuere Zeit mit ihren Fortfhritten im Verkehrs- und Mafchinenweien
bat zulegt auch diefe Schranken eingeriffen; fie hat an ihre Stelle vie
Öewerbefreiheit gejegt, welche allein dem Princip der politifchen Freiheit
und rechtlichen Gleichheit der Einzelnen entjprad. Das Grundprincip der
Gewerbefreiheit ift die freie Konkurrenz, d. h. innerhalb ver allge
mein rechtlichen Schranken darf jede Privatwirthihaft ihr Selbftinterejje bei
Feſtſetzung der Preife für Waaren, Dienftleiftungen, Zinfen, Miethe ꝛc. fomeit
geltend madhen, als es ihr beliebt. Die einzige wirthichaftlide Schranke
gibt die Wechſelwirkung zwiſchen Angebot und Nachfrage. Man kann den
wohltgätigen Einfluß, welden vie freie Konkurrenz auf Rafhheit und Spar-
jamfeit der Produktion, auf Vervolllommnung der tehnifchen Arbeitsmethoden
(Auwendung neuer Mafhinen, Stoffe :c.) gehabt bat, fehr hoch anſchlagen;
man darf aber daneben nicht vergeffen, daß fie die Stellung bes Gewerbe:
treibenden innerhalb der Geſellſchaft in einer für die höheren Zwecke des
wirthſchaftlichen Lebens nachtheiligen Weife verändert hat. Nicht nur, daß
fie in ver Abſicht, einen ehrlihen Kampf der Kräfte zu ermöglichen, von
dem Irrthum ausging, daß alle wirtbfchaftlichen Perfonen unter gleihen Be—
dingungen auf dem Kampfplag erfhienen, während die wirtbfchaftlihe Ein-
heit vielmehr eine Zufammenfegung von Perfon und Kapital ift; fie hat
auch äußerlich den Gewerbebetrieb der Berufseigenfhaft entkleivet, fte hat
den Producenten zum Gefhäftsmann gemadt, der in feinem ganzen Thun
und Laffen nur das Selbftintereffe, den perſönlichen Bortheil, den Geld-
erwerb verfolgte. Es ift ja durchaus nit ausgefhloffen, daß der einzelne
Gewerbetreibende für fi höhere Gefihspunfte fefthält, daß er auch tes
Konfumenten geventt, der feine Erzeugniffe gebrauchen will; moralifhe Grund—
füge, wirtbichaftliche Klugheit können ihm das gebieten; aber in ber That
ift er nur durch die Verhältniſſe des Marktes beftimmt. Und leider bilven
diefe für die Mehrzahl ven einzigen Maßſtab; das Selbſtintereſſe wird zum
ftrafbaren Eigennuge; die gewilfenlojen Elemente werden nur immer nod)
ſchlechier und gar leicht wird im gejhäftlihen Dängen das Strafgefegbuch
der einzige Moralkodex. Nichts illuftrirt dieſes Syftem deutliher als die
Büder, Die gewerblide Bilbungäfrage. 2
12
Beliebtheit einer Produftionsform, wie es die der inbuftriellen Aktienunter-
nehmungen ift, bei welchen feine perfönlihe Berantwortlichkeit des Probu-
centen binter dem Produkt fteht, ver Gelderwerb allein das treibende Motiv
ift, der wirthihaftlihe Nuten eines Unternehmens nad der Höhe der Divi-
denden bemefjen wird.
Die freie Konfurrenz gab den Boden, auf welchem fid) die Macht ver
Großinduſtrie gleih verberblih für dem gewerbetreibenden Mittelftand wie
für die Güte der Arbeitserzeugniffe entfalten follte. Der maſchinelle Grof-
betrieb hat fih in Deutfchland ziemlich fpät entwidelt. Er fand auf dem
fremden und theilweife auch auf dem einheimifhen Markte bereits eine
fapitalfräftige, leiftungsfähige ausländifche Konkurrenz vor. Es boten fih
ihm, wie Reuleaur fehr richtig bemerkt hat, zwei Mittel, dieſe Konkurrenz
zu beftehen, entweder Herabjegung des Preifes oder Steigerung der Dualität
bei Fefthaltung des beftehenden Taufchwerthes. Kaufmänniſch führen be
kanntlich beide Wege zum Ziele; aber es ift auch ebenfo Kar, daß, inbuftriell
und volkswirthſchaftlich betrachtet, der legte allein auf die Dauer möglich ift.
Die deutfhen Imbuftrielen haben leiver die einfahften Regeln wirtbicaft-
licher Klugheit und Borausfiht außer Augen gelaſſen; fie haben vie Kon:
furrenz durch die Billigfeit des Preifes aufgenommen, bie mit der Zeit die
Berfchlehterung des Produkts herbeiführen mußte Sie haben den Grund:
fa der Preisfonfurrenz zu einem Grundzug unferer gejammten Produktion
und eines großen Theiles unferes Waaren -» Umfages gemacht. Man wird
bier einwenden: das faufende Publikum kennt kein anderes Friterium als
das des Preifes; e8 hat in feiner breiten Maffe noch nicht den Standpunkt
wirtbichaftliher Bildung erflommen, auf dem es Grundfag wird, immer nur
das Befte zu kaufen, weil dieſes unter allen Umftänden auch das billigite
if. Man muß darauf antworten: Nicht das Publitum, die Nachfrage, iſt
e8, welche gegenwärtig auf die Qualität der Arbeitderzeugniffe den maß—
gebenden Einfluß ausübt, fondern pas Angebot, die Produktion, welche durd-
gehends nicht für den unmittelbaren Konfumenten, ven lokalen Verſchleiß,
fondern auf Borrath, fir den Weltmarkt arbeitet. Und ift es denn ie
richtig, daß das Publifum immer nur ver Billigkeit nachgeht? Die Tud-
fabrifanten mögen ſich z. B. bei unferen Schneidern erkundigen, warum wir
englifhen Stoff verlangen, wenn wir einen feinen Anzug brauchen. Die
Großproduktion ift in dem Streben nad) raſchem Gewinn fehr bald im ver
Verſchlechterung der Produkte an der Grenze des Möglihen angelangt.
Die Maſchine geftattete, Stoffe zu verwenden, welche früher für die Hand-
arbeit zu Schlecht befunden wurden und ihnen trogvdem ein gefülliges Aus:
feben zu geben. Man nahm Baumwolle ftatt ver Wolle, Werg ftatt des
Tlahfes; man lernte die Baumwolle fo verarbeiten, daß fie ein der Wolke
ähnliches Ausfehen erhielt. Im manden Induftrien nimmt jegt die „Imie
tation” einen größeren Raum ein, als die Driginalproduftion ; die Menge
der Surrogate ift unüberfehbar. In Frankreich ziehen die Fabrikanten mit
großen Koften Kiünftler und Mufterzeihner für ihre Ateliers heran; in
Deutſchland hat man Jahrzehnte lang die fremden Mufter nachgeahmt oder
durch engliihe und franzöfiihe Etiketten den Schund empfehlen zu müſſen
geglaubt. Der irifche Leinenfabrifant macht jedes Stüd Shirting !/, ober
!/, Yard größer als die Nominallänge; in Deutfchland kommen eine Menge
13
von Waaren (3. B. Wollengarn, Tabal, Stearinfergen, Band, Chofolade)
padetweife in den Handel, welche nicht das angegebene Gewicht, die vor—
ausgejegte Länge haben. Seit langem klagt man in Handelstammerberichten,
gewerblihen Zeitfhriften, ſelbſt in der politiſchen Preffe über derartige ber _
trägeriihe Manipulationen; unfere fremblänvifhen Abnehmer bejchweren
fih immer wieder darüber, daß beutiche Fabrifanten ihre Lieferungd- und
Zahlungsfriften nicht einhalten, die Waaren unter der Muſterqualität liefern ;
die Reuleaug - Literatur hat eine Reihe neuer Einzelheiten zu Tage ge
fördert *); weitere Worte über den Gegenftand zu verlieren hieße Eulen
nah Athen tragen.
Wenn fhon die Großinduftrie die Rüdficht auf die Güte des Produfts
außer Augen ſetzte, fo mußte dies auf das Kleingewerbe in verberblidhiter
Beife zurüdwirten. Es producirte unter fchwierigeren Umftänden, mit
größeren Koften und follte doch gleich billig verlaufen. Die Folgen liegen
vor aller Bliden: die Möbel unferes Zimmers, der Inhalt unferes Bücher-
ihranfes, die Geräthe der Küche belehren uns täglich darüber: allerwärts
lüverlihe und unfolive Arbeit, gejhmadlofe Formen, unpraktiſche Ausführung,
Laſſe man die Heinfte Reparatur beforgen, beftelle man gar ein Stüd für
beionderen Zweck und nad eigener Erfindung — wie felten wirb der kleine
Meifter das Wert nad Abficht und Beftimmung pafjend liefern, wie oft wird
ihm dazu jeder Maßſtab bei Feitiegung der Preife abgehen! Wie manches Mal
wird er Die unter heiligen Betheuerungen geſetzte Lieferungsfrift nicht ein-
halten! Ueberall ift mit der Zeit eine lodere Gejhäftsmoral an die Stelle
des Berufögeiftes getreten; man freut fi) wahrhaft, wenn man nod einen
Handwerker alten Schlags findet, der an dem Werke feiner Hände freude
empfindet, der fich der perfünlihen Verantwortlichkeit für feine Leiftungen
bemußt geblieben if. Wundere man ſich darüber nicht in einer Zeit, in
welher das Wort geſprochen werden konnte: „Man erwirkt die Millionen
nit, ohne mit dem Aermel and Zuchthaus zu ftreifen“, in einer Zeit, in
welher Strousbergifhe Gefhäftsmarimen öffentlich vertheitigt werden konnten,
wo das ganze wirthichaftlice Leben zu einem rohen Intereſſenkampfe ge—
worden ift, in dem jedes Mittel bebagt, wenn nur das blanfe Gold vabei
in den Kaften kommt.
Es ift feine Sprache ſtark genug, um dieſes Treiben gebührend zu
kennzeichnen und zu verurtheilen. Mit melden Verdächtigungen und felbit
Denunciationen bat man Reuleaur verfolgt, als er die eiternde Wunde
unferes wirthfchaftlihen Lebens berührte! Man bat ihm vorgeworfen, er
fördere durch feine Kritik den Vortheil unferer frempländifhen Konkurrenten,
vernichte den Ruf unferer Inpuftrie im Auslande. Als ob da noch viel zu
verlieren gewejen wäre! Hören wir eine franzöfiihe Stimme, die fi etwa
ein halbes Jahr vor ven Philavelphia-Briefen darüber vernehmen ließ:
„Die deutſche Induftrie trägt keinerlei Bedenken, mit den mittelmäßigften
oder elendeſten Erzeugniffen ven Markt zu überſchwemmen; fie ſucht ſich zu
bereihern durch Schwindel und Betrug; bie deutfchen Arbeiter entwürdigen
niht nur dadurch ihre Geſchicklichkeit und ihr gemwerblicdes Talent, indem
*) Bol, bie u, je: Sammlung; außerdem Wirth im „Arbeitgeber“ Nr. 1096 ff.
Mothes a. a, O.,
2%»
14
fie fih zu all den berechneten Nadläffigkeiten der Fabrikation erniebrigen,
fondern fie verfommen und verderben auch fittlich durch das Schaufpiel eines
Urbeitgebers, der fih an dem Ertrag der techniſchen Fälfhungen und
Täuſchungen bereichert, melde er ihnen zumuthet.* *)
Dem Manne hat ficher feine freundliche Gefinnung bie Feder geführt;
aber darf es uns gleichgültig fein, daß unfere Feinde auch nur mit einem
Schein von Berechtigung fo von uns fprechen können ?
Bei weiten am wichtigften ift die britte Urfache, welde für ven Rüd—
gang der gewerblichen Arbeitsleiftungen verantwortlich gemadt werben muß:
die Shwierigfeit und in vielen Fällen die Unmöglichkeit,
auf dem herkömmlichen Wege eine den BZeitanforderungen
entfprehende Ausbildung der Arbeiter zu erzielen.
Diefer Sat wird vorausfichtlih wiel angefochten werden. Daß unjere
gewerblichen Arbeiter durchgängig in Hinficht ihrer Arbeitsgefchidlichkeit viel
zu wünfchen übrig laffen, ift eine Thatjache, die von den Einfihrtigen unter
ihnen nicht beftritten, von Fabrikanten und Handwerkern viel beffagt wird
— nur daß beide Theile, anftatt den beftehenvden gewerblichen Verhältniſſen
Rechnung zu tragen, fi lediglich im gegenfeitigen perfönlihen Vorwürfen
ergehen. Im äuferften Falle deuten die Einen noch mit einem in phrafen-
haftes Dunkel gehüllten Hinweis auf die neue Gewerbe» Orbnung, die an-
deren auf bie Ausbeutung durch das Kapital hin.
Allerdings hat die durch die moderne Entwidlung erzeugte Veränderung
in der Stellung der gewerblihen Hülfsarbeiter, der Gefellen und Lehrlinge
zu ihren Arbeitgebern einen minveftens ebenfo großen Einfluß auf die ge-
werbliche Arbeitsgefhidlichkeit ausgeht, als die Umwandlung ver Stellung
unferer Handwerker und Fabrikanten zu ihren Abnehmern und Konfumenten
— nur daß man die Urfahe in dem Wechjel äußerer Formen fuchen zu
müſſen glaubt, während das innere Wefen der Sache fi verändert hat.
In der alten Gewerbeverfaffung ftanden die Gefellen und Lehrlinge
zu dem zünftigen Meifter in einem patriarhalen Dienftverhältniffe. Sie
hießen im Mittelalter durchgehends „Knechte“; fie harten überhaupt nur
ein Recht auf Arbeit, infofern fie die Meifter am ihrem „Amte“ Theil
nehmen liefen und waren unter allgemeiner Ueberwahung ber Zunft in
ihren einzelnen Leiftungen dem befonderen Meifter verpflichtet, deſſen Arbeits:
gehülfen fie waren. Ste wohnten in feinem Haufe, aßen an feinem Tiſche,
waren ber allgemeinen Hausorbnung unterworfen; der Meifter übte eine
Art väterliher Gewalt über fie aus, hielt fie zu Fleiß und Ehrbarbeit, zu
Gehorfam und Sparfamfeit an. Aber der unfelbftändige Arbeiter hatte
auch ein feftes Tebensziel vor Augen; er wurde nach beftimmten Lehr- und
Manderjahren jelbft Meifter und fügte fi deßhalb im die Unterordnung
und Beihränfung feiner perfünlichen Freiheit. Diefes Berhältnig dauerte,
fo lange das Gewerbe wenig ausgebildet war, änderte ſich aber, fobald durch
die Beſchränkung der Zahl der Meifterftellen fi ein befonderer Gefellenftand
*) Charles Boysset in ber Reforme &conomique Bd. II, ©. 397 (15. Febr. 1876).
15
herausbildete, der nie Ausficht hatte, zur Selbftändigfeit zu gelangen und
feine Lage um fo bitterer empfand, je mehr die Arbeitsbedingungen einfeitig
von ben Meifterlorporationen feftgefegt wurden. Auch das Mittelalter kennt
feine Striles, jene Kämpfe um die günftigften Arbeitsbevingungen, bie ba-
mals aus vielen Gründen für die Arbeitgeber und bie Stäbte furchtbarer
waren, als heutzutage. Es folgte im Auſchluß am bier nicht zu erörternde
kulturgeichichtlihe Ummälzungen eine entjeglihe Berfümmerung des beutjchen
Handwerks, wo die Zahl der Meifter viel zu groß war, bie ber Gefellen
auf ein Minimum herabſank, beſchränkte Selbſtſucht, Fleinlicher Formelkram,
ein verzopfter Kaftengeift fi breit machten. Als die Großinduſtrie das alte
Gebäude über den Haufen warf, verband fchon längft kein organifher Zu—
fanmenhang mehr bie beiden Theile. Die früher geſchilderten Verhältniſſe
fhufen bald Maſſen umjelbftändiger Arbeiter und Arbeiterinnen, welche zum
allergrößten Theile niemals Ausfiht anf gewerbliche Selbſtändigkeit haben.
Es entiprad nur einer Forderung der Gerechtigkeit, wenn mit Einführung
ber Gewerbefreiheit die Stellung diefer zahlreihen Bevölkerungsklaſſe gemäß
den allgemeinen Anfhauungen von bürgerlicher Freiheit beftimmt wurde,
und wenn hier etwas zu beflagen tft, fo ift es nur, daß dies in Deutſch—
land nicht ſchon früher geſchah. Die Beſchränkungen des perſönlichen Dienft-
verhältniffes fielen ; es trat ein vechtliches Vertragsverhältnig an bie Stelle,
das jedem tie höchftmögliche Berwerthung feiner Arbeitskraft fihern follte.
Damit wurde die perfönliche Freiheit des Arbeiters und bie rechtliche Gleich—
heit vom Urbeitgeber und Arbeitnehmer zur Orundlage ber Orbnung bes
Arbeitsverhältniſſes gemacht. Nach dem modernen Arbeitsrecht wird bie
Arbeit als eine Waare angejehen, bie ihr Befiger, der Arbeiter, je nad
Angebot und Nachfrage verwerthet. Der Arbeitnehmer fteht rechtlich zum
Arbeitgeber in Feiner anderen Beziehung als jever fonftige Waarenverfäufer
zum Waarenkäufer. Er giebt feine Waare Arbeitskraft auf beftinmte Zeit
ober für, beftimmte Einzelleiftungen und empfängt dafür den Preis in Ge—
Halt des Arbeitslohnes. So wenig ed num einem Kaufmanne einfällt, neben
der Einhaltung der feſtgeſetzten Lieferungs- oder Zahlungsbedingungen an
feinen Gejhäftsfreund noch Forderungen perfünlicher Ergebenheit und Unter-
wärfigfeit zu ftellen, ebenfo wenig hat der Arbeitgeber ein Recht, die alte
patriarchale Unterordnung neben der Arbeitöverpflihtung in Anfprucd zu
nehmen.
Daß dies trogbem nod vielfach geſchieht, daß die Arbeitgeber ſich im
Allgemeinen viel weniger den durd die Gewerbe-Orpnung geichaffenen Zu-
fänden anbequemen mögen, als die Arbeiter, ift jedem Kundigen offenbar.
Und daneben hat noch die Waare Arbeitskraft Eigenthiümlichfeiten, welche
ihren Berfäufer ſehr unvortheilhaft von dem Berfäufer jeder anderen Waare
unterfcheiden. Sie ift untrennbar von der menfhlihen Perfon; ihr Ber-
kauf beſchränkt diefe mach jeder Richtung; der Käufer ift vermöge feiner
wirthichaftlihen Ueberlegenheit im Stande, eine Herrfchaft über das gefanmte
phyfifche und geiftige Leben des Arbeiter auszuüben. Mit der Arbeitskraft
verkauft der Arbeiter ſich felbit und zwar zu einem Preife, der die gewohn-
heitsgemäßen Unterhaltstoften feiner felbft und feiner Familie nur felten
überfteigt, oft unter vdiefelben herabſinkt. Wenn die Arbeiter, von denen
jeder Einzelne auf dem Arbeitsmarfte die Bedingungen annehmen muß,
16
weldhe ihm bie wirtbfchaftlihe Ueberlegenheit der Unternehmer biktirt, fich
vereinigen, um beſſere Tohnbedingungen zu erzwingen, jo ift das ihr ein-
faches Recht. Und dieſes Recht, welches auf der freien Konkurrenz beruht,
ift wahrlich tiefer begründet, als dasjenige, nad welchem fi die Fleiſcher
und Bäder unferer Städte oder die amerifanifhen Betroleum-Fürften ver-
binden, um uns am unjeren nothwendigſten Eriftenzbebingungen durch
Steigerung der Preife zu verkürzen.
Ob dies ein focial wünfhenswerther Zuftand ift, das ift eine ganz
anvere Frage, die bier nit zur Beantwortung fteht. Aber das darf man
wohl fagen: wenn unſere Gewerbetreibenvden das fittliche Verhältniß des
Berufes, d. h. eines Erwerbes, mit dem zahlreiche rechtliche und moralijche
Pflichten verknüpft find, gegen das des Geſchäftes ausgetauſcht haben, das
nur des Gelverwerbes wegen betrieben wird — haben viefelben dann irgend
eine gegründete Beranlaffung, fich daritber zu beflagen, daß ihre Arbeiter
fih) auf dem Boden des reinen Lohnverhältnifies halten, daß ihre Arbeits-
thätigfeit nicht oder nur wenig von einer ethiſch-ſocialen Auffafiung durch—
drungen ift? Man hört jo oft Fabrifanten den Ürbeiter anflagen, „er
babe fein Interefie für das Geſchäft, er arbeite mit Unluft, er befige feinen
Ehrgeiz”. Aber derſelbe Fabrikant fhent fih nicht, ohne feine Arbeiter zu
fragen, eine ftrenge Fabrikordnung einzuführen mit bisciplinaren Strafbe-
ftimmungen, die zu dem Vergeben in feinem Verhältniß ftehen und ber
Chifane Thor und Thür öffnen; derjelbe Mann trägt fein Bedenken, in
einer Zeit der Gejchäftsftille vie Arbeiter zu Hunderten zu entlaſſen mit ver
Ausficht auf dauernde Arbeitslofigkeit, auf North und Elend von Frau und
Kind.*) Wo foll unter diefen Berhältnifien das Intereffe, die Yuft, der
Ehrgeiz berfommen? In Franfreih hat ſchon die große Revolution dem
demokratiſchen Gleihheitsgefühl infoweit Geltung verſchafft, daß im perſön—
lihen Berfehr zwiſchen Fabrikanten und Arbeiter die fociale und wirthſchaft—
lihe Abhängigkeit des legteren nicht zum Ausdruck gelangt; in. England
erzwingt bie weitverzweigte Organifation der Gewerkvereine den Arbeitern
Ahtung ihrer Rechte; in Deutſchland will man nod immer trog Schaven
und Berbruß die Yeußerlichkeiten des patriarchaliſchen Dienftherrnverbältnifies
nicht aufgeben.
Man kennt die Erfheinungen der Jahre 1871—73, der Zeit des fo-
genannten wirtbichaftlihen Aufſchwungs. Die Arbeiter haben auch ihrer:
ſeits die günftigen Konjunfturen benugt, um eine Erhöhung ihres Lohnes
zu erzielen, ver vielfah in feinem Berhältnig mehr zu ben Preiſen ver
nothwendigften Lebensbedürfniſſe ftand. **) Es ift zuzugeben, daß die Damals
*) Fälle brutalen Verfahrens bei Arbeiterentlafjungen oder Lohnherabſetzung find
in letter Zeit mehrfach fonftatirt worden. Während ich bies fchreibe, erhalte ich bie
Nachricht, daß ein benahbarter Fabrifant, ber ſich früher durch Betbeiligung feiner
Arbeiter am Reingewinn befannt gemadt bat, am Weihnachtsabend plöglich wegen
flauen Gejchäftsgangs 50 Arbeitern gekündigt bat; er bätte wohl einen pafjenderen
Zeitpunft wählen dürfen. sFeinbjeliges Benehmen ungebildeter und armer Menjchen
entbinbet doch wahrlich den „gebildeten“ Fabrikanten nicht von jeder menſchlichen Rüdficht.
**) Dap buch die Erhöhung bes Gelblohnes der Sachlohn der Arbeiter nicht
eitiegen ift, weiß jeder, ber ſich mit ben Verhältniſſen ernftlich befchäftigt hat. Vgl.
—8* i im Arbeiterfreund 1875, Heft 6.
17
ins Werf gefegten Arbeitseinftellungen mandmal die bei Löfung des
Arbeitöverhältniffes üblihen Formen nicht beobachtet haben, und das ohne-
bin bedrängte Kleingewerbe litt ſchwer darunter, daß auch hier die Gefellen
diefelben Anfprühe geltend madten, wie ihre Genoffen in ben Fabrifen.
Bald erhob ſich denn im deutſchen Reiche ein Auf der Entrüftung über bie
Unbotmäßigkeit und Zügellofigkeit der arbeitenden Klaſſe, über die Unluft
zur Arbeit, über den häufigen Brud des Arbeitsvertrag. Man verlangte
kriminelle Beftrafung bes letteren, die Wiedereinführung von Zeugniffen und
Arbeitsbüchern, ohne Skrupel darüber, daß man dem Geifte des modernen
Arbeitsrechtes, deffen Bortheile die Arbeitgeber wohl auszunugen verftanden,
daß man bem FFreizügigfeitsgefege damit ins Angefiht ſchlug, das Princip
der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gefete verlegte. Als dann auf
bie imbuftrielle Fluthperiode die nothwendige Ebbe, auf den Aufihwung ber
unvermeidlihe Rückſchlag folgte, da waren es wieder zunäcft die Arbeiter,
welhe man für das ganze Unglüd verantwortlihd machte. Die Steigerung
der Arbeitslöhne follte auch die Preife der Imduftriepropufte jo in die Höhe
getrieben haben, daß man mit dem Auslande nicht mehr fonfurriren könne.
Die focialsdemofratifhe Agitation follte den Arbeitern Arbeitsluft und Arbeits-
freubigfeit verborben, ihren Fleiß und ihre techniſche Fortbildung geſchädigt
baben ; quantitativ und qualitativ follten die Leiftungen zurüdgegangen fein.
Nun beträgt aber ber Arbeitslohn bei vielen Inbuftrieprobuften einen jo
geringen Theil der Herftellungsfoften, influirt alfo demgemäß jo wenig auf
vie Waarenpreife, daß man mit viel größerer Berechtigung wird fagen dürfen:
die Mißgriffe bei unferer Münzreform, die planlofen und theuren Induſtrie—
anlagen auf Aktien, die hohen Gründergewinne, die maflofen Dividenden
haben die beutihen Waaren vertbeuert. Im England zahlt man höhere
Löhne und ift doch fonkurrenzfähig; man arbeitet kürzere Zeit, und der
einzelne Arbeiter probucirt mehr. Ja ein namhafter englifcher Fabrikant,
Mundella, der die veutfchen Arbeiterverhältniffe aus feiner Berheiligung an
ſächſiſchen Fabriken fennt, behauptet geradezu, daß die lange Arbeitszeit ber
deutjchen Arbeiter eine Haupturfache ihrer geringen Yeiftung ift. Freilich
findet ein als Fabrikant und Erfinder gleich ausgezeichneter Techniker, Dr. W.
Siemens in Berlin, die Urfache ver feitherigen Produktivität der beutjchen
Induftrie in den beiden gleich wenig erfreulihen Umftänden der Nahahmung
fremder Erfindungen und der Billigkeit der Arbeitslöhne Aber verbienen
denn Indbuftrien, welche lediglich durch Ideendiebſtahl und durch die Niehrig-
feit förmlicher Hungerlöhne beftehen, die Eriftenzberechtigung ? Hervorragende
Praktiler wie Theoretifer find darin einftimmig, daß aus vielfahen Be—
obachtungen als regelmäßige Folge eines höheren Lohnes eine erhöhte Arbeits:
tüchtigfeit fi) ergibt und daß mit einer allgemeinen Verkürzung der Arbeits-
zeit (natürlich bis zu einer gewiffen Grenze) eine Steigerung der Leiftungen
Hand in Hand geht.*) Wie follte nun plöglich der deutſche Arbeiter, ver
im Auslante überall gefucht und geſchätzt und gut, gelohnt wird, feine ver-
wehrte Muße, feine erhöhten Mittel im Baterlande nur in wüfter Schwelgerei
#) Bgl. bie trefflichen Zujammenftellungen von Prof, L. Brentano: lleber
das PVerbältnig von Arbeitslohn und Arbeitszeit zur Arbeitsleiftung. Feipaig 1376,
und ben Nachtrag zu diefer Abhandlung in Holtzendorffs Jabrbud IV, S. 3995 -420.
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vergendet haben, anftatt feine phyſiſche und geiftige Lebenshaltung mittels
berfelben zu erhöhen und dadurch feine Arbeitstüchtigkeit zu fördern? Wahr-
ih, man gibt der deutſchen Gefelfhaft, ihren Schulen, dem Beijpiele ver
höheren Klaffen damit ein fehr demüthigendes Zeugniß; man fchreibt der
arbeitenden Bevölkerung einen Grad von Rohheit und Verkommenheit zu,
für den doch unfere Geiſtlichen und Lehrer, unfere Fabrikanten und Unter—
nehmer, unfere Behörden und Minifter die Verantwortung zu tragen hätten.
Tiefgreifende und dauernde fociale Mifverhältniffe verderben ven Reichen
wie den Geringen, den Befehlenden wie den Gehorchenden. Es hieße bie
Augen verfhließen, wenn man behaupten wollte, das durchgängige Verhältniß
zwifchen Arbeitgeber und Arbeitnehmer entfpreche auch nur den befheidenften
Anforderungen eines loyalen Bertragsverhältnifies; es hieße ungerecht fein,
went man ber Klaffe der Arbeitgeber allein die Schuld zuſchreiben wollte.
E8 geht ein für pas Gedeihen der Arbeit wie für bie gegenfeitige Stellung
ber an der Imbuftrie zufammenwirkenden Kräfte gleich verderblicher Zug des
Peifimismus durch die deutfche Arbeiterwelt; auch dem ebelvenfenden, für
das Wohl feiner Arbeiter ernftlich beforgten Fabrikanten begegnet vielfach
ftörrifche Feindfeligkeit und hartnädige Unzugänglichfeit für milde und ernfte
Worte. Die Berbitterung hat oft einen fo hohen Grad erreicht, daß in ben
MWerkftätten ein beftändiger Kriegszuftand herrſcht, und nicht felten läßt ber
Urbeiter den Arbeitgeber gerade dann am liebften im Stihe, wenn er ihn
am nöthigften brauht. Auch das darf nicht gelengnet werben, daß ber
Urbeiter nur zu oft vergift, daß er die Verpflichtungen, welche er als freier
Mann in freiem Bertrage, wenn aud zehnmal unter dem Zwang der Noth
und unglnftiger Lohnverhältniffe, eingegangen hat, auch bis zu Ende er-
füllen muß. Wo im Großgewerbe die Arbeiter von aller perſönlichen Be—
ziehbung mit dem Wrbeitgeber Losgelöft und ver nicht felten unbefhränften
Gewalt von weder Mugen noch humanen Werkmeiftern und VBorarbeitern
anheimgegeben find, find dieſe Erfcheinungen nur zu erflärlih; daß vie
felben auf das Handwerk fih mehr und mehr übertragen haben *), muß man
bedauern. Jedenfalls wirken fie auf die Gilte der Arbeitsleiftungen nicht
vortheilhaft ein und hindern den Arbeiter nicht felten auch, das zu benugen,
was ihm für feine technifche Weiterbildung geboten wird. Daß die Agitation
ber Socialdemofratie den Geift der Unzufrieveuheit und Berbitterung genährt
bat, wer dürfte das in Abrede fielen? Aber der Erfolg dieſer Agitation
follte doch auch eine dringende Mahnung fein, tn ernftlichen jocialen Reformen
die Mittel zur Abhilfe zu ſuchen; er follte ſchon längſt die Einfiht allge
mein gemacht haben, daß ber Arbeiter mit all feinen Fehlern, mit feiner
ganzen Verbitterung und dumpfen Unzufriedenheit ein Provuft von Zuftänden
*) Die betreffenben Zuftände find, wenn auch zu grell, gefhildert von Dannen=
berg, Das deutſche Handwerk und bie fociale Frage. Leipzig 1872. Namentlich irrt
berjelbe, wenn er bie Anfhauung vertritt, unter ber alten Gewerbeverfaffung babe
zwiſchen Meifter und Gefellen eitel Friede und Eintracht gewaltet. Man frage jeden
älteren Handwerksmeiſter; man blide, um ber mittelalterlihen Gefellenaufitände und
Auftreibungen gar nicht zu gebenfen, auf bie Hanbwerkszuftinde bes vorigen Jahr:
bunberts, wo bie Gejdichte ber Zunft, wie Böhmert, Beitr. zur Geſch. des Zunftw,,
©. 49, fagt, „eine Geſchichte von Gejellenaufftänden war“ — und man wird fi febr
hüten, von „neuen Innungen“ irgend Heil zu erwarten.
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ift, deren Schuld auf die ganze übrige Gefellihaft zurüdfält. Namentlich
muß der Behauptung widerfproden werben, daß der Socialismus einen
bireften Einfluß auf das Sinken der Arbeitstüchtigkeit geübt habe. Schäffle
» fhreibt mit Recht den deutſchen Socialiften einen hohen Grad wifjenfchaft-
lihen Ernftes zu; ihre Parteiblätter und Agitationsfchriften -ftellen an bas
Dentvermögen der Leſer bei weitem fehwerere Anforderungen, als die Zeitungen
und bie Movelektüre der übrigen Klafien ; es ift oft zugeftanden und beflagt
worden, daß gerade bie intelligenteren Arbeiter fih dem Gocialismus zu-
wenden: Menſchen, welche venfen, welche ſich eifrig geiftig befchäftigen —
fei e8 immerhin mit einer Wahn- und Irrlehre — können auch ihre in-
duftriellen Arbeiten nicht geift- und gebanfenlos vollziehen.*)
Faft zu lange fhon haben wir uns mit biefen wenig erquidlichen
Dingen befhäftigt, ohne diefelben erfhöpfen zu können. Wir wiffen, daß
wer bier gerecht fein will, nicht hoffen darf, einem won beiden Theilen zu
gefallen, gefchweige denn beiden zugleih. Im der folgenden mehr techniſchen
Betrachtung dürfen wir und kürzer faflen.
Wir haben früher ven Umfang der Großinduſtrie und der übrigen
modernen Gewerbeformen überblidt. Bei dem dabei zu Tage getretenen
Fortfhritte des Princips der Arbeitstheilung muß es überhaupt zweifelhaft
erfheinen, ob das Gewerbe an ſich noch im Stande ift, einen allfeitig techniſch
durchgebildeten Arbeiterftand zu erzielen. Ueberall fommt ed nur darauf an,
mit möglichft geringem Aufwand von Zeit und Arbeitskraft und fomit Ar-
beitsloyn eine möglihft hohe Produktivität zu erreihen. Die Maſchine
macht den Arbeiter zum willenlofen Werkzeug ; er muß zur beftimmten Zeit
biefelbe einförmige Berrichtung immer wieder vollziehen ; die Mafchine jchreibt
ihm Form und Art, der Stoff Güte und Dauerhaftigkeit feines Produktes
vor: der eignen Erfindungskraft und Geftaltungsgabe bleibt faft nichts über-
laſſen. Die Specialifirung im Kleingewerbe macht ihn auch bier einfeitig
und führt ihn dem Schablonenwerf zu: ein Schreiner, der nur Parketböden
arbeitet, wirb fein kunſtvolles Buffer, nicht einmal einen orbentlihen Tiſch
mahen können. Er verliert die Weberfiht über das gefammte Fach, die
Gewohnheit, feine Produktion dem Stile eined größeren Ganzen, ben
wechfelnden Bedürfniſſen anzupafjen. Der Schloffer der alten Zeit machte bie
funftvolle Drnamentif eines Thorbeſchlags mit derſelben Geſchicklichkeit, wie
etwa einen einfachen Schlüffel oder ein Ofenrohr. Aber damals beſaß auch
der Danbwerfer einen faft umnverlierbar ficheren Kundenkreis; die Arbeits-
löhne waren nad dem Herfommen beftimmt; man fonnte dem Arbeiter Zeit
laffen, unter den Augen und mit Beihülfe des Meifters fein Werf mit Ruhe
und mit Aufwendung aller ihm zu Gebote ftehenden Gefchidlichkeit auszu-
geftalten. Die Konkurrenz verführte damals nod nicht zur Verſchlechterung
*) Bol. Hirth’8 Sammlung: Reulenur und die deutſche Induſtrie auf ber
Weltausftellung, ©. 23f. unb ©. 37f. An letzter Stelle ift ein Artikel des „Volks⸗
ſtaat“ abgebrudt (vom 23. Juli 1876), wo ber Nachweis verſucht ift, daß bie in
Philadelphia befonders ausgezeichneten beutichen Firmen meiſt focialiftifche Arbeiter
beſchäftigen. Vgl. auch das interefjante Urtheil des Hanbelsfammerfefretaird Dr. Karl
Roſcher über die zur legten Meichsenquäte berangezogenen Socialdemofraten in ber
„Concordia“ 1875, Nr. 25.
20
des Stoffes, zum Abzwaden des Lohnes, zu eilfertiger und auf Täuſchung
berechneter Arbeit. Die heute vielfach übliche Altorbarbeit hat ohne Zweifel
ihre großen Vorzüge; aber fie nützt auch durch viel größere Anftrengung
, Nerven und Muskeln viel mehr ab, als die Arbeit im Taglohn und follte
deßhalb immer mit einer Verkürzung ber Arbeitözeit verbunden fein. That»
ſache ift, daß ihre Einführung nicht felten einer verftedten Lohnreduktion
gedient und bamit faft nothwendig ben Arbeiter zur höchſten Eile und zur
weniger forgfamen Ausführung des Einzelnen gezwungen hat.*) Ju feiner
gebrüdten und ausfichtslos abhängigen Stellung liegt nicht jener Zug ber
Ruhe und Behaglichkeit, der zum Gedeihen jeder qualificirten Arbeit, be—
fonders aber des Kunftgewerbes unerläßlich fcheint.
Der häufige Perſonenwechſel innerhalb der einzelnen MWerkftatt ift das
äußere Symptom jener vielfahen Mifftände im heutigen Arbeitsverhältnif,
deren Schuld ſich immerhin gleihmäßig auf die Schultern von Arbeitgebern
und Arbeitnehmern vertheilen mag, vie aber unferem Arbeiterftand eine Be—
weglichfeit und Unftätigfeit eingepflanzt haben, die für feine wirthihaftliche
und fociale Stellung, wie für die ruhige Ausbildung der Einzelnen und bie
Kontinuität der Werkftatt-Trabition gleich verberblih if. Diefe Erkenntniß
bricht fi immer mehr Bahn; die Fabrifanten beginnen auf Mittel zu
finnen, durch welche fie einen gefchulten Arbeiterftamm dauernd feſtzuhalten
vermögen. Die Anlage von Arbeitermohnungen, die Berfuhe der Betheili—
gung der Arbeiter am Neingewinn, die Kranken» und Imvalivenfafien,
mancherlei Anftalten zur billigen Beihaffung von Lebensmitteln u. dgl. find
dieſem Beftreben entjprungen; daß der Erfolg diefer Bemühungen ven Er—
wartungen in den wenigften Fällen entſprochen bat, liegt zum großen Theile
baran, daß die Arbeiter hinter der breiten Abfichtlichkeit diefer „Wohlfahrts-
einrichtungen“ nicht die Humanität, fonbern das Intereffe des Fabrifanten
witterten, welches darauf ausgehe, fie nur immer noch abhängiger zu madhen. **)
Es darf billig bezweifelt werben, ob es auf biefem Wege gelingen wird, auf
die Zufriedenheit und Arbeitstüchtigkeit der Fabrikarbeiter für die Dauer
wohlthätig einzumirfen ; dem Handwerk gehen folhe Mittel gänzlih ab.
In jüngfter Zeit hat man ſich mehr daran gewöhnt, für den Berfall
ber gewerblichen Arbeitsgefchidlichkeit nach einer nody tiefer liegenden Wurzel zu
*) Schon bas Mittelalter wußte, daß Stüdlöhnung zur PVerfchlehterung ber!
Nrbeitsprodufte führt: Schanz, Zur Gefdhichte ber deutſchen Gefellenverbände, S. 110.
Mifbräude bei ber Stüdlöhnung in England von ben Gewerfvereinen befämpft:
Brentano, Arbeitergilden ber Gegenwart Il, ©, 80 ff. Pal. Schmoller, Ueber
einige Grundfragen bes Rechts und der Bolfswirtbichaft, S. 145.
* Eine UWeberfiht dieſer Beitrebungen gibt F. Kalle, Mafregeln zum Bejten
ber Fabrikarbeiter beſprochen vom Standpunfte bed Arbeitgebers. Wiesbaden 1875 —
eine recht verftändige und mafvolle Schrift. Weitfchichtiges Material bieten bie
officiellen Publifationen: Die Einrichtungen für die Wohlfahrt der Arbeiter der größeren
gewerblihen Anlagen im preußifchen Staate. 3 Theile. Berlin 1876. — Die Ein⸗
richtungen zum Beſten der Arbeiter auf den Bergwerken Preußens. Berlin 1875.
2 Bde. — Frief, Die wirthſchaftliche Lage der Fabrikarbeiter in Schleſien und die zum
Beiten berjelben beftehenden Einrichtungen, Breslau 1876. Ohne dem Geifte, aus
21
ſuchen und glaubt diefe in den Zuſtänden bes heutigen Lehrlingsweſens
gefunden zu haben. Allerdings gibt es bier der Klagen nicht wenige und
diefelben find niemals lebhafter gewefen, als in den legten Jahren, nirgends
beweglicher als bei den Handwerksmeiſtern. Auhänger der verfchiebenften
wirthſchaftlichen Richtungen und Lebensftellungen, zünftleriih angehaudte
Eccialpolititer, wie für abfolute Gewerbefreiheit ſchwärmende Mandyefter-
männer, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer — die legteren felbft bis zu ber
ertremften Richtung — find einftimmig barin, daß hier etwas geichehen
müſſe, wenn nicht unfere Inbuftrie und damit die gefammte Bolfswohlfahrt
den größten Schaden leiden ſolle. Es ift zweifellos richtig, daß unſer ge
werbliches Lehrlingsweien an großen Uebelſtänden kranukt; aber es bebarf
eines nicht geringen Grades focialer Unbefangenheit, wenn man die wahren
Urfahen derjelben erkennen, die richtigen Mittel zur Abhilfe finden will.
Von vorn herein kaun man behaupten, daß der Intereijentenftandpunft ſich
nirgends unfrudhtbarer erwiefen bat, als gerade im dieſer Frage, bie doch
in erfter Linie die fociale Tüchrigfeit und die Erwerbsfähigfeit der arbeiten-
den Klaſſe und damit die ganze Geſellſchaft angeht.
Hören wir zuvörderft die Klagen der Urbeitgeber, die fi mit er-
müdender Einförmigfeit in allen Gewerben wiederholen *):
„Seit Auflöfung der alten Gewerbeverfaffung bat ſich nicht allein eine erftaun:
lihe Zunahme bes Bruchs von Lehrverträgen Seitens der Lehrlinge, fonbern auch eine
Abnahme der Luſt, etwas Tüchtiges zu erlernen, berausgeitelt.e Das Streben ber
Lehrlinge, ihrer Eltern und Vormünder it dem Uebergewicdht nach weniger auf bie
Grreibung einer guten Fahbildung als auf die Gewinnung eines möglichſt hoben
Lohnes bei möglichft geringer Leiſtung gerichtet. Die Lehrlinge haben aufgehört, wie
früber es war, es als Ehrenpunkt zu betrachten, bei bemfelben Meifter, bei bem fie
ihre Lehrzeit begonnen baben, diefelbe zu beendigen. Mit Gleichmuth geben fie einem
Wechſel entgegen. Namentlich legen fie auf die Form, unter ber die Loͤſung des Lehr:
lingeverbäftnifjes geichieht, Feinen Werth mehr. Mit diefer Schwächung bes Ehr—
gefübls gebt das Schwinden ber Luft, feine Schuldigfeit zu thun, Hand in Hand. Dazu
mehren fich täglich die Anzahl ber Fälle, dat Eltern und Vormünder ber durch Lehr:
vertrag auf beftimmte Zeit gegen vorher vereinbartes Lohn gebundenen Lehrlinge noch
im Laufe der Lehrzeit — zumeift im britten und vierten Lehrjahre — an bie Lehr:
berren mit dem Verlangen berantreten, das Koſtgeld ber Lehrlinge ber Lohnabrebe
entgegen zu erhöhen, widrigenfalls fie biejelben nicht ferner bei ihnen belafjen würden,
und baf bei Weigerung biejer Koftgelderhöhung biefe Drohung zur Wahrheit gemacht wird.“
„Eine Verfolgung derartiger, nicht vereinzelt unter der Autorität der Vormund—
ſchaftsbehörden verübten Rechtöverlegungen wird erfchwert, weil die Gerichte über die
Kompetenzfrage ſtreiten. . . . Erlangt der Lehrherr aber jelbft ein obfiegliches Erkennt:
dem biefe Einrichtungen hervorgegangen find, irgendwie zu nahe treten zu wollen,
darf man body nicht verfennen, daß in benfelben für ben Arbeitgeber die Berfuchung
liegt, einen Theil des Arbeitslohnes in einer für ben Arbeiter ſchwer meßbaren Form
zu geben, und tbarfächlich empfindet ber legtere diefe Art von „Woblfahrtseinrihtungen“
als verftedtes Truckſyſtem.
*) Die Stelle ift wortgetreu einem Gutachten entnommen, eritattet vom
ſtändigen Ausſchuß ber beutjchen Baugewerfsmeifter in ber vom Berein für Social:
politik veranitalteten Sammlung von Gutachten und Berichten über bie Reform bes
Lebrlingswejene, Leipzig 1875. Weiteres Material findet fih in den Berhand-
lungen ber dritten Generalverfammlung deſſelben Vereins. Leipzig 1875. Ferner bei
Jul. Schulze, Das heutige gewerbliche Lehrlingsweien, feine Mängel und die Mittel
zu beren Befeitigung. Leipzig 1876. — Dannenberg a. a. O. S. 4ff. — Stort,
Enquete über die Verb. der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Berlin im „Arbeiter:
freund“, XII. Jahrg. 1875. ©. 304 ff.
22
niß, fo fehlt e8 an ber nöthigen Rechtshülfe, ſolches zur Bollftredung zu nn In
ven feltenften Fällen gelingt es, durch Perjonalzwang, ben Lehrling dem Lehrherrn
zurüdzuführen, für welchen dann immer noch feine weitere — davon entſteht, als
daß der Lehrling abſichtlich Alles verdirbt, um ſich fo bei dem Lehrherrn unleidlich
zu machen und ſeine Entlaſſung zu erreichen. In den bei Weitem meiſten en
weiß ſich indeß ber Lehrling durch Wechſel feines Wohnorts jeder Executionsmaßregel
zu entziehen.“
Entſchädigungsklagen, fo wird weiter ausgeführt, ſeien hauptſächlich
wegen der Mittelloſigkeit der Lehrlinge und ihrer Eltern ohne Erfolg; das
allgemeine Rechtsbewußtſein werde dadurch getrübt, daß die Betheiligten ſich
bei ihrem Kontraltbruch im Rechte glaubten.
„Die Neigung ber Lehrlinge zum Kontraktbruch droht aber in weiterem Berfolg
für die Entwidelung der Bauinbuftrie auch dadurch nachtheilige Wirfung zu äußern,
daß mit Zunahme der Ungewißbeit, ob ber Lehrling feinen Vertrag aushalten und fein
Lehrverhältnig beenden werde, bie ſchon vereinzelt auftauchenbe, an fi nicht ungerecht:
fertigte Anfhauung in ben Lehrherrnkreifen weitere Verbreitung finden möchte, es ſei
unflug, ben Lehrling möglichſt gründlid auszubilden. Denn ba ber tüchtige, geſchulte
Lehrling vor Beendigung ber Lebrzeit Jeichter als Gefelle Arbeit finden wird, als ber
minder gefchulte, fo wird felbftredend ber auf Ausbilduug bes Lehrlinge gerichtete
größere Fleiß für ben Lehrherrn bie ihm nachtheilige Wirkung äußern, daß ber Lehr:
ling ihm nur befto früher entläuft. Die Klugheit bürfte befhalb leicht zu ber ber
Anduftriefahentwidlung nachtheiligen Praris —* ben Lehrling erſt möglichſt ſpät
zur vollkommenen Ausbildung zu bringen, deshalb die Beibringung gewiſſer Handgriffe,
Fertigkeiten und Arbeiten ſo zu ſagen bis zur letzten Stunde zu verſchieben, ſo daß
es leicht kommen kann, daß ber eintretende Ablauf der Lehrzeit Lehrling und Lehrherrn
überrafcht, bevor die vollftänbige Ausbildung gelungen iſt.“
Kürzer und bei weitem treffender faßt ein nahmhafter weftfälifcher
Vabrikant *) die beiden einander bedingenden und fich gegenfeitig verftärfer-
den Mißftände des heutigen Lehrlingsweiens zufammen :
„Die Lehrlinge verlafjen einerfeits oft ftraflos ihren Lehrherrn
vor Beendigung Hörer Lehrzeit, weil fie bei andern Arbeitgebern ohne Schwierig:
feit angenommen werben unb weil das Geſetz es geitattet, während andererfeits
mande Lehrherren ihre Lehrlinge als billige Arbeitskräfte auszu—
— beſtrebt ſind, ſtatt pflichtgetreu für ihre Ausbildung zu
orgen.“
Es iſt ein weitverbreiteter und, wie es ſcheint, unausrottbarer Irrthum,
daß alles Schlimme, was unſer heutiges Gewerbeweſen bedrückt und beun—
ruhigt, mit dem Erlaß der am 21. Juni 1869 für den norddeutſchen Bund
publicirten, 1872 auch auf die ſüddeutſchen Staaten ausgedehnten Gewerbe
Drbnung feinen Anfang genommen habe. Die beregten Uebel beftanden
faft alle ſchon vorher, nur daß fie nad) Wegräumung der überkommenen
Polizeifhranfen aud ferner Stehenden fihtbarer und den ſchuldigen Theilen
empfinpbarer zu Tage traten. Man follte doch bedenken, daß nirgends bie
Macht altgemohnter Berhältniffe fih nachhaltiger geltend zu machen pflegt,
als auf wirthſchaftlich-ſocialem Gebiete und daß nad dem Eingeftänbnifie
aller vorurtheilslofen Praktiker vwielleiht nie ein Geſetz weniger beobachtet
worden ift, als die deutſche Gewerbe-Ordnung. Was den Einfluß ber
Lehrlingsansbildung auf die gewerbliche Tüchtigkeit insbeſondere anlangt, die
man unter ber großen Mehrzahl der deutſchen Arbeiter vermißt, fo darf
man wohl mit Recht fragen: Wie viel Lehrlinge find denn in ber kurzen
*) Dr, Karl Möller, Gutachten bes Vereins für Socialpolitif, S. 13.
23
Zeit feit Erlaf des erwähnten Gefeges ausgebildet worden? Im Berhältnif
zu ber großen Maſſe von Ürbeitern doch nur eine verſchwindend Heine
Zahl, die ſich zudem noch im jenem Alter befindet, das nur als Fortfegung
der Lehrzeit betrachtet werden kann, im welchem ber junge Arbeiter bie in
ver Lehrzeit erworbenen Wertigfeiten ergänzen und vervolllommnen muß.
HM der Mangel zureichender Arbeitögefhidlichleit ein fo weit verbreitetes
Uebel, jo müſſen feine Urfahen nothwenbig zurüdreihen in vie Zeit ber
alten Gewerbe- Berfaflung; fie müſſen tiefer liegen als gewöhnlich ver—
muthet wird.
Bas hat ſich denn feit Einführung der dentſchen Gewerbe- Orbnung
in der Gtellung des Lehrlinge zum Schlimmen geändert? Doch nur
Aeußerlichkeiten.
In der guten Zunftzeit war der Lehrling allerdings der geſammten
Gewerbeorganiſation eingegliedert: er wurde als Schutzbefohlener des Hand⸗
werks und als Glied der Meiſtersfamilie angeſehen, über das ſelbſt die
Eltern keine Macht mehr hatten, ſondern ſtatt ihrer der Meiſter, der nach
Vorſchrift und unter Aufſicht des Handwerks ven Lehrling für das Gewerbe
und bas bürgerliche Leben erziehen follte. Das war die Idee. Entſprach
ihr aber eine ebenfo ſchöne Wirklichkeit? Die Geſchichte des Handwerks
beantwortet diefe Frage mit einem ſehr entfchievenen Nein. Die Zunft-
fatuten enthalten zwar recht ins Einzelne gehende Beftimmungen über bie’
Eigenfhaften, welde der zur Lehre Aufzunehmende haben follte (eheliche
Geburt, deutſche Nationalität, „ehrlihen* Stand :c.), über die Dauer ber
Lehrzeit, über die Anzahl der von bemfelben Meifter gleichzeitig zu haltenden
Lehrlinge, über die Strafe des Entlaufens, über die Formeln und Gebühren
bes Freiſprechens und Geſellenmachens: aber alle diefe VBorfchriften tragen
die felbftfüchtigen Rüdfichten der Meifterforporation auf der Stirne gefchrieben,
die Abficht, das Gewerbe vor Ueberfegung und unbequemer Konkurrenz zu
fihern. Für eine zwedentfprehende, zum felbftändigen Fortlommen zu—
reihende Ausbildung der jungen Leute war feinerlei Fürſorge getroffen;
was man von einer Gefellenprüfung nah überſtandener Lehrzeit gefabelt
bat, verbankt feine Entftehung fpäterer Feftfegung der Landesbehörden und
beweift nur bie offenfundige IUnzulänglichkeit der überlommenen Berhältniffe.
Mit Recht jagt einer der vertrauteften Kenner diefer Dinge*) vom Lehrling
der Zunftzeit:
*) Stahl, Das deutſche Handwerf, S. 168 fi. — Eine Prüfung nad; über:
flandener Lehrzeit ift aus der früheren Aumftzeit nirgends mit Sicherheit nachgewieſen.
Ral. Schönberg, bie wirtbihaftliche Bedeutung bes deutſchen Zunftwejens im M.A.
- 60, N. 158. Kriegk, Franffurter Bürgerzwifte unb Zuftände im M.- A,
398 ff. Stahl aa. DO, ©. 221. Noch Adrian, Beier, ber Verfaſſer der älteſten
und vollftändigften Darjiellung bes Handwerksrechts weiß in feinem Tyro opifieiarius,
Jena 1688, nichts vom Geſellenſtück; in feinem Handwerks-Lexikon 305 findet fi ein
Beifpiel. Erſt durch fpätere Ianbesherrliche Verordnung wirb die Gefellenprüfung ein»
geführt, weil man bie Unzulänglichfeit des feitherigen AZuftandes einſah (Val. 3. B.
bie marfgräflich badifche Verordnung vom 24. Det. 1764 bei Ortloff, Corpus juris
opifieiarii [2. Aufl.] S. 356); aber fie ift nie fo allgemein gewejen, als moberne
Zunftenthufiaften annehmen. Ich verweife nur auf Weiffer, das Recht der Hanb-
werker, Stuttgart 1780, ©, 121 und J. 9 Fride, Grundſätze bes Rechts ber
Handwerker, Göttingen und Kiel 1771, ©. 67.
—
„Ein Sklave des Meiſters, der ihn zu allem, was ihm dienlich däuchte,
gebrauchen durfte, zur Feldarbeit wie zur Handwerksarbeit, gleichgültig, ob
der Lehrling für feinen Zweck dabei etwas lernen fonnte oder nicht, benutzt
von ber Meifterin zu Küchen» und Hausarbeiten wie im ber Kinderftube,
Gegenftand der rohen Späße und der Mißhandlung der Gefellen, denen er
auch manichfache Dienfte leiften mußte, war er viel mehr ein Dienftbote
für alle in des Meifters Haufe als ein Lehrling, befonders wenn er in ber
ungünftigen Lage war, kein Lehrgeld bezahlen zu können, fondern während
ver Lehrzeit und in dem darauf folgenden Dienftjahre durch Leitungen feines
Meifters Mühe und Ausgaben erfegen zu müſſen. Die Frucht feiner Lehr—
zeit für ihn war dann allerdings meift eine fehr geringe, foweit es fih um
erworbene Handfertigfeit im Gewerbe handelte, wenn auch nicht zu ver—
fennen ift, daß ſich dabei fein Charakter befonvers in der Kunft des Ge—
horfams und Ertragens fehr entwidelte, und daß er den Genuß daraus zog,
fpäter diefe Kunft in anderen Lehrlingen gleihfalls im vollften Maße aus-
bilden zu können. Diefe Charakterentwidlung ſcheint ſchließlich Tegar
als vorzüglichfter Zwed der Lehrlingseinrihtung angefehen worden zu fein;
wer nicht die übliche ftrenge und harte Schule eines Lehrlinge durchgemacht
hatte, den hielt man nicht für fähig, einen tüchtigen Handwerksmeiſter ab-
zugeben, wogegen er die tedhnifche Kenntniß und Fertigkeit zum größten
"Theile in dem vorgefchriebenen Dienftjahren und Wanderjahren fi leicht
nachträglich aneignen fonnte.*
Mag immerhin unter einfachen wirtbichaftlihen Berhältniffen vie alte
Form des Lehrlingsweiens genügt haben: für vie legten drei Jahrhunderte
der Zunftgefhichte trifft dieſe Schilderung unzweifelhaft zu. Ja die Schrift-
fteller des 17. und 18. Yahrhunderts, die ſich befannter Maßen mandyerlei
Gedanken zu machen pflegten über Urfprung und Zwed viel unvernünftiger
Dinge, leiten das Entftehen des Wanderzwangs geradezu von der ungenügen-
den Ausbildung der Lehrlinge durd die Meifter her. Sie fagen: die Xehr-
linge wurden von den Meiftern vernachläffigt, nicht recht unterrichtet und zu
andern Dingen gebraucht; ein anderer Meifter am Ort nehme fie daher
auch nicht gern als Arbeiter an, deßhalb habe man ihnen die Wanderfchaft
auferlegt, damit fie bei fremden Meiftern nachholten, was ihre Lehrmeiſter
an ihnen verfäumt. Und damals befand ſich das Gewerbe tehnifh in einer
erihredenven Armuth und Berfümmerung, fo daß ſich z. B. Voltaire recht
luftig darüber macht, daß ein Knabe, der in feinem ganzen Leben nichts
ald Schuhe und Stiefel machen folle, drei bis fehs Jahre lernen müſſe.
Bei den meiften Handwerkern war es den dazu gehörigen Meiftern geftatter,
ihre eigenen Söhne an einem und vemfelben Tage als Lehrlinge ein- und
ausichreiben, alfo zu Gefellen erklären zu laffen, ohne daß fie auh nur
einen Tag in der Stellung eines Lehrlings durchlebt hätten*) — ein Be—
weis mehr dafür, daß das ganze Verhältniß nicht als eine Stufe ber ge—
*) J. © Hoffmann, Die Befugniß zum Gewerbebetriebe. Berlin 1841,
©. 102. — Im Allgemeinen vergleihe man über die Erfolge bes zünftigen Lehrweſens
bie Schrift: Das Intereſſe des Menihen und Bürgers an ben bejitebenden Zunft:
verfafjungen. Königsberg 1803, ©. 89 ff. Bertbeidigt werben bie betr. Einrihtungen
von J. 9. Flirnbaber), Hiftorifch = politifche Betrachtung ber Innungen und deren
25
werbliben Erziehung, fondern als eine ber vielen Schranfen auf der dornen⸗
vollen Bahn der Zulaflung zum Meifterrecht angejehen wurde, bie nur für
ven durch Geburt Bevorrechteten nicht eriftirte. Selbſt als bie Landes—
behörben die Zünfte nah allen Richtungen hin reglementirten, ift es ihnen
nur felten in ven Sinn gelommen, in der frage der Lehrlingsausbildung
über formale Beftimmungen hinauszugehen.
„Der Lehrling*, heißt es in einer Schrift vom Anfange dieſes Jahr—
hunderts, „größtentheil® zu häuslichen Arbeiten erniebrigt, lernt nur bie
einfahten Handgriffe und wird nicht wegen feiner Kenntniffe, fondern wegen
einer Reihe überftandener Lehrjahre freigefprohen. Man braudt bei allen
Öewerben viel grobe Handlangerarbeit ; den Lehrling dazu anzulernen, treibt
den Meifter fein Bortheil; aber ihn weiter zu bringen, hat er faum irgend
ein Interefle. Kein Schneiderlehrburſche lernt zufchneiden: die Gefellen
müſſen es in der Megel heimlich abjehen. Weberhaupt wirb faft bei feinem
Gewerbe die Zufammenfegung des Ganzen, die Auswahl und der Anfauf
der Materialien, die ganze Dekonomie des Gewerbes ausprüdlicd gelehrt.
Die Gefellen ſehen das in reiferen Jahren ab. Manches wird einem Günft-
linge, einem Berwandten, erſt fpät, als ein tiefes Geheimniß mitgetheilt.
Bei manchen Bortheilen in ver legten Appretur ſcheut der Meifter den
Lehrling und ©efellen wie einen Spion.“ Aehnlich lagen andere, „daß
die Lehrmeifter den Lehrling mehr zu Hausarbeiten als zu Handwerksarbeiten
gebraudhen und daß verfelbe oft dann erft anfangen muß, das Gewerbe zu
lernen, wenn er Geſelle wird. Bis dahin muß er nur hin und wieder
etwas von dem Gewerbe abftehlen, weil er oft mie Ohrfeigen begegnet wird,
wenn er nur bei biefem oder jenem Handgriffe zufehen will.“
So ift das Berhältniß bis auf die neuefte Zeit herab geblieben, nur
daß, je mehr das Gewerbe ſich in der Richtung rafcherer und reicherer Pro-
duftion entwidelte, je fehwieriger die ftäntifhen Wohnungs- und Erwerbs—
verhältniffe wurden, um fo mehr das Verhältniß des Lehrlings zum Meifter-
baufe fich Loderte, und fo ausſchließlicher der Nachwuchs des Urbeiterftandes
aus den ärmften Klaffen der Bevölterung fih rekrutirte. Der Lehrling
wohnt umd ift nicht mehr im Haufe des Meifters; ein Lehrgeld wirb nur
noh in den feltenften Fällen entrichtet; ja meifl erhält der Knabe noch eine
Art Koſtgeld, bald fofort vom Antritte ver Lehrzeit an, bald erft nad) einigen
Monaten. Er kommt nur zur Arbeit in die Werkftätte und, ba er ber
bäuslihen Obhut des Meifters entzogen ift, jo gehen die allgemeinen Er—
ziebungszwede ver früheren Zeit größtentheild verloren. Man kann das in
mancher Beziehung bedauern; aber man wird e8 unter diefen Umftänden
nur gerechtfertigt finden müffen, daß die Gewerbe-Orbnung das alte Dienft-
verhältnig mit feinen mandherlei Härten und Unzuträglichfeiten aufhob und
an feine Stelle ein, freilich nicht unbedingtes Bertragsverhältniß feste.
Die Eltern oder Vormünder des Lehrlings ſchließen mit dem Arbeit-
geber einen Kontraft, nah welchem letzterem die Arbeitskraft des jungen
zwedmäßige Einrichtungen. Hannover 1782, ©. 186 ff. 279 ff. K. H. Rau, Ueber
das Zunftwejen und die Folgen jeiner Aufhebung. Göttinger Preisichrift. Leipzig
1816, S. 18. — Die Schrift von Weiß, Handwerks +Barbarey, oder Geſchichte meiner
Lehrjahre. Halle und Leipzig 1790, ift mir nicht zugänglich.
26
Menihen anf einige Jahre zur Berfügung geftellt wird. Dafür verfpricht
er, ihn bie im feinem Gewerbe erforberlihe Geſchicklichkeit zu lehren. Es
fehlt allerdings die tiefere moralifche Beziehung; das Berhältnig ift ein
äußerliches, rechtlichee. Zahlt ver Lehrling ausnahmsweise ein Lehrgelo, jo
ift daſſelbe als Entschädigung für die Mühewaltung des Meifters anzufehen,
erhält der Junge Lohn, fo mag derſelbe al® Entgelt für feine tharfählichen
Leiftungen betrachtet werden. Man pflegt im Allgemeinen anzunehmen, daß
im erften Drittel der Lehrzeit der Meifter durch Zeitverluft bei Aumweifung
des Lehrlings, durch Berverben von Material u. dgl. mehr Nadtheil als
Bortheil von. dem Berhältniffe hat; aud im zweiten Drittel ber Lehrzeit
leifte der Lehrling noch nichts Nennenswerthes, vergüte aber durch feine
Arbeit das event. Kofigeld und den Zeit- und Materialverluft des Meifters ;
im legten Theile der Zeit überwiege der Nuten für das Gefhäft. Für den
Fall, daß der Lehrmeifter feine Verpflichtung eruft nimmt, ift gegen dieſe
Art von Bilanz nichts zu erinnern. Wäre das Berhältnig überall jo, Dann
jähe ic, feinen Grund zur Unzufriedenheit und wahrfceinlic die Lehrlinge
auch nicht.
Wie kommt e8 aber, daß diefelben trogvem mit Brud des Bertrags
davonlaufen? Es darf nit in Abrebe geftellt werben, daß vielfah das
Streben ver Eltern oder des Lehrlings, feine [hwahen Kräfte für höheren
Gelderwerb zu verwerthen, eine Role fpielt. Wenn aber im Allgemeinen
von den Meiftern gejagt wird: „Die Iugenb will nichts mehr lernen ; fie
ftrebt nur nach einem zudhtlofen, ungebundenen Leben“, fo darf man furz
antworten: Das ift unmöglih. In einer Zeit, der das Wort vom Kampf
um's Dafein, von ber fhonungslofen Vernichtung des Untüctigen mit
glühenden Lettern auf die Stirne gejhrieben fteht, im einer Zeit, die mit
durchdringender Stimme, auch der Jugend vernehmlich, in’s Leben hinaus-
ruft: Lernt, fo viel ihr irgend fünnt, bei Strafe der Noth, des Berhungerns !
— in einer folden Zeit follte die Jugend im Allgemeinen nichts mehr für
ihre Ausbildung und berufsmäßige Ertüchtigung ihun wollen? in Lehrer,
der feinen Beruf (abgejehen von per materiellen Seite) furzweg für un-
dankbar erklärt, ift entweder ein Mierhling oder ein Narr. Und ift nicht
die Stellung des Meifters zum Lehrling die des Lehrers zum Schiller? Der
Lehrer der Schule wird ohne weiteres bafür verantwortlich gemacht, wenn
feine Zöglinge im Allgemeinen ſchlechte Fortſchritte machen. Warum nicht
auch ver Lehrer der Werkftätte? Unſere Fabrilanten lieben es ja, den Real—
und Öymnafiıl» Schüler mit dem Lehrling zu vergleichen; fie werben ſich
aud die obige Erweiterung der Parallele gefallen laffen und dann geitehen
müſſen, daß fie in der großen Mehrzahl feither fich der Pflichten nit be-
wußt geblieben find, welche die Annahme eines Lehrlings ihnen auferlegt.
Dver fie erklären: die Werkftätte ift feine Schule, fie faum oder will es
nicht fein. Im diefem Falle muß fie folgerichtig aud die alte Form des
gewerblichen Unterrichts aufgeben und fih ver Mühe unterziehen, eine neue,
dem Amede befjer entſprechende zu ſuchen.
Ein furzer Ueberblid über die Arten des modernen Gewerbebetriebs
belehrt uns, daß fi einer fuftematifhen und viclfeitigen Lehrlingsaus-
bildung faft unüberwindliche ſachliche Hinderniſſe entgegenftellen, neben denen
die Schwierigkeiten von mehr perfönliher Natur verhältnigmäßig gering
27
find. Faft nirgends befteht noch eine fefte Abgrenzung ver einzelnen Gewerbs-
und Arbeitögebiete; man treibt Alles, was Geld einbringt, ſobald es mit
der Hauptrichtung des Gefchäftes nur irgend eine Vermandtichaft befist. Es
erfordert ſchon einen verhältnigmäßig hohen Grab allgemeiner Bildung und
ein micht geringes Maß technifcher Selbftändigfeit, wenn ber Arbeiter hier
überall mit Nugen verwendet werben fol. Uber dieſes liegt gar nicht in
der Abfiht; man ift zufrieden wenn er für eine verhältnigmäßig einfache
Specialität eingefchult ift, zumal es ihm zur Erlangung der Selbfiänbig-
feit meift an dem Nöthigften, am Kapital fehlt. Die Arbeitstheilung und
Specialifirung greift, wie früher bemerkt, tief in das Handwerk hinunter,
das in vielen Zweigen unftreitig auf den fabrifmäßigen Betrieb losftenert.
Ales ift hier im Fluß oder, wenn man will, in der Zerfegung begriffen ;
wer weiß wann bie Beivegung zur Ruhe kommt? Die Fabrik bedarf meift
er „gelernten Arbeiter“ gar nicht; fie nimmt den erften beiten Burſchen
von der Straße und ftellt ihn an die Mafchine, wo er biefelbe einfache
Manipulation in ewiger Wiederholung vollzieht, jo gut wie der erfahrenfte
Meifter, der intelligentefte Geſelle. In vielen Maſchinengewerben eriftirt
einfach das Inftitut der Lehrlinge niht; man hat an Stelle verfelben ven
fogenannten jugendlichen Arbeiter, der in Beziehung auf Arbeitszeit, Ruhe—
paufen und Nachtarbeit durch die Geſetzgebung (G.-D. 88 128 —132) ge-
ſchützt iſt. In manden anderen nimmt man wohl ver Form nad Lehr—
linge an, um jener gefeglichen Vorfchriften enthoben zu fein. Aber aud
wo für ven Fabriflehrling eine Unterweifung nothwendig iſt, pflegt dieſelbe
nicht bedeutende Zeit in Anſpruch zu nehmen, da fie feine wolle Einficht in
den gejammten Betrieb, ſondern meift nur Abridhtung für ein eng begrenztes
Gebiet bezwedt. Bielfah überweiſt man hier den jungen Menfchen einem
Arbeiter oder Werkführer zum Anlernen. Diejes Berfahren kann unter
zünſtigen Umftänden vom beften Erfolge begleitet fein; aber es trägt auch
die Gefahr in fi, daß der Lehrarbeiter den Knaben zur Steigerung feines
Einfommens (Stüdlohns) ausnugt. Nur vereinzelte Fälle find es, wo ber
Fabrifbefiger den Lehrling für eine höhere Stelle in der Fabrik (Werfführer,
Borarbeiter) beſonders ausbilden läßt.
Aehnliche Berhältniffe walten in der Hausinduftrie und in den fpeciali-
firten Gewerben ob. Eine allfeitige, zur jpäteren Selbſtändigkeit befühigenbe
Ausbildung ift im dem Betriebe diefer Gewerbe nicht gegeben; bie er-
forderlihen Manipulationen können in furzer Zeit erlernt werben und ber
junge Menfh bringt es in denſelben leicht zu einer ſolchen Fertigkeit, daß
fein Arbeitöproduft dem Meifter einen erheblihen Vortheil bringt. Im allen
diefen Fällen erſcheint ein mehrjähriges Yehrverhältnig nad feiner Richtung
hin gerechtfertigt; wenigftens liegt es nicht im Intereffe der befferen Aus—
bildung des Lehrlings, da der Lehrmeifter gewöhnlid gar nicht in der Yage
ift, vemfelben einen fo guten gewerblichen Unterricht zu ertheilen, daß der—
ielbe als Aequivalent für die durchſchnittliche Arbeitsleiſtung während der
Lehrzeit betrachtet werben könnte.r) Auch in Geſchäften mit umfaugreicherem
Arbeitsgebiet iſt es Regel, den Lehrling für eine gröbere oder wenig kom—
*) Bol. Neßmann, Zur Reviſion ber deutſchen Gewerbeordnung. Hamburg
1875, ©. 15 ff. Dannenberg a. a. O. S. 5 ff.
Bücher, Die gewerbliche Bildungsfrage. 3
28
plicirte Verrichtung anzulernen, die er, eingezwängt in bie vorhandene
Arbeitsgliederung, bis zur Vollendung feiner Lehrzeit zu verrichten pflegt.
Dannenberg erzählt von „Schneivergefellen“, vie während ihrer Lehrzeit in
einem fog. Konfektionsgeihäfte nur mit dem Annähen von Knöpfen betraut
worden waren. Stelle man fi ven Seterlehrling in einer Zeitungspruderei,
ben Buchbinderlehrling bei einem Gejhäftsbücherfabrifanten vor: worin
unterfheiden ſich dieſe „Lehrlinge” von ben „jugendlichen Arbeitern“ einer
Spimmerei? Wo das Kleingewerbe noch in den alten Bahnen läuft, and
da ift es felten beffer. Die Noth der Zeit vrüdt ven Heinen Mann jchwer;
die hochgeftiegenen Arbeitslüöhne legen es nahe, anftatt des theueren Gefellen
einen Lehrling einzuftellen, der wenig oder gar nichts Koftet und dem Mkeifter
für längere Zeit fiher if. Da wird er benn nad alter Weife zu allen
möglichen Hausarbeiten gemißbraucht: er wiegt bas Rind und pugt bie
Stiefeln, er kauft die Viktualien ein für Meiftersfamilie und Gefellen ; er
ift von früh bis in die fpäte Nacht auf den Beinen und wirb nur auf
Stunden in der Werkftätte mit irgend einer Nebenarbeit befchäftigt. Unſer
ſtädtiſches Gewerbe bat durch die jetzt faft überall vollzogene Trennung bes
bauswirthfchaftlihen von dem gefhäftlihen Gebiet unftreitig an Probaktivi-
tät gewonnen. Sein Wrbeiter würde fih heute noch zu Dienftleiftungen
verftehen, welche außerhalb des erlernten Berufes liegen; das bringt ſchon
der Stüdlohn mit fih. Nur an den Lehrling werben nod die altpatriar-
halen Anforderungen geftellt ; er fpart pie läftige Ausgabe für einen Tage—
löhner oder Anslaufer; der Lehrherr fühlt fich ihm gegenüber nicht ale
Lehrer, der die Pflicht bat, den Knaben forgfam auszubilden, fondern ale
Arbeitgeber, der das Recht befigt, die jugendliche Kraft an der Stelle zu
verwerthen, wo fie ihm am meiften Nuten bringt. Er überfieht es felbft,
daß die Gefellen ven Lehrling zu perfönlicen Dienftleiftungen migbrauden
und ihn nad überfommenen Zunftanfhauungen als ihren fpeciellen Unter:
gebenen behandeln. Vielfach ſcheuen ſich felbft kleinere Geſchäfte nicht, eine
größere Anzahl von Lehrlingen aufzunehmen, als fie felbft unter den günftig-
ften Umftänden auszubilden im Stande find. Natürlich gefchieht dies Iebig-
lich in der Abſicht, ven Lohn fir gelernte Arbeiter zu fparen, und bie legteren
beichweren ſich bitter über biefe „Schmutzkonkurrenz“.*) Daneben ift nicht
zu vergeflen, daß eim nicht geringer Theil der Handwerksmeiſter ſelbſt nicht
auf derjenigen Höhe gewerblicher Ausbildung fteht, welche zur gritmblichen
Ausbildung von Lehrlingen erforderlich if. Wie es mit der Tüchtigfeit aus
folder Schule hervorgegangener Arbeiter ausfieht, bevarf feiner Schilderung.
*) Vgl, Richard Härtel in ben Gutachten bes Vereins für Socialpolitit S. 84ff.
Daß die technifchen Erfolge ber Werkftattlehre in Frankreich kaum befjere find ale in
Deutfchland, zeigte Neuburg in denſelben Gutachten S. 175—197. So berichtet
bie Commission d’enquöte sur l’enseignement professionel (1863): „Man bürfe
nicht glauben, daß jeber, ber formell eine Lehrzeit von 4—6 Jahren burchmade, nun
ein guter Arbeiter werde; bie Arbeitstheilung bringe e8 mit ſich, daß ber Lehrling
oft jahrelang ein und biefelbe Verrichtung babe: trop souvent employ6s comme de
simples manoeuvres, ils ne sont parfois exero&s qu’& l’exdcution de certaines
pieces et non à l'ensemble de travaux de la profession; rarement les patrons
ou les maitres ouvriers, auxquels ils sont adjoints se donnent la peine de
leur expliquer les r&ögles et les prineipes, qui doivent les guider pour arriver
a la meilleure ex&cution possible.“
29
Selbſt wenn fie die ganze breis oder vierjährige Lehrzeit gebulbig ausge-
halten haben, geht ihr Können nicht über die Specialität hinaus, zu welder
fie verwendet wurben; ein geſunder Wechſel der Thätigkeit, ein Fortſchreiten
vom Leihteren zum Schwereren, vom Einfahen zum Zufammengefesten hat
nicht ftattgefunden ; fie find im ihrer Erwerbsfähigkeit auf ein fehr Feines
Gebiet beſchränkt und müffen, wenn fie nicht gerade eine Werkſtätte finden,
in welcher vie gleiche Specialität verlangt wird oder wenn biefelbe durch
eine neue Erfindung entbehrlich wird von neuem anfangen, fih einzulernen.
Der einzige Unterfchied ift, daß fie jegt das Recht in Anfpruch nehmen, ſich
Arbeiter zu nennen, während fie früher Lehrlinge hießen. Das Fabrikgewerbe
pflegt derartige vernachläſſigte Zöglinge des Handwerks in feinem weiten
Shooße aufzunehmen, und damit ift ihnen die Ausficht auf fpätere Selb-
fändigkeit für immer abgefchnitten.
Hier und da findet man wohl nod einen Meifter, der aus perfönlicher
Gewifienhaftigkeit fih nah Kräften um die Ausbildung von Lehrlingen
bemüht. Ehre diefen feltenen Ausnahmen; fie fehen fi durchgängig, wie
ih aus vielen Erkundigungen fließen darf, durch treues Aushalten ver
jungen Leute belohnt. Ueberhaupt ift der Vertragsbruch berfelben keine fo
häufige Erjheinung, wie man nah dem kläglichen Gezeter zünftlerifcher
Realtionäre anzunehmen geneigt fein fönnte.*) Wenn man aber die vor-
fommenden Fälle auf ihre Urfahen zu prüfen im Stande wäre, fo würbe
fih ohne Zweifel ergeben, daß die Mehrzahl auf folhe Gewerbe entfällt,
in welden ohne eine umftändlihe und zeitraubende Unterweifung feitens
der Meifter die Knaben zu einer Leiftungsfähigkeit gelangen, melde derjenigen
der Arbeiter wenig oder gar nichts nachſteht. Die legteren erhalten Lohn,
die erſteren nicht; die Ungerechtigkeit dieſes Zuftandes tritt ihmen täglich
Ihroff vor Augen; fie berechnen ſich den Vortheil, welden ver Geſchäfts—
inhaber von ihnen zieht und jehen auf ihrer Seite nicht einen entfprechen-
den Gewinn an Arbeitsgefhidlichkeit oder Geldlohn. Ein Konkurrenzgeſchäft,
eine Fabrik verheißt ihnen fofort einen ihren Leiftungen mehr entfprechenden
Erwerb. Das rechtfertigt freilich den Lehrlingsvertragsbrud nit, erklärt
ihn aber zur Genüge. Man kann in ven allermeiften Fällen gar nicht
mehr von einem gewerblichen Lehrlingsverhältnig fprehen. Man bat es
leriglih mit Kinderarbeit zu thun und mit einem Syſtem der Aus-
beutung von Schwachen und Unmündigen, das nod immer zu ben jchwerften
firtlihen Schäden geführt hat, wie die englifchen Erhebungen über Franen-
*) Der befannte Tifchlermeiiter Brandes bat in bem Gutachten bes Bereins
für Socialpolitit S. 39 eine haarfträubende Statiſtik über ben Vertragsbrud ber
Tifchlerlehrlinge in Berlin aufgeitellt. Diefelbe beweift ın. E. nur, daß in den Berliner
Tifehlerwerfftätten viel Kinderarbeit gebraudt wirb und daß ber Perſonenwechſel unter
den jugenblichen Arbeitern aus irgend welchen Gründen ſehr ſtark iſt. In Frankfurt
a. M. liegen, foweit meine Erfundigungen reichen, die Verhältniſſe durchgehends weit
günftiger. Dem Gutachten eines Buchbrudereibefigers entnehme ih, „daß das will:
fürlihe Austreten ber Lehrlinge in dieſem Gefchäftszweige bier zu den Seltenheiten
hört” und boch giebt e8 Dfficinen, bie faft ausſchließlich mit Lehrlingen arbeiten, —
Frankreich, wo bie Klagen über bem Lehrlingsvertragsbrud nicht minder lebhaft
find (Neuburg a, a, D. ©. 195), betrugen doch in den Jahren 1870—73 bie Klagen
über Verlegung bes Lehrvertrags, ſoweit fie vor bie Conseils de prud’hommes
gebracht wurden, nur 50%, ſämmtlicher Streitfälle. Zeitfchr. der preuß. ftatift. Bureaus
1876. Heft LIL, ©. XIV.
3*
30
und Kinderarbeit und jelbft die fehr fchonenden und übermäßig rüdfiche-
vollen Berichte der preußiſchen Wabrikinfpektoren beweiſen. In allen Fällen,
wo ber Lehrling blos zu den roheften und einfachften Arbeiten zugelafien
oder zu aufergewerblichen Dienften mißbraudt wird, liegt eine Bertrags-
verlegung bes Arbeitsgebers vor, der die Pflicht hat, ihn mit dem gefanımten
Gefhäftsgebiete nah allen Einzelheiten vertraut zu machen. Es ift nur
zu erflärlih, wenn das ungleiche Berhältniß zum Bruce führt, von dem
fiher der „Lehrling® den meiften Schaden hat, indem er fi zum umfelbft-
ftändigen Handarbeiter verdammt.
It denn aber der Rüdgang der Berufsbildung eine auf das gewerbliche
Lehrlingsweſen allein beſchränkte Erfheinung? Im Kaufmannsftande klagt
man in ganz ähnlicher Weife über mangelhafte und eimfeitige Ausbildung
der jungen Leute, obgleih man dod nicht wird behaupten dürfen, daß bas
vorzeitige Verlaſſen der Lehre bier eine häufige Erſcheinung fei. Im gar
vielen Fällen ift die Behandlung der Kaufmannslehrlinge eine fchlehte, vie
Ausfiht auf eine gute Berufsbildung eine Fägliche, die Arbeitszeit eine
unverhältnißmäßig lange. In den üblichen Lehrfontraften ftipulirt fich ber
Prinzipal alle möglihen und unmöglihen Rechte, von Berpflichtungen
vefjelben ift wenig, von Rechten des Lehrlings gar nicht die Rede. Es ift
mir verfichert worden, daß größere Geſchäfte in ven legten Jahren bie
Commisftellen gleih dutzendweiſe mit LTehrlingen befegt haben, um Salair
zu erjparen. Man hat e8 eben aud bier in der Hand, diefelben raſch für
einzelne Verrichtungen einzufchulen, ſei's im Comptoir, fei’8 im Magazin,
ſei's endlih im Auslauferdienſt. Zudem weiß man, daß die Lehrlinge ihre
Zeit aushalten müſſen, da im faufmännifchen Leben das Lehrzeugniß als
unerläßlich gilt fir weiteres Fortlommen. Das Angebot von Arbeitskräften
ift eben bier ein ungefund großes und die vielfach eingeriffene Unfolivität
des Gefchäftslebens zieht von den Perſonen mit derſelben Gewiſſenloſigkeit
ihren Profit, die im Waarengeſchäfte leider fo verbreitet ift.
Setzt auf der einen Seite die ftarf vorgefchrittene Specialifirung der
Gewerbe und die weitgehende Arbeitstheilung in den Werkftätten ver all
feitigen Ausbildung der Arbeiter faft unüberwindliche Hinderniffe entgegen,
fo ift auf der andern Seite auch nicht zu vergeffen, daß gegenwärtig an
das Gewerbe viel höhere allgemein technifche Anforderungen geftellt werben.
Das Gewerbe der Zunftzeit war nicht blos in der Zahl der Producenfen
gefchloffen, fondern zerfiel aud nah Umfang und Art der Arbeitserzeugniffe
in ſcharf gegeneinander abgegrenzte Gebiete. Der Schloffer und Schmieb,
der Klempner, der Gelb» und Rothgießer wußten genau zu fagen, wo ihre
Ürbeitsbereiche ſich ſchieden; das gejtattete ihnen, auf einem bejtimmt ab-
geihlofienen Felde ſich ficher zu bewegen. Die Gewerbefreiheit hat dieſe
Grenzen aufgehoben ; heute weiß jchwerlich jemand zu fagen, was alles unter
ven Begriff der Schlofferei oder des Schmiedehandwerks fällt. Dazu find
eine Menge Erfindungen gemadt worden, deren Anwendung eine höhere
tehnifhe Ausbildung, Einfiht in mancherlet Gefege der Chemie, Phyſil,
Mechanik zc. vorausfegt. Das Kunftgewerbe ift ein eigenes meitichichtiges
Gebiet, welches nicht blos eine geübte Hand, eine höhere Durchbildung des
Geſchmacks vorausfegt, fondern aud eine bedeutende techniſche Selbftänbig-
keit, einen freien, verftändigen Blid. Die Durchſchnittsbildung des Heinen
31
Meifters genügt hier in den allermeiften Fällen ven Zeitanfpräcden nicht,
und wenn ihn dies an und für ſich ſchon in feiner Erwerbsthätigkeit ſchädigt,
jo macht es feine Stellung als Lehrer der Werkftätte doppelt ungenügend.
Die Nothwendigkeit, die Berufsarbeit des Einzelnen auf ein möglichft
enges Gebiet zu befchränfen, ift eine allgemeine Signatur unferer modernen
Berhältniffe Das Gewerbe theilt bier das gleihe Scidjal mit allen
Zweigen menjhlicher Thätigkeit, welche von den großartigen Fortfhritten der
Bifenfhaft berührt worden find. Univerfalgenies, die das ganze Wiſſen
ihrer Zeit umfpannen, ſucht man jest felbft auf unferen Univerjitäten
vergebens. Der Yurift, der Philologe, der Mediciner fieht fih auf eine
Specialität feiner Fachwiſſenſchaft beſchränkt, und er arbeitet hier jedenfalls
dann mit Erfolg, wenn- eine gründliche allgemeine Schulung ihm den nöthigen
Ucberblid verfchafft hat, wenn er fih den Zufammenhang mit den allge-
meinen Fortſchritten der Forfhung in feinem Fache zu bewahren verfteht.
Dan findet es auf allen höheren Arbeitsgebieten felbftverftändlih, daß eine
befondere Unterweifung eintritt, welche von der praftifhen Ausübung ge-
trennt ift, weil man es für unverftändig hält, die Rüdfichten des Erwerbes,
welhe jeder Lebensberuf dem Einzelnen auferlegt, mit denen bes Unter:
richts ohne Schädigung eines von beiden Theilen vereinigen zu wollen. Nur
auf dem gewerblichen Gebiete will man ſich zu dieſer Anfhauung nod
immer nicht erheben.
Hiermit meinen wir im Wefentlihen die Urfachen angedeutet zu haben,
welhe auf die Güte der deutfchen Arbeitspropufte nachtheilig eingewirkt
haben. Es find nicht die modernen Verkehrsverhältniffe und Produftions-
formen an fih, melde für den Schaden verantwortlid gemacht werben
müſſen, fondern die Anwendung, melde biefelben auf beutfhem Boden
gefunden haben, bie wirtbfchaftlihen und fittlihen Gebrehen, welche unter
den veränderten Berhältniffen fchranfenlos aufgewuchert find. Bei ver
Raſchheit, mit welcher die induftriellen Ummälzungen mit der ihnen eigenen
Zerfegung des alten Handwerks und bes gewerblichen Mittelftandes über
und gefommen find, bei den großen Bevölkerungs- und Berufsverfhiebungen,
deren Zeugen wir gemwejen, find ja unftreitig in rafhem Anlauf große
wirthſchaftliche Fortſchritte erzielt worden. Aber es ift auch ein gut Stüd
alter Ehrbarkeit und Tüchtigkeit verloren gegangen, deſſen Erfegung uns
lange und mühevolle Arbeit koften wird. Wundern darf man fi darüber
nit gegenüber einer Wirthfchaftspolitit, deren einzige Stärke in der Ver—
neinung beftand, die aber gejunder pofitiver Gedanken eben jo wenig fähig
war, als fie ein wahres Bewußtfein von der wirtbichaftlihen und focialen
Aufgabe des Staates beſaß. Ihre Popularität beruhte einzig auf ber
Wegräumung veralteter und vielfadh brüdender Schranken; Neues mußte
man niht an die Stelle zu fegen. Man fühlte ſich beengt in den alten
Räumen; aber in dem neuen, größeren Haufe, das wir bezogen, fünnen
wir nicht zur Behaglichkeit, zum Frieden und zur Orbnung gelangen.
Vieles, was in anderen Ländern die frühere und ftetigere Entwidlung,
das rechtzeitige Eingreifen des Staates, die zwar ungejchriebenen, aber
32
mädtigen Gefege gejellihaftliher oder gef&häftlicher Ueberlieferung und Ge-
wohnheit von felbft gegeben haben, werben wir uns erft mühſam erfämpfen
miüffen. Moralprebigten find bier, wie überall, von feinerlei Nuten. Für
Unreellität und ſchwindelhaftes Gefhäftsgebahren, befonders im Großen,
wird die öffentlihe Meinung mehr und rüdfichtslofer als bisher in Auſpruch
genommen werben müflen; für den Mifbraud der Konkurrenz im täglichen
Berkehr wird die Geſetzgebung überall da einzutreten haben, wo widtige
Lebensinterefien des Bolfes auf dem Spiele ftehen. Den alten Tarorbnungen,
den Borfchriften über Maß und Güte mancher Produkte Tag ficher mehr
focialpolitifche Weisheit zu Grunde, als der Lehre vom „unbeſchränkten Spiel
der wirtbichaftlihen Kräfte“. Wir werden, wenn aud jchwerlid bier, fo
doch am mancher anderen Stelle wieder auf bie durch und durch politiſche
und gefunde Anjhauung unferer Boreltern zurüdgreifen müffen, daß alle
probuftive Thätigkeit höheren gefellfchaftlihen Zweden diene und fid) umter-
zuoronen babe, daß „zum gemeinen Beften“, im Intereffe der Geſammtheit
der wirtbihaftlih Schwache des Schußes, der Starke der Schranken bedarf.
Einige der gröbften Mifftände werden dur die Reform des Aktiengefetes,
den Zeichen, Mufter- und Patentfhug getroffen werden. Die Wahrung ber
gewerblichen Intereffen muß aus den Händen von Juriſten und Ber-
waltungsbeamten im biejenigen von erfahrenen Yahmännern gelegt werben ;
an die Stelle des feitherigen müßigen Zuſchauens muß eine planvoll
Thätigkeit zur Oewerbebeförberung treten, für deren einzelne Zweige be
fondere Organe zu ſchaffen find. Namentlich muß die Großinbuftrie auf-
hören, was fie jo lange war, das Schoffind der Regierungen zu fein, zumal
fie die Mittel befigt, ſich felbft zu helfen.
Kein BVernünftiger wird ſich einfallen laſſen, die imbuftrielle Ent-
widelung nah per Richtung des Maſchinenbetriebes, der Arbeitstheilung,
der GSpecialifirung da hemmen oder Zweige bes Kleingewerbes künſtlich
fonjerviren zu wollen, wo bie Fortſchritte der Technik oder die Natur ber
Produktion auf diefe Entwidlung hinftenern. Man wird kurz fagen fönnen,
daß dies überall da der Fall ift, wo bedeutende Anlageloften, Gleihmäßigfeit,
Raſchheit und Billigkeit der Produktion in Frage kommen. Aber es gibt
daneben eine ganze Reihe von Arbeitögebieten, auf welchen eine dauernde
Konkurrenz zwifhen Groß- und Kleinbetrieb ſehr wohl möglich ifl.*) Es
ift wahr, der erftere hat in dem verhältnigmäßig geringeren Anlagekoften,
in bem billigeren Anfauf des im Großen bezogenen Rohmaterials, in dem
tationelleren,, faufmännifhen Vertrieb unläugbare Bortheile; aber biefe
werben beim Handwerk fiher oft genug aufgewogen durch die Möglichkeit
forgfamer Ausnugung der Robftoffe, durch die Detailtenntniffe des Klein—
meifters in den einzelnen Arbeitsverrichtungen, durch jein ſtändiges Mit-
arbeiten und Beauffichtigen der Arbeiter. Vielfach findet auch hier ſchon
bie Anwendung der Maſchine ftatt; aber fie verrichtet meift nur die gröberen
*) In ber Schweiz können bei ber Tafhenubrfabrifation die Fabriken bie Kon-
kurrenz ber Handarbeit nicht aushalten; freilich iſt auch im Jura die Specialifirung
jo weit fortgefhritten, daß eine Taſchenuhr durch mehr als 300 Hände geht, ehe fie
fertig if. Im Schwarzwald leidet aus dem entgegengefeßten Grunde bie Hausinbaftrie
von ben Fabriken, Jahrb. f. Nationalök. u. Statiſtik, XVII (1872), ©. 213 #.
Borrihtungsarbeiten (man denke an Kreis- und Banbfägen, Hobelmafdhinen
u. dgl), welche ftarken Aufwand von Musfelkraft erforbern ; Formgebung und
Zufammenfegung hängt von individueller Gefhidlichkeit und Geſchmacks—
bildung ab. Nicht wenige Zweige des fpecialifirten Gewerbes gehören in
viefe Reihe; gerade hier find die Anlagefoften wenig bebeutend und bie
Begrenzung bed Arbeitsfeldes geftattet, im kleinſten Punkte die größte Kraft
zu fammeln und in engem Kreife Borzügliches zu leiften. tabliffements,
in welhen Dampf= oder Waflerfraft an Heine Meifter oder an Arbeiter«
familien der Hausinduftrie vermierhet wird, beftehen bereits in Mülhaufen,
Nürnberg, Dresden und an anderen Orten; Genoſſenſchaften und, mo nöthig,
Staats- und ©emeindemittel, hätten bier einzutreten; daneben wäre bas
Spftem der Robftoffvereine weiter auszubehnen und ähnliche Genoſſenſchaften
für den faufmännifchen Vertrieb der fertigen Produkte zu bilden.
Gerade bier liegt eine Haupturſache des Berfalld der Sleingewerbe
und der Rathloſigkeit und Muthlofigkeit, welche in Handwerkerkreiſen gegen-
“wärtig allgemein if. Mit der Entwidlung der Großinduſtrie und ber
Erweiterung bes Marktes wurden für den Einkauf der Rohftoffe und für
den Berfchleiß der Waaren Berhältniffe maßgebend, für deren Beherrſchung
der begrenzte Blid und die mäßige Bildung des Meinen Meifters nicht
ausreicht. Der Boden begann ihm deßhalb bald auch da zu ſchwanken,
wo er dem Grofbetrieb techniſch gewachſen war, fobald ihm ein fapital-
kräftiger Unternehmer gegenüber trat, der jene Dinge nah faufmännifchen
Principien betrieb, der die Berhältniffe des großen Marktes kannte und nad)
diefen Umfang und Art feiner Produktion einzurichten wußte. Biele der
Heinen Leute verkümmerten bei ber alten Weife lokaler Produktion ; beiten
Falls Tegten fie einen Detailfram oder eine Schankwirthſchaft an; bie
Mehrzahl fiel in die Hände jener kaufmännifhen Zwijchenglieder des Ber-
lehrs, der Kommiffionäre, Baktoren, Agenten, Berleger oder wie fie fonft
heißen mögen. Man mußte bie Früchte ſauren Schweißes um Spottpreife
verſchleudern; der Groffifl, der Erporteur zog den Hauptgewinn: er hatte
immer etwas an ber eingelieferten Beftellung auszufegen, Preisredultionen,
Zahlung mit fchlehten Geldſorten oder gar hochberechneten Waaren bildete
die Regel, und vielleicht nie haben Wucherer, Magazininhaber u. dgl. die
Heinen Leute ſchlimmer ausgebeutet, als in ben vierziger und fünfziger
Jahren unferes Jahrhunderts. Damals ging hauptfählicd der Zufammen-
hang diefer Probucenten mit der Konfumtion und ein gutes Theil der alten
technischen ZTüchtigkeit verloren; Maſſenprodukte nah der Schablone, nad)
ausländifhen Muftern und Moden wurden gefertigt; der Großhändler hätte
den Mann ausgelacht, der ihm nad eigener Erfindung und Idee gearbeitete
Erzeugniffe vorgelegt hätte. In einzelnen Gegenden wurde fo beſonders
die Hausinduftrie ansgefogen; ja bie erftaunlihe Niebrigfeit des Stück—
preifes und bie Bebürfnißlofigkeit der Leute geftattete, fie auch ba noch feft-
zuhalten, wo in andern Ländern längft die Fabrik an die Stelle getreten
war. Noch heute dauern dieſe Berhältniffe theilweife fort; ja das bem
Fabrifarbeiter gegenüber verbotene Trudiyftem ift in manchen armen Gegenden
der Hausinduftrie noh im voller Blürhe. Hier findet eine einfichtige Ge-
werbepolitit fehr viel zu thun. Gie kann dem Heinen Specialiften und
Hausarbeiter zwar ben alten Zufammenhang mit der fonfumirenden Kund—
34
[haft nicht wiedergeben ; fie fann nicht verhüten, daß auf dem Weltmarkt
die Kunſt und Gefchidlichleit des einzelnen Arbeiters verfchwinvet ; aber es
liegt in ihrer Macht, ihn der Ausbeutung durch Zwilhenhändler zu ent:
reißen, ihm Ermunterung und bie Mittel zu freierem Streben und Schaffen
zu gewähren. GStaatlihe oder kommunale Behörden können in bie zer-
ftreute Produktion Einheit bringen, den Waaren Ruf und Abſatz verjchaffen,
die Bildung von eigenen Handelögefellihaften der Heinen Producenten
anregen und befördern. Was auf diefem Felde möglich ift, zeigt die Hebung
der Hausinduftrie, insbefondere der Uhrmacherei und Strohflehterei, im
badiſchen Schwarzwalde. Ständige Gemerbehallen nah dem Mufler ber:
jenigen in Triberg und Furtwangen bilden Gentrafpunfte für den Abſatz,
wie fie ſich nicht beffer denken laffen, zugleich aber auch eine ftete Anregung
zum Fortfchritt in der Technik und ein Mittel, den Heinen Producenten
der Iſolirung und Berfiimmerung zu entreißen. Früher waren vielfad
gewerblihe Schauanftalten in Anwendung, um die Güte und Beichaffenheit
gewifler Waaren zu prüfen und fie, wenn fie den Vorſchriften entjprachen,
mit einem Stempel zu verjehen. Sie waren für ven Export fehr wichtig
und erfüllten für den feinen Gewerbetreibenven biefelbe Beftimmung, wie
für den Örofinduftriellen die Fabrik- und Waarenzeihen. Bei Iofal fon-
centrirten Gemwerbezweigen, bejonders der Hausinduftrie, fünnten fie gewiß
mit Vortheil wieder eingeführt werben.
Es ift nicht der Zweck diefer Ausführungen, eine Zufammenftellung
ber zwedmäßigften Mittel zur Gewerbeförderung zu geben; es foll nur
angedeutet werben, daß der Staat und bie freiwillige Thätigfeit von Ein-
zelnen und Oenoffenfhaften ein weites Feld vorfindet, auf dem die Hebung
der Arbeitsgefdidlichkeit, die Verbeflerung der Mängel unferer Imbuftrie-
produfte möglih if. Was bis jett geſchehen tft, kam entweber blos ven
großen Unternehmern zu Gute, oder war fo allgemeiner Natur, daß es für
die Werfftätte wenig Gewinn brachte. Ih braude nur an die Induſtrie—
ausftelungen, bie Gewerbemufeen, die fländigen Sammlungen von Muftern
und Mopellen, die Beihaffung und Vertheilung oder Vermiethung von
Werkzeugen aus Staatsmitteln, das gewerbliche Zeitfchriften- und Bereind-
weien zu erinnern — Alles gewiß jehr gut gemeinte Beitrebungen, aber
zu unbeftimmt, ins Blaue hinein. An dem anregenden Einfluß vieler
Mittel ſoll nicht gezweifelt werben; aber derſelbe ift meift nur einzelnen
ohnehin bevorzugten SKreifen zu Gute gefommen; vie arbeitenden Hände
wurden barob nicht geſchickter, die Köpfe nicht heller. Es fehlt, um
derartige Beftrebungen fruhtbar zu maden, an einer
grünpliden allgemeinen und einer genügenden fahliden
Bildung.*)
Erft wenn es gelingt, dieſe mothwendige Vorbedingung jeder all-
gemeineren Einwirkung zu fohaffen, werden bie vorhin angeführten Mittel
*) Schmoller, Zur Geſchichte d. d. Kleingewerbe im 19. Jahrh., ©. 689:
„Gelingt bie geiftige und technifche Hebung des Handwerkerſtandes wie bes Arbeiter:
ftandes, jo ift damit das Wichtigite erreicht. Es handelt fich in erfter Linie um eine
Erziehung der Leute zu anderen gefellfchaftlihen Gewohnheiten, zu anderen bäuslicen
Sitten, zu einem weiteren Blid, zu einer böberen techniichen Bildung.“
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höherer Gewerbeförberung wirklich die Kreife erreichen, für welche fie be-
rehnet und nothwenbig find. Man betrachte nur die verjchievenen gewerb-
lihen Vereine. Abgefehen von ven Fabrikantenverbindungen zu ſchutzzöll-
nerifhen Zweden oder zur Durchſetzung gemeinfamer Maßregeln gegen bie
Arbeiter, friften die Iofalen Gewerbevereine, die polytehnifhen Vereine, die
Vereine für das Wohl der arbeitenden Klaffe, oder wie fie ſich fonft nennen,
meift ein Fümmerliches und künſtliches Dafein. In den Städten fteben
vielfach Literaten und Advokaten an der Spite, an Heineren Orten ber
Arzt, der Geiftlihe oder Schullehrer — gewiß immer wohlmeinende, aber
ſelten ſachkundige Perfonen, mit deren Wirken der Berein fteht und fällt.
Daſſelbe Bild zeigen felbft vie für ven Heinen Mann berechneten Schulge-
ihen Genoſſenſchaften. Was aus eigener Initiative der Betheiligten bervor-
gegangen ift, wie der Handwerkerbund und die Hanbwerfertage, war nod
weniger erfreulih: fie find über die herfümmlihen Anfhauungen nicht
binausgefommen ; zünftleriiche Reaktionsgelüfte, Deklamationen über die an-
geblih aus der Gewerbefreiheit herworgegangenen Schäden und Unordnungen
machten ſich breit; nirgends ein energiſches Erfaffen der gegebenen Zuftände,
nirgends ein Fräftiges Vorwärtöftreben.*) Das beweift zur Genüge, daß
der Schwerpunkt der Frage auf dem Gebiete des allgemeinen und gewerb-
lichen Bildungswefens Liegt.
Um bierfür ven richtigen Mafftab zu gewinnen, müffen wir und zu
einer Fritifchen Ueberſchau ver feitherigen Beftrebungen und Beranftaltungen
auf dieſem Gebiete entſchließen. Wir Inüpfen hier an das an, was, früher
über die Zuftände im heutigen Rehrlingswefen gejagt wurde. Die
Ihwierige Frage will von focialen, pädagogiſchen und techniſchen Geſichts—
punkten zugleich betrachtet fein. Es gilt, den Blid feft auf das Ziel ge-
richtet, fi durch ein Wirrfal von Meinungen, burd eine Menge von
ererbten Vorurtheilen durchzuarbeiten.
Die Vorſchläge, welche zur Beſeitigung der Mißſtände im gewerblichen
Lehrlingsweſen gemacht worden find, halten faft alle an der überkommenen
Inſtitution feſt. Man meint, wenn man nur den Lehrling zwingen könne,
die für nöthig befundene Lehrzeit auszuhalten, die techniſche Durchſchnitts-
tüchtigkeit allmählich den Zeitanforberungen eniſprechend erhöhen zu können.
Es wird dann wohl noch ein Appell an die Gewifienhaftigleit des Meifters
binzugefügt, feine Pflicht ihm im Einzelnen eingefchärft, oder gar der Wunſch
ausgefprochen, daß der Lehrling wieder, wie in guter alter Zeit, ein lieb
der Meiftersfamilie bilden möchte. Dieſer Wunſch wird natürlih unter den
fädtifchen Wohnungs- und Miethverhältnifien ein „frommer“ bleiben. Bon
anderer Seite hat man dagegen mit Recht geltend gemacht, daß das Gewerbe
*) Bl. V. A. Huber, Handwerkerbund und Handwerlernoth (Sociale Fragen VI).
Nordhaufen 1867. Die Agitation der bis jetzt in ben Anfängen fledengebliebenen
Handwerferpartei unb ber Agrarier fteht auf derfelben Linie. Bis zu wel traurigem
Grabe der Berblendung felbit ſonſt verftändige Männer auf diefem Wege gelangen
fönnen, zeigt Perrot, Das Handwerk, feine Reorganifation und feine Befreiung von
der Uebermacht bes Großkapitals. Leipzig 1876.
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im legten Jahrhundert vielfach technifch verkümmert und verarmt jei und
daß es bier nicht felten ſchwer halten dürfe, die rechten Lehrmeifter zu
finden. Und wenn fie ſich fänden, find dann die vorgefchlagenen Mittel *)
— foriftliher Abſchluß ver Lehrverträge, Friminelle Beftrafung des Lehr-
lingsvertragsbruchs, Gefellenprüfungen, Verpflichtung ver Arbeiter, Lehrbriefe
und Arbeitsbücher zu führen u. dergl. — eine Garantie für die Erlangung
einer gründlichen gewerblichen Ausbildung? Zugegeben, daß man auf diefe Weiſe
die Lehrlinge zwänge, auszulernen: wird man auch die Meifter zwingen können,
fie das Erforderliche zu lehren? Ich muß das bezweifeln; ja ich behaupte:
felbft wenn der Lehrherr feine Aufgabe noch fo ernft nimmt, fo machen in
den meiften Fällen vie Gefchäftseinrihtungen, die Gliederung ber Arbeit,
die Specialifirung der Gewerbe, die Haft ver Konkurrenz, einen ftufenmäßig
fortfchreitenden Unterricht, eine genügende Einfiht in den Jufammenhang bes
Gewerbebetriebes, eine zur Selbſtändigkeit befähigende Ausbildung unmöglid.
Unfer Gewerbe, wo es nicht ganz verfümmert und verrottet ift, hat fih
überall auf die größte Raſchheit und Produktivität eingerichtet; jedem Arbeiter
find feine beftimmten Obliegenbeiten angewiefen; Alles muß präcs in
einander greifen; man fchiebt den Lehrling als das unbedeutendſte Glied
des Mechanismus da ein, wo feine Arbeitskraft am nugbringenpften ver-
wendet werben fann. Er erlangt beften Falls Virtuoſität im einer Anzahl
von Einzelverrihtungen; Allfeitigkeit und tiefere Einfiht in den Geſchäfts—
betrieb vermag ihm die Werkftätte nicht zu bieten. Was unter biefen Um—
ftänden Prüfungen helfen follen, ift nicht einzufehen, zumal es geradezu im
den meiften Gewerbezweigen unmöglih fein bürfte, den Inhalt verfelben
feftzuftellen. Keine Prüfung ohne feftumgrenzte Arbeitögebiete; feine Ge—
fellenprüfung ohne Meifterprüfung! Die alte Gewerbeverfafjung entftammt
einer burchgebildeten Drganifation ; wer das Eine wieberherftellen will ohne
das Uebrige, verräth wenig Einfiht. Freili hat man aud ben rabifalen
Vorſchlag gemacht, das Lehrlingsweien zu befiern durch Schaffung „meuer
Innungen“. Bon allen Schwierigkeiten und Unzuträglichleiten, auf welde
ein folder Verſuch heute ftoßen müßte, abgefehen, genügt der oben gelieferte
Nachweis, dag die alten Innungen in Hinfiht der gewerblichen Bildung fehr
mangelhafte Inftitutionen gemwejen find, um uns jede Hoffuung zu nehmen,
daß die neuen hierin glüdliher fein werden, im Falle fie an der alten Form
der Werkitartlehre fefthalten. Daß das Gewerbe ehemals über einen ver-
hältnigmäßig beffer durchgebildeten Arbeiterftand verfügte, lag im der Stetig-
feit und Gemächlichkeit, zugleih aber auch in der techniſchen Beſchränktheit
ver Verhältniſſe; unferen Arbeitern würde auch die dreijährige Wanderſchaft
nie das fein können, was fie früher war, die eigentlichen Lehrjahre nad) der
vorausgegangenen Leid- und Prügelperiobe.
Man darf fih das nicht verhehlen: die heutige Lehrlingsfrage ift viel
fhwieriger, als die der Bergangenheit. Auf der einen Seite ift durch bie
modernen tehnifhen Erfindungen, durch die Anwendung ber Naturwifien-
) Es mwürbe von feinerlei Nuten fein, bier alle bis jet gemachten Vorſchläge
im Einzelnen zu prüfen. Wer ſich über biefelben unterrichten —* findet in den oben
—— Schriften überreiches Material. Das Geſagte charakteriſirt die Richtung
zur Genüge.
37
Ihaften auf die Gewerbe, durch die Steigerung der künftlerifchen Anforde
rungen, durch die faufmännifche Betriebsweife das Maß einer dem Zeit-
anforderungen genügenden gewerblichen Bildung ein weit höheres geworben ;
auf der anderen Seite verfchafft die Specialifirung ber Imbuftrie, der Ma-
fhinenbetrieb, die Arbeitstheilung, die wilde Jagd der Konkurrenz; bem
Arbeiter nur noch eine gewiffe mechaniſche Gefchidlichkeit in einzelnen Ber-
rihtungen.
Daraus ergeben fih fir die Löfung der gewerblichen Bildungsfrage
zwei ungemein widtige Säge, die nur zu oft verfaunt werben:
1. Der Gewerbetreibende bedarf einer bedeutend höheren
allgemeinen Bildung, als er fie gegenwärtig durch
bie Volksſchule erlangen kann.
2. Eine gründlide Fachbildung ift bei Feftbaltung der
feithberigen Form des Lehrlingswefens innerhalb der
Werkftätte niht zu erzielen. Es ift eine Form der ge—
werbliden Ausbildung zu [uhen, welche ohne Preis-
gebung der produftiven Zwede den Unterridt zur
Hauptfahe maht und damit eine genügende Fad-
bildung ermöglidt.
Daß die gegenwärtige Durdfchnittsbildung unferer Handwerfer und
Arbeiter den Zeitanforberungen nicht genügt, ift eine längft anerkannte
Thatfache, deren Schwere vielleicht von niemanden lebhafter empfunden und
auch anerfannt wird als von den Betroffenen ſelbſt. Man hat deßhalb
Ihon feit dem erften Auftauchen der „focialen Frage“ die Mängel der all«
gemeinen Bildung bei den Arbeitern und Kleingewerbetreibenden zu ergänzen
gefucht.. Arbeiterbildungsvereime wurden gegründet, hauptſächlich in
den größeren Städten. Es fanden fi politiihe Streber, aber auch mwohl-
meinende Männer aus den gebildeten Ständen, Gelehrte, Volksvertreter,
Redakteure, Lehrer u. dgl., welde die Sahe in die Hand nahmen. Eine
Schaar von lernbegierigen Arbeitern war bald zufammengebradt: es wurden
fogenannte populärwiffenfhaftlice Vorträge gehalten, den einen Abend über
die Ritterorden des Mittelalters, den andern über die Staatöverfaffung der
Athener, den dritten über die Spektralanalyfe, pie Darwin'ſche Theorie, das
Gefängnigwefen, und mandes andere. Das find alles Gegenftände, welche
neben einem nicht umnbeträdtlihen Maße allgemeiner Bildung tiefernfte
Studien, fehwierige Denkoperationen, manihfahe Uebung und Anfhauung
zu ihrem Verſtändniß vorausfegen, was natürlich in einer flüchtigen Stunde
nicht gegeben werden Tann. Die Verſuche verwechſelten das Publitum und
verfehlten nicht nur ihr Ziel, weil fie geiftige Bereicherung und Stärfung
des Denkvermögens nicht zu geben vermochten, fonbern fie richteten auch
unenblihe® Unheil an, weil fie durch das Aufpfropfen zujammenhangslofer
wiffenfhaftliher Kenntniffe jenes Schein» und Halbwiffen, jene Bildungs-
heuchelei und jenen ſeichten, materialiftifh angehaudten Aufkläricht beförderten,
an dem weithin bie befigenden Klaffen leiden.
Man hat fi) dann auch der Lehrlinge zunächft angenommen und Fort-
bildungsihulen für viefelben errichtet zur Wiederholung und Er-
weiterung der in der Volksſchule erworbenen Kenntniffe ine befondere,
von liberalen Abgeordneten gegründete Gejellihaft für Verbreitung von
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Volksbildung hat ſich dieſer Schulen hauptſächlich angenommen und ſucht
dieſelben durch Zweigvereine möglichſt allgemein zu machen. Durch eine
rege Agitation einzelner für die Sache begeiſterter Perſönlichkeiten, durch
öffentliche Verſammlungen, durch Ausſendung von Wanderlehrern hat die
Geſellſchaft eine ziemliche Verbreitung erlangt und in ihre Beſtrebungen eine
große Zahl bereits vorhandener ähnlicher Vereine (Gewerbe-, Handwerker-,
Arbeiter-, Bildungs-, Bürgervereine) hereingezogen*). Für bie erwähnten
Fortbildungsſchulen, deren Errichtung bereits durch die Gewerbe-Ordnung
vorgeſehen iſt, wurde eine Staatsunterſtützung erwirkt. Durch Ortsſtatut
faun der Beſuch derſelben für Lehrlinge und Arbeiter bis zum achtzehnten
Lebensjahre obligatorifh gemaht und felbft die Meifter zu Beiträgen für
die Unterhaltung verfelben herangezogen werben. Im ähnlicher Weije ift
man auf dem Lande mit Gründung fogenannter ländlicher Fortbildungs-
fhulen vorgegangen, ja die Vorliebe für dieſe Inftitution geht jo weit, daß
neulich eine befannte militärifhe Korrefpondenz fogar von militärischen Fort-
bildungsfhulen zu erzählen wußte, die in dem zu erwartenden preußifchen
Unterrichtsgejege vorgefehen fein. Das ganze Fortbildungsidul-
wefen ift nichts weiter, als das unerfreulide Eingeftänp-
niß, daß in unferen Bolfsfhulen niht einmal das im
bürgerlihden Leben aub für den Allergeringftien unbe-
dDingt erforderlide Maß von Elementarfenntnifjfen er-
worben wirb. .
Schon im Yahre 1860 erklärten die vereinigten Minifter des Handels,
bes Unterrichts und des Innern in Preußen, „daß eine vollitändig genügende
Wirkfamkeit der Clementarfchule die Fortbildungsihule überflüffig machen
würde”. Nad dem preufifhen Landrecht fol die Volksſchule „die für jeden
vernünftigen Menſchen feines Standes nothwendigen Kenntniffe” gewähren.
Gewiß ein je nad den Fortfchritten der Kultur jehr wechſelndes Maf. Wird
es heute erreicht? Nach einer preisgekrönten Schrift über die Fortbildungs-
*) Vol. Statiftif ber mit ber Gejellfchaft für Verbreitung von Bolksbildung im
Berbindung ftehbenden Bereine für Volfsbilbungszmwede nad bem Stande bes
Berwaltungsjahres 1874/75. Berlin, Franz Dunder. 1875. Es liegt mir durhaus
fern, bie Reinheit und Ehrlichkeit der Beitrebungen von Männern, wie dem ver-
ftorbenen Dr. Leibing, anzweifeln zu wollen. Aber ih muß geſtehen, baf mir bie
Einfiht und der gute Wille mancher Leiter ber Bewegung für das, was Noth thut,
jhon feit der Zeit zweifelhaft wurben, als ich einſah, baß fie die fchweren Mipftände
bes Volksſchulweſens gänzlich Falt Liegen. Die angenommenen ®anberlehrer fröhnten
berjelben „zuchtlojen Halbwifferei“, von der Treitfchfe mit gerechtem Zorne fpridt, und
bie Enthüllungen des entlafjenen Dr, Lindwurm waren nicht bazu angethan,
Spmpatbien zu erweden. in hervorragender Leiter ber Bewegung, mit dem ich vor
zwei Jahren über bie Lehrlingsfrage und ihre Förderung durch die Gef. f. Verbr, v.
Volksbildung ſprach, erwiberte mir furzweg: „Die Fortbildungsſchulen gebe ih gerne
preis; für uns iſt der Kulturfampf die Hauptfache.“ — Es braucht faum noch be—
ſonders barauf aufmerffam gemacht zu werden, daß bier überall Iebiglih von ber
allgemeinen Fortbildungsihule bie Rebe ift, wie fie in Norddeutſchland durchweg
bie Regel bildet und auch von dem genannten Berein verfianden wird. In Sadjen,
Großh. Heflen, einigen thüringifhen Staaten u. f. w. ift biefelbe bereits obligatoriſch;
wer bier einen dem umſtändlichen Apparate nur halbwegs entiprehenden Erfolg er—
wartet, ift ficher ein unverbefjerlicher Optimiſt, deſſen päbagogifhe Einfiht faum Neid
erweden bürfte.
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ſchulen“) bietet eine mittelmäßige Volksſchule während einer achtjährigen
Schulzeit ihren Schitlern: „Fertigkeit im Lefen und im felbftändigen Nieder-
Ihreiben einer einfahen Erzählung oder Beſchreibung ohne grobe ortho-
graphifche Fehler, Uebung in Anwendung der Örundrehnungsarten mit
ganzen und gebrochenen Zahlen und Aehnliches.“ Das ift Häglich wenig
und fönnte offenbar bei genügenden Lehrkräften und Lehrmitteln im der
Hälfte der Zeit jelbft mit mäßig begabten Schülern erreiht werben. Doch
darüber fpäter. Hier ift nur die frage, ob denn die fo viel berebeten
Fortbildungsfchulen fähig find, das in ber Elementarſchulzeit Verſäumte
nachzuholen. Wer die BVerhältniffe fennt, wird nicht wagen, dieſe Frage
zu bejahen.
Werfe man nur einen flüchtigen Blick auf die thatſächlichen Zuſtände,
wie fie mit wenigen Ausnahmen faft überall beftehen. Auf hohen obrig-
feitlihen Befehl wird irgendwo eine „gewerbliche“ Fortbildungsſchule er-
richtet. Die Meifter find nunmehr bei Strafe gehalten, ihre Lehrlinge und
Arbeiter unter 18 Jahren wöchentlich zwei Mal Abends nad Feierabend,
alfo etwa von 8—10 Uhr, oder auch des Sonntags in die Schule zu ſchicken.
Da kommt denn ein Biertel- over Halbhundert Lehrlinge aller Berufsarten
zufammen, müde und abgehegt von des Tages oft zwölf» bis vierzehn-
ftlindiger Arbeit, und beginnen nun unter Anleitung des Ortsichullehrers
ihre Uebungen. Die jchwielige Hand, welde tagüber den Meißel ober
Hammer geführt hat, fol nun mit gleicher Birtuofität die Schreibfeber, den
Zeihenftift handhaben, das müde und ftumpfe Hirn fol ſich fchwieriger
Gevantenarbeit anbequemen, im Rechnen, der Sprach- und Naturlehre, ver
Geographie und Geſchichte, wenn's gut geht aud ber Geometrie, der Chemie
und Phyfif. Iſt der Lehrer einer von den modernen, jo fommen aud Bud):
führung, Stenographie, Wirthſchaftslehre oder eine neue Sprache auf bie
Tagesordnung. Der legteren Gegenftände nimmt fich vielleicht der Redakteur
des Lokalblattes an oder fonft eine jchägbare Kehrkraft. Ich Habe alle
Ahtung vor dem Bildungsftreben unferer Arbeiterjugend, aber ich muß jehr
bezweifeln, ob e8 bejondere Bernunft verräth, ihnen Derartiges zuzumuthen,
während fie ihre ganze Kraft der Erzielung einer genügenden Erwerbsfähig-
feit zuzumenden haben. Die Borbildung berjelben ift natürlih ſehr un—
gleich ; niemand weiß an welder Stelle die Schule einzufegen, wo fie auf-
zuhören bat. Bei der Kürze der Zeit, der Manichfaltigfeit der Unterrichts-
gegenftände, deren unmittelbarer Nugen den Knaben nicht einleucdhtet, darf
man fih über den Mangel an Interefje bei der Mehrzahl kaum wundern.
Die Lehrer find, wie erwähnt, die am Drte angeftellten Boltsfcyullehrer.
Man darf mit hoher Befriedigung anerkennen, daß fie jich meift ber ſchwie—
rigen Aufgabe mit großer Liebe und Aufopferung unterziehen. Aber es heißt
Unmenjchliches verlangen, wenn man meint, daß ein Mann, der über Tag
80—100 und mehr Kinder in aufreibender Anftrenguun zu unterrichten hat,
no geiftige Friſche genug behalten folle, um am Abend oder Sonntag ſich
ben Lehrlingen zu widmen. Die Väter ber Städte find fparfam; ber Fall
*, C. Schröder, Die gewerblihe Fortbildungsſchule. Berlin 1872, ©. 18.
Die obigen Angaben find für den größeren Theil der Monarchie eber zu hoch, als zu
niedrig gegriffen.
40
ift nit fo felten, daß den ohnehin ſchmal befolveten Lehrern ver Fort»
bildumgsunterriht nicht beſonders vergütet wird. Sie find ja kraft ihrer
Bofation aud hierzu verpflichtet. Das dient micht gerade dazu, ihr
Intereffe an der Sache zu fteigern. Man vertheilt daun wohl bie Laft auf
alle verfügbaren Schultern, und es gibt thatſächlich Fortbildungsſchulen, in
denen heute der, Über 8 Tage ein anderer und nah 14 Tagen wieder ein
anderer Lehrer unterrichtet, biß die Reihe um ift.*) Mit mwelhem Erfolg,
läßt fih denken. — Die gewerbliche Fortbildungsichule, wie fie gegenwärtig
verftanden wird, als ein Lüdenbüßer für vie vernachläffigte allgemeine Volks—
fhulbilvung, ohne inneren Zufammenhang mit der Gefammtorganifation bes
Schulmwefens, hat keinen vernünftigen Sinn. Gie ift geradezu ſchädlich,
indem fie die unbegreifliche Gleichgültigkeit der Volksvertretungen und
Regierungen gegen eine zeitgemätße Reform der Elementarſchule erhält.
Man hat in den letzten zehn Jahren ſo oft das Wort geſprochen und
drucken laſſen: die ſociale Frage iſt eine Bildungsfrage. Wenn man dieſen
Sat allgemein nimmt, fo iſt er unrichtig, und jeder, ver ihn nachſpricht,
gibt feiner focialen und wirthſchaftlichen Einfiht ein Armuthszeugniß und
verfhiebt den Schwerpunft der Sade. Die fociale Frage ift ihrem innerſten
Kerne nah eine wirthſchaftliche Frage oder, wie jener Chartiftenführer fagte,
eine „Mefier- und Gabelfrage“ und fann nur duch wirtbfhaftlihe Reformen
auf Grund der allgemeinen Rechtsgleichheit gelöft werden. Es ift Die Be—
bauptung aufgeftelt worben, daß die Entwidelung der Klaffengegenfäge nie
bis zu der Schärfe gebiehen fein würde, die fi wieder aus ben letzten
Reihstagswahlen offenbart hat, wenn bie Regierungen feit Aufang dieſes
Jahrhunderts durch gründliche Reformen im Schulwefen dem Fortſchreiten
der Rulturgegenfäge rechtzeitig Einhalt gethan hätten. **) Das ift unbedingt
zuzugeben: der gewerbliche Mittelftand würde nicht in dem Maße focial
und techniſch verfrüppelt und verfiimmert fein; er würde durch zweckmäßige
Drganifation der Produktion auf Grund der Aſſociation manche, jegt ver-
Iorene Pofition gehalten haben. Hirth fagt gewiß mit Recht: „Der Menfc,
der feine allgemeine Bildung befigt nnd nun zur Erhaltung des nacdten
Lebens gezwungen ift, aud beruflich auf jeden weiteren Gefichtäfreis zu ver-
sichten, muß nothwendig anf den Werth der Mafchine herabfinfen. Der
niedrige Kulturgrad der fleinen Leute wird zum verhängnißvollen Schußzoll
für das Großfapital, deſſen Prämie mit jedem neugeborenen Arbeiterlinde
wählt.“ Wenn er nun aber weiter meint, durch einen großartigen „Kultur-
hub“ der ungebilveten und in ihrer Lebenshaltung auf das Nothdürftigſte
berabgebrüdten Klaſſen den letzteren eine gleihe „Bewaffnung im Kampfe
) R. Nagel, Die gewerblichen Fortbildungsfhulen ber Provinz Preußen.
Danzig 1875, ©. 22. In Br. Eylau wechjeln jo 7 Lehrer von Sonntag zu —
in Bilhofsburg 6, in Liebemühl 4, von benen jeber je einen Monat unterrichtet.
ſelbſt kenne einen Fall, wo bie brei Lehrer eines Ortes fi ben ſchmalen Verdienſt ie
glaube 60 Pfennig pro Stunde) nicht einmal gönnten und von Woche zu Woche ab—
a werden mußte.
G. Hirth, Ueber Volfsbildbung und Rechtsgleichheit. Zur Löſung ber jocialen
gran. 2, Auft,, Leipz. 1873. (Auch Rn in ben „Freifinnigen Anſichten ber
olkswirthſchaft und bes Staates“. Leipz. 1876, ©. 53 fi.) Eine zwar nicht durchweg
befriedigende, aber in ihren Grundgebanfen Re Schrift, bie leider fat ohne
Einfluß geblieben ift.
41 .
ums Dafein“ geben zu können mit ber Klaffe, die ihnen im Streite um
die Höhe des Arbeitdertrags und damit um die fociale Stellung gegenüber
fteht, fo ift dies eime fhöne und verführerifhe Täufhung. Er vergißt dabei,
daf die „Konkurrenzfähigkeit” der Perfonen, welche im wirtbichaftlihen Leben
einander gegemüberftehen, in erfter Linie auf ihrer Kapitalkraft beruht und
erft am zweiter Stelle auf ihren intelleftuellen und moralifhen Eigenfhaften.
Darnach beftimmt fi der Einfluß einer erhöhten Geiftesausbilpdung auf Die
Fähigkeit, dem vollswirthſchaftlichen Intereffenlampfe gewachſen zu fein. Doc
mag immerhin eingeräumt werben, daß noch in dem erften Drittel biejes
Yahrhunderts die Intelligenz gegenüber dem Befig eine höhere Bedeutung
harte, als jest, wo fie ohne Unterftägung beffelben fih mur ansnahmsweife
und unter den größten Mühen Bahn zu breden vermag. Aber auch noch
unter den heutigen Berhältniffen müßten die jocialen Folgen eines auf
der gefeglich gemwährleifteten gleihen Rechtsbaſis aufgebauten Bolfsbilvungs-
weſens ſich auf die Dauer auch wirthichaftlih ungemein wohlthätig erweifen.
Erhöhte Bildung innerhalb einer ganzen Vollsklaſſe hat eine Erhöhung ver
Lebenshaltung zur unmittelbaren Folge; mit der Erweiterung des konven—
tionellen Bedürfnißfreifes würde der Arbeitslohn fteigen und darnach mitte
fih auf die Länge aud die ganze wirthfhaftlide Zufammenfegung ver Ge—
ſellſchaft modificiren. Man hat es ja fo vielfach beflagt oder getabelt, daß
bie Arbeiter meift die Lohnfteigerungen der inbuftrielen Fluthjahre nicht zur
Hebung ihrer materiellen und kulturellen Lebenshaltung zu verwenden
mußten. Man hat darans mit befliffenem Eifer die Berechtigung ſchöpfen
zu dürfen gemeint, ſich immer tiefer im jenes äſthetiſche Mißbehagen einzu-
bohren, mit dem felbft fonft wohlmeinende Männer der Ürbeiterfrage gegen-
über ftehen. Ja man ift auf diefem Wege zu jener blöben Stumpfheit des
politifhen Denkens und der biftorifhen Auffafjung gefommen, von der aus
man entweder die ganze Proletarierbewegung zuſammenkartätſchen oder ihr
mit ein paar homöopathiſchen Receptchen, wie Schievsgerichten, Gewerkvereinen,
Hülfskaffen zc., frievlihe Bahnen vorzeihnen zu fünnen meint. Die aller-
nächſte und allerhöchſte Aufgabe des Staates und der gebildeten und befigen-
den Klaſſe gegenüber der focialen Frage ift unbedingt eine pädagogifche:
erft wenn es gelingt, die arbeitende Klaſſe möglichft allgemein an ven
Gütern der Kultur, an dem geiftigen Errungenfchaften der Gegenwart zu
betheiligen, finden einfchneidende wirthſchaftliche Reorganifationsgedanten eine
ſolide Unterlage; erft bann können wir ohne Beforgniß vor fonft unver-
meidlihen focialen Berwidlungen der Zukunft emtgegenjehen und auf eine
friebliche und befriedigende Löfung der materiellen Schwierigkeiten hoffen.
Inhalt, Umfang, Allgemeinheit und Freiheit des Elementarunterrichts“,
jagt Lorenz Stein, „bebeuten in ihrem Kreife die Kraft und die Richtung
ber ganzen foctalen Bewegung einer Epode, und zwar in ber Weile, daß
die Entftehung und Ausdehnung deſſelben fowie feine organifhe Verbindung
mit dem allgemeinen Bildungswefen den großen Prozeß der Hebung ber
niederen Klaſſen überhaupt, fpeciell aber den ber Hebung berjelben zum
geiftigen Leben der höheren bedeuten. Es ift daher ohne eine wohl organi-
firte Elementarbildung gar fein wahrer focialer Fortſchritt möglich; mo der—
jelbe dagegen fehlt, fehlt das große vermittelnde Glied für den Uebergang
von einer Klaffe zur andern, mit ihm das Element der Ausgleihung der
42
Klaffengegenfäge, und der fociale Kampf wirb daher ein rober, gewaltjamer,
der die Vermehrung der Wohlfahrt zum Inhalt und die Despotie zur Folge
bat. Nur der tüchtige und allgemeine Elementarunterricht fann das ändern,
faft noch mehr durch fein Princip als durd feinen Inhalt.“
Dies ift die fociale Tragweite der frage; die politifche dürfte von
felbft einleuchten. Wir haben es bier zunähft nur mit ber technifchen
Seite zu thun; aber wir durften uns einer furzen allgemeinen Erörterung
nicht entichlagen, um fir die auf Grund dieſer zu ftelenden Anforderungen
ben Mafftab zu gewinnen. Ueber bie Verpflichtung des Staates, „für bie
Bildung der Jugend durch öffentlihe Schulen genügend zu forgen“ *),
bedarf es feiner Worte; fie ift wohl in allen deutſchen Staaten ver-
faffungsmäßig anerkannt und erfcheint als nothwendige Konfequenz bes all-
gemeinen Schulzwange. Daß die dermaligen Leiftungen der Volksſchulen
durchgängig hinter den Zeitanforberungen zurädbleiben, ift ſchon durch bie
Agitation für die obligatorifche Fortbildungsſchule zugeftanden, die am
eifrigften von gewerblichen Kreifen betrieben wird. Die Frage liegt nun
fo: bebarf e8 einer immerhin nad manchen Beziehungen bevenklihen Aus-
dehnung des ftaatlihen Schulzwangs bis zum achtzehnten Lebensjahre durch
bie obligatorifche Fortbildungsfhule, wobei ver Erfolg immer noch ein äußerft
ungenügender bleibt, oder läßt fih der Zwed nicht vollfommener durch eine
Hebung der Volksſchule erreichen ?
Die Leitungen der legteren entfprehen augenblidlih nur ihrer Orge-
nifation und ben auf biefelben verwandten Mitteln. Trotz ber gewaltigen
Fortfchritte auf allen Gebieten der geiftigen und materiellen Cultur fteht bie
Boltsfhule in Preußen und den meiften anderen deutſchen Staaten noch
immer auf dem Standpunkte, den fie am Ende bes vorigen Jahrhunderts
eingenommen hatte. **) Das Lehrziel, welches ihr gefeglich geftellt ift, ift ein
Häglich geringes und wird in ven allermeiften Schulen gar nicht einmal
erreicht. Abgejehen von ber Diürftigkeit der Lehrmittel, der ſchlechten Be-
ſchaffenheit ver Schullocale beeinträchtigt die Ueberfüllung der meiften Schulen
im höchſten Grave die Erreihung eines befriedigenben Reſultats. Das Ge-
fe fchreibt vor, daß von demfelben Lehrer höchſtens 80 Schüler gleichzeitig
unterrichtet werben dürfen. Diefe Zahl ift, wie jeder Anfänger in der
Pädagogik weiß, eine viel zu hohe; fie hat felbft bei der äußerſten Kraft⸗
anfpannung des Lehrers zur nothwendigen Folge, daß von ben Schülern
viel gefeflen werden muß, aber erftaunlih wenig gelernt wird. Allgemein
gilt die Zahl von 40 Schülern als die höchſte, welche gleichzeitig mit Er:
folg unterrichtet werben kann. Nun aber geht die Zahl in fehr vielen
Fällen,. auf dem Lande fogar in ber Regel, über das gefetlich zuläfjige
Marimum hinaus. Am 1. Juli 1875 gab e8 nah einer officiellen
Angabe im preufifchen Staate 54,496 Elementarlehrerftellen. ***) Bon biejen
*) Worte ber preuß. Perfafjungsurfunde vom 31. Januar 1850.
”*) Bol. Gneift, Die Selbftverwaltung ber Vollsſchule. Berlin 1869. Im
Vebrigen ſ. bie Schrift von Eduarb Sack, Unfere Schulen im Dienfte gegen bie
Freiheit. Braunfchweig 1874.
+) Bol. Jahrbuch für bie amtl. Statiftif bes preuf. Staates, IV. Jahrg., 2. Hälfte,
©. 54. 42fj. Der Kürze wegen find ordentliche und Hülfslehrerftellen im Zert zu:
fammengezogen.
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waren nicht weniger als 4508 oder 12 Procent berzeit unbeſetzt; faft
1900 der legteren wurben von ungeprüften Lehrkräften oder Präparanden
verwaltet, d. h. halbwüchfigen Jungen von 14—16 Jahren, die fih auf den
Befuh des Seminars vorbereiten. 2463 wurden von geprüften Lehrern
anderer Schulen oder Klaffen mitverfehen, und 155 Stellen waren ohne alle
Berforgung. Berüdfihtigt man nun, daß jenes „Mitverfehen“ von 2463
Schulen oder Klaffen nur dadurch möglich ift, daß immer je zwei Schulen,
bie „mitverfehene“ und diejenige, fiir melde der Lehrer orbnungsmäßig an-
geftellt ift, leiden, bezw. nur bie Hälfte des Unterrichts, der ihnen zulommt,
empfangen, fo wird man fi leicht eine Vorftelung von der herrſchenden
North und von den Refultaten des Unterrichts machen können. Auf je einen
Lehrer entfallen — immer die Richtigkeit der amtlichen GStatiftit voraus-
gefegt — durchſchnittlich 75 Schüler (auf dem Lande 79, in den Städten 63).
Ohne jeden Unterriht waren ſomit 11,625 Kinder, nit ordnungsmäßig
(d. 5. durch Präparanden und „Mitverfeher”) unterrichtet 511,200 Kinder
in 6816 Schulen bezw. Klafien. Auf dem Lande, aus deſſen Schulen aud
der ftäbtifche Urbeiter- und Handwerkernachwuchs zu einem beveutenven
Procentfag hervorgeht *), find die Volksſchullehrer mander Bezirke thatſächlich
zu ambulanten „Schulhaltern” geworben. Im nicht wenigen heilen ber
alten Provinzen herrſchen befanntermaßen nad dieſer Richtung entjegliche
Zuftände. Unter ven Einzelheiten, vie bugenbweije zur Hand find, fei nur
folgender Bericht eines nationalliberalen Blattes hervorgehoben :
„Der Lehbrermangel ift in einzelnen Bezirken ber Provinz Schlefien jo groß
geworben, daß die Beitimmungen des Minifteriums über das Marimum der Schüler:
zabl nicht beachtet werben können. Nach bem in ber General-Fehrerfonferenz in Kattowig
erftatteten amtlichen Berichte ergibt fi, daß in den ländlichen Schulen des Kreiſes
achtzig Lehrer 11,390 Schüler unterrichten, alfo auf jeben Lehrer 142 Schüler fommen,
während vorfhriftsmäßig die Schülerzahl nicht Über achtzig betragen fol. Aus dem
Liegniger Regierungsbezirt wird ferner ein Fall berichtet, daß bei einer in bem Jahre
jhon einmal —* Lehrermangels zeitweiſe geſchloſſen geweſenen Dorfichule abermals
eine ſechswöchentliche Unterbrechung eingetreten iſt, weil der junge Lehrer zur Ableiſtung
ſeiner Dienſtpflicht eingezogen und ein Erſatz für ihn nicht zu beſchaffen geweſen iſt.
Daß ländliche Lehrer in Ermangelung von Hülfslehrern weibliche Familienmitglieder
mit der Ertheilung des Unterrichts betraut haben, gehört nicht zu den Seltenheiten und
hat, auch wo eine Berechtigung der Hülfslehrerinnen zur Ertheilung von Unterricht
nicht nachgewieſen war, die — der Aufſichtsbehörden finden müſſen, weil
nur auf dieſe Weiſe die Fortführung des Unterrichts möglich wurde. Die gleiche Er—
ſcheinung zeigt ſich übrigens bekanntermaßen faſt in allen Provinzen und ſie wird ſich
ſo lange wiederholen, bis die oft genug dargelegten Gründe, aus denen ſie mit Noth—
wendigkeit erwächſt, beſeitigt find.”
Aber auch in den neuen Provinzen wird es bald kaum beſſer ausſehen.
Das ehemalige Naſſauer Ländchen war früher der Trefflichkeit feiner Volks—
ſchulen wegen berühmt. Bor 1866 hatte aud das ärmfte Dörfchen des
BWefterwaldes feinen Lehrer; im vorigen Jahre waren allein im Amte
Ufingen von 52 Schulſtellen 13 unbefegt.**) Die Gegend ift arm, bie
*) Engel in ber Zeitſchrift bes ftatift. Bureaus X (1870), ©. 396.
*) „Frankfurter Anzeiger” vom 11. Februar 1876. Freilich leidet nicht allein
Preußen unter der Mifere bes Lehrermangeld. Aus ben Thüringifhen Staaten (mit
Ausnahme von Sachfen: Weimar) waren noch vor kurzer Zeit ähnliche Klagen zu ver:
nehmen. Das Schulmwefen im Königreih Sachſen gilt für gut; dennoch theilte am
16. Januar 1876 ber „Hamb. Corr.“ mit, daß nad Angabe bes Bezirksjchulinipeftors
4
Bücher, Die gewerblide Bildungsfrage.
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Dörfer liegen weit aus einander; wie fih da die 26 unter dem Notbftand
des „Mitverfehens* ſtehenden Schulen befanden, läßt fih ahnen. Aehnliche
Klagen erfhallen aus Hannover und Schleswig-Holftein. Schon fängt man
an, fhägbare Kräfte für das Lehrfach zu nehmen, we man fie findet. Trotz
aller Staatsfubvention vermögen die Präparandenanftalten und Seminarien
wenig mehr als ven natürlichen Abgang zu deden. Die Zahl ver Lehrerinnen
an Elementarſchulen, wo ihre Kräfte felten den Anforverungen gewachfen fein
dürften, hat fi zwilhen 1873 und 1875 von 3,177 auf 3,936 vermehrt.
Ein Ende der North ift gar nicht abzufehen.
Ein weiteres Hinderniß für die Erzielung eines erträglihen Erfolges
ift die Organifation der preußiſchen Volksſchulen. Die einklaffige und bie
Halbtags-Schule herrſchen auf dem Lande überall vor; ja es fcheint bie
Abſicht zu fein, fie zu eigentlihen Normaljchulen zu mahen. Den einfachten
Lehrregeln zuwider werben bier Kinder jeven Alters vom 6. bis 14. Yahre
in ein und bemfelben Lokale von ein und vemjelben Lehrer gleichzeitig
unterrichtet, oder vielmehr die Mehrzahl wird „ftill beihäftigt”, während
immer nur eine Abtheilung fich der perfünlihen Umterweifung des Lehrers
erfreut. In der That genieht aljo der einzelne Schüler nur etwa ben
vierten Theil des Unterrichts, auf welchen er nad allen Regeln ber Ber-
nunft und mad) dem Geift der Gefege Anfpruh hat; für ven größten Theil
der Schulzeit hat er daneben die Befugniß, auf der Schulbanf zu figen
und Urbeiten zu machen, bie ver Lehrer faft nie im Einzelnen fontroliren
fann, deren Nugen demgemäß eim jehr zweifelbafter ift. Bon ber Beichaffen-
heit der Schullofale und ihrer Ausftattung mit Lehrmitteln ift es räthlich,
lieber zu fchweigen. Das VBerzeihniß der „unentbehrlihen Lehrmirtel* in
den „Allgemeinen Beftimmungen“ vom 15. Oftober 1872 ift wahrlich kein
Dokument, mit welchem ver preufifhe Staat feine Kulturmiffion beweifen
fann, und wie oft werben feine vierzehn Nummern nit einmal komplet
vorhanden fein, obgleich fi) wever eine Wandkarte von Europa (gefchmeige
denn der übrigen Erdtheile) noch ein einziges Anfhauungsmittel für den
naturwiffenfhaftlihen Unterricht darunter befindet !
Ueber die Borbildung ver Lehrer ift nod; weniger Tröftlihes zu be
richten. Die Leiftungen ber flaatlihen und privaten Präparandenanftalten
können nad ihrer ganzen Organifation und nah der Dürftigfeit ihrer Aus-
ftattung feine glänzenden fein, fo viel Ruhmens viefelben fih auch zu
erfreuen haben. Einrichtung und Lehrziel der Seminarien entfprehen nad
keiner Seite den Anforderungen ber Zeit. Was z. B. an geographifchem
und geſchichtlichem Unterricht ver Normallehrplan vorjchreibt *), geht nicht
über das Maß hinaus, welches den 12—14 jährigen Knaben der höheren
BDürgerfhulen oder ber mittleren Realfhulllafien geboten wird. Es ift kaum
glaublih, daß in der Marhematif das Gewöhnlichite aus ber ebenen Geo-
metrie, in ber Algebra vie Gleichungen zweiten Grades (Meihen- und
Spieß in ber Amtshauptmannihaft Chemnitz allein 70 Lehrkräfte fehlten, von bemen
nur 24 durch die nächſte Kanbidatenprüfung des Seminars in Zſchopau auf Entfat
zu vechnen hatten, In Baiern fcheint es nicht beffer zu fiehen. ©. König im ben
Gutachten des Vereins für Socialpol. über das Lehrlingsweien S. 7. Am Uebrigen
vgl. Sad a. a. O. S. 29 ff.
*) Man vgl. die Allgem. Beſtimmungen vom 15. Oct. 1872, ©. 36 ff.
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Logarithmenlehre nur ausnahmsweife!) das Endziel des Seminarwiſſens
bilden. Nicht einmal für ben Unterricht in der Mutterfprade und National:
Iteratur ift genügend geſorgt. Kurz man fann fagen, daß bie fachliche
Ausbildung unſerer berufenen Volksbiloner hinter dem Maße erheblich
zurüdbleibt, welches gegenwärtig als das allgemeine Bildungsziel des höheren
Dürgerftandes durch die Realſchule erfter Ordnung aufgeftelt wird. Wie
ed mit ber felbftändigen Weiterbildung der jüngeren Lehrer ausficht, darüber
wurden von genauen Sennern der Berhältniffe auf vem Erfurter Lehrertag
wahrhaft baarfträubende Einzelheiten mitgetheilt. Nicht nur, daß ihnen die
Hauptwerfe unferer Dichterheroen faum dem Namen nah befannt feien:
ed fehle felbft nicht felten vie Fähigkeit, orthographifh und grammatiſch
rihtig zu fchreiben. Ein Wunder, wenn e8 anders wäre! Das Seminar
erzieht nicht zur geiftigen Selbftänvigkeit, ſondern begnügt fih mit einer
nothdürftigen Drillung; die materielle Notb, der Zwang zu jeglicher Art
von Nebenbeihäftigung, die Arbeitslaft der Schule find fpäter nicht dazu
angetban, Zeit und Kraft und Freudigkeit zu rüftigem Weiterftreben übrig
zu lafjen.
Der Gegenftand drängt und dieſe Erörterungen auf; wir glauben
eher zu heil als zu dunkel gezeichnet zu haben. ever, ver fi die Frage
ſtellt, ob unfere Volksſchulen eine den Anforderungen bes praktiſchen Ge—
werbelebens genügende Ausbilvung gewähren, muß vor biefen, in me-
lancholiſches Grau gebüllten Hintergrund treten, Man kennt an leitender
Stelle recht gut den fchneidenden Widerſpruch zwifchen den Forderungen
ver Zeit und den tharfählihen Zuſtänden des Bolfsbildungswefens. Der
Erlag vom 15. Oktober 1872 hat deßhalb im Anſchluß an die bereits in
vielen Orten beftehenven Bürger:, Mittel-, Rektor, höheren Knaben - over
Stadtſchulen eine Art oberer Volksſchulen gejhaffen, „welche einerfeits ihren
Schülern eine höhere Bildung zu geben verfuhen, als dies in ber mehr-
Maffigen Vollsſchule geichieht, andererſeits aber auch die Bedürfniſſe des
gewerblichen Lebens und des fogen. Mittelftandes in größerem Umfange
berüdjichtigen, als dies in den höheren Lehranftalten regelmäßig ver Fall
fein fann. Es entjpriht den Anforderungen ber Gegenwart
nit nur, die beftehenden Anftalten diefer Art weiter zu
entwideln, fondern aub die Neuerrihtung berfelben
Seitens der Gemeinden thunlihft zu fördern“. Go das
Minifterium, welches damit ein geradezu vernichtendes Urtheil über den
Stand des Volksſchulweſens ausſpricht, es aber dem guten Willen und ber
Steuerkraft ver Gemeinden itberläßt, ob fie „den Anforderungen der Gegen-
wart entſprechende“ Mittelihulen erhalten follen oder ob fie fih mit ber
nieberen Elementarjchule begnügen müflen. Es ift im höchſten Maße be-
zeihnend, daß man die Verwaltung und die Aufbringung der Koften für
die Volksſchulen ven Heinen lotalen Verbänden überlaffen hat ohne Rüdficht
auf die ungleiche Wohlhabenheit der einzelnen Gegenden *) und dag man
gerade an der Volksſchule mit der Selbſtverwaltung erperimentirt, für bie
*) Bergl. bie nad ber finanziellen Seite gewiß ſchlagenden Ausführungen von
G. Hirth, Bolfsbildung und Rechtsgleichheit, S. 37 fi.; auf dem Gebiete der Schul:
aufficht herrſcht kaum weniger Unvernunft.
4*
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auf anderen Gebieten das Volk immer nicht reif genug if. Wohin wir
auf dieſem Wege gelangen müſſen, fann bei den herrſchenden geſellſchaftlichen
und politiihen Klaffenftrömungen faum zweifelhaft fein.
Was die liberalen Parteien in Volls- und Gemeindevertretung bis-
lang für die Schule gethan haben, ift ein Hägliches Zeichen ihrer Kurz-
fihtigfeit und ihres Egoismus. Faſt jeder Einzelne unter ihmen fieht bie
Unzulänglichkeit der Bolksfhule ein und wer die Mittel nur irgend zu
erſchwingen weiß, jchidt feine Kinder nicht in dieſelbe. Mit Aufbietung oft
verhältnigmäßig bedeutender kommunaler Mittel hat man in ben Gtäbten
und größeren Orten faft überall Rektoratsſchulen, nievere und höhere Bür-
gerſchulen, Realſchulen erfter und zweiter Ordnung, Öymnafien und Pro—
gymnaſien errichtet. Die Inftiturion des Einjährig-Freiwilligendienſtes
begünftigt in hohem Maße diefe Anftalten ; bei der Mehrzahl ihrer Schüler
bat denn auch der Bildungstrieb mit der Erlangung ber Freimwilligen-
beredhtigung ein Ende. Diefe Schulen belaften natürlih die ftäptifchen
Budgets ſchwer, wenn fie nit gar Staatsunterftiigung beanfprudhen und
erhalten ; fie werden mit Iururiöfen Schulhäufern, mit reihlichen Lehrmitteln,
mit den beiten Lehrkräften ausgeftattet. Für die Voltsfhule wird natürlich
um fo weniger gejorgt, je weniger die Bäter der Stadt, welche ja meift ber
befigenden Klaffe angehören, ein perfünliches Interefie dabei haben. Sie ift
ſchon tharfählih in allen größeren und in vielen Hleineren Städten zur
Armenjchule herabgefunken. Freilich ſchreiben die minifteriellen Beftimmungen
vor, daß nur da die Erridtung höherer Schulen zuläffig fein fol, wo für
die Volksſchule eine „ausreihende Fürforge ftattgefunden hat“. Was aber
bier al8 ausreihend angejehen werben darf, ift nach dem früher Bemerkten
zum Erbarmen wenig, Das Schulgeld für vie höheren Lehranftalten wird
gefliffentlih fo hoch bemeſſen, daß der Feine Handwerker, der Arbeiter nicht
daran denken kann, von ihnen für jeine Kinder Nugen zu ziehen, obgleid
er durch feine Steuern zur Unterhaltung verjelben beitragen muß. Für bie
Gymnaſien und Realſchulen ift das Schulgeld durch eine Minifterialver-
ordnung auf 100 Markt normirt worden; mande Städte gehen nod darüber
hinaus. Man fhmeichle fi nur nicht mit der Einbildung, daß dieſe höheren
Tehranftalten der Mehrzahl ihrer Schiller aud wirklich eine intenfiv höhere
Bildung gewähren. Ihre Organifation ift von unten an darauf berechnet,
daß die Schüler den ganzen ſechs- oder neunjährigen Kurfus durchmachen;
aber bei noch nicht 6 Procent ift das wirkli der Fall.*) Etwa 94 Procent
der Zöglinge können ober wollen den Kurſus nicht vollenden ; fie treten
ſchon aus ven mittleren Klaſſen, beften Falles nah Erlangung des Frei—
willigenreht8 aus und find für bie betreffenden Anftalten eine ſchwere Be-
laftung, für diejenigen Schüler, welche eine gründliche Vorbildung auf das
Berufsftubium erfireben, ein großes Hinderniß. Thatſächlich fteht ein folder
Gymnaſial- oder Real Tertianer oder Quartaner an wahrer innerer Aus—
bildung dem Knaben faum gleih, welder eine tüchtige württembergiſche
Bolls- oder preußifhe Mittelſchule durchgemacht hat. Aber eine höhere
Ausbildung ift aud von den Eltern meift gar nicht beabfichtigt; es kommt
*) Maſcher, Das beutihe Schulwefen nach feiner biftorifchen Entwidlung und
ben Forderungen der Gegenwart. ©. 97.
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bier derfelbe Zug ftändifher Abfchliegung, der in der ganzen Zeit liegt, den
Betroffenen oft felbft nicht bewußt, zum Ausdruck: die Kinder der Befigen-
den jollen nicht mit dem Kindern des „gemeinen Volks“ auf derfelben Bank
fiten. Früher war es mindeſtens nod die Kegel, daß durch die drei unteren
Elementarflaffen die Kinder aller Stände in derfelben Bolksfhule beifammen-
blieben ; jegt hat auch das faft ganz aufgehört. Die meiften höheren Lehr—
anftalten errichten fog. Borfhulen, in welden die Kinder fhon vom ſechſten
Jahre an für die Realfchule oder das Gymnaſium vorbereitet werden. Mit
welhen pädagogifhen Scheingründen man immer diefe Einrihtung mag zu
rechtfertigen fuchen: vom focialen Standpunkte aus ift fie im höchſten Grade
zu beflagen. Man verjege fi im den naiven Gedankenkreis eines folden
Kindes, das jene vornehme Schule befuht, während das Söhnchen des
Handwerkers, der im Hinterhaufe, des Arbeiters, der in der Manfarde wohnt,
zur Armenjhule muß. Soll uns da nit grauen vor der Zufunft, wenn
wir mit anfehen müſſen, wie dem heranwachſenden Geſchlecht von Kindes—
beinen an die Slaffengegenfäge eingeimpft werden, wie unſere fünftigen
Beamten, Kaufleute, Fabrikanten bereits in der Schule lernen, den Mann
im Arbeiterfittel gering zu jchägen ! *)
Bon den Tribünen der Parlamente, von den Kathedern der Hohjchulen,
auf allen Straßen und Gaſſen ruft man dem Arbeiter zu: „Du bift frei,
niemand hindert did in der Entwidlung und Verwerthung deiner Kräfte,
arbeite, fpare nur, werde auch reich, wie diejenigen, welde bu beneibeft !“
Aber die Gefellfchaft verfagt ihm die Mittel, fchneidet ihm die Möglichkeit
ab, fi die geiftige Ausrüftung anzueignen, welche ihm vie Fähigkeit ver-
leiht, fih in feinem Thun über die Mafchine, über das rein vegetative
Dafein zu erheben. Ia fie leiftet denjenigen noch allen Vorſchub, welche
aus feiner geifttgen Inferiorität Vortheil ziehen. Im den Gegenden ber
Hausinduftrie verfümmern viele Taufende von Arbeiterfindern ; vom früheften
Morgen bis im die tiefe Nacht hinein müſſen fi die Händchen regen, um
. *) Der „Bad. Beob.“ verfichert in einer Gorrefpondenz aus Pforzheim vom 16. Nov,
1876, daß ſich auch in größeren fübbeutichen Städten der Beſuch der Volksſchule fat nur
noch aus den nieberften Klafjen refrutirt. In einer jegt preußifchen Provinzialftadt,
deren Bürger fich ihres altüberlieferten bemofratifchen Geiftes zu rühmen pflegen, wurbe
unlängft das Schulgeld für Realfchnien erfter Ordnung und das Gymnafium auf 120 M.
normirt, für bie Realjchule zweiter Ordnung auf 100, für einige mittlere Anjtalten auf
36-55 M., für die Bürgerſchulen auf 18 M. In ber Discuffion der Stabtverorbnetens
verfammlung wurbe beantragt, das Schulgeld ber höheren Töchterſchule und das einer der
beiden Realjhulen erfter Ordnung auf 150 M. zu erhöhen, weil eine große Anzahl
von Eltern dies wünſche; im anderen Falle würde man nur bem Anititutswefen Bor-
ſchub leiften. In berfelben Stabt wurben bie bunfeln und feuchten Räume, aus welden
das Gymnaſium mit Rüdfiht auf die Gefundheit ber Schüler auf Anordnung ber
Behörde hatte entfernt werben müſſen, für eine Armenfchule beſtimmt — natürlid nad
vorgängiger Renovation. Eine zweite Armenfchule, welde eine ping ri
aus eignen Mitteln unterhielt, ohne daß das fläbtifche Kuratorium fi darum kümmerte,
litt dermaßen an Weberfülung, »daß die Behörde eine Reduktion der Klaffen auf je
80 Kinder verfügen mußte. — Aus Mainz berichtete unlängft ein Frankfurter Blatt:
„Dan babe nahezu 200,000 M. für die Reftauration bes Theaters ausgegeben, aber
eine gleiche Summe für Erbauung eines Schulhaufes für zu hoch befunden. In alten,
nothdürftig verbefferten Magazinen, in welchen bie Fußböden cementirt feien, erbielten
die Kinder Schulunterricht; wochenlang hätten bie Schüler einzelner Klafjen aus Mangel
an Schulbänfen fih auf ben flachen Boden jegen müfjen und Andere hätten mehrere
"Monate Ferien befommen, da man feine Lokale, um fie unterzubringen, gefunden.“
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am Erwerb der Familie mitzuhelfen; die Lehrer Hagen Jammer und Noth
über die Schlaffheit des Körpers, die Stumpfheit des Geiftes, die ihnen bei
diefen Kindern täglich in der Schule entgegentritt.*) Daß die Borfchriften
der Gewerbe-Orbnung über die Beihäftigung von Kindern in ben Fabriken
durchgehends feither nicht beobachtet worden find, ift eine burd die Reichs—
Enquete über die Frauen- und Kinderarbeit wie durch bie Berichte der
preußifhen Fabrikinfpeftoren beftätigte Thatſache.*) Bekanntlich bitten
Kinder unter 12 Jahren in Fabriken überhaupt nicht, vom 12. bis 14. Jahre
täglihd nicht über 6 Stunden beſchäftigt werden, Nachtarbeit ift gänzlich
unterfagt. Keine diefer Beftimmungen hat trog der Bemühungen der Be
hörden bis jest überall Durchführung gefunden. Für die Fabrilkinder
ſchreibt das Geſetz (G.-D. $ 128) „täglich einen mindeftens breiftändigen
E dhulunterriht in einer von ber höheren Berwaltungsbehörbe genehmigten
Säule” vor. Wo folhe Fabriffhulen — eine wirflih unverzeihlihe Kon-
nivenz der Geſetzgebung — errichtet find, herrſcht eine Klage darüber, „daß
die in den Fabriken befchäftigten Kinder ebenfowenig Zeit hätten, al® Nei-
gung zeigten, deu Anforderungen der Schule an den häuslichen Fleiß zu
genügen, daß in den Lehrftunden felbft aber ihre Aufmerffamkeit erſchlaffe“.
In den drei Aachener Fabriffhulen wurden 1875 von brei Lehrern 136
Knaben und 220 Mädchen unterrichtet, in Burtfcheid von einem febrer
115 Knaben, in Duisburg von einer dazu kränklichen Lehrerin eine Fabrik—
mäbcenflaffe von 170 Kintern: die geiftige Ausrüftung, mit der biele
Armen fpäter in das Leben hinausgeftoßen werten, kaun man fid vorftellen.
Der Ertrinfende Hammert fih an einen Strobhalm. Der Gewerbe
ftand, welder recht gut weiß, daß die nothwenbigfte Vorbedingung für bie
Erzielung eines tüchtigen und geſchickten Arbeiterftandes eine gute Volks—
fhulbildung ift, hat, fomeit er nicht überhaupt an einer Beſſerung ber Zu-
ftände verzweifelt, zum Theil der obligatorischen Fortbildungsihule jeine
Hoffnung zugewandt, zum Theil verlangt er eine Ausdehnung der Schul-
pflicht bie zum fünfzehnten Yebensjahre.***) Daß beide Vorſchläge bei Fortdauer
* Man vgl. die Ausführungen des Bürgermeifters Lubwig:Wolf von Großen:
hain in ben Eiſenacher Verhandlungen von 1873, ©. 42 f.
**) Bol, „Goncordia” 1876, Nr. 20. Jahrbuch für Gefeßgebung, Verwaltung
und Volkewirthſchaft im beutjchen KReih von Holtzendborff und Brentano,
L. 1. N. F. 1877, ©. 219 ff. Jahresberichte der preußiichen Fabrik-Inſpektoren 1874
und 1875. Namentli herrſchen in der Slas- und Zünbwaarenfabrifation vielfah
entfeplihe Zuftänbe; ſ. Jahresber. pro 1875, ©. 69 fi.;5 1874, ©. 50 ff.: „Die Schul:
Inſpektoren behaupten, daß nirgends ber Schulbefuh ber Kinder unregelmäßiger if,
als in ben Gemeinden, in welden Glashütten in Betriebe find; bie Kinder kommen
entweder gar nicht zur Schule, oder find buch die Nachtarbeit fo erjchöpft und
ermübet, daß fie dem Unterricht nicht zu folgen vermögen ober gar ſchlafen.“ Und
babei Fündigt uns der „Reichsanzeiger“ an, daß Mobificationen ber gefeßlichen Be:
flimmungen über die Kinderarbeit zu Gunften der Glasinbuftrielen in ber kürzlich
ftattgehabten Konferenz ber Fabrikinjpektoren vorgeſchlagen worden jeien!
***) In einer Petition von felbftändigen Handwerfsmeiftern Berlins an bas Ab:
georbnetenhbaus um Einführung obligatorifcher Fortbildungsihulen bieß es: „Es üt
allgemein befannt, daß fi der allergrößte Theil der jungen Leute, welche ſich ber Er:
lernung irgend eines Gewerbes widmen, aus denjenigen Volkskreiſen recrutirt, welche
in Bezug auf Schulbildung leider am jchlechteften bajtehen. Aus biefem Grunde iſt es
eine Sache der höchſten Nothwendigfeit, für die weitere Ausbilbung der Handwerks—
lehrlinge Sorge zu tragen, ba ohne eine folche erweiterte Bildung der Handwerker ben
49
der gegenwärtigen Berhältniffe nur wenig beffern würden, bedarf nah dem
Gefagten feines weiteren Beweiſes. Eins muß man fi immer vor Augen
halten — und im ber Betonung dieſes Punktes beftärft mich der Wiberftand
vieler Lehrherren gegen den Fortbildungsſchulbeſuch der Lehrlinge —: So-
bald die Berufsbildung beginnt, muß die ihr zur Grund—
lage dienende allgemeine Bildung abgeſchloſſen jein Ein
einfihtiger Gewerbetreibender änßerte fi über diefen Punkt bei Gelegenheit
ver Reichs-⸗Enquẽte über die Arbeiterverhältnifie treffend wie folgt: „Ueber-
haupt halte ich Fortbildungsfchulen für Lehrlinge für unpraktiſch. Wer mit
mangelhaften Schulfenntniffen in die Lehre tritt, hat, wenn er feine ganze
Aufmerkfamkeit der Erlernung feines Gefchäftes widmen foll, feine Zeit und
Luft mehr, in die Schule zu gehen. Die kurze freie Zeit ift überbies
nothwendig zur Erholung des Lehrlings, wenn er zur Arbeit friſch fein foll.“
Mich dünkt, das gilt für jeden Beruf: ohne ein genügendes Maß allgemeiner
Bildung fehlt e8 dem fpeciell fachlichen Unterrichte an der entiprechenden
Unterlage. Wer in ein kaufmännifches Gefhäft in die Lehre tritt, fährt
gewiß übel, wenn er nicht genügend ſchreiben und rechnen gelernt bat. Bon
dem Studirenden der Medicin, ber Jurisprudenz, bes Ingenieurweſens
fordert man das Maturitätszeugniß eines Gymnaſiums oder einer Real—
ſchule, weil von dem durch daffelbe gegebenen Maße von Kenntniffen der
Erfolg jeines Fachſtudiums abhängt. MUeberhaupt hat fi bei allen foge-
nannten höheren Berufsarten eine mehr oder weniger ſyſtematiſche Ver—
bindung bes nieberen mit dem höheren und fachmäßigen Unterrichte im
Laufe der Zeit herausgebildet. Sollte für das gewerblide Bildungswefen
nicht auf ähnliche Weiſe ein organifher Zuſammenhang herzuftellen fein?
Die Grundlage muß auf jeden all eine zeitgemäß eingerichtete Volls—
ihule für alle Stände bilden. Das fordern politifche, jociale und päda—
gogifhe Gründe. An die Spige jeder gefeglichen Regelung des Schul—
weſens follte man die Worte ftellen, mit melden Ariftoteles feine Aus-
führungen über die Erziehung im achten Bude der Politik einleitet: „Da
ein Ziel dem ganzen Staate gejegt ift, fo müſſen aud alle Glieder deſſelben
nothwenbig ein und biefelbe Erziehung haben; die Sorge für die legtere
muß eine gemeinjchaftliche fein und darf nicht Einzelnen überlaffen werben.“
Es bleibt uns nur eine Wahl: entweder müfjen wir den Grundſätzen der
formellen Rechtsgleichheit, deren theoretifche Anerkennung — das fei nicht
vergefien — dem Liberalismus zu verdanken ift, auf dem Gebiete ber
beutigen Zeitverhältnifjfen gegenüber feine gejelihaftlihe Stellung nicht mehr fihern
taın. Die Fortichritte er induſtriellem Gebiete fordern gebieteriich, den Handwerkern
eine größere Bilbungsfumme zuzuführen, weil ohne diefelbe ber Gewerbetreibende feine
Stellung als Staatsbürger niet aufreht erhalten und die mit derſelhen verbundenen
Aufgaben nicht im gemügender Weiſe erfüllen kann. Wir find aber außerbem ber
ieften Weberzeugung, und hoffen bierin mit dem hoben Kaufe der. Abgeordneten voll:
ſtändig übereinzuftimmen, daß nur die mangelhafte Bildung in den Handwerkskreiſen
es ermöglicht bat, daß die focialdemofratifhen Agitatoren für ihre ebenjo thörichten
als ftaatsgefährlihen Lehren eim fo gut zu beadernbes Feld unter ben Arbeitnehmern
gefunden haben.“ Ausbehnung ber Schulzeit bis zum 15. Jahre gleihmäßig von einem
Sroßinbuftriellen und einem dwerfer beantragt: Gutachten bes Ber. f. Socialpel.
üb. das Lehrlingsweien, ©. 7 u. 42. Ueber bie Abhängigkeit jeder tüchtigen gewerb-
lien Bildung von dem Stande ber Volksſchulbildung: Eitelberger v. Edelberg,
Ueber Zeichenunterricht und funftgewerbl. Fachſchulen, ©. 29.
50
geiftigen Kultur einen tharfählihen Inhalt geben, oder wir müffen zum
autofratifhen Syſtem, zur Beihränfung der Freiheit zurüdkehren. Die Ent-
fheibung kann für alle biejenigen, welche an eine befjere Zukunft ber
Geſellſchaft glauben, nicht zweifelhaft fein. Die Worte Freiheit, Rechts—
gleihheit, allgemeines Stimmreht, Selbftverwaltung bleiben leere Phrafen,
wenn wir ihnen nicht denfende Bürger zu Trägern geben. Der ganze Kampf,
für welchen feit einem Jahrhundert fo viel "Begeifterung und fo viel Blut
verwendet worben, bleibt ein ſchlechter Spaß, eine thörichte Laune der Zeit,
wenn er nicht wirklich für das Volk, fondern für eine Heine Minorität ge
führt wurde, wenn es uns nicht gelingt, die politiſchen Staatsangehörigen
auch geiftig und wirtbichaftli zu Bollbirgern zu machen.
Eine gründliche Reorganifation der Schule ift gleichbedeutend mit der
Umwälzung eines großen Theiles des auf dieſem Gebiete feirher zur Unehre
der Nation Beftebenden. Sie fordert zunähft: Abihaffung ver Lokalen
Schuljocietäten, Uebernahme fümmtliher Koften für allgemeine Bildungs-
zwede auf das Staatsbudget, Aufbringung der Mittel durch gereht verans
lagte Steuern, Aufhebung des Schulgelves für vie Volksſchule, Dagegen
billige Bemeffung veffelben nah dem Gebührenprincip für die Anftalten,
welche fpecieller Berufsbildung dienen. Ferner gründliche Wegräumung des
Standesshulwefens und eine den Anforderungen der Zeit entſprechende
Bolksfhule, deren Beſuch für alle Stände obligatorifh if. Alle Privat-
inftitute find aufzuheben, weil im der Regel bei ihnen die Erwerbszwece
den Bildungs = und Erziehungszweden vorgehen. Privatunterricht ift nur
in befonderen, ver behörblihen Prüfung und Genehmigung unterliegenden
Fällen zu geftatten. Die Beihäftigung von Kindern in Fabriken ift, fo
lange die allgemeine Schulpflicht dauert, nicht zuläffig. Die höheren Bildungs-
anftalten dienen vorwiegend Berufszweden und find mit der allgemeinen
Bolksihule in eine organische Verbindung zu fegen. Als Mafftab des von
ber legteren zu Leiftenden muß zum Mindejten das Ziel der jegigen preu-
ßiſchen Mittelfchulen angefehen werden. An die Voltsjhulen haben auf ver
einen Seite die auf die Univerfität, das Polytechnikum ꝛc. vorbereitenven
Gymnaſien und Realfhulen fi anzuſchließen, auf der anderen Seite bie
gewerbliche Lehrzeit und im weiterer Linie technijche Unterrichtsanftalten, von
denen fpäter bie Rede ift.
Dies die Grundgebanfen, deren Ausführung und Begründung an biefer
Stelle zu weit führen würde. Es genügt für dem vorliegenden Zwed, bie
Forderungen für die allgemeine Vollsſchule näher anzugeben. Sie find nicht
jo erorbitant, als fie vieleicht auf ben erften Anblid erfcheinen.*) Die
preußiſche Mittelfhule ift natürlich feine vollfommene Einrihtung: aber in
ihrem Rahmen läßt fi unendlich viel Gutes und Tüchtiged erreichen, wenn
es nur gelingt, einen genügend vorgebilveten Lehrerftand zu erzielen. Die
jegigen Beſtimmungen über die Prüfungen der Lehrer an Mittelfhulen find
2) Auch Hirtb, a. a. O. ©, 46, meint: „Das mindefte, was wir unter allen
Umftänden ſchon jet von ben einzelnen Staaten verlangen müfjen, ift, ba fie mit
thunlichſter Befhleunigung die beffere Stadt»: ober Mitteljhule
überall an bie Stelle der unteren Bolfsfhule fegen und zwar zu allererft
da, wo unter bem bisherigen Syitem und unter den Einwirkungen fulturfeindlicer
Elemente die Volksbildung am meiften zurüdgeblieben iſt.“
51
viel zu dehnbar, die reife, auf welche fie berechnet find ober doch that-
ählih Anwendung finden, viel zu bunt und zu ungleich vorgebilvet. Von
den Seminarien, wie fie jett find, ift noch viel weniger Heil zu erwarten.
Die erfte Bedingung für das Gedeihen derſelben ift die Anftellung wiſſen—
ſchaftlich gebildeter Fachlehrer und die Entfernung aller ungenügend ausge—
bildeten Lehrerbilpner, der früheren Volks- oder Präparandenjchullehrer und
Theologen, über deren Leiftungen unter ihren ehemaligen Zöglingen nur
eine Stimme berriht. Die Präparandenanftalten find eine durchaus über-
lebte Inftitution ; fie müſſen erjegt werben, fei es dadurd, daß man für bie
Aufnahme in das Seminar das, Abiturientenzeugniß der Realſchule erfter
Ordnung fordert, jei es durch eine befondere auf der einen Seite an bie
Vollsſchule, auf der anderen an das Seminar anſchließende Vorſchule, für
vie ebenfalls wiffenfchaftliche Lehrkräfte erforberlih find. Natürlich verlangen
jelhe Anftalten ganz andere Mittel, ein durch dieſelben ausgebildeter Lehrer:
fand um das Dreis oder Vierfache höhere Bejoldungen, als fie gegenwärtig
gegeben werben. „Will man nad) und nad) das gefammte Lehrerperfonal“,
jagt Hirth, „durch hochgebildete Leute erfegen, die ihren Schulgemeinden in
jeder Beziehung als Kulturmehrer zur Seite ftehen, will man die Schul-
räume und bie Unterrichtsmittel itberall auf einen ven Anfprühen ver
Pädagogik und der Wiffenfhaft entfprehenden Stand bringen, jo wird man
zu einem Budget kommen, das unferem jegigen Militäretat ſchwerlich viel
aus dem Wege geht“.*) Was die Geftaltung der Volksſchule felbft betrifft,
jo ift al8 das Marimum der von einem Lehrer gleichzeitig zu unterrichtenden
Schüler die Zahl 40 feftzuhalten. In Städten und größeren Orten, wo
8 die Schülerzahl geftattet, müßten unter allen Umftänden ven verſchiedenen
Atersftufen verſchiedene Klaffen entfprehen. Auf dem Lande würde ſich in
dünnbevölkerten Gegenden die zwei- oder breiflaffige Schule ſchwerlich um-
geben laſſen; eine zwedmäßige Koncentration des Unterrihts und, wenn
irgend möglih, eine Verminderung der täglichen Lehrftunden würde aud
bier geftatten, Vieles zu erreihen. Der Unterricht hat überall nah Ber-
tiefung, nicht nach Verbreiterung ber Oberfläche zu ftreben, wie fie jest auf
niederen und höheren Schulen an ver Tagesordnung if. Darum ift ent-
ihieden vor der Aufnahme neuer Lehrgegenftände zu warnen. Ueberall muß
feftgehalten werben, daß die Bollsfhulbildung eine allgemeine Bildung
ift, die geiftige Wenzehrung, welche jedem Menſchen in's Leben mitgegeben
*) A. a. O. S. 42. Hirth fordert deshalb die Unterhaltung der Volksſchulen
auf Koften des beutjhen Reiches und Einführung einer gerechten Reichseinkommen—
teuer. Die Berfafjungsverbältniffe und bie Finanzgeſtaltung bes Reiches, wie fie
dermalen find, laſſen dieſen Vorſchlag mehr als bedenklich erfcheinen, jo viel Verlockendes
er font bat. Michtiger fcheint folgende Erwägung: Eine in dem Grabe gehobene
Volksſchule, wie oben und von Hirth verlangt wird, würbe Zöglinge liefern, welche
der Mehrzahl unferer jekigen zum einj. Freiwilligendienſt Berechtigten an Intenſität
der Bildung nicht nachſtänden. Jeder Grund gegen Berallgemeinerung ber einjährigen
Dienftzeit, welche ber Gewerbeftand aud aus anderen Gründen fordern muß, fiele bann
Das Militärbudget rebucirte fih um ein Beträchtlihes; jo würde ein großer
Theil der Koften für die Schule frei. Der Reſt könnte durch eine zwedmäßig ein:
gerichtete Wehrſteuer, die ich bei gehöriger Beichränfung auf bie Arbeitsfähigen unb
mit einer ftarfen Progreffion in ben höheren Stufen für eine burhaus gerechte
Steuerart halte, gedeckt werben.
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wird. Harmonifhe Entwidlung der geiftigen und körperlichen Kräfte, Er:
ziehung zur Selbftändigkeit des Denkens und Wollens und damit zu einem
tüchtigen Staatöbürgerthum ift das Ziel. Pädagogiſch ausgedrückt liegt der Punkt,
bis zu welchem jede Volksſchule zu gelangen ſuchen follte, da, wo es aud
dem mäßig begabten Schüler möglich ift, ſich felbftändig fortzubilven.
Das find im Umriß die Forderungen, welche die Zeit, bie heutige
wirthihaftlihe Zufammenfegung der Gejellihaft, die in unſer Staatsleben
bis jegt nur formell eingeführten Rechtsgrundſätze erheben. Sie find ibeell;
fie follen es fein. Daß es, felbft ven beften Willen ver herrſchenden
Parteien vorausgefegt, in Jahrzehnten kaum möglich ift, fie völlig zu ver
wirklichen, weiß ih. Was nöthig erfcheint, ift mit voller Beſtimmtheit aus
gegeben ; die Schulfrage muß von dem Unkraut der Phrafen und Schlag
wörter endlich einmal befreit werben. Wer den Weg beginnt, foll Har die
Richtung wiffen, in der er zum Ziele gelangen kann. Sonſt bleibt er
vernünftiger zu Haufe.
Den Einfluß, welden eine den Zeitanforderungen nur einigermaßen
genügende Bolfsfhulbildung an und für fi ſchon auf die technifche Tüchtigkeit
unferes Gewerbeftandes ausüben würde, fann man ſich nicht beveutend genug
vorftellen. Es ift nicht nöthig, bier auf Einzelheiten einzugehen ; wer unferen
früheren Erörterungen gefolgt ift, bedarf feines befonberen Bemweifes. It
aber damit die Aufgabe des Staates gegenitber der gewerblichen Bildungs
frage erihöpft? Offenbar handelt ſich's bei der profeffionellen Ausbildung
der Handwerker und Fabrifarbeiter um eben fo gewichtige Lebensintereflen
der Geſellſchaft, als in anderen Fällen der Fahbildung, wo wir es jelbft-
verftändlich finden, daß der Staat mit feinen Mitteln und mit feiner Auffict
eintritt. Bon den Univerfitäten und allen denjenigen Lehranftalten, welde
für fogenannte höhere Berufsarten vorbereiten, fann bier füglich abgeſehen
werben; es genügt, auf bie Lehranftalten für Bergbau- und Hüttenweſen,
die mittleren und niederen Landwirthſchaftsſchulen, die Waldbau-, Navigations-
und Handelsfhulen zu verweifen — Einrichtungen, bei deren Gründung ja
öfters ein ummittelbares ftaatliches oder kommunales Intereffe mitgewirkt
haben mag, bie aber ‚von der Mehrzahl ihrer Zöglinge nur zum Zwede
privater Erwerbsthärigkeit benugt werden. Wo von dem GStaate ähnliche
Anftalten für den gewerblichen Unterricht eingerichtet worven find, da geben
diefelben zunächſt an die Adreſſe der großen Fabrikanten und Unternehmer:
in polytehnifhen Schulen und Gewerbeakademien ift mehr als ausreichend
für die Heranbildung von Ingenieuren, Architekten und überhaupt höheren
Technikern .jever Art geforgt. Das Privatlapital nimmt hier unbedenklich
recht opulente Stmatsunterftügung entgegen und wir find nicht Willens, ihm
diefelbe ftreitig zu machen, da wir einfehen, daß auf dieſem Gebiete zur
Erzielung genügender Reſultate weder Privatanftalten noch der bildende Einfluf
der Praris ausreiht. Nur wollen wir fehen, ob aud für die niebere techniſche
Ausbildung gleihe Grundfäge gelten. Allem Anſcheine nad fehlt e8 auch
bier nit an der Fürforge des Staates, nur daß diefelbe entweber an bem
53
Felde vorbeifchieft, das fie treffen follte, oder für das Bedürfniß nicht ent-
fernt genügt.
Die Urfache liegt zum guten Theil darin, daß man über die thatſächlich
beſtehenden Berhältniffe in einer böfen Täuſchung befangen if. Man weiß,
daß die Werkftätte Feine tüchtigen Arbeiter Liefert; aber man will over fann
nicht einfehen, daß die Arbeitseinrichtungen nichts weiter zu erwerben geftatten,
ald eine ziemlich eng begrenzte Hanpfertigkeit in Einzelverrihtungen. Man
begnügt fi deshalb mit Einwirkungen ganz allgemeiner Art, von denen man
hofft, daß fie dem Gewerbe doch irgenpwie zu Gute kommen werden, ohne
fi darüber weiter Sorge zu mahen, daß deren praftifhe Verwendung ein
höheres Maß von tehnifher Selbftändigfeit und allgemeiner Bildung vor-
ausfegt.
Um zunädft bei Preußen zu bleiben, fo befteht hier feit einer Reihe
von Jahren, ziemlich ſpärlich vertheilt, eine Anzahl fogenannter Gewerbe-
ſchulen. Es ift hier nicht der Ort, auf die jevenfalls belehrende Gefdhichte *)
diefer Schulen näher einzugehen; nur das fei hervorgehoben, daß viefelben
früher vorwiegend dem Hanbwerfe dienten und vemfelben in ziemlich ent-
ſprechender Weife die allgemeinen theoretifchen Kenntniffe in der Mathematif,
den Naturwifienfchaften und in ben verſchiedenen Richtungen des Zeichnens
vermittelten. Zur Aufnahme gemügten die durch erfolgreihe Abfolvirung
einer Elementarfchule zu erwerbenden Kenntniffe und Fertigkeiten. Durd
Erlaß des Hanvdelsminifteriums vom 21. März 1870 find viefelben reor-
ganifirt, d. h. nah den Wünſchen eingerichtet worden, welche fih aus ven
Bezirken der Grofinbuftrie geltend machten. Zur Aufnahme ift das Zeugnif
der Reife für die Secunda eines Gymnaſiums oder einer Realfhule L O.
erforderlich; neben den für die fpätere gewerbliche Praris wichtigen Fächern
tritt Die Rüdfiht auf eine höhere allgemeine Bildung ftark hervor: dem
Unterricht in der beutfchen, franzöfifhen und englifhen Sprache, ver Geſchichte,
der Geographie und Komptoirwiſſenſchaft ift der dritte Theil der Yehr-
ſtunden zugewiefen. Der Curſus dauert drei Jahre; an die Abjolvirung
der beiden unteren Klaffen (das ift die Hauptſache!) ift die Erlangung der
Freimilligenberechtigung gefnüpft ; bie oberfte (Fach-) Klaſſe zerfällt in vier
Abtheilungen:
a) für die Borbilbung der Böglinge zum Beſuche einer höheren
technifchen Lehranſtalt,
b) fir Bautechnik,
c) für mechaniſch · techniſche und
d) für demifch-technifche Gewerbe.
Das find Schulen für künftige Ingenieure, Baumeifter, Fabrikdirektoren,
Vorbereitungsanftalten auf die Gewerbeafavemie und das Polytechnikum, und
wenn auch ein Theil ihrer Schüler unmittelbar in die Praris übertritt, fo
war der Unterricht, deſſen Organifation und Bertheilung auf die einzelnen
Fächer noch obendrein aller Paͤdagogik Hohn fpricht, doch viel zu allgemein-
*) Bol, Walth. Zebme, Die Meorganifation bes preuß. Gewerbeſchulweſens im
Jahresbericht Über bie höh. und nied. Gewerbeihule zu Barmen 1871. Außerbem
Schmoller in Hildebrands Yahrb. Ag Nationalöf, und Statiftif XV (1870), ©. 268 ff.
— GStatiftifches — IV, 2, ©. 122 ff. — Dan vgl. auch die Debatte über ben
Rebrenpfennig’schen Antrag i in ber 20. Sitzung des Abgeordenhaufes vom 14. Febr. 1877.
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tbeoretiih, um die rechte Frucht für die technifhe Weiterentwidelung zu
tragen.
Man hat ſodann die Fortbildungsſchulen mehr den gewerblichen
Bedürfniffen der Arbeiter und Handwerker anzupaſſen gefucht und bier das
Hauptgewicht auf Zeichnen, darftellende Geometrie und Modelliren gelegt. *)
Diefe Dinge find ficher für jedes gewerbliche Fach wichtig; der große Fehler
liegt nur darin, daß diefe Abend» und Sonntagsjhulen fich zu jehr ins
Allgemeine verlieren, daß fie innerhalb des furzen, ihnen zugemefjenen Zeit-
quantums aud) die in ver Volksſchule vernadläffigten Lehrgegenftänge berüd-
fihtigen wollen, daß es ihren Lehrern durchgehende an der geeigneten Vor—
bildung und der unerläßlihen Bekanntſchaft mit der Werkftattpraris fehlt.
Mer einmal Gelegenheit hatte, eine Ausftellung von Zeichnungen, die aus
diefen Schulen hervorgegangen waren, zu durchmuftern, dem wird die Unfähigfeit
der gewöhnlich für dieſes Fach herangezogenen Lehrkräfte grell vor Augen
getreten fein. Das Zeichnen ift hier nicht die Fähigkeit, Gegenftänvde richtig
zu jehen und in einer Fläche richtig darzuftellen, fondern die Linien einer
Vorlage möglihft genau nachzuziehen, wenn man fih nit gar zum Wiſchen,
Kreivefhmieren und. Farbenklexen verfteigt. Selbft in größeren Städten,
we man unſchwer bei Aufwand einiger Geldmittel fachmänniſche Kräfte ber-
anziehen könnte, begnügt man fi mit feminariftifch gebildeten Lehrern, und
wie auf den Seminarien der Zeichenunterricht beſchaffen ift, davon fann ber
Umftand allein eine VBorftellung geben, daß von 99 preußifchen Xehrer-
Seminarien faum ein halbes Dugend Fachlehrer für viefen Gegenftand befigt.
In den meiften Zeihenfhulen für Lehrlinge fehlt ver Auſchluß au die fpeciellen
Gewerbebebürfniffe: neben dem Schuhmacher figt der Zimmermann, neben
dem Kunfttifchler der Maler, neben dem Scloffer der Buchbinder. Ein
umfichtiger Lehrer wird ja nad Möglichkeit die einzelnen Profejfionen berüd-
fihtigen ; aber wenn die Abtheilung nur einigermaßen zahlreih ift, fo tft
ein gleihmäßiger Maflenunterriht kaum zu umgehen. Kein Wunder, baf
man meift über die Anfangsgründe wenig binausfommt, zumal ſich in Deutjd-
land nod faft nirgends die Ueberzeugung Bahn gebrochen hat, daß das
Zeichnen al8 ordnungsmäßiger Tehrgegenftand der Volksſchule viefelbe Berüd-
fihtigung verdient, wie das Schreiben. Nur in Württemberg ift man auf
dem zulegt angebeuteten Wege vorgegangen, und da hier überhaupt ber
Vollsihulunterriht auf verhältnigmäßig hoher Stufe fteht, fo nehmen aud
die mit mufterhafter Sorgfalt und großer Sachkenntniß geförderten gewerb-
lichen Fortbildungsfhulen unter allen ähnlichen Einrichtungen Deutfhlands ven
eriten Rang ein.**) Ihre Organijation beruht auf Freiwilligkeit und Ent-
geltlichkeit : fie rechnen auf die Elite des heranwachſenden Gewerbeftandes;
*) Man vol. den Erlaß des preuß. Kultusminifters vom 17. Juni 1874 bei
Nagel a. aD. ©. 42 ff. Während die Gewerbejhulen vom Hanbelsminifterium
rejfortiren, fallen bie gewerblichen Fortbilbungsfhulen in den Gefchäftsfreis des Kultus:
miniſters — natürlih, ba fie Lückenbüßer ber Volksfchule find, für ihre ganze Richtung
und ern im höchſten Maße nachtbeilig.
**) Bol. (Steinbeis), Die Entftehung und Gntwidlung ber gewerblichen
Fortbildungsſchulen in Württemberg. Herausg. auf PVeranlaffung der Commiſſ. für
d. gem. fyortb.-Schulen. Stuttg. 1873. — Ueber die Förderung ber Kleingemwerbe
überhaupt in Württemberg j. Shmoller, Geſch. d. Kleingew., & 322 fj., und bie
bort angeführten Schriften.
55
-——
für die große Maſſe der Lehrlinge und Arbeiter bleiben fie da allerdings
fruchtlos. Streben nad) auch praftifch gefhicdten und ausübenven Lehrkräften,
Sorge für Beihaffung und Zugängigmahung guter Lehrmittel, Anpaffung
an die fpeciellen lokal-gewerblichen Bedürfniſſe zeichnen fie vortheilhaft aus.
Sie leiften da fiher Borzligliches, wo in einer Gegend ein beſonderer Induſtrie—
zweig vorherrijht und die Kräfte zu koncentriren geftattet, die andberwärts
durch die Manichfaltigkeit der ins Auge gefaßten LTehrgegenftände zerfplittert
werben. Auch darf der Zeichen- und Movellirfhulen des badifhen Schwarz:
waldes hier rühmend gedacht werben, welche fih in Auswahl und Anwendung
des Lehrſtoffs ganz an die altheimifche Uhreninduſtrie anfchliefen und dieſen
wihtigen Erwerbszweig nad) ber fünftlerifchen Seite kräftig zu fördern ſich
angelegen jein laſſen.
Man fieht, die Bemühungen des Staats um die Hebung der gewerb-
lihen Arbeitsgeſchicklichkeit halten fi in engen und dazu wenig beftimmten
Grenzen. Die materielle Unterftügung, welche er für die tehnifche Erziehung
des eigentlichen Arbeiterftandes gewährt, beſchränkt ſich auf ein fehr Geringes,
da faft überall für die ärmlich dotirten Fortbildungsfhulen die Gemeinden
und die beteiligten Arbeitgeber aufzulommen haben. Derfelbe Mangel einer
ſachkundigen Oberleitung, der bie gewerblichen Interefien im Allgemeinen
drüdt, zeigt fih aud in ber gewerblihen Bildungsfrage. Wir wollen, um
ängftlihe Gemüther nit von vornherein abzufchreden, nicht verlangen, daß
das Lehrlingsweſen, wie fih 1851 ein franzöſiſcher Deputirter ausdrückte,
einen Theil des öffentlichen Unterrichts bilden fol. Aber fo viel darf man
bob von einer verftändigen Gentralleitung erwarten, daß fie die anerkannt
zwedmäßigen Anftalten, welde die Praris aus bdringendem Bedürfniſſe bis
jegt nur vereinzelt für bie Lehrlingsbildung gejhaffen und ausgebildet hat,
nah Kräften fördert und zu verallgemeinern fucht.
Solche vielverfprehenden Anftalten find die gewerblichen Fachſchulen,
bei denen nicht (wie bei den Fortbiltungs- und Gewerbefhulen neben ber
Verkftätte) Theorie und Praris als gefonderte Gebiete auseinanderfallen,
ſondern ein ganzes gewerbliches Specialfah in feinem praftiihen Zufammen-
bang und gemäß ben neueften Fortfhritten der Technik gelehrt wird. Den
Uebergang von den gewerblichen Fortbildungs= zu diefen Fachſchulen bilden
die Lehrkurſe, welche einzelne Fabriken in engem Anſchluß an die Bedürf—
niffe des Etabliffements für ihre jugendlichen Arbeiter eingerichtet haben.
Da fih hier Theorie und Praris in unmittelbarer Verbindung und fort:
laufender Wechſelwirkung erhalten Lafien*), fo leiften dieſe Anftalten ficher
Tüchtiges und es ift deßhalb ihre Weiterverbreitung dringend zu wünſchen.
Die Fachſchulen für Sleingewerbe find ziemlich neuen Urfprungs; ihre
Entftehung macht ſich natürlich bei lokal foncentrirten Inbuftriezweigen am
einfachften und leichteften. Am verbreitetften find noch die Baugewerkſchulen,
deren Preußen allein 10 (wovon in Berlin 3) befigt, neben ihnen die Webe-
Ihulen (in Preußen 3, in Württemberg 3, in Baiern 2). Buchdruckerſchulen
*) Wie dies im Ginzelnen fih ausnimmt, zeigen bie Ausführungen von
Mepmer über die Schuleinrihtungen der Mafchinenwerkitätte in Graffenftaben bei
Straßburg: Gutachten des Ber. für Socialpol. über die Reform des Lehrlingsweſ.,
©. 128 ff. (Vol. „Eoncordia* 1873, Nr. 5 u. 6.) Aehnliche he finden
fih in ber Fabrik von König und Bauer in Oberzell bei Würzburg: a. a. O. S. 1 ff.
96
finden fi in Leipzig und Berlin, im Dresden eine Schneiverafademie, in
Landshut eine Töpferfhule; es gibt Fachſchulen für Bäder, Bierbraner,
Uhrmader, Maſchinentechniker ꝛc. Die meiften dieſer Anftalten find aus
privaten, höchſtens noch mit Zuhülfenahme kommunaler Mittel errichtet; fie
jegen zum Theil eine längere praktiſche Thätigfeit ihrer Zöglinge voraus und
beabfichtigen nicht fowohl eigentliche Arbeiter, als Werkführer, Fabrikauffeher
u. ſ. f. auszubilden.
In wahrhaft großartiger Weiſe ift Defterreih mit der Gründung
von Fachſchulen vorgegangen ; ja man kann fagen, daß neben Witrttemberg
und in mancher Hinfiht Baiern Defterreih der einzige Staat ift, welder
das gewerbliche Unterrihtswefen im einfihtiger und planvoller Weife förbert.*)
In den Volks- und Mittelfhulen ift vem Zeihenunterridte
als allgemeinem Bildungsmittel die gebührende Stelle angewiefen. Für die
Lehrlinge ſchließt fih daran die gewerbliche Fortbildungsfäule,
welche für ven Zeichen und Modellirunterriht, auf dem fie für gewöhnlid
beichränft ift, wo es die örtlihen Verhältniſſe irgend erlauben, in Fad-
gruppen zerfällt, in denen bie verwandten Gewerbe vereinigt find. Durch
bie höhere Zahl der Lehrftunden, durch ben beftimmten von Fahmännern
entworfenen Lehrplan unterſcheiden fih dieſe Schulen vortheilhaft von ven
entfprechenden preußifchen. Sodann hat das öfterreihiihe Handelsminifterium
mit forgfältiger Benugung ber beftehenven Induftrieverhältniffe fpecielle Fad-
ſchulen gegründet, welche vie befondere Aufgabe haben, das Kunftgewerbe
in weiteftem Umfange zu pflegen, d. h. alle diejenigen Gerwerbözweige, bei
welhen es nicht blos auf technifche Solivität und Genauigkeit, ſondern auch
auf die Berhätigung künftlerifhen Geſchmacks ankommt. Auch in mehreren
deutſchen Staaten hat man dem Funftgewerblichen Unterricht feit einigen
Jahren erhöhte Aufmerkfamkleit zugewendet. Es fei hier nur erinnert am bie
Kunftgewerbejhulen in Minden, Nürnberg, Stuttgart, Karlsruhe, Dresten,
an die Akademie der bildenden Künfte im Leipzig, vie Unterrichtsanftalten des
deutfchen Gewerbemufenms in Berlin, die Kunftinpuftriefhule in Offenbach,
die Fiihbah’iche Anftalt in Hanau. An Funftgewerblihe Mufeen fließen
fih faft überall diefe Lehranftalten an; es ift eine unter den Fachleuten viel
verbreitete Klage, daß fie durchgängig zu fehr ins Große, Allgemeine wirken,
daß fie thatſächlich ihre talentwollen Schüler dem Gewerbe entfrembden und
der Kunft in die Arme führen, oder daß fie doch mehr Deffinateure heran-
ziehen, die nah allen Richtungen thätig fein wollen und fi deshalb feiner
befonderen Technik recht anzupaffen wiſſen. Wer auf der Münchener And
ftellung die Leiftungen und Lehrmittel der verfchiedenen funftgewerblihen
Schulen durdmuftert und verglihen hat, dem hat ſich gewiß die unerfreuliche
Wahrnehmung aufgedrängt, daß die preufifchen Beftrebungen auf viefem
Gebiete an die füddeutſchen, beſonders die bairiſchen, bei weitem nicht hinan-
reihen, daß aber alle von der Gruppe ver dfterreihiihen Fachſchulen über-
troffen wurden, wie denn aud die Ausftellung der öfterreihifchen Kunft-
induftrieleiftungen Far bewiefen hat, wie viel wir nod auf diefem Gebiete
zu lernen haben.
*) Ueber das Einzelne fei auf die ©. 5 angeführten Schriften von Ilg und
Eitelberger von Edelberg verwieſen.
57 .
Die öfterreihifhe Regierung hat dem kunſtgewerblichen Fachſchulweſen
erft jeit wenigen Jahren hervorragende Aufmerfjamfeit gewidmet. Bon den
39 Anftalten diefer Art, welche Ende 1875 beſtanden, ift die erfte 1869
errihtet worden, bie meiften aber 1873 und 1874, aljo kurz nad dem
großen „Wiener Krach“. Die Schulen haben die Ausbildung von Arbeits-
und Hülfskräften für einzelne Kunftfewerbe zum nächſten Zwede. Man
hatte in Defterreih nicht den naiven Gedanken, der in einzelnen deutſchen
Stäbten noch vor Furzem hervortrat, daß ed nur der nöthigen Gelbmittel
bevürfe, um an jebem beliebigen Orte eine reihe Blüthe kunftgewerblicher
Thätigkeit aus dem Boden zu ftampfen. Die öfterreihifhen Fachmänner
wußten ſehr gut, daß es dazu vor allem örtlicher Anfnüpfungspunfte inner:
bald der bereit8 vorhandenen Gewerbs- oder Nahrungsverhältnifie bedarf,
jedann aber aud der geeigneten Lehrkräfte.
Man hat deßhalb in Defterreih Fachſchulen zunächſt da angelegt, wo
ein beftimmter Inpuftriezweig bereits fabrifmäßig be-
trieben wurde, um eine befiere Ausbildung bes Fabrifarbeiterftandes
zu erzielen. Hierhin gehören befonders die Tertilzeihenfhulen in Böhmen
und Vorarlberg.
Sodann hat man durch diefes Mittel der unter den inpuftriellen Ver—
hältniffen der nächſten Bergangenheit vielfah in Berfall gerathenen Haus-
indbuftrie neues Leben einzuhauden geſucht, zunähft in Gegenden, wo
diefelbe eine alte Heimftätte hatte. Dahin find zu rechnen die Schulen für
Holzſchnitzerei, Drechslerarbeiten, Quincaillerie, Glasinduſtrie in Tirol und
Böhmen, die Goldſchmiedſchule in Prag u. a.
Weiter gab das Bortommen eines funftinduftriell gut ver-
werthbbaren Materials (Töpferthon, Siderolith, Marmor) in einer
Gegend Anlaß zur Gründung von Schulen.
Enplid — und dies ift die Mehrzahl der Fülle — waltete bei ber
Gründung der Fahfhulen die Abfiht vor, die Erwerbsfähigfeit eines
Bezirks in Anknüpfung an günftige örtlihe Bebingungen durch Ein-
führung eines neuen Erwerbszmweiges (Holzichnigerei, Spigen-
induftrie) zu heben.
Bielfah wirkten mehrere diefer Momente zufammen. Die Aufgabe
diefer Fachſchulen läßt fi mit wenigen Worten bezeihnen. Sie fuchen
zunächft durch einen gründlichen Zeihen- und Mobellirunterricht bie noth—
wenbigften Vorbedingungen für künſtleriſche Gefhmadsbildung zu fchaffen.
Daran fließt fi praktifche Unterweifung in der Ausübung der betreffen-
den Gewerbe, der Behandlung des Materials, der Berhätigung eines ge—
läuterten Gefhmads. Endlich haben fie die Aufgabe, durch die Gediegenheit
ihrer Leiftungen ven örtlihen Gewerbeanlagen als Mufterwerkftätten zu
dienen.
Natürlich Können nur dann biefe Schulen den verfchienenen Zwecken
genügen, wenn tüchtige, fowohl theoretifh als auch ganz bejonders
praftifch gebilvete Lehrer an ihrer Spige ſtehen. Man begegnet in Deutſch⸗
land fogar in den für dieſe Dinge maßgebenven Kreifen der Einbildung,
daß jeder Zeichenlehrer einer Volks- oder Realſchule aud den gewerblichen
Zeihenunterricht geben könne, daß jever Maler oder Bildhauer oder Architekt
fh zum Direktor einer Kunftinduftriefchule eigne. Im Defterreih werben
58
die Lehrer der Fachſchulen für ihren Beruf eigens in ber Kunſtgewerbeſchule
des äfterreihifchen Mufeums in Wien vorgebilvdet, und man har bier bie
ſehr beadhtenswerthe Erfahrung gemadht, „daß ein junger Mann, welder
früher fhom einem praftiihen Gewerbe angehört hat, alfo 3. B. Weber,
Tiſchler oder Bildhauer geweſen ift, relativ. immer fchneller ſich in feiner
neuen Lehrerftellung zuredt findet, als derjenige, welcher nur eine allgemeine
Schulbildung mitbringt.“ — Im Allgemeinen fei nody bemerkt, daß fünmt-
lihe Fachſchulen unter einer fahfundigen Oberleitung ftehen, daß Tehr- und
Arbeitsmittel, wie alle fonftigen auf ihr Gebeihen gerichteten Impulfe von
dem Wiener Gewerbemufeum ausgehen und daß an ihrer weiteren Aus-
breitung und Nugßbarmahung für das inbuftrielle Yeben des vielgeftaltigen
Raiferftantes eifrig gearbeitet wird. *)
Defterreih hat uns die Bahn gebroden, auf welder wir ihm folgen
müſſen, wenn bei unferen funftinduftriellen Beftrebungen nicht Zeit, Gelb
und Kraft vergeubet werben fol. Bereinzelt ift man aud in Deutjchland
fhon mit der Gründung fpecialifirter Fahfchulen vorgegangen. Baiern be
figt Holzihnigihulen in Berchtesgaden, Roding und Partenkirchen, Württem-
berg hat eine Gravir- und Cifelirfhule in Schwäbiſch-Gmünd, das Heine
Reuß hat eine Holzihnigfhule in Schleiz eingerichtet, um biefen Gewerbs-
zmweig in feinen Oberlanden einzuführen, eine gleiche Anftalt wurbe im
vorlegten Jahre von dem Maler Dagnuffen in Schleswig gegründet, um
die dort früher eifrig betriebene Schnigfunft wieder zu beleben. In Preußen
fehlt es minbeftens auf Seiten der Regierung noch ganz an einer plan-
mäßigen Thätigfeit auf diefem Gebiete. Vereinzelt beginnen ſich hier und
da Privatkräfte zu rühren und fih in funftgewerblihen Vereinen zufammen
zu thun. Man folgt bier den Münchener Anregungen ; aber man jcheint
noch lange nicht überall begriffen zu haben, was die Münchener Ausftellung
und bie Debatten der bort verfammelten Fachmänner bis zur Evidenz be
wiefen haben, daß nur durch gut geleitete und eingerichtete Specialfachſchulen
der Weg zum Ziele führt.
*) Um eine Vorftelung von ber Thätigfeit bes djterr. Handelsminiſteriums zu
aeben, führe ih nah Ylg, Vorrede S. VIII, nur Folgendes an: Bon den Provinzen
find bisher Tirol und Vorarlberg mit 12, Kärnthen mit 3, Oberöfterreih mit 3,
Niederöfterreih mit 1, Mähren mit 2, Böhmen mit 17 derartigen Fachlehranſtalten
bedacht. Was bie übrigen Kronländer anbelangt, jo find bie ————— für Er:
richtung verſchiedener Schulen eifrig im Gange und bat das Minijterium durch
manichfache Förderung und Unterftügung tüchtiger Elemente aus ben betr. Ländern
in ber Kerle maieäne bes Mufeums für geeignete Lehrfräfte biefer projektirten
Bildungsanftalten vorgeforgt. Nah ben Materialien orbnen fi bie gegenwärtig be»
ftehenden Fachſchulen in bie Kategorien ber Holzichnigerei, Tiſchlerei und Dreberei,
Marmor= und Serpentinbearbeitung, Porzellan-, Fayence- und Siderolith-Induſtrie,
Glasdeforation, Gold- und Silberarbeit, Schlofjerei, Weberei, Stiderei und Spigen-
induftrie, fowie fchließlich der Spielwaarenerzeugung. — Ein reiches Material für bad
funfigewerblihe Schulwefen findet man nod in dem „Bericht über bie Verband:
lungen in ben aus Anlaß ber Jubelfeier bes Münchener Kunſt-Gewerbe—
Bereins am 25., 26., 27. Sept. 1876 veranftalteten Berfammlungen von Künftlern,
Kunftinduftriellen und Freunden bes Kunftgewerbes. Münden 1876.” Ich will bier
noch befonders bemerken, daß weiterhin im Tert unter Fachſchulen überall nur jolde
Anftalten verftanden werben, welche den Zwed haben, Gewerkslehrlingen und Gejellen
eine höhere fachliche Ausbildung zu geben, als es in ber Werkftätte geſchehen kann —
nicht Kunſt- oder gewerbliche Realſchulen.
59
Aber wir dürfen bei dem Kunftgewerbe nicht ftehen bleiben; wir
mäflen das bier bewährte Fachſchulſyſtem aucd auf eine große Anzahl anderer
Gewerbe auspehnen, mamentlih auf diejenigen, bei welden phyſilaliſche,
mechaniſche, chemiſche, mathematifche Kenntniffe zum vollen Verſtändniß er-
forderlich find, oder mo wegen der fortgefchrittenen Arbeitstheilung die Praris
das Gewerbe nicht in feinem vollen Umfange lehren kann. Natürlich find
derartige Special-?ehranftalten nur in Grofftäbten und an Orten, wo ein
befonderer Imduftriezweig reichlich genug vertreten ift, anwendbar. Es ift
dabei immer feftzuhalten, daß praftifche Arbeiter ausgebilvet werben follen ;
bie Technik ift die Hauptfache, alles unfruchtbare Theoretifiren ift ftreng fern
zu halten.
Es liegt mir daran, gerade hier nicht mißverflanden zu werben. Seinem
halbwegs Bernitnftigen wird es einfallen, bie gewerbliche Ausbildung zu
einer rein theoretiihen mahen zu wollen. Wir leiden ohnehin auf allen
Gebieten der Fahbildung genug darunter, daß die Köpfe mit unfruhtbarem
Wiſſen vollgeftopft werden und daß felten das rechte Können erzielt und bie
Anwendung der meift tobt bleibenden Schäge auf das Leben gelehrt wird.
Auf unferen Univerfitäten hat man feit langem im unverantwortlichfter Weife
die Buchdruckerkunſt ignorirt, bis man endlich einſah, daß es mit den Bor-
trägen allein nicht gethan ift. Für Philologen, Hiftoriker, Iuriften, National-
öfonomen hat man allmählih Seminare errichtet, in welchen der Student
jelbft praktiſch im methodiſcher Forfhung arbeiten lernt. Die Mebiciner
waren ſchon längft jo Hug. Bon unferen akademiſch gebildeten Architekten
hörte ich vor kurzem einen namhaften Bauunternehmer fagen: „Ste haben
alle möglichen konſtruktiven und artiftifchen Feinheiten ftudirt; aber wenn
fie auf die Bauftelle kommen, kann fie ein Maurergejelle belehren.“ Die
jungen Lehrer unferer Gymnaſien und Realſchulen machen Anfangs in ber
Schule die merkwürdigſten Mißgriffe und Erperimente, weil fie wohl irgend
eine humaniſtiſche oder erafte Wiſſenſchaft ftudirt haben, in der praftifchen
Pädagogik aber von jedem Dorflehrer Unterweifung annehmen können. Biel-
leiht finden viele vermöge ihrer höheren Bildung nad mancherlei Ummegen
die rechte Bahn, nachdem fie jo unfanft aus den Himmeln der Theorie in
die Waffer der Praris gefallen find; für die Imbuftrie ift ein folder Weg
ſchlechterdings unmöglich. Bieles was der Gewerbsmann lernen muß, iſt
dad Reſultat uralter Erfahrung und Uebung. Cs läßt fi nicht in Lehr—
füge faffen, nicht durch die detaillirtefte Beſchreibung begreiflih machen,
jondern nur durch praftifhe Mebung in der Anfertigung der Gegenſtände
ſelbſt, durch längere Erfahrung in Handhabung von Stoff und Werkzeug
erlernen. Wie der Schreiner ein Yournir richtig auffegt, daß es weber
Blaſen wirft noch Riffe erhält, wie der Metallarbeiter beim Härten und
Löthen zu verfahren hat, eine Menge Kunft- und Handgriffe können nur in
der Werkftätte ſelbſt durch Erfahrung und Uebung angeeignet werben. Was
helfen die gejhmadvollften Zeihnungen, die umfaſſendſte Kenntnif aller Stil-
arten und ihrer Feinheiten, wenn der Zeichner die Rüdficht auf das Material
und anf die Grenzen der Technit aus den Augen gefest hat, wenn ber
Arbeiter nad feinen Vorlagen nicht arbeiten kann?
Sollen darum in gewerblichen Fachſchulen wirkliche Arbeiter, nicht blos
Künftler oder Deffinatenre oder Fabrifauffeher gebildet werden, fo ift un—
Bücher, Die gewerbliche Bilbungsfrage. 5
60
umgänglich nöthig, daß ihre Schüler vorher eine Zeitlang in der MWerkftätte
gearbeitet und ſich bier alle die fonkreten Anfhauungen von Material, Werl
zeugen, Handwerkömanipulationen angeeignet haben, welche fie zum Begreifen
und zur richtigen Anwendung der theoretiſchen Unterweifung erſt befähigen,
fie vor Abwegen in ihren Beftrebungen bewahren, ihnen bie Rüdfehr in bie
Werkftätte leicht und einen veredelnden Einfluß der Fachſchule auf das Ge
werbeleben möglih machen.“) Wie lange dieſe praltiſche Thätigfeit dauern
fol, muß je nah ber Natur ber einzelnen Gewerbe verſchieden beftimmt
werden; im Durchſchnitt dürfte ein Zeitraum von zwei Jahren genügen.
Innerhalb diefer Zeit behandle man dem jungen Menfhen als das, was
heute der Gewerbslehrling ſchon faft überall ift, als jugendlichen Arbeiter,
der je nach dem Umfange feiner Handfertigleit gelohnt wird.**) Man ver:
jhone ihn mit al den Zwangsmitteln, welche ver auögelebten Zunftperiode
angehören; aber man befhüge ihm vor Ueberarbeitung durch Ausdehnung
der Schugvorjchriften über die jugendlihen Wabrikarbeiter (©.-D. $ 128
*) Es ift mir fehr erfreulich, daß dieſer von mir bereitS auf der Gifenader
Berfammlung des Vereins für Socialpolitif 1875 angeregte Gebanfe auf der Münchener
Berfammlung einen fo fundigen Vertreter gefunden Bat, wie Herrn von Miller, ber
bieje grundlegende Idee unmittelbar aus langjähriger praktiſcher Erfahrung gewonnen
und ihr in der Rejolution Ausdruck gegeben bat, „daß in die Kunftgewerbe:
oder Fachſchulen fein Schüler aufgenommen werbe, ber neben bem
Nahmweis empfangenen Elementarunterrihts niht aud ben gelieferte
baß er ein Handwerk praftifh erlernt und wenigftiens zwei Jahre
in einer Werffiätte praftifh gearbeitet babe.“ Die meifterhafte Be
gründnng dieſes Antrages jowie die interefjanten Debatten über benfelben j. ©. 11 fi.
und 53 des angef. Berichtes. — Die franzöfiihen Fachſchulen in Chalons-ſur-Marne,
Angers und Air fordern ebenfalls als Bedingung des Eintritts von ihren Zöylingne
die Abfolvirung einer praktiſchen Lehrzeit in einem ber in der Schule gefehrten Gewerbe
(Block, Statist, de la France Il, S. 262). In Paris befteht jeit drei Jahren ein,
aus kommunalen Mitteln erhaltene Lehrlingsſchule, über deren Einrichtung ich der
Röforme &conomique vom 15. Jan. 1577 Folgendes entnehme: „L’enseignemwent y
est A la fois theorique et pratique: il comprend en premier lieu l’&tude du
frangais, de la ki rg de l’'histoire, des mathématiques dlöwentaires, de la
me6canique appliquee et du dessin; en second lieu, le maniement des outils
propres au travail du fer et du bois, En un mot, On se propose, on trois
anndes d’apprentissage de former pour liindustrie parisienne des ouvriers in-
telligents et habiles. De&jä, en effet, un certain nombre d’&l&ves, au sortir de
l’&cole, ont trouv& dans les ateliers une situation avantageuse, et gräce & leurs
connaissances acquises, à leurs habitudes de discipline et de rögularit6, ils ont
môrité en peu de temps, l’estime et la cansidöration de ceux qui les emploient.“
**) In der jtellenweife viel gelunden Menſchenverſtand verratbenben Schrift: „Suum
euique. Vorſchläge zur er ha ie bat Th. Ebeling in
Hamburg bereits gerathen, die alte Zunftſchichtung von Meifter, Gefellen, Lehrling
fallen zu laffen: „Wir haben es nicht mehr mit dem Lehrling zu thun, fondern
mit einem jungen Menſchen, ber die Schule verläßt, um ins bürgerliche Leben einzu:
treten. Bor dem Augenblide an, da er dieſen Schritt thut, gehört er ber menſchlichen
Geſellſchaft als Arbeiter an und bringt als folder feine Leiftungsfähigfeit an den
Markt. Somie er diefelben Pflichten auf fich zu nehmen bat, wie jeder andere Staat
angehörige, jo hat er auch eben diefelben Rechte für fich in Anſpruch zu nehmen. Bon
dieſen feinen Rechten beihäjtigt uns bier nur bas eine, feine Arbeitskraft jo vortheil⸗
haft wie möglih zu verwertben. Nun ift ſelbſtverſiändlich feine Leiftungsfäpigteit
zunächft eine fehr geringe; denn die meiften jungen Leute verfteben von dem Gewerbe,
welches fie ergreifen, (ehr wenig ober gar nichts. Aber zu irgenb etwas ift er doch
— zu gebrauchen, und wäre es nur zu den einfachſten ————— die in jedem
ewerbe nöthig find und ihren Werth haben“ ꝛc.
61
bis 131) auf ſämmtliche Gewerbe. Mag er dann in der Werfftätte Hand und
Auge üben, Erfahrung und Fertigkeit in Eingelverrihtungen fammeln :
in der Fachſchule wird ſich anf dieſer Empirie die Kenntniß des ganzen
Zuſammenhangs, die volle techniſche Gewandtheit und Gelbftänpigfeit auf-
bauen laſſen. Der Weg ift kaum länger, als der gegenwärtig übliche, und
garantirt fiheren Erfolg; aud braucht er nicht nothwendig koftfpieliger zu
fein, da eine gute Fachſchule auch immer die probuftiven Zwede fefthalten
wird und die Arbeitsleiftung bald felbft die Untermeifung bezahlt.
In Amerika baut fi im ähnlicher Weife die höhere techniſche Aus-
bildung auf der praftifhen Werkftatt-Thärigfeit auf, und man gewinnt auf
diefem Wege dort beſſere Refultate, als bei uns auf dem umgelehrten einer
Ihablonenhaften wiffenfhaftlihen Ausbildung, die an den Klippen der Praris
oft genug fheitert.*) Mit Recht wurde in Münden auf das Beijpiel der
Apotheler hingewiefen: „ein junger Mann wird in bie pharmaceutifche
Schule an der Univerfität nicht aufgenommen, wenn er nicht drei Jahre in
ber Upothefe gelernt hat, d. h. wenn er fein Gewerbe nicht vorerft praktiſch
getrieben hat — und der Erfolg ift gut.” Auch unfere Handelslehranftalten
begehen in ihren Lektionen über Waarenfunde, Handelsrecht ꝛc. ven Fehler,
daß fie bereits das lehren wollen, mas eine umfaſſendere praktiſche Er«
fahrung vorausfegt. Richtiger ſcheint mir, nach einer tüchtigen allgemeinen
Schulbildung unmittelbar in die Lehre einzutreten: hat ber angehende
Raufmann das praftifche Gefhäftsleben gründlich fennen gelernt, dann fann
jedenfalls ein theoretifcher Kurfus in der Waarenchemie, dem Hanbels- und
Wechſelrecht, der Volkowirthſchaft und felbft ver Buchführung mit großem
Nugen an die gewonnene Empirie anfnüpfen.
Die Hauptfache bleibt immer, daß wir und von dem verrotteten und
nah Feiner Richtung genügenden Werkftattlehrlingswefen los machen. Schon
am. Ende des Mittelalters wußte man an den Hauptftätten höherer Ge—
werbethätigkeit, daß das bloße Banauſenthum zur techniſchen Berkümmerung
führt: die Nürnberger hatten ſchon im 16. Jahrhundert einen Lehrer ber
Mathematik aus ftäntifhen Mitteln angeftellt, um einfache Handwerler in
feinem Fache zu unterrichten, ein Beifpiel, das dem berühmten Peter Ramus
der Bewunderung und Nahahmung würdig fchien.**) Nur muß ftets ber
Unterſchied zwiſchen ver allgemeinen Bildung zur Entwidlung ver natür-
lichen Kräfte und Fähigkeiten und der Fachbildung zur Anwendung im
praftifchen Leben feftgehalten werben. Hier muß jede pädagogiſche Ein-
wirfung, wenn fie ihres Zieles wicht veriuftig gehen will, eine perfönlich
individuelle und fachlich fpecialifirte fein. Mit Recht fagt der um die Ger
werbebeförberung in Württemberg hochverdiente Steinbeis im Hinblid
auf die belgiſche Induftrie: „Gar zu oft vernadläffigt der Deutſche die
jpeciele Yahbildung der allgemeinen wiflenfhaftlihen Ausbildung wegen.
*) Veber bie Ausbildung böherer Techniker in Amerika vgl. die intereffanten
Mittbeilungen von dem Ingenieur H. Heine, Reuleaur u. b. d. Inbuftrie ©. 36 ff.;
hierher gehören auch bie im der deutſchen Prefje viel mißverftandenen Aeußerungen
von Julius Sengenwald, Die Lage der deutſchen Induſtrie. Straßburg 1877,
©. 15 ff. Es ift außer allem Zweiiel, daß unferen techniſchen Hochſchulen nichts mehr
geihabet bat, als bie im Regierungsfreiien jo beliebte Barallelfirung mit ber Univerfität.
**) Kriegf, Frankfurter Bürgerzwifte und Zuflände im Mittelalter, ©. 376.
5*
62
In den Ländern der Induſtrie ift dies anders; dort wirb eine einfeitige
Fahbildung feineswegs als Ignoranz angejehen, wenn fie dafür um fo
gründlicher ift, und aud wir müffen, um durchaus gewerbstüchtig zu werben,
dahin gelangen, daß wir e8 und nicht zur Ehre, fondern zum Borwurfe
rechnen, Alles wiflen zu wollen. Im diefer Weife muß auch der Unterricht
des künftigen Imbuftriellen von feiner frühen Jugend an geleitet und auf
fortwährende gleichzeitige Ausbildung der Körperkraft und der Hanbfertigkeit
neben der Stärfung des Nachvenkens und der Bildung pofitiven Wiflens
hingewirkt werben.“
Mit den Fahjchulen allein gelangen wir offenbar nicht dahin, auf
allen Gebieten des Gewerbelebens die Werkftattlehre zu erfegen, auch liegen
bier, wie Beifpiele zur Genüge beweifen, die Abwege nad ver Geite einer
unfruchtbaren Theorie zu nahe. Für die meiften Gegenden und Gewerbs-
zweige empfiehlt fi ein anderes Syſtem, das dazu den Bortheil hat, daß
es nur fehr wenig Koften macht und fiherer zum Ziele führt: ich meine
die Errichtung von Lehrwerkſtätten. Verſuche dieſer Art find meines
Wiſſens in Deutfhland noch gar nicht gemacht worden: aus Belgien gen
dagegen die günftigften Erfahrungen vor.*) Die dortigen Ateliers d’appren-
tissage wurden vor etwa dreißig Yahren von der Regierung ins eben
gerufen, um auf bie techmifhe und moralifhe Hebung des gefuntenen
flandrifhen Arbeiterftandes hinzuwirken. Im Jahre 1850 beftanden fie
bereit8 in der Zahl von faft 100, Der Staat, die Provinzen, Gemeinden
und Private trugen zur Aufbringung der Koflen bei. Meift fanden fid
Privatunternehmer, welche diefelben unter Aufficht der Behörden verwalteten
und leiteten, und faft alle fanden fehr wohl ihre Rechnung dabei. Man
fnüpfte bezeichnenter Weife an die in Flandern alteinheimifche Linnen-
induftrie an; Lehrarbeiter und Lehrarbeiterinnen wurden aus allen Welt
gegenden herangezogen. Die Regierung forgte für Einführung ber beften
und neueften Mafchinen und Werkzeuge und verabfolgte viefelben auch an
eingefhulte Arbeiter der Hausinduftrie.e Der Einfluß dieſer Lehrwerkftätten
auf die Erwerbsfähigfeit der flandrifhen Arbeiter ift ein ungemein ſegens—
reicher gewefen. Nod einfacher und weniger künſtlich ift das Verfahren,
welches man in ven letten Jahren vereinzelt auf dem Gebiete des Kunft-
gewerbes in Defterreih eingefchlagen hat. Die Regierung wendet einem
Gewerbetreibenven, ver fein Fach an einem Orte in vorzüglicher Weile ver
tritt, Unterftügungen zu, unter der Bedingung, daß er eine Anzahl junger
Leute in feine Werkftätte als Lehrlinge aufnimmt. „Im der Regel bat fid
eine berartige inbuftrielle Kraft mit einigen Gehülfen in ver Weife eines
Privatateliers ohnehin ſchon etablirt, und es ift fo leicht die Gelegenheit
geboten, durch Staatsunterftügung eine Vermehrung feiner Schülerzahl zu
ermöglichen, feinem Unterriht durch MWeberlaffung guter Borbilver und
Lehrmittel einen höheren Werth zu verleihen und auf biefe Weife bie
*) Bol. Steinbeis, Die Elemente ber Gewerbeförberung, nachgewiejen an ben
Grundlagen ber belgiſchen Inbuftrie, Stuttgart 1853, ©. 60 ff
63
Begabung des Einzelnen zu einer Bildungsquelle der Bevölkerung allmählich
zu geftalten.“ ’
Die Lehrwerkſtätte ift die gewerblide Bilpungsanftalt
ber Zulunft; fie vereinigt im fi alle Vortheile des alten Syſtems mit
den gefteigerten Anforderungen des modernen Wirthſchaftslebens. In ihr ift
es von vorn herein möglich, durch ftete Unterweifung mit und an der Arbeit
jelbft das höchſte Maß von Handfertigfeit und körperlicher Gewandtheit zu
erzielen, Sorgfalt und Exaktheit der Arbeit, Zwedmäßigfeit der Ausführung
und Schönheit der Form tem Lehrling zur zweiten Natur werben zu laffen,
wo eine theoretifche Unterweifung nöthig ift, diefelbe in ftetem Zuſammen—
bang mit ber praftifchen Anwendung zu ertheilen, kurz gllfeitig tüchtige und
jelbftändige Arbeiter zu erzielen, bie in der Berwerthung ihrer Kräfte fich
nicht mit dem üblihen Minimum des Tagelohns zu begnügen brauchen,
fondern einen ihrer Geſchicklichkeit entfprechenden Theil des Arbeitsertrags
beanfpruchen können. Natürlid bedarf es zur Einführung und Berall-
gemeinerung berfelben allfeitig praftiih und theoretifch burchgebilpeter Werk:
ftattvorftände ober, wo ſich die erforderlichen Eigenfhaften in einer Perfon
nicht vereinigt fänben, ber Verbindung mehrerer zum gemeinfamen Zwecke.
Es wird die Aufgabe des Staates fein, in allen feinen Werkftätten eine
befondere Tehrabtheilung diefer Art zu errichten und auf folden Gebieten ver
funftgewerblichen und mechaniſchen Fächer beſondere Werkftätten ins Leben
zu rufen, wo die Privatthätigkeit aus irgend einem Grunde nicht ausreicht.
Daneben kann ven Gemeinden und gewerblichen Bereinen dieſe Aufgabe nicht
dringend genug ans Herz gelegt werben. Im jever größeren Stabt follte
für jedes einzelne nicht allzufchwach vertretene gewerblihe Fach mindeftens
eine Lehrwerkftätte beftehen. Es dürfte nicht mit all zu großem Riſico ver-
bunden fein, wenn fi ein oder ber andere verftändige Arbeitgeber entichlöffe,
jeine Werkftätte zur Lehrlingsfhule zu machen. Die probulftiven Zwecke
ſeines Geſchäftes dürften nad dem erften Uebergangsftapium mehr geförbert
werben, als wenn baffelbe, wie vielfach gegenwärtig, mit halbausgebilveten,
gedankenlofen und um jeden Preis zu theueren Gehülfen betrieben wird.
Wie ganz anderen Erfolg würde der gewerblihe Zeichen- und Mobellir-
unterricht, die Unterweifung in Mathematik und Technologie haben, wenn fie
diret an ein foldes Etablifjement angefchloffen werben könnten !
Hier böte ſich ein fehr vankbares Feld für Bereinezur Förderung
von Lehrwerkſtätten und zur Unterftügung unb Ueber—
wahung von Fehrlingen. Für den legteren Zweck wirken an einigen
Orten des Auslandes bereits foldhe Vereine mit nicht geringem Segen, welche
ih der Lehrlinge, natürlih auf dem Boden des überlieferten Lehrverhält-
uiffes, befonders annehmen.*) Es ift eine oft beflagte Thatſache, daß das
Handwerk von feinem früheren Anfehen beveutend verloren bat, und dies um
fo mehr, je mehr es aufhörte, einen „goldenen Boden“ zu haben. Knaben
2) Seit 1837 beiteht ein folher Berein in Herijau im Kanton Appenzell a. Rbı,
über ben ber Lefer im „Arbeiterfreund“ XII. Jahrg. (1874), ©. 374 fi. Nüheres
findet. Ein ähnlicher Verein wurde 1874 in Dänemark gegründet: „Goncorbia” 1876,
Nr. 11. Der Zwed des letzteren ijt: 1) eine befjere Ausbildung ber Lehrlinge im
Handwerk wie in ber (Fabrik) Inbuftrie herbeizuführen, 2) die Ausgelernten in ihrer
weiteren Ausbildung zu unterftügen, 3) Aufflärungen über Arbeiterverhältnifje im In—
64
ans vermögenden Ständen widmen ſich demfelben nicht; auf dem Lande, in
den ftäbtifchen Armenvierteln muß es feine Zöglihge ſuchen. Oft genug
find bier die Eltern über die Wahl des Berufs, die Formalitäten des Kehr-
vertrags, die Pflichten des Lehrherrn ꝛc. in Unwiſſenheit; fie verſtehen ſich
nit oder nur gewaltfam zu helfen gegen eigennügige Ausnugung des
Knaben von Seiten des Meifters. Umgekehrt Magt ver Lebtere über Bös—
willigfeit, Ungehorfam, Vertragsbruch, unbillige Forderungen der Eltern.
Dem Tehrlingshülfsverein würde e8 zufallen, Hier zu vermitteln,
den Lehrling den von ihm ins Leben gernfenen und umterftügten Lehrwerk—
ftätten zuzuweiſen, barauf zu fehen, daß Lehrmeifter und Lehrling ihrer
Pfliht nahfommen, Streitigfeiten zu ſchlichten, unbemittelte Lehrlinge zu
unterftügen und, wo es gewünſcht wird, nach Abſchluß der Lehre für ihr
weiteres Fortlommen bie erfte Sorge zu tragen. Eine vorwiegende Berheiligung
einfichtiger und mit ben gewerblichen Zuftänden und Perfonen bes Drtes
vertrauter Arbeitgeber wäre Haupterforberniß. Die Zeihen- und Fort⸗
bildungsfhulen würden zwar zum Theil durch die Lehrwerkſtätten überflüffig
werben; für andere Fächer ließen fie ſich vielleicht zwedmäßiger beibehalten.
Aber fie müßten nad verwandten Gewerbegruppen fpectalifirt und den ört-
lihen Bebürfniffen genau entfprehend eingerichtet werben. Auf geeignet
vorbereitete Lehrer, am beften ausübende Gewerbetreibende von Erfahrung
und geläutertem Geſchmack wäre befonders das Abſehen zu richten. Die
Unterrichtszeit müßte vor ber Arbeitözeit in den erften Morgenftunden liegen,
jeder Lehrling zum Beſuche derfelben verpflichtet fein. Amt beften würde der
Berein zur Ueberwadhung des Schulbeſuchs und der Schulleitung eine befondere
Kommiffion bilven, die auch für die neueften und zwedmäßigften Lehrmittel
forgte und den Werkftätten mit guten Muftern, Werkzeugen u. vgl. an bie
Hand ginge. Bon Zeit zu Zeit wären Ansftellungen von Lehrlingsarbeiten,
bie jet bem Gewerbebetrieb mander Drte mehr zur Schande als zur
Förderung gereihen, nah zwedmäßigem Plane zu veranftalten. Es würbe
fi bei einigem guten Willen doch immer eine Anzahl kundiger Männer
finden laffen, welche fi die Mühe nicht verbriehen ließen, Mufterzgeihnungen
zu entwerfen und Mobelle zu befchaffen, nad denen bie Lehrlinge für bie
« Anusftelung zu arbeiten hätten ober mindeſtens ihmen ihren Kräften ange
meſſene Aufgaben zu ftellen. Die Arbeiten müßten in Bezug auf ben Gegen-
ftand beſcheidene Grenzen einhalten und könnten dennoch fo gewählt fein, daß
mehrere zufammen ein anfprehenves Ganzes bildeten, Lehrlinge verſchiedener
Gewerbözweige an ein und bemfelben Stüde einander in die Hände arbeiten
könnten.
So viel auch Privatvereine und Gemeinden auf biefem Wege im
Einzelnen wirken und Segen fiiften Bnnten: das muß feftgehalten werben,
daß, unferer modernen Wirthſchaftsorganiſationen entſprechend, eine centra-
liſtiſche und fachkundige Staatsleitung, wie fie Württemberg und Defter-
reich befigen, aud die Förderung der Fachſchulen und Lehrwerkftätten im bie
und Auslande zum Beſten ber Arbeitgeber wie Arbeitnehmer zu fammeln, 4) einen engen
Zuſammenſchluß zwiſchen ben Meiftern und ben buch ben Verein ausgebildeten Lehr:
lingen zu ſchaffen. Prämien und Meifeunterfiügungen, Arbeitsnachweis, Erlebigung
von Streitigkeiten kommen baneben in Betracht, Auch im Frankreich follen derartige
Bereine im ziemlicher Zahl beflehen.
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Dand nehmen muß. Erft wenn es gelungen ift, durch diefe Anftalten auf
dem Grunde einer gehobenen allgemeinen Boltsbildung den Arbeiter- und
Handwerkerſtand intelleftuel, ſittlich und techniſch zu heben, können bie
beliebten Staatsmittel der Gewerbebeförderung, wie Ausſtellungen, Gewerbe-
mufeen, Muſter- und Werkzeugfammlungen ꝛc. die rechte Wirkſamkeit aus-
üben. Und follte fih nit am Ende im Anſchluß an eine durchgreifende
Neugeftaltung des gewerblichen Unterrichtsweſens auch eine den Zeitforderungen
entfprechende Organifation der Gewerbe finden lafjen, nad der man jegt fo
ängftlih juht und die man aus blöber Berlegenheit in einer fünftlichen
Wiederbelebung des ſocial und öfonomifh ausgelebten Zunftwejens gefunden
zu haben mähnt?
Nur der Tüchtige, welcher feine Stelle — und ſei es die allerbeſcheidenſte
in der Geſellſchaft — vollkommen ausfült, vermag in feiner Thätigkeit nad)
firtliher und materieller Hinfiht Genüge zu finden; der Untüchtige, der
Pfuſcher fieht ſich faſt nothwendig auf Täuſchung und Unehrlichkeit, auf
Schwindel und Betrug hingewiefen. Das gilt in allen Lebensfreijen, nicht
am wenigiten in. der Induſtrie. Cine allgemeine Hebung der Hanbwerter
und Arbeiter in intelleftweller und moralifher Beziehung, eine Stärkung
der technifhen Fähigkeiten wird mit der Zeit jenen wiverlihen Gejhäfts-
geift, der unferem mwirthichaftlihen Leben weithin zur Unehre gereicht,
unmöglih machen und an feine Stelle wieder das lebendige Bewußtſein für
die Pflihten des Berufes fegen, deſſen Berluft wir fo tief beflagen.
Freilih muß damit eine Wandelung in den wirthſchaftlichen Anfhanungen
der befigenven Klaffen, der Kapitaliften und Unternehmer, Hand in Hand
gehen. Wir müffen vahin gelangen, das Gefühl der focialen Berantwort-
lichkeit in weiteftem Umfange waczurufen, wo ein jeder für bie Solivität
und Güte von feiner Hände Werk wie fir fein ganzes wirthichaftliches
Thun fi der gefammten Gefelihaft gegenüber verpflichtet erachtet und nicht
mehr in der Geltendmachung bes Eigennuges bis an die äußere Örenze der
Geſetzlichkeit den legten wirthſchaftlichen Enpzwed erblidt.
Das find Feine utopiftifhen Hirngefpinfte, die fih mit dem vagen
Titel einer „Löfung der focialen Frage“ brüften; es ift nur der Markſtein
für eine ernfte Kulturarbeit, die fih ohme die größte Gefahr nicht mehr
länger aufjhieben läßt und deren Vollendung in den Grenzen ver Mögliche
keit Liegt.
Ih weiß nicht, ob man bie vorgefchlagene Löfung ber gewerblichen
Bildungsfrage einer näheren Prüfung werth halten wird, ob man ſich wird
entſchließen können, das VBeraltete, Abgeftorbene, da es nun einmal todt ift,
auch in aller Form für todt zu erklären. Eines möchte ih vor allem
außer Zweifel geftellt haben: es galt nicht ein theoretifches Luftgebäude
nah ſubjektiver Willkür oder abftraften Bernunftgründen zu fonftruiren:
ih babe in ver Frage der allgemeinen Bollsbildung nur verſucht, vie
Konjequenzen anerkannter ſtaatsrechtlicher Orundfäge zu ziehen, in ver
Trage der Fachſchulen und Lehrwerkftätten, die Anhaltspuntte, weldhe das
praktiſche Gemwerbeleben jelbft bot, im Zufammenhang zu verwerthen. Cs
find junge unfdeinbare Triebe, weldhe aus einem vielfad für unfruchtbar
gehaltenen Boden hervorgefeimt find; fie bebürfen der Wartung und Pflege.
Wird man fie ihnen zu Theil werben laffen, wirb der Staat die Aufgabe
66
anerkennen, die ganze Volks- und gewerblidhe Bildung planmäßig und mit
Rüdfiht auf die focialen Aufgaben der nädften Zukunft umzugeftalten ?
Wird er beim Hinblid auf den „Rückgang“ die Stimmen ber einflußreichen
Intereffenten überhören und thun, was ihm die Rückſicht auf das ganze Boll
gebietet? Oder wird er jene weiter mit Millionen unterftügen, dieſe mit
Bettelfuppen, wie Fortbildungsfhulen und Hülfskaſſengeſetzen, abfpeifen?
Noh ift es Zeit, eine Wahl für die Zukunft zu treffen. Auf der einen
Seite fteht ein geiftig und körperlich verfommenes Fabrikproletariat, Frauen-
und Kinderarbeit, der Ruin des Familienlebens weiter Bevölkerungsſchichten,
eine grollende dumpfe Unzufriedenheit unlentfamer Maſſen; auf der andern
Seite ein intelligenter, tüchtiger Arbeiterftand, ver feinem Berufe genügt und
befähigt ift, bei der Löfung der fchwierigen focialen und politifhen Fragen
jelbftthätig auf Grund des allgemeinen Stimmrechts mitzuwirken. Allgemeine
Phrajen, Borfhläge in den Nebel hinein hört man jest auf allen Strafen.
In einer richtigen Werkſtätte gefchieht fein Meißelftih und fein Feilenftrich,
fein Hobelftoß und fein Hammerſchlag umfonft und an der unrechten Stelle:
auch auf dem Gebiete der Wirthfchaftspolitif. ift jedes unbeftimmt taftende
Erperimentiren vom Uebel; nur folhe Mittel find geftattet, deren Nutzeffekt
fit) annähernd bemeſſen läßt.
Fädagogifde Htudien.
Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein.
14. Seft.
Die
Geſchichte der Pädagogik
im
Seminarunterrichte.
Eine hiſtoriſch-methodologiſche Abhandlung
von
Dr. 3. Ehr. Gottl. Schumann,
Königl. Seminardirector in Alfeld.
pr: ? Wien und Feipzig. en ,
F — A. Pichler's Witwe & Sohn. —
Drud von Fiſcher & Wittig in Leipzig. 1877.
Inhalisverzeidniß.
ur.
Seite
. Meberblid über die Gefchichte der Pädagogik. i EL; 1—37
.Allmähliche Berückſichtigung der Gefchichte der Padagogit i im Seminar:
sinterricht . us ; 31—58
. Der Zweck und Nuten * Geſdichen der Bhdagogit ı und deren Stellung
im Seminarunterricte . A 58—63
‚ Auswahl, Anordnung und Babes: des ESioſſes der — der
6876
Pädagogil .
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J.
Ueberblick über die Geſchichtſchreibung der Pädagogik.
Die Geſchichte der Pädagogik ift im Seminarunterrihte nod eine ſehr
junge Disciplin. Es hat dies zum Theil feinen Grund darin, daß die
Seminare, in ber Zeit der Aufklärung entftanden, die an fih wenig Sinn
für den „Schutt und die Dunkelheit“ der vergaugenen Zeiten hatte, in
ihren erften Lehrplänen fie nicht berüdfichtigten, fo daß auch vie folgende
Zeit, welche die urfpringlihen Seminarfädher, wenn fie aud einzelne neue
binzuthat, treu confervirte, ihr feine bejondere Stellung im Seminar»
unterrichte angemwiefen hat. Es hat aber hauptfählich feinen Grund darin,
daß die miffenfhaftlihe Pädagogik ſelber erft ſehr fpät auf die Geſchichte
der Pädagogik Rüdfiht genommen und fie angebaut bat. Allerdings hatte
ihon Amos Comenins in ver Didactica magna 1631 auf die Bor-
gänger bingewiejen, denen er Anregung und Förderung feiner Anfichten
verbanfte; ebenjo bot Morhof in dem zmeiten Bude feines Polyhiftor
Lübeck 1688, 4. Aufl. 1747) werthvolle Notizen über bedeutende Pädagogen ;
auch hatten die Acta scholastica um bie Mitte des 18. Jahrhunderts,
und Biedermann, Altes und Neues von Schuljahen 1752—1755,
mandyer alter Schulmänner gevaht, und in dem Revifionswerfe von
Campe waren eine Reihe Erfcheinungen auf päbagogifchen Gebiete ein-
gehend beſprochen worden. Aber zu einer zujfammenhängenden Geſchichte
der Pädagogik dat erſt C. E. Mangelsporf einen Anfang gemacht in
jeinem „Berfud einer Darftellung veffen, was jeit Iahrtaufenden in Betreff
des Erziehungsweiens gejagt und gethan worben ift, Leipzig 1779*. Ihm
folgte am Ende des vorigen Jahrhunderts Ruhkopf mit feiner „Geſchichte
des Schul» und Erziehungswejens in Deutfhland, Bremen 1794“. Dieſe
Borarbeiten find, obgleich fie jegt nur noch hiftorifchen Werth haben, nicht zu
verachten ; aber doch gebührt af Fr. 9. Chr Schwarz das Berbienft,
für die Gefhichte der Pädagogik die eigentliche Bahn gebrochen und viefe
mit der Erziehungs: und Unterrichtslehre in Verbindung gebradt zu haben.
Er Hat durch diefe Verbindung zugleich hingewiefen auf den praftifchen
Werth, den viefelbe für die Erziehungslehre und für den Erzieher hat, jo
dag nun nah und nad Mar geworben ift, daß biefelbe nicht nur für das
Wiſſen an fi, fondern aud für die Entwidelung ver Erziehung und für
die Praxis von bedeutendem Intereffe if. Seine „Geſchichte der Erziehung
nah ihrem Zufammenhange unter den Völkern von alten Zeiten ber bis
auf die neuefte“ erjhien zuerft 1813 als letzter Theil feiner Erziehungs-
lehre, dann in ber zweiten Auflage 1829 als erfter Theil — Es
Schumann, Geſchichte d. Pädagogik im Seminarunterricht. 1
2
muß, ba namentlich in neuerer Zeit vielfah über die Stellung, welde tie
Geſchichte der Pädagogik im Unterrichte in der Pädagogik auf den Seminaren
einzunehmen hat, gejftritten wird, auffallen, daß auch bei dieſem erften
Verſuche, die Geſchichte der Pädagogik mit der Pädagogik ſelber zu ver:
binden, dieſe das erfte Mal am Enve, das andere Mal am Anfange ber
Pädagogik ſteht. Nah Schwarz felber gehört fie an ven Anfang und hat
den Eingang zur Pädagogik zu bilden, und fie ift im der erjten Auflage
nur dadurd an den Schluß des Werkes gelommen, daß es dem Berfafler
erft bei der Ausarbeitung der anderen Theile der Erziehungslehre möglich
geworden war, die Quellen jo eingehend zu ftubiren, daß er aus ihnen
eine Geſchichte der Pädagogik geftalten konnte. . An den Anfang gehört
aber die Geſchichte der Pänagogif- für die Behandlung bei denen, welche fid
über Erziehung belehren wollen, weil, wie er in ber Vorrede zur erften
Ausgabe fagt, „aus dem Alterthume fließt der erfte Duell der Bildung und
ihr ewiger ; einen befjeren konnte feine neue Zeit eröffnen, und das Befte, was
immer gejhehen kann, ift, daß man jenes Herrliche nur immer wieder in
bie Zeit einführt, zu einer neueren, und wo möglich ſchöneren Geftaltung.
Wenn nun das vorliegende Buch den Beweis liefert, dag auf dieſe Art
unfer Meinen und Thun in der Erziehung durch das Stubium alles befien,
was von Alters her darin geſchah, nur befjer berathen werbe, fo ift ber
Zwed des Verfaflers erreiht, und er hat alsdann zugleich dargelegt, warum
er dieſen biftorifhen Theil als nothwendig zur Vollſtändigkeit feiner Er-
ziehungslehre anſah.“ Noch veutliher prüdt er ſich darüber in der Vorrede
zur zweiten Auflage von 1829 aus. „Für dieſe Umarbeitung ergab fi
bald, — daß aber drittens tie Gefchichte der Erziehung voranzufegen jei,
Ihon aus dem einfahen Grunde, weil wir erft ſehen müſſen, was bis jegt
gefhehen ift und wie wir zu umferer Bildung gelangt find, bevor wir
erkennen, was wir zu thun haben, um_unfere Finder gut zu bilden und
zu erziehen. Nach diefer Einrihtung wird auch manches abgekürzt, indem
in der Lehre felbft nur auf das verwiefen zu werben braucht, was fich in
der Geſchichte vorfindet. — Der Berfafler hat felbft diefe Vorrede hiſtoriſch
angefangen, damit man ihn und fein Unternehmen von dem richtigen
Punkte aus verſtehe.“ Unſer Urtheil über biefe Anſicht von der Stellung
der Geſchichte der Pädagogik halten wir zurüd bis zu dem Abfchnitte, wo
wir über die Stellung derſelben im Seminarunterrihte fprehen müſſen.
Hier genügt es, darauf hinzuweifen, daß das Werf von Schwarz aud
heute noch durch treue Forfhung, befonnene und ungefärbte Darftellung
von Werth ift, wenn aud die neueren Forfhungen reichliheres Material
zu Tage gefördert und manden Irrthum befeitigt haben. Im ähnlicher
Weile wie Schwarz hat fein Zeitgenofje Aug. Herm. Niemeyer feinem
1799 zum erften Male erfchienenen Werke: „Grundſätze der Erziehung
und bes Unterrichts für Eltern, Hauslehrer und Schulmänner. Halle,
Waifenhaus*, in fpäteren Auflagen einen „Ueberblid der allgemeinen Geſchichte
ber Erziehung und des Unterrichts nebft einer fpecielleren Charakteriftif des
achtzehnten Jahrhunderts bis auf die meueften Zeiten“ beigegeben. Er
wollte dadurch wie durch fein ganzes Werk vazu aufmuntern, „daß wir
endlich anfangen follten, ftatt unaufhörlih zu erperimentiren und zu
organifiren, das jo reichlich vorhandene Gute alter und neuer Zeit nur
3
treu und weife zu benugen“, und darum mit älteren Berbienften befannt zu
maden; denn „die Kenntniß älterer Verdienſte ift das beſte Mittel, ven,
welher über einen Gegenftand benft und fchreibt, vor dem Dünfel zu
bewahren, daß er lauter Unbekanntes und Neues an das Licht bringe
(ein Dünkel, der viele unferer jegigen Methodiker charakterifirt); fo iſt es
auch eine viel zu fehr verfäumte Pflicht, das ZTrefflihe und Brauchbare, das
wir haben, der Bergeffenheit zu entreißen und von der unglüdjeligen
Gewohnheit, nur nah dem Meueften zu greifen, zurüdzubringen.“ Er
geißelte darum auch die Schweizer mit ihrem Ausjpruhe: „Die Pädagogik
bat bisher in Blindheit und Finſterniß gewandelt." Die Niemeyer’jche
Geſchichte ift überfihtlih, bündig und Mar und bietet eine reiche Literatur.
Daß Niemeyer außerdem auch zur Aufhelung mander dunkeln Punkte in
der Gefchichte der Pädagogik im befonderen Abhandlungen gute Beiträge
geliefert har, daran fei bier, z. B. am die jegt vielfach beſprochene Ratke—
Frage, nur erinnert. '
In der Mitte der zwanziger Jahre dieſes Jahrhunderts hielt es auch
ber Leiter des Volksſchulweſens im preußiſchen Minifterium, Dr. Rudolph
Bededorff, wie er in dem Abfchnitt „über den Inhalt und die Abficht
dieſer Jahrbücher“ in den „Jahrbüchern des Preußifhen Volksſchulweſens.
Herausgegeben von Dr. Rudolph Bededorfl. Berlin, Trautwein 1825“
Band 1 erklärt, für angemefjen, in dieſen Jahrbüchern die Geichichte des
Schulweſens nah den einzelnen Provinzen zu geben, weil fih „an bie
Schilderung von Tharfahen und Erfahrungen die Entwidelung von Grund—
fügen und Anfichten auf natürliche und eindringlihe Weile anknüpfen laſſe“,
ohne daß es dazu vieler und weitläuftiger Abhandlungen von mehr ab»
ftraftem Inhalte bedarf. Um zugleich zu zeigen, was neben der Förderung
bes Berftändnijjes für die Maßnahmen der Regierung dadurch erzielt werben
tann, fagt Bededorff in vdemfelben Auffage: „Wenn in der neueren Zeit
dem Unterrichts- und Erziehungswefen von allen Seiten vermehrte Auf:
merfjamleit und Sorgfalt gewidmet worden ift, fo Hat fi neben bem
dadurch unleugbar bewirkten, veränderten und verbeſſerten Zuſtande und
einem nicht geringen Reichthume von nüglihen Erfahrungen und Beob—
ahtungen, auch eine beträchtliche Berfchievenheit der Richtungen und eine
große Mannigfaltigkeit von Experimenten ergeben. Einiges davon hat fid
bewährt, Vieles hat wieder aufgegeben werben müſſen, über Anderes fteht
das Urtheil noch nicht feit, und Manches ift im entfchievenem Widerjtreite
unter einander. Bei einem folhen Zuftande der Dinge kommt es nicht
blo8 darauf an, daß überhaupt etwas gefchieht, daß angeregt, geihaffen und
eingerichtet wird, fondern ganz vorzüglich darauf, in welcher Gefinnung und
Abſicht gewirkt wird, von welchen Grundſätzen ausgegangen ift, und welches
Ziel erreicht werden fol. In ven legten anderthalb Jahrzehnten (1810—1825)
ift in den preußifchen Landen für den Unterriht und vie Erziehung viel
geichehen; begonnen unter jhweren und unglüdlihen äußeren Berhältuifien,
gejhägt und erhalten während der Drangfale und Anftrengungen der Kriege
uud durchgeführt und erweitert in ben günftigen Zeiten des Friedens. Auf
dem Lande find tanfende von neuen Schulen geftiftet, mehr als zehntaufend
im Aeußern, faft alle im Innern verbefferr; meugegründete oder befler
eingerichtete Seminarien in allen Provinzen haben bereits viele tauſend
1*
4
wohlvorbereitete Lehrer in Aemter entlaflen, und ſenden jährlih fortwährend
deren über fehshunvert aus. Faſt allenthalben ift Orbnung und Regel-
mäßigfeit in den Schulbefuh gebracht; für Lehrmittel und Schulbücher wird
nah Möglichkeit geforgt; ſchwächeren und mangelhaft vorbereiteten Schul-
lehrern wird durch Nahhülfsanftalten, in denen fie einige Wochen des Jahres
fih aufhalten, Gelegenheit gegeben, das früher Verſäumte nachzuholen; zu
Superintendenten und Schulinfpectoren werben bie eifrigften und einfichts-
vollften Geiftlihen beftellt, und ihr Eifer wird durch Ermunterung, Lob und
Belohnung erhöht; unter ihrer und anderer thätiger Pfarrer Auffiht find
Bereine, Zuſammenkünfte, Leſezirkel gebildet, die den Lehrern Anregung
gewähren und den Fortſchritt erleichtern; träge, unbraudbare oder un=
würbige Subjecte werden aus dem Schulvorftande entfernt, ftrenge Prüfungen
und genaue Auffiht find angeorbnet, und durch häufige Nevifion an Drt
und Stelle wird bewirkt, daß Trieb und Eifer nicht erfalten. Auch bie
Städte find nicht zurüdgeblieben. Einige der größeren haben ihr Schul-
wefen bereits mufterhaft georpnet, andere folgen dem Beifpiele mit gutem
Willen, manche haben auch große Opfer nicht geſcheut, viele haben wenigftens
für das nievere und Armenſchulweſen hinlänglich geforgt; faft allenthalben
find neue Schulen eingerichtet, viele Schulhäufer erbaut, die Einfünfte ver
Lehrer vermehrt oder doch gefichert, und verftändige und thätige Schulvor-
ftände eingefegt, und wenn nicht überall gleiher Eifer und gleiher Erfolg
Statt gefunden bat, fo ift doh im Ganzen Antheil nnd Anftrengung nicht
zu verfennen gewejen; in einzelnen Fällen aber bat wenigftens der Nachdruck
der Behörbe erjegt, was freilich beffer und glüdlicher aus freiwilliger Thätig-
feit hervorgegangen fein würde. Außerdem find Waifenhäufer, Beflerungs-
anftalten, Erwerbſchulen, Sonntagsihulen, Taubftummen- und Blindenanftalten
theils neu angelegt, theil$ erweitert und verbefjert. So reihe und mannigfaltige
Thätigfeit kann nicht ohne Wirkung geblieben fein. Es müfjen Rejultate zum
Vorſchein gekommen fein. Einſicht, Gefhid und Arbeitfamkeit müfjen ſich ver—
mehrt haben, und vor allen Dingen darf ein günftiger Einfluß auf Gefinnung und
Eitte nicht vermißt werben. Hierüber Auskunft zu ertheilen ift die Hauptabficht
diefer Jahrbücher. Nicht blos in Namen und Zahlen follen fie angeben,
was gegründet und eingerichtet ift, fondern in Thatfahen und Erfahrungen
nachmeijen, was bewirft worben ift und erwartet werben darf.“ Wir ſehen
daraus, daß Bedeborff aus der Keuntniß der gefchichtlich gewordenen Ber-
hältniffe und der Thatfachen, durch welche fie fo geworben find, fowie der
Erfahrungen, die fih aus bejonderen Einrichtungen und Maßnahmen ergeben
haben, nit nur beſondere Förderung des Schulweiens, fondern auch Einficht
in das, was wirklich noth hut, und darum Verhütung von Fehlern
erwartet, ja baß fie aud, wie aus anderen Stellen erfihtlih wird, durch
das Hineinziehen aller Betheiligten in das Interefje der Schule vor dem
blinden Nachfolgen eitler Reformer bewahren wird. Darum enthält ſchon
das britte Heft des erften Bandes Nachrichten von den Rochow'ſchen Schulen
und das erfte Heft des zweiten Bandes einen ausführlihen Auffag „Zur
Geſchichte des preußiſchen Volksſchulweſens“, welcher e8 in der Einleitwug
ausfpridht, daß er hätte „das ganze Unternehmen eröffnen follen*. Er gibt
eine recht überfichtlihe Darftelung der älteren Schulgefhichte bi8 auf
Friedrich Wilhelm III, drudt aus der Viſitations- und Confiftorialorduung
5
ven 1573 den Artikel über die Schulen, die Viſitationsfragen von 1710,
die Verordnung vom 28. Septbr. 1717 vom Schulbeſuch, die Prineipia
regulativa von 1736, das Reglement wegen ber beutichen Privatfchulen von
1738, das General» Land-Schul- Reglement von 1763, die Inftruction fir
das Ober- Schulfollegium von 1787 ꝛc. ab. Ueber die Abficht auch dieſes
Auffages bleiben wir nicht im Unflaren, denn er beginnt gleih: „In der
Ankündigung diefer Jahrbücher ift and eine Zufammenftellung verſprochen
von den wichtigften auf das preußiſche Schulweſen bezüglichen älteren noch
gültigen Gefegen und Berorbnungen, welche als Vorbereitung bienen folle
zu ben bier mitzutheilenden neueren und neueften Anorbnungen und Ber-
fügungen. Es verfteht fih wohl von felbft, daß damit nit ein bloßer
Abtrud jener Geſetze gemeint fein könne, ſondern daß, wenn eine folche
Zufammenftellung Interefje und Nuten gewähren foll, fie zugleich biejenigen
biftorifhen Nachrichten und Bemerkungen enthalten müſſe, die über ihre
Veranlaffung, ihren Zweck und Erfolg, fo wie über ihren Zufammenhang
mit ben fpäteren Einrichtungen das nöthige Licht verbreiten.“ Das zweite
Heft des britten Bandes bringt eine kurze Gefhichte des Taubftummen-
unterrichts, das erfte Heft des fechften Bandes eine Geſchichte ver Schule
auf der Laſtadie in Stettin, ber alten Bildungsftätte für Yehrer, und andere
Bände anderes Gefchichtlihe. Diefe Art, biftoriih in das Verſtändniß ber
Schulaufgaben und der Mittel zu deren Löfung in ber Gegenwart einzu -
führen, fand damals Beifall, und das mag wohl den fpäteren Leiter bes
Volksſchulweſens im preußiſchen Minifterium, Ferd. Stiehl, um das gleich
bier zu erwähnen, bewogen haben, in der Menzeit einen ähnlichen Weg ein-
zufhlagen in dem „Centralblatt für die gefammte Unterrihts- Verwaltung in
Preußen. Berlin, W. Herg feit 1859“, in den „Altenftüden zur Geſchichte
und zum Verſtändniß ber drei preußifchen Negulative vom 1., 2. u, 3. October
1854. Berlin 1855%, in ber „Weiterentwidelung der drei preußifchen
Regulative 1861”, in ver „Slugfhrift?: „Meine Stellung zu ben brei
preußifchen Negulativen 1872”, und "bei Gelegenheit ver Borlegung eines
Unterrichtögefeges in der Schrift: „Die Gefeggebung auf dem Gebiete des
Unterrichtöwefens in Preußen. Bom Jahre 1817 bis 1868. Berlin,
B. Her 1869." Er bat aber damit weniger Glüd gehabt und weniger
Beifall gefunden. Aber das lernen wir aus dem Unternehmen Bedeborfis,
bag darin eine andere Bedeutung ber Geſchichte des Schulwefens insbe—
fondere betont wird, die Bedeutung für die Fortentwidelung des Scul-
weiens durch die Behörden auf Grund der gewordenen Zuſtände, bie erit
ihre rechte Beleuchtung erfahren durch Kenntniß der Urſachen, welche fie
berbeigeführt haben, fo daß dann die rechten Mittel gefunden werben können.
Diefe Beveutung ift aud für unfere Zeit in das gehörige Licht zu ftellen,
damit wir nicht den einfhmeichelnden Wahnbildern mander Reformer, welche
alle geſchichtlichen Berhältniffe ignoriren, unfer Ohr leihen, fondern un
erinnern an das, was fon Herbart von den verborgenen Miterziehern
gefagt hat, und eingedenk bleiben der Entwidelungen, welche Waitz (All⸗
gemeine Pädagogik ©. 10 ff.) gibt, daß es eine allgemeine Pädagogik in
dem Sinne, daß fie nicht Nüdficht zu nehmen habe auf das Zeitalter, die
Nation m. f. w. überhanpt nicht geben könne. „Der bifterifhe Grund und
Boden, auf welchem erzogen werben foll, mobificirt nothwendig bie Öefichte-
6
punkte, aus denen, und bie Mittel, dur bie es gefhehen fann und foll;
und weil es nun einen folhen nicht in allgemeiner Weife, fondern nur im
zeitlih und national beftimmter Weife gibt, fo fann es aud feine allge
meine Pädagogik in der oben angeführten Bedeutung geben, ſondern nur
eine folhe, die fih auf ein beftimmtes Stadium der Geſchichte eines
befonderen Volkes in der Gegenwart ober Vergangenheit bezieht” (Waitz).
Den Ertrag der Vorarbeiten von Mangelsvorf, Ruhkopf, Schwarz,
Niemeyer und Beckedorff hat Puſtkuchen-Glanzow zufammengefaft in
feinem Buche: „Kurzgefahte Geſchichte ver Pädagogik, oder gebrängte Dar:
ftellung des Eutftehens, Wefens, Zufammenhangs und Wechſels der herrichenven
Anfihten über Erziehung und Bildung Rinteln 1830.” Es gibt vie
Sade in bündiger Form, hat aber heute nur noch Bedeutung für die,
welde das Urtheil des Berfafiers über die erften Jahrzehnte unferes Yabr-
bunderts, in deren päbagsgifhen Bewegungen er eine Rolle gefpielt bat,
fennen lernen wollen.
Der erſte, welcher im Bewußtſein der Wichtigkeit der Gefchichte ver
Pädagogik und nicht abgefchredt von der Größe, der Schwierigkeit und dem
Umfange des Unternehmens, es unternahm, eine ausführliche Gefchichte der
Pädagogik zu ſchreiben, war Dr. Friedrich Cramer, Gubrector am
Gymnaſium zu Stralſund. Er ſpricht e8 in der Vorrede zum erften Bande
-and, daß ihm die Ausarbeitung einer folhen Gefchichte Lebensaufgabe fein
fol, wenn er jagt: „Wenn mir Gott Kraft und Leben fchenkt, fo hoffe id
die pädagsgifhen Beitrebungen der verſchiedenen Völker und Männer bis
auf unfere Zeit barftellen zu können, eine Arbeit, die mich ſchon jett
wunderbar ergreift und erwärmt, und ber ich alle Muße, weldhe mir mein
Beruf geftattet, gern und freubig widmen will, denn bie Erziehung ver
Menſchheit vom Anfange bis in die Gegenwart zu begleiten, das ift eines
Menſchen Leben werth und das foll neben und nad dem mir anvertrauten
Amte mein irbifches Tagewerk fein. Aus der Verwirrung ber Gegenwart
in bie Bergangenheit wie in eine ältere Heimath einzufehren, ift fo ſehr
Bedürfniß, wie beim Alter der Jugend zu gedenken. Diefer Rüdbtid in
die Unfhuldswelt der Kindheit ift das feligfte Kleinod, das dem Menſchen
ins Erbenleben zur Mitgabe wurde. Das fagen Viele, das gefteben Alle.
Aber die Geſchichte der Erziehung gewährt uns dies feligfte Kleinod in
zwiefacher Geftalt, fie ift das Anfhauen einer zwiefahen Unſchuldswelt, einer
ihlummernden Kindheit, mit ihr und burd fie badet fih der Menſch im
verjüngenden See der Vergangenheit.“ Leider ift Cramer durd feinen früh—
zeitigen Tod verhindert worden, die mit treuem Fleiße und warmer Be
geifterung angefangene „Geſchichte der Erziehung und des Unterrichts in
welthiftorifher Entwidelung“ zu Ende zu führen. Es ift davon nur bie
erite Abtheilung, die „Geſchichte der Erziehung und des Unterichts im Alter:
ıhume* (Eiberfeld bei C. 3. Beder, 1832 und 1838) in zwei Bänden er
ſchienen, von denen der erfte die „Praftifhe Erziehung von den älteften
Zeiten bis auf das Chriftenthum, oder bis zum Hervortreten des germaniſchen
Lebens“ umfaßt, während der zweite Band die „Theoretiihe Erziehung von
den älteften Zeiten bis auf Lucian“ behandelt. In vier anderen Bänden
wollte Cramer dann das Mittelalter und vie neuere Zeit behandeln, damit
das ganze Werf eine volftändige Erziehungs- und Unterrichtsgeſchichte ber
7
gefammten Menſchheit bildete. Aber es ift davon außer Heineren Neben-
arbeiten nur anf Anregung einer Preisaufgabe der Akademie in Brüffel
1840 als Vorbereitung die „Geſchichte der Erziehung und des Unterrichts
in ben Niederlanden während des Mittelalters, mit Zurüdführung auf die
allgemeinen pädagogifhen und literarifchen Berhältniffe*, Stralfund 1843,
erſchienen, welche mit das Befte über die Geſchichte der Pädagogik des
Mittelalters bietet, und welde, da fie Cramer durd eine ausführliche Ein-
leitung mit jeiner Gefhichte der Pädagogik im Alterthum verknüpft hat, mit
biefer eine zuſammenhängende Geſchichte bilde. Als Ziel feiner Aufgabe
hat fih Cramer, mie er es in den Borreden und Einleitungen ausfpricht,
geftellt, „das, was praftiich und theoretifch bei den verfchievenen Völkern
geleifter ift, in fortjchreitender Entwidelung und in fteter Wechſelwirkung zu
einander“ zu erforfhen und darzuftellen, denn nur dann fann eine Hare
und grünblide Einfiht in die Gefhichte der Erziehung gewonnen werben.
Die Erziehung, welde das Böſe und Befondere gleih einem beftänbigen
Eroreismus andzurotten ſucht, und der Unterricht, welcher das Gute und
Allgemeine gleich einer fortwährenden Taufe einflößen will, muß darin mit
fteter Berüdfihtigung des allgemeinen fittlihen und geiftigen Zuſtandes ber
einzelnen Völfer, oder der Erziehung im Großen und Ganzen, fowie der
verſchiedenen örtlihen und zeitlihen Einwirkungen, durch welche jener Zu—
ftand wejentlich bedingt ift, im gleicher Weife vargeftellt werden. Der ge-
Ihihtlihe Fortgang in der Erziehung erjcheint ihm dabei als eine fort-
ihreitende Befreiung von der Natur, als eine zunehmende Auferftehung
des Geiftes und wachſende Menjhenerhebung, worin fid) die göttliche Idee,
das Menjchengeihleht dem Ziele der Vollendung immer näher zu bringen,
entwidelt und fortfchreitend offenbart hat. „Damit nun biefer Begriff des
menfhlihen und göttlichen Fortfchreitens recht anfchaulich werde, ift bie Ge—
Ihichte der Erziehung als eine Biographie des Menſchen betrachtet“ und
entwickelt. „Wie eine Lebensftufe die andere vorbereitet, fo hat auch jedes
Gefchleht der Menſchen feinen Beruf, ein Volk ift der Lehrer des anderen,
feines für das andere umfonft. Deshalb fünnen immer einzelne Völker dem
allgemeinen Gange vorgreifen, wie ja aud Kinder oft verftändiger find, als
dag Alter. Das find die freien Pulsjhläge des Lebens gegen die falte
Regel, das find die Ausnahmen der lebenden Völker in der großen Grammatik
des Menjchengefhlehts. — Wenn nun die gefammte Geſchichte der Er—
jiehung und des Unterrichts eine Biographie des Menſchen überhaupt ift,
io finden wir im Altertfume von den älteften Zeiten und den erften Stufen
ver Entwidelung an, bis auf das Hervortreien des germanijch = hriftlichen
Elementes, den Menfchen von feiner früheften Kindheit an bis zum vollen
Yünglingsalter dargeftelt. Wie fid die einzelnen Zuſtände bes mehr oder
minder gereiften Yugenplebens auseinander entwideln, wo Uebergänge aus
einem Lebensalter in ein anderes ftattfinden, das Alles ift in ber folgenden
Darftellung ausführlih erörtert. ALS entfprehend dem erften Zuftande ver
Kindheit oder der Periode der Sinnlichkeit, find die noch in Horden lebenten
Naturmenſchen Amerika’s, Afrikas und Auftraliens zu betrachten, bei denen
ſelbſt die Familienverhältnifie noch auf der niedrigften Stufe ſtehen.“ Die
Erziehung ift nur eine finnliche, auf die Formirung und Bildung des Körpers
gerichtete, denn je ungebildeter ein Wolf, deſto mehr hält es auf fürperliche
8
Einzelheiten, und die Zerriffenheit der körperlichen Bildung, namentlih bes
Gefihts, bie wir vorzüglich in den zerriffenen Erdtheilen, befonder® in
Auftralien und Amerifa und in dem ungeftalteten und ungegliederten Afrika
finden, ift ein Bild bes zerriffenen Geiftes der Bewohner, der fih noch nicht
aus feiner Zerftreutheit und Allgemeinheit fammeln, fih noch nicht für höhere
Zwede des Lebens concentriren kann. Erft wo fid die Menfchen zu größeren
Genoſſenſchaften ſammeln, da beginnt die äußerliche Gleichgültigfeit, das
natürliche Nebeneinander, abzufterben, bie fittlihen Berhältniffe ver Einzelnen
zu den Einzelnen fangen an fih zu bilden und der Sinn für höhere An-
gelegenheiten als die unmittelbaren Bebürfniffe, entwidelt fih allmählich.
Dies fittlihe Gefühl muß ſich zuerft in ber’ Familie geltend mahen, un
dies ift auch im erften Staate der Weltgefhichte, in China, ber Fall, wo
das gefammte Leben und bie gefammte Entwidelung unter dem Bilde einer
großen Familie erfcheint, mit dem fittlihen aud das geiftige Bewußtfein
erwacht, aber das lebtere, ba der Kreis des fittlihen Lebens eng ift, faft
noch ganz ein natürliches, gleihförmiges ift, eben fo regelmäßig wiederfehrenv
wie Ebbe und Fluth, wie Sommer und Winter, ohne die höhere Richtung
und ohne die Freiheit des Bemußtfeind. „Im Indien, der Wiege der
Bildung, erbliden wir die erften Blüthen am Baume des geiftigen Lebens,
und der Menfh reift fih im Gefühle feiner Freiheit bald von der Narur
(08, wird aber auch bald wieder von ihr übermannt, daher der dauernde
Wechſel von Yubel und Trauer, von Freude und Schmerz, der fih durch
fein Leben und feine Dichtung hindurchzieht. Der Menſch ift noch zu Klein,
fein Geift nod zu Shwah, und die Natur zu groß und ihr Einprud zu
ungeheuer, als daß fie ihn nicht beraufhen und ihn feiner unbewußt mit
fich fortreißen follte.” Im Berfien jcheidet fi der Geift vom Körper, wie
in der Religion des Volks das Licht von der Finfterniß, fo daß hier neben
der vorwaltenden körperlichen Abhärtung der fittlihen Bildung (Liebe zur
Wahrheit) befondere Aufmerkfamkeit zugewendet wird. Als Folge dieſes
Strebens nah Wahrheit haben wir von ihnen unter allen Bölfern des
Drients die erfte Geſchichte. Die bei den Perfern beginnende ſittliche Er-
ziehung fest fih bei den Juden fort, wird aber nicht fowohl auf das Ber-
hältniß des Menfchen zum Menfhen, fondern vielmehr auf das des Menfchen
zu Gott bezogen, daher die jüdiſche Erziehung vorzugsweife eine religiöfe
ift, ähnlid wie in Imdien ; aber die indifche Religion drüdt in ihrer Unge-
heuerlichfeit das aufftrebende Menſchenkind nieber, die jüdiſche durchdraug das
ganze Leben und hob das gebrüdte und gebeugte Kind tröftend empor zum
Baterherzen. Im Indien ift nur die Wurzel, in Judäa der Gipfel ver
religiöfen Erziehung Aſiens. Auch in der größeren Achtung der Juden
gegen das weibliche Geſchlecht, in ber höheren Bildung beffelben und in ber
theilweifen Monogamie bekundet ſich ein tieferer Sinn für die häuslichen
und Familienverhältniffe. Die höhere Achtung der Frauen finden wir auch
bei den Weguptern, wo wenigftens die Priefler nur eine Frau hatten, und
wo ber Genius der Menfchheit auf ver eriten Stufe des Knabenalters er-
ſcheint, noch zum Theil befangen in ber früheren Stufe der Kinpheit, fe
daß er fi unter tem Bilde der Sphinx ſymboliſch barftellen läßt, oder ber
Fabel und dem Käthfel vergleihbar if, wo im Sinnlihen ein verborgener
Geift hervortritt. Es herriht da ein Geift der inneren Gährung, fo daß
9
das Leben der Menſchen wie ein ſteter Klageruf ſich von den Feſſeln ver
Natur zu einem höheren Bewußtfein empor zu ringen firebt. „Aegypten
it die Morgenröthe der geiftigen Freiheit, deren Sonne bei den Griechen,
dem heiteren, lieblihen Knaben, dem in jugendlicher Yreudigkeit und in
allfeitiger Kraftentwidelung das Leben entgegenlacht, zur Zeit der Kämpfe
gegen die Perjer die Mittagshöhe erreicht, mit dem peloponnefifhen Kriege
aber von ihrer Höhe herabfteigt.. Das griehifche Leben ift eine Jugend—
blume der Schönheit, die eben veshalb verblühen mußte, denn auf vie
Jugend folgt ein fpäteres Alter, auf das Blühen ein Verblühen, auf Spiel
ber Ernfi. In Griechenland fonnten fi die Blütben der Humanität am
beften entwideln, denn alle äußeren und inneren Bebingungen vereinigten
fih Hier in barmonifher Wechſelwirkung, ein günftiges Klima, politifche
Sicherheit nah außen, heitere Muße im Innern, eine Schönheitsreligion,
die belebend und erheiternd die Freuden an der Gegenwart würzte, und ein
empfänglicher,, reger Sinn als das urfprüngliche Erbtheil und die bleibende
Öottesgabe feiner Bewohner, die fih frei im Gebiete ihres Seins und Lebens
bewegten, denn felbft die doriſche Herrichaft lähmte und ertödtete keineswegs
die geiftige Bewegung der abhängigen Völkerſchaften. Früher waren nur
Priefter die Lehrer ter Menſchheit, bei den Griechen aber find Homer und
Hefiod die Schöpfer der Theogonie oder der Götterwelt, und Dichter im
weiteften Sinne werden die Bildner des Volks, fo wie das Leben felbft, mit
bem Zanber der Dichtkunſt umgoffen, feine Kinder im finniger Heiterkeit
erzog, bildete und unterrichtete”, bis dann unter der Pflege eines befonderen
Lehrftandes, zuerft der Sophiften, von dem Baume ver Erfenntniß die
Wiſſenſchaft ſich zuerſt freier und fchöner, mamentlih in Athen, entfalten
lonnte. So erjheint die Menfhheit auf der Stufe des eben zum Jüng—
linge beranreifenden Knaben angelangt, ber num jelbft prüfen, einfehen,
den Zujammenhang begreifen will, aber jest, nachdem er vom Baume ber
Erlenntniß gekoftet, aus dem Stande ver Unſchuld zur Sünde erwadt. In
Rom, das eine Doppelftadt, Athen und Sparta in fi vereinigt, nah außen
ein Kriegsvolf, nah innen ein Rechtsvolk ift, erfcheint ihm die Menfchheit
als gereifter Jüngling, der ſich durch Krieg und Eroberung das Haus feiner
Zukunft gründe. Durch die Bereinigung beider Seiten, durch die Kraft
nah außen, die in dauernden Kämpfen zunahm, durch die Feftigfeit nach
innen, die fi in häufigen Streitigkeiten bewährte, erlangte das eine Rom
auch eine welthiftorifhe Größe, zu der fid das vielfach getheilte Griedhen-
land nicht erheben konnte „Mit Rom erreiht die alte Bildung ihren
Endpunft und in der römifchen zeigen ſich daher ſchon vielfahe Elemente
der modernen. Gallien hat immer den Ruhm gehabt, die Vorläuferin ver
neuen Bildung zu fein, neue Ideen anzuregen, deren tiefere Begründung
aber andern zu überlafien. In Oberitalien finden wir römifche und galliſche
Völker und mit ihnen die Elemente alter und neuer Bildung vereinigt.“
So hat Rom den Uebergang der alten zu der neuen mehr geiftigen Bildung
im Mannesalter vermittelt. — Das find mit feinen eigenen Worten bie
Geſichtspunkte, welche Cramer bei der Darftellung feiner Gefhichte ter Er-
ziehung befolgt hat. Er ift dadurch, daß er jo die Gefhichte der Menſchheit
zu conftrniren verſucht, öfter in die Gefahr gelommen, ber ſchulgerechten
Gonftruction zu Liebe, der Geſchichte jelbft Gewalt anzuthun. Auch feine
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lebhafte Phantafie hat öfter die Klarheit und Nichtigkeit des Gedankens durch
Bilderfhmud verbunfelt, und manche Spielerei mit hriftlichen Begriffen,
3. B. das Erwachen bes Selbfibewußtfeins als Sündenfall zu bezeichnen,
wirft ein fchiefes Licht auf einzelne Partien der Geſchichte, während anbrer-
jeit8 die Bedeutung des Chriſtenthums und die Stellung, welde das Bolt
Israel für daffelbe einnimmt, nicht in der rechten Weife erkannt, auch ber
Zufammenhang durd die Scheidung im einen theoretifhen und praktiſchen
Theil zerriffen if. Aber überall tritt uns Lauterkeit der Gefinnung, religiöfe
Wärme, Ernft und Begeiftierung für tie hohe Aufgabe der Erziehung bei
dem Berfaffer wohlthuend entgegen. Und wie es ſchon ein nicht Geringes
war, bie große Aufgabe der Geſchichte der Erziehung zu erfafen, fo gebührt
ibm auch das Verbienft, daß er durch finnige und gevanfenreihe Darftellung,
durch ſorgſame Zufammenftellung und Verarbeitung des gefhichtlihen Ma—
terials, ſoweit e8 bis auf ihm durch bie Forfhung zu Tage geförbert war,
und buch den gründlichen Fleiß, mit dem er im einzelnen Partien zuerft
Licht gefhafft hat, zuerft eine wirklihe Geſchichte der Pädagogik in wiſſen—
Ihaftliber Schärfe und Darftellung gejhrieben, und fo die Bahn gebroden
hat, auf der neme Bearbeiter diefer Wiffenfhaft ven feinen Fehlern ſowohl
wie von feinen Vorzügen lernend, weiter ftreben fonnten. |
Cramer erhielt bald einen Nachfolger in einem Zeitgenofien, in Karl
von Raumer, welder etwa da, wo Cramer in ter Geſchichte des Mittel-
alters aufgehört bat, begann mit feiner „Geſchichte der Pädagogik vom
Wiederaufblühen Haffifher Studien bis anf unfere Zeit“ (4 Bände. Stutt:
gart, Lieſching. Erfte Auflage 1842). Dies Werf ift, wie das Werk von
Cramer, hervorgegangen aus dem fittlihen Ernft, mit welchem fein Berfafler
die Aufgabe der Erziehung und den Lehrerberuf auffaßte. Die Eigenthüm:-
lichkeiten vefjelben, der große Unterſchied deffelben von dem Cramer'ſchen,
werden aber erft recht verſtändlich aus der Lebensführung und ber Lebens.
anfhauung feines Verfaſſers. Karl von Naumer, geb. ven 9. April 1783
zu Wörlig, geft. den 2. Iuni 1865 zu Erlangen (Karl von Raumer's
Leben von ihm felbft erzählt. Stuttgart, Lieſching. 1866), hatte, wie er
felbft fagt, bei feinen trefflichen Lehrern Meierotto, Buttmann, Fr. Auguſt
Wolf, Steffens, Werner und anderen audgezeihneten Männern, vie beite
Gelegenheit gehabt, etwas Rechtſchaffenes zu lernen. Im der großen nationalen
Bewegung, welde während und nad der Unterbrüdung durch Napoleon
Deutſchland mwedte, wurde befonders durch Schleiermacher's und Fichte's bes
geifternde Worte der Gedanke lebendig, das deutfche Volk durch eine nationale
Erziehung zu dem großen Werke feiner einftigen Befreiung zu fFräftigen,
wehrhaft und fampfbereit zu machen; denn durch die neue Erziehung werde,
jo hoffte man, ein neues Geflecht erwachſen, welches eine neue glorreide
Zeit berbeifithren werde. Und Fichte glaubte, diefe neue Erziehung fei ſchon
gefunden durch Peftalozzi, auf den er daher in feinen Reben an bie deutſche
Nation binwied. Zu denen, welche fich begeifterten und hofften, dem Bolte
durch die neue Erziehung helfen zu fünnen, gehörte auch K. von Raumer.
Mit vielen andern eilte aud er in die Schweiz, um in ber Mufteranftalt
Peſtalozzi's zu lernen und mitzubelfen. Er fand aber, daß die Benwirl-
lihung der Idee in der Anftalt mangelhaft ſei und kehrte im biefer Be—
ziehung enttäufcht heim, aber die Begeifterung für die Idee blieb in ihm
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lebenbig, fo daß er nichts fehnlicher wünſchte, als auch felber lehrend an
der Erneuerung des Volles in der Erziehung der Jugend mit zu arbeiten.
Er Hatte aber faum damit als afademifcher Lehrer in Breslau begonnen,
wo er mit Harnifd, der bort das Seminar leitete, in Verbindung trat, als
der sFreiheitsfrieg auch ihn zu den Waffen rief. Im ernfter Zeit reifte er
auch innerlich zum Chriften, und darum förderte er, als er aus dem Felde
mit bem eifernen Kreuze geſchmückt zurückkehrte, das angefangene Werf
weiter. Durch freundſchaftlichen Verkehr fuchte er namentlih auf die Stu—
denten erziehlich einzumirfen und nahm lebhaft an der Ausbildung ber
Iugend durd das Turnen Theil. Diejes Beftreben fegte er auch in Halle,
an befjen Univerfität er 1819 als Docent berufen wurte, fort, und tort
begann er aus bemfelben Interefje 1822 im Anfhluß an die Gejchichte ver
Pädagogik von Chr. H. Schwarz BVorlefungen über Gefhichte der Pädagogik
zu halten. Aber fhon 1823 wandte er fi wegen der burjchenjchaftlichen
Streitigfeiten von Halle fort und übernahm in Nitenberg die Leitung ber
Dittmar'ſchen Erziehungsanftalt, in der er auch felber Unterricht ertheilte.
Zugleih gründete er eine Anftalt für verwahrlofte Kinder, fo daß er, als
er als Profeffor nah Erlangen berufen, auch die Borlefungen über Gefchichte
der Päragegif (1838— 1842) wieder aufnahm, auch eine reiche praftijche
Erfahrung gefammelt hatte. Im Erlangen gab er auch nad biefen Bor-
arbeiten jeine „Geſchichte der Pädagogik vom Wiederaufblühen klaſſiſcher
Studien bis auf unſere Zeit“ 1842 heraus. Er ſpricht ſich über dieſelbe
in der Vorrede zur erſten Auflage dahin aus: „Mein Buch beginnt mit
dem Wiederaufblühen der klaſſiſchen Studien. Deutſchland faßte ich vorzugs—
weiſe in's Auge. Warum ich als Einleitung eine kurze Geſchichte der
italieniſchen Entwickelungen von Dante bis auf die Zeit Leo des Zehnten
vorausſchicken mußte, ergibt ſich dem Leſer aus dem Buche ſelbſt. Er wird
ſich, wenn etwa nicht gleich anfangs, doch im Verfolg bes Leſens über—
zeugen, daß jene Einleitung zum Verſtändniß der Geſchichte deutſcher Pä—
dagogik unumgänglich nothwendig ſei. — Eine Geſchichte der Pädagogik muß
einmal die Bildungsideale in's Auge faſſen, durch welche ein Volk in der
Folge ſeiner Entwickelungsepochen beherrſcht wird, dann aber die Weiſe, wie
die Pädagogik in jeder Epoche das aufwachſende Geſchlecht dem Bildungs—
ideale gemäß zu erziehen, dies Ideal in der jungen Generation zu verwirk—
lichen ſtrebt. Im ausgezeichneten Männern tritt jenes Bildungsideal wie
perfonificirt auf, fie üben daher den größten Einfluß auf die Päpagogif,
felbft wenn fie nicht Pädagogen finv.
a „Ein großes Mufter wet Nacheiferung
Und gibt dem Urtheil höhere Gefege.”
Doppelt mächtig wirken fie aber auf die Bildung ihres Volks, wenn
fie zugleich felbft pädagogisch eingreifen, wie einft Luther und Melanchthon.
Diefe Betrachtung beftimmte mich, in diefer Gefchichte vorzugsweiſe Charak—
teriftifen ausgezeichneter Pädagogen zu geben, welche bei ihren Zeitgenofjen
im größten geiftigen Anfehen ftanden und deren Beifpiel vielen vorleuchtete.
Ein folder war Johannes Sturm in Straßburg, ein Rector, der mit feftem
Blid einem feſten pädagogifhen Ziele nachging, fein Gymnaſium höchſt ver-
ftändig organifirte, und das, was er fir das Rechte erfannt hatte, auch mit
größter Virtuoſität ausübte. Cine aus den Quellen gejchöpfte genaue Dar:
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ftellung der pädagogiſchen Wirkſamkeit dieſes Normalrectors gewährt meines
Erachtens viel mehr Anichanlichkeit und Belehrung, als wenn ih mid in
ein zerftüdeltes Charakterifiren vieler mittelmäßiger, nah Sturm's Vorgang
eingerichteter Schulen verloren hätte. So viel zur Rechtfertigung, daß viele
Gefchichte vorzugsweife eine Folge von Biographien enthält. Bei der außer-
orbentlichen Verſchiedenheit der zu charakterifirenden Männer wird es nicht
auffallen, wenn meine Charakteriftifen in der Form höchſt verfchieven find.
— In einer andern Hinficht follte ih mich wohl auch entſchuldigen; jedoch
ich ftehe an, e8 zu thun. Man verlangt nämlid vom Geſchichtſchreiber eine
objective Darftellung, insbejondere eine Darftelung frei von Liebe und von
Hof. Mit Recht wird eine Wahrheit und Gerechtigkeit verlangt, welde
weder blind ift gegen das Gute am Feinde, noch gegen das Böfe, was dem
Freunde anklebt. Aber frei von Liebe und von Haß bin ih nicht und will
es nicht fein, ih will nad beftem Wiffen und Gewiſſen pas Böfe haſſen
und dem Guten anhangen, auch fauer nit ſüß, noch füß fauer nennen.
Es wird and wohl zur Objectivität gefordert, daß ber Hiftorifer nie per-
ſönlich hHervortrete, nie feine Meinung über bie mitgetheilten Thatfachen
äußere. Man räumt ihm nicht fo viel ein als dem Dramatiker, ber fi
durch Prolog oder Epilog, oder durch den Chorus, der vor jedem Aufzuge
auftritt, mit dem Publitum über fein Stüd ſpricht. Auch einer jolden
Dbjeetivität fann ich mich nicht rühmen, ich trete hin und wieder offen mit
Urtheilen vor. Und follte nicht die Objectivität der Gefhichte gerade durch
ein freies, perſönliches Dazwifchentreten des Hiſtorikers mehr gewinnen, als
wenn er möglichft Hinter den Thatfahen und ihrer Erzählung Verſteck fpielt ?
Lernt doch der Leſer durch ſolch unverholenes Urtheilen ven Berfafler kennen
und weiß, was er fi von jeiner Erzählung zu verfehen habe, Er bemerkt
dann leichter, wo ihn, aud beim beften Willen unparteiiih und wahr zu
fein, doch etwas Menfhlihes, Parteiiſches beſchleichen ſollte Bon einem
Kirchenhiſtoriker, welder feine puritanifhe Gefinnung ohne Rüdhalt aus:
ſpricht, erwartet kein verftändiger Lefer eine unparteitfhe Würdigung bes
"Mittelalters. — Ich trete auch deshalb offen mit Urtheilen hervor, um bie
Lefer zum Befprehen mancher wichtigen pädagogifhen Gegenftände zu reizen,
was die bloße Darftellung der Thatfahen in der Regel nicht bewirkt. Wenn
in biefer Gefhichte Ideal und Methode fo verfchievener Pädagogen geſchildert
werben, jo drängt fi, beſonders den praftiihen Schulmännern, eine Ber:
gleihung mit ihrer eigenen Anfiht und VBerfahrungsmeife auf. Ueberein-
ftimmendes erfreut und gibt ein befriedigendes Gefühl, daß man das Rechte
thue. Abweichendes treibt zur Prüfung bes Eigenen wie des fremden :
eine Prüfung, deren Reſultat entweder Beharren aus verftärkter Ueberzeugung
oder Aendern ift. Ich geftebe gern, daß mid, vorzüglich ein praftifcher Zwed,
wie ich ihm eben angebeutet, zu biefer Arbeit getrieben und bei berfelben
geleitet habe.” Aus dieſen Gefichtspunften hat Raumer fein Werf ge:
ſchrieben, beſonders auch, um der alavemifhen Jugend die Bildungsideale
vorzuhalten, durch welche das deutſche Volk in Folge der humaniſtiſchen Be—
ſtrebungen und der Reformation beherrſcht und zu denen die Jugend
erzogen wurde. Aber er hat nur bie Höhepunfte in anſchaulich gezeichneten,
quellenfriihen Charatteriftifen folder Männer, die ihr Zeitalter beherrſchten,
hervorgehoben. Die ganze Darftellung ift Hriftlih umd tief ernft, und je
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ziehen fih dur das Ganze die Gedanken hin: Gott ift der Erzieher des
Menjhengefchlehts, um es zur volltommenen Heiligkeit zu führen. Darum
müſſen wir bei aller Erziehung auf die göttliche Erziehung des Menjchen-
geſchlechts ſchauen, wenn unfere Erziehung wirklich gedeihlich fein fol. Wir
müflen aber neben der allgemeinen Art und dem Ziele der ganzen Menſch—
beit auch den inbividnellen Charakter des Kindes ins Auge fallen, wie ihn
Sort gefhaffen, in der Taufe wievergeboren hat und fort und fort erzieht,
damit wir gewiffenhafte Mitarbeiter Gottes bei der Erziehung find und das
Jbeal verwirklichen helfen, zu deſſen Realifation Gott ſchon dem Kinde bie
Anfänge eingepflanzt bat. Das Ziel ift der neue Menſch im Heiligkeit,
Liebe und Weisheit, der Gottes Ebenbild volllommen wiederhergeftellt an
fih trägt. Auf diefem Fundamente ruht Raumer's Anfhauung von ber
Hriftlihen Erziehung, nad diefem prüft er die Arbeiten der Männer, bie in
den Rahmen feiner Gejhichte fallen. Im dieſem Sinne fhildert er zuerft
die Borläufer und Beförderer der altklaffifhen Studien in Italien und
Deutſchland, entwidelt in der Reformation die Berbienfte Luther's und Me-
lanchthon's um die Erziehung und den Unterricht, zeichnet dann das Leben
der großen Rectoren Trogendorf, Neander und Sturm nad dem Quellen-
material, das er zum Theil zum erften Male an’s Licht gezogen hat, fo daß
allerdings das Leben Sturm's auf Grund neuer Dellen nad ihm Gegen-
ftand vieler Discuffionen geworben ift (Edftein, Küdelhan, Laas ꝛc.). Es
folgt dann eine Darftelung der Schuleinrihtungen in Württemberg und
Sachſen und die Einrihtung der Studien bei den Jefuiten, während aud)
in kurzen Zügen die Univerfitäten, der verbale Realismus, Fr. Baco und
Montaigne gejchildert werden. Der zweite Band beginnt mit den Neuerern,
mit Wolfgang Ratke, ven er im Ganzen richtig geſchildert hat (vgl. in der
neueren Zeit Kraufe, Schumann, Störl), mit dem großen Kriege und
A. Comenius, fohildert dann, um Einzelnes nur nod hervorzuheben, vie
pietiſtiſche Richtung in 4. H. Frande, aus deſſen Beftrebungen auch bie
Realſchulen hervorgingen, dann die Philanthropen und deren Vorläufer Tode
und Rouffeau, die philologifhe Richtung der Erziehung in %. A. Wolf und
endli aus eigener Anſchauung im Peſtalozzi das auf die Entwidelung ver
Volksſchule gerichtete Streben. Es ift allerdings Feine volftändige und er-
ihöpfende Gejhichte der Pädagogik, denn es find nur die Hauptvertreter
der verjchiedenen Richtungen vertreten, und diefer Mangel wird auch nicht
ausgeglichen durch bie Abhandlungen des dritten Theils über vie erfte Kind-
beit, Kleintinderfhulen, Schule und Haus, Erziehungsinititute, Hofmeifter-
erziehung, den Religionsunterricht, das Latein, die Geometrie, das Rechnen,
die phyſiſche Erziehung, die Schulen der Wiffenfhaft und der Kunft, über
den Unterriht im Deutfhen (von feinem Sohne Rud. v. Raumer), über
Kirche und Schule und die Erziehung der Mädchen, obgleih fie manches
biftorifche Material und anregende Gedanken bieten. Diefer Mangel wird
auch nicht gehoben durch den vierten Band, welder bie Gefchichte der Uni-
verfitäten behandelt. Uber gerade das Hervorheben ver Hauptgeftalten
orientirt nicht nur in der Gefhichte der Pädagogik, fondern macht auch den
Bid fharf, um aud in umtergeorbneten Erſcheinungen die Hinneigung zu
ter oder jener Richtung zu erfennen ; dazu ermuntert bie praftifche Haltung
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des Buches zu ernfter Selbftprüfung, und der reiche Stoff bietet eine reiche
Fülle treffender Anfhaunngen und Erfahrungen.
Die Arbeit von Raumer regte eine Reihe Einzelforfhungen an, bie
meift in Programmen niedergelegt find; dagegen find die nächſten Arbeiten,
die Geſchichte der Pädagogik im Zufammenhange darzuftellen, nicht bebeutent.
E. Anhalt, Geſchichte ves Erziehungsmweiens im Zufammenhange mit der
allgemeinen Culturgeſchichte (Jeua 1846), bat nur eine kurze Zufammen-
ftellung der Hauptſachen gegeben; 9. F. Th. Wohlfahrt, Gejcdichte des
gefammten Erziehungs- und Schulwejens in befonderer Küdfiht auf bie
gegenwärtige Zeit und ihre Forderungen (2 Bände, Duerlinburg und
Zeipzig 1853 und 1855) bietet zwar ein reichhaltiges, aber ein ungeorbnetes
Material, indem er noch dazu mit dem Hochmuthe des alten Rationalismus
die Vergangenheit meiftert und nach dem Mafftabe ver Zweckmäßigkeit für
die Gegenwart die Leiftungen der Vergangenheit mißt; und Körner's
Gefhichte der Pädagogik von den äÄlteften Zeiten bis zur Gegenwart. Ein
Hantbud für Geiftlihe und Lehrer beider Confejfionen (Leipzig, 1857) ift
nur flüchtig gearbeitet und daher dürr und trivial und voll innerer Wider:
ſprüche. Eine kurze Geſchichte der Pädagogik in iüberfichtliher Weiſe gab
als Einleitung ©. Baur in den „Örumbzügen ber Erziehuugslehre“
(Gießen, 2. Aufl., 1849). Er hat diefelbe feinem Artikel über die „Geſchichte
ver Pädagogik“ in Schmid’s Enchelopädie (Band 5) zu Grunde gelegt und
erweitert. Eine kurze Geſchichte der veutihen Volksſchule gab ſodann
Dr. H. Graefe am Schluſſe feines Werkes: „Die deutſche Volksſchule
oder die Bürger- und Landfchule nad der Geſammtheit ihrer Verhältniſſe“
(2. Aufl. 1850), weil er von dem Grundſatze ausging, daß die Gegenwart
erft durch Die Vergangenheit in ihr volles Licht trete, und daß nur derjenige
fagen dürfe, er verftehe das, was ift, ver wiſſe, wie es geworden. Es find
meift kurze, aber lichtoolle Ueberfichten über die einzelnen Zeiträume, welde
auch Blide in die zukünftige Entwidelung der Volksſchule eröffnen folen.
Umgekehrt ftellten die Prolegomena in Palmer's Evangelifher Pädagogilk
(1. Aufl. 1852) eine kurze Lleberfiht der Geſchichte der Pädagogik voran,
um das Werben der Pädagogik zur Wiffenfhaft in gefhichtliher Entwidelung
zu zeigen. Es werben in furzen Ueberſichten vorgeführt: die vorchriftlice
Zeit, die alt- und neuteftamentliche Pädagogik, die Kirchenväter, das Mittel-
alter, die Reformation, die Herausbildung ber reformatorifhen Erziehungs:
idee durch Spener und Frande, die pädagogiſche Revolution von Lode bis
Pefinlozzi, die Richtungen der Gegenwart, der Standpunkt der evangelijchen
Pädagogik, deren Stellung zur Theologie, Grenzen und Eintheilung, jo daß
der Leſer dadurch völlig für das nachfolgende Syſtem vorbereitet if. Da
das preußiſche Negulativ für den Seminarunterriht vom 1. October 1854
itatt der früheren Rubriken: Pädagogik, Methodik, Didaktik, Kaiechetil :c.
auf den Lectionsplan der Seminare wöhentlid zwei Stunden „Schulkunde“
fegte, in der auch gegeben werten follte „ein einfaches und beftimmtes Bilv
von der evangelifh-riftlihen Schule nad ihrer Entftehung und Ausbildung,
nah ihrem Berhältniß zur Familie, Kirche und Staat, wobei die einfluß-
reichten Schulmänner, namentlich ſeit der Reformation, ihre Erwähnung
und deren, Einwirfung auf Geftaltung des Elementar-Schulwejens ihre
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Darftellung finden können“: jo nahm 8. Bormann in feine „Schulkunve
für evangelifhe Volksſchullehrer“ (9. Aufl. 1861) auch fünf Abſchnitte geſchicht—
lihen Inhalts (von den chriftlihen Schulen vor der Reformation, von den
evangelifhen Volksſchulen im Zeitalter der Reformation, Aug. Herm. Frande,
die Bhilanthropen, Peftalozzi) auf, welde auf 14 Seiten einen recht bürftigen
Stoff bieten, welcher gegen die Reichhaltigkeit des Materials, welches ?. Kellner
in feiner Schrift: „Skizzen und Bilder aus der Erziehungsgefchichte “
(Eſſen 1862) den katholiſchen Volksſchullehrern bietet, traurig genug abfticht.
Kellner geht von der Anfiht aus, „daß die Gefhichte der Erziehung und
des Unterrichts für Geift und Herz erfprießlih ift und ven umfafjenpften
Nugen gewährt. Sie wird den Lehrer überzeugen, daß Liebe zur Gadıe,
Begeifterung und MUeberzeugungstreue die Haupthebel aller pädagogiſchen
Wirkſamkeit find und jelbft da mit entſchiedener Macht einwirkten, wo fie
für den Irrthum auftraten. Die Erinnerung hieran ift gewiß niemals
nügliher gewefen als gerade in der Gegenwart, wo das Uebergewicht ber
materiellen Intereffen einen Umfang gewonnen hat, ver bis in die niebrigfte
Dorfihule reiht und vielfah die Frage in den Borbergrund treten läßt:
Welcher Lohn wird mir für meine Arbeit? — Wenn irgend etwas die
Jugend und den Mann erwärmen, mit Hochbildern erfüllen kann, fo ift es
das Beifpiel, und darum bürfte es ſich dringend empfehlen, ven angehenden
Lehrern in ihren Bildungsafftalten, jo wie jüngeren und älteren Lehrern
in den Gonferenzen von Zeit zu Zeit als Stärkung für die Berufspflichten
Beifpiele vorzuführen, wie fie die Erziehungsgefhichte reichlich bietet. Solche
Beijpiele würden aber aucd nad einer andern Seite hin vom vortheilhafteften
Einfluffe fein können. Sie würden mit der Liebe aud die Demuth paaren.
Namentlih jüngere Lehrer - würden daraus lernen, dag nicht alles Wahre
neu ift, ſondern daß vielmehr die wichtigften, ewige Geltung behauptenven
Wahrheiten bereits in vielen Köpfen und Herzen gelebt haben, und daß wir
vielfah nur Nachgeborne find, die vom Vermächtniſſe der Väter zehren und
erſt forgen follten, viefes dankbar zu verwertben, anftatt auf Neuerungen zu
finnen, die meiftens nichts weiter als Barintionen eines alten Themas find.
Der Mangel an Würdigung und Berftändniß des Alten ift eine Haupt-
urfahe fo mander Zerfplitterung der Kräfte und fo mander frühreifen
Ausgeburten des Hochmuthes. Tiefere Blide in die Erziehungsgeihichte und
in das Wirken einzelner ihrer Repräfentanten werden uns enblid im ber
bohwichtigen Ueberzeugung befeftigen, daß nur die hriftlihe Auffaffung des
Berufes vor verberblihen Abwegen bewahrt, und daß jede Entfernung von
ben Lehren des pofitiven Chriftentbums auch Keime von Irrthum birgt,
welche ſich jpäterhin zu Früchten entwideln, vie faum minder verberblid,
wirken, als jene am Baume der Erlkenntniß des Guten und Böfen. Je
mehr gerade in der Gegenwart das Rechtsbewußtſein zu ſchwinden droht und
immer größer werdende Begriffsverwirrung ſich mit ſteigender Genußſucht
verſchwiſtert, um auch die Maſſen in ihrem ſittlichen Leben zu gefährden,
deſto mehr müſſen Lehrer und Schule von der Wahrheit durchdrungen ſein,
daß nur in der chriſtlichen Auffaſſung des Lebens Heil und Wiedergeburt
zu finden iſt. Nach dieſer Seite hin werden Bilder aus der Erziehungs-
geihichte von großem Nugen fein. Niemals können wir es verhindern, daß
unjere Lehrer früher oder fpäter mit Männern, wie Roufleau, Baſedow :c.
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befannt werben. Schlimm ift eine folhe Belanntihaft nur dann, wenn fie
junge Männer ohne Führer. oder gar mit einem Führer machen, ver ihr
Urtheil verwirrt, indem er die Schatten Ficht nennt und das Gift als gefunde
Nahrung preiſt. Auch deshalb halte ich es für eine Pflicht aller, die auf
Schulen und Lehrerbildung einzuwirken haben, daß fie bie rechte Belannt-
{haft mit den Koryphäen der Pädagogik zur rechten Zeit im Lichte des
Chriſtenthums vermitteln und dadurch zugleih auf auſchaulicher Grundlage
eine Erziehungslehre bauen, deren Theorie durch die Macht des Beifpiels
unterftügt wird. Der katholiſche Lehrerftand wird durch pädagogifche Lebens:
bilder, wie ih fie zu liefern bemüht geweſen bin, aud feine Kirche noch
inniger lieben und noch richtiger beurtheilen lernen. Er wirb ja erfennen,
daß diefe Kirche niemals das Wort des Herrn vergeflen hat: „Yaflet bie
Kleinen zu mir kommen!“ daß fie niemals fich wirklichen Fortſchritten ver:
fhloffen, fondern nur alle Lehren und Bewegungen abgewehrt hat, melde
auf Enthriftlihung der Jugend ausgingen. Es wird ihm namentlich aud
flar werben, daß die Kirche fich ſtets bemühte, Unterricht und Erziehung in's
richtige Verhältniß zu fegen, und daß fie deshalb niemals die legtere aus
dem Auge ließ. Gerade viefer Zwed hat mich auch befonvers zur Abfafjung
des vorliegenden Werkes bewogen und mir bie bamit verbundene Mühe
erleichtert.“
Wir haben dieſe ausführlichen Angaben hierher gejegt, weil Kellner’s
Bud, wie er felbft fagt, auf den Gebiere der Fatholifchen Pädagogik der erfte
Verſuch diefer Art ift. Das Befte in der Arbeit verbanft Kellner proteftantifchen
Geſchichtsſchreibern, ift aber vielfah in den Fehler, den er proteftantifchen
Geſchichtsſchreibern macht, verfallen, daß er nämlich Pädagogen anderer Kirchen
geringihägig behandelt. Kine Perfönlichleit wie Luther zu begreifen, ijt er
nit im Stande gewejen. Er hat von ihm eine Karrifatur gegeben. So
wird auch an andern Stellen die hiftorifhe Treue vermift. Aus der vor-
hriftlihen Zeit hat er nur furze Skizzen gegeben, ausführlicher ift er ſchon
im Mittelalter und befonders in der Neuzeit; den Schluß bifvet ein kurzer
biftorifcher Rüdblid, der da8 Ergebniß zufammenfaffen fol. Die Erzählung
ift fließend und lebendig, fo daß die Bilder wohl das Herz für die Schule
erwärmen können.
Auf proteftantifcher Seite entftand noch ewas früher eine „Geſchichte
des deutſchen Volksſchulweſens“ von Dr. Heppe (4 Bände, Gotha 1858
und 1859). Dr. Heppe in Marburg war zur Abfaffung dieſes Werkes auf
folgende Weife gefommen, die er felbft fo erzählt: „Bor einer Reihe von Jahren
ſuchte ih am vielen Orten nah handſchriftlichen Quellen zur Kirchengefchichte
des fiebzehnten Jahrhunderts. Da fand ich unter Anderem eine Reihe von
AUltenbänden, aus denen fih eine vollftändige Geſchichte des Dorfſchulweſens
der (etwa 100 Pfarreien umfaffenden) kurheſſiſchen Diöcefe Allendorf vom
Ende des jechszehnten bis zur Mitte des fiebzehnten Jahrhundert ergab.
Ic verarbeitete den Inhalt dieſer Altenbände, ſah jedoch fehr bald ein, daß
ih, um das Ganze in angemeffener Weije darftelen zu können, ſowohl in
die frühere Zeit als in die fpätere Entwidelung des Boltsihulwefens bliden
müßte. Ich arbeitete daher, indem ich alle mir zugänglichen gebrudten und
bandjchriftlihen Quellen ausbeutete, eine Gefhichte des kurheſſiſchen Volks—
Ihulwefens vor der Reformation bis in den Anfang diefes Jahrhunderts aus.
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Über dazu mußte ich nothwendig auch die Geſchichte der jetzt mir Kurheſſen
vereinigten, früher jelbftändigen Gebiete (Fulda und Hanau) miraufnehmen,
und fehr bald wurde mir der Gegenftand, mit dem ich mid bejchäftigte, jo
lieb, daß ich mich entſchloß, demfelben wo möglich in allen deutſchen Ländern
nachzugehen. Denn ich jah ein, daß derſelbe noch niemals einer ernftlichen
und umfafjenden biftorifhen Bearbeitung gewürdigt worden war, und taf
derſelbe doch um feiner hoben Bedeuzung willen eine folhe Bearbeitung
erheiſchte. Iſt doch vie Gefhichte des Volksſchulweſens in Deutſchland nidıe
anderes, als die Geſchichte des allerwichtigften chriftlichen Eulturgebietes !
Die Wahrnehmung, die ich fehr häufig machte, daß jelbit jehr gebilvete
Padagogen aud nicht eine Ahnung von dem wirklichen Urſprunge und von
dem. gefchichtlihen Emtwidelungsgange der Bolksfchule hatten, fteigerte
meinen Eifer für die Arbeit, die ich begonnen hatte.” Heppe behandelt im
erften Bande nah einer furzen einleitenden Geſchichte des deutſchen Volks—
ihulwefens im Allgemeinen die Gefchichte des Volksſchulweſens in Kurheſſen,
im zweiten Bande die Gefchichte des Schulweiens in Hanau - Münzenberg,
Fulda, Heflen- Darmftadt, Mainz und Worms, Rheinhefien, Wilrttemberg,
im Rönigreih Sachen, in Sachſen-Gotha, Sahfen-Weimar-Eifenadh, Walded,
im dritten Bande die des Schulweſens in Preußen, Rheinpreußen, Wittgen-
fein, Miünfter, Paderborn, Weftfalen, Hannover, Braunfhweig, Naffau,
Lippe» Detmold, Schaumburg=- Lippe, im vierten Bande die von Bayern,
Würzburg, Nürnberg, Dettingen, Speier, Aſchaffenburg und Kegensburg,
Baden, Medlenburg - Schwerin und Medlenburg - Strelig. Es fehlen alfo
nur Oldenburg, Anhalt, Altenburg, Schwarzburg und Meiningen. Heppe
bietet wur zuverläffiges Material zum Theil fehr jeltener Art, das er erft
aus den Archiven gefammelt hat, zu dem allerdings bie Neuzeit noch mancherlei
binzugefunven hat. Daffelbe ift auch gut verarbeitet, fo daß im Ganzen
die Gefchichte des deutſchen Vollsſchulweſens hinreichend erleuchtet ift, wenn
er aud wegen Mangels des Materials in der Geſchichte des einen Bandes
mehr tie Seminare, in dem anderen mehr die Bolksihule, in dem einen
mehr nah ven Schulorbnungen der verſchiedenen Perioden, in dem anderen
mehr nad) ftariftifchen Ueberſichten das Schulweſen geſchildert hat. An dieſen
Stellen hat die Quellenforfhung einzufegen, und fie hat ſchon zum heil
ein reiches Material zu Tage gefördert, um auch die Geſchichte des Schul-
weiens einzelner Territorien, einzelner Städte und einzelner Schulen genauer
darzuſtellen. Man wirb daher auch da, wo man wünſchte, daß der Verfaſſer
iechniſche Schulfragen eingehender berührt haben möchte, und die Vermuthung
nahe liegt, daß er es wohl auf Grund der ihm vorliegenden Quellen habe
{hun können, bemjelben, der nicht Pädagog von Fach ift, nicht zürnen,
jondern ihm dankbar fein, daß er ald Quellen auffpürenver Hiftorifer ein
bis dahin gänzlich vernachläſſigtes und von der wiffenihaftlihen Darftellung
nicht gewürdigtes chriftliches Culturgebiet zum erften Male varzuftellen
verjucht hat.
Weil in der Bormann’ihen Schulkunde „das Stüdlen Geſchichte der
Püdagogit“ gar zu dürftig behandelt war, unternahm es Aug. Droeje,
für „meiterftrebende“ Lehrer in einem billigen Büchlein die wichtigften
Perioden der Schule und ihrer Geſchichte, das Wichtigſte aus dem Leben
Ihrer hervorragendſten Vertreier in gedrängter Kürze lei a ce
Schumann, Die Gejhichte db. Pädagogik im Seminarunterridt. 3
18
Mas er aber in den „Pädagogiſchen Eharakterbildern“ bietet, find ftümper-
bafte Auszüge voller Fehler mit feichtem Raifonnement, die nicht der Er-
wähnung werth find.
Viel mehr Beahtung verdienen die neben ten erwähnten Bearbeitungen
der Gefhichte der Pädagogik im Ganzen bergehenven Specialforfhungen,
welhe mannigfaltige und zum Theil recht ergiebige Früchte trugen. Wir
erwähnen aus der großen Zahl nur:, Dr. U. Kapp, Platon’s Erziehungs-
lehre ꝛc. Aus den Quellen dargeſtellt. Minden 1833. — Schubert,
Bernard DOverberg. 1835. — Fehter, Thomas Platter und Felix Platter,
zwei Autobiographien. Bafel 1840. — Strümpell, Die Pädagogik ver
Philofophen Kant, Fichte, Herbart. Braumfchweig 1843. — Ausfeld,
Chr. Gotth. Salzmann, Gründer der Erziehungsanftalt in Schnepfenthal.
Stuttgart 1845. — Blohmann, Heinrih Peftalogzi, Züge aus bem
Bilde feined Lebens und Wirkens. Leipzig 1846. — Chriftoffel,
Peſtalozzi's Leben und Anfihten, aus feinen Schriften vargeftelt. Züri
1846. — Dr. Zoller, Beftalogzi und Rouffeau. Frankfurt a. M. 1851.
— Dr. Krauſe, Geihihte der Erziehung, des Unterrihts und ver
Bildung bei den Griechen, Etrusfern und Römern. Halle 1851. —
v. Wedderfop, Das Rauhe Haus, ein Bild aus der Zeit. Dibenburg
1851. — Brüftlein, Luthers Einfluß auf das Volksſchulweſen und ven
Neligionsunterridt. Iena 1852. — Ludwig, Grundſätze und Lehren
vorzügliher Pädagogiker. Bayreuth, 2 Bände, 1853. — Weete, Er-
ziehung und Unterricht bei den Römern bis zur Zeit der Kaiſerherrſchaft.
1854. — GStolgenburg, Gefhihte des Bunzlauer Waiſenhauſes.
Breslau 1854. — Palmer, Ueber neuteftamentlihe Pädagogik und iiber
die Pädagogik der Kirchenväter in Bölter’s ſüddeutſchem Schulboten 1854.
— Bodemann, Joh. Fr. Oberlin, Pfarrer im Steinthal. Stuttgart
1855. — Löſchke, Balentin Trogendorf nad feinem Leben und Wirken.
Zur Erinnerung an feinen Todestag, den 26. April 1856. Breslau 1856.
— Ledderhoſe, Leben und Schriften des Magifter I. F. Flattich.
Heidelberg 1856. — Clafſen, Jacob Michllus, Rector zu Frankfurt und
Profeffor zu Heidelberg von 1524—1558 als Schulmann, Dichter und
Gelehrter. Frankfurt 1859. — Dr. H. Heppe, Das Schulwejen des
Mittelalters und deſſen Reform im jehszehnten Jahrhundert. Mit einem
Abdrud von Bugenhagens Schulordnung der Stabt Lübeck. Marburg 1860.
— 9. Diürre, Gefchichte der Gelehrtenfhulen zu Braunfchweig. Erſte
Abtheilung. Vom 11. Jahrhundert bis zum Jahre 1671. Braunſchweig
1861. — Sad, Geſchichte der Schulen zu Braunfchweig von ihrer Ent-
ftehbung an und bie Verhältniſſe ver Stadt in verſchiedenen Jahrhunderten.
Braunſchweig 1861. — Pilz, Duintilianus. Ein Lehrerleben aus ber
römifhen Kaiferzeit. Leipzig 1863. — Dr. ©. Weider, Das Schul«-
weſen der Jeſuiten nad ven Orbensgefegen. Halle, Waifenhaus 1863. —
Außerdem erfchienen in U. Schmid's Enchycelopädie des gefammten
Erziehungs» und Unterrichtsweiens feit 1859 (Gotha) eine Reihe trefflich
gearbeiteter Biographien von Schulmännern :c., und Reinh. Bormbaum
gab in drei Bänden (Gütersloh 1860— 1864) die evangeliihden Schul-
ordnungen des fechözehnten, fiebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts
gefammelt heraus, um die Schule fi auf ihre Geſchichte befinnen zu laffen
19
und die vergeffenen Quellen der evangelifhen Schulgefhichte, wie fie im
ver Schulgefeggebung als bie erfte und wichtigſte gegeben ift, aufs Neue zu
erihließen, weil er der Ueberzeugung ift, „daß eine erjprießliche Löſung ber
Shulfrage nur durch befonnene Berüdfihtigung der gefhichtlihen Continuität
möglih iſt“. Er hat fih mit feiner forgfältigen Arbeit ven Dank aller
Schulmänner verbient.
Dies waren im Wefentlihen auf dem Gebiete der Geſchichte der
Pädagogik die Vorarbeiten, als e8 Karl Schmidt unternahm, eine voll-
fändige Gefhichte der Pädagogik zu fchreiben. Sie erfhien in Cöthen in
vier Bänden von 1860 —1863 unter dem Titel: „Geſchichte der Pädagogik,
dargeftellt in mweltgefchichtlicher Entwidelung und im organifhen Zufammen-
bange mit dem ulturleben ver Völker.“ K. Schmidt war für eine glüd-
lie Köjung der Aufgabe, foweit fie damals überhaupt bei den bo im
Ganzen nody immer mangelhaften Vorarbeiten gelingen konnte, in mancher
Hinfiht wohl ausgeftattet. Er hatte in Halle Theologie ftndirt, hatte fich
fleißig mit der Philofophie befhäftigt, die er „zum Kampfe gegen Satzung
und Formelweſen“ für die Aufgabe feines Lebens zur Führerin ermählte,
war feit 1850 Lehrer am Gymnaſium zu Cöthen und hatte jo Gelegenheit,
in feinem Berufe praktifhe Erfahrungen zu fammeln. Er hatte bereits
1854 in dem Buche der Erziehung, 1856 in den Briefen an eine Mutter
über Leibes - und Geifteserziehung ihrer Kinder, 1857 in feiner Gymnaſial⸗
pädagogif ſeine theoretiſchen Anfichten niedergelegt und fuchte nun eine Be—
gründung berjelben in der Geſchichte der Pädagogik. In kaum fehs Jahren
hat er diefelbe in vier Bänden herausgegeben, darum zeigten fi in ders
jelben trog der großen Arbeitskraft des Verfaſſers, troß der geiftigen Ge—
wanbtheit umd lebendigen Darftellung, mit welcher er die große Maſſe des
freilich meift aus zweiter Hand gefhöpften Materiald zufammengebradt,
überfichtlich geordnet, ſyſtematiſch verarbeitet und auch geiſtreich behandelt
hat, große Mängel. Sehen wir aber zunädft, wie Schmidt die Aufgabe
der Gefhichte der Pädagogik aufgefaft hat. — Gottes Weſen lebt im Ad,
und im ber Menfchheit offenbart es fih als die Vernunft, Schönheit und
Sittlichkeit. Die Herrichaft dieſer idealen Mächte aud in der Menjchenmwelt
ft das Biel, wonach die Menſchheit ringe. Die Gefchichte gibt Zeugniß
von all den Anläufen und Bewegungen, weldhe unfer Geſchlecht nad dieſem
Ziele hin gemadt hat, und von dem Fortſchritte, weldher auf dem Wege
fetiger Entwidelung bereits gethan if. Im der Entwidelung zeigt ſich
das Geheimniß des Lebend, welches die Geſchichte dem Leben abzulaufchen
bat. In der Entwidelung fchreitet die Menjchheit vom Einfahen zum Zu-
fammengefegten, "vom Unbemwußtfein zum Bemwußtjein, von der Formlofigkeit
zur Schönheit, von der Naturnothwendigfeit und von der Naturreinheit des
natürlichen und geiftigen Lebens durdy den Bruch zwiſchen Natur und Getjt
hindurch zur bewußten Berfühnung von Nothwendigfeit und Freiheit, zur
Seiftesfreiheit fort. Diefer Fortſchritt in der Geſchichte ift immer ficht-
barere, börbarere, fühlbarere Verleiblihung Gottes in der Menjchheit, in ber
e8 feine Wiederholung und feinen Rüchkſchritt gibt; denn wohl das einzelne
Bolt fchreitet ſcheinbar zurüd, aber die Menfchheit geht dabei vorwärts zu
und in neuen Bölferkreifen, die in ihrem Anfange im Bergleih mit ber
eben vollendeten untergegangenen elementarer und unvolltommener erſcheinen,
2*
20
in ihrem Fortgange aber eine höhere Entwidelungsftufe einnehmen. So ift
die MWeltgefhichte die Geſchichte des fich entwideluden Menſchheitsgeiſtes,
deſſen Entwidelungsweife dieſelbe ift, wie die des einzelnen Menſchengeiſtes,
fie bat daſſelbe Gefeß, weil benfelben Gottesgevanten, bat auch wie ber
einzelne Menſch ihre Lebens- und Entwidelungsftufen. Die orientaliſchen
Völker find das Kind in der Menſchheit, das noch nicht ſich felbft, ſondern
feiner Umgebung angehört. Aber das Kind wird in der Eutwidelung frei
von der Außenwelt und mißt nun die Welt als Yüngling nah Idealen
und fucht das, was biefen Idealen in der wirklichen Welt nicht entfpridt,
nieberzufämpfen und ihm ven Stempel feines eigenen Daſeins aufzubrüden.
Dies Yünglingsalter der Menſchheitsgeſchichte repräfentirt das claffiiche
Alterthum. Dann fommt der Jüngling zum Bewußtfein, daß er nur mit
fich felbft zur Harmonie gelangt, wenn er fih in Harmonie mit der Außen-
welt ftellt: ber Mann, der in harmoniſches Wechfelverhälmiß mit ber
äußeren Welt tritt, ift in der Weltgefhichte der Chriſt. Nun aber ent
widelt fih vie Menjchheit in Individuen und Völkern, melde ihre Organe
find, mittelft derer fie im Laufe der Zeiten ihr göttlihes Leben offenbart
als im Idealbildungen, die fie aber der Größe ihrer Anlage und ver
Tendenz ihrer inbividuellen Geftaltung gemäß nad längerer oder kürzerer
Dauer abwirft, doch nur, um fie als Unfterblihe in ihrem Tempel aufzu-
ftellen, in der Wirklichkeit aber neue zu Trägern ihrer Idee zu ſchaffen unt
durch diefe immer mehr.ihrem ewigen Ziele, der VBerwirflihung des Reiches
Gottes auf Erben zuzueilen. Die Gefhichtfchreibung hat diefe Entwidelung
der Menſchheit auf ihren verjchievenen Stufen, wie fie ſich mittelft ver
Bölfer und Individuen offenbart hat, zu charafterifiren. Die, Gejchicht-
ihreibung joll alfo zum allgemeinen Bewußtfein erheben, was geſchehen ift.
Sie hat demnach zu zeigen, wie bie Gejchichte zu immer höherer Boll-
fommenheit emporgeftiegen tft, bloß zu legen die Urſachen, welche das Empor-
blühen und den lintergang der Völker bedingten, und damit bie Welt-
gefhihte als das Weltgericht, auch als das Gericht des eigenen Selbft dar-
zuftellen. Der menſchliche Geift hat jedoch, obſchon ein rüdwärts gewandter
Prophet, bisher noch nicht alle Entwidelungstnoten, in denen die Menfchbeit
bis heute aufwärts gegangen ift, zu entwirren vermocht. Und darum ift
die Geihichtsichreibung nichts mehr ala, wie Ariftoteles jagt, die Erzählung
von dem Erforfchten, das fie, ohne vom außen hineingetragene Brincipien dem
Gange der Menfchheit gemäß verknüpft, um barin und dadurch die welt-
geihichtlihe Entwidelung aufzumeifen. Die Gefege ver Geſchichte im Al-
gemeinen find auch die Gefete in der Geſchichte der Pädagogik; denn die
Aufgabe der Erziehung ift &8, den werdenden Menfhen, ven Mikrokosmos,
demfelben Ziele entgegenzuführen, dem der Makrokosmos der Menfchheit
zueilt. Mit ver Entwidelung des Einzelmenfhen entwidelt bie Erziehung
zugleich da8 Volk, da dies nur diejenige Entwidelungsftufe einnehmen kann,
auf der feine Gliever, die Einzelmenfhen, ftehen. Und mit der Ente
widelung des Volkes entwidelt vie Pädagogik zugleich die Menjchheit, deren
Organe Einzelmenfhen und Cinzelvölfer find. Aber umgekehrt hängt auch
die Entwidelung des Einzelmenfchen von der Entwidelungsftufe feines Volks,
wie von ber Entwidelungsftufe ver Menfchheit ab, auf der das BVolf ftebt.
Die Pädagogik und ihre Entwidelung ift deshalb aufs innigfte mit ber
21
Bollscultur im Allgemeinen verknüpft; denn der Menſch kann anderen
nihts anderes geben, als was er felbft befitt, und fo kann er auch die
herauwachſende Generation nach feinen anderen Grundſätzen und zu feinem
anderen Ziele erziehen, als zu dem, was er für das Hödjfte hält. Die
Erziehung ſchreitet mit der Eultur der Völker fort, und deshalb zeigen in
der Erziehung die Völker, bis zu welcher Stufe der Eultur fie fortgefchritten
find. Ein Boll will, wie der einzelne Erzieher, in feiner Erziehung bie zu
erziebenden Glieder zu dem machen, was es felbft für ſich geworben ift;
es wiederholt alfo feine eigene Entwidelung in ber Erziehung feiner Nach—
lommen, und dieſen wird durch die Erziehung unmittelbar gegeben, was das
Volt durch feine geſchichtliche Entwidelung erreiht. Durch pie Erziehung
vermittelt das Bolf fein Beftehen und feine Entwidelung. So ift die Er-
jiehbung abbängig vom Leben unb feiner Entwidelung und doch wieber
Erzeugerin neuen Lebens und neuer Entwidelung.
Die Geſchichte der Pädagogik, welche die Entwidelung des Menfchen-
geſchlechts und die darauf bafirte Erziehung von den älteften Zeiten bis
zur Öegenwart barftellen will, muß alfo mit der Geſammtgeſchichte der
Menfchheit zugleich betrachtet werden und hat dieſe zu ihrem Hintergrunde.
Beientlihe Aufgabe der Gefchichte der Pädagogik ift e8, nachzuſpüren, wie
weit umd wie deutlich ſich die Idee ber Menſchheit in dem jevesmaligen
Zeitbewußtſein wiederjpiegelt. Sie muß deshalb die organifche Entwidelung
der Erziehungstunft und die fortfchreitende Entfaltung der pädagogiſchen
Nee im Laufe der Zeiten nachweiſen und daher darftellen, was die Erziehung
zu jeder Zeit in der Erjcheinung war und was fie ihrem Weſen nad fein
jollte, fo daß fie alfo die praktiſche und die theoretiſche Entwidelung ver
Pädagogik in der, Weltgefchichte zum zeigen bat. Sie hat aber audy dieſe
Entwidelung innerhalb ver einzelnen Völker zu charafterifiren, fo daß fie
die Erziehung im Kinpheits-, Jünglings-, Mannes- und Oreifenalter des
Voltes jhildern muß. Die Entwidelung eines Volkes geht von der Praris
zur Theorie, von der That zum Gedanken. Je mehr ein Volk ſich auslebt,
um fo theoretiſcher wird es, um fo mehr auch tritt ber Unterricht, ber
früher nur Moment der Erziehung war, felbftändig auf, und um fo mehr
wird die Erziehung nur Moment des Unterrihts. Der Geihichtichreiber
der Pädagogik ſucht das Erziehungsmweien der bisherigen hiſtoriſchen Völker
zu erforfhen und im dem Erforſchten den Fortgang ber Erziehungsibee
in der Menjhheit nadyzuweifen, fowie zu zeigen, wie in jedem Volke vie
see der Erziehung zum Bewußtſein gefommen ift, weldes Bildungsiveal
das Volk hatte, wie es das Weſen und den Zweck der Erziehung auffante,
durch welche Mittel e8 fein Ideal zu verwirklichen ftrebte und wie es biejes
Ideal in der Wirklichkeit erreichte. Diefe feine Aufgabe löft er ethnographiſch,
wo die Völker von einander abgeſchieden find und demnach die Erziehung
mehr volksthümlich ift; fo im der vorchriftlihen Zeit. In der Epoche ber
Hriftlihen vorreformaterifhen Pädagogik hingegen wird die Darftellung der
Geihichte, da die Völker und Staaten in diefer Zeit und alſo aud ihre
Erziehung auf einerlei Grundlage ruhen, chronologiſch auftreten, und im
reformatoxiſchen und ven ihm folgenden Zeitalter Erhnographie und Synchronis⸗
mus zu vereinigen fireben, indem bie Bölfer und Staaten der Neuzeit unter
einander jelbftäntig find, aber von gleichen geiftigen Einflüffen berührt und
22
von übereinftimmenden Bildungsrihtungen geleitet werden. — Aus dem
Weſen der Geſchichte der Pädagogik folgt ihr Werth. Wer da weiß, daß
die Gegenwart nur das Refultat der Vergangenheit ift, daß alfo nur ver
die Gegenwart wahrhaft fennt, der ihre VBorausfegung, ihre Bafis erforfcht
bat, der wirb auch verftehen, daß nur der einen wirfliben Einblid in vie
Aufgaben der Erziehung der Gegenwart hat, und daß nur der allein ven
Sclüfjel zur Löfung diefer Aufgaben befigt, der den bisherigen Gang ver
Geſchichte der Erziehung durhforfht und ihre warnende, belehrende und
erleuchtende Stimme gehört hat. In der Gefchichte badet fi ber Menſch
geiftig gefund und verjängt fein Leben; fie lehrt ihn, fein Leben zu ge-
winnen durch eine energifche Entfaltung feines individuellen Dafeins ; fie
ermuntert ihn aber auch, e8 hinzugeben für das Ganze, und durch edles,
aufopferungsfähiges Schaffen und Wirken fein Scherflein niederzulegen auf
dem Altare der Menfchheit, von der der Einzelmenſch feine höchſten Schätze
empfängt. Und fie ift ihm zugleih die Schule, in der er die Wiſſenſchaft
der Pädagogik lernt. Nur der wird in der Gegenwart am beften wiffen,
was er in der Erziehung will und was er fann, der beobachtet und gelernt
bat, was zu leiften möglih ift: das aber lernt und erfährt er durch das
Studium deſſen, was in der Erziehung geleiftet und was darin gedacht ift.
Nur der kennt das Weien und den Werth der Erziehung, der ver Ent-
widelung ber Erziehungsidee im Laufe der Jahrhunderte nachgegangen ift.
Nur der endlih kann die wahrhafte Wiffenfhaft der Pädagogik der Gegen-
wart verftehen und ſelbſtſchöpferiſch im ihr auftreten, der ſich in die Geſchichte
der Pädagogik eingelebt hat. Die Wiflenfhaft ver Pädagogik ift ohne bie
Gefhichte der Pädagogik im Gebäude ohne Fundament. Die Gefhichte der
Pädagogik ift felbfi das vollenverfte und objectivfte wiffenfhaftlihe Syftem
der Päpdagogil. :
Sp weit zunächſt Schmitt. Zuerft fällt der Anklang an den Pantheis-
mus auf, der fi gleich von vorn herein fühlbar macht; dagegen hat er
richtig erfannt, daß nad Ariftoteles die Gefhichtfchreibung nichts mehr fein
fol, als die Erzählung von dem Erforſchten, weldes fie ohne von außen
bineingerragene Principien, vem Gange der Gefhichte folgend, zu verknüpfen
hat, um daburd die weltgefhichtlihe Entwidelung nachzuweiſen. Wir können
aber ſchon bier und noch viel mehr in der fpäteren Ausführung fehen, daß
ſowohl in der Auffaffung als auch in ver Erzählung der Berfafler nicht
ruhig und unbefangen genug in die Fülle der einzelnen Erfheinungen ein-
gegangen ift, daß er auch, abgefehen davon, daß von felbftändig Erforjchtem
wenig in dem Buche die Rede fein kann, gar nicht aus der unbefangenen
und überfichtlih vorgetragenen Geſchichte das Endreſultat ſich von felbit
berausgeftalten läßt, wie e8 doch namentlih nad den Gefegen der Didaktik
auf dem Gebiete der Gefhichte der Pädagogik gejhehen müßte. Er bat
dagegen überall einen Schemarismus in philofophifher Weife a priori con«
ftruirt und in denfelben die Sahen hineingezwängt, und zwar oft mit großer
Gewalt, jo daß das gefchichtlihe Material öfter in verkehrte, wenigftens
willkürliche Stellung tritt und einen ganz anderen Werth und eine ganz
andere Bedeutung im Einzelnen erhält, als es bei unbefangener, nicht im
Voraus philofophifh conftruirter Gefhichtserzählung erhalten würte Schon
hierin zeigt fit) das Bedenkliche der Schematifirung. Aber die philofopbifche
23
Rihtung des Verfaflers zeigt fih nod in einer anderen viel bevenkliheren
Beife. Der lebendige Gott erſcheint als eine bloße Abftraction, vom
Chriftenthum bleibt, wenn man die hriftlic klingenden Ausdrüde u. ſ. w.
auf ihren wahren Gehalt prüft, faum mehr als ein feinerer Pantheismus
übrig. Das Ziel und die Höhe der bisherigen Entwidelung der Geſchichte
der Pädagogik ift nad dem Verfaſſer die anthropologifhe Pädagogik, welche,
wie wir in der Einleitung jehen, den Menſchen als die organifche Einheit
ven Natur und Geift, als den Repräfentanten der Welt betrachtet, der ſich
durch verfchiedene Stufen bis zum felbftbewußten Wejen emporgearbeiter hat und
auf diefem Wege in immer verfchievenen Welten und Beziehungen (Familie,
Nation, Menfchheit) auftritt und nahher aus dem telluriihen Dafein in
das kosmiſche, aus der Zeit in die Ewigkeit eintritt. Dauach ift das
formale Princip der Pädagogik die Entwidelung, welde die materiellen Er-
ziehungsprincipien der Individualität, Nationalität und Humanität, die Ideale
ver harmonifhen Entfaltung ver Oeiftesfräfte, die Religiofität, Eittlichkeit
und Schönheit, welche in der Idee der Gottähnlichkeit vereinigt find, aus—
bildet und geiftig im Denken die Wahrheit, im Wollen die Freiheit und im
Fühlen die Liebe harmonifh entwidelt. Diefe Anjhauung beherrſcht das
Bud, fo dag das Chriftenthum zu einer philofophifhen Idee verflüchtigt,
und darum auch in feiner weltgeſchichtlichen Bedeutung und Entwidelung nicht
verſtanden wird. Im dieſem Sinne wird daher, wo der wahre Chriften-
glaube auftritt, derfelbe meift als orthodor, confeffionell, reactionär verfegert
und geächtet, weil er das Chriftenthum nicht im Sinne des Verfaſſers auf:
faßt. Es ift darum, wenn auch das Buch ein chriſtliches Gewand trägt,
Vorfiht nöthig bei der Prüfung der Urtheile und Folgerungen, welche der
Berfaffer zieht. Jedenfalls fruchtbarer würde der Gedanke der Entwidelung
fih entfaltet haben, wenn der Berfaffer ohne vom Syftem auszugehen, bie
Thatſachen erft unbefangen erzählt, fie auf das Moment der Wahrheit, das
in ihnen ſich geltend machte, geprüft und jo fort die Bewegung der Geſchichte
aus der Bewegung der gegen einander auftretenden Gegenfäge zu begreifen
gefuht und endlich die Refultate viefer Bewegung in Fleineren und größeren
Zeiträumen, bei den einzelnen Perfönlichkeiten, bei den Völkern und endlich
aus dem bisher Erforfhten der ganzen Menſchheitsgeſchichte gezogen hätte.
Damit haben wir natürlich nicht den Berfaffer etwa abfihtliher Täuſchungen
in Betreff ver gefchichtlihen Thatſachen zeihen wollen, fondern es jollte nur
nachgewieſen werden, wie er vom philofophifdhen Syftem gehalten, mandes
nit mit der nöthigen Unbefangenheit beurtheilen konnte.
Es wird das Alles noch mehr zu Zage treten, wenn wir ihm in das
Einzelne bei dem Gange feiner Geſchichte folgen. „Die Gefhichte der Päda—
gogit theilt mit der Gefchichte der Menfchheit im Allgemeinen biefelben
Entwidelungsepohen. Die Idee des Gottmenjhen ift der Mittelpunkt der
Weltgeſchichte; auch der Geſchichte der Paãdagogil. Gott iſt Menſch geworden,
damit der Menſch wie Gott werde: darin hat die Geſchichte der Menſchheit
ihren Mittelpunkt, ihren Ruhepunkt ſowohl als ihren Strebepunkt. Der
Gedanke des Gottmenſchen iſt das höchſte Ideal, die abſolute Idee, die zu
erfaſſen die Menſchheit ſich zerarbeitete, bis ſie in Jeſus von Nazareth als
Thatſache erſchien. Mit dem Erſcheinen des Gottmenſchen war das Streben
aller vorchriſtlichen Zeit erfüllt. Und in der Verwirklichung der Idee ber
Sottmenfhheit innerhalb der Einzelmenſchen, der Völker und der Menſchheit,
bat alle nahchriftliche Zeit ihre Aufgabe.“ Darum durchlebt die Geſchichte
ber Pädagogik, wie die Gefhichte der Menfchheit, vor Chriftus ihr Kindes—
und Yünglingsalter ; denn die Völker führen meift ein Maturleben ; ihre
Bildung ift naturwüchſig, und die Nationalität ift ihre natürliche Schrante,
fo daß es vor Chriftus nur nationale Götter, nur nationale Menihen und
nationale Erziehung gab. Mit Chriftus tritt die Menſchheit in ihr Mannes-
alter ein. Der Nationalgott wird ein Gott der Menfchheit, die Meufchen
als Kinder eines Baters im Himmel find Britder. Die Humanität beginnt,
und die Erziehung trägt ihren Charakter. Die Weltepohe ber nationalen
Erziehung vor Chriftus, vor der die geſchichtsloſen und halbgeſchichtlichen
Völker liegen, die nur furz charakterifirt werben, gliedert der Berfaffer, indem er
fih an Cramer anfchließt, veilen Schema er nur verfhärft, nach dem leiblid:
geiftigen Leben der Bölfer, denen fie eignet, alfe: a) die jubftantielle Er-
ziehung der orientalifhen Bölker. Chinefen, Inder, Perfer und Aegypter
gehören in dieſen Kreis. Ber ihnen geht das Individuum in der Subftanz,
in einem Allgemeinen unter, fo daß das Individuum nichts ift, der Menſch
nur als Öattungseremplar unter der Autorität fteht. Ueber die Entwidelung
der Auſchauung kommt die Erziehung nicht hinaus, und jo ift das Rind
der Weltgejchichte, wie jedes Einzelfind, Epiker, verliert fi) in ber Welt ber
Anihauung und unterwirft fi, weil es noch alles Sein außer fih hat, der
äußern Autorität. Das Allgemeine, dem der Einzelne blindlings biemt, ift
zuerfl die Familie Das erfte hiſtoriſche Bolt, vie Chinejen, find eine
Familie Im Imbien ift der Einzelne durch die Geburt einer beftimmten
Kafte zugetheilt und nur im ihr kann er ſich fein Leben hindurch bewegen.
Die Erziehung ift in Indien erclufive Standeserziehung. Die Perfer er-
faffen fih als ein Volk und ftellen fid als ſolches anderen Böltern gegen:
über. Ihre Erziehung ift Staatserziehnuug und hat einen nationalen, volfs-
tbiimlihen Charakter. Aegypten ift die Hand, mit der der Orient nad dem
Dceident binübergreift. Im fih ift es die Hieroglyphe des aufwachenden
Geiftes. Priefter und Krieger waren die herrfchennen Stände: bei ihnen
fand aud nur eine Erziehung im eigentlihen Sinne ftatt, und der Priefter
ift der Repräfentant der Bildung, der Priefter der alleinige Lehrer, die Er-
ztehung eine priefterliche. — Diefe Glaffificirung kaun nur eben ein Berjud
fein, denn mit der Hervorhebung dieſer Einzelheiten ift das. tieffinnige
Weſen des Drients nicht gerade treffend bezeichnet.
b) In ver individuellen Erziehung ver altclaffiihen Nationen befreit
fi) der Jüngling der Menſchheit von der zerprüdenden Macht des objectiven
Dafeins, indem er fic felbftändig demfelben gegenüberfegt. Das Individuum,
im Triumphe feiner Subjecrivitär, betrachtet alle objectiven Mächte nur noch
als feine Diener. So in Hellas und Rom. Für den Hellenen ift vie
Ihöne, für den Römer die praktiſche Individualität Ideal, Zwed und Ziel
des Denkens und Wollens. Diefe Individualität vermag fih jedoch meh
nicht über die Naturbafis zu erheben, und an ihrer Nation bat fie ihre
Grenze. — Die Schwähe dieſer Charakteriftif liegt namentlich in ver Be—
fimmung von dem Gebundenfein an die Naturbafis, welches auch im ver
25
hriftlihen Bildung noch ftattfindet, da der Einzelne am vollfommenften im
Schooße feiner Familie und in der Eigenthümlichkeit feines Volkes gedeihet
und fi entfaltet, wie auch Schmidt anerkennt.
e) In der theofratifchen Erziehung des Volles Israel, bei dem au,
da fie fonft in dem Syftem feinen Plag finden fünnen, die Babylonier,
Affyrer, Phönizier ꝛc. mit in der Kürze abgehandelt werben, geht der Ein-
zelne in feinem Öott unter. — Es wird dabei anerkannt, daß dadurch Israel
einzig unter den Völkern des Alterthums dafteht, aber es wirb nicht darauf
bingewiejen, daß in der Gemeinfhaft mit Gott, für welde Israel als
Bumdesvolk von Gott durd feine Heilsöfonomie bereitet und erzogen wurde,
Anfang und Zielpunkt jeder Entwidelung des Einzelnen, der Völker und
der ganzen Menſchheit gegeben ift, obgleih auch Schmidt als Ziel ver Eut—
wicelung diefe Gemeinfhaft mit Gott aufftellt. Darin aber beficht gerade
bie pofirtve Vorbereitung auf Chriftum in der alten Welt, und diefe Auf:
gabe zu löſen ift gerade die einzigartige Stellung, die Israel in der Welt-
geſchichte erhalten hat, während die Heidenvölfer fich jelbft überlaſſen auf
negativem Wege zu demfelben Heil in Chrifto vorbereitet wurden uub nur
in ben in Betracht auf diefen Cardinalpunkt mehr in der Peripherie liegenden
Dingen (Wiffenfhaft, Philofophie ꝛc.) auch pofitiv vorbereitet worden find.
Durch ſolche Auffafjung und Behandlung der Geſchichte Israels, wie fie
die geſchichtlichen Thatſachen fordern, würbe auch die von Schmidt hervor—
gehobene, unzweifelhafte Wahrheit mehr zu ihrem Rechte gelommen fein, daß
Chriſtus der Mittelpunft der Weltgeſchichte, alſo auch ver Geſchichte ber
Pädagogik ift.
Nah Chriſtus, von deſſen „gottvoller“ Perſönlichkeit fih ein neues
Prineip der Erziehung entwidelte, ftellt vie Erziehung „pie fi ihrer Weſens—
und Xebensgemeinfhaft mit Gott inne gewordene Individualität an bie
Spige, die Individualität, die in ihrer velfsthümlihen Sonderung feine
Abtrennung von der Menfchheit findet, in ihrem Gehorfam gegen ven Willen
Gottes nur die Forderung ihres eigenen Weſens erfüllt und der Wahrheit
zu dienen, der Tugend nachzuleben und die Schönheit an fi felbft und
feinem Birken barzuftellen tradtet*. Es beginnt alfo mit Chriftus bie
„Weltepohe der humanen Erziehung, der menfchlich- indivinuellen Freiheit.“
Die Sittlikeit des Chriftenthyums baut fih auf der allgemeinen Menfchen-
liebe ‚auf, bie in der Gotteskindſchaft aller Einzelmenjhen ihr Fundament
bat. Dieje Weltepode ver humanen Erziehung, welche, indem fie ald Organ,
mit dem fie Gott, Welt und Menſchheit erfaßt, die Bernunft hat, vie höchſte
Harmonie der Geiftesfräfte befigt, je daß alfo die Höhe ver Entwidelung
der Rationalismus wäre, theilt fi) im die Zeit der transfcendenten und in
pie ber organifchen Erziehung, in die Periode vor und in die nad der Re—
formation. Die Zeit vor der Reformation ift alſe die Zeit der Verftanpes-
herrſchaft, welde im Gegenſatze zur Welt und ihrer Bildung die Erziehung
für den Himmel unb die Geiftlicfeit betont und in ber mönchiſchen Er-
ziehung ber orientalifden Kirche, fowie im der fcholaftifch » geiftlichen, ver
abendländiſchen Kirche, auf dem von Chrifte gelegten Fundamente ein Ber:
ftandesgebäude aufrichtet, das vor der Kritik der Vernunft nicht beſteht.
Die Erziehung des Mittelalters ift abftract geiftig, „Ein todtes Spiel mit
Begriffen, das fih nicht um den Inhalt kümmert, geiftverödenver Formalismus:
26
das ift das Weſen der mittelalterlihen Erziehung, deren Methode im firengen
Nahahmen und Memoriren, ohne innere lebendige Betheiligung bes Lernen-
den befteht, und die fih, analog der Entwidelung der Nationen und ber
Religionen, in die mönchiſche der orientalifhen Kirche, im die geiftliche ber
oceidentalifchen Kirche und in die Laienerziebung des Ritter- und Bürger:
thums gliedert.“ — Ziemlich gewaltthätig wird aber nad dem erften liebe,
nah der möndifhen Erziehung der orientalifhen Kirche, die des Muha—
mebanismus eingefhoben ; denn die Araber find doch nicht vorzugsweiſe vie
Vermittler des Oſtens mit dem Weften geweſen, und haben nur zum ge
ringen Theile die Haffifhe Bildung bewahrt, wenn man damit das ver-
gleicht, was das Mönchthum allein auf die fpäteren Zeiten des Mittelalters
vererbt hat. — Im der riftlih-abendländifchen Bildung, die von Rom aus:
geht, zeigt fih von vorn herein, auch im Mönchthum, vie Richtung aufs
Praktifche, fo wirkte fie auf die Romanen. Mber die Aufgabe und vie
Macht der occidentaliſchen Kirche und ihrer Wiffenfhaft und Kunft, ber
Romantik, liegt in der Durchdringung des römischen Chriftentbums und ver
germanifhen Imbivibualität. Dadurch erhielt die Religion ihr Gepräge,
„daß fie die Welt als das Gott» und Geiftlofe fortftieß und ihren Belenner
aus derfelben herans in bie reine Innerlichkeit des Geiftes bineinflüchtere.
Darum ging das Streben des mittelalterlihen Chriften über die Wirklichkeit
hinaus in ein transfcendentes Reich, in den jenfeitigen Himmel, und um
die Sehnſucht nad diefem Reiche drehte fih alles Denken, Fühlen und
Thun“. Im diefem Streben nah dem Moftifh-Symbolifhen hat auch bie
Romantik ihre Grundlage Sie war fubjectiv geiftig im ©egenfag zur
Clafficität des Alterthums mit feinem bewunderungswürbigen Gleichgewicht
zwifhen der bildenden Kraft und dem zu geftaltenden Stoffe, und fie be
berrfhhte das Denken und Thun aller abendländiſchen Nationen. Die Haupt:
ſtadt diefes großen romantifhen Geifterreihs war Rom, von wo auß ber
Papft, der Geifterfürft, mit feinen Beamten, den Geiftlihen, vie zugleich bie
Geiftigen fein follten und waren, die Geiſterwelt beherrſchte. Chriftlicher,
t. i. päpftliher Glaube und Iateinifhe Sprache, waren das Panier biefes
Geifterreihes, der Hierarchie; „die Scholaftif aber war die Hanblangerin,
welche innerhalb der von der Kirche überlieferten, unbedingt als wahr vor-
ausgeſetzten Dogmen mit Hülfe platonifher und ariftotelifher Philoſophie
denfen und in biefem SKreife ihre Gedankenkunſtſtückmachereien ausführen
durfte”. Gemäß dem Charakter des germanifchen Volles wurbe zwar aud
die Erziehung Standeserziehung, und der Nährftand erhielt durch Karl ven
Großen aud feine Parochial- und Gemeindefchulen, die aber die Geiftlichen,
der einzige Stand, der in Wahrheit Geltung und Bildung bejaß, bald
fallen ließen. Diefe Geiftlichen, der Lehrftand, fanden ihre Bildung in ben
Klofter- und Stiftsfhulen. In ihnen war die Zucht ftreng; die Unterrichte-
gegenflände waren die fieben freien Künfte, die aber Dienerinnen der Haupt:
wiffenfhaft, der Theologie, fein mußten. Das weltliche Wiffen war rein
formel, „Das Weſen des Unterrichts war nicht freie Entwidelung, jondern
leerer Formalismus, Gedähtmißfram, und das Weſen der Zucht war mit
Gewöhnung zum fittlihen Thun, fondern zu äußerer Werkheiligteit. Aber
doch war die occidentalifche Kirche mit ihrer Neigung zur Praris ein wejent-
licher Fortfchritt gegen die mönchiſche Paffivität des Orient. Sie reprü-
%
%
27
fentirt in der Entwidelung der Gefchichte die Zucht, den Gehorfam im
Denken und Thun, der die Vorbedingung aller Freiheit if. Zugleich war
fie tie alleinige Bewahrerin der Wiffenfhaft und Kunft in ven Jahr—
bunderten, wo das Abendland im Gährungsproceh lag.“ Aber die Geift-
lihteitsficche des Mittelalter und ihre Erziehung war ein Ertrem, das in
fein eigenes Gegentheil umſchlagen mußte, in dem die Innerlichkeit, vie Welt
und Natur von fi wirft, ohme fie zu durchdringen, zu Weltlichkeit und
Sinnlichkeit wurde, Der Geifterfürft wird weltliher Machthaber, das Inner-
fichfte, der Glaube, wird das Aeußerliche, das Fürwahrhalten hiſtoriſcher
Begebenheiten, die Klöfter, die Stätten der Entfagung werben Sitze der
finnlichften Luft, die ©eiftlihen, die Kepräfentanten der Sitte und Zucht,
treiben Hurerei. Da konnten die Schulen nicht gebeihen, und die Er—
ziehung der Geiftlihen ging zu Grunde durch die Kreuzzüge, durd bie
Schulen der Dominikaner und Franziskaner, die Univerfitäten und das
Städteleben. Es bildete fih nah und nad durch ben neuen Geift im
Yaientbume ein Gegenfag gegen die Geiftlihen, der ſich im der ritterlichen
und bürgerlihen Erziehung von der Kirche frei machte und in der Myſtik
das religiöfe Gefühl, das germaniſch ift, gegen den fcholaftifchen Verſtand,
der von Rom kommt, in- den Kampf fchidte, aud in den großen Borläufern
der Reformation zur fittlihen DOppofition gegen bie Unfittlichfeit der Hie-
rarhie wurde, neue Erfindungen fhuf, neue Künfte entwidelte und bie
Schule, fowie in den Univerfitäten die Wiffenfhaft von der Kirche zu be—
freien fſuchte. Es bildete fih nun ein eigener Lehrftand, und durch bie
claffifhen Studien wurde die Scholaftit überwunden. ine neue Zeit
begann, die Periode der vernünftigen Erziehung, indem durd die Reformation
der neue Geift den Sieg errang zuerft auf religiöfem Gebiete. Luther „ift
die perfönliche Reaction des Gewiſſens gegen die Gewiſſenloſigkeit der
Hierarchie. Dem Gefühl der mittelalterlihen Myftit, das in ihm lebendig
wird, fügt er die Energie des Willens zu. An die Stelle der Außerlichen
Dogmen tritt bei ihm der innerlihe Glaube, an die Stelle ver Werkheilig-
keit die fittlihe That. Der freie perfönlide Menfh, ver fih auf vie
Autonomie der Vernunft ftellt umd deſſen aus Gort geborenes Gewiflen in
Religionsfahen als Autorität weder Clerifei noch Kaiferreih anerkennt, ift
die Eroberung der Reformation. Die Reformation und ihr Zeitalter ift und
ſucht die Einheit von der Objectivität des Alterthums und der Gubjectivität
des Mittelalterd. Cie hebt den Gegenfag von Gott und Welt, Geift und
Materie auf im der Idee vom organifhen Leben und verſöhnt fomit das
Subject mit dem Object, fucht und findet überall die Einheit des Dafeins,
die Einheit im Al.“ Denn vie Reformation in der Kirche ift nicht eine
iofirte That des Geſchichtsgeiſtes. opernicus entdeckt das Sonnenſyſtem,
Columbus findet die Unterwelt, Magelhaens zeigt die wahre Geftalt ver
Erde, Bacon tritt als Herold der Naturwiflenfhaften auf, die Nationalitäten
emancipiren ſich, die Königsmacht tritt hervor, und der Gegenfag von Kirche
und Staat wird aufgehoben. So jest die Reformation den Ganz- und
Vollmenſchen in feine Rechte ein und führt dadurch die eigentlihe Mannes-
periode der Menfchheit herbei. Iſt der Charakter des Lebens im Altertum
epifch, der des Lebens vor der Reformation lyriſch, fo könnte man den bes
Lebens in der nachreformatorifhen Zeit dramatiih nennen. Der neue
28
reformatoriſche Geiſt tritt auch in der Erziehung auf. Sie umfaßt von nun
an ale Stände und ſtrebt, jede Individualität auf dem Wege ber Ent-
widelung, ven ihr von Gott gegebenen Anlagen gemäß, ihrem ewigen Ziele
entgegenzuführen: fie ift die organiiche Erziehung. Diejelbe gliedert ſich
aber in drei Perioden: im bie abftract chriftlichetheologifhe Erziehung , die
den Chriften nod im Gegenfag zum Menſchen auffaßt, in vie abftract
menſchliche Erziehung, die den Menfhen noch im Gegenfag zum Chriften
ftellt, und im die hriftlih-humane Erziehung, welde die Einheit von Chrift
und Menſch im Ideale der Gottähnlichkeit erfaßt und dieſe Einheit im ber
Individualität zu entwideln ftrebt.
Die Reformatoren erfirebten eine allgemeine Berbreitung gelehrter
Bildung, um dadurch wiljenfchaftlihe Männer für kirchliche und weltliche
Aemter zu erlangen, wollten aud für alle Volksklaſſen Schulen ſchaffen; fie
fuchten aber auch, meil fie in ver Schule die Stüge ihres reformatorijchen
Strebens jahen, diefelbe wiederum zur firhlihen Anftalt zu machen, weshalb
fie den Unterriht im Chriftentbum als Hauptaufgabe ver Schule hinftellten. —
Das Letztere trifft aber wenigftens bei den höheren Schulen nicht zu. — Diele
Anknüpfung der Schule an die Kirche war in den Augen der KReformatoren
eine nothwendige Forderung zum Siege des Fortſchritts, mad den Refor—
matoren in den Händen der Buchſtabenmänner eine Waffe zur Kmechtung
der freien Entwidelung in der Schule, jo daß fie noch einmal den harten
eg der Scholaftif durdarbeiten mußte. Diefe Entwidelung machte ber
Proteftantismus wie der Katholicismus duch, in welchem durch die Refor-
mation ein nenes Leben erwachte, das fi) aud der Schulen bemäcdhtigte, um
der Bildung und Gelehrſamkeit der Proteftanten nicht nachzuſtehen. So
ftellt fi eine abftract chriftlich » theologijche Erziehung und zwar zuerft als
Hierarchismus dar, der im Katholicismus als Jeſuitisomus und im Pro:
teftantismus als Orthodoxie auftritt, welcher durch die vom breißigjährigen
Kriege erzeugte leiblihe und geiftige Barbarei begünftigt wird. Der Hie
rarchismus wiederholt die jcholaftiihe Erziehung, indem er nicht Sachen,
fondern Worte, nicht Wahrheiten, jondern Formeln, überhaupt abjtracte
Frömmigkeit und Zungenfertigfeit als Ziel aufftellt. Erziehung und Unter-
riht beftehen in Gerähtniß- und Formelkram. „Und doch ift vie bie
rarchiſche Erziehung ein nothwendiges Moment nicht allein in der Ent-
widelung der Erziehung überhaupt, ſondern auch der erfte, wenn auch nod
rohe Anfang der heutigen Erziehung, Es war die Zucht des Geiftes, die
bier geübt, die Entfagung des fubjectiven Dünkels, worauf bingenrbeitet
werben follte, und was erft niedergemacht werben mußte, ehe die Vernunft
des Menſchen von ihrem Hoheitsrechte Gebraudy machen konnte. Zugleid
waren bie erften Schritte zu einer wirklichen Organifation des Schulweſens
geihau.“ Aber die einfeitige Verſtändigkeit ruft. bie eben fo einfeitige Ge—
fühlefeligfeit, der Hierarchismus den Pietiömus, die Orthoporie den Pietismus
Speners, der Jeſuitismus den Janſenismus hervor. Dieſe beiden vertraten
der Buchftabenorthodorie und äußeren Autorität gegenüber das Gefühlsleben
und zogen das objectiv Göttliche in das Subject herein, vernichteten aber
dafür das Individuum, verbammten bie weltliche Bildung. uud Gelehrſamleit
und hatten eine Scheu vor dem auf wahrhaft concreter Sittlichkeit ruhen-
den Leben.
29
Selbftändig neben ber einfeitig hriftlich = theologifchen Erziehung begründete
fih im 16. und 17. Jahrhundert eine Erziehungstheorie, welche im Keim
die ganze neuere Entwidelung des Erziehungs- umd Unterrichtsweſens in
fih enthält und die darum wefentlih zum Wortfchritt über die abftract
theologische Erziehung hinaus beigetragen hat (Val. Trogendorf (? !) Joh.
Sturm (? !), Ratich, Comenius, John Lode, Cartefins, Baco, die Deiften,
Spingza, Leibnitz, die Auftlarung). Sie proclamirte die abſtract menſchliche
Erziehung, die ihr Weſen in dem Kampfe gegen die abftract chriſtlich—
theologische Erziehung hatte. Als Methode wurbe vorgefchrieben : Anfhauung,
Fortfhritt vom Leichten zum Schweren, Bildung des Gedächtniſſes und
Bildimg für's Leben. „Die Schule ftrebte Selbftzwed, felbftändig und Organ
des Staatöganzen zu werben, und Humanismus und Realismus judten fie
diefem Ziele entgegenzuführen, indem fie, unter fich jelbft wieder Gegenfäge,
das Individuum von der todten Scholaftif des Hierardismus und von ber
Gefühlsſchwelgerei des Pietismus befreien wollten, damit aber in das andere
Ertrem fielen und eine rein weltlihe Erziehung, die alles fpecififch Chriftliche
von ſich weißt, erzielten. Der Humanismus (Cellarius, Gesner, Heyne,
Ernefti, F. A. Wolf) fegte das Erlernen der lateinifhen und griechiſchen
Sprade als Zwed und ſucht durch Vertiefung in das klaſſiſche Alterthum
und in die Denkmäler der antifen Kunft die rein menfhliche Gefinnung zu
bilden und die Idee der Menſchheit im Individuum zu weden. Er hielt in
DOppofition gegen den Realismus das formale Erziehungsprincip feſt und
behauptete, daß es im Unterricht nicht auf Erwerbung pofitiver Kenutniſſe,
fondern vorzüglich auf Uebung und Stärkung der geiſtigen Kraft ankomme.
Statt jedoch den Zögling in das wahrhaft Menſchliche, d. i. in die Ent-
widelung der Gefchichte einzuführen, macht er ihn nur in Griechenland und
Rom beimifh, und ftatt feinen Geift wahrhaft zu emtwideln, madt er ihn,
weil er der Gegenwart entfremder wird, unbehülflich, unpraftifc und urtheils-
(08. Dagegen betont der Realismus die Gegenwart und jegt dem Humanis-
mus gegenüber die Realien, d. i. die brauchbaren Kenntnife ver Mathematik,
Phyſik, Geographie, Geſchichte und neueren Spraden als das Wefentliche
des Unterrichts, indefi er der Orthodoxie und dem Pietismus gegenüber zeigt,
daß der Erdmenſch nicht bios ven Weg zum Himmel zu wandern hat, ſondern
and über die Erde gehen muß und aljo das irdifhe Dafein für ihn von
Bedeutung und Werth ift. Zur Erziehung des ganzen individuellen Menſchen
will der Realismus den Körper durch Gymnaſtik und Abhärtung flärken und
den Geift durch Nachahmung der Natur gelegentlih, fpielend und dialogiſch,
dem Worte die Anfhanung zufügend, entwideln. Stod und Ruthe werben
ans der Schule verbannt. Nicht ſtlaviſcher Gehorfam, jondern Geſetzlichteit
durch Vernunft fol ven Willen lenken. Der Zwed der Erziehung iſt die
unmittelbare Praris und das Ziel über die Nationalität hinaus der reine
Menfh. Dadurch aber wird die lebendige Individualität nicht weniger als
im ‚Humanismus verflüchtigt, wie auch der Realismus mit feinem Ideal ber
Naturwahrheit, das er in dem urfprünglichen Naturmenfhen (Rouſſeau) zu
finden mwähnt, zu derſelben Abſtraction gelangt iſt, als der Humaniſt, der
ſeinen Idealmenſchen im Griechenland und Rom ſuchte und fand. Die
Philanthropen gehören hierher. Ihre Beſtrebungen haben das Schulweſen
weiter entwickelt in katholiſchen und proteſtantiſchen Ländern, ſo daß ganz
30
neue Schulformen entftanden, die Unterrichtsfächer fih mehrten, und zur
Bildung der Lehrer Seminare errichtet wurden. Im Gegenſatz zur hierarchiſchen
und pietiftiihen Periode erhielt der Unterriht das Uebergewicht und warb
die Erzielung von Einfiht das Hauptziel des Unterrichts, indeß die Zucht
zur bloßen Schultisciplin herabſank. Die Volksſchule begann fi wieder
von der Kirche zu emancipiren, und vie Regierungen fingen an, fie als
Staatsanftalt zu betrachten. Aufflärung war, wie in ber Kirche, fo im ver
Schule das Lofungswort geworden.
„Die Aufklärung, die zur Aufflärerei ausartete und ohne hiftorifche
Auffaffung den BVerftandespogmatismus proclamirte, der alles Leben durch das
Entweder - Over des Verſtandes töbtete, ward durch die deutſche Philofophie,
diefe großartige Geiſtesepoche aller Zeiten, nur vergleihbar mit dem Platoniſch-
Ariftorelifhen Zeitalter, in ihre Schranfen gewiejen, inde die franzöfifce
Freidenkerei unter dem blutigen Scheine der franzöjiihen Revolution in’s
Gericht geführt ward. Deutſche Philofophie und franzöfifhe Revolution find
die Örundfteine, auf denen die neueſte Zeit aufgebaut ift, und während jene
die Freiheit des Geiftes in ber Wiffenfhaft proclamirte, räumte dieſe die
Nefte des Feudal- und Ständeftaates weg und beantwortete mit den Waffen
in ber Hand die Frage: „Was der dritte Stand* ſei. Und dieſer Geift,
ber in beiden lebte und ber erkannt hat, daß das Göttliche der Welt und
ver Menfhheit immanent ift, und daß man den Menfhen nicht heben
ann, ohne das Göttliche mitzuheben, daß dem Menſchen das göttlihe Gejet
in’8 Herz gejchrieben und daß aljo die Freiheit nichts Anderes ift als bie
vollendete Herrſchaft des menjchlichen Geiftes ſelbſt“, dieſer Geift lebte in
Leifing, Schiller, Goethe, Schleiermadher, Humboldt, Leverrier ꝛc. und bemächtigte
fih aller Wiffenfhaften und dadurch ver Welt. Die Sorge für die Erziehung
ift nun auch die Angelegenheit des Volkes geworden. Der Gegenfag des
formalen und materiellen Erziehungsprincipsg, mit dem Humanismus und
Realismus Fampfgerüftet ſich gegemüberftanden, ift durch Peftalozzi aufgehoben
und zuglei wurde der Erziehung die Richtung anf die unteren Schichten
der Gefellihaft gegeben, indeß der Humanismus nur auf die höhern Stände
ih beſchränkte und der Realismus, fo fehr er auch darnach ftrebte, Bürger
und Mel, Katholifen und Proteftanten in fih aufzunehmen, in feinen
Erziehungsplänen dody nur auf vornehmere Familien berechnet war. Peſtalozzi
ift in Wahrheit der Bater der Volkserziehung. Jedem Menfhen fol vie
Möglichkeit zur Bildung und zur felbftändigen Erwerbsfähigkeit eröffnet
werben: das ift feine Forderung. Sein Ideal eines menfhenwärdigen Dafeins
ſucht er durch Bildung mittelft Form, Zahl und Sprade, fowie durch bie
finnlihe Anfhaunng zu realifiren. Die Entwidelung des Menfhen wird
von innen heraus verfucht. Auf viefem Boden von Peſtalozzi's Erziehung.
principien bewegt ſich die neuere Volksſchule. Sie theilt deshalb alle Borzüge
und alle Mängel Peſtalozzi's. Aufgabe ward, daß das Kind harmoniſch
entwidelt, daß Anfchaulichkeit bei allen Unterrichtsgegenftänden angewendet,
daß die freie Geiftestbätigfeit angeregt, daß in jeven Lehrgegenſtande ftufen-
weis und ftetig fortgefchritten werde, und daß der Schüler Alles mit Bewußt-
jein lerne und thue Die Zucht ift nur noch ein Äußeres Unterftügungs-
mittel des Unterrichts. Die Volksſchule will nicht mehr Lehr- und Erziehungs-
anftalt des Laudvolkes und der unteren bürgerlichen Stände fein; fie will und
31
fol die Orundfhule aller Stände und die nothwendige Bafis der allgemeinen
Bildung werden. Die Gegenwart verlangt, daß alle Schulen Erziehungs:
anftalten fein follen. Sie fordert mit Peftalogzi, daß der Unterricht nicht
das Kennen, fondern das Erkennen betone; aber fie will aud, daß Das
Schulleben den zu entwidelnden Menfhen nad allen Seiten hin erfaffe und
bilde, nicht blos nach der geiftigen, ſondern aud nad der körperlichen bin.
Sie will ferner nicht allein intellektuelle, ſondern auch Herzens- und Willens-
bildung. Sie läßt den Unterrichtsftoff Mittel fein ; aber fie prüft ihn nichts—
deftoweniger nad dem Werthe, welden er an fi bat, und will den Geijt
nur durch das Allergediegenfte nähren und entwideln. Sie weiß endlich, daß
der Meunſch fi entwidelt durch Affimilation und Production, betont daher
nit minder die Ausführung des Eingejehenen, das Können, und ſucht auch
das fchöpferifhe Element in dem Kinde anzuregen und zu entwideln. Diefe
legtere Forderung hatte bereits ein Dann hervorgehoben, ver gleich Peftalozzi
ein Herz für die Menſchheit hatte und darum fühlte, was der Erziehung
noth that. Friedr. Froebel hat dem ABE ver Anfhauung von Peltalozzi
das ABE des Thuns hinzugefügt. Die gelehrten Schulen entwideln ſich
minder lebendig. Indeß verjuchte die neuefte Zeit no einmal im Bunde
mit der kirchlichen Reaction die Abftraction durchzuſetzen, den Oymnafial:
unterricht zur formalen Bildung zu ftempeln und die lateinijche und griechiſche
Sprache (?) für die einzigen und ewigen Bildungsmittel zu halten. Doch
ver Geift der Weltgeſchichte ift zu mächtig, ald daß einzelne Parteien der
Bergangenheit feine Weiterentwidelung zu hemmen vermödten. Und ver
Kampf zwiſchen Humanismus und Realismus, um den es fi hierbei
weientlih handelt, wird dann erft beendet jein, wenn pas humaniftifche
Oymnafium fein Centrum in der Geſchichte und in den diefelbe aufſchließenden
Sprachen findet, indeß die Naturwiflenihaften in feiner Peripherie liegen,
und wenn die jenem gleichgeftellte Realſchule ihren Mittelpunkt in den
Naturwiſſenſchaften ergreift und ihre Peripherie mit der Geſchichte und ven
Spraden füllt (8. Schmidt, Die Gymmafialpädagogif). Die Univerfitäten
endlich bafiren in Deutſchland auf Lehr- und Hörfreiheit, indeß ihnen eine
organifirte Disciplin fehlt, ein engherziger Kaftengeift in ihnen herrſcht, die
theologiſche Facultät fih von dem Stamme des Wiffenfhaftsorganismus für
den Augenblid loszutrennen ſcheint, und bei den Studenten ein hanbwerls-
mäßiger Betrieb der Brotftudien ſich einfchleiht. Das überall im der Gegen-
wart fümpfende Bor- und Rückwärts liegt aud bier im Kampfe; doch
bewahren die deutſchen Univerfitäten noch die Höhe ber, Entwidlung. Ueber-
haupt nimmt Deutihland, das Land der Gebanfen, den Höhepunft ver
theoretiſchen und praftiihen Entwidelung in der Erziehung ein. Mit der
Praxis geht die Theorie parallel, um mit ihrem Bildungsideal der Praris
zum Leitftern zu dienen. Diefe Bildungsiveale aber find jo verjdieden, jo
verſchieden der Boden ift, auf dem fie aufgebaut werden. Die Empirifer
(Schwarz Eurtmann (?), Sailer, Arndt, Braubah, Dinter, Graefe (?),
Diefterweg 2c) ſuchen aus ihren Anfhanungen (?) ſowie aus den Erfahrungen
im Leben die Erziehungsidee zu beftimmen und die Theorie der Pädagogik
zu begründen. Die Philofophen (Kant, Niemeyer (?), Stephani, Fichte,
Nierdammer, Schopenhauer, Hegel, Rojenfranz, Schleiermacher :c) erjtreben eine
wifienfchaftliche Behandlung der Erziehungslehre nach feften, aber verſchiedenen
32
Principien. Das fpecifiihe Weſen der Religion tritt im ihren Erziehungs-
foftemen im den Hintergrund gegen die Sittlidfeit. Darum entſtand von
thbeologifher Seite eine chriſtlich-theologiſche Pädagogik, deren
Bertreter (Durfh, Palmer) innerhalb ihrer jpecififh orthoboren Syſteme
conjequent find, aber Alles, was über diefe Syſteme hinausliegt, nicht begreifen
und daher nur verdammen fünnen (? Palmer ?). Tiefer als die theologifchen
Orthodoxen der Neuzeit griffen die Piychologen (Herbart, Benefe) in das
Weſen der Erziehung ein. Aber „das innere Seelenleben ift in beſtändigem
Fluſſe, und die innern geiftigen Zuftände laſſen fi weder willfürlih hervor-
rufen, nod beliebig feithalten. Die Selbftbeobahtung entbehrt alſo durch
diefe Unfaßbarkeit des innern Lebens, wie auch dadurch, daß fie immer nur
die Beobahtung des bejtinmten Individuums mit beftimmter geiftiger
Drganifation ift und alfo auch nur diefe zu beobachten vermag, des fichern
rundes. Als weſentliche Ergänzung muß deshalb der Selbſtbeobachtung
die Beobachtung von andern Menfchen hinzugefügt werden. Diefe Ergänzung
führt die Anthropologie aus, die durd Selbft- und Menfchenbeobahtung
die Phyfis und die Piyche des Menſchen zu erforfchen ftrebt und denfelben
einerfeits als ein Glied im Weltganzen, anbererjeits als einen im fich jelb-
ftändigen Organismus, als einen Mifrofosmos, erfennt. Auf dieſer Bafis
ruht die anthropologifhe Pädagogik. Sie faht den Menſchen als die organifche
Einheit von Natur und Geift, als Repräfentanten des Kosmos, der ſich durch
alle Stufen der Thiermelt hindurch, vom Reptil an bis zum gottbewußten
und felbftbemußten Weſen emporarbeitet und auf diefem Wege in immer
verfchiedenere Welten und in immer mannigfaltigere und vielfältigere Beziehungen,
zuerft in den Mutterfchooß, dann in den Familienkreis, hierauf in vie Nation,
die Menſchheit, nachher aus dem tellurifhen Dafein in das fosmijche, aus der
Zeit in die Emigfeit eintritt. Demgemäß fucht und erftrebt die anthropologiiche
Pädagogik die Erziehung des ganzen Menichen, bie allgemeine Menichen-
bildung, im Dienfte ver höchſten menfchheitlichen Intereffen und ftellt als ihr
formale Princip die Entwidelung auf, indeh fie in ihrem materialen Princip
die individuellen, nationalen und humaniftifhen Erziehungsprincipien, ſowie
die Ideale der harmonifhen Entfaltung der Geiftesträfte, der Religiofitär,
Sittlichkeit, Schönheit ꝛc. zufammenfaßt und im der Idee der Gottähnlichkeit
vereint, womit fie eine harmoniſche Thätigfeit des Leibes- und Geifteslebens
verlangt, geiftig aber im Denken vie Wahrheit, im Wollen die Freiheit und im
Fühlen die Liebe harmonifh entwidelt. Das iſt der Wen, den die Geſchichte
der Pädagogik zu durchwandern hat. Sie hat auf-viefem Wege nichts anderes
zu thun, als den Geift der Menfchheit auf der Bahn feines Befreiungs-
fampfes zu begleiten und zu notiren, wie er babei, in die Beſonderheit ver-
ſchiedener Nationen und eigenthümlicher Menfhen eingehend, in immer
wechſelnden Geftalten ſich darftellt, ohne dabei fein Siegesziel aus dem Auge
zu verlieren, und wie er die Errungenfchaft in jevem Volle und durch jeden
Menihen als eine Stufe betradter, auf der es näher zur Gottheit ift und
auf der er felber gewachſen und größer geworben, fich immer mehr von ber
Gemalt der Natur befreit. Und löſt die Geſchichte der Pädagogik diefe
Aufgabe, fo ift fie gleich der Weltgefhichte im Allgemeinen, von der es Der
Dichter fagt, das Weltgericht.“
So haben wir auch für die Zeit nach Chrifto meift mit Schmidt's
33
Worten jelbft die foftematifhe Gliederung gegeben. Wir haben ſchon bei
Einzelheiten auf den Zwang aufmerkſam gemacht, mit dem ſich einzelne
Erfbeinungen in dies Syſtem fügen laffen, wir bemerken aber hier noch,
daß überhaupt das ganze Mittelalter im Gegenfag zur Neuzeit fi) nicht als
Subjectivismus, jene als die Einheit der Subjectivität und Objectivität
harakterifiren läßt; denn gerade in der Meuzeit ift, wie Schmidt's Schema
bei der Zerlegung ber pädagogifhen Richtungen im derfelben, und es ift noch
nit einmal vollftändig, zeigt, der Subjectiviemus in aller Schranfenlofigkeit
erft hervorgetreten. Ebenfo ift ja nur von Seiten des Schmidr'ſchen philo-
fophifchen Schema’s, nicht aber in der Wirklichkeit die Anfhauung der abftract
hriftlich = theologischen Richtung von dem Gegenfage des Chriften und bes
Menfhen antiquirt, ja fie liegt, wenn es Feine Phrafe fein foll, aud ver
Schmidt'ſchen Auffaffung von der „hriftlihen Humanität“ zu Grunde.
Zugleih aber hat diefe fhablonenmäßige Auffaffung gehindert, daß Männer
wie Trogendorf und Sturm ihre richtige Stellung erhalten haben. Bei ver
Charafterifirung der Neuzeit, ver Epoche der hriftlihshumanen Erziehung,
fireift der Gedanke, „vaß der Geift nun erkannt hat, daß das Göttliche der
Delt und der Menſchheit immanent ift”, an ven Pantheismus. Durd Alles
dies aber foll nur der Geiſt, der in der Auffafjung und Ausführung ver
Geihichte der Pädagogik von Schmidt waltet, bezeichnet werben, damit man
Sache und Auffaffung des Berfaffers nicht verwechſele. Wir wollen damit
das harte Urtheil, welches ©. Baur in dem Artikel „Geſchichte ver Pädagogik“
in Schmidt's Eucyclopäpie fällt (Br. V, ©. 712), nicht unterfchreiben, wenn
er fagt: „An die Stelle der ruhigen Gefhichtsforfhung, welche die That—
fahren varftellt und auslegt, tritt gar häufig Die abftracte Theorie, welche
ihre Gedanken den Thatſachen nur unterlegt, die Genanigfeit in Ermittelung
und Darftelung der Thatſachen jelbft behindert und die Phrafe ihnen
fubftitmirt. Insbejondere ift der Verfaſſer zu einer flaren Einficht über das
Verhältniß der pädagogiſchen Forderungen zu den Forderungen des Chriften-
thums nicht gelommen. Er proclamirt zwar Chriftus ald den Mittelpunkt
der Gefchichte der Pädagogik, wie der Weltgejchichte, und die hriftlihe Zeit
als die Periode der humanen Erziehung. Aber wenn nun ein chriftlicher
Pidagog mit diefem Principe Ernft machen und fpecififch hriftlichen Begriffen,
wie fie auf jedem Blatte des neuen Teftamentes ausgefprocden find, auch im
Gebiete der Erziehung Geltung verſchaffen will, fo erkennt Schmidt darin
nichts, als eine Fälfhung des wahren Chriſtenthums, nad, feiner, übrigens
nirgends klar erkennbaren, Auffafjung, durch theologische Syitemmacherei, und
feinem Vorwurfe gegen folhe Pädagogen, daß fie die Fragen, welde die
moderne Pädagogik „aus lebendiger Menfchenkenntnig heraus“ ftellt und
beantwortet, gar nicht verftehen, fann mit größerem Rechte der Vorwurf
zurüdgegeben werben, daß er jelbft über bie einfachen Forderungen des
Evangeliums an die Erziehung fih noh im Unklaren befindet.” Wir felber
haben oben auf mandes Unzutreffende hingewiefen und haben gefunden, daß
er öfter den Dingen Gewalt anthut, bald Unwefentliches betont, bald Wejent-
liches ausläßt, weil die Abficht, Alles erklären und jedes Ereigniß als ein
nothwendiges Refultat deduciren zu wollen, einer unbefangenen Auffaffung
ber Dinge und Verhälmiſſe widerftreitet. Aber wir erkennen an, daß Schmidt
in feinem Buche zum erften Male eine reihe Zufammenftellung und fleifige
Schumann, Geſchichte d. Pädagogik im Seminarunterriht. 3
34
Bearbeitung des Gejammtmateriald für die Geſchichte der Pädagogik gegeben
und trog mander Mängel und mandhem Phrafenhaften aüch einzelne treffende
Charafteriftiten geboten hat. Leider ftarb K. Schmidt, ber wegen feines
fchrififtellerifhen Rufes nah Gotha als Seminardirector und Schulrath
berufen wurde, wo er noch einen Auszug feiner Geſchichte ber
Pädagogik namentlid fir Volksſchullehrer, Seminariften und Predigtamts-
canbivaten herausgab 1863, fon am 8. November 1864, ſonſt hätte er
Manches gewiß neu bearbeitet ober getilgt. Die beiden folgenden Auflagen
bat Wicharb Lange in Hamburg bearbeitet, doch find auch in biefen neuen
Bearbeitungen die alten Mängel geblieben, und es find nicht einmal überall
die Ergebnifje ver neueren Detailforfhung berüdfichtigt; dagegen leibet ber
legte Theil, welcher die neuefte Zeit behandelt, an einer übermäßigen Breite,
mit welcher Lange’ihe Lieblingsthemen behandelt werben, und orientirt nicht
gehörig in den Fragen der Gegenwart, da diefe nicht mit philofophifhen Scharf:
blide zufammengefaßt find. Wir müſſen mit Dr. Schneider (Kehr,
Pädagogifhe Blätter I, ©. 20: „Unfere Aufgabe in Beziehung auf bie
Geſchichte der Pädagogik”) fagen, daß es ſich immer noch darum handelt,
„zur Klärung ber Begriffe beizutragen und Materialien zufammenzubringen,
welde die bis jegt noh nicht gelungene Löſung der Aufgabe
einer wirfliden Geſchichte ver Pädagogik ermöglichen helfen. —
Es find aber bis jegt no zu wenig Vorarbeiten vorhanden, oder richtiger,
fie find noch nit zu Ende geführt. Es fehlt uns eine Geſchichte ber
Philofophie, die es wirklich ift, eine Geſchichte der Gefellihaft und endlich
auch eine folhe der Schulen“. Nah allen viefen Seiten hin regt dieſer
trefflihe Aufſatz Dr. Schneider's zu treuer Arbeit an, zeigt Punkte, in dem
biefe zur Förderung ver Geſchichte der Pädagogik einzufegen bat, und wirft
Fragen auf, die noch zu löfen find. Und in gleicher Weife hat Dr. 8.8. Stoy
in der Enchclopäbie der Pädagogik (Leipzig 1861) die Aufgabe der Gefchicht-
Ihreibung der Pädagogik, die nod immer zu Löfen ift, geiftreih und ver- -
ſtändnißvoll gezeihnet (S. 110 ff.).
Faſt nur abhängig von K. Schmidt ift bie „Geſchichte der deutſchen
Pädagogik“ im Umriß. Von den älteſten Zeiten bis zur Gegenwart von
Dr. A. Wittſtock (Leipzig 1866). Sie hat ſich zur Aufgabe geſtellt, zu
zeigen, was unfere Borfahren in der Wiſſenſchaft ver Pädagogik geleiftet
haben und wie fih die Erziehung der Gegenwart auf bie Vergangenheit
ftitgt, hat aber die Sache nicht gefördert. Ballien’s Abriß der Gefchichte
der deutſchen Pädagogik macht auf Wiffenfhaftlichkeit feinen Anfprud. Die
„Geihichte der Erziehung und des Unterrihtes‘ von Dr. Sr. Dittes
(Leipzig 1870) und die „Kurzgefaßte Gejhichte der Pädagogik mit befonberer
Berüdfihtigung des deutſchen Volksſchulweſens“ von 3. Böhm (Nürnberg 1870),
ebenfo die „Eurze Geichichte des Erziehungs- und Unterrichtswefens, insbeſondere
des neueren“, welhe Schüte am Schlufje feiner „evangelifhen Schullunde “
gibt, haben die Zwede ter Lehrerbildung im Seminar im Auge. Neben ihnen
find aber eine Reihe Monographien entftanden, von denen wir hier erwähnen:
Dr. Schneider, Das Schulmefen in Franfreih. Dr. Schneider, J. J. Rouffeau
und Peftalozzi ꝛc. Bromberg 1866. W. Thilo, Preußiſches Volksſchulweſen
nah Geſchichte und Statiſtik. Goıha 1867. Spieler, Das 8. Schullehrer-
Seminar und Waifenhaus zu Neuzelle in dem erften Halbjahrhundert ihres
35
Befichene. Berlin 1867. Langenberg, Adolf Dieſterweg. Sei Leben
und feine Schriften. Frankfurt a. M. 1868. 3. Leyfer, 8. Fr. Bahrdt,
ber Zeitgenoffe Peſtalozzi's, fein Verhältniß zum Philanthropinisnns und
zur neueren Pädagogik. Neuſtadt a./S. 9. 1870. Dr. Shumann, bie
Geſchichte des Volksſchulweſens in der Altmark ꝛc. Halle 1871. Dr. Götze,
Geſchichte des Gymnaſiums zu Stendal. Stendal 1871. Arnftäpt,
Frangois Rabelais zc. Leipzig 1872. Schorn, Das Seminar zu Weißen-
fels. Gotha 1872. ©. Kraufe, Wolfgang Ratichius oder Ratke im Lichte
feiner und der Zeitgenofjien Briefe und als Didaktikus in Cöthen und
Magdeburg. Leipzig 1872. Dr. Shumann, Ferienfhriften ꝛc. Die
Mädchenerziehung im deutſchen Mittelalter. Hannover 1872. Seyffarth,
Joh. Heinr. Peftalozzi. Leipzig 1872. Laas, Die Pädagogik von Joh. Sturm xc.
Berlin 1872. Küdelhban, Joh. Sturm ꝛc. Leipzig 1872. Keller,
Geſchichte des Preußifhen Boltsfhulwefens. Berlin 1873. Kelle, bie
Jdeſuiten⸗ Gymnaſien in Defterreih. Vom Anfange des vorigen Jahrhunderts,
Prag 1873. Dr. Shumann, Die echte Methode Wolfgang Ratke's. Ein
Beitrag zur Böfung ber Ratles frage Hannover 1876. Dr. Juft, Zur
Pädagogik des Mittelalters. Eifenah 1876. Dr. Störl, Wolfgang Ratte.
Ein Beitrag zur Geſchichte ver Pädagogik des 17. Jahrhunderts. Leipzig 1876.
9. Thierſch, Chriftian Heinr. Zeller's Leben. 2 Bände. Bajel 1876.
9. Mitller, Leben und Streben im Seminar zu Hannover während ber
Yahre 1790— 94. Als Beitrag zur Geſchichte des Seminarmweiens nad
Arten und Tagebüchern. Hannover 1877. Nachdem zuerft Seyffarth
eine vollftändige Ausgabe der Werke Beftalozzi’s veranftalter hat, liegen nun
auch eine Reihe der wichtigften pädagogifhen Schriften älterer und neuerer
Zeit in guten Ausgaben jedermann leicht zugänglich vor in der „Pädagogiſchen
Bihliothef“ von K. Richter (Berlin feit 1868); in der „Bibliothel päda—
gogiſcher Elaffiter* von H. Beyer (Langenfalza feit 1872) und in den
„Pädagogiſchen Klaffitern, Auswahl der beften pädagogiſchen Schriftfteller
aler Zeiten und Völker“ :c. von Dr. ©. 4. Lindner (Wien feit 1876).
Den Ausgaben der einzelnen Werke ift meift eine gute Biographie des Schrift-
ftellers, aud wohl eine Analyfe des betreffenden Werkes hinzugefügt, fo
dag diefe Sammlungen zur Berbreitung des Studiums der Geſchichte der
Pädagogik bereits viel beigetragen haben. Eine, Geſchichte des deutſchen Bolks⸗
ſchulweſens“, weniger auf Duellenftudien als auf dem Grunde ber bisherigen
Bearbeitungen berubend, hat 8. Strad (Gütersloh 1872) gegeben. Eine
Reihe guter Specialarbeiten hat außerdem die num vollendete Schmid'ſche
Encyclopäpdie der Pädagogit im ihren Schlußbänden geliefert und aud
die „Pädagogifhen Blätter für Lehrerbildung und Lehrerbildungsanftalten“
von Kehr haben feit 1872 (Gotha) eine Reihe hierher gehöriger Artikel
gebracht. Für das Seminar endlich und die Weiterbildung der Lehrer in
der Gefchichte ver Pädagogik find feit dem Erlaß der Allgemeinen Beftimmungen
in Preußen vom 15. October 1872, da diefe eine größere Berüdfihtigung
der Geſchichte der Pädagogik in ver Lehrerbildung fordern, aud eine Reihe
ven Lehrbüchern der Pädagogik erfchienen, welche ver Geſchichte der Pädagogil
einen größeren Raum gewährt haben, als es bisher ver Fall war. Wir orbnen
diefe Lehrbücher hier nah der Zeit ihres Erſcheinens. E. Braun, Hand-
buh der Geſchichte der Erziehung und bes Unterrichts im Bereiche ber
3*
36
Bollsihule in Zeit- und Lebensbilvern. (Breslau 1872.) K. Bormann,
Pädagogik für Volfsfhullehrer auf Grund der allgemeinen Beftimmungen x.
(Berlin 1873.) Aug. Schorn, Geſchichte der Pädagogik in Borbilvern
und Bildern. (Leipzig 1873.) 5. 9 Kahle, Grundzüge der evangelifchen
Volksſchulerziehung. Für Seminariften und Lehrer. (Breslau 1873.)
Dr. ©. Shumann, Lehrbuch der Pädagogik. (Erfter Theil. Einleitung,
in bie Pädagogik und Grundlage für den Unterricht in der Geſchichte der
Pädagogif mir Mufterfiüden aus den pädagogiſchen Meifterwerken ber ver-
ſchiedenen Zeiten.) (Hannover 1874. 5. Aufl. 1877.) Dr. Joh. Neumaier,
Leitfaden für den Unterricht im der Pädagogik, die Geſchichte der deutſchen
Volksſchule und mit ihr verwandter Bildungsanftalten, die Erziehungs- und
Unterrichtslehre mit Katechetif enthaltend. Für Schulfeminarien und zum
Selbftunterriht. (Tauberbifhofsheim 1874.) Dr. ©. Schumann, Yet
faden der Pädagogik für den Unterricht in Lehrerbildungsanftalten. Zweiter
Theil. Geſchichte der Pädagogik. Hannover 1876. Wir unterlaffen bier
eine Charakteriftif dieſer Lehrbücher, da wir auf fie weiter unten
wieder zurückkommen müflen. Unfer Urtheil aber über die Entwidelung
der Geſchichtſchreibung der Pädagogif müſſen wir dahin zufammenfaflen:
Wir haben nod feine völlig genügende allgemeine Geſchichte der Pädagogil,
fondern nur einzelne Berfuhe zur Löſung dieſer Aufgabe, die aber theils
in der Auffaffung ganzer Perioden, theil® in der Charakteriftif einzelner
Partien fih noch unzuverläffig erweifen oder von der Detailforfhung über-
holt find. Der Grund von diefer Erfcheinung liegt noch immer, wie es
fhon Rapp betonte, darin, daß es noch viel Unbefanntes aufzuſuchen, noch
fehr vieles Einzelne zufammenzuftellen, zu ordnen und mit der philoſophiſchen
Erfenntniß zu durchdringen gibt, daß es alfo noch immer an ben ent-
fprehenden Vorarbeiten für alle Theile diefer Geſchichte, „der Weltgeſchichte
innerften und wichtigſten Theil“ mangelt. Darum kann, wenn es aud
päbagogifh möglid wäre, in den Seminaren nod feine Geſchichte ber
Pädagogik „in weltgefhichtliher Entwidelung und im organifhen Zufammen-
bange mit dem Qulturleben ver Völker“ gelehrt werben, eine ſolche zu fchaffen
bleibt vielmehr noch Aufgabe ver Zukunft. Dagegen befigen wir eine Reihe
guter Monographien über einzelne hervorragende Pädagogen aud über
einzelne Zeitabſchnitte, welche theils auffordern, ähnliche Arbeiten zu liefern,
um Materialien zu einer umfaflenden und ftreng wiflenfhaftlihen Be—
arbeitung der Gefhichte der Pädagogik herbeizufhafien, theild es uns er-
möglihen, im Geminarunterrihte anſchauliche Bilder der bebeutenpften
Pädagogen und einzelner hervorragenden Zeiten zu geben. Nod immer
muß jede allgemeine Geſchichte der Pädagogik den Titel „Skizzen und
Bilder* tragen, wenn auch bereits fo viel bearbeitetes Material vorliegt, daß
e8 belehrend und Wege weifend zur Löfung der päbagogifchen Tagesfragen
einleiten fann, und daß es in ven Stand fest, auf Grund wirklich geſchicht⸗
liher Erfahrungen ein vernünftiges und beredhtigtes Urtheil über einzelne
Zeiterfheinungen zu fällen. Aber bis jegt barf noch feine allgemeine
Geſchichte der Pädagogik die Aufgabe des Weltgerichts löſen wollen, over das
Amt des Weltenrichters fih anmaßen, über alle Zeiterfcheinungen endgültig
zu urtbeilen. Das verbietet uns das wifienfhaftliche Gewiſſen, dieſe Zierbe
des deutfhen Volkes aud in Bezug auf die Gefhichtichreibung. Und dieſes
37
Gewiſſen auch in ber jungen Lehrerwelt zu pflegen und zu fchärfen, tft
neben den anderen Aufgaben die fchöne Aufgabe, welde ver Unterricht im ber
Gefhihte der Pädagogik zu löfen bat; denn dadurch werden unfere jungen
Lehrer wirklich innerlich frei und urtheilsfähig und nicht nur in den Stand ge-
fest, ihre Aufgaben innerlich aufzufaffen, fondern auch felbft mit Baufteine
jufammenzutragen zu einer wirklich wiffenfhaftlihen, auf foliven hiſtoriſchen
Örundlagen ruhenden und mit deutſcher Gewiffenhaftigfeit — Geſchichte
der Pädagogik.
“ II.
Allmähliche Berücfichtigung der Gefcichte der Pädagogik im
Seminarunterridt.
Wir haben bereits oben erwähnt, daß die Seminare, entftanden in der
Zeit der herrſchenden Aufllärung, die für die Beftrebungen der Vergangen-
beit feinen Sinn hatte, da fie in ihnen meift nur Berirrungen ſah, bie
Geſchichte der Pädagogik nicht in den Lehrplan aufnahmen. So blieb es _
auch noch viel fpäter nad dem Erwachen bes hiftorifhen Sinnes nah ben
dreiheitsfriegen, und erft die neuere Zeit hat ihr den gebührenven Play im
Seminarunterrichte angewiefen. Es hing darum frither von der Anficht der
betreffenden Lehrer ab, ob fie in gelegentlicher Belehrung ihren Schülern
Einzelnes aus derfelben vortrugen oder nicht. Bon Spuren eines folden
Unterrichts im vorigen Yahrhunderte habe ich in den mir zugänglichen Ge—
Ihichten älterer Seminare, z.B. in Salfeld, Gejhichte des Seminars zu
Hannover ꝛc. nichts gefunden. Man arbeitete bei der beſchränkten Unter-
rihtözeit und bei der höchſt elementaren Vorbildung der Zöglinge nur darauf.
bin, fie praftifch zum Ertheilen des Unterrichts zu befähigen. Charafteriftifch
iſt in biefer Beziehung die Aeußerung Hoppenſtedt's (Müller, Leben und
Streben im Seminar zu Hannover, 1877, ©. 50): „Wird der Zögling
theoretifch gelehrt, jo wird er den Kopf voll Kenntniffe befommen, aber er
weiß fie beim Kinderunterrichte felbft nicht auszuwählen, zu reden und zu
entwideln. Wird er aber nur praftifch geübt, ohne ftufenweife fortzufchreiten
und fih über den Zufammenhang des Ganzen Mar zu fein, fo wird er wohl
gewifie Fertigkeit im Lehrvortrage erlangen, aber fein Unterricht wird un—
gründlich, unmerhodifh und mechanifh werden. Im Gefühl der äußeren
dertigfeit und bei dem Mangel an Wiffen wird er ein fih viel dünkender
Lehrer werben.“ Um das zu vermeiden, wird nun aber nichts weiter gethan,
als daß die Seminariften in der Woche vorher den Unterrichtsftoff jelbft in
ihrem Unterrichte burcharbeiten, den fie in der folgenden Woche in der Semi-
narfhule zu ertheilen haben, und daß dann biefe Unterrichtsarbeit beurtheilt
wird, wobei fie eine methodiſch-praktiſche Belehrung erhalten. „Bejonvere
Stunden für Methodik feftzufegen, würde bei dieſem Unterridtsplane ganz
überflüffig fein.“ Im diefem Plane hatte alſo die Geſchichte der Pädagogik
keinen Plag, und ähnlih ift es in ver Gothaer Seminarordnung
von 1786. Auffallend ift aud der Mangel an biftorifhem Sinne in Betreff
38
der Pärngogif bei den Philanthbropen, fie erwähnen meift nur Zeit-
genofien, mit denen fi) beſonders das Nevifionswert von Campe befaßt, und
bei Beftalozzi, der höchſtens Sokrates und Baſedow erwähnt. Die Lehr-
bücher der Pädagogif von Niemeyer und Schwarz verbreiteten mohl
zuerft in der Lehrerwelt einige Kenntniß der Gefchichte, aber im wie wenig
Lehrerhände kamen diefe Schriften. Auch die Schriften von Ludwig
Natorp, die „Schulbibliothef”, welche mit der pädagogiſchen Literatur be-
fannt machen wollte, „Sancafter, der einzige Schulmeifter unter taufend
Kindern” und der „Briefwechfel einiger Schullehrer und Schulfreunde“,
welder aus der Rochow'ſchen Schule die Lehrer zur Peſtalozzi'ſchen Schule
binüberführen follte, brachte manche Kenntniffe wenigftens der pädagogiſchen
Literatur, aber doch zeigt auch das von Natorp umgeftaltere Seminar zu
Potsdam Feine Geſchichte der Pädagogik in feinem Lehrplane. Bon den
Männern, von denen das Seminarweſen in Deutfhland lange Zeit Richtung
empfangen bat, von Dinter, Denzel, Dieftermeg und Harnifh, erwähnt
Dinter in der Schilterung feiner Arbeiten für das Seminar die Geſchichte
der Pädagogik gar nicht, und es fcheint, daß bie Seminariften nur wohl
Männer wie Baſedow und Peſtalozzi bei ihm haben fennen lernen in ge
legentliher Mittheilung. Schon mehr nimmt auf biftoriihe Mittheilungen
Denzel Rückſicht, wenn wir wenigftend ans feinen Schriften auf feine
Praxis bei der Lehrerbildung fließen dürfen. Er gab ba zu ben einzelnen
Unterrichtsfähern allervings meift nur die neuere Literatur, erwähnte aber
doch 3. B. bei dem Lefeunterrichte ältere Methodiker und verwies auf Nie
meyer. Es bat ihm aljo die gelegentliche Erwähnung älterer Methoden nur
ein didaktiſches Jutereſſe, und er will au bei der Methopif nicht ven ge-
ſchichtlichen Weg geben, weil verjelbe „vem Lehrer das Auffaſſen eines rid-
tigen Geſichtspunktes für feine Praris erſchwert hätte“. Er wirb daher im
Unterrichte wohl meift nur bie neueren Pädagogen, von denen Peftalozzi,
Bell, Lancafter, Niemeyer, Schwarz zc. öfter erwähnt find, charakterifirt haben.
Ausprüdlih und wiederholt erwähnt und befprodhen finden mir vie
Geſchichte der Pädagogik bei Ad. Diefterweg. Wie er im Seminar zu
Mörs den pädagogiſchen Unterricht ertheilte, erzählt Yangenberg, Leben
Diefterwegs 1, ©. 77. Er ſchloß fih an das amtlide „Reglement für das
evangelifhe Schullehrer-Seminarium zu Mörs“ an (abgedrudt in Beckedorff's
Jahrbüchern des Preußiſchen Bolls-Schul-Wefens. I. Band, 1. Heft. ©. 152 fi.
Berlin 1825). Es heißt darin $ 21: „Um die Geminariften mit vem
ganzen Umfange ihres wichtigen Berufes vertraut zu machen, wird ihnen
aud in der Methodik, Didaktik und Pädagogik der nöthige Unterricht ertheilt,
welcher aber nicht in dem Bortrage einer trodenen, mweitläuftigen Theorie ober
in angehäuften theoretifhen Regeln und Vorſchriften beftehen fol, fondern ihnen
in beftänbiger Verbindung ber Theorie mit der Praxis eine kurze aber Mare
und gründliche Meberfiht der allgemeinen ®rundfäge der Methoden-, Unter-
richts- und Erziehungslehre verichafft, und ihnen das Allgemeine wie das
Bejondere dieſer Lehren durch das Beijpiel der mit dem Seminar zu ver-
bindenden Uebungsfhule, wie durch den von den Seminariften unter Aufficht
der Lehrer fortwährend zu ertheilenven Unterricht in allen Fächern anfhaulich
macht. Der Unterricht in der Pädagogik ftütt fi am beften auf eine Mare
und überfichtlihe Kenntnig der menſchlichen Seelenkräfte und umfaßt auch
39
die Grundſätze über Schuldisciplin und Schullehrerfiugheit, nebft einer An-
weifung über die zur weiteren Ausbildung und Bervolllommnung fhon an-
geftellter Lehrer führenden zwedmäßigften Mittel.“ In Betreff des legten
Satzes fagt Dieftermeg bei Langenberg, nahdem er den Weg geſchildert hat,
den er einfchlägt, um die Grundkräfte des Menſchen zc. kennen zu lehren:
„Dur den bisherigen Unterricht wurbe erftrebt bie Kenutniß des Menfchen
von Seiten feiner förperlihen und geiftigen Natur, die Natur feiner Ent-
widelung, die daraus hervorgehende Einſicht des Zweckes feiner Beftimmung
und die Idee der Erziehung. Nun ift ed am ber Zeit, ven Schüler mit den
Grundfägen der Erziehung befannt zu machen. Bier gibt e8 zwei Wege,
welche ich im verfchiedenen Jahren eingefchlagen habe. Entweder bleibt man
der bisherigen Methode, der rationellen Entwidelung und Ableitung der Er-
jiehungsgrunbfäge aus der erfannten Menfhennatur, getreu, oder man betritt
ven Weg der Geſchichte und Erfahrung, indem man ven Schüler mit den
von Schriftftelern aufgeftellten Erziehungsprincipien bekannt macht, und zu
jelbfländigem Urtheil über viefelben anleitet. Jenes ift die fchwerere, dieſes
die leichtere Weife. Beide führen indeß zum Ziele, und da die Zeit, binnen
welcher der Unterricht zu Ende gebracht werben muß, beſchränkt ift, jo rathe
ih zu dem legteren. Derſelbe empfiehlt fi) auch noch in doppelter Hinficht.
Einmal find die Schiller durch die bisherige heuriftifch-rationelle Behandlung
bereits binlänglich in diefen bildenden Lehrgang eingeführt, jo daß es nun,
gleihfam zur Erholung für die bisherige Anftrengung, gerathen jcheint, eine
andere Unterrichtsmweife.zu beginnen, und fir das Andere führt man fie auf
diefem Wege zur Kenntniß der pädagogifhen Literatur, und man hat das
Mittel gefunden, fie in biefem Zweige mit der Bücherſprache befannt zu
machen, und ihnen die Fertigkeit in dem Verſtehen verfelben anzueignen,
wodurch man ihnen zugleich das Mittel der Weiterbildung, nad ihrer Ent:
laſſung aus dem Seminar, aneignet. Deswegen gebe ich den Zöglingen nun
irgend ein Buch über Pädagogik in die Hand, daffelbe mit ihnen lejend und
erflärend. In den verfchievenen Jahren habe ich dazu Depzel’s Vollsſchule,
Gruner's Erziehungslehre, Harniſch's Handbuch des Vollksſchulweſens, Zer-
renner's Methodenbuch und mein kleines Werkchen über Erziehung im All—
gemeinen und über Schulerziehung im Beſonderen gebraucht. Alle dieſe
größeren und kleineren Werke, auch andere, geben einen zweckmäßigen Yeit-
faden ab, und bieten die mannigfaltigfte Gelegenheit zu Bemerkungen und
Anfihten, befonders wenn fie in beftändiger Beziehung zu den Erfahrungen
in der mit dem Seminar verbundenen Schule gehalten werben. Dadurch
bleibt der Unterricht ein theoretifch-praftifcher, ein Lebensunterricht. Um dieſen
Zwed noch mehr zu fördern, wird zu den bisherigen Lectionen wöchentlich
noch eine Stunde genommen, welche einzig den Mittheilungen der Erfahrungen
in der Schule und ihrer Würdigung gewibmet if. Sind wir mit dem
Lefen eines der angegebenen Handbücher zu Enbe gelommen, jo theile ic
den Schülern eine kurze Gefhichte der Erziehungslehre und eine biographiſche
Darftellung der wichtigften Schriftfteller über Pädagogif mit. Und num
gebe ih aus der Biblisthef des Seminars, oder wo biefe nicht ausreicht,
aus meiner eigenen Bücherfammlung jedem Seminartften ein Werk über Er-
ziehung, Methodik, Disciplin ꝛc. in die Hand, jedem ein anderes, mit dem
Auftrage, daffelbe für fih zu ſtudiren, einen Auszug aus bemfelben anzu-
40
fertigen, und das Wichtigſte und Bebeutendfte in den Lehrftunden in mlnd-
lihem, freiem Bortrage mitzutheilen. Die Lehrftunden find nun zu Stunden
freier Mittheilung geworden. Hier trägt Einer nah dem Andern einen
Abſchnitt aus feinem Buche vor. Ale übrigen hören mit mir dem Dar-
ftellenden zu ; vernehmen feine Bemerkungen, feine Einwendungen, jeine Zweifel
und Fragen, diefelben werben von mir und ben Zöglingen beantwortet und
beftritten. Der ftrenge Unterricht geftaltet ſich dadurch in freie Unterhaltung
um, und die Seminariften werden auf ſolche Weife in ihrem Urtheile jelb-
ftändig und ir geifliger Hinficht die felbfturtheilenden Freunde des Lehrers.
Auf folhe Weife wird in diefer Beziehung ber Uebertritt der Zöglinge aus
dem Seminar in das Veben und in das Gebiet der jelbftändigen Wirkjams
feit vermittelt und eingeleitet." So behandelte Diefterweg im der Prarxis
die Gefhichte der Pädagogik, aber auch fonft hat er wenigftens die Geſchichte
der neueren Pädagogik energifch betont. So fagte er in feiner Antrittsrede
im Seminar zu Mörs: „Kein Lehrer darf die Namen eines Rochow, Baſedow
ohne innere Erhebung und Begeifterung nennen hören. Bor Allem muß
uns Peſtalozzi für die große Sache der Menſchheit begeiftern.“ So gab er
in zwei Bänden 1835 u. 36: „Das pädagogiſche Deutfchland der Gegeuwart.
Dver: Sammlung von Gelbftbiographien jett lebender deutſcher Erzieber
und Lehrer. Für Erzieher“ (Berlin, Plahn), heraus. Es enthält Biographien
von Handel in Neiße, Ich. Ramsauer, Dr. W. Braubad, R. L. Roth, Lor—
berg, ©. Reinbeck, Fr. W. Lange, Stiebel, Sidel, Schweizer, Kröger, Kopf,
Kern, Rebe, Ewich, und Diefterweg hoffte, daß dadurch die Lehrer nicht nur
fih, fondern aud die Kinder kennen lernen und einjehen jollten, welde
Stunde in der Schulwelt vor einiger Zeit und fo eben gefchlagen hat.
Ebenjo hatte er fhon 1830 für die rheinischen Blätter einen Auffag: „Ein-
leitung zur Geſchichte der Erziehung“ gefchrieben, und in feinem „Wegweifer“
empfiehlt er I, ©. 86 befonders Biographien, hält aber dafür, daß für die
Lehrer „nur die Gefchichte des modernen Volksſchulweſens ſeit 1770
belehrend ſei.“
In ähnliher Weife verlangt Aug. Klaude, Paſtor zu Ham und
Horn bei Hamburg, in feiner Schrift: „Grundſätze der Schullehrer⸗
Bildung in Seminarien mit befonderer Beziehung auf Hamburg. Ein
philofophifher Verſuch“ (Hamburg 1829) ein hiftoriiches Element im der
pädagogiihen Bildung. Er fagt ©. 131: „Einen wichtigen Nebentbeil
diefer Methodik bildet das biftorifhe und literarifhe Clement, welches
ſchwerlich fehlen darf, da nicht zu erwarten ift, daß die künftigen Lehrer id
große Bibliorhefen anfchaffen jollen. Unter der Literatur, die den Seminariften
zu geben ift, verftehe ich aber nicht ein Verzeichniß von Büchertiteln —
das gehört nur zum Flitter der Gelehrjamkeit und ift etwas Ueberflüſſiges
— ſondern theils die Darftelung und Auseinanderjegung des Inhaltes der
Hauptbücher über die verfchiedenen Methoden von Geiten des Lehrers,
theil® das eigene Privatlefen der Seminariften in den dahin einfchlagenden
Büchern, fo daß fie felbft den Inhalt darftelen und entwideln. Diefes
biftorifche Element, welches überall ſich hineinmiſchen muß, bewahrt aud vor
dem verberblihen „Schwören in verbum magistri.“ In Hamburg if
ein Seminar ſehr viel fpäter errichtet, und aud in ſchon beftehenden
Seminaren findet man die Gefhichte ver Pädagogik wenigitens im den
41
Berihten nicht erwähnt, 3. B. in den Seminarberichten von Brühl und
Soeft 1825.
Harnifc legte, wie Schorn in ver Schrift: „Das Seminar zu Weißen-
feld ꝛc.“ (Gotha 1872) ©. 26 jagt, dem Unterrichte in der „Schulmeifter-
funjt” fein Handbuch für das deutſche Volksſchulweſen zu Grunde, beſprach
aber in einer befonderen Stunde politifche und pädagogifhe Zeitfragen, fo
dag dadurch die Seminariften in der Zeit orientirt wurden. Dürfen wir
aus feinem Handbuch für das deutſche Volksſchulweſen einen Schluß auf
feine Unterrichtspraxis ziehen, fo kamen gelegentlih die Anfichten einer
großen Reihe von Pädagogen zur Sprade; denn er erwähnt Denzel, Nebe,
Zerrenner, Zeller, Beckedorff, Schwarz, Diefterweg, Sailer, Fichte, Rouffenu,
3. Baul, Wolf, 3. Lode, Niemeyer, Benede, Peſtalozzi, Guts-Muths, Baſedow,
Baco von Berulam, Luther, Türk, Niederer, Dinter, Schleiermader, Graſer,
Thierbah, Overberg, Hirfher, Bell, Lancafter, Natorp, Jahn, Eifelen,
Stephani, Schmid, Ramſauer, Plato, Pythagoras, Idelfamer, Heinide, Ge-
dide, Campe, Zeipler, U. Comenius, Salzmann, Rochow, Felbiger, Jacotot,
Fellenberg, Oberlin u. a., von denen er Ausſprüche anführt; er erwähnt
Schulblätter, gibt bei den einzelnen Abfchnitten eine reiche Literatur, führt
auh die Schüler im die Zeitftreitigkeiten, z. B. über bie geiftlihe Schul-
aufficht, in den Streit zwifchen Diefterweg und Thierfch ꝛc. ein, gibt eine
kurze Geſchichte einzelner Unterrichtsfächer, z. B. des Zeichneng, Geſanges,
Leſens, Sprachunterrichts, der Realien, in der er öfter ſogar bis auf die
Griechen und Hebräer zurückgeht, gibt auch am Ende eine kurze Ueberſicht
über die Geſchichte der deutſchen Volksſchulen unter dem Abſchnitte: „Die
Vollsſchule in beſonderen Geſtaltungen“, ©. 512 ff. Wir ſehen, das find
Namen genug, aber ob er verfucht hat, den Seminariften dieſe Namen aud
lebendig zu machen, das willen wir nidt.
Am nächſten fteht Harnifch der ibm befreundete Katholit D. Daniel
Krüger in Breslau, welder in feinem Bude: „Ueber Vollsſchulen und
Elementarunterriht. Ein Beitrag zur Bildung der Lehrer. Zunächſt
Bielen der ehemaligen Zöglinge des hiefigen katholiſchen Schullehrer = Semi-
narium gewidmet* (Breslau 1818), die Art zeigt, wie ber pädagogiſche
Unterricht im Breslauer Seminar ertheilt wurde. Auch er erwähnt eine
Maſſe Hiftorifchen Stoffes gelegentlih wie Harniſch. So finden wir bei ihm
erwähnt Friedrich den Großen, Felbiger, die Sagan’fche Methode, die Se⸗
minare zu Gotha und Hannover, Tancafter, Natorp, Niemeyer, die Schule
in Hofwyl, Campe, Baferow, Sailer, Rochow, Wolfe, die alten Weijen
Griechenlands, Augustini de rudibus catechizandis, Salzmann, Am. Co-
menius, 9. Lode, Fonélon, Rouſſeau, Frande, Guts-Muths, Iſelin,
Schummel, Steinbart, Billaume, Herber, Weihe (Kinderfreund), lat
(Iugenpihriften), Kindermann, Peftalozzi, Türk, Stephani, Graſer, Olivier,
Heinide, Pöhlmann, Harnifh, Tilih, Dolz, Schwarz, Naegeli, Duintilian,
Sturm :c., empfiehlt zur weiteren Belanntfhaft mit den Alten Meiner’s
„Seihichte der Willenfchaften in Griehenland und Rom“, und führt bie
Schriften fo vieler Männer an, um, wie er fagt, feine Schüler au bie
Duellen zu weijen, aus denen fie weitere Belehrung und, wo es nöthig fei,
Berichtigung der vorgetragenen Anfihten ſuchen könnten. Darum gibt er
auch zulegt noch Hinweiſe auf die „Ueberfiht der pädagogiſchen Literatur
42
von Petri”, auf die „Kleine Schulbibliothel von Natorp“ und bie „Kleine
Handbibliothek für Schullehrer x. von I. W. H. Ziegenbein.“ Dabei
muthet uns die wahrhaft edle Freifinnigfeit und ungeheuchelte Lauterkeit der
Sefinnung wohltuend an, mit ber er proteftantifche Pädagogen befpridt
und auf fie aufmerkſam macht als beachtenswerthe Förderer der Erziehung.
Daß im übrigen Deutjhland die Seminare und deren Unterricht ſich
in ähnliher Weife entwidelten, könnte bier noch weiter entwidelt werben
aus verfhiedenen älteren Schulgefegen und ans den Schriften von Böfe,
Deinhardt x. Doc genügen die obigen Andeutungen. Ganz ähnlich ift
es, wie 9. 3. Schlegel, „Die ſchweizeriſchen Lehrerbildungsanftalten“
(Zürich 1874), zeigt, in der Schweiz geweſen. Die Geſchichte der Pädagogil
ftand nicht auf dem Lehrplane, und nur gelegentlih, wo nicht Dieſterweg's
Weife befolgt wurde, wurden Einzelheiten aus derſelben gegeben.
In Preußen, wo wie anderwärts bie Praxis nad den an den Semi—
naren ſtehenden Perſönlichkeiten fehr verſchieden war, ordnete das Minifterium,
da verjchiebene Verſuche ein Unterrichtögefeg zu Stande zu bringen, vergeblich
gewejen waren (vergl.: Die Gefetgebung auf dem Gebiete des Unterrichts—
weiens in Preußen. Bom Jahre 1817 bis 1868. Altenftüde mit Er-
läuterungen aus dem Minifterium ber geiftlichen, Unterrichts- und Mebicinal-
Angelegenheiten. Berlin. W. Her& 1869), das Seminarwefen durd das
Regulativ vom 1. October 1854. Diefes ſchrieb in Betreff ver
Pädagogik vor: „Was bisher an einzelnen Seminarien nod unter ben
Rubriken Päragogif, Methodik, Didaktik, Katechetif, Anthropologie und Pſycho—
logie u. f. w. etwa gelehrt fein follte, ift von bem Leftionsplan zu entfernen
und ift ftatt deſſen für jeden Curfus in möcentlid zwei Stunden „Schul:
kunde“ anzufegen. In dem Seminar ift fein Syſtem der Pädagogik zu
lehren, aud nicht in populärer Form. Der Unterricht über Schulkunde hat
fih vor Abftractionen und vor Definitionswerk forgfältig zu bewahren und
möglihft praftifh und unmittelbar zu geftalten. Der angehenve Lehrer ſoll
durch dieſen Unterricht die für ihm erforderliche pädagogiſche Bildung er-
langen und befähigt werben, ſich felbft und Andere über das Weſen und
die Aufgabe feines Berufes bewußte und flare Rechenschaft zu geben. Ein
einfahes und beftimmtes Bild von der evangelifd-drift-
lien Schule nad ihrer Entftehbung und Ausbilpung, nah
ihrem Verhältniß zu Familie, Kirche und Staat darzuftellen, wobei bie
einflußreichſten Shulmänner, namentlid feit der Refor—
mation, ihre Erwähnung, und deren Einwirkung auf Ge-
ftaltung des Elementar-Shulmwejens ihre Darftellung
finden fönnen; fowie eine Charakteriftit des Lehrers mac feinem
hriftlihen und fittlihen Standpunkt zu geben, wird eine angemefjene Auf:
gabe für den Unterricht des erften Jahres fein, während im zweiten Jahre
die Aufgabe und Einrihtung der Elementarfhule, ver für fie paflende
Leltionsplan und die wichtigſten Grundfäge des in ihr ftatthaften Unterrichts-
Verfahrens, der hriftlihen Erziehung überhaupt, und der Schulzucht im
Bejonderen, ihre Darlegung und Erläuterung finden müflen. Im dritten
Jahre find die Zöglinge mit ihren Pflichten als künftige Diener des Staats
und ber Kirche, fowie mit den geeigneten Mitteln zu ihrer Fortbildung nad
der Seminarzeit befannt zu machen, und ift im Mebrigen bie verftattete
43
Zeit bauptfächlic zur Vorbereitung für die Arbeit in der Uebungsichule,
fowie zur Klärung und Befeftigung der in berfelben gemachten Beobachtungen
und Erfahrungen, foweit beides, mit Ausſchluß der Methodik (dieſe follte
im Seminarunterrihte mit dem Unterrichte in dem einzelnen Fächern ver-
bunden werben) im Einzelnen, das Schulhalten und die Schulerziehung an-
gebt, zu verwenden.“ Es war damit wenigftens der Geſchichte ver Volks—
ſchule ein befcheidener Pla im Seminarunterrichte eingeräumt. Da ber
Geheimerath F. Stiehl, der Verfaſſer der Regulative, in feiner Schrift:
„Meine Stellung zu ven drei Preußiſchen Regulativen ꝛc.“, Berlin 1872,
©. 5, die Aeußerung eines feiner früheren Schüler anführt: „ich hätte auf
die Ausgabe der Regulative meinen Namen nicht zu fegen gebraudt; jeder
meiner Schüler würde fofort aus dem Inhalte den früheren Seminarbirector
Stiehl erfannt haben“: fo dürfen wir annehmen, daß alfo dadurch bie
Seminarpraris Stiehl's in Neuwied von 1835 — 1844 auf die übrigen
Seminare ausgebehnt werben follte. In einem Circular-Erlaß des Minifters
vom 28. März 1855 wurde fovann auf die von dem Provinzial-Schulrath
8. Bormann auf Grund der Regulative bearbeitete Schulfunde aufmerkjam
gemadyt. Wir haben das Bud jchon oben erwähnt und den Abfchmitt des—
felben über die Geſchichte der Volksſchule als äußerſt dürftig bezeichnet. Es
wurbe daher wohl in den Seminaren eingeführt, aber in ven meiften
richteten jich Die Lehrer wenig nad demſelben, obgleih ed aud Seminare
gab, in denen es auswendig gelernt wurde. Später wurde auch Schüge’s
„Schulkunde“ gebraudt, die aber nur die Gefchichte der Pädagogik feit der
Reformation ansführliher behandelt. Die Praris blieb auch nah den Re—
gulativen in ben verfchievenen preußifhen Seminaren eine fehr verſchiedene,
nur fiel überall die Geſchichte der Pädagogik in das erfte Jahr. Im den
„Altenftüden zur Geſchichte und zum Verſtändniß der drei Preußiſchen Re—
gulative ac. von F. Stiehl* (Berlin, Herg 1855) ift ©. 63 ein Lehrplan
eines Seminars mitgetheilt. Wir heben aus ihm das aus, mas hierher
gehört: „Schulfunde. Erfter Curſus 2 Stunden. Erftes Tertial. Biblifche
Orundlegung für die Erziehung unter Zufammenftellung und Erläuterung
der in der heiligen Schrift enthaltenen hierher gehörigen Grundſätze. Ge—
Ihichtliches über die Entftehung und Ausbildung der evangelifch - hriftlihen
Schuien nad ihrem Verhältniß zu Kirhe, Staat und Familie Zweites
Zertial. Die einflußreihften Schulmänner feit der Reformation, fo wie
deren Einwirkung auf die Geftaltung des Elementarfhulwefens. Bilder aus
dem Kinderleben. Wohnftuben- Erziehung und chriftliches Familienleben.
Bartefchulen und Rettungshäuſer.“ Man fieht daraus, wie befchränft hier
der Raum für die Gefchichte zwgemeflen ift; denn nur noch im britten
Curſus kommen in einem Tertial die wictigften Bücher für die Fortbildung
und die pädagogiſche Literatur zur Beiprehung. Indeſſen ift gewiß, daß
in ben meiften preufifhen Seminaren der Unterricht der Pädagogik mit be-
ſonderem Ernfte betrieben wurbe, wie denn aud die Regulative zum Schlufie
noch betonten: „Es darf erwartet werben, daß die Seminarlehrer dem Aus-
bau dieſes Unterrichtsfaches ihre ganze Umficht und Gewifjenhaftigfeit zu—
wenden und fi zu biefem Behufe namentlih mit den faktifhen Zuftänden
des Bollölebens und der Elementarfchule in einem lebendigen Zuſammenhang
erhalten.“ Der Berfaffer felbft kann dieſe ernfte Arbeit, bie er an ver:
44
ſchiedenen Seminaren in jener Zeit gefehen hat, bezeugen, und baffelbe be-
zeugt ber Seminarbirector F. Leutz zu Carlsruhe, der gleichfalls in jener
Zeit mehrere preufifhe Seminare beſucht bat, im feiner Schrift: „Die
Theorie und Praris des pädagogiſchen Unterrihts an den deutſchen Schul-
lehrer-Seminarien. Eine Zufammenftellung und Beurtheilung der hierüber
in Deutſchlaud beftehenden Einrichtungen. Carlsruhe, Braun 1870." Im
Seminar zu Berlin unter Thilo wurde befonderes Gewicht auf die ge
ſchichtliche Entwidelung des preußifhen Volksſchulweſens gelegt (Thilo, Das
preußifche Volksſchulweſen nah Geſchichte und Statiftif. Gotha, Beſſer 1867),
in Köpenid ſchloß fi der Director Schaller, wie er ed aud früher in
Dfterburg gethan hatte, nur wenig in dem gefhichtlihen Abjchnitten an
Bormann an, fondern gab in freier Weife eine Geſchichte des Volksſchul—
weſens, mit bejonderer Hervorhebung der großen Pädagogen feit der Re—
formation. In Bunzlau legte Seminardirector Dr. Schneider befonderes
Gewicht ſchon in der dritten Klaſſe auf das Lefen pädagogiſcher Schriften,
und in Weifenfels behandelte Seminarbirector Shorn im erften Jahre
die Gefchichte der Pädagogik in ihren Hauptzügen, fo daß bie Erziehung
beim Volke Ifrael, Chriftus, Auguftinus, die Klofterfchulen, die Reformatoren,
Am. Comenius, U. H. Frande, Rouffeau, die Philanthropen, Rochow,
Peftalozzi 2c. vorgeführt wurden. Es brauchte alfo bier nur eine geringe
Erweiterung einzutreten, um bie Forderung der Allgemeinen Be-
ftimmungen vom 15. October 1872 zu erfüllen, und Schorn fonnte mit
Recht in der Vorrede zu feiner „Gefchichte der Pädagogik in Borbildern
und Bildern“ (Leipzig, Dürr 1873) fagen: „In vdiefem Sinne (um das
Wefentlihfte aus der Gefchichte der Erziehung und des Unterrichts in
lebendigen Bildern der bedeutendſten Männer zc. zu geben) hat Berfafler
die vorliegenden Bilder zufammengeftellt und fie bereits eine Reihe von
Jahren hindurch bei feinem linterrichte verwendet.“ Auch ich felber habe
als Director in Ofterburg und in Alfeld die Seminariften tiefer im bie
Gefhichte der Pädagogik eingeführt, ald e8 an ber Hand von Bormann
gefhehen konnte, weil ich einmal meinen Zöglingen die Grundlage bieten
wollte, damit fie fi weiter in die Gefchichte ver Pädagogik und die Auf-
gabe der Schule hineinarbeiten könnten, und weil ich, wie id es in ber
Borrede zu meiner „Geſchichte des Volksſchulweſens in der Altmark” (Halle,
Waiſenhaus 1871) ausgefproden habe, von der Ueberzeugung ausgebe, daß
die Gedichte am Harften darlegt, wie bie Behörden, die Leiter und Lehrer
der Schule die Aufgaben der Pädagogik begriffen und gelöft haben, und
daß die Geſchichte das Gelbftbemußtjein eines Volkes if. Wie weit aber
einzelne preußifhe Seminare auch anf unferem Gebiete über die Forderungen
der Regulative hinausgewachfen waren, zeigt der für ben Unterricht in ber
Geſchichte der Pädagogik in den Seminaren Epoche machende Aufjag von
Dr. Schneider: „Unfere Aufgabe in Beziehung auf die Geſchichte der
Pädagogik“, in „Kehr's pädagogiſchen Blättern für Xehrerbildung und Lehrer-
bildungsanftalten* (Gotha, Thienemann 1872) 1. Br., ©. 20 ff., in deſſen
weitem Theil der Berfafer, nachdem er im erften die mannigfaltigen Auf-
gaben lichtvoll gefchildert hat, die noch zu löſen find, ehe wir eine wirkliche
Geſchichte der Pädagogik erhalten, die Praris ſchildert, die er felber in der
Behandlung der Gefhichte ver Päragogif in dem Seminarunterrichte an
45
verfhiedenen Seminaren geübt hat. Für den Schulmann, welcher lernen
will, bietet der Auffag in jeder Zeile eine Fülle Anregung und Belehrung,
jo daß auch diejenigen, welde bisher eine andere Praris befolgt haben, ſich
einer Revifion ihrer Anfichten angefichts der Begrünbungen und ber Nad-
‚weife, welche er auch im Betreff des Standes unferer Geſchichtsſchreibung
der Pädagogik bietet, nicht werden auf die Dauer entziehen fünnen. Wenn
irgend jemand, jo mar aber ber Verfaſſer ver Allgemeinen Beftimmungen
vom 15. October 1872 in dieſer Beziehung und aud in anderen Punkten,
die einer zeitgemäßen Reform beburften, durch fein eigenes Wirken als
Schulmann über die Regulative hinausgewachſen, fo daß die allgemeinen
Beftimmungen eben nur einen Abſchluß feiner eigenen Entwidelung als
Schulmann bezeichnen.
In einer glüdliheren Lage als die preußifchen Seminare, die wenigftens
auf die Dauer nicht genug Antrieb dur die Regulative empfingen, befand
fi) bereits feit 1863 das Seminar in Gotha. Nah $ 32 fol im
Seminar Pädagogik und Geſchichte derfelben gelehrt fein. Es follte, wie
C. Schmidt in der Gefhichte der Volksſchule und des Lehrer - Seminars
in Gotha, ©. 49, es ausſpricht, „die eingehende Beihäftigung mit den
pädagogischen Wiffenfchaften, foweit dies möglich ift, eine Garantie dafür
bieten, daß auch in der Volksſchule an die Stelle eines handwerksmäßigen
und jchablonenartigen Unterrihts mehr und mehr ein der Zwede und
Mittel fih bewußter Unterricht treten wird, welcher allein eine geveihliche
Entwidelung des kindlichen Geiftes verbürgt“. Nach dieſem Geſetze
reorganifirte C. Schmidt das Seminar und begann den pädagogiſchen
Unterriht mit der Anthropologie, welche vie Piychologie einſchließt, dann
folgte die Unterrichts- und Erziehungslehre, die Schulfunde mit der Schul-
einrichtung und der Schulzucht mit ihren Geſetzen. „Endlich“, jo fagt er
„Zur Reform der Lehrerfeminare* (Cöthen, Scettler 1863), „muß ver
Seminarift im Seminar eine Belanutfhaft mit dem wefentlihen Gange ver
biftorifchen Entwidelung der Erziehung und bes Unterrichts, jowie ver
Geſchichte des Volksſchulweſens im Beſonderen gewinnen, woran die Gefege
der Bollsfhule des Heimathlandes zu Mmüpfen find, um daburd ben
fünftigen Lehrer in den Stand zu ſetzen, die päbagogifchen Fragen ber
Gegenwart dem Geifte der Gegenwart, dem Geifte der gejhichtlihen Ent—
widelung angemefjen zu beantworten." C. Schmidts Nachfolger, Dr. Fr.
Dittes, gab 1868 den Lehrplan des Herzoglichen Lehrerfeminars in
Gotha heraus. Es heißt darin in Betreff der Geſchichte der Pädagogik
©. 8: „Es (das Seminar) will enblih aus der Geſchichte der Pädagogik
mittheilen, was den Bollsjchullehrer zu edlem Wirken begeiftern, oder was
ibm als Borbild in der Methode und Disciplin, oder zur Warnung vor
Rrthümern und Mißgriffen dienen kann.“ Sie bildet den Lehrftoff für
das Winterfemefter der erften (oberften) Klaſſe. Der Lehrplan gibt an: „Die .
Erziehung bei den vorchriſtlichen Bölfern, unter Bezugnahme auf die all-
gemeine Geſchichte, nur kurz (etlihe Stunden); die älteften chriftlichen
Bildungsanftalten, die Kirchenväter; die kirchliche Erziehungsweife in
Deutfchland bis auf Karl dem Großen; Karl der Große; die Zeiten bis
zur Reformation, Klerus, Adel und Bürgerthum, erfte Stadtſchulen, Bachanten,
Eutftehung der Univerfitäten, Wiederaufblühen der Wiſſenſchaften; die Re—
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formatoren und die Reformation; die kirchlichen Elementarfchulen, die Zeit
bis zum breifigjährigen Kriege; ver breißigjährige Krieg; Baco von Berulam
und Sohn Lode; Ratich und Comenius; die gothaifhe Schulreform unter
Herzog Ernft dem Frommen; ber Pietismns und Auguſt Hermann Frande ;
Ronffean; die Philanthropiften (Baſedow, Campe, Salzmanın u. |. w.);
Peftalozzi; Dinter, Niemeyer, Schwarz, Stephani, Denzel, Zerrenner, Graſer,
Harniſch, Jean Paul, Gräfe, Palmer; Gall und die Phrenologie; Herbart
und Benefe; Jacotot und feine Nachfolger; Bell und Lancafter; Fröbel;
Diefterweg; die preußifchen Regulative; die Gegenwart. Ein für die Hand
der Zöglinge völlig geeignetes Lehrbuch gibt es noch nicht; unter ben vor-
handenen empfehlen wir vie (Heine) Geſchichte ver Erziehung und bes
- Unterrichts von E. Schmidt (Cöthen bei Schettler). Ungefähr vom Februar
an ©eneralrepetition ber Erziehungs- und Unterrichtslehre mebft ihrer
Geſchichte.“ Diefer Stoff wird in wöchentlich vier Stunden durchgenommen.
Wie Dittes diefen Unterricht behandelte, zeigt feine ‚Geſchichte der Er-
ziehung uub des Unterrichts. Für deutſche Bolklsſchullehrer“ (Leipzig,
Klinfharbt 1870), in deren Vorrede er fagt, nachdem er die Mängel ver
bisher erfchienenen Geſchichten der Pädagogik erwähnt bat: „Diefe Uebel-
ftände habe ich feit einer Reihe von Jahren in meiner amtlihen Wirkfan-
feit — am Seminar in Gotha und am Päragogium in Wien — lebhaft
gefühlt. Ein Buch follte meine mündlichen Vorträge aus der Geſchichte ber
Pädagogik unterftiigen, aber feines genügte mir in dem Maße, daß ich es
meinen Hörern mit Befriedigung hätte empfehlen können. Daher entjchloß
ih mid endlich zur Ausarbeitung des vorliegenden Buches. Daſſelbe ift
alfo unmittelbar aus meiner Lehrthätigkeit hervorgegangen: es ift eine
gebrängte Niederſchrift mündlicher Vorträge und gibt die Geſchichte der
Pädagogik in dem Umfange und in der Form, wie ſie nach meiner Meinung
für den deutſchen Vollksſchullehrer erſprießlich iſt. Der Nachfolger von
Dittes, C. Kehr, ging, wenn wir wenigftens® von einer Section -über
Rouſſeau, die wir bei ihm hörten, auf andere Theile der Geſchichte der
Pädagogik ſchließen dürfen, mehr anf den Inhalt der Hauptichriften ein.
An dem Seminar in Eiſenach wurde nad dem Lehrplan von 1865
(Geſchichte und Lehrplan des Eifenaher Schullehrer- Seminars von dem
derz. Director Eberhardt. Eiſenach 1868) aud die Geſchichte der Päpagogif
berüdjichtigt, und die Lehrordnung (Dritter Bericht über das Eiſenacher
Schullehrer - Seminar vom Dir. Schulrath Eberhard, 1874—1876) ſchreibt
diejelbe für Klaſſe 1b vor, fo daß einmal bei der Methopif der einzelnen
Unterrichtsfächer die Geſchichte der betreffenden Methode berückſichtigt wird,
und dann im bejonderen Stunden Erziehungslehre und Gedichte der
Pädagogif, welche die Lectüüre pädagogifcher Claſſiker begleitet, behandelt
werden. In Weimar fällt die Gefchichte der Pädagogik in das zweite
. Jahr der erften Klaffe.
Nah der Verordnung über die Bildung der Schullehrer im Königreich
Bayern vom 29. September 1866 umfaßt das Seminar zwei Curfe,
in denen im unterften fünf, im oberften vier Stunden Unterricht in ber
Pädagogik ertheilt werden. Die Geſchichte der Pädagogik und Methodik in
biographiſcher Darftellung beginnt den Unterricht im oberen Eurfus. Es
folgt dann noch die Schulzucht, die fpecielle Methodik und ein kurzer Ueber-
47
blid über die in Bezug auf das Schulweſen geltenden Gefege und Ber-
orbnungen. Einen Leitfaden zur Geſchichte der Pädagogik fir die bayerifchen
Seminare hat Seminarlehrer I. Böhm im Altdorf gegeben durch feine
„Kurzgefaßte Gefhichte der Pädagogik, mit befonvderer Berückſichtigung des
deutſchen Volksſchulweſens und einem Anhange: Geſchichte, Verwaltung und
Statiftit der deutſchen Schulen und Lehrerbildungsanftalten in Bayern.“
(Nürnberg, Korn 1870.) Es ift dem Gegenftande eine Wohenftunde im
zweiten Curſus zugemefien, aber doch hat Böhm fi nicht auf die chriftliche
Zeit beſchränkt, weil er, wie er in ver Vorrede fagt, „fi dabei nicht hat
den Auſchauungen anfhliegen können, als ob für die Volksſchullehrer das
meifte pädagogifhe Wiſſen in den päragogifhen Kram gehöre und für fie
nur die Geſchichte des modernen Vollksſchulweſens belehrend fei; er ift viel-
mehr der Anfiht, daß das Stubium der alten Geſchichte das Weſen
bes geiftigen Lebens und Strebens der hiftorifhen Völler aufſchließt, und
zugleih die Fundamente kennen lehrt, auf welchen die Entwidelung ber
Menſchheit fortwährend neuen Fuß faßte. Aus diefem Grunde hat er vie
vorhriftliche Zeit nicht unberüdfichtigt laffen können, doch aber nur kurze
Skizzen gegeben. Im der Geſchichte der chriſtlichen Zeit bildet natürlich vie
Geſchichte der deutſchen Pädagogik, und dann insbejondere die des deutſchen
Vollsſchulweſens, den Kernpunkt“.
Im Königreich Sachſen wird die Geſchichte der Pädagogik in der
oberſten Klaſſe gelehrt, und es wurde früher (ſ. Leutz, Die Theorie und
Praris des pädagogiſchen Unterrichts 2c., S. 17) „Die Geſchichte ver deutſchen
Pädagogik von Ballien“ als Lehrmittel empfohlen. Im neuerer Zeit hat
man der Geſchichte der Pädagogik größere Aufmerkfamkeit zugewandt und
hat 3. B. in Zihopau auf des Berfaffers Geſchichte der Pädagogik hin-
gewiefen, gibt z. B. in Noſſen auch eine Gefhichte der Meihodik. Außer-
dem haben uns die fähfifhen Seminarprogramme fhon manden
Ihägenswerthen Beitrag zur Gefchichte der Pädagogik in Einzelunterfuhungen
gebracht, welche Zeugnig ablegen von dem frifhen Streben, das in ben
ſächſiſchen Seminaren herrſcht.
In Bremen verlegt der Lehrplan für das Seminar zu Bremen im
Auftrage des Scholarchats, herausgegeben von Aug. Lüben (Bremen,
Müller 1867), vie Pädagogit in bie oberfie Klaſſe, „da das richtige Ver—
ſtaͤndniß derſelben eine größere Reife des Geiſtes vorausſetzt. Es werden
ihr, die Unterrigtsübungen der Seminariften mit eingerechnet, wöchentlich
fieben Stunden gewidmet. Gegen das Ende lernen die Seminariften auch bie
allmählihe Entwidelung der deutſchen Volksſchule und ihre Aufgabe in
ber Gegenwart kennen. „Die Seminarbibliothef enthält die wichtigften
pädagogifhen Schriften, deren forgfältige Benugung den Seminariften der
erften Klaffe zur Pflicht gemacht wird. Der Director leitet dies Studium
in der Weife, daß er zu pafjender Zeit die Schriften oder Abſchnitte der—
felben namhaft macht, welche eine weitere Belehrung über behandelte Öegen-
ftände enthalten. Auf dieſe Weife erlangen die Seminariften zugleich
genügende Kenntniß derjenigen pädagogifchen Literatur, die fie zu ihrer
jpäteren Weiterbildung nöthig haben.“
Im Großherzogtum Heſſen wurde im Friedberg im legten Seminar-
jahre eine überfichtlihde Gefchichte der Pädagogik gegeben.
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In Oldenburg fheint man, nah Dr. ©. Böſe, „Zur Seminar-
reformfrage* (Oldenburg, Bultmann 1872) ©. 20 zu urtheilen, früher nur
Einiges aus der Geihichte der Pädagogik gelegentlich mitgetheilt zu haben,
denn er forbert dort außer den Fächern, melde das Oldenburger Seminar
treibt, auch Geſchichte der Pädagogik.
In Hamburg wird nad dem erften Yahresberiht von 1873 vom
Director H. Paul als Lehrziel bingeftelt: „Die Gefhichte der Pädagogik
(incl. der Vollsſchule) fol die Seminariften mit der Entwidelung diefer
Wiffenfhaft befannt mahen und ihnen edle Vorbilder für das fünftige
Berufsleben vorführen.“ Sie fällt in die oberſte Klafle und behandelt be—
ſonders ausführlich die Zeit nad) der Reformation.
Wir haben damit ſchon eine große Berfchievenheit in der Behanplung
der Gefchichte der Pädagogik nachgewieſen an verfchiedenen Seminaren, und
diefelbe ließ fih nah Leutz, Die Theorie und Praris des pädagogifchen
Unterrichts ꝛc. (Carlsruhe 1870) und nah 3.9. Schlegel, Die ſchweizeriſchen
?ehrerbildungsanftalten (Züri, Orell, Füßli 1874) leicht noch vermehren.
Aber dies mag genügen, um nadıyzumeifen, daß man überall ver Gefchichte
der Pädagogik in den Seminaren mwenigftens die Aufmerkfamkeit zugewandt
bat, daß aker überall eine große Verſchiedenheit in der Stellung derſelben
und der Behandlung herrfht. Und vaflelbe zeigt fih auch in den Schriften,
welche mit der Seminarreformfrage fih befhäftigen, von denen wir nur
Böfe, Deinhardt und Richter noch erwähnen.
Dr. Böſe (Zur Seminarreformfrage, ©. 32) läßt fie in dem wier-
Haffigen Seminar in der zweiten Klaſſe, in welcher der pädagogiſche Unterricht
beginnt, mit drei Stunden wöchentlich auftreten, aber von je drei Stunden
Katehetil und Methopif und Pſychologie begleitet fein, während aud) bie erfte
Klaffe neben einer Stunde Piychologie noch eine Stunde Geſchichte ver
Pädagogik haben foll,
9. Deinharpt, Ueber Lehrerbildung und Lehrerbildungsanitalten
(Zweite Auflage Wien 1871, Bihler), der von öfterreihifchen Berhält-
niffen ausgeht, hat der Gefchichte der Pädagogik in der theoretifchen
Pädagogik eine fo eigenthümliche Stellung und Aufgabe zugewiefen, ©. 129 ff.,
daß wir zum Berftänpniß derfelben hier auf feine Entwidelung ſelber ein-
gehen müflen. Er fagt: „In dem Unterrichte der Yehrerichule, der die
pädagogifhe Theorie darftellt, ift Alles als überflüffig und daher ſchädlich
zu vermeiden, was dem Zmwede, bie fünftigen Lehrer zu orientiren, um fie
zu befähigen, die Aufgabe der gegenwärtigen Vollksſchule mit Rüdfiht auf
gegebene Berhältnifie felbftändig zu beftimmen, abfeits liegt oder über ihn
hinausgeht. Wir negiren daher vor Allem eine Darftellung der pädagogischen
Theorie, melde darauf angelegt ift, fih zu einem fpeciell ausgeführten
Schul- und Unterrihtsplane zuzufpigen, welche aljo ven Charakter der Anz
weifung annimmt oder vielmehr von vornherein hat. Das Planmachen, vie
durchgeführte Anwendung pädagogischer, didaftifcher und metherifher Grund-
füge auf das Ganze des Unterrihtd und die einzelnen Disciplinen muß
den felbftändig gewordenen Lehrern — abgefehen von den maßgebenben
Beftimmungen der Schulgefeßgebung, wie abgefehen von ihrer freiwilligen
und in Anſpruch genommenen’ Berftändigung und Einigung — überlaffen
bleiben, und infofern fhon vie Lehrfchulzöglinge damit beginnen werden und
4
jollen, muß ihr Berhalten dabei ein innerlihes und freies fein. Ein
Unterricht, der im biefer Beziehung vorgreift, indem er, um recht praktiſch
zu fein, den fünftigen Lehrern Irrungen und vergeblihe Anftrengungen zu
erijparen prätenbirt, ift wejentlih unpraktiſch, weil er bei ven ſchwächeren
oder fügfameren Naturen das Selbftvenfen in Ruhe fest, bei den begabteren
ober Fräftigeren die geheime Oppofition bedingt. Der an ſich theoretische Unterricht
muß durchaus, um feinem Zwede zu entſprechen, alfo wahrhaft praktiſch zu
fein, theoretifh bleiben. Er darf fih aber auch nicht in Abftractionen
bewegen, um durch ein zwingende Beweisverfahren die Sagreiben, von
deuen für praftifhe Pläne ausgegangen werben fol, feftzuftellen, ſondern
muß, um eimerjeit8 bie Objectivität zu bewahren, weldye bei den Hörern
oder Zöglingen das Gefühl der Freiheit und Unbefangenheit erzeugt, anderer-
feits, indem er Anjhauungen bietet, die Gedankenbewegung als bialektifche
ju vergegenwärtigen und die päbagogijhen Fragen hervortreten zu Lafjen,
zu verfolgen und über ihren Stand thatfächlich zu orientiren, hiſtoriſch—
entwidelnde Darftellung fein. Die rein philoſophiſche Darftellung,
die von Begriffen ausgeht, um zu Wahrheiten und zu praftifchen Reſultaten
zu gelangen, fest überhaupt ein an verfchievenen Stoffen wiſſenſchaftlich
gejhultes Denken und insbejondere die Kenntniß der hiſtoriſchen Gebanfen-
entwidelung, die fie überall für den Kundigen genügend, alfo andentend zu
recapituliren hat, voraus; fie läuft daher als verfrühte auf das Vor—
mahen von Beweiſen und auf die Scheinbegründung aufoctroyirter Sätze
hinaus, an welche fi die vorgreifende Anmweifung, die von vornherein ber
eigentlihe Zwed ift, am bequemften anſchließt. Indem wir aber für bie
Lehrerſchule die pſeudophiloſophiſche Darftellung der Pädagogik negiren und
die biftorifch » entwidelnde Darftellung verlangen, wollen wir feineswegs, wie
es fcheinen könnte, den theoretiſch-pädagogiſchen Unterricht auf eine Disciplin,
die Gefchichte ver praftifhen und theoretiihen Pädagogif, rebuciren, und
zwar jo wenig für die gewöhnliche, wie für bie höhere Lehrerſchule. Wir
nehmen drei Disciplinen der theoretifhen Pädagogik, nämlih außer ver
Gefhihte der Pädagogik die allgemeine Erziehungslehre und die
Didaktik und Methodik in Auſpruch, und da dieſe nad unſerer Anficht
nicht aufeinander folgen, fondern mit bejonders zu erwähnenden Aus—
nahmen mebeneinander hinlaufen, fih alfo unmittelbar ergänzen follen,
während die Forderung einer hiftorijch » entwidelnden.. Darftellung ſich auf
den ganzen theoretiſchen Unterricht bezieht, da ferner die unentbehrlide
Unterlage der allgemeinen Eulturgefhichte in Bezug auf beftimmte Zeiten
und Böller zur Charakteriftif ihres befonderen Erziehungsweſens voll-
fommen ausreiht und da endlich dem gegenwärtigen und künftigen Selbit-
ftudium der Zöglinge zu überlaffen ift, was ihm füglich überlafjen werben
tann, fo verfteht es fih von felbft, daß wir feine ſich gleihmäßig fort
ipinnende Geſchichte ver Pädagogik, fondern einzelne, ausgiebig ausgeführte
Bartien derſelben, die durch cultur = biftorifhe Ueberſichten, reſpective
Recapitulationen zu verbinden find, im Auge haben. Sole Partien find
beifpielöweife für die alte Zeit: vie fpartanifche und athenifche Erziehung,
Sokrates; für die neuere und neuefte Zeit: die Schulenbegründung bei
der Reformation, das Erziehungsigftem der Jeſuiten, Fraucke und die Pietiften,
Baſedow und die Philanthropiniften, Peſtalozzi und Fröbel. Dabei ift auf
Schumann, Geſchichte d. Pädagogik im Seminarunterridte. 4
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Bolkszuftändlihes und Perfönlihes der Art einzugehen, daß lebendige, nach—
baltige und fruchtbare Bilder und Eindrüde erzeugt werben, während fid)
die allgemeine Erziehungsiehre, wo fie das Hervortreten der päbagogifchen
Ideen und ihren Kampf behandelt, an vie Sahe zu halten und von bem
allgemeingefhichtlihen Hintergruude, dem Zufammenhange mit weiterreichenden
Eulturveränderungen zwar nicht abzufehen, aber fih auf die Recapitulation
und Andentung zu beichränfen bat. Wir nehmen aber das Ausgehen von
ver biftorifhen Darftellung und Reflerion bei der allgemeinen Erziehungs:
lehre durchgehends in Anſpruch, ohne deshalb den Fortſchritt der Erörterung
als einen dem Berlaufe der Geſchichte parallel gehenden im Auge zu haben,
da ein »erartiger Parallelismus der Natur der Disciplin widerftrebt, fie
alfo ihres eigenthämlichen Charakters berauben und die Ergänzung, bie wir
verlangen, ausfchließen würde. Im Begriffe der Lehre liegt ein conjequenter
Uebergang von ven allgemeinen zu den befonderen Fragen und Wuhrbeiten,
wobei die Ueberſicht immer wieder berzuftelen und die Auffafjung ver
Grundſätze fortſchreitend zu vertiefen ift, und wir find weit entfernt, dieſem
logifhen Borgehen ein chronologiſches jubftituiren zu wollen. Wie aber vie
Geſchichtsbetrachtung ihre — wmefentlih der neueren Zeit augehörige —
Gejhichte bat und jeve Gefhichtsberrahtung die gefammte Bergangenbeit
unter eine relativ neue, rejpective einfeitige Beleuchtung bringt, jo ift that-
fählih jede pädagogische Frage irgend einmal in den Vordergrund geftellt,
als vie pädagogiſche Trage ſchlechthin behandelt und mit Pathos debattirt
worden, und von biejer Thatſache abzufehen, alfo das hiſtoriſche Bortreten
und Gicdrebuciren der päbagogifhen Gedanken, venen jedenfalls eine
momentane Bedeutung zulommt, zu ignoriren, ift eine Abftracion, durch
welche jedenfalls vie Anfhaulichkeit und Eindringlichkeit der wiffenihaftlichen
Darftellung verkürzt und verfümmert wird, wenn fie aud nicht nothwendig
ven wiffenfhaftlihen Stanppunft und die wiffenfhaftlihe Betrachtung verengt
und vereinfeitigt. Um fo mehr ift bei einer Behandlung der Erziehungs-
lehre, welche den eigeurlich wiffenjchaftlihen Charakter noch nicht anftreben
und annehmen darf, welche durchweg anfhaulich fein und ein gewiflermafeu
leivenfhafrlihes Intereffe an den einzelnen pädagogifhen Fragen ohne das
fünftlihe Mittel des fubjectiv » rhetorifhen Kaifonnements, das theils un—⸗
wirfjam, theild bedenklich ift, hervorrufen muß, die hiſtoriſche Einleitung
und Yluftration der -verfchievenen Themen zu fordern. So ift z. B. bei
dem wichtigen Thema ver Naturgemäßheit der Erziehung vor Allem das
Aufıreten Rouſſeau's zu fhildern und fein Stanppunft zu entwideln, bei
dem Thema der öffentlihen und Yamilienerziehung in ihrem Verhältniß vie
gewaltigen und gewaltfam erfheinenden Poſtulate Fichte's in feinen Reden
au die deutſche Nation voranquftellen und auf biftorifche Gegenfäge, den ber
Sriehen und Römer, der Spartaner und Arhener u. f. w. zurüd- und
einzugehen, bei dem Thema ver religiöfen Erziehung die Tendenzen der
jefuirifchen und pietiſtiſchen Erziehungweife, vie Aufklärung ver Philan-
thropiniften, der Streit Diefterwegs gegen die Negulative, der Palmer'ſche
Standpunft zu berüdfichtigen. Auh bei den anthropologifhen Themen,
welhe die Erziehungslehre einſchließt, das Specifiſche der menſchlichen
Organifation, vie Altersftufen, der Gejchlechtsunterfchied, Die Temperamente
und Anlagen u. ſ. w., iſt die Berüdfihtigung ethnographiſcher und gefhicht-
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licher Thatſachen nicht zu verſäumen. Daß die Didaktik und Methodik
neben der allgemeinen Erziehungslehre, von der ſie eigentlich ein Theil ſind,
behandelt werben, hat feine Begründung im dem Organidmus der Lehrer⸗
ihule und insbejondere darin, daß das Eingehen auf den Unterrichtsftoff
und die Unterrichtsaufgaben unverhältnigmäßig viel Zeit erfordert und doch
für eine anfhaulihe Darftelung fowie theilweife für die Recapitulation des
zur Aneignung gebrachten realiftifhen Willens nothwendig ift. Eine un—
berechtigte Boranftellung des Zwedes, die Unterrichtsfähigfeit zu vermitteln,
ift darin nicht zu fehen, da uur die abftracte uud falſche Auffaffung diefes
Zwedes das Boranftellen veffelben gefährlid macht, und wir davon ausgehen,
daß der Unterricht als Erziehungsmittel zu betrachten und zu behandeln ijt.
Die Forderung aber, mittelft der hiſtoriſchen Einleitung und Illuftration zu
verhindern, daß die Lehre einen abftracten und vorgreifenden Charakter an-
nimmt, ftellen wir in Bezug auf die Divaktif und Methodilk noch beftimmter
ald bezüglih der Erziehungslehre. Hier ift eine kritiſch-hiſtoriſche Dar—
ftellung, welde die hiftoriihen Debatten über die verfchiedenen Unterrichts-
grundfäge und die hiftoriihen Umbildungen jedes bejonderen Unterrichts-
betriebes — indem fie die begrifflihen Abgrenzungen fefthält, alfo ohne den
Charakter einer allgemein geſchichtlichen Darftellung anzunehmen — verfolgt,
in ungezwungener Weife möglich und für die Objectivirät des Stanbpunttes,
für die Entwidelung des Imterefjes und die ausreichende Orientirung noth-
wendig. Den Einwaud, daß ein pädagogifcher Unterricht der Lehrerſchule,
der in der angegebenen Art biftorifch werden folle, eine zu weite Ausdehnung
gewinne, Ueberflüſſiges heranziehe und auf Umwegen das praftifche Ziel zu
ſpät oder gar nicht erreicht, haben wir jhon im Voraus abgethan, wollen
aber doch noch hervorheben, daß ein Raifonnement, welhes die Stelle ver
biftorifchen Darftellung einnimmt, binfichtlich der Breite feine anderen Grenzen
hat, als das fubjective Belieben, daß es aber, wenn bie Lehre ſich ſyſtemtaiſch
glievern und dabei das Verſtändniß wirflid vermittelt und die Leberzeugung
begrüntet werden ſoll, fich viel weiter ausdehnen müßte als ein Unterricht,
der den ficheren Weg der hiſtoriſch-kritiſchen Darftellung einfchlägt, ohne daß der
gleiche Erfolg zu erwarten wäre. So würde der raifonnirend ſyſtematiſche Vor:
trag, 3. B. aud die Gedanken des alten Comenius, fo weit fie Gemeingut ge-
worden find oder geworden jcheinen, in moderner Ausdrudsweije enthalten und
vorführen, damit aber keinesfalls und nicht von weiten der Gewinn erjegt werben,
den eine treue hiſtoriſche Darftellung ver Diktatik des Comenius für die Bafirung
der didaftifchen Gefichtspunfte und für ein klares Urtheil über den Stand der
gegenwärtigen Didaktik, ihren Fortſchritt und ihr Zurüdgebliebenfein hat. Daß
freilich das Raiſonnement leichter in die ausprüdlihe Anweifung übergeht als
eine hiſtoriſch-kritiſche Darftellung, läßt fih nicht verfennen und ift von ung
anerkannt worden, für unfere Ueberzengung aber ift viefe Anweiſung jchäb-
liher Ueberfluß, und ver Alternative eines fih zum Schul- und Lehrplau
zufpigenden und auf diefe Zujpigung von vornherein berechneten, ſyſtematiſch
taifonnirenden, und eines bloßen Gelegenheitsunterrichtes gegenüber würben
wir uns unbedingt für den legteren entfcheiden, der jedenfalls eine Zeit
erfparung märe. Uebrigens finden wir auf den Seminar» Tehrplänen vie
Geſchichte ver Pädagogik durchweg neben der Erziehungslehre und Didaktit,
und wenn die legteren Disciplinen rein raifonnirend behandelt werden, aljv
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von gefhichtlihen Einleitungen und Iluftrationen abfehen, fo nimmt vie
erfte vermöge ber Abſonderung und Selbftändigfeit, die ihr gewährt worden,
eine gleihmäßige und möglichft volftändige Ausführung in Anfprud, aus
jener Abftraction ergibt fi alfo feine Erfparung an Zeit und Lernmübe,
während man ſich nad unjerer Anſicht das abftracte Raifonnement, alfo den
Zeit = und SKraftaufwand, den es erforbert, erfparen kann und fol. Dabei
läßt fih nicht jagen, daß, wie es fi) aud mit dem Werthe des abftracten
Raifonnements verhalte, ver Gewinn der gefhichtlihen Darftellung jedenfalls
der gleiche fei. Neben dem Unterrichte, ver die Geſchichte im Ganzen ver-
folgt, ift ein anderer, der in fie zurüdgreift und bie befonvere biftorifche
Berradytung unmittelbar zur Bafis befonderer, durch das Reflerionsbevürfnig
motivirter Reflexionen macht, durchaus nothwendig, wenn bie fortlaufende
geſchichtliche Darftellung ihre volle Ergiebigkeit bewähren fol. Wären wir
von biefer Nothwendigfeit nicht überzeugt, jo würden wir uns auch nidt
bevenfen, bie theoretifhe Pädagogik der Lehrerfchule auf eine Disciplin,
eben die Geſchichte der Pädagogik, zu reduciren, während wir zujammen-
greifende Disciplinen, alfo einen geglieverten und ſich concentrirenden
Unterricht fordern.” Auch die Methodik der einzelnen Bolksfchulgegenftände
faun in biefer Weife biftorifch behantelt werben, und es wird dies am zwei
Segenftänden, der Mathematif und den Yormenarbeiten, nachgewiejen. „Die
Unterlage aber für die Gefhichte der Pädagogik und für die theoretifche
Pädagogik der Lehrerfchule überhaupt, ift die allgemeine Culturgeſchichte.“
Wir ſehen bier aljo der Geſchichte der Pädagogik den hervorragenpften
Antheil an der pädagogifchen Lehrerbildung zugewiefen und wollen daher
nit nur in biefer Beziehung, fondern auch wegen der mancherlei Fragen,
die das Bud, ‚uber Lehrerbildung anregt, auf daſſelbe nachdrücklich hinweiſen.
Es geht nit in den gewöhnlichen ©eleifen, und man ftößt auf mande
Paradorien, aber es regt nahhaltig an und behandelt die hohe Frage
würdig und ſachgemäß.
Gleich intereffant behandelt die Lehrerbildung Karl Richter im feiner
Schrift: „Die Reform der Lehrerfeminare nad den Forderungen unferer Zeit
und der heutigen Pädagogik. Bon der Diefterwegftiftung gekrönte Preis-
ſchrift.“ (Leipzig, Fr. Brandftetter 1874.) Wir heben nur aus, was auf
die Gefhichte der Pädagogik Bezug bat, die er im zweiten Kapitel unter ber
päbagogifhen Bildung im Seminare und zwar unter A, der wiſſenſchaftlich—
päbagogiihen Bildung, zu ter er Logik, Ethik und Pſychologie $ 17, Methoditk
$ 18 und Gefchichte der Pädagogik $ 19, ©. 224 ff. rechnet, abhanbelt.
Das Gefhäft der Erziehung fett Erkenntnif des Zwedes und Zieles voraus,
nach welchem bier erzogen werben fol, dies lehrt die Eıhik kennen, es forbert
auch die Kenntnif der Bedingungen und Geſetze, nach welchen fich die geiftige
Bildung überhaupt vollzieht, dieſe lehrt die Pſychologie. Beide aber fegen
wieder die Logik voraus, und als weiterer Zweig ber wiſſenſchaftlichen Päda—
gogik reiht fi die Methodologie oder Methodik an, während die Geſchichte
ber Pädagogik durch die Darlegung der Erziehungsideale und Erziehungs-
mittel der verſchiedenſten Zeiten und Völker die Gegenwart mit der Ver—
gangenheit in Zufammenhang bringt und die wiffenfhaftlihe Pädagogik ab-
ſchließt. Sie ift alfo legtes Glied in ver Fette der wiffenfchaftlich-päpa-
gogiſchen Lehrfächer. Richter jagt: „Die Pädagogik trägt einen Januskopf, deſſen
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eines Gefiht nad) vorwärts, deſſen anderes nad ridmwärts gewandt ift.
Für die Zukunft der aufwachſenden Jugend arbeitend, muß fie an die Gegen-
wart anknüpfen, und da dieſe wieder auf voraufgegangenen Zuftänden be-
rubt, fo muß fie die Vergangenheit nad dem Woher befragen.” Und wenn ber
Ausſpruch Herbart’8 wahr ift, „daß das immer neue Leben immer von neuem
bie Schule erzeugen“, alfo das Unterrichts und Erziehungsweien gemäß ber
Zeitkultur in beftändiger Weiterentwidelung erhalten werden müffe, fo muß
denjenigen, welche babei in erfter Linie in Mitleivenfchaft gezogen werben,
den fünftigen Lehrern, der Spiegel der Gegenwart und Zukunft: die Ver—
gangenheit, vorgehalten werben, damit fie im Lichte verfelben die Stellung
begreifen, im die fie eintreten follen, und ein richtiges Verſtändniß der Gegen-
wart umb ihrer erziehlichen Beftrebungen gewinnen. „Jede öffentliche Wirk—
ſamkeit jegt die Kenntnif der vorhandenen Bebingungen voraus, an die fie
anzufnüpfen, des Bodens, den fie zu bearbeiten bat, und biefe wiederum
fann nur dadurch die nöthige Bollftändigkeit und Tiefe erlangen, daß fie das
hiſtoriſch Gewordene rüdwärts in feine Urfahen und Bildungselemente ver-
folgt.“ Die Gefchichte der Pädagogik hat einestheils vie Entwidelung ber
Unterrichts- und Erziehungsgrumpdfäge, anderntheils die Entwidelung
bes Unterrichts und Erziehungswefens zur Darftellung zu bringen. Hin-
fihtlid jener Grundfäge hat ſich die Gefchichte der Pädagogik ſowohl an bie
Anfihten jener Männer zu balten, welche von der älteften Zeit an bis herauf
in die Gegenwart als die Träger pädagogifcher Ipeen gelten dürfen und
welche oft mit weitfchauendem Blide aus den Berhältniffen ihrer Zeit heraus
gedacht, gewollt und erftrebt haben, woran die Gegenwart noch arbeitet, als
auh am die VBerorbnungen und Gefege, welche zu verſchiedenen Zeiten zur
Regelung der öffentlihen Erziehung von den einzelnen Regierungen erlaffen
worden find; hinfichtlih der pädagogifhen Praris aber hat die Geſchichte
der Pädagogik aufzuzeigen, auf welche Weife in dem verfchiedenen Pertoben
der Geſchichte in Haus und Schule thatfählih unterrichtet und erzogen
wurde, welde Sorge man ber leiblihen Ausbildung widmete, welche Zucht⸗
mittel man anwandte, wie es in ven Schulen ausfah, welche Gegenftände man
lehrte und mie dies gefchah, welche Hilfsmittel, Lehrbücher zc. man babei
brauchte u. dergl. m., daß dabei der Hauptton auf die deutſche Päpagogit
und das deutſche Schulweien fallen wirb und fallen muß, und das ſchließlich
das Erziehungs: und Schulweſen des engeren Baterlandes nach jeinem gegen-
wärtigen Stande, nad der Schulgefeggebung ꝛc. fpecieller darzuſtellen ift,
verfteht fih von felbft. Freilich Liegt hier, wo es ſich um bie Geſchichte der
pädagogifhen Praris handelt, der Webelftand zu Tage, daß die Quellen
dariiber noch ziemlih fpärlich fließen; venn während bie verſchiedenſten
pädagogifhen Geſchichtswerke über pädagogiſche Theorien ganz ausführlich
berichten, fuht man im ihnen einen Auffhluß über die praftifhe Erziehung
fo gut wie vergebens, fo daß man breijt behaupten darf, es gebe überhaupt
noch gar feine Gejhichte der praftiihen Erziehung und des Schulweſens,
insbefondere des deutſchen. Aber wenn aud die pädagogifhen Gejdichts-
fhreiber e8 noch wenig der Mühe werth gehalten haben, an die allerdings
mühfame Arbeit der Quellenforfhung zu gehen und in alten Chronifen und
Dichtungen, in alten Schulbüchern, Biographien und Programmen ꝛc. nach-
zugraben, fondern ſich meift damit begnügten, einander abzufchreiben und aus
54
zweiter und dritter Hand zu nehmen, was fid da fand, jo wird fih doch
ein Gefchhichtslehrer der Pädägogik, der ein rechter Mann fein will, nicht mit
dem in bergleihen Geſchichtswerken Gebotenen begnügen over warten bürfen,
bis ihm endlich einmal alles mundgereht auf dem Präfentirteller entgegen-
gebradjt wird ; vielmehr muß er felber das Material aus verſchiedenen Quellen
fi) zufammentragen, um damit die päbagogifhen Zuftände vergangener Jahr:
hunderte feinen Zöglingen illuftriren zu können. Und glüdlicherweije find
Dazu im nemerer Zeit theild in Schulprogrammen, welche bie Gejchichte einer
oder der anderen Schule aktenmäßig darftellen, theils in kulturhiſtoriſchen
Schriften, welche bie Zuſtände einer Gegend oder Stabt in irgend einem
Zeitabſchnitte behandeln, theils in Biographien berühmter Männer u. vergl.
fo mande ſchätzenswerthe Beiträge geliefert worden, die ſchon einigen Anhalt
und eine ganz erffedliche Ausbeute gewähren. De die Gefhidhte ver Päda—
gogif ihrem Weſen und Begriffe nah im engften Zufammenhange mit ber
allgemeinen Geſchichte fteht und nichts weiter als ein fpecieller Zweig ber-
felben ift, fo muß fie auch im beftänbiger Beziehung zu derfelben erbalten
werben. Denn mit den focialen Zuftänden eines Bolfes, mit der erreichten
Stufe in Wilfenfhaft und Kunft, kurz mit feiner gefammten Eultur und
den daraus hervorwachſenden Culturidealen ftehen bie allgemeinen Geſichts—
punfte für die Erziehung, die Erziebungs- und Bildungsireale, in enger
Berbindung, und man kann diefe nicht oder nur mangelhaft verftehen, ohne
auf jene Rüdjiht zu nehmen. Deshalb ift überall, wo gewiffe Wendungen
in Betreff der Erziehung und des Unterrichtes, feien dies num Fortfchritte
oder Trübungen der pädagogifhen Einficht, fi) bemerkbar machen, ver Zu-
fammenhang, die Wechfelwirfung mit den entſprechenden geſchichtlichen Ereig-
niffen, mit den Bewegungen im politifhen und foctalen Peben, mit dem
Stande der Philofophie und der Wiffenfhaft im Allgemeinen ꝛc. aufzuzeigen.
Die Geſchichte lehrt keinem etwas, der fie nicht zu befragen verfteht uud
darum Feine oder nicht die rechten Antworten empfangen bat; umb mo fie
weiter nichts ift, als eine Sammlung vereinzelter Thatſachen und Begeben-
heiten, die jedes inneren Zufammenhanges, jedes geiftigen Bandes entbebren,
ba ift fie ganz nuglos. Es darf deshalb auch in der Gefchichte der Pädagogil
nicht, wie es fo häufig in den Seminaren geſchehen ift, dabei fein Bewenden
haben, bloße Nomenklaturen und Jahreszahlen, todte, fleifchlofe Gerippe zu
bieten, die bei den Zöglingen den Dünkel erzeugen, etwas zu wiflen, ohne
daß e8 doch wirklich der Fall ift; vielmehr müſſen, wo es fi) um hervor:
ragende Pädagogen handelt, neben einer gebrängten, lebensvollen Biograpbie
berjelben, eingehende, aus ihren Schriften jelbft geſchöpfte Charafteriftiten
ihrer pädagogifhen Ideen und Strebziele geboten werden. Aber wenn vie
auch für die Unterridteftunde binreihen mag, fo genügt dies im Ganzen
immer noch nicht; denn folhe Charakteriftiten und fragmentarifhe Auszüge
fünnen immerhin nur eine mehr oder weniger oberflächliche Kenntniß der
pädagogiſchen Bergangenbeit vermitteln ; und wenn ſchon folhe Charakteriftiten
ziemlich ſchielend ausfallen können, fo ift die oben gekennzeichnete pädagogiſche
Geſchichteſchreibung, bei welcher die wenigen, die wirflic zu einzelnen Onellen
binabgeftiegen find, den folgenden Schriftftellern felbft wieder ala Quelle
dienen, nicht weniger dazu angethan, fchiefe Urtheile, verkehrte Auffaffungen,
ja fogar grobe Unrichtigfeiten in die pädagogiſche Fiteratur, und dadurch
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wieder in bie Lehrermelt, einzuführen und epidemiſch fortzupflanzen, ohne
daß denfelben auf eine wirffame Art beizufommen wäre. in tieferes Ber-
ſtändniß und eine rechte, felbftäntige Würdigung ter pädagogiihen Vergangen—
beit ift nur dann möglih, wenn eine volftändige Einfiht in die Schriften
der vergangenen Zeiten geboten wird und ihre Berfaffer in verjelben Ur-
iprünglichfeit vor den Leſer treten, in welcher fie in ihrer Zeit ftanden und
ihren Ideen Ausdruck verliehen. Mag man fih auch für vie Lehrſtunde
jelbft einen Fürzeren Abriß gefallen laffen, fo darf daneben doch nicht ver-
fäumt werten, die Zöglinge auf die entiprehenden Echriften ſelbſt hinzu-
weifen, fie ihnen in die Hände zu geben und das eigene Leſen derſelben
ihnen zur Aufgabe zu ftellen. Dem Uebelſtande, daß viele jener Schriften
theil8 wegen der Sprade, in welcher fie abgefaßt wurben, theils wegen ihrer
Seltenheit vielen verſchloſſen blieben, halfen vie in neuerer Zeit erfcheinenden
Sammelwerfe ab, fo daß auch nah biefer Seite hin der Unbelanntfhaft
damit ihr ftihhaltigfter Entihulvigungsgrund entzogen wird. Neben folden
Schriften Dürfen auch gute Biographien einzelner Pädagogen nicht fehlen,
bie, weil fie unmillfürlich zu einem Vergleiche mit ver eigenen Perſon, zum
Anlegen eines Maßſtabes an das innerfte Selbft herausfordern, ebenfo an-
regend als erhebend, ebenſo ermunternd als warnend wirken. Würde bie
Geſchichte der Pädagogik in rechter Weife getrieben und gepflegt, wie fo
mancher pädagogifhen Jämmerlichkeit würden wir enthoben fein! Wie würde
die pädagogiſche Dberflächlichkeit und methodiſche Aufgeblafenheit, vie mit
Geringfhägung auf die pädagogifchen Yeiftungen vergangener Jahrhunderte
berabfieht und ſich felbftzufrieven in dem Bewußtſein jonnt, „wie wir's fo
berrlich weit gebracht“, wie wiürbe bie Eitelkeit, die jeven plaufibeln Einfall
für eine neu entdedte, originelle Idee hält und als folhe auspofaunt, mie
würde die Hhperprobuftivität in der pädagogifhen Literatur, bei der bie
Maſſe erfegen muß, was dem Inhalte gebricht, wie würde das alles einem
ruhigen Sichbeſcheiden, einer richtigeren Schägung der Gegenwart, einer
größeren Dankbarkeit gegen die Baumeifter der Vorzeit, einem tieferen Ernſte
des Strebens Platz machen, wenn allen Lehrern der Blid auf das Große
der Vergangenheit mehr geöffnet würbe, fo daß fie erfennen lernten, wie
„gewiſſe weltewige Ideen ſich fort und fort im jeder Menfchenbrujt regen
und oft nur wieder durd Neuheit der Form itberrafhen“, und wie „vieles,
was in der Pädagogik und Methodik fih als neu und bisher unerhört
brüften möchte, längft von anderen gedacht und verfucht worden ift“.
Wir müſſen aber auch bier zugleich erwähnen, daß Karl Richter
durh die Herausgabe feiner „Päragogifhen Bibliothef, eine Sammlung
der wichtigften pädagogifhen Schriften älterer und neuerer Zeit. Leipzig,
Ciegismund und Bolfening”, die wir fhon oben erwähnten, ein befonderes
Berbienft um unferen Unterrichtsgegenftand ſich erworben hat.
Mittlerweile wurbe die Geſchichte der Pädagogik aud amtlich befonders
betont dur die Preußiſchen Allgemeinen Beftimmungen vom
15. Detober 1872. Es heißt in venfelben für die dritte (unterfte) Seminar-
Hafle: „Pädagogik, zwei Stunden. Die Zöglinge erhalten das Wefentlichfte
aus ter Geſchichte der Erziehung und des Umnterrichtes in lebendigen
Bildern der bedeutendſten Männer, der bewegteften Zeiten, der intereflanteften
und folgenreihften Verbeflerungen auf dem Gebiete ver Volkeſchule. Zur
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Ergänzung und Veranſchaulichung biefer Bilder dient die Einführung in die
Hauptwerke der pädagogifhen Literatur, vorzugsweife aus der Zeit nad der
Reformation. Die Lectüre wird fo gewählt, daß fih die Beiprehung irgend
einer pädagogifhen Frage an fie knüpft. Diejelbe wird derart behandelt,
daf die Seminariften den Inhalt eines längeren Schriftftüdes ſelbſtändig
und verftändig auffaflen lernen.“ Gewifjermaßen den Boden für dieſe Be-
ftimmungen bereitet, hatte ver Geh. Rath Dr. Schneider durd feinen Auffag
in Kehr's pädagogifhen Blättern (1872. Heft 1, ©. 20 ff.): „Unfere Auf-
gabe in Beziehung auf die Geſchichte ver Pädagogik.“ Er meint da, daß
nit die Einprägung eines dürren Leitfadens die Aufgabe ſei, aud fönne
noch Fein lüdenlofer Zufammenhang gegeben werden, da bis jegt von einer
eigentlichen Geſchichte der Pädagogik nicht füglih die Rede jein könne.
„Andererfeits ift doch aber der Gefihtspunft der Geſchichte feftzubalten, und
es find demnach einmal alle die Mittheilungen vom Unterrichte auszuſchließen,
weldye Zuftände, Zeiten und Völker angehen, von denen fein Einfluß auf
unfere Zeit und unfer Bolt nachgewieſen werben fann, und es find zum
Andern die Wendepunfte in der Eulturgefhichte und ihr Einfluß auf vie
Pädagogik recht klar in's Licht zu ftellen. Darnach beftimmt ſich die zeitliche
und räumlihe Begrenzung des Stoffes.“ Er fließt demnach die pädago—
giihen Syſteme der Oftafiaten aus, will aber Griechen, Römer und die
Hebräer berüdfichtigt wiffen. Es fell dann folgen die Wende der Zeiten im
Chriſtenthum, die inneren Kämpfe der Gemeinde, dennoch möchte er bier und
im Mittelalter fein Verweilen anrathen, nur der Zuftand der Erziehung
“ unmittelbar vor der Reformation muß genauer gefchilvert werden. Von der
Neformation an wird der Unterricht ausführliher. Im Betreff ver Unter:
richtsweiſe verzichtet er auf firengen Zuſammenhang und auf VBolftändigfeit.
„Friſche, treue Lebensbilder den Seminariften zu geben, ift nach meiner An-
fiht das Richtige. Diefe Bilder, welde der Seminarlehrer nicht aus einem
Eompendium genommen haben fol, fondern bie er felbftändig erarbeitet
habeyg muß, find Charafterbilver, Zeitbilver und Lebensbilver, d. h. es treten
in * die Charaltere der bedeutendſten (vornehmlich deutſchen) Pädagogen:
Luther's, Comenius', Spener's, Francke's, Rouffeau’s, Salzmann's, Rochow's,
Peſtalozzi's, Dinter's und einiger der Neueren, je nach deren lokaler Bedeu—
tung, vor die Seele der Zöglinge. Dieſe müſſen wiſſen, unter welchen Müh—
ſalen, Kämpfen und Opfern ihre Vorarbeiter groß geſchaut und groß gebaut
und welde Dunkespflicht fie am dieſe abzutragen haben. Zur Ergänzung
und Verbindung dieſer Lebensbilder unferer großen Pädagogen vienen die—
jenigen gewiffer Zeiten, namentlich berjenigen, in welde die Wendepunfte
unferer Geſchichte fallen. — Hier handelt es fi) darum, Zuftände zu haraf-
terifiren, welde ji in den engen Rahmen einer Biographie nicht faſſen
laffen. Endlich folen unfere Schüler doch aud ein deutliches Bild von ter
Einrihtung und der Entwidelung der Schule erhalten. — Diefe Schulbilver
find in Biographien, namentlid in Selbjtbiographien, in Monographien und
Programmen zu fuhen. Die Beftrebungen Bel’s und Lancafter’s, Jacotot's
und anderer bahnbrechender Männer find auf diefe Weife zu veranſchaulichen.
Ih hoffe, daß es nicht im zu ferner Zeit möglich fein werde, auch die Ge—
ſchichte des Seminars in zwei oder drei pifanten Bildern den Seminariften
zu veranfhauligen. Zur Ergänzung diefer Mittbeilungen, tbeilweife zur
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Grundlage für diefelben, dient die Lektüre, und zwar bie ftatarifche als ein
Theil des Unterrichts felbft. Ein pädagogiſches Leſebuch, welches viejelbe
ermöglichte, wäre dringend zu wünſchen. — Alles aber kaun ver Unterricht nicht
thun und darum fommt ihm bie geregelte Privatlectitre zu Hülfe. Die Grundlage
für vie Charafter-, Zeit- und Sittenbilver fallen in dieſe und fo wechſeln in
der Lehrftunde vie Vorträge der Seminariften mit venen des Lehrers ab. Den
Gewinn meines Verfahrens babe ich als einen erheblichen erfahren, zumächft
für den Lehrer, deſſen Gefichtsfreis fi ftetig erweitert, deſſen Urtheil ſicherer,
deſſen Viebe zur Sache wärmer wird, dann aber — was doch der Zwed
ift — für die Seminariften, denen anf diefem Wege eine folde Fülle von
Anschauungen vorgeführt wird, daß fie zu der Möglichkeit kommen, ſich eigene
Urteile zu bilden und fremde Erfahrungen zu dem ihrigen zu machen, wäh-
rend der ſyſtematiſche Unterricht in der Pädagogik fie nur felten über bie
Gefahr einer unfelbftändigen Abhängigkeit von dem Urtheile des Lehrers
binmwegführt.“
Auf dem Seminarlehrertage zu Dresden 1874 habe ich felbit einen
Bortrag darüber gehalten: Wie ift die Gefchichte der Pädagogik im Seminar
zu behandeln ? Er findet fich nebſt ven Theſen abgevrudt in Kehr's päda—
gogifhen Blättern 1875, ©. 122 ff. Da wir uns in dem Folgenden mit
feinen Ausfiihbrungen noch öfter berühren werden, jo erwähnen wir bier nur,
daß die beiven erften Thefen lauten: 1) „Die Gefhichte der Pädagogik im
Seminar hat die Aufgabe, durch Pflege des geſchichtlichen Sinnes überhaupt
ten Zögling zum richtigen Verſtändniß der Pädagogik unferer Zeit zu führen.
Sie hat insbefondere ihn zu begeiftern für feinen Beruf durch anſchauliche
Beſchreibung des Lebens großer Meifter und liebevolles Verſenken in ihre
Werke und ihm Achtung einzuflößen vor dem bewährten Alten. Sie hat
ihn aud durch die Betrachtung der fortlaufenten Entwidelung des Lebens
"und ber barans fich ergebenden veränderten Aufgaben der Pädagogik anzu:
leiten, ven Sinn offen zu halten für bie neuen Aufgaben, welde der nie
raftende Fortſchritt der Cultur der Pädagogik ftellt, und für die neuen Ber-
fuche, viefelben zu löfen. Sie hat ihn dadurch zu bewahren einerfeits vor
dem falfhen Eonfervariemus, der des idealen Schwunges bar, die berechtigten
Forderungen ber Gegenwart nicht anerfennt, und anbererfeitd vor ber
phantaftifhen Neuerungeſucht, welche vie realen Lebensmächte ignorirt.
2) Dieje Aufgabe hat die Geſchichte der Pädagogik durch zwei Eurfe zu
löfen, durch einen einjährigen Borbereitungscurfus, welher am Unfange
des pädagogiſchen Unterrichts im anfhaulihen Lebensbildern vie großen
Meifter und die Zuftände großer Culturepochen im biftorifher Reihenfolge
fchildert und durch einen Nepetitionscurfus am Ende ver Seminarzeit, in
weldem befonders die Entwidelung der Pädagogik als Wiffenfhaft in den
Vordergrund tritt.“
Wir haben fo, wie wir $ 1 eine Gefchichte der Geſchichtſchreibung
ver Pädagogik gegeben haben, in $ 2 auch eine Geſchichte der Behandlung
der Geſchichte ver Pädagogik im Seminarunterrichte in den Hauptzügen gegeben.
Wir haben dadurd den doppelten Vortheil gewonnen, daß wir fennen
gelernt haben, welches Material einmal fhon für dieſen Unterrichtszweig
erarbeitet ift, und fobann, daß wir die Wege kennen gelernt haben, auf
denen man dieſes Material im Unterrichte des Seminars zu verarbeiten
58
gefuht, over welhe man für dieſe Verarbeitung vorgefchlagen bat.
Diefe Faktoren, das vorhandene Material und die bisherigen Metboven
bürfen natürlich bei der Beftimmung einer Methode für dieſen Unterridts-
zweig nicht aus der Acht gelaflen werben. Aber es muß auch für viele
Beftimmung der Zwed und ber Nuten der Geſchichte der Pähngogit
beachtet werten; denn von dem Zwecke eines Unterrichtsgegenftandes ift bie
Methode deſſelben mit abhängig.
II.
Der Zweck und Nuhen der Gefchichte der Pädagogik umd deren
Stellung im Seminarunterrichte,
Wir haben bisher fhon häufig den Nuten der Geſchichte der Pädagogik
von ben verjchiedenften Schulmännern preifen gehört. Sie hat aber mit
aller Geſchichte zuerft den Nusen gemein, daß fie auf ihrem Gebiete ven
geſchichtlichen Sinn entwidelt, ter das bewährte Alte achtet; fie
ift aber fodann auch dadurch, daß fie die Vergangenheit erfennen lehrt,
der Schlüſſel zum Berftändpniffe der Gegenwart; fie kann
aber auch, wie Sladeczet (Die Gefhichte der Pädagogik in ihrer Be:
deutung für Lehrerbildung und Lehrerwirkſamkeit ꝛc. Beuthen, Görlich und
Coch 1875) e8 ausprüdt, vie Brüde fein, vie aus der Laienwelt
auf das Gebiet pädagogifher Wiffenfhaft führt; fie fann
die befte Quelle pädagogifher Erkenntniß fein (Deinbarkt),
und fie fann enblih die Fräftigften Antriebe zum Weiterftubium
geben. Wir laſſen hier nun den Nutzen, welchen bie Gefhichte der Pädagogik
mit aller Geſchichte gemein bat, bei Seite und betrachten nur bie folgenden
Momente, weil in die Augen fpringt, daß davon ſowohl die Stellung
als auch die Behandplungsweife ver Geſchichte der Pädagogik im Seminar:
unterrichte abhängen muß.
a) Die Gefhihte der Päragogifift dadurch, daß fie bie
Bergangenbeit erfennen lehrt, ver Schlüffel zum Berftänt-
niffe der Gegenwart. Go haben ihren Nugen die beveutenbften
Gefhichtfchreiber der Päragogif aufgefaßt. Aber es ift fein Zweifel, daß
diefer Nugen eben nureiner wirklich wiſſenſchaftlichen Gefchichte ver Pädagogil
vollfommen eignet; tenn fie muß, da aud die Erziehung alle menfchlichen Ber:
bältniffe berüdfichtigen muß, Familie, Staat, Kirche, Religion, Wiſſenſchaft und
Kunft, die Refultate der Philofophie und Anthropologie, die Gewerbe und
Tebenserfahrungen als Bildungs- und Erziehungsmittel aufnehmen, ebenfo ven
ganzen menfhlihen Gefichtsfreis umfpannen und alfo die Entwidelung tes
geiftigen Lebens nad allen feinen Richtungen verfolgen und dies Alles in feinem
Einfluffe auf die Erziehung varftellen. Bon einer folhen wiſſenſchaftlichen Geſchichte
der Pädagogik kann allerdings behauptet werben, daß fie Die Gegenwart auffchliekt,
daß fie, wie 8. Schmidt fagt, „zugleih die Schule ift, in ver der Menſch bie
Wiſſenſchaft der Pädagogik lernt“. „Nur der wird in der Gegenwart am beften
wiffen, was er in der Erziehung will und was er fann, der beobadhtet unt
gelernt bat, was zu leiften möglih ift: das aber lernt und erfährt er
59
burh das Studium deſſen, was in ter Erziehung geleiftet und was darin
gedacht if. Nur der fennt das Weſen und den Werth ver Erziehung, ber
ber Entwidelung ber Erziebungsidee im Laufe der Jahrhunderte nach—
gegangen ift. Nur der endlich fann bie wahrhafte Wiflfenfchaft ver Pädagogik
der Gegenwart verftehen und felbjtihöpferifch in ihr auftreten, der fih in
die Geſchichte der Pädagogik eingelebt hat. Die Wiſſenſchaft der Pädagogik
ift ohne die Geſchichte der Päragogif ein Gebäude ohne Fundament. Die
Geſchichte der Pädagogik ift felbft das vollenverfte und objectivfte wifjen-
Ihaftlihe Syuftem der Pädagogik.“ So preift 8. Schmibt ten Nugen der
wiſſenſchaftlichen Geſchichte der Pädagogik. Aber wir haben noch feine folche
vollfommen wiffenichaftlihe Geſchichte der Pädagogik und können fie noch
nicht haben, da uns, wie Dr. Schneider nachgewieſen hat, die nothwendigen
Borarbeiten dazu fehlen, vor Allem eine wirkliche Geſchichte der Philofephie,
eine Geſchichte ver Gefellfchaft und der Schulen. Aber es würde aud,
wenn wir eine folhe Gefchichte der Päpagogif bätten, dieſelbe noch gar
nicht in das Seminar zu bringen fein, venn eine foldhe, die fo hohe Voraus:
fegungen hat, ift nur ein Studium für gereifte Männer. Mas davon im
Seminar und zwar am Ende des Gurfus gegeben werben fann, ift und
kann nur fein eine Vorbereitung auf das fpätere Studium etwa in ber
Wetje, daß man im Anfchluffe an das, was Graefe in feiner „Pädagogik
alde Syſtem“ 1845 von der hiftorifhen Entwidelung der philoſophiſchen
Pädagogik gibt, oder im Anſchluſſe an Ludwigs „Grundſätze und Lehren
vorzüglicher Pädagogiker“ (3 Bde. 1853— 1857) den gereifteren und bereits
in der Pädagogik unterwiefenen Zözlingen einen Einblid in die Entwidelung
der Pädagogik als Wiffenfchaft zu geben verfuht. Es würde alſo in dieſem
Schlußeurſus etwa der Stoff den Mittelpunft bilven, ven ich in bem Lehr-
buche der Pädagogik (4. Aufl.) Th. I, 8 32 angedeutet habe, jo daß bazu
nur noch einzelne Rüdbeziehungen auf frühere Anfäge und Verſuche gegeben
werben müflen. Gegen ein einfaches Berlegen der Gefhichte der Pädagogik
an den Schluß des theoretifchen Unterrichts in der Pädagogik fünnte man
aber auch ins Feld führen, was Gramer in ver Einleitung zu feiner
Gefhichte der Pädagogik (Br. J. ©. XXV) fagt: „Mittelbar freilich ift die
Geſchichte der Erziehung ein mefentlihes Erforberniß für die Erziehung
jelbft, und wie es feine wahre und allfeitige Philofophie gibt, ohne eine
Geſchichte der Philofophie, überhaupt feine Wiſſenſchaft ohne eine Geſchichte
verfelben, fo kann es and feine wahre Erziehungstheorie ohne eine gründ-
liche Einfiht in die Geſchichte der Erziehung geben, fondern jene fann
höchſtens nur ein ‚verfchobenes Bild‘ gewähren und in einzelnen Strahlen,
nicht als die ganze Sonne, uns erfcheinen.“ Und es wäre gleichfalls bie
Anfiht von Schwarz über die Stellung der Gefchichte der Pädagogik, welche
wir oben erwähnt haben, hierher zu ziehen. Indeſſen wollen wir nur bas
Eine nod) einmal bier betonen, daß wir das jugendliche Alter ver Seminariften
aus päbagogifhen Gründen für nicht geeignet halten können, ihnen eine
wiſſenſchaftliche Gefhichte ver Pädagogik zu bieten, da ihnen nicht nur dazu
die nothwendigen Borkenntniffe, ſondern auch die geiftige Empfänglichfeit
fehlt. Es wird darin niemand ein Herunterfegen unferer Seminariften
fehen, fondern nur die Rückſicht erlennen, die auch der höhere Unteridht auf
Die pfochologiihe Entwidelung feiner Schüler zu nehmen hat.
60
b) Die Geſchichte ver Päpdagogif ift aberandh die Brüde,
welche aus der Laienwelt auf das Gebiet päbagogifder
Wiffenfhaft führe Es ift fhon aus $ 2 erfichtlih geworden, daß
man verfchiedene Wege betreten hat, um den Seminarzögling in feine Bernfs-
mwiffenfhaft, die Pädagogik einzuführen. Namentlich hat vie Frage, womit
diefer Unterricht zu beginnen fei, ſtetes Imtereffe erregt und zu verſchiedenen
Berfuhen Beranlaflung gegeben aus dem Grunde, meil man fi nit ver-
beblt hat, dag die Pädagogik eine größere geiftige Reife verlangt, als man
fie bet einem neneingetretenen Seminariften im Alter von 17 Jahren voraus:
fegen kann. Man hat daher wohl mit der Fragebilpdung begonnen, aber
biefe läßt nur zu leicht an bie bloße Praris der Schuiftube denken umd
erzeugt zu leicht jenen banauſiſchen Einn, dem alles Ideale fremp bleibt,
wenn fie auch nicht in handwerksmäßige Abrichtung ausartet. Man beginnt
auch wohl mit der Logik und Pſychologie, aber dann verbietet fi ein früher
Anfang von felbft, fo daß dieſelben höchſtens im zweiten Seminarjahre
(18. bis 19. Jahr), am beften im legten Seminarjahre eintreten. Gerade
in Bezug auf fie gilt, was Rouffeau fagt: „Was aud fitr eine Unterweifung
dem Zöglinge nothwendig werben bürfte, fo bittet euch, fie heute zu geben,
wenn ihr fie ohne Gefahr bis morgen verfchieben fünnet.“ Aufſchub ift
gerade bei dieſen Wiſſenſchaften Vortheil, denn fie fordern einen gereiften
Geift. Diefe Bedenken haben auch Deinhardt bewogen, die allgemeine Eultur-
geſchichte als Unterlage für die Gejhichte der Pädagogik und für vie theo—
retiiche Pädagogik der Lehrerfchule zu machen (Ueber Lehrerbildung zc. ©. 137 ff.),
weil fih aus ihr, wie er meint, die Kenntniß anthropologifher Thatſachen
und bie anthropologifchen Begriffe, welde zum Verſtändniß der Erziehungs:
lehre erforberlih find, ergeben, theils für die ausprüdlihe Bermittelung,
deren fie bebürfen, die Gefchichte der Pädagogik, die Methodif und die Er-
ziehungslehre felbft — injofern fie anthropologiſche Kapitel einſchließt und
rechtzeitig erledigt — vollkommen ausreihend find. Wir möchten Dagegen,
wenn wir aud in dem Gefchichtsunterrichte in dem Seminare das cultur=hiftos
riſche Element befonvers betont wünfchen, die Ueberleitung aus der Laienſtellung,
die der angehende Seminarift noch einnimmt, zu dem Studium der Pädagogif
der Gefhichte der Pädagogik zumeifen. Es ift nämlich zunähft eine an-
erkannte Thatfache, daß in der Gejchichte der Pädagogik und das Allgemeine
au einem Individuellen, das Abftrafte an einem Goncreten, die Idee an der
ſpeciellen Thatfache, die Lehre an dem Beifpiele, die Theorie an ihrem Re-
präjentanten veranfhaulicht entgegentritt, und biefe anfchaulihe Weiſe ent-
ſpricht am beten der Entwidelung des menſchlichen Geiftes auch auf höheren
Stufen, wenn es gilt, etwas ganz Neues ihm nahe zu bringen. Die Ge
ſchichte der Pädagogik in diefer Stellung, alfo am Anfange, hat eine weſentlich
propäbeutifhe Bedeutung für die Päragogif in ähnlicher Weije, wie fie die
Encyelopädie der verfchiedenen Wiſſenſchaften im Anfange der Univerfitäts-
ſtudien bat, aber fie ift viel anfhaulicher als jene, und orientirt doch and,
wenn auch in anderer Weife wie jene, den Zögling in der gefammten Wiffen-
ihaft, die ihm für fein Studium nod vorliegt, indem bie verſchiedenen Ge—
biete, deren die Pädagogik fihb nah und nah im Laufe ihrer Entwidelung
bemädhtigt hat, vor feine Augen treten, fo daß er am Schluffe, wenn, wie
es gefhehen muß, die Geſchichte ver Pädagogik bis auf unfere Tage berak-
61
geführt wird, einen Ueberblid über das ganze Gebiet erhält und zwar, was
die Encyelopädie nicht zu thun vermag, im concreten Lebensbildern, melde
ihm hiftorifch-genetifh die einzelnen Fragen mit den bereits verfuchten Lö—
fungen vorführen, fo daß er endlich ein Verſtändniß für die pädagogiſchen
ragen und Aufgaben, die uns bewegen, gewonnen bat. Er hat dadurch
gewiflfermaßen in den Werkftätten der Meifter felbft Erfahrungen gefammelt,
und wenn man mit Recht für das Studium der theoretifhen Pädagogik vie
Bedingung geftellt hat, daß jemand jhon Erfahrungen müſſe gemacht haben,
fo Hat diefe Bedingung derjenige erfüllt, welcher die Geſchichte der Pädagogik
durchgearbeitet hat. Dabei ift freilich der Hegel’fhe Gedanke, als ob die
Phi loſophie und auch wohl andere Wiffenfchaften gefchichtlih in der Abfolge
einer philoſophiſchen Rategortenlehre fih entwidelt haben, welchen Gedanken
auch Rojenfranz auf feine ſyſtematiſche Ueberfiht der Geſchichte der Pädagogik
in feiner „Pädagogik als Syftem“ (1848) zu viel Einfluß geftartet hat, hier
abzırmweifen. Die Wiffenfhaften find im ihrer geſchichtlichen Entwidelung
nicht den philofophifh-genetifchen Weg gegangen ; ihr Gang ift vielmehr ver
biftorifch-genetifhe mit ſcheinbaren Nüdgängen und Sprüngen, in denen aber
ein befonnener Forſcher doch einen vernünftigen Fortgang der Entwidelung
erkennt. So ift es auch im der Pädagogik. Wir fehen aber in biefem
Gange gerade einen Bortheil für die erfte Drientirung des jungen Zöglings
in ber Pädagogif. Er wird durch die hiſtoriſche Erſcheinung gerade lange
genug an einer Stelle feftgehalten, um Einblif und Intereffe dafür zu ge
wirnen, fie hält ihn aber nod nit auf die Dauer an diefer Stelle feſt,
eine neue Erjheinung richtet feine Blicke anf neue Gebiete, bis wiederum
andere Erjheinungen die alte Frage nicht nur erneuern, fondern auch zeigen,
ob die Löfung der Tragen nun beffer gelungen, tiefer gefaßt ift u. f. w.
Wir wollen dabei nicht noch weiter verweilen bei dem, was Sladeczel ©. 8 ff.
nachgemwiejen hat, daß ſchon durch die Geſchichte der (vorchriſtlichen) Pädagogik
einem verftändnißlojen Aneignen der chriſtlichen Lebens- und Erziehungslehren
vorgebeugt, pofitiv das Verſtändniß ihrer anthropologifhen und welthiſto—
rifchen Bedeutung vermittelt, in der Intelligenz und dem Gemüthe des Zög-
lings für eine geveihlihe Aufnahme verfelben der nöthige Boden gewonnen
unD vorbereitet und fo die Gefhichte der (altteftamentlichen) Pädagogik ſelbſt
zu einer Propäventif der chriſtlichen Erziehungslehre geftaltet wird, und daß
dann bie weitere Gefchichte der Pädagogik zu einer Apologie der riftlichen
Erziehung wird. Nur der Einwurf muß bier zurüdgewiefen werben, daß
man barum, weil man eben fo wenig den Unterricht in der Geographie,
Phyſik ꝛc. mit der Geſchichte derfelben im Unterrichte beginne, auch ebenjo
wenig als erften Theil der Pädagogik deren Gefchichte lehren könne. That—
ſächlich geht ja der Unterricht in der Geographie, wenn wir aud ben Kindern
das nicht erzählen, den hiftorifch-genetifhen Gang vielfah, und ähnlich ift
es in anderen Wiljenfhaften. Auch wollen viele Methodiker dem Unterrichte
in der Methodik der einzelnen Fächer, eine Geſchichte der Methodik refp.
der Entwidelung des betreffenden Faces vorausjhiden. Und endlich ift es
doch ein Anderes um die Pädagogik für den Seminarunterridt, als um ben
geographiſchen Unterricht in der Volksſchule ꝛc. Wenigftens wird man bas
Peginuen mit der Geſchichte verfelben nicht unmethodiſch nennen können,
wenn man die Grundſätze der Anfchaulichleit und vom Leichteren zum
62
Schwereren auch bier feithält. Außerdem ift Tas fein unwichtiges Moment,
daß die Gefhichte der Pädagogik von vornherein das Intereffe der Schüler
für die Päragogif überhaupt gewinnt nah dem Goethe'ſchen Worte: „Das
Befte, was wir vou der Geſchichte haben, ift der Enthufiasmus, den fie er-
regt.“ Und wir bedürfen für ihr Amt begeifterter Schulmänner, da noch
jo vielfah der Schlentrian herrſcht. Ich Habe nun vielfad die Erfahrung
gemacht, daß wirklihe Liebe zum Schulamte uns Zöglinge zuführt, ich weiß
auch, daß noch heute gilt, was von Peſtalozzi gerühmt wird, daß nämlich
die Liebe eines für fein Amt begeifterten Lehrers aud vie Liebe anderer
anfacht zu heller Gluth; aber nirgends wird fi die Liebe zum Amte herr
licher ausfprehen und offenbaren können, ald wenn wir den eimtreremben
Berufsgenoffen an der Schwelle zum Heiligihume dieſes hohen Amtes die—
jenigen fchildern, welche der Schule Liebe und Treue vor uns bewiejen, für
fie gehofft, gebulvet, gerungen und Herrliches geihaffen haben. Bier gilt
recht eigemilih: Verba docent, exempla trahunt. Und dies ift um jo
leichter zu begreifen, als die Empfänglichkeit der Jugend im Gegenfatze gegen
das nücterne Alter mächtigen Eindrud durch den Eiublid in das Werten
und Schaffen großer, erhabener Perſönlichkeiten empfängt. „Und viefer Ein-
fluß,“ fagt Sladeczek, „wird bier um fo bleibender und wirkſamer fein, je
plaftifheanfhanlicher, anziehender und lebendiger die von deu hervorragenden
Geſtalten der Erziehungsgefhichte getragenen Ideen für die höchſten Inter:
effen der Menſchheit vem jungen Manne entgegentreten, ben deſto klarer
werden fie ſich feinem Berftande, befto tiefer feinen Gemüthe einprägen,
defto mächtiger auf feinen Willen und feine ganze Seele wirken, um fib in
feiner Berufsthätigfeit zu realifiren. Iſt mir dod die Geſchichte ver Pädagogik
in dieſer Beziehung immer wie ein reizendes Album berühmter Porträts
und hodinterejlanter (ultur=) Landſchaften vorgefommen, in deren Anblid
man fih ja fo germ vertieft, und die uns deſto mehr anziehen, je länger
wir fie betrachten. Laffe man nur den angehenden Lehrer bei dieſen ſtumm
feflelnden erziehungsgefhichtlihen Gemälden verweilen, mahe man ihm auf
deren vollendere Seiten aufmerffam, und man wird ji überzeugen, daß ber
Unterricht nicht allein am demonftrarivem Charafıer gewonnen, fondern aud
aufgehört haben wird, eim Unterricht zu fein, „bei dem vie Köpfe glühen
und die Herzen frieren“. Wie diefer eıfte Unterricht im der Geſchichte der
Pädagogilk einzurichten ift, werden wir fpäter fehen.
e) Der Unterridt in der Geſchichte der Päpagogit if
auch die befte Duelle pädagogifher Erkenntniß. „Man ift“,
io fagt ©. Baur in dem Artifel „Geſchichte der Pädagogik“ in Schmid's
Encyelopädie Bo. V, S, 710, „almählih zu der Erkeuntniß gefommen, daß
die Wahrheit niemals und nirgends nur das Produkt der Spekulation uud
Reflerion eines einzelnen, wenn aud) noch fo hochbegabten Individuums ift,
fondern daß ihr Gold durd tie gemeinfame Arbeit der gefammten Menfd-
heit im Laufe der Zeiten -zu Tage gefördert uud dur die umerbittliche
Kritik der Geſchichte von den Schlafen gereinigt wird. Es ift ein mu-
beſtrittenes Verdienſt Hegels, daß er diejer Erkenntniß einerjeits dem eut-
ſchiedenſten Ausdruck gegeben und daß er fie dadurch andererſeits im Bereiche
der verichiedenen Wiffenichaften zu fruchtbarer Wirkjamkeit gebracht hat. Mit
vollen Rechte jagt ein berühmter Schüler diefes Meifters (D. Strauß, Ölaubens-
63
lehre I, ©. X): „Die jubjective Kritik des Einzelnen ift ein Brunnenrohr, das
jeder Knabe eine Weile zuhalten kann. Die Kritik, wie fie im Laufe ver
Jahrhunderte ſich objectiv vollzieht, ftürzt als ein brauſender Strom heran,
gegen ven alle Schleufen und Dämme nichts vermögen.” Schlimm wäre
ed freilich, wenn, wie es bei dem Werke, an veflen Pforte der fo eben an—
geführte Ausſpruch fteht, als Reſultat einer ſolchen geſchichtlichen Betrachtung
nur die wenig tröftliche Ueberzeugung ſich ergäbe, daß eben alles eitel ift;
wenn nicht vielmehr die Kritik der Geſchichte von dem Vergäuglichen das
Bleibende, von dem Unmefentlihen das Wejentliche ausfcheiden lehrte. Der
hohe Werth der Geſchichte der Pädagogik insbefondere befleht darin, daß fie
zeigt, wie durch die wechjelsweife ſich ergänzende Thätigkeit ganzer Völker
und Zeiten, wie einzelner Pädagogen, das eigentlihe Ziel der Erziehung
fi immer beftimmter und zugleich umfaſſender herausgeftellt hat. Sie führt den
Pädagogen als ein dienendes Glied in das Gebiet einer durd Jahrhunderte
und Yahrtaufende ſich vorbereitenden großartigen gemeinfamen Thärigfeit ein
und befördert bei rer Faſſung des Begriffes und der Aufgaben ver Pädagogik
Umfiht, Befonnenheit und Gründlichkeit. Eben fo fehr, wie zur Adhrung
gegen das bewährte Alte, mahnt fie durch Hinweiſung auf ven nie raftenden
Fortſchritt des geiftigen Lebens und die ftets neuen Wandlungen, welden
das äußere Leben unterliegt, ven Sinn offen zu halten für die neuen Auf-
gaben, welche die veränderten Verhältniffe der Erziehung fielen. Zugleich
aber warnt fie vor dem blinden Bertrauen auf neue, oder überhaupt auf
beftimmte pädagogifhe Theorien, welche fi als vie alleinſeligmachenden an—
preifen. Wer die Gefchichte der Pädagogik kennt, der weiß, wie deren fo
manche von Amos Comenius und Wolfgang Ratich bis auf Yacotot und
Fröbel aufgetaudt find und doch niemals zu leiften vermocht haben, was fie
verhießen, weil fie eben die fubftanziellen Mächte ver Individualität und
Nationalität, der Yamilie und der Religion, die focialen und gejchichtlichen
Verhältniffe, weldhe bei vem Erziehungswerke jo bedeutſam concurriren, nicht
gehörig würdigten. Die Geſchichte der Pädagogik lehrt dieſe im Erziehungs-
proceffe jo mädtig mitwirfenden Faktoren in die Rechnung mitaufnehmen,
damit dieſe fih nicht am Ende als trüglid erweife. Und zumal in einer
Zeit, in welder die Maſſe der Halbgebilveten der Läftigen Rüdfiht auf das
geſchichtlich Gewordene durch vie jelbgefällige Berufung auf pie feiner
Begründung bedürfenden Rechte der „Neuzeit“ fi glaubt entziehen zu
Einuen, war es gewiß nicht wohlgerhban, wenn Diefterweg dem Publikum
der Volksſchullehrer den zugleich für die geiftige Trägheit zu verlodenden Rath
ertbeilt: „Das meifte hiſtoriſch-pädagogiſche Wiſſen, wenigftens der grauen
Vorzeit, gehört für den Volksſchullehrer zum pädagogifhen Kerne, für fie
ft nur die Geſchichte des modernen Schulwejens, feit 1770, belehrenv. *
Bielmehr gilt ganz beſonders von der Gefhichte der Pädagogik das Wort
eined geiftreihen Schriftftellers, daß die Geſchichte vergangener Zeiten ein
rechter Baum der Erfenntniß des Guten und Böfen ſei.“ Man wird aber
auch nicht irre gehen, wenn man vie in den Kreifen der BVolfsihullehrer
jo allgemeine Gleihgültigkeit und Unmwifjenheit in der Theorie ihres Berufes,
und dem geifllofen Schulmehanismus, dem fie fo bald anheimfallen, fo daß
fie nicht Menſchenbildner, fondern nur griehiihe Sclaven = Pädagogen finv,
darauf zurüdführt, daß ihnen die Pädagogik nicht gründlih und anziehend
64
genug durch anthropologifc = hiftorifhe Behandlung nahe getreten ift. Denn
dag wird man nicht leugnen können, daß nur der Unterricht, welder fid
auf ein tiefes -Intereffe an dem Lehrgegenftande gründet, eine bleibende
Wirfung hat. Es wird darum aud aus jener mangelhaften Wirkung bes
Unterriht8 in der Pädagogik, wie fie in mancherlei Erfheinungen im ber
Lehrerwelt zu Tage tritt, zurüdgejchloffen werden, daß derſelbe ebenjo ein
nur ſchwaches Intereffe erregt hat dur eine dem jugendlichen Geifte nicht
angemefjene Darftelung, und feine tiefe Einficht in die Natur des egen-
ftandes erzeugt hat. Die Behandlung einer fo tief abftracten Lehre, wie
die Pädagogik es ift, auf rein philofophifhe Weile ohne einen auſchaulichen
Borceurfus muß für die jugenblihen Schüler natürlich unverſtändlich und
reizlos fein. Diefen anfhaulihen Vorcurfus und zugleich diefe auſchauliche
Unterlage bei ber weiteren Darftellung der Pädagogik bietet die Geſchichte
der Pädagogik. Durch fie erfcheint jede Lehre der Pädagogik als das, was
fie wirklich fein fol, das legte Reſultat einer langen Entwidelung, jo daß
man eben ihre Geftaltung und ihr Wefen nicht beffer Har legen und
begründen kann als durch ihre Geſchichte, und durch nichts gewinnt ber
Unterriht in der Pädagogik fo ſehr an Anfhaulichfeit und zugleih an
wiffenfhaftliher Grändlichkeit, als durch feine Entwidelung auf Grundlage
der Geſchichte der Pädagogik. Aus dieſen Gründen will Deinharbt, wie
wir oben fahen, vie pädagogijche Theorie ſtets hiſtoriſch behandelt wiffen und
dahin zielt auch Sladeczek, wenn er fagt: „Da bdiefelbe (die Geſchichte ver
Pädagogit) mit den nadten empirischen Gulturerfheinungen des Alterthums
beginnt, und das pädagogiſche Bemwußtfein der Völker, von der faft rein
finnlihen Anfhauung ausgehend (Sparta), fi darin nur allmählich zu
Neen fublimirt: fo hat das Studium der Pädagogik auf hiſtoriſchem
Boden Schon in feinem Beginn den Vortheil, daß es, ohne alle Gefahr
unverftanden zu bleiben, weder bejondere Geiftesfhärfe vorausfegt, noch
den im jelbftändiger Spekulation keineswegs geübten Neuling ex abrupto
in bie Welt der Ideen verjegt. Es hat ferner den PVortheil, daß ver
Zögling mit dem continuirlihen Fortgange feines Gegenftandes felbit
continuirlic wächft, indem ſich mit der beftänbigen Erweiterung des Geſchichts-
feldes aud fein Horizont beftändig erweitert, mit der ftetigen Entwidelung
der Ireen ſich auch feine innere Auffaffungsfraft ftetig entwidelt, mit der
allmählihen Klärung und Zunahme der Eultur» und Erziehungsbegriffe der
Menſchheit auch feine Cultur- nnd Erziehungsbegriffe fih allmählich klären
und zunehmen. Dabei macht es eine gute Anleitung möglich, daß er bie
allgemeine Wahrheit von der concreten Thatſache jelbft abftrahire, die einzelnen
Geſetze (inbuctiv) felbft conftruire, die Genefiß der Hauptgrunbfäge ber
Methodik (Anfchaulichkeit, Naturgemäßheit u. f. w.) mit Bewußtſein ver-
folge, das Ganze, wo es fi läßt, aus ben gegebenen oder von ihm jelbit
gefammelten Theilen zufammenfüge und fo bei guter Führung nad ber
Pointe des Ganzen, ber hriftlichen Erziehungsidee, fi das Syſtem auf der
breiten Unterlage ber Geſchichte pyramidenartig felbft conftruire, foliver und
jpiger zugleich, als er es dur das angeftrengtefte Studium des beften ab-
ſtraet⸗ſyſtematiſchen Handbuchs würde haben erreichen künnen.” ben dahin
neigt Kellner, mwelder in den Aphorismen (Zur Pädagogik der Schule
und des Haufes. Eſſen, Bädeker, 9. Aufl. 1874) Nr. 117 jagt: „Wenn in
65
der hiſtoriſchen Entwidelung einer Wiſſenſchaft, in ver Weiſe, in welcher fie
fi in dem Menfchengeifte während des Laufes von Jahrhunderten bis zur
jetzigen Höhe erhob, zugleich die bedeutungsvollften Winke über die Methove
des Gegenftandes liegen, ja, wenn dieſer Entwidelungsgang vielfach die
Methode ſelbſt ift, fo leuchtet damit zugleich die Wichtigkeit der Erziehungs:
geſchichte als Unterrichtsgegenftand unwiderfprehli ein. Die Conftruction
der Pädagogik a priori, wie wir fie in den Seminaren zu hören gewohnt
find, hat viel Miglihes und Unzureihendes. Wenn man ben Bildungs:
ftand, mit welchem unfere jungen Leute in die Seminare eintreten, wenn
man babei ihr jugendliches Alter erwägt, fo leuchtet ein, daß fie zu einer
pbilofophifhen und abftraft-theoretifhen Behandlung und Auffaffung ver
Erziehungslehre nod nicht befähigt find, und daß fie bei einer folden meiftens
nur mit dem Gedächtniß auffallen, ohne daß die gemürhlich-praktifche Seite
ihre entſprechende eindringliche Vertretung fände. “Dazu kommt, daß die
abftraft»theoretiihe Behandlung trog ihrer Unzulänglichkeit den unreifen
Jüngling oft genug zur eiteln Selbftgefälligkeit führt und mit Plittern und
Glasperlen ausftattet, welche er leicht für echte Kleinodien anzufehen pflegt.“
Wir find allerdings auch der Meinung, daß die Gefhichte der Pädagogik
am naturgemäßeften zum Studium der Pädagogik überleitet und fordern fie
darum als Anfangsunterriht und als Grundlage für den Unterricht in der
Päpvagogif. Diefen Unterricht felber aber fters hiſtoriſch zu geftalten, wie
Deinharbt will, das ſcheint uns nicht nöthig und, weil zu umftändlih und
vielfach den Zuſammenhang ftörend, nicht möglih. Nur das fcheint ung
geboten, daß durch ſtete Repetition der Geſchichte der Pädagogik dieſe ftets
präfent erhalten werde, und daß bei einzeliien wichtigen und grundlegenden
Sätzen deren Bewegung in der Gefhidhte nadgewiefen werde. Es bleibt
dadurch ter Schüler immer im lebendigen Fluffe ver Entwidelung und wird
dadurch auch angeleitet, die Gegenwart aus der Vergangenheit zu verftehen.
Angemeſſen aber erjheint e8 auch uns, die Methode der einzelnen Fächer
mit einer Geſchichte des betreffenden Unterrichtszweiges einzuleiten, um den
Schüler von vorn herein zu orientiren und das Verſtändniß der folgenden
methodiſchen Auseinanderfegungen zu fihern. Als Hülfsmittel dazu bieten
fi an: Dittes, Methodik der Volksſchule, in der er aber den Keligions-
unterricht ansgelaffen hat, und Kehr, Gefhichte ver Methodik der Volks—
ſchule (Gotha, Thienemann 1877).
d) Die Gefhihte der Pädagogik gibt aber aud endlich
die Ffräftigften Antriebe zum Weiterſtudium; venn fie macht
vor Allem demüthig und befcheiden, weil fie erkennen lehrt, daß ſchon
vieles erarbeitet ift, das man noch nicht fein eigen nennt, fie erwedt
aber aud Intereſſe an der Berufswiffenfhaft in dem Herzen des jungen
Lehrers und darum auch Luft, fi in diefelbe weiter zu vertiefen, und gibt
die rechte männliche Selbftändigkeit, die nicht fih von jedem Schlagworte
fangen läßt, weil er die verfchiedenften Richtungen in der Geſchichte ber
Pädagogik kennen gelernt har. Da er aber im Seminar erft Grundziige
verfelben und auch nur Stüde der Hauptwerfe der Meifter Fennen gelernt
bat, fo wird in ihm, wenn nur fonft der Unterricht auregend gewefen ift,
vie Sade felbft auf ihn fo anregeud wirken, daß er gern nicht nur bie
Geſchichte der Pädagogik, theils im Ganzen und Großen, theils in einzelnen
Schumann, Gedichte d. Pädagogik im Seminarunterridt. 5
66
Zweigen und durch die Biographien bedeutender Pädagogen weiter ftubiren
wird, fondern auch nun, da er fie zu benugen im Seminar gelernt hat, bie
Hauptwerke der großen Meifter eingehender ftudiren. Er wird dadurch nicht
nur bie pädagogiſche Vergangenheit richtig und felbftändig würdigen lernen,
da bies, wie A. Richter richtig fagt, nur möglich ift, „wenn eine vollftändige
Einfiht im die pädagogifhen Schriften früherer Zeit ermöglicht wird, und
ihre Berfaffer in derfelben Urfprünglichfeit vor den Lefer treten, in welcher
fie in ‚ihrer Zeit fanden und ihren Ideen Ausprud verliehen“. Er wirt
dadurch auch felber pädagogifch reif werden; venn er lernt nicht nur von
den Beiten feiner Zeit, fonbern aller Zeiten, e8 wird fich feine Liebe zum
Beruf, feine Demuth, feine Treue entzünden an ihrer Begeifterung, Auf:
opferung und Treue, Er wird aber auch geiftig reifen; denn wie der perſönliche
Umgang mit genialen Menfhen durch die von ihnen ausgehende geiftige
Anregung den geiftigen Fortſchritt befördert, fo gewährt auch die Vertiefung
in die Werke genialer Männer durch die Auftrengung, die fie uns fort
während zumuthet, eine vielfeitige und energifhe Anregung aller Geiftes-
anlagen. Mit Recht jagt daher Sladeczek: „Die Beihäftigung mit den
erziehungsmifienfhaftlihen Principien wird des jungen Lehrers Geiftesfräfte
Shärfen und zur Bollreife entfalten. Die Verſchiedenheit der ſich ſchroff
entgegenftehenden und ſich gegenfeitig befämpfenven Anfhauungen, Ideen unt
Syſteme wird feine Berftandes- und Bernunftthätigfeit erhöhen, ihn zum
Forſchen, Unterſuchen, Vergleichen, Unterfcheiden, Prüfen und Abſchätzen des
Einen und des Anderen anregen. Dies wird ihm die eindringlichfte Be—
lehrung über das Weſen der Dinge gewähren, die Kriterien des Objectiven
und Subjectiven, des Univerjellen und Individuellen, des Wejentlihen und
Zufälligen, der Wahrheit und des Irrthums ins Bewußtfein bringen; dies
ihm jene Bejonnenheit und Klarheit, die fih nicht von jeder Laune des
Zeitgeiftes willenlos fortreifen läßt, fowie jene Selbftändigfeit des Urtheils
ertheilen, die ihn den fubjectiviftifhen Utopiftereien irrationaler Phantaften,
deren es zu allen Zeiten gibt, unzugänglich macht, ihn endlich zur immer
bewußten Selbſtentſcheidung und WParteiftellung veranlaffen. Die Einſicht,
daß jelbft den vorzüglichften Geiftesfhöpfungen des Menſchen aller Zeiten
immer nod etwas Unwahres anhängt, wird in ihm die Ueberzeugung von
der Unvolltonmenheit aller Menfchenwerte überhaupt, fowie die andere
Ueberzeugung begrünten, daß die Wahrheit nie und nirgends das Reſultat
des Denkens eines Einzelnen, wenn aud noch fo Hocbegabten ift, jondern
daß fih ihre Strahlen in jedem Geifte anders breden und immer mehr
oder weniger gefärbt erfcheinen; daß, wenn er deshalb zu dem erforderlichen,
freien Urtheile fommen wolle, um mit Umnbefangenheit an die Löſung ver
Zeitfragen berantreten zu können, er jene Strahlen im Brennpunkte bee
eigenen Geiftes jammeln und mindeftens bie Arbeiten der bedeutendften
Denker auf dem Gebiete der Pädagogik älterer und neuerer Zeit kennen
lernen müffe, um ihre Ideen unter einander vergleichen und ihre Beftrebungen
würdigen zu fünnen. Gr wird ferner aus dem Gange der Erziehungs
geihichte einfehen Iernen, daß die Wahrheit wohl ftellen- und zeitweife
zurüdgedrängt — und zwar befto leichter, je mehr fie mit Elementen ber
Unmahrheit verfegt ift —, nie aber ganz unterbrüdt werden kann, jondern
fi, gereinigt, vefto herrlicher wiepererhebt und in die Erſcheinung tritt.
| 67
Die fortlaufende Beſchäftigung mit der Idee der Menfhenbeftimmung und
ihren Confequenzen wird felbft im dem jugendlichen Lehrer jenen ruhigen
und gemefjenen Ernſt begründen, der ven Yüngling vor den Mannesjahren
zum Manne reift. Als foldher wird er die der Jugend anhaftende Neigung
zur Illuſion ablegen und mehr mit dem gegebenen, als mit imaginären
Größen rechnen lernen; er wird feiner Neuerung bei fi ohne Weiteres
Eingang gewähren, fondern die Beftrebungen feiner Zeit ftets an dem
kritiſchen Maßſtabe der Geſchichte prüfen, beurtheilen und ihnen prognofticiren,
denn „der gute Hiftorifer ift auch ein guter rüdmärts gewandter Prophet”.
Er wird fi von dem platten Dilettantismus der hbeftändigen und un—
biftorifhen Methovenbefprehung abmwenten und einer mehr gründlichen
Behandlung aller fahmwiffenihaftlihen Fragen und Problem zumenden. De
weiter er auf dem Alles umfaffenden Gebiete der Erziehungsgeſchichte vor:
gerüdt fein und durch Streifblide nah den Nahbargebieten von der Uner-
meßlichfeit des menfchlichen, bereits zum fchriftlihen Ausdruck gelangten
Wiffens einen Begriff bekommen, haben wird, deſto mehr wird er ſich von
den im immer größere Ferne entweichenden Grenzen der Wiſſenſchaft ange:
lodt fühlen und fi ihr und einen ideellen Streben in die Arme werfen,
defto mehr gleichzeitig auch von jener lächerlichen Arroganz frei bleiben, mit
der die auf ihren winzigen Beſitz eingebilvete Unwiffenheit ihre Blößen zu-
zubeden pflegt.
Sol nun aber ein folhes Studium der Geſchichte der Pädagogik
ermöglicht werben und ſolche Frucht tragen, fo ift aud an den Unterricht
in derfelben die Forderung zu ftellen, daß er wenigftens einigermaßen nicht
nur durch die geregelte Privatlectüre, fondern and im Unterrichte felbit
durch ftatarifche Pectüre in einzelne Hauptwerfe der pädagogiſchen Meifter
einführe, um die jungen Yeute fchwimmen zu lehren. Sodann ift nöthig,
daß der in dem erften Unterrichte in ver Gefchichte der Pädagogik erworbene
Stoff durch regelmäßige Repetition präfent gehalten und vertieft werde und
endlich, daß biefer Repetitionscurſus auf der oberften Stufe aud) die Zöglinge
in bie Entwidelung ver Pädagogik als Wiffenfhaft einzuführen ſuche. Denn
das ift auf den erften Anblick erfichtlich, daß nicht Alles aus der Geſchichte
der Pädagogik an den Anfang des Seminarunterrihts zu verlegen iſt.
Manche Fragen, z. B. eben die Entwidelung der Pädagogik als Wiſſenſchaft,
innen auf der Anfangsftufe nicht behandelt werden. Wenn daher in dem
fortlaufenden pädagogiſchen Unterrichte durch Repetitionen und durch Nüd-
beziehungen an geeigneter Stelle der Lehrer dafür Sorge getragen bat, daR
die Ergebniffe des erften Unterrichts in der Geſchichte der Pädagogik nicht
verloren geben, fchließt der Unterricht im der Pädagogik mit einem Gurfus
ihrer Geſchichte, bei der einzelne Sachen je nad Yänge der Zeit ausführ—
liher behandelt werben, in dem aber nun die Entwidelung der Pädagogil
als Wiſſenſchaft, fo weit es möglich ift, die Hauptſache ift, um die angehen-
den Lehrer für ihr Weiterftudium zu orientiren.
Wir haben alfo auf dieſe Weife eine breifahe Stellung und aud)
verfchiedene Behandlung der Gefhichte der Pädagogik im Seminarunterricte
gefunden und zu fordern:
a) einen einjährigen Eurfus, welder am Anfange des
pädagogifhen Unterridtes in anfhauliden Lebens:
5*
E
bildern die großen Meiſter und die Zuſtände großer
Culturepochen in hiſtoriſcher Reihenfolge ſchildert,
b) einen Repetitionscurſus, welcher den fortſchreiten—
den Unterricht in der Pädagogik begleitet und das im
erſten Curſus verarbeitete Material präſent erhält und
vertieft, und
e) einen abſchließenden Curſus am Ende der Seminar—
zeit, welder befonders die Entwidelung der Pädagogik
als Wiffenfhaft zu betradten hat.
IV.
Auswahl, Anordnung und Behandlung des Stoffes der Geſchichte
der Pädagogik.
1. Wir haben jhon öfter erwähnt, daß ebenfo verſchieden wie bie
Stellung, welde man der Geſchichte der Pädagogik anweiſt, auh die Aus—
wahl des Stoffes ift, welde man für den Unterricht im diefem Gegen:
ftande getroffen hat. Wir gehen daher auf viefe Verfchiedenheiten bier nicht
weiter ein, fondern treffen nun felber eine Auswahl des Stoffes mit Nüd-
fiht auf die von uns geforderten drei Curſe.
a) Für den einjährigen Curfus am Anfange des pädagogiſchen
Unterrichts find wöchentlich zwei Stunden erforberlih, um in anfchauliden
Lebensbildern die großen Meifter und die Zuftände großer Culturepochen zu
ſchildern. Es ftehen dann in dem Jahre ungefähr 84 Stunden zur Ber
fügung. Mit Rüdfiht auf diefe Stundenzahl und auf die Bedeutung, melde
diefer Curſus hat, daß er nämlid die Zöglinge für päbagogifche Fragen
empfänglich machen und intereffiren fol, und im Iutereffe einer gründlichen
Verarbeitung, bat fih die Stoffauswahl auf das gefhichtlihe Material zu
beihränfen, von dem fid) ein Einfluß auf die Geftaltung unferer Zeit unt
unferes Volkes leicht nachweiſen läßt, wie es Dahlmann der Gefchichts:
barftellung überhaupt vorfchreibt, „fie folle nur ſolchen Bewegungen nadı-
geben, welde in die Gegenwart münden“. Es bleibt daher weg eine
Schilderung des Erziehungswefens der Chinejen, Iapanefen, Indier und ber
auderen oftafiatifchen Bölferr. Was davon dem jungen Yehrer von Intereſſe
ift, kann in die Schilderung der Gulturzuftände diefer Länder, welche vie
Geographie gibt, eingeflochten werben, und über ägyptifhe und perfilde
Erziehung gibt die übrige Gefchichte das Nöthige. Dagegen darf nicht
fehlen eine Zeihnung der Erziehung Sparta’8 und Athens, weil die Griechen
noch heute an der Erziehung unferer Jugend mitarbeiten. Begeiftert weift
daher Schwarz in feiner Gefchichte der Erziehung (I, ©. 231) auf fie hin
mit den Worten: „Ein freies und ſchönes Leben eröffnet fih im ber
Bildung der Griehen. Wir treten da ein in das freundliche Laud, wo wir
69
im Frühlinge unferer Jugend umberwandelten und einen heimathlichen
Boden für Geift und Gemüth gewannen. Athen ift auch unfere Stubien-
ftabt, der ionifhe Himmel unfere Erheiterung, die ſpartaniſche Manneskraft
unfere Kräftigung und Alles, was die griehifhe Eprahe von dem Dften
in Sleinafien, über das Inſelmeer bis zum Weften in Unteritalien, von
ver Südſpitze des Peloponneſes bis zum rauhen Thracien uns zugeführt, ift
unfer geiftiges Eigenthbum geworden. Die berrlichfte Poefie lebt von dorther
unter und als Muje jelbft, das Höchſte ver Kunft fteht von dorther mitten
in wunferen Sälen zur fortdauernden Bewunderung und Nachbildung, bie
Philoſophie leuchtet in ihren vollendeten Syſtemen gleih Sternen von
dorther zu immer tieferer Erforfhung, alle unfere Wiffenfhaften find von
dortber angeregt, und die Sprache felbft, die geiſt- und gemüthreichite, bie
wir bisher kannten, jchon in ihrem Stamme der unfrigen nahe verwandt,
ift fo in unfer ganzes Denken, Dichten, Wiſſen, Fühlen eingegangen, daß
wir fie in Schule und Haus, in Tempeln und Akademien walten laſſen,
um in ihr den Genius unferer Bildung zu vernehmen.“ Nicht allein ver
Gelehrte, unjer ganzes Volk erfährt noch heute durch den Einfluß, den vie
gelehrte Bildung auf unfere allgemeine Boltsbildung ausübt, Förderung
feiner Bildung durd die Griechen. Außerdem aber bietet gerade ber Fort—
ſchritt der Erziehung bei den Griechen von Sparta zu Athen bie befte
Gelegenheit, die Zöglinge recht anfhaulih immer tiefer in erziehliche Fragen
einzuführen, jo daß fie zugleich wie in einer Art Einleitung nit nur die
verjchiedenen Seiten der Erziehung, leiblihe umd geiftige ꝛc., ſondern aud
das Anwachſen der Unterrihtsfächer für den Jugendunterricht kennen lernen.
Außerbem bieten auch die großen Meifter ver Griehen: Pythagoras,
Sokrates, Plato, Ariftoteles und Plutarch, abgejehen von den philoſophiſchen
Spftemen, fo viel Intereffantes und Belehrendes auch für den Anfänger,
daß fie nicht völlig aus dem Anfangsunterricht brauchen verwiejen zu werben.
Die Lehrweife des Sofrates wenigftens fann leicht veranfchaulicht werben,
und die Gedanken des Plutarh über die Erziehung der Kinder find auch
auf diefer Stufe verftändlich.
Es darf ferner nicht fehlen die Erziehung Roms, deſſen Einfluß das
ganze Mittelalter beherrſcht, zumal deren Darftellung keinerlei Schwierig:
feiten bietet. Beſonders herauszubeben find nur Gato, Cicero und
Quintilian. An dieſen beiven Böltern, den Griehen und Römern, jollen
die BZöglinge lernen, wie weit bie Erziehung der begabteften Bölfer ohne
die Offenbarung es gebraht hat. Um aber die Bedeutung der chriftlichen
Erziehung als Mittelpunkt der gefammten Erziehungsgeſchichte recht würdigen
zu lernen, ift aud ein kurzer Ueberblid über die Erziehung bei dem Bolfe
Ffrael zu geben. So vorbereitet fünnen die Zöglinge nun den Einfluß des
Chriſtenthums auf die Erziehung verftehen. Die Stellung, welche die drift-
liche Bildung zu der heidniſchen einnahm, ift darauf in ihrer verjchiedenen
Richtung zu veranfhauliden an dem Pädagogos des Clemens von Alerandrien,
an der Rede des Bafilins an die Yünglinge, an Iohannes Chryſoſtomus,
an Hieronymus und Auguflinus, wobei aud die Katechumenatserziehung ihre
pafſende Stelle finder und zugleidy die Erziehung in den Klöftern die Ueber-
Leitung zu den Klofterfhulen bildet. Bon diefen find nad) ven Beftrebungen
Benedictd von Nurfia zu fehildern St. Gallen, Reichenau mit Walafried
70
Strabo und Fulda mit Rhabanus Maurus. Es folgt dann die Einrichtung
der Domfhulen, Karls res Großen Bemühung um die Volksbildung, bie
ritterlihe Erziehung und das ftäbtifhe Schulmefen. Bon den großen
Meiftern werden nur behandelt Gerbert und Gerfon, während Vincentius
von Beauvais dem legten Curſus vorbehalten bleibt. Bon den Humaniften
werben nad) einer kurzen Weberficht über die bumaniftifchen Beitrebungen
die Hieronymianer, Erasmus und Reuchlin gezeichnet, und die Schilderung
des Zuſtandes der Erziehung und des Unterrichts unmittelbar vor ber
Reformation bildet den Abſchluß diefer Reihe von Bildern, welde etwa in
26 Unterritöftunden zu bewältigen find, fo daß etwa 10 Stunden auf bie
vorchriftlihe Erziehung, 16 Stunden auf die Behandlung der Erziehung
während des Mittelalters fallen. Bei viefer Auswahl können aud die
Abſchnitte, welche ih in meinem Lehrbudhe ver Pädagogik Theil I geboten
babe, aus Plato's Menon, aus Plutard, Duintilian, aus dem Pädagogos
von Glemens, Bafilius, Chryfoftomus, Hieronymus, Auguftinus, Walafrier
Strabo, Erasmus und Platter theils gelefen, theils für die Privatlectüre
vorbereiten beſprochen werben.
Der Stoff von Dr. Martin Luther bis auf die Neuzeit zerfällt in
zwei Öruppen, in die Zeit von Luther bis auf Peftalozzi und in die Seit
von Peſtalozzi bis auf unfere Zeit, deren jede wieder je 28 Unterrichts
ftunden beanfprudt. In den Vordergrund treten in ber erften Gruppe
Luther, Melanchthon (Bugenhagen für Norbbeutfchland, Brenz für Süd—
deutichland), Trogendorf, Sturm (Neander und Nic. Hermann), die Yefuiten,
Ratke und die Neuerer, A. Comenius, Ernft der Fromme, Spener, 3. Yode,
Trande (die Ausgeftaltung der preußifchen Volksſchule durch Friedrich
Wilhelm L und Friedrich IL, Heder und Felbiger), Roufieau, Baſedow und
Salzmann, Eberhard von Rochow. Es können dabei, wenn auf Luther vier,
auf Melauchthon zwei, auf U. Comenius vier, auf Frande zwei, auf
Rouſſeau zwei, auf Baſedow und Salzmann drei Stunden gerednet werben,
Luthers Schrift an die Bürgermeifter und Rathsherrn, ver ſächſiſche Schul—
plan, die Didactica magna, ber Unterricht, wie die Kinder zur wahren
Sottfeligkeit und chriſtlichen Klugheit anzuführen find, der Emil, vas
Ameifenbüdlein ſtückweiſe gelefen und für vie Privatlectüre vorbereitend
befprochen werben.
In der zweiten Gruppe tritt zunächſt das Lebensbild Peſtalozzi's in
den Vordergrund, bei dem man wohl acht Stunden und länger verweilen
fann, um tiefer in feine Ideen und Schriften einzuführen. Es folgt dann
Herder und die Entwidelung der Volksſchule im 19. Jahrhundert, wobei
Dinter, Bell und Lancafter, Iacotot, Diefterweg, Natorp und Overberg nebft
Harniſch befondere Berüdfihrigung finden.
b) Für den Repetitionscurfus, welcher ben übrigen pädagogiſchen
Unterricht im zweiten und während eines Theiles des dritten Jahres be-
gleitet, find dann noch einzelne Lüden auszufüllen. In ihm kann aus ber
griechiſchen Erziehungsgefhichte Pythagoras, Plato und Ariftoteles, aus dem
Mittelalter und der Neuzeit noch Manches, z. B. Leffing, Schiller, Goethe
Berüdjichtigung finden. Er beanfprudt von jeder Stunde 10 Minuten oder
wöcentlih eine Viertelftunde und kann and die Geſchichte der Methobif
berüdfichtigen, entweder in dieſer Zeit oder fo, daß die Geſchichte der Methodik
71
die Einleitung zu der Behandlung der Methode der einzelnen Fächer, vie in
den verfchiedenen Fachſtunden ſelbſt ertheilt wird, bildet. Und es dürfte
diefer legtere Weg am amgemefjenften jein, weil dadurch die methodiſche
Belehrung felbft von vornherein auf das nöthige Verſtändniß bei den
Schülern zu rehnen bat. Im diefer Beziehung jagt Stoy (Emcyelopädie
der Pädagogik): „Eine einfeitige ertreme Richtung, wie vor einigen Jahren
die von Wadernagel erfundene Weife des deutſchen Sprahunterridhts, kann
gar nicht anders verftanden und begriffen werben, denn als Reaction gegen
das Wurftifhe Regiment.“ Darum flimmen wir barin mit fr. Dittes
überein, welcher in der Vorrede zur dritten Auflage feiner „Geſchichte ver
Erziehung und des Unterrichts“ jagt: „Die ausführliche Geſchichte der ver—
ſchiedenen IUnterrichtsfächer findet meines Erachtens den pafjenpften Platz in
der jpeciellen Methodik.“ Auch Lüben will bei Beſprechung der einzelnen
Unterrichtögegenftände gleichzeitig eine Geſchichte derjelben geben. (Mit-
tbeilungen aus dem Pädagogen-Congreß zu Tabarz. Yeipzig, Branbdfterter
1863, ©. 26.) Wir haben aber aud oben ſchon unter a die Ausgeftaltung
der preußiſchen Boltsfhule durch König Friedrich Wilhelm I und Friedrich IL
mit aufgenommen, fo daß man meinen Fönnte, wir wollten ſchon dadurch
die Frage: Wo ift die Gefchichte des vaterländifchen Schulweſens zu
behandeln? entſchieden haben, Es ift das aber nicht der Fall; denn es foll
dadurch nur ein Bild ans der vaterländifhen Schulgefhichte gegeben werben.
Die wirkliche Entwidelung des Schulweſens im engeren Baterlande fann in
jenem erften Curſus noch nicht gegeben werden, fie gehört vielmehr in den
Abſchnitt der Pädagogik, welder unter der Ueberſchrift Schulordnung und
Schulkunde die Verhältniffe des engeren Baterlandes behandelt und dadurch
den an der Schwelle des praftiihen Schulamtes ftehenden Lehrer orientirt.
In diefem Sinne hat z. B. Thilo feine Schrift „Preußiſches Volksſchul—
wesen nad) Geſchichte und Statiſtik“ als „die Grundlage aller preußifchen
Schulfunde” bezeichnet.
Welchen Nuten der Repetitionscurins mit allem dem, was der übrige
Unterricht in der Pädagogik und Methodik für die Geſchichte der Pädagogik
thut, dem Schüler leiftet, brauden wir nad dem, was wir oben erwähnt
haben, nicht noch einmal zu erörtern. Er erhält die Sachen dem Zöglinge
präfent, jo daß er immer vertranter mit ihnen wird.
e) Für den abjchliefenden Curjus am Ende der Seminarzeit, fir
welden wir etwa 24—30 Stunden in Anfprud nehmen müſſen, fo daß
den drei Stunden für Pädagogik in den preußiſchen Seminaren eine vierte
hinzuzufügen wäre, verbleibt als Stoff die Entwidelung der Pädagogik als
Wiſſenſchaft. Er hat, da die Schüler das Material jonft völlig beherrfchen, nur
in großen Zügen die-Entwidelung der Pädagogik bei den Griechen zc. zu zeichnen
und auf die Anfäbe zu einer wiſſenſchaftlichen Pädagogit, z. B. bei Plato aus
feinem Staatsibeale hergeleitet, bei Bincentius von Beauvais, bei Comenius,
Frande, Rouffean, den Philanthropen zc. binzuweifen und dann etwa bas
auszuführen, was id) in meinem Lehrbuche der Pädagogik Th. I, $ 32 im
Grundriß angedeutet habe. Dabei bietet ſich zugleich Gelegenheit, die Schüler
in der pädagogifhen Literatur zu orientiren und zum Stubium größerer
wiffenfchaftliher Werfe anzuleiten. Auch dabei jo der Lehrer hindurhfühlen
lafien, wie er das eine Syftem vorzieht, das andere nachftellt oder verwirft;
72
aber die Schüler follen merken, daß dies nur aus wirklichen ftichhaltigen,
aus der Natur diefer Syſteme folgenden Gründen geſchieht. Bor Allem
aber kommt es darauf an, daß die Schüler wirklich in den Gedankengang
der Werke eingeführt und gemöthigt werben, die Gebantenarbeit ver Meifter
auch jelber im Denken mitzuthun. Das erfordert aber nit nur einen
Lehrer, der felber ein Meifter in wiſſenſchaftlicher Erkenntniß und Methode
ift, jondern auch Schüler, die tüchtige Schwimmer ſind. Darum wird es
immer dem eignen Ermeſſen auheimgeſtellt bleiben und von den befonderen
Verhältnifien der einzelnen Seminare abhängen müfjen, wie weit hierin
vorgegangen werden kann; denn die wiſſenſchaftliche Pädagogik erforbert ſchon
reiferen Verſtand und weitergehender⸗ Bildung, als ſie bei unſeren jungen
Schülern im Allgemeinen vorauszuſetzen ſind, und zwar nicht nur eine ſolche
Erkenntniß, wie ſie der Zögling bereits durch den Unterricht in der Päda—
gogik gewonnen hat, ſondern Kenntniß der philoſophiſchen Syſteme ꝛc. (Vergl.
Sioh, Encyelopädie der Pädagogik, S. 124 ff.) Wer aber meint, daß er
dann jhon eine Entwidelung der Pädagogik als Wiſſenſchaft jeinen Schülern
gebe, wenn er ihnen feine fubjectiven Urtheile, die oft nur vom Parteiftand-
punfte eingegeben find, über verſchiedene pädagogifhe Syſteme auskramt,
ohne ihnen jene ftrenge Gevanfenarbeit zuzumuthen, "der irrt fi; denn er,
macht feine Schüler nur zu feihten Schwägern uud hochmüthigen Maul
braudern, die, weil fie nicht im Stande find, die ftrenge Schale, weldye ven
nährenden Kern der Wiffenfchaft umschließt, zu durchbrechen, über Alles
hochmüthig berfahren, was ihrem Parteiftanppunfte nicht zu entiprechen fheint,
und blinde Nachtreter blinder Partei- und Rottenführer werben. Auch hier
gilt, daß nur das wirflih nährt, was wirklich geiftig verbaut und afftmilirt
wird, daß aber aller Schein nur das geiftige Auge blendet und daher ſchädlich
wirkt.
2. Daß wir in allen Curfen den Stoff. in der hiftorifhen Reihenfolge
angeordnet willen wollen, liegt in der Natur des gefchichtlichen Unter-
richts. Nur bei Repetitionen fann man z. B. von einem gewifien Punfte
aus rückwärts fchreiten oder z. DB. Tragen aufwerfen: Was veran-
laßte Comenius, das Reformationswerf der Schulen zu unternehmen 1. ?
Man nörhigt dadurch den Schiller, fid über ven Zuſammenhang der
einzelnen Lebensbilver, reſp. der Zeiterfcheinungen mit voraufgehenden Har
zu werben.
3. Geſchichte muß erzählt werden, diefe Forderung für die Behand—
lung verjelben, gebt aus dem Weſen ver Geſchichte jelber hervor. Daher
muß ber Lehrer in dem erften Curfus vie Yebensbilder quellenfriich dar:
ftellen, die Perfonen nad) äußeren und inneren Charafterzügen ſchildern. Gr
wird befonderes Gewicht namentlich* auf das Wachſen und die Entwidelung
der großen Meifter legen, um zwei Fehler, in welche der Geſchichtolehrer
leicht verfällt, zu vermeiden, einmal nämlid die Anekdotenjagd, welche amüſirt,
aber nicht bildet, und ſodann die trodene farblofe Aufzählung von Jahren
und Daten, Büchertiteln u. f. w., welde nur das Gedächtniß belafter und
das Herz leer und alt läßt. Wenn der Lehrer aber darauf ausgeht, bie
Perfönlichfeit lebenskräftig vor die Augen der Schüler zu ftellen, jo wird er
die Meinen harakteriftiihen Einzelzüge nicht überfehen und zugleich die Herzen
der Schüler für den Mann und feine Arbeit intereffiren. Je mehr er dem
73
ftilen Keimen und Wachſen nachgeht und gleichſam das Werden iunerlich
nahahmend und abbildend zu erzählen vermag, deſto mehr feſſelt er, deſto
mehr lehrt er. Liebe und Wärme zu dem Gegenftande belebe das Bild,
aber auch der berechtigte Tadel ſchweige nicht. Nur Parteigezänf und hohle
Declamation bleibe fern; denn alle Lehre muß ſich das ſchöne Maß bewahren.
An einzelnen Stellen muß er aber das biographifche Element fahren Laffen,
um in einem uerfchnitte die gefammten Yebensverhältniffe einer Zeit und
die Beziehung und den Einfluß der pädagogifchen Arbeit auf dieſelbe zu
veranfhaulichen. Aber aud hierbei hat er die Darftellung möglichſt concret
zu halten und fi vor allgemeinen, unvermittelten Urtheilen zu hüten, für
welche der Schiller feine concreten Unterlagen hat. Diefe Darftelungsweife
wird auch ſchon von der Pfychologie gefordert, nach der Begriffe, Urtheile,
Schlüffe aus den Anfhauungen erwachſen, fo daß, wo dieſe fehlen, oder nicht
hinreihend Mar geworden find, auch jene höheren Bildungen des Seelenlebens
mangelhaft bleiben. Wie nun bei dieſen Duerfchnitten die gleichzeitige Lite-
raturs, Eultur- und Staatengeſchichte zu berüdfichtigen ift, jo find auch durch
dergleichen Hinweife die einzelnen Lebensbilder fo viel als möglich mitten in
ihre Zeit hineinzuftellen und mit ihren Zeitgenofien zu verbinden. Go
werben fie, wie es die hell beleuchteten Geftalten in Raumer's Geſchichte
der Pädagogik find, mehr als bloße Individuen, fie werden Typen und Re—
präjentanten ber Zeiten, in welden fie mit ihrem Wirken, ihren Freuden
und Leiden ftanden. Ich habe, um dies Moment anzubeuten, in meinem
Lehrbuche der Pädagogik immer auf eine Reihe von Zeitgenoffen kurz hin—
gewiefen. Bei der Erzählung eines LTebensbilves ergibt ſich aber ungeſucht
zugleid irgend eine pädagogiſche Wahrheit, auf die kurz aber nachdrücklich
bingewiefen wird, aud eine Erfahrung, die beachtenswerth ift, fo daß
die Schüler ſchon in dem erften Curſus eine Reihe pädagogifher Sätze
in ihrer allmählihen hiſtoriſchen Entwidelung fennen lernen und mit
ven Männern, deren Leben fie mitburdleben, eine Reihe Erfahrungen
maden, bie für das weitere pädagogiſche Studium von großer Bes
deutung find.
Was der Lehrer erzählt hat, müffen die Schüler in der nächſten Stunde
in lebendiger Erzählung repetiren ; denn aud im biefem Unterrichte follen
fie nicht nur für fi lernen, fondern zugleih für ihren künftigen Beruf im
Erzählen geübt werden.
Schon aber aud im erften Bierteljahre muß eine georbnete Privat-
lectüre ben Unterricht begleiten, und zwar empfiehlt es fich, für dies erfte
Bierteljahr nur Biographien beveutender Pädagogen zu wählen. Diefe
Lectüre wird jeden Monat controlirt entweder in kurzer mündlicher Befprehung
oder baburd daß jeder Schüler feine Collectaneen vorzulegen hat. Durch
diefe Lectüre gewinnen die Schüler pädagogifche Fieblinge; aber e8 wird auch
daburd möglich, daß fie im weiteren Berlauf des Unterrichts einmal an
Stelle des Lehrers vor der Klaffe ein Yebensbild nad vorgängiger Prä-
paration und Gontrole ‘durd den Lehrer entwerfen können. Ich habe dieſe
Abwechſelung der Lehrthätigkeit zwifchen Lehrer und Schülern immer fehr
auregend gefunden. Es empfiehlt fi) aber das anfängliche Lefen von Bio:
graphien auch darum, weil die Stüde, welde zuerft aus den Meifterwerken
ausgewählt find, nur Hein find und in der Klaſſe beim Unterricht behandelt
74
werben können, damit an ihnen die Schüler dann größere Arbeiten mit
Nugen leſen Lernen.
Von dem zweiten Vierteljahre an bildet einen Hauptgegenftand als
Ergänzung ber Yebensbilver die Lectüre ausgewählter Stüde aus den Meifter-
werken großer Pädagogen. Dieje Yectüre kann zunächſt nicht dem Privat:
fleiße allein überlaffen werben, fondern fie muß zum Theil in den Unter:
richtsftunden geſchehen, damit die Zöglinge zugleih zur Privatlectitre päba-
gegifher Schriften und zum weitergehenden Studium gröferer pädagogiſcher
Werke angeleitet und tiefer in das Verſtändniß und vie Bedeutung päda—
gogifcher Fragen und Aufgaben eingeführt werden. Darum nimmt von dieſem
Vierteljahre an die ftatarifche Yectüre in dem Unterrichte neben der Privat:
lectüre einen größeren Raum ein, damit der Schüler aus dieſen Stüden
aus den Meifterwerken als aus fiheren, concreten Unterlagen unter Anlei—
tung bes Lehrers lerne, ein richtiges Urtheil über die Männer und ihre
Zeit abzuleiten, als auch allgemeine pädagogiſche Wahrheiten zu entwideln.
Ohne dieſe Arbeit an ſolch concretem Stoffe bleiben die Einzelheiten tobtes
Gedächtnißmaterial und das Urtheil jowie das Allgemeine hängt in ber Luft,
- während im ihr der Zögling Erfahrung fammelt, wie in der Praris bes
Schullebens und dadurch zur fruchtbaren Berreibung der ſyſtematiſchen Päda—
gogif befähigt wird. Aber dieſe ftatarifhe Leetüre bat aud die Aufgabe zur
Privatlectüre der pädagogiſchen Meifterwerke anzuleiten. Sie hat daher aufer
dem bereits angeführten Gefichtspunkte darauf zu fehen, wie ich das aud in
der Vorrede zur erften Auflage meines Lehrbuches der Pädagogik angedeutet
habe (Hannover, Meyer 1874):
a) daß der Schiller ein größeres Stüd dieponiren und dann zuſammen—
faffend wiedergeben,
b) der Arı der Eutwidelung folgen und die Gründe, welde die Be:
hauptungen ftügen, beurtheilen lerne,
c) daß er allgemeine pädagogiſche Säge aufjuhe und einpräge,
d) ähnliche oder verfchtedene Ausführungen bei verſchiedenen Pädagogen
mit einander vergleiche,
e) aus den Mufterftüden ven Mann und jeine Zeit charakterifiren und
f) die Ideen ans den Zeitverhältniffen oder den Vebensumftänden der
Pädagogen begreifen lerne. |
Es wird dabei nicht nöthig und aud nicht möglich fein, bei jevem
Stüde auf alle diefe Seiten zu achten, fondern es follen nur damit einzelne
Geſichtspunkte hervorgehoben werben, nach denen eine fruchtbare Behandlung
verfelben möglich if. Es wird aber auch dazu nothwendig fein, daß ba?
Lehrbuch oder der Leitfaden für diefen Unterricht felber eine genügende Reihe
folder Stüde aus den Meifterwerken enthält. Sehen wir und darauf bie
vorhandenen Lehrbüiher an, fo fpringt in die Augen, daß ein Buch wie bat
von Braun (Handbuch für die Gefchichte der Erziehung und des Unter:
rihts :c., Breslau 1873) Shen wegen feiner groben Fehler gegen die ge
ſchichtliche Wahrheit und wegen der durchaus durch nichts zu begründenden
und durch nichts begründeten Urtbeile zu verwerfen if. Auch Bormann’d
Padagogik (Berlin 1873) mit ihrer dirftigen Geſchichte und ihren abge
riffenen Sägen aus ben päbagogifhen Werfen tft für unfern Zwed nicht
75
brauchbar. Schorn in feiner Gefhichte ver Pädagogik in Vorbildern und
Bildern (Leipzig 1873) hat dadurch ein gutes Buch geſchaffen, daß er bie
Pädagogen concret dargeftellt und vornehmlich fie felbft hat reden laſſen,
aber er fcheint uns für die bier im Frage kommende Lectüre nicht genug zu
bieten. Kahle, der dieje ausgewählten Stüde ala einen „Quellenſtock“ anfieht,
zu dem er den Zögling hinführt, um dem PBrincip der Anfhauung aud auf
unferem Gebiete geredht zu werben, bietet in feinen Grundzügen ber
evangelifhen Volksſchulerziehung nur ſolche Stüde feit Luthers Zeit, aber
von da an fir den erften Curſus genug. Daß ich felbft mid bemüht habe,
in meinem Lehrbuche ver Pädagogik hinreihendes Material für diefen Zwed
zu bieten, deute ich hier nur an.
Neben diefer ftatarifhen Lectüre geht nun die geordnete Privatlectüre
ftetig her und bemächtigt ſich nach und nad auch größerer Schriften, wie fie bie
Richter'ſchen, Beyer'ſchen und Lindner'ſchen pädagogifhen Bibliotheken bieten,
welde in der Seminarbibliothet zu finden fein müfjen.
Bei dem den weiteren Unterricht in der Pädagogik begleitenden Repe—
titionscurfus tritt der Lehrer mehr zurüd, nur bier und da ftellt er irgend
eine Perfönlichkeit oder eine Thatſache in ein neues Licht, oder fchlingt die
Verbindungsfäten wen der einen zur anderen Perfönlichkeit enger, oder weift
auf eine Schrift hin, die nun bei mehr gereiften Verſtändniß zu lefen ift;
denn wenn auch im zweiten Jahre für die Privatlectüre mehr pſycho—
logifhe, dann vibactifhe und methodiſche Schriften in den Vordergrund
treten, fo ift doh ab und zu namentlih auch bei den Yüden, die ber
erfte Curſus gelaffen hat, wieder auf die Lectüre geſchichtlicher Schriften
binzumeijen.
Der abjhliefende Curſus enblih, der die Entwidelung der Päragogif
als Wiſſenſchaft zu verfolgen hat, zeichnet mehr in großen Zügen, indem er
die Einzelheiten als befannt vorausfegt, ganze Perioden, und verweilt mehr
bei der Darftellung*ver einzelnen Syfteme, die er im ihrer ftrengen Abfolge
und ihren Principien vorzuführen hat. Lichtvolle Klarheit im VBortrage,
ftetes Anhalten ver Schüler, aus den Folgerungen weitere Schlüffe zu ziehen,
und ftetes Hineinziehen verfelben in vie Gedankenarbeit der Meifter ift Haupt-
aufgabe des Unterrihts. Ob zum Schluffe eins der neueren Syſteme aus:
führlicher behandelt wird, das muß von der Fähigkeit der Schüler abhängen,
aber jedenfalls haben fie nur dann Gewinn von einem folden Gurfus, wenn
fie nit fih nur mande Urtheile über pädagogiſche Syſteme haben andociren
laſſen, fondern fi, wenn aud nur in einfachere, haben hineinarbeiten lernen.
Sole Lehrer werden dann aud mit rechtem Nugen für ihr Amt ſich weiter
in die Gefchichte der Pädagogik nah der Seminarzeit vertiefen; denn fie
haben viefelbe nicht nur mit dem Gedächtniß aufnehmen lernen, fondern fie
ift durch Die angeftrengte Gedankenarbeit auch ein beftimmenver Faktor für
ihr Fühlen und Wollen geworben, fo daß fie durch ihre Reſultate ſich felbft
erziehen und ihren Lehren Einfluß auf ihre Berufsarbeit geftatten, aber audı
in den Stand gefegt werden, ihre Stellung in ihrer Umgebung und in
ihrer Zeit richtig zu begreifen und zu wählen. Denn mit Recht jagt Stoy
in der Enchelopädie der Päragogif ©. 110: „eve Zeit bietet jedem in
die Wirkſamkeit der Yeitung Eintretenden nicht anders als dem auf bie-
herigem Grunde Fortbauenden, ein ganzes Syſtem von Beziehungen, in
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denen das Meinere oder größere Gebiet der eignen Thätigfeit zu andern
ſteht.“ Solche gefhichtlidy gebildete Lehrer werben allerdings weniger ge
eignetes Material zu agitatorifhen Parteizweden, aber felbftändige Lehrer,
die der Schule Beftes fuhen und weldye unbeirrt durch das bunte Barteigetriche
mit voller Hingabe an eine in firenger Arbeit erworbene Heberzeugung, diefelbe
fern von dem Mangel an Pietät und dünkelhafter, bornirter Selbſtüber—
hebung mit männlihem Ernſte würdig zu vertreten wiſſen. Und folde
Lehrer find ein Segen für unfere Schule.
Hädagogifhe Htudien.
Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein.
15. Seft.
Humanismus und Realismus.
Bon
Fudw. Ballauff,
Eonrector an der Realſchule zu Barel (in Tidenburg).
Wien und SJeipzig.
Berlag von U. Pichler's Witwe & Sohn.
2 Buchhandlung für pädagogiihe Literatur und Lehrmittel » Anitalt.
Trud von Fiſcher & Wittig in Leipzig 1877.
Die Yeiter unferer Gymnaſien jtränben ſich wol, den matbematifch-natur-
wiſſenſchaftlichen Unterrictsfähern in den ihnen anvertrauten Anftalten einen
arößern Raum zu gewähren: fie fürdten, der ideale Charakter ver Bildung,
zu welder in jenen Schulen die Grundlage gelegt wird, fünne darunter
Schaden leiven. Im ven paar YVehrjtunden und der Arbeitöfraft, melde
vielleicht ven übrigen Vehrfüchern entzogen werden müßten, kann der Grund
diefer Befürchtung faum liegen: fie kann nur aus der Beſorgniß entipringen,
daß eine größere Ausbildung der mathematisch - naturwiffenjchaftlihen Au—
ſchanungsweiſe die Einheit der Bildung verlegen und den idealen Interefjen
widerftreitende Elemente in fie hineintragen würde. Die aus der mathematijch-
naturwiffenichaftliben Bildung hervorgegangene Weltanſchauung bildet aber in
unferer Zeit eine geiftige Madıt, deren beveutenden Einfluß auf unjer ge-
fammtes Leben man nicht in Abrede zu ftellen vermag, mag man ihn für
wünſchenswerth oder nicht, für heilfam oder verderblid erklären. Man ift
daher wol zu dem Zweifel berechtigt, ob unfere Gymnafien, wenn jie darauf
verzichten, den mathematiſch-naturwiſſenſchaftlichen Studien und der durch fie
bedingten ſpecifiſchen Bildung eine forgfältigere Pflege zu widmen, nicht einen
großen Theil ihrer frühern Bereutung verlieren: ob fie damit nicht aufhören
werben, diejenigen Anftalten zu fein, in welden für die höchſte im unſerer
Zeit erreihbare Bildung die nöthige Grundlage gewonnen werden fann.
Es iſt eine kaum zu leugnende Thatſache, daß die deutſche Wiſſenſchaft
in der erſten Hälfte dieſes Jahrhunderts dem Fichte-Schelling-Hegel'ſchen Idea—
lismus gegenüber als ſchwach und unkräftig ſich erwieſen hat. Nicht allein
war es ihr nicht möglich, jene philoſophiſche Richtung auf ihrem eigenen Felde
mit Erfolg zu belämpfen und ihre Unwiſſenſchaftlichkeit in wiſſenſchaftlichen
Kreifen zum allgemeinen Bewußtſein zu bringen; ſondern aud auf allen
andern wifjenfchaftlihen Gebieten, das ter Mathematik‘ umd einiger Zweige
der Naturwiffenihaften etwa ausgenommen, machte ihr verderbliher Einfluß
fi) geltend. Für Theologie und Jurisprudenz, für Grammatik, Yiteratur-
geſchichte und Aeſthetik jollten die Gonjtructionen eines vermeinten reinen
Denkens maßgebend fein; Medicin, Phyfiologie und vie bejchreibenden Natur:
wifjenjchaften wurden die Beute naturphiloſophiſcher, namentlich an Schelling
ſich anſchließender Schwärmereien und Deuteleien. Wer es nicht unternahm,
aus dem Nichts heraus durd das reine Denken die Welt umd feine Wifjen-
haft zu conftruiren, wer ſich nicht darin gefiel, die heterogenften Gegenftände
entfernter Analogien wegen zu identificiren, in das Unbedeutenpfte einen hoben
Einn hineinzudenteln, der wurde unwiſſenſchaftlich und geiftlos gejcolten ;
er wurde höchſtens für würdig erachtet, ſchätzbares Material berbeizufcaffen,
an weldem höhere Geifter ihre Kräfte üben könnten. Dem wieder erwacenven
Ballauff, Humanismus und Realismus. l
2
Siun für die müchterne Wirklichkeit, wie er in dem Studium ver gejcichtlichen
Entwidelung und namentlid in der Mathematif und ven Naturwiſſenſchaften
ſich geltend machte, ift e8 zu verdanken, daß die Herrichaft jener Richtung ge:
broden wurde, daß fie nur im einzelnen Epigonen, verquidt mit hiſtoriſchem
und naturwiſſenſchaftlichen Elementen, ſich noch erhält. Damit zugleich trat
aber ein anderer Schaden hervor, der nicht allein noch nicht befeitigt ift, ſon—
dern vielmehr gerade in der neueſten Zeit in ſtetem Wachfen begriffen zu jein
fcheint. Mit jenem übertriebenen und unberedhtigten Idealismus wurde aller
und jeder Idealismus, auch der berechtigfte, verworfen. Der Realismus wurde
zum Materialismus, der nichts anerfennt als das Wirflihe oder was er für
das Wirkliche hält, und nichts weiß von einer über dem Wirflichen jtehenven,
mmunftöpliben Norm, nach welcer es wenigitens ſich richten jollte, nichts von
einer über feinen Werth und feine Würde mit unbedingter Gültigkeit ent-
ſcheidenden Beurtheilung der Dinge Nicht etwa, als wenn jene Yeugner
des Idealismus nicht in ihrem wirfliden Handeln von idealen Principien ge
leitet und getrieben würden: das gerade Gegentheil zeigt fih im dem umeigen-
nützigen, felbftlofen Eifer, mit dem fie ſich ihrer Wiſſenſchaft widmen. Aber
fie wiffen innerhalb ihrer Wiſſenſchaft für jene idealen Principien den An-
Mmüpfungspunft nicht zu finden: innerhalb ihrer Wiffenfchaft verwerfen, ja
verjpotten fie dasjenige, weldem fie doc in ihrem Leben den Gehorſam nicht
verjagen fünnen. Darin beiteht gerade die Würde und die Erhabenbeit bes
Idealen, daß e8 weder dem Willen nocd dem klügelnden Berftande weicht ; daß
e8, wenn dieſe ihm entgegentreten, fie zwar ebenfalls nicht immer zum Weichen
zu bringen vermag, aber mit unantaftbarer Autorität fein billigendes oder ver-
werfendes Urtheil über fie ergehen läßt. Unſere modernen Materialiften hören
die Stimme, welde das Urtheil ſpricht, jo gut wie jever Andere ; aber jie
verftehen nicht ſich wiflenfchaftlich zu verdeutlichen, woher fie erklingt und was
fie eigentlich jagt.
Auf dem Gebiete der Wiſſenſchaft iſt die Thetlung der Arbeit in ebenio
hohem, ja vielleicht in noch böherm Grade unentbehrlich als anf dem des in-
duftriellen Yebens. Die einzelnen Wifjenjchaften haben eine ſolche Ausdehnung
gewonnen, daß es bei den meiften einem Menſchen felbit von mehr als ge
wöhnlicher Begabung unmöglich geworden ift, auch nur eine einzige von ihnen
in allen ihren Zweigen gleichmäßig zu Durchdringen ; noch weniger iſt es einem
und demfelben im der Regel möglih, in ven beiden von einander fo wejent:
lich verſchiedenen Arten der wiſſenſchaftlichen Forſchung, von denen Die eine
es mit der Feftitellung defien, was ift und gefchieht, Die andere mit der des—
jenigen, was fein und gefchehen fol, zu thun bat, jelbftändig ſchaffend aufzu—
treten. Mit der Theilung der Arbeit in der Wiſſenſchaft verhält es ſich aber
etwas anders als mit ver auf induftriellem Gebiete. In jedem Falle muß
eine Verbindung, ein Zuſammenhang zwifchen den Arbeiten der vielen Ein
zelnen bergejtellt werden: ein jeder von ihnen muß Darauf rechnen können,
daß feine Arbeit durch die Andern bis auf einen beftimmten Punkt vorbereitet,
daß das von ihm Begonnene von den Andern auch weiter fortgeführt werte.
Auf einem rein mechanifchen Arbeitsgebiete kann dieſer nothwendige Zufanmen-
bang zwiſchen den Arbeiten der Verſchiedenen durch eine äußere Anordnung
bergejtellt werten; auf dem Gebiete ver Wiſſenſchaft ift viefes aber nicht
möglich. Da muß ein jeder ſelbſt die Punkte aufſuchen, in denen er das von
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Andern Begonnene fortzuführen hat; er muß feine Arbeit jo einrichten, daß
ihre Ergebniffe auch von Anvern mit Bequemlichkeit benutzt und von ihnen
weiter fortgeführt werden könne. Soll daher der organische Zuſammenhang
zwijchen den einzelnen Wiffenjchaften nicht zerrifien, jol nicht in Folge deſſen
das Gedeihen jeder einzelnen gehemmt, die Entwidelung des ganzen willen:
Ihaftlihen Organismus verfünmern und in falſche Richtungen gedrängt werden,
jo müfjen vie pfleger jever einzelnen Wiſſenſchaft Interefie und auch ein bis
auf eimen gewiſſen Punkt fich erjtredenvdes, eingehendes Verſtändniß bejigen
für das, was auf andern, oft jehr weit abliegenven Gebieten geleiitet wird,
für die Bedürfniſſe, welde in ihnen bervortreten, und für die Art und Weiſe,
wie fie befriedigt werden fünnen und müſſen. Cine Verkümmerung des wiljen-
ihaftlihen Organismus und eine Entwidelung vejjelben in falſchen Richtungen
wird aber jedenfall einen ſchädlichen Einfluß ausüben auf den geſammten
Bildungszuſtand des Bolfes in intellectueller jowol wie auch namentlich in
jittliher Beziehung.
Man mag nun von der modernen mathematijc = naturwifienichaftlicen
Weltanſchauung halten was man will, man may der Anficht fein, daß jie
allein nicht genüge, daß fie auch auf Gebieten zur Anwendung gebracht werde,
auf denen jie feine Geltung befigt: ihr factifches Vorhandenſein und Die
Macht, welche fie thatjächlich befigt, muß man doch anerkennen. Sie beberricht
unleugbar einen großen Theil der willenjchaftlih Gebilveten und ift aud unter
den gebildeten und ungebilveten Laien, wenn auch mannigfad) entjtellt und ver—
fünmert, weit verbreitet. Man kann daher mit Recht verlangen, daß aud)
diejenigen wiſſenſchaftlichen Forſcher, welde es mit dem Ethiſchen im weitejten
Sinne des Worts zu thun haben, var unjere Theologen, Juriften, Hiftorifer,
Bhilofophen u. ſ. w. fie nicht unbeadhtet bei Seite liegen laſſen. Thun fie es,
jo fegen fie ji der Gefahr aus, daß ihre Kämpfe negen den bornirten Rea—
lismus, oder jagen wir lieber Materialismus, vein vergeblich bleiben werden.
Sie. verfennen feine Stärte und jeine Schwächen. Es entgehen ihnen vie
Momente, welche es dem bornirten Realiften erjchweren, ja unmöglich machen,
fih ihre idealen Anſchauungen anzueignen; es entgehen ihnen aber auch vie
Punkte, in denen ein vernünftiger Realismus zum Idealismus hindrängt, an
welchen die idealiftifchen Betrachtungen demnach anknüpfen können und müſſen.
Sie haben aber auch fein Gefühl für vie Schwächen ihrer eigenen Anſchauungs—
weile; und jo wird ihr Idealismus jelbft ſchließlich darunter Schaden leiden,
Die Kluft zwifchen Idealismus und Realismus wird immer breiter und tiefer
werden, bis endlicd Niemand mehr ein Verſtändniß befigt für das, mas vie
im entgegengejegten Lager eigentlich wollen und was fie vermilfen. Jede von
beiden Parteien wird endlich in eitler Selbftgenügfamfeit ſich ver Täuſchung
bingeben, daß ihr Verfahren das allein vernünftige jei und allen vernünfz
tigen Anforderungen vollftändig genüge: die Einfeitigfeit ihres Standpunktes
und das Ungenügende der gewonnenen Ergebniffe wird ihnen nie zum leben-
digen Bewußtjein kommen.
Es iſt gewiß nicht gerechtfertigt, wenn man für alle Schwächen und Ber:
irrungen der herrſchenden Bildung, ſei es auch nur auf intellectuellem Gebiete,
tie Schule allein oder doch vorzugsweiſe verantwortlihd machen will. Cs mag
richtig jen, daß, wer die Jugend hat, aud die Zukunft befige; aber vie
Schule befigt die Jugend nicht ausſchließend: fie muß die Herrjchaft über fie
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mit anderen Factoren theilen, welche fie zum Theil weit an Einfluß und
Wirkſamkeit übertreffen. Außerdem it vie Schule nicht allein ein Factor
ver Zufunft, jondern auch ein Proruct ver Vergangenheit und Gegenwart ;
und man kann billigerweife von ihr nicht verlangen, daft fie vorurtbeilsfrei
über die Gebrechen des Zeitgeiftes ſich erhebe. Mit ven Gymnaſien verhält
es fih aber etwas anders wie mit den übrigen Schulen: jie können ohne
Trage in hohem Grade verantwortlich gemacht werden für die wiſſenſchaft—
lihe Bildung der Zukunft. Freilich bängt ja dieſe auch nicht allein von
ihnen ab; fie wird ergänzt durd die Univerjität, das Privatſtudium umd das
Yeben. Den Gymnaſien kann die Schuld für die Verirrungen, welde durd vie
lettgenannten Factoren hervorgerufen find, nicht unbedingt aufgebürdet werten.
Wenn aber die wiffenfcaftlibe Bildung einer ganzen Generation oder eines
großen Theils derſelben Lüden zeigt umd am Einfeitigfeit leidet; wenn be-
ſtimmte Arten des Interefjes gar nicht erwedt find; wenn eine große Unge—
wandtheit in beſtimmten Arten des Denkens und des Forſchens in weiten Kreifen
verbreitet ift, troßdem daß es am dem nöthigen Material zur Abhülfe jener
Mängel nicht fehlt: jo trifft das Gymnaſium der gegründete Verdacht, in
einer oder der andern Beziehung feine Schuldigkeit nicht gethan zu haben.
Bon vielen ſolchen Unterlaffungsfünvden, welde man dem Gymnaſium mit
Net zum Borwurf machen fann, trägt aber das Phantom einer allge-
meinen intellectuellen Bildung, welde durd die Bejhäftigung mit einem
bejonderen Unterrichtsfache erworben oder doch ausgebildet werden könne, die
Schuld. Einer befferen Pſychologie ift es noch immer nicht gelungen, dieſes
Phantom zu vertreiben: man betrachtet die intellectuellen Thätigfeiten noch
immer als Ihätigfeiten eines einheitlichen geiftigen Organs, welches durch bie
Beihäftigung mit einem bejtimmten Gegenftande geübt und in den Stand
gejett werden könne, alle Gegenftände auf jede ihrer Natur entſprechenden Art
zu behandeln, Durd eine gründliche Beihäftigung mit ven alten Spraden
ſoll eine allgemeine formale Bildung erworben werben; in ihr foll ver
claſſiſch Gebilvete ein geeignetes Werkzeug zur Verarbeitung eines jeden be
liebigen Stoffes im Denken befigen; es braudt ihm nur ver Stoff gegeben
zu werden, und er ift vermöge jener formalen Befähigung im Stande, alles
aus ihm zu machen, was fih aus ihm machen läht, wenn er nicht wielleicht
jogar mit ihrer Hülfe den Stoff felbjt zu fchaffen vermag. Die jo erworbene
formale Bildung ſoll ihn befähigen, in allen Lebenslagen ſich zurecht zu finden
und in jeder Wifjenfchaft, nachdem er die etwa nöthigen pofitiven Kenntniffe
fi) erworben, mit günftigem Erfolge das von ihr verlangte Denken auszu:
führen. Selbft wenn dieſer Gedanke als theoretifh unbaltbar erfannt worden
ift, jo hat er damit feinen Einfluß auf die Praxis nicht verloren; obgleich auf
der andern Seite nicht verfannt werden fann, daß die Praxis oft genug dazu
genöthigt hat, feine Conjequenzen aus den Augen zu feten.
Die intellectuellen Thätigfeiten find aber feineswegs die Thätigfeiten eines
beftimmten Organs, welches über die vorhandenen BVorftellungen und Begriffe
verfügt und fie als ein verhältnißmäßig paffives Material verwendet ; jondern
außer jenen VBorjtellungen und Begriffen it nichts in der Seele vorhanden,
und alles, was fib im ihr ereignet, ift eine Folge von der Bejcaffenheit ver:
jelben und namentlich von der Art und Weife, wie fie mit einander verbumden
find. Der Anſtoß zu jenen Ereigniſſen wird durch die nen in die Seele ein
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tretenden Vorſtellungen gegeben, welche in das in ihr ſchon Vorhandene ein—
greifen ; da die pfychijchen Proceſſe aber nicht verlaufen können, ohne gewiſſe
begleitende Zuftände in den Organen des Yeibes hervorzurufen, jo ijt ihr Ver:
lauf aud in hohem Grade abhängig von der Organifation des lettern. Cine
ſchon erlangte intellectuelle Bildung erftredt jih daher zunächſt und unmittelbar
nicht weiter, als die Borftellungen und Begriffe reiben, auf deren georpneter
Berbindung fie beruht. Die grammatiſche Bildung erjtredt fi daher zunächſt
nur auf grammatiſche Gegenftände, die geometrifche nur auf geometrijche, die
ſprachliche nur auf die Sprade und zwar nur auf dieſe oder jene beitimmte
Sprade. Namentlih in zwei Beziehungen kann aber eine erlangte Bildung
weit über das Gebiet deſſen hbinausreihen, was ihren unmittelbaren Gegen—
ftand ausmacht. Zuerſt kann diejenige Bildung, welche auf einem beftimmten
Gebiete erlangt ift, eine nothwendige Bedingung jein, um fie aud auf einem
andern zu erwerben, oder ihren Erwerb auf diefem doch wejentlic erleichtern.
Sp ift ein über einen gewifjen Punkt hinausgehendes phyfifaliihes Studium
ohne mathematifche Borfenntniffe und Vorbildung nicht möglich ; Die durch Die
Beichäftigung mit der Geometrie gewonnene Ausbildung der Phantafie fir das
Räumliche erleichtert die Auffafjung geographifcher, aftronomifcher, mechanifcher,
ftrategifcher Verhältniſſe. Die durch das Erlernen einer Sprade erlangte
jprachlihe Bildung erleichtert das einer verwandten, ja, da gewiſſe Grund—
verhältniffe in jeder Sprade wiederfehren, das faft jeder andern. Selbſt
für ſehr weit abliegende ©egenjtände kann die auf einem beſtimmten
Gebiete erworbene intellectuelle Ausbildung wenigſtens Anknüpfungspunfte
durch entfernte Analogien u. dgl. darbieten. Außerdem kann aber aud durch
eine bejchränfte intellectuelle Ausbildung ein Intereſſe für eine allgemeinere
erwachen; es fann dadurch das Bedürfniß erwedt werben, fie auch im an—
deren Beziehungen zu erwerben; es kann das Gefühl hervorgerufen werben,
daß in jenen anderen Beziehungen noch etwas fehle, und das Gefühl des
Mangels ift ja oft genügend, dem Mangel jelber abzuhelfen. Wer auf dem
Gebiete der Mathematik einmal die Erfahrung gewonnen bat, daß man durd)
ein Die Erfahrung nicht unmittelbar benugendes Denken zur befriedigenden Er—
fenntniffen gelangen kann, der wird auch auf anderen Gebieten den Verſuch
dazu wagen; die auf dem einen Gebiete gewonnene Weberzeugung, wie ſorg—
fältig und wie vorfichtig man dabei verfahren müfje, wenn man fich wicht in
die gröbiten Irrthümer verlieren will, wird ihn aud auf jedem andern zur
Sorafalt und zur Vorſicht mahnen. Das eigenthümliche Gefühl ver Bündig—
feit einer Unterfuhung, welches man in der Mathematif noch am leichteften
gewinuen fan, wird in andern Fächern vermißt werden, und dazu antreiben,
auch in ihmen zu ihm zu gelangen. Gewiſſe Methoden des Denkens, welche
man in einem alle als erfolgreid) und befriedigend erprobt hat, wirb man
aud in anderen zur Anwendung zu bringen fuchen; es werben ſich Gewöh—
nungen bilden, auf eine beftimmte Weife im Denfen und Forſchen zu ver—
fahren. Endlich iſt es auch denfbar, daß durch eine tüchtige Verſtandesbildung
auf einem beſtimmten Gebiete eine gewiſſe Biegſamkeit des leiblichen Orga—
nismus erzeugt werde, die auch in anderen Fällen dem verſtändigen Denken
zu Gute kommt; ſo daß auf dieſem Wege etwas erreicht wird, was man in
gewiſſem Sinne eine allgemeine Berftandesbildung nennen könnte, was
wenigitend eine ihrer nothwendigen Borausjegungen bildet.
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Die Unterrichtsfächer, welche in unſeren Schulen als Bildungsmittel be
nutzt werden, zerfallen in zwei Gruppen, zu deren Bezeichnung es an recht
paſſenden Benennungen fehlt. Es möchte am geeignetſten ſein, die eine die
humaniſtiſche, die andere die realiſtiſche zu nennen; die der erſten
beziehen ſich wenigſtens unmittelbar auf das Geiſtige, alſo auf das eigentlich
Menſchliche. Zu den humaniſtiſchen Unterrichtsfächern gehören vor allen Dingen
tie Sprachen und alles, war mit dem Sprachſtudium in unmittelbarer Ber:
bindung Steht, außerdem die Gefcichte ; zu den realiftiichen die Mathematit
und die Naturwiffenjchaften. Die Geographie bilvet gleichſam ein Bindeglied
zwifchen beiden Gruppen: wenn ihre eine Seite auch den Naturwiſſeuſchaften
zugefehrt iſt, fo lehrt fie Dod auf Der anderen Seite den Boden fennen, auf
welchem tie menſchliche Entwidelung vor ſich gegangen ift, und macht mit den
Ergebnifjen verjelben bekam. Innerhalb jerer Gruppe kaun man wieder
Term und Inhalt, formale uud materiale Momente von einander
unterſcheiden. Das Grammatifche und Philologiſche, überhaupt das rein Sprad-
liche Kilvet Tas Formale der humaniſtiſchen Gruppe, Tas Gefchichtlihe und
das in der Sprade Ausgeprüdte, ver Inhalt der Yectüre Das Materiale ver:
felben. In der realiftiihen Gruppe gehören die Mathematif und allenfalls
ein Theil ter Mechanik dem Formalen, die Naturwiſſenſchaften dem Materialen
an. Wenn vdiefe Eintheilung auch am logiſcher Bräcifion viel zu wünſchen
übria läßt, jo wird fie doch zur Erleichterung des Ausdrucks in dem Folgenden
dienen können ; es iſt auch nicht nöthig, die Stellung der Philoſophie, ſoweit
fie für Schulen in Betradt fommt, und der Religionslehre in jener Ein
theilung näher anzugeben, da beide für ven Gegenſtand unferer Unterjucung
von geringerer Bedeutung jind.
In unjern Gymnaſien wurde bis auf die meuejte Zeit fait ausſchließend
Gewicht auf die humaniſtiſchen Unterrichtsfäher gelegt. Solde, in denen in
ter Mathematik etwas Nennenswerthes gelernt wurde, gehörten zu den Aus-
nahmen; nur in ganz jeltenen Fällen wol wurde in den Naturmwifienjchaften
etwas geleifter. Cine geranme Zeit hindurch trat dabei außerdem der forma:
Liftiiche Theil diefer Unterrichtsfächer ganz überwiegend in den Vordergrund:
die alten Schriftfteller wurben vorzugsweije als Gegenjtände für ſprachliche
Unterjuhungen betrachtet. Im gewiſſer Beziehung ift dieſes jelbjt noch jegt
ber Fall: wenn aud tie Zeiten vorbei find, in denen man es fait für einen
Nachtheil anjah, daß die alten Claſſiker überhaupt einen Inhalt bejäßen, und
am liebjten für die philologiſchen Unterſuchungen einen Stoff ganz ohne allen
Inhalt gehabt hätte, jo find doch für die Auswahl und die Unordnung der
Lectüre ſprachliche Rückſichten noch immer in erjter Yinie entjcheidend. Unter:
juden wir daher näher, was für intellectwelle Funktionen bei dieſen Unter—
richtsgegeuſtänden vorzugsweije zur Anwendung gebradt werden: wur vie
Vihigfeit zu diejen fann durch den genannten Unterricht ummirtelbar oder
mittelbar eine weitere Ausbildung erhalten.
Was die eigentliche Grammatik anberrifit, jo wurden und werben auch
noch in ihr zwar im der Regel die allgemeinen Begriffe und Kegeln gleichjam
ald ein poſitiv Gegebenes hingeftellt ; die einzige intellectuelle Operation,
welde im grammatiichen Unterrichte eingeübt wird, ift dann bie Anwendung
des To gegebenen Allgemeinen auf den bejonvdern Fall. Indeſſen tft vieles doch
nicht unumgänglich norhwendig: ihm kann auch die Aufgabe geitellt werten,
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das Allgemeine aus dem Beſondern durch Induction erſt abzuleiten. Man
nennt nun zwar die Naturwiſſenſchaften vorzugsweiſe inductive Wiſſenſchaften;
es iſt indeſſen gar keine Frage, daß ſie wenigſtens für den Schulunterricht,
daß wenigſtens Phyſik und Chemie bei weitem nicht jo oft Gelegenheiten zu
ſchwierigern Inpuctionen vdarbieten wie die Grammatik. Die allgemeinen
phyſikaliſchen Begriffe und Säge: der Begriff der Geſchwindigkeit, der Kraft,
der verjchiedenen Aggregatzuftände u. j. w., das allgemeine Gravitationsgeſetz,
die Übrigen Grundgejege der Mechanik und dergl. werben mwenigftens in einer
echt willenjchaftlihen Darftellung durch Debuction, wenigſtens nicht durd eine
logijche Yuduction gewonnen: der experimentelle, allerdings auf Induction ſich
gründeude Nachweis des Hebelgejeges z. B. ift doch kaum ein Nachweis zu
uennen. Der Sat, daß alle Körper ein Gewicht befigen, gründet ſich allerdings
auf Induction; aber diefe ift eine jo ungemein einfache, daß jie fait unbe—
wußt verläuft; und gerade in den Fällen, in denen die Begründung jenes
Sates wie bei der Luft, dem Yuftballon u. ſ. w. Schwierigkeiten darbietet,
find dieſe nicht durch eine rein logische Analyje, jondern nur durch eine Zer—
legung der betreffenden Vorgänge in ihre realen Elemente zu befiegen. Die
Begriffe des Yichts, der Wärme, des Magnetismus, der Clectricität entjtehen
!benfalls wicht durch Induction: es find anfangs höchſt unbeſtimmte Begriffe
von den Urjahen gewiffer Erjcheinungen, denen im Fortgaug der Unter-
juhung eine neue Beſtimmung nad) der andern hinzugefügt wird. Wenn es,
wie bei Licht und Wärme, gelingt, die anfangs unabhängig von einander da—
jtehenven Beſtimmungen als nothweudige Folgen aus einer Grundbeſtimmung
nachzuweiſen, die Erjheinungen des Lichtes z. DB. als Folgen beſtimmter
Schwingungen. des Aerhers, jo geichieht diefed wieder durch ganz andere Denf-
operationen als durch eine logiſche Induction. Zur Feititellung einer nature
wiflenjchaftlihen Ihatjache ijt eigentlich in der Kegel nur eine Beobachtung
erforderlidh: nur um die unvermeidlichen Fehler fortzuſchaffen oder wenn es
darauf anfommt, die Abbäugigfeit des Productes von einzelnen jeiner Factoren
in quantitativer Beziehung feitzutellen, z.B. den Zujammenhang zwiſchen dem
Marimum der Dampfdichte und der Temperatur zu ermirteln, müſſen ganze
Reiben von Beobachtungen angeftellt werden Wenn es wirklih auf weit
läufigere Inductionen anfommt, 3. B. bei der Feſtſtellung des Satzes, daß das
Gewicht eines Körpers feiner Maffe proportional ift, bei den ſtöchiometriſchen
Geſetzen, bei manden Fragen der Meteorologie und aus der Lehre vom Erb:
magnetismus u. |. w., jo Liegt die eigentliche Induction, durch melde das ge—
fundene Geſetz wifjenjchaftlich begründet it, denn doch ganz außerhalb ves
Bereichs des Schulunterrichts. Auf eine ähnliche Weiſe verhält es ſich mit
ven beſchreibenden Naturwifienfchaften. Für fie bat allerdings das inductive
Berfahren die allerhöchſte Bedeutung : fie find faft ganz em Ergebniß derjelben.
Wenn aber der Begriff des Säugethieres etwa auf die Weife gebildet wird,
daß einige wenige, möglichit weit von einander abliegende Säugethiere genau
bejchrieben ımd mit einander verglichen werden, jo mag diefes Berfahren jonft
nancherlei VBortheile gewähren: von der eigentlihen Bereutimg dev naturwifjen:
ſchaftlichen Induction giebt es aber nur eine fehr unvollftändige Vorſtellung.
Denn die wiſſenſchaftliche Brauchbarfeit eines durch fie gewonnenen Begriffes
beruht darauf, daß nicht allein jene wenigen beſchriebenen Thiere, fondern auch
noch eine ſehr große Anzahl anderer im feinem Umfange liegen; daß ibm
in
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außerdem eine Reihe anderer ähnlicher Begriffe coordinirt iſt, welche zuſammen
das ganze Thierreich umfaſſen; daß endlich die Weſen, welche in den Umfang
eines jener Begriffe fallen, nicht allein in den Merkmalen, welche in ihm auf—
genommen ſind, mit einander übereinſtimmen, ſondern ihrem ganzen Weſen
nad einander nahe ſtehen. Nicht felten liegt der Grund, aus welchem gewiſſe
Naturproducte zu einer Gruppe zufammengeftellt werden, gar nicht in den ihnen
allen zufommenvden gemeinfamen Merkmalen, jondern darin, dar fie ald Um—
formungen einer und derſelben Grundform angejehen werben fünnen oder daß
von einander ſehr verſchiedene Formen durch zwijchen liegende allmählich in—
einander übergehen. Die wahren Gründe für die Bildung jener Gruppen—
begriffe ergeben fi mithin gar nicht aus den Vorſtellungen ver wenigen Or:
ganismen, welde in dem Schulunterricht genauer in Betracht gezogen werten
fönnen, jondern aus der Ueberſicht über die Gejammtheit derfelben, jo daß
dem Schüler auch nicht einmal nachträglid ein einigermaßen volljtindiger Beweis
für die Zwedmäßigfeit der gewählten Induction gegeben werben fann. Die
Inductionen, welde für die Naturwifjenfchaften wahrhaft von Bedeutung find,
find demnach entweder jo einfah, daß fie nur wenig Lehrreiches barbieten,
oder jie fjegen eine Mafie von Material voraus, weldes die Schule weder
berbeifchaffen nod bewältigen fan. Man fanıı ſie daher im Schulimterrict
nicht wirklich ausführen laffen, ſondern höchſtens eine hiſtoriſche Nachricht von
ihnen geben, Für die Mathematif hat die Induction durchaus nur eine unter:
georpnete Bedeutung. Die eigentlihen Grundbegriffe, der der gewöhnlichen
Zahl, des Punktes, der Linie u. ſ. w. find durd eine Induction gebildet, welche
dem eigentlichen, mehr wiſſenſchaftlichen Unterrichte ſchon voraus gegangen tft.
Der legtere hat die ſchon gebildeten Begriffe nur zu reinigen und zu ideali—
jiren, 3. B. darauf hinzumeifen, daß bei einer Linie von ihrer Breite abgejeben
werden müſſe. Die Weberzeugung von der Richtigkeit Der Ariome geminut
nicht einmal der Schüler durch eine Induction, jondern fie entiteht in ihm
durch das Gefühl der Unmöglichkeit, daß es anders fein könne, wie das Artom
ed ausfagt. Das Uebrige ergniebt ſich alles auf dem Wege der Deduction,
wobei nur im ganz einzelnen Fällen, z. B. wenn ein Punkt in der zu unter
juchenden Figur verfdiedene Lagen haben kann, eine höchſt einfache Imduction
zu Hilfe genommen wird.
Auf dem Gebiete der Grammatik verhält es fih anders, Die gramma—
tifalifhen Grundbegriffe werden durch Definitionen fetgeftellt: ich bezweifle
aber jehr, ob durch jie der Sertaner oder aud jelbjt ver Duartaner eine
wirkliche Borftellung von der Sache erhält. Das Subject foll dasjenige Sat:
glied jein, von welhen in dem Sage etwas ausgefagt wird. Wenn num der
Sag: „der muthige Däger verfolgt den Yöwen“ vorliegt umd nad dem Subjecte
gefragt wird, Darf man es da dem Schüler übel nehmen, wenn er „den Löwen“
für das Subject erklärt? Denn von ihm wird ja gejagt, daß er von dem
Jäger verfolgt wird. Das Prädicat foll das von dem Subjecte Ausgejagte
angeben. Warum it nun „muthige“ fein Prädikat, da es doch aud etwas von
dem Däger ausfagt? Das Wort „ausjagen* iſt in jenen Definitionen offen—
bar in einem bejtimmmten Sinne genommen, welcher dem Schüler erſt klar ge—
worden jein muß, ehe er fie felbjt verjtehen kann. Erſt dadurch, daß er im
hunderten von Säten Subject und Prädicat beſtimmt, oder umgekehrt Säge
bildet, in denen ein beitummtes Subject oder Prädicat enthalten iſt; erſt
9
dadurch, daß er jenen Sag mit dem andern: „der Löwe wird von dem muthigen
Jäger verfolgt“ vergleiht, wird es ihm allmählich ar, was Subject, was
Prädicat ift, was in obigen Definitionen das Wort „ausjagen“ bedeutet: er
gewinnt demnach die fraglichen Begriffe aus einer auf fehr breiter Gruud—
lage ruhenden Imduction. Ganz ähnlid verhält es fih mit den grammati—
falifhen Regeln. Indem der Schüler die werfchiedenen Caſus eines Sub—
ftantivs mit einander vergleicht, kann er eine Regel aufjtellen, wie der eine
aus dem andern abgeleitet wird. Berfährt er nach derſelben Regel bei einem
andern Subjtantiv, jo findet er fie entweder ammwendbar oder nit. Dit das
(etstere der Fall, jo muß er eine Reihe anderer Subftantive auf ähnliche Weije
betrachten. Entweder gelangt er dadurch zur Aufftellung verſchiedener Regeln
für die Cafusbildung, wobei denn womöglich beſtimmte Bedingungen aufge-
funden werden müſſen, unter denen die eine oder die andere zur Anwendung
fommt, oder er jieht ein, daß es fib nur um Ausnahmen banvelt, welde
einzeln gemerft werden müſſen. Der Grund, aus weldem die Imduction- im
Spradunterrichte fih in weit ausgevehnterem Maßſtabe ausführen läßt als
im naturwifjenfchaftlichen, ift leicht einzufehen. Auf dem fprachlichen Gebiete
ift Das erforderliche empirifhe Material entweder ſchon ziemlih vollſtändig im
Befig des Schülers — fo namentlih in der Mutterfprade — oder es kann
ihm doc leicht gegeben werden, während die Herbeifhaffung dieſes Materials
auf dem naturwiſſenſchaftlichen feine großen Schwierigkeiten hat, ja oft geradezu
unmöglich if. Der Schüler kann oft die erforberfihen Beobachtungen gar
nidst ſelbſt anftellen, jondern er muß fich mit einem hiſtoriſchen Bericht über
die von andern angejtellten begnügen. Zu überjeben iſt freilich nicht, daß
auch auf fprachlihem Gebiete eine Hauptjahe dem Schüler gegeben werben
mur und faum von ihm jelbft aufgefunden werden kanu, nämlich die Zu—
jammenftellung des Materials, von der es abhängt, ob das grammati-
kaliſche Begriffsfyften auf diefe oder jene Weife gegliedert wird. Aber er
kann ſich doch wenigſtens nachträglih von der Zweckmäßigkeit des gewählten
Begriffsſyſtems überzeugen: indem man ihm die Aufgabe jtellt, die gefundenen
Regeln auf eine concife Weife in Worten auszubrüden, oder wenn der Lehrer
ihm, falls e8 dem Schüler felbit nicht gelingt, den concijen Ausdruck giebt:
jo ſieht er ein, wie dieſes nur Dadurch möglich wird, daß die grammatifalifchen
Beariffe auf eine beftimmte und feine andere Weiſe gefaht worden find.
Sind die allgemeinen Begriffe und Regeln im Unterrichte abgeleitet oder
aud vem Schüler gegeben, jo kommt es weiter darauf an, fie in den bejoudern
Fällen zur Anwendung zu bringen. Anwendungen des Allgemeinen auf das
Beſondere kommen nun in dem naturwiffenfchaftlichen und namentlich auch im
mathematiſchen Unterrichte faft bejtändig vor; die auf dem fprachlichen Ge—
biete umterjcheiden fi aber in einer Beziehung wejentlid von denen auf jenen
andern. Handelt es jich in der Mathematik um die Anwendung einer allge
meinen Regel, jo kann es eigentlich gar nicht zweifelhaft fein, ob und wie jie
zur Anwendung gebradıt werden muß; die Bedingungen für ihre Gilltigfeit
find jo beftimmt angegeben, daß gar fein Nachdenken erforverlich ift, um über
ihre Anwendbarkeit zu entſcheiden. Rechne ich z. B. mit algebraiichen Zahlen,
jo ift es allerdings möglih, daß ih an die Multiplicationsregel gar nicht
denfe oder fie faljch im Gedächtniß habe; ift beides aber nicht der all, jo iſt
es rein unmöglich, das Product zweier negativen Zahlen negativ zu jegen.
’ 10
Ganz anders verhält es ſich ſchon mit den einfachiten Regeln über den Ge—
braud des Dativs und Accuſativs. Gewiſſe Präpofitionen regieren den Dativ,
wenn fie in Verbindung mit einem Subjtantiv einen Ort, dagegen den Accu
fativ, wenn fie eine Richtung wohin angeben. Die Anwendung dieſer Regel
bat allerdings nur geringe Schwierigkeit und erfordert fein tiefer eingehentes
Nachdenken, wenn ränmliche Verhältniſſe im eigentlihen Sinne des Wortes in
Trage kommen. Das ift aber feineswegs immer der Fall: ſehr häufig handelt
es fih um Berhältnifje, welche ven echt räumlichen nur analog gedacht werten
follen. Da fann es denn recht zweifelhaft jein, wie die Analogie aufgefakt,
wie demnach die Regel zur Anwendung gebracht werden muß (z. B. „der
König herrſcht über fein Bolt“). Es wird nicht nöthig fein, an zuſammenge—
jegteren Beifpielen zu zeigen, wie die Anwendung oder Nichtanwendung einer
grammatiſchen Regel nicht allein von dem abhängt, was Har vor Augen Liegt,
jondern auch von entfernteren und verftedteren Beziehungen: es ift ja be
kannt, welde Schwierigkeiten im ſolchen Fällen ‚nicht blos die erften Anfänger
finden. Die Naturmiflenihaften stehen in der angegebenen Beziehung aller:
dings der Grammatik näher ; fie bieten aber überhaupt im gewöhnlichen Schul
unterricht dem Schüler weniger Gelegenheit zu jelbitänpigen Anwendungen
allgemeiner Regeln dar,
So find es denm hauptjächlich die folgenden intellectuellen Operationen,
weiche bei dem grammatifchen Unterricht zur Anwendung gebracht werden
fönnen: die Ableitung des Allgemeinen aus dem Beſondern durch eine auf
breiter Grundlage ruhende Induction; die concife Faſſuug der allgemeinen
Regel; die Aumwendung des Allgemeinen auf das Beſondere unter ſchwieriger
zu durchſchauenden Bedingungen. Es ift nun ſchon bemerkt, daß die Gemanbt-
heit in beitimmten Denfoperationen, welde auf einem einzelnen Gebiete er-
worben ift, nicht zugleih die auf jedem andern im ſich ſchließt. Aber indem
der Schüler fie anf einem einzelnen Gebiete ausführt, lernt er fie doch
tennen ; er lernt die Bedingungen kennen, umter denen fie allein richtig aus:
geführt werben fünnen; er lernt das eigenthümliche Gefühl des Genügens
kennen, welches die richtige Ausführung begleitet. Er wird zu dem Verſuche
veranlaft, fie auch auf andern Gebieten zur Anwendung zu bringen, und nicht
eher ruhen, als bis er auch auf diejen zu jenem Gefühle des Genügens ge
langt. Es liegt darin weniaftens das Motiv, eine durd den Gegenitand
weniger beſchränkte Fertigkeit in ihmen ſich zu erwerben ; und der Verſuch wirt
nicht jelten zu einem günftigen Erfolge, zu einer allgemeinen intellectuellen
Ausbildung in der gedachten Beziehung führen. Frägt man, welchen Berufs:
arten die eben beſprochene intellectuelie Ausbildung vorzugsweife zu Statten
fommen werde, jo it wol vor allen Dingen der des Juriſten zu nenuen;
außerdem in gewiller Beziehung der des VBerwaltungsbeamten. Aber jchon für
ven lettern in vielen feiner Geſchäfte, und nody mehr für den eigentlichen
Geſchäftsmann ift es weniger weſentlich, die allgemeine Kegel, wie unter ge
wiffen Umftänden gehandelt werden muß, zu abftrahiren und die ſchon feit-
ftehenten Ergebniffe ver Abftraction zur Anwendung zu bringen, als im jedem
befondern Falle durch ein unmittelbar auf ihn jelbit gerichtetes Nachdeuken
die geeianeten Mafregeln aufzufinden ; und dafür ift die befchriebene Art der
intellectuellen Ausbildung nur von geringem Nugen. Daß gerade die latel-
»
11
niſche Grammatik für fie von großer Bereutung iſt, mag übrigens bereitwillig
zugeſtanden werben.
Die allgemein bildende Kraft des formalen Spracdunterrichts liegt aber
nicht allein, ja nur zum Eleinern Theile in dem rein grammatiichen Theile
deſſelben. Jedes Wort einer Sprache bezeichnet einen Begriff oder wenigjtens
eine allgemeine Borftellung. Es gilt Das fogar von den Eigennamen, welde
zwar ein beſtimmtes Individuum bezeichnen, aber doch nicht in einer beſtimmten
Sage und im beftimmten Berhältniffen, jondern das Individuum überhaupt ;
es gilt aud von den jogenannten Formwörtern, welche die Begriffe von ge-
wiffen Beziehungen zwiſchen anderen Begriffen oder auch ihren Objecten be-
zeichnen. Was für Begriffe jemand befigt, welde Merkmale er in fie auf:
nimmt, in welchem Umfange er fie anwendet, das hängt, wenn auch nicht allein,
doch überwiegend von den Spraden ab, deren er mächtig iſt; im eriter Linie
von feiner Mutterfprade. Wie die Wörter einer Sprache abgeleitet find, das
ift nicht ohne Einfluß auf die Beveutung, auf das Gewicht, welches den ein—
zelnen in einem Begriffe verbundenen Merkmalen beigelegt wird. Durch die
in einer Sprache gebräuchlichen Conftructionen und Redeweiſen werden Be—
ziehungen zwiſchen den einzelnen Begriffen feitgeftellt: der Einzelne gelangt,
indem er die Sprache lernt, in den Beſitz defien, was die vergangenen Gene—
rationen durch Beobachtung und Nachdenken den Dingen abgewormen haben. Es
ift Daher nicht ſchwer, wie, meine ich, Goethe bemerkt, in einer gebildeten Sprache,
deren man Herr ift, über irgend einen Öegenftand zu reden und zu jchreiben:
fie verjchafft die Möglichkeit es zu thun, obme ſich vorher durch eigene Arbeit
in den Gegenſtand hineingearbeitet zu haben. Wer aufer jeiner Mutterjprache
einer zweiten Sprade mächtig iſt, der befigt daburd, wie man wol gejagt
bat, eine zweite Seele; genaner geſprochen: zu dem einen Begriffsſyſtem in
jeiner Seele wird nod ein zweites hinzugefügt. Aber Das nicht allem: in—
dem er aus der einen Sprade in bie andere überſetzt, wird er gezwungen,
beive Syſteme miteinander genau zu vergleichen; er wird dadurch erjt ber
Eigenthümlichfeiten eines jeden vollftändig inne, denn die Bejchaffenbeit eines
Dinges lernt man erjt durch Bergleihung mit ähnlichen und Durch die genaue
Unteriheivung von ihnen recht kennen. Das Begriffsſyſtem, wad in ver
Meutteriprace feinen Ausprud gefunden bat, gelangt erit durd das Erlernen
einer fremden zur jcharfen Ausprägung Es wird nidt nöthig jein, dieſes
genauer auszuführen, da an der bildenden Kraft des formalen Sprachunterrichts
in fachverftändigen Kreiſen überall Fein Zweifel herrſcht.
Eine andere Frage iſt es Dagegen, ob die allein auf diefem Wege ge-
wonnene Bildung eine foldhe tft, wie man fie wünſchen muß, ob fie nidt au
aewifien Mängeln und Cinfeitigfeiten leivet und deshalb eine Ergänzung von
anderer Seite her nothwendig fordert. Daß gerade in ımferer Zeit Die Fer—
tigfeit, ohne ein eigentliches Eingehen in die Sade über alle Dinge reden und
fchreiben zu fünnen, und den Mangel an Sachkenntniß mit ſchönen Worten
zuzubeden, weit verbreitet ijt und, wenn fie nicht ein Gegengewicht in einem
aründlichen pofitiven Wiffen findet, nicht gerade zu dem Lichtfeiten der modernen
Bildung gehört, it ſchon oft genng geſagt; es ift auch, namentlih von Sceibert,
nachgewieſen, daß eben deshalb die rein formale Gummafialbildung eine Er—
gänzung durch Die den pofitiven Gehalt bringenden Univerfitätsitudien noth—
wendig fordert. Für ven Zweck unferer Betrachtung iſt indeffen noch ein
12
anderer Umitand von Belana. Die rein ſprachlichen Studien, von denen bier
die Rede ift, haben es, foweit fie überhaupt über die Wörter hinausgehen,
allein mit den Begriffen zu thun, welcde die Wörter bezeichnen ; die ſprachlichen
Ableitungen werden beftimmt durd die Aehnlichkeit und den Zuſammenhang,
die ſprachlichen Conjtructionen dur die Beziehungen zwifchen ihnen. Die
Abftractionen aus den Anfcbamımgen des Wirflichen, aus denen die allgemeinen
Borftellungen bervorgegangen find, ſowie diejenigen Auffaflungen des Wirk:
lien, welde zur Aufitellung realer Beziehungen Beranlafjung gegeben haben,
werden im Ganzen umd Großen als abgemacht vorausgejetgt; nur im gan
jeltenen Ausnahmefällen wird im gewöhnlichen Spradunterriht auf das Wirk:
liche hingewiefen, was in dem Spradlichen feinen Wiederjhein und Ausorud
finde. Man redet z. B. von einem Caufalverhältnik, führt aber nur ſolche
Beifpiele dejlelben an, welde dem Schüler fo ſchon aus feinem gewöhnlichen
Leben geläufig find. Es ift das gewiß auch im Allgemeinen zu billigen; denn
wenn man den Anfänger mit der Sprache bejcäftigt, ſoll man ihm nicht mit
ſachlichen Schwierigkeiten beläftigen. Dadurch treten aber die Begriffe und
das an fie ſich amfnüpfende Denfen immer mehr in den Vordergrund; Das
Keale, auf welches fid jene Gedanken beziehen und durch welches fie eigentlich
erst ihre Bedeutung erhalten, tritt für das Bewußtſein immer mehr zurüd.
Die Gedanfen werden allmählidy für das wahrhaft Reale, für das die gemeine,
ſchlechte Wirklichkeit Beſtimmende aebalten, denen leßtere unweigerlidy jich fügen
muß. Aebnlichfeiten und Berfchievenheiten der Beariffe werden ohne weiteres
für reale Aehnlichfeiten und Verſchiedenheiten erflärt; fowie die Begriffe in
einander übergehen und auseinander folgen, jo follen auch die Dinge in einander
übergehen und auseinander folgen. Da für unfer vergleihendes Denken das
Farbige ein Mittleres ift zwiichen dem Bellen und dem Dunkeln, jo ſoll aud
die Farbe jelbft eine Mifhung von Hell und Dunkel fein. Welchen Scharen
3. B. die Pſychologie dadurd gelitten hat, daß man in ihr logiſche Zerlegungen
und Zujammenfegungen der Begriffe von den geiftigen Thätigfeiten für veale
Zerlegungen und Berbindungen der Borgänge jelbft aehalten bat, it befannt
genug. Die Gedanken finden ihren Ausprud in Worten, ja es ſcheint jo, ale
wenn fie den ſprachlichen Ausprud aus fich felber hervorgehen liegen, als wenn
fie felber fi ihm ſchüfen. Sie gewinnen dadurch eine Art von Wirklichkeit,
eine Art von Realität ; man braucht nur einen Schritt weiter zu gehen und
man gelangt zu der Meinung, als wenn der Begriff das in ihm Begriffene,
die Idee das von ihr Geforderte ſchon in fich trüge, es obme weitere Ber:
mittelung gleich mit fi bringe. So wird durd jene rein formalen huma—
niſtiſchen Studien der Anſchauungsweiſe eine Stätte bereitet, nach welcher das
reine, jcheinbar von der Erfahrung ganz unabhängige, ja vorausjegungsloie
Denken das allein Entſcheidende, dasjenige ift, was nicht mur zur Erlangung
einer wiſſenſchaftlichen Erkenntniß vollkommen ausreicht, fondern aud allein zur
eigentliben Wifjenichaft führen kann. Aehnlichkeiten und Verſchiedenheiten ver
Deariffe werben als reale Beziehungen zwijchen den Dingen betrachtet; burd
rein logiſche Analyjen glaubt man eine Einfiht gewonnen zu haben in die reale
Zufammenjegung des Wirkliben. Die Abhängigkeit und der Zuſammenhang
unferer Gedanken wird für ein getreues Abbild der Abhängigkeit und des Zus
jammenhanges der Dinge gehalten ; ift es gelungen, einen Begriff aus anderen
abzuleiten, jo wird es für überflüjfig erflärt, nun aud weiter nachzuforſchen,
13
unter welchen Beringungen fein Gegenftand ein wirklicher werden könne. „Jeder
Act des Willens iſt jofort und unausbleiblid eine Bewegung des Leibes.“ —
„Zähne, Schlund und Darmfanal find der objectiwirte Hunger.“ — „Cs
müßte jonderbar zugehen, wenn das Innerſte des Geiſtes, der Begriff, oder
auch wenn Sch, oder vollends die concrete Totalität, welche Gott ift, nicht
einmal jo reid, wäre, um eine fo arme Beftimmung, wie Sein ift, ja welde
die allerärmjte, die abftractefte ift, im jich zu enthalten.“ Die Idee iſt
niht „jo ohnmächtig, um nur zu follen und nicht wirklich zu fein“. |
Es ijt überflüſſig, an einzelnen Beijpielen nadyzuweifen, weldyen Einfluß
diejes Beitreben, das Wirkliche durch ein fogenanntes reines Denfen zu erfennen, in
der Entwidelung des Wirflihen nur einen Wiederſchein der Entwidelung der
Begriffe zu erbliden, feiner Zeit auf die deutſche Wiſſenſchaft ausgeübt hat.
Die ganze Fichte-Scelling-Hegel’ihe Philofophie mit ihren zahllojen Aus-
läufern und Epigonen ift ja ein fortlaufender Beweis davon, und aud im
nicht philoſophiſchen Wiſſenſchaften it oft genug der Verſuch gemacht, ben
Verlauf der Begebenheiten auf das fortwährende Uebergehen eines Begriffs
in jein Gegentheil und die Wierervereinigung der beiden Gegenſätze zurüd-
zuführen oder auf irgend. eine andere Weije in ihr nichts weiter als bie
logiſche Entwidelung eines Begriffs zu erbliden. Dem überwiegend natur-
wiſſenſchaftlich Geſchulten erjcheint ein joldhes: Beginnen rein unverjtändlid) ;
er begreift gar nicht, was die, welche jo verfahren, eigentlih wollen; er muß
fi dann freilic den Vorwurf gefallen laſſen, er jei in ſchlechter Verſtandes—
reflerion befangen, welche die Abjtractionen in ihrer Einfeitigfeit feithalte und
nit im Stande. jei, zum concreten Begriff und zur Idee fich zu erheben.
Dem realiſtiſch Geſchulten ift das Wirkliche etwas Selbjtändiges, von allen
Begriffen und Ideen zunächſt und unmittelbar durdaus Unabhängige. Was
in dem Wirklichen geſchieht oder zu geſchehen ſcheint ift allein eine Folge des
jelbjtändig Seienden und der Beziehungen der einzelnen Seienden zu einander.
Alle unſere Gedanken, Begriffe und Ideen haben rein als foldye feinen Ein-
fluß auf das, was in Wirklichkeit ift und geſchieht; nur infofern fie Gedanken
und Begriffe und Ideen wirfliher Wejen find, welche ebenfalls in Beziehungen
zu anderen wirklichen Weſen ftehen, vermögen fie einen beftimmenden Einfluß
auf den Berlauf der Begebenheiten auszuüben. Ja im Grunde und im
Wahrheit jind jie gar nicht, wenn fie nicht innere Zuſtände wirklicher Wejen
oder Ereigniffe in ihnen find. Es fommt bier für uns nichts darauf an,
ob dieſe realijtiiche Anſchauungsweiſe richtig ift und die volle Wahrheit ent-
hält ; es genügt für unjeren Zwed die Thatſache, daß fie eine weit verbreitete,
in weiten reifen herrſchende ift.
Nod einige andere Mängel oder — wenn man den mildern Ausorud
vorzieht — Eigenthümlichkeiten der deutichen Wiſſenſchaft erflären ſich aus
der überwiegend philologiihen Erziehung der wiflenichaftlidh Gebilveten. Die
Vorftellungen und Begriffe, weldye durch die Wörter einer Sprache bezeichnet
werden, find, wenigftens wenn fie zu einiger Abftraction ſich erheben, nad)
Umfang und Inhalt feineswegs feit beitimmt, fondern daſſelbe Wort kann oft
genug im engerer ober weiterer Bedeutung genommen werden. Ja nicht jelten
werben ganz verjchiedene Begriffe dur ein und dafjelbe Wort bezeichnet, und
es find oft nur jehr entfernte Analogien, jehr vervedte Beziehungen, welche
der Gleichheit der Benennungen zur Rechtfertigung dienen. Man venfe nur
—
an die verſchiedenen Bedeutungen, welche die Wörter „Subject“ und „Objeet“
in verſchiedenen Wiffenfchaften, ja im emer und berjelben befigen. Daſſelbe
gilt für die Begriffe der Beziehungen, welche in den verjchiedenen ſprachlichen
Formen ihren Ausdruck finden. An und für ſich liegt darin fein Nachtbeil,
es ift vielmehr nicht felten gerade in dieſem Umſtande die Anwendbarkeit der
Sprache begründet. Im jedem befonderen alle wird durch den Zuſammen—
bang der Rede der Sinn und die Bereutung bejtimmt, in welden ein Wort
oder eine Conftructton genommen werden foll; man würde oft genug das,
was man ausdrücken will, gar nicht oder doch nicht mit hinreichender Feinheit
auspritden können, wenn nicht die Bedeutung der Wörter und Conjtructionen
eine gewiſſe Unbeftimmtheit ımd Biegſamkeit beſäße. Der eigenthümliche Reiz
einer Rede beruht gerade zum großen Theil darauf, daß fie nicht allein Die
eigentlich ausgeiprohenen Hauptgevanfen in uns hervorruft, ſondern daß aud
mancherlet Nebengedanfen neben ihnen anflingen. Das wird aber nicht zum
wenigiten eben dadurch bewirft, daß die Begriffe erſt in weiterer oder engerer
Bedeutung genommen werden, als es jchließlich geſchehen ſoll; ja, daß jtatt
des eigentlich aufzufafienden Begriffs erit ein anderer, mit ihm in engerer oder
weiterer Beziehung jtehender zum Bewußtjein fommt. Nicht felten wird auch
der Uebergang von einem Gedanfen zu dem andern durch ſolche dem ſprach—
(ihen Ausdruck anflebende Nebenbeveutungen und Unbeſtimmtheiten auf eine
paffende Weife vermittelt. Wer ſich aber lange Zeit ausjchlieklih mit ſprach—
lichen Studien beichäftigt, deſſen Begriffe befommen dadurch leicht eine gewiſſe
Unbeftimmtheit und Biegfamfeit, die allerdings keineswegs geradezu als ein
Fehler betrachtet werden dürfen: der eine Begriff verwandelt ſich ihm unter der
Hand in den andern, und bei dem überwiegenden Werth, welchen er anf Das
Sprachliche legt, wird er fogar vielleicht dazu verleitet, das für iventifch zu‘
halten, was in ihm denſelben Ausorud gefunden bat. Wenn jo etwas nict
möglich wäre, jo würde Kant ſchwerlich auf feinen. befannten Paralogismus
gekommen fein, in deffen einer Prämiffe das Wort „Subject“ etwas bezeichnet,
dem Präpdicate beigelegt werben, während es in der andern das Denfende oder
Borftellende bedeutet. Hegel Ipielt mit dem Worte „Aufheben“, welches bald
„Aufbewahren“, bald „Vernichten“, oder auch wol beides zugleich bezeichnen
fol. Indem jedes von zwei Entgegengejegten, das Aufheben feiner jelbjt und
des Entgegengejegten jein joll, „aehen fie zu Grunde; das Eine, welches
jo ſich und fein Entgegengefegtes in fih enthält, ift demmad dev Grund“.
Welcher Mifbrauh mit den Worten „Organismus“ ımd „Leben“ getrieben
iſt, iſt bekannt genug: ſie find in folder Ausdehnung angewendet, daß das
ganze Weltall als ein Organismus betrachtet, auch dem todten Steine Yeben
zugefchrieben wird, haben damit aber alle und jede beitimmte Bedeutung ver:
loren. Die Wanvelbarfeit der Beariffe wird dabei auf die Dinge felbit über:
tragen, jo daß auch dieſe als in einem bejtändigen Uebergehen in Anderes
begriffen angefehen werten. Dem gegenüber find dem Realismus die Dinge
etwas durchaus Feſtes ımd am umd für fich Unveränverliches: Alles ift, was
es ift, und bleibt es jo lange, bis es durch Das Hinzutreten eines Andern zu
einer Beränderung gezwungen wird. Gr fühlt fich erit dann befriediat, men
er feine Begriffe, nad dem Mujter ver mathematifchen, zur vollen feiten Be—
jtimmtheit gebracht. hat, jo daß über ihren Inhalt und Umfang fein Zweifel
mehr jtattfinden kann. Diejelbe fefte Beftimmtbeit fchreibt er audh dem Was
—
zu, welches iſt: eine Beränderung in dieſem Was erſcheint ihm erſt dann be—
greiflich, wenn er die Urſache derſelben in einer veränderten Beziehung zu
einem andern Seienden aufgefunden hat.
Es giebt Begriffe, welche eine Beziehung zu irgend etwas Auderem noth—
wendig im fich jchließen, von denen die Beziehung zu jenem Auderen einen
weſentlichen Beſtandtheil bildet, fo daß jie alle und jede Bedeutung, allen und
jeven Sinn verlieren, wenn man fie von jener Beziehung Loszulöfen, wenn
man jie für fih allein zu betrachten verſucht. Zu ihnen gehört vor allen
Dingen der Begriff des Seins, welder nur eine Bedeutung befigt in Bezug
auf etwas, was ift: das reine Sein ohne ein Seiendes iſt ein reiner Un—
gedanfe. Es gehört zu ihnen der Begriff der Negation, der nur einen Sinn
hat in Bezug auf etwas, was verneint, was ausgejchloffen wird; ferner der
der Grenze, der ſich bezieht auf Das, was, und auf ein anderes, wogegen es
begrenzt wird, und noch manches andere. In der Spradye werden aber auch
ſolche Begriffe durch ein bejonderes Wort bezeichnet, nicht blos durch Beugungen,
welde an andern Wörtern ausgeführt werden. Wer nun daran gewöhnt ift, feine
Aufmerkſamkeit überwiegend auf den ſprachlichen Ausdruck zu richten, der ver-
fallt leicht in die Täufhung, daß die Begriffe ebenjo ifolirt gedacht werden
fönnen, wie man bie Wörter ifolirt ausſprechen oder jchreiben fann; er meint,
jene Wörter behielten auch dann noch einen Sinn, wenn fie allein und von
jeder grammatiſchen Verbindung losgeriſſen daftehen. Es fünnte fcheinen, als
wenn eime jolde Täuſchung unmöglid wäre; es mag Deshalb nicht überflüſſig
jein, die Möglichkeit und Wirklichkeit derjelben an einem eclatanten Betjpiele
nachzuweiſen. Hegel verlangt im Anfange jener Logik, man folle ſich das
reine Sein denken; alſo nicht etwa dieſes oder jenes, welches it, jondern
das Sein für fi allein ohne ein Seiendes; er verlangt aljo das, was oben
für unmöglich erklärt wurde. Indem jo aus dem Gedanken des Seins alles
Seiende ausgeſchloſſen ift, bleibt offenbar an deſſen Stelle Nichts übrig;
Heel bat alfo ganz recht, wenn er das reine Sein für einerlei mit dem
Nichts erklärt, vielleicht hätte er indeſſen genauer jagen jollen, das reine
Sein iſt einerlei mit dem Nichts-ſein. Diefe Einheit des Seins mit dem Nichts
fell num das Werden fein. Im den Begriff des — abfoluten — Werdens
liegt nun allerdings, daß an ver Stelle, wo früher Nichts war, jet Etwas
ft; im Augenblide des Werdens füllt das Etwas mit dem Nichts zufammen ;
man kann infofern jagen, das Werden ſei die Einheit des Etwas-ſeins mit
dem Nichts=jein. Zu diefer Einheit iſt aber offenbar Hegel nicht gelangt,
jondern nur zur Cinerleiheit des Seins ohne Etwas, was tft, mit dem Nichts-
jein, die allerdings nicht zu leugnen, aber nichts weniger als ein Werden ift.
Da aber das Sem nicht gedacht werben kann ohne ein Seiendes, jo ſchiebt
ſich nur zu leicht Der Gedanke des Etwas-ſeins an die Stelle des Nichts-
jeins: Daher jene Täuſchung. Es mag hierbei bemerft werden, daß auch das
Nichts zu den Begriffen gehört, welde ohne Beziehung auf etwas Anderes
keine Bedeutung befigen. Nichts an und für ſich allein kann man jich nicht
denfen: es fehlt ja an jedem Gegenjtande für das Denken. Man muß fich exit
Etwas und diejes Etwas wieder wegdenfen, wenn man zum Begriff des Nichts
gelangen will: das Nichts kann nur gedacht werden in Bezug auf ein vorher
gedachtes Etwas. Die Definition der Mathematiker: o—=a—a hat ihre gute
Bedeutung.
Ballauff, Humanismus und Realismus. 2
16
Es ift jest noch ein fehr wichtiger Unterfchied hervorzuheben, welder
zwifchen der auf bumaniftifcher und der auf realiftifher Schulung ruhenden
Weltanfhauung fid geltend macht. Er bezieht ſich auf die Unterſcheidung
zweier Arten von Naturgefegen, welche zwar fo in die Augen fallend ift, daß
fie faum bat überjehen werden können, aber doch vielleicht nicht jo beachtet
wird, wie fie es verdient; wenigftens hat fie, foviel mir befannt, noch feinen
Ausdruck in bejtimmten Benennungen gefunden. Sie tritt 3. B. hervor, wenn
man bie Keppler'ſchen Gejege mit der Newton’schen Herleitung derjelben ver
aleiht. Die Keppler'ſchen Geſetze enthalten gewiſſe Regeln, nach denen vie
Planeten bei ihren Bewegungen um einen Gentralförper fich richten, verſchaffen
ung einen bis auf einen gewiſſen Punkt genau beftimmten Begriff von ihnen. Wir
benugen fie, um den Erfolg jener Bewegungen im Boraus zu beftimmen: wır
erwarten demnach, ja wir jtellen gewiffermaßen die Forderung, daß die Planeten
in ihren Bewegungen ihnen gehorchen. Die den Keppler'ſchen Geſetzen ge—
borchenden Erſcheinungen bedürfen aber nody einer Erflärung; und dieſe be-
fteht darin, daß man die einfachen Vorgänge nachweiſt, durch deren Verflechtung
der zufammengefegte Vorgang, für welchen fie gelten, entfteht. In unferem
Beifpiele ift diefe Erklärung bekanntlich vollftändig geleiftet: die elliptifche Be—
wegung der Planeten entiteht durch die Verbindung zweier einfacheren Be—
wegungen, von denen die eine dem Planeten an und für fich zufommmt, die
andere dagegen nad) einem Centralförper hin gerichtet und von den Beziehungen
zu diefem abhängig iſt. Für diefe beiden Bewegungen gelten aber wieder be
ftimmte Geſetze: das der Trügheit und das Gravitationsgejeß. Die Keppler'ſchen
Geſetze und die für jene einfachen Vorgänge geltenden gehören indeffen zu zı6et
verfchiedenen Arten von Naturgefegen, zwiſchen denen fich mehrere, ſehr be—
merfenswerthe Unterfchiede finden; da es, mie fchon bemerft, an einer all
gemein angenommenen Benennung für diefe beiden Arten von Naturgejegen
fehlt, jo mögen bier die erften hiſtoriſche, die legten phyſikaliſche
Geſetze heißen.
Die phyſikaliſchen Geſetze geben allgemeine, aber möglichſt beftimmte und
genaue Darftellungen deſſen, was ımter gewifjen gegebenen Bedingungen immer
und unweigerlich ift oder geſchieht. Verſteht man unter einem Geſetze eine
Vorſchrift, welche ein Sollen in ſich ſchließt, ſo kann man ſie eigentlich gar
nicht „Geſetze“ nennen; denn man kann nicht vorausſetzen, daß die Möglichkeit,
und noch weniger, daß die Neigung vorhanden wäre, von ber in ihnen aus—
aefprodenen Regel auch nur im mindeften abzumeihen. Es kann nicht von
einem Sollen, ja nicht einmal von einem Müſſen bei ihnen die Rede jein:
das in ihnen Ausgefprocdene ift und geſchieht, wenn die vorausgefegten Be»
dingungen vorhanden find, ohne Widerſtreben und ohne die Möglichkeit irgend
einer Abweichung. Es liegt in ihmen fein Imperativ, ſondern fie enthalten
nur eine Erfenntniß deſſen, was unter bejtunmten Berbältniffen iſt oder ge
ſchieht. Cie gelten ohne irgend eine Ausnahme und, wenn fie überhaupt voll:
ftändig richtig find, mit abfolnter Genauigkeit. Befigt einmal ein Körper eine
gewiſſe Bewegung und wirft nichts auf ihn ein, jo weicht er niemals und
nicht im mindejten von feiner anfänglichen Richtung ab, und ebenſowenig tritt
jemals auch nur die gerinafte Veränderung feiner anfänglichen Geſchwindigkeit
ein. Mit dem Gravitationsgefege könnte es fich allerdings etwas anders ver-
halten. Es wäre möglich — ja es ift jogar wahrſcheinlich —, daß wir es
17
bei ihm nicht „mit einem wahrhaft einfachen VBorgange zu thun haben; es wäre
möglich, daß die Gravitation nod von andern Umftänden abhinge, als von der
Entfermung und der Größe der einander anziehenden Mafjen, indem and ihre
Qualität einen allerdings verſchwindend Heinen Einfluß auf jie haben könnte;
es märe denkbar, daß aud das Gefer von der Abnahme der Anziehung mit
dem Quadrat der Entfernung nicht abfolut richtig wäre. Geben wir ed aber
als richtig voraus, fo erfolgt wieder die Verbindung der beiden Bewegungen
des Körpers zu einer ausnahmslos und abjolut genau nad dem Gefege von
Barallelogramm der Bewegungen. Ganz anders verhält es ſich mit ben hifto-
rifhen Gefegen, zu denen hier aud die Keppler'ſchen Geſetze gerechnet werben.
Unter einem Planeten fünnen wir einen Weltförper verftehen, der durch eine
gewiffe urfprünglich in ihm liegende Bewegung und durch die Gravitation zu
einem Centralförper von überwiegender Maſſe zu einer Umfreifung des letztern
beftimmt wird. Durch dieſe Erklärung find gewiffe Beringungen feitgeftellt,
welche für den Begriff des Planeten weſentlich find: ift ihnen bei einem Welt-
förper genügt, jo werden wir ihn zu den Planeten zählen. In jedem befondern
Falle treten aber noch andere die Bewegung bedingende Umftände hinzu, welche
als nicht wefentlih für den Begriff eines Planeten betrachtet werden. Wären
blos jene weſentlichen bedingenden Umjtände vorhanden, fo würden die — in
einem Punkte veränderten — Keppler'ſchen Geſetze nothwendig und mit ab-
foluter Genauigfeit für die Bewegung des Planeten gelten. Da aber aud)
noch andere Umftände — die Anziehung anderer vorhandener Weltförper, viel-
leicht auch ein widerftehendes Mittel oder andere, etwa magnetische, Anziehungen
— auf fie einwirfen:: jo finden Abweichungen von jenen Geſetzen ftatt, von
denen einige jo bedeutend find, daß fie als Störungen einen bemerfbaren Ein—
fluß auf den Berlauf der Erjcheinungen ausüben. Ja es wäre denkbar —
obaleich dieſer Fall in unferem Planetenſyſtem nicht vorfommt —, daß dieſe Ab-
weihungen jo bedeutend wären, daß Die Keppler'ſchen Gefege auch nicht einmal
ald annähernd richtig betrachtet werben fünnten, fie würden dann aud nicht
einmal ein ungefähres Bild vom wahren Berlauf der Erſcheinungen liefern:
wir würden in diefem Falle eine Ausnahme von jenen allgemeinen Geſetzen
für die Planetenbewegungen zugeben müfjen. Ebenſo ift in jedem Samenforn
ein gewifier Kreis von Beringungen eingefchloffen, in denen, wenn günftige
äußere Umſtände hinzutreten, die Beranlaffung zur - Entwidelung einer Pflanze
enthalten ift. Stimmen mehrere Samenförner binfichtlic der im ihnen ein—
geichloffenen Entwidelungsbedingungen genau mit einander überein, jo werben
die aus ihnen hervorgehenden Pflanzen zu einer Art geredinet werben müſſen,
und ed werden für diefe Pflanzenart gewiſſe hiſtoriſche Gefete in Bezug auf
ihren äußeren und inneren Bau, auf die im ihnen fich bildenden Stoffe, auf
ihre Lebenserſcheinungen u. f. w. fich ergeben, welche gültig find, jo lange die
Schwankungen in den mitwirfenden äußern Umjtänden eine gewifje Grenze nicht
überfchreiten. Aber dieſe Grenze kann überfchritten werden, ohne daß doch die
Entwidelung der Pflanze unmöglich gemadt wird, es werben fid dann Aus—
nahmen und Abweichungen von den für die Pflanzenart gültigen Geſetzen zeigen.
Ja, aud die einzelnen Samenkörner werden, was den im ihnen eingejchloffenen
Kreis von Bedingungen anbetrifft, feineswegs in voller Uebereinftimmung mit
einander ſich befinden ; aber Die fich zeigenden Abweichungen find doch vielleicht
zu unbedeutend, als daß man ihretwegen die Pflanzen verfciedenen Arten zus
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zählen könnte. Es kann demnach Abweichungen und Ausnahmen von den für
die Pflanzenart geltenden hiſtoriſchen Geſetzen geben, melde nicht der Ver:
ſchiedenheit der mitwirfenden zufälligen äußeren Umſtände, jondern Unter-
fhieden in den urjprünglicen Keimen ihren Urjprung verdanken. Freilich
verliert dadurch der Umfang, innerhalb deſſen ein bejtinuntes Geſetz Gültigkeit
befigt, jeine feften Grenzen: e8 fommt dann darauf an, Das ganze Begriffe:
ſyſtem jo zu gliedern, daß man mit möglichjt wenigen und möglichſt einfachen
Geſetzen die Geſammtheit des Wirkliben umfaffen kann, dar möglichſt wenig
Abweichungen und Ausnahmen von ihmen ſich finden. Die hiſtoriſchen Geſetze
erhalten jo einen, man könnte jagen, idealen Charakter: jie enthalten die For—
derung, daß das Wirklihe genau umd in allen Fällen nach ihnen fich richte,
ohne daß diefer Forderung doch nothwendig Genüge zu geſchehen braucht ; eine
Abweichung von ihnen, eine Nichtbefolgung derjelben iſt möglid. Sie fin
deshalb Geſetze im eigentlihen oder engern Sinne des Wortes.
Daß die humaniftifchen Studien faſt allein auf die Erforfchung der hiſto—
riſchen Gejege fich bejchränfen müfjen und nur im einzelnen Ausnahmefällen
auf die der phyſikaliſchen ſich einlaſſen können, tft jo einleuchtend, dag es kaum
eines näheren Nachweiſes bedarf. Die Entmwidelung des Sprachlichen iſt em
jo complicirter Vorgang, die Zahl der ſich in ihr verflechtenden pfychiſchen und
phyſiſchen Proceſſe ift eine jo unermeßliche, dieſe Proceſſe jelbit jind theilweiſe
uns noch ſo unbekannt und die Verflechtung ſelbſt eine ſo verwickelte, den
Verlauf der einzelnen Fäden verhüllende, der Einfluß zufälliger mitwirkender
Umſtände ein ſo bedeutender, daß man froh ſein muß, wenn es nur gelingt,
den Verlauf der äußern Erſcheinungen aufzufaſſen und ihn einigermaßen genau
und vollſtändig beſtimmten hiſtoriſchen Geſetzen unterzuordnen. Das Gleiche
gilt von dem eigentlich Geſchichtlichen, wenn die Auffaſſung des Geſetzlichen
in der hiſtoriſchen Entwickelung der Dinge innerhalb des eigentlichen Schul—
unterrichts überhaupt eine Stelle finden kann; und wenigſtens zum großen
Theil auch für das Geographiſche. Dazu kommt denn noch, daß auch die
Schriftſteller, welche zur Lectüre benutzt werden, wenn ſie auf das Geſetzliche
in den Erſcheinungen ſich einlaſſen, doch auf die hiſtoriſchen Geſetze ſich be—
ſchränken, und nur ſelten das Geſchehende in ſeine Grundvorgänge zu zerlegen
und die phyſikaliſchen Geſetze der letztern zu erkennen verſuchen; machen ſie
aber auch wirklich einmal einen Verſuch dazu, ſo geſchieht es doch faſt immer
auf eine Art und Weiſe, welche mit der jetzt herrſchenden Anſchauungsweiſe
durchaus unvereinbar iſt. Es iſt daher fein Wunder, daß durch den huma—
niſtiſchen Unterricht das Bedürfniß, das Zuſammengeſetzte in ſeine Elemente
zu zerlegen und die letztern auf eine feſte und beſtinunte Weiſe aufzufaſſen,
- gar nicht wacdgerufen wird; es wird jo die Anficht ausgebildet, daß mit der
Auffaſſung der biftoriihen Gejege für das Wirflicde die Erkenntniß dejjelben
vollendet jei. Nur jo dürfte die Mißachtung der großen Verdienſte Newton's
um die Erflärung ver Planetenbewegungen, weldye ſich bei Hegel findet, zu
erklären fein: Newton’s Ableitung der Keppler'ſchen Gejege aus dem Gravi—
tationsgejege wird ja von Hegel ald ein. mathematiſcher Yurus betrachtet, ver
böcitens der Rechnung einige Dienfte leiften kann, aber die Einſicht in das
eigentliche Wejen des VBorganges nur verdunfelt. Es mag noch daran erinnert
werden, daß auch Goethes gewiß nicht zu unterſchätzende naturwiſſenſchaftlichen
Verdienſte auf vie Feititellung ver hiſtoriſchen Geſetze der Erſcheinungen ſich
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beihränfen : die eigentlih phyſikaliſche Erklärung der vorliegenden Thatjachen
iheint ihm jogar widerwärtig geweſen zu fein.
In der oben gegebenen Auseinanderfegung der Unterſchiede zwiſchen ber,
wie wir der Kürze wegen jagen wollen, bumaniftiichen und realiſtiſchen wiſſen—
ihaftlihen Weltanſchauung find vorzugeweife die Mängel der erfteren hervor-
gehoben worden. Es iſt imdeflen keineswegs die Memung, daß die huma—
niftifchen Studien etwa genen die realiftiichen in den Hintergrund treten follten:
aus andern Gründen, die hier wohl als bekannt vorausgefetst werden können,
ergiebt fih vielmehr, daß bei einem Yugendunterricht, welcher erziehenp wirken
foll, auf fie immer das Hauptgewicht gelegt werden müſſe. Aber auch ſchon
aus dem im diefem Auflage feftgehaltenen Gefichtspunfte ergeben ſich gewiſſe
Mängel der rein realiftiihen Bildıma, melde die Befchränfung auf fie oder
auch nur eine einfeitige Hervorhebung derſelben verbieten: dieſe mrüflen daher
zumächft hier einer nähern Unterfuchung unterzogen werben,
Wir fünnen an den zulest erwähnten Punkt, an den Unterſchied zwiſchen
hiſtoriſchen und phyſikaliſchen Geſetzen anknüpfen. Wenn das hiftorifche Geſetz
einer Erſcheinung feſtgeſtellt iſt, ſo liegt noch immer die Aufgabe vor, ſie auch
zu erklären, d. h. ſie als eine Verflechtung einfacherer Vorgänge darzuſtellen,
welche feſten phyſikaliſchen Geſetzen unterliegen. Aber nur in verhältnißmäßig
ſehr ſeltenen Fällen gelingt dieſe Erklärung einigermaßen vollſtändig; ſie ge—
lingt in der Regel nur dadurch, daß man zahlreiche Nebenumſtände, welche
auf den ſchließlichen Erfolg einen verhältnißmäßig nur unbedentenden Einfluß
ausüben, vollſtäudig aus den Augen läßt. So können bei ver Beſtimmung
der Planetenbewegungen jene magnetiſchen und widerſtehenden Kräfte, von denen
oben die Rede war, ja es können die Anziehungen entfernterer oder kleinerer
Weltkörper ganz außer Acht gelaſſen werden: wenn ſie auch die Planeten
hunderte oder tauſende von Fußen von ihrer Bahn ablenken, ſo ſind das doch
Größen, die ſich unſerer Beobachtung gänzlich entziehen. Aber auch die Be—
rechnung der Störungen, welche nothwendig in Betracht gezogen werden müſſen,
iſt bekanntlich eine außerordentlich ſchwierige: ſie kann nicht mit abſoluter
Genauigkeit, ſondern nur angenähert ausgeführt werden. Die Bewegung eines
Staubkörnchens, einer Flüſſigkeitsmaſſe entzieht ſich jeder genauen Berechnung,
da die Verflechtung der einzelnen Vorgänge eine ſo verwickelte iſt, daß menſch—
liche Kraft nicht ausreicht, um ſie zu entwirren und das Ergebniß jedes ein—
zelnen durch Rechnung zu verfolgen; bei den Vorgängen in organiſchen Weſen
beſteht die Erklärung in der Regel mehr darin, daß man den Weg nachweiſt,
auf welchem man fie zu erklären hoffen kann, als daß man die Erklärung
wirklich leiftet. Namentlicdy in Allem, was Menſchen und menjchliche Verhält—
niffe anbetrifft, tritt diefe Schwierigkeit augenfällig hervor : zu der, welche aus
der ımermeflichen Verwidelung der im Betracht kommenden Brocefle ſich er—
giebt, gefellen fi nody die andern, daß man mir felten die phyſikaliſchen Ge—
ſetze, denen die einfachen Vorgänge folgen, mit hinreichender Genauigkeit kennt,
und daß, wegen der ungemeinen Beweglichkeit der Verhältniſſe, Umftände in
befondern Fällen einen ehr: bedeutenden, ja enticeidenden Einfluß ausüben,
welche in der Regel To gut wie gar feinen befigen.
Bei dem realiftifch Gebildeten macht fih nun aber das Bedürfniß geltend,
das in der Erfahrung Vorliegende auch zu begreifen, es auf eine ähnliche
Weiſe zu begreifen, wie etma das Hervorgehen einer geomerrijchen Conftructien
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aus ihren einfachen Elementen, Da jedoch die Geſammtheit der bedingenven Um—
ftände zu umfangreich it, ald daß man alle oder- auch nur die hervorragendſten
der aus ihnen entjpringenden Entwidelungsreihen im Gedanken fefthalten und
im Gedanken in ihren Erfolgen gegen einander abwägen fünnte: fo liegt die
Berführung nah, eine oder einige wenige von ihnen, die gerabe vorzugsweiſe
bedeutend erjcheinen, feftzuhalten und, blind gegen die Erfahrung, die Folgen
der übrigen geradezu in Abrede zu jtellen. Allerdings lehrt dem realiftiic
Gebildeten gerade jeine wiſſenſchaftliche Bildung, die Erfahrimg ſorgſam zu
beachten und in ihr den alleinigen Ausgangspunkt aller Erkenntnißbildung
zu-jegen. Aber nur zu leicht betrachtet er allein das als durch die Erfahrung
gegeben, was ſich jehen und greifen, was ſich mefjen und wiegen läßt; ıbm
fehlt der hiſtoriſche Sinn, der aud das Geiftige unbefangen aufzufafjen und
rein im Geiſte und ohne finnliche Hilfsmittel gegen einander abzumägen ver:
ſteht. Sowie in Mathematif und Phyfif einige wenige Grundſätze Das ganze
Gebiet beherrſchen, jo Hammert der bornirte Realift fi aud auf geiftigen
Gebieten an ein oder wenige Prinzipien an, die vielleicht an und für fich richtig
jein mögen, aber es doch nur neben andern find, jo daß oft gerade das Gegen-
theil von dem jtattfindet, was ihnen zu Folge wirflic fein müßte Er läßt
fih durch die Folgerungen leiten, welche er aus jeinen Brinzipien zieht ; umd
nicht dur den feinen biftorifchen Tact, der, ohne auf die Grundſätze zurüd—
zugeben, body dasjenige vorher zu jehen vermag, was unter gegebenen Um—
ftänden ſich entwideln wird. Go zeigt ſich gerade bei Mathematifern und
Naturforſchern, freilich lange nicht bei ihnen allein, wenn fie ſich auf fociale,
politifche oder religiöje Fragen einlaffen, jene einfeitige und beſchränkte Ber:
ftändigfeit, welche immer auf dem Wege ift, das größte Unheil anzurichten.
Daß aber jener hiſtoriſche Sinn und hiftoriiche Tact, ſoweit er fich auf geiftige
und von dem Geiftigen abhängende Dinge bezieht, nur durch humaniſtiſche
Studien ausgebildet werben kann, bedarf wohl faum eines. ausführlichen
Beweiſes.
Ueberhaupt: Wenn es ſich um die wiſſenſchaftliche Auffaſſung eines
größeren Ganzen aus Natur oder Menſchenleben handelt, jo muß die Erfennt-
niß der hiſtoriſchen Gejege des Seienden und Geſchehenden der Einficht in das
Hervorgehen des zufammengejetten Erfolgs aus jeinen Elementen vorangeben,
wenn es nicht überhaupt bei erfterer fein Bewenden haben muß. Nur in
jeltenen Fällen iſt es möglid, das Zufammengejegte gleichſam a priori aus
feinen Elementen zu conftruiren. Nun,geht zwar ein großer Theil der Natur:
wifjenjchaften von ſolchen hiſtoriſchen Gejegen aus — man braucht mur an
die beſchreibenden Naturwiffenfhaften, an Anatomie und Phyſiologie, an
Meteorologie u. j. w. zu denken — ; aber das felbitthätige Auffinden derſelben
liegt meiftentheil® ganz außerhalb der Grenzen des Sculunterrichts ; ja es if
innerhalb ihrer nur felten möglih, dem Schüler eine auf eigenes Beobadten
umd Denken gegründete Ueberzeugung von ihrer Nichtigkeit und Angemefjenbeit
zu verjchaffen. Sie gewinnen ihre wahre Bedeutung erſt dadurd, daß es mit
ihrer Hülfe möglich wird, ein reiches empiriſches Material zu überjchauen und
geiftig zu durchdringen. Das legtere kann aber oft gar nicht herbeigeſchafft
werben ; und wenn man es auch herbeiſchaffen könnte, jo bitrfte man es doch
dem Anfänger nicht darbieten, ohne ihm zu erprüden Cine wahrhaft genetijce
Entwidelung der naturhiſtoriſchen Syſteme z. B., welde ja and folde hiſto—
21
riſche Geſetze enthalten, ift, wie ſchon früher angebeutet geradezu unmöglich ;
denn das Bedürfniß nach ihnen erwacht mur "in demjenigen und nur derjenige
kann eine begründete Weberzeugung von ihrer Angemefenheit gewinnen, welder
eine große Zahl einzelner Naturproducte ſchon gemaner kennen gelernt bat,
welcher fid) von. der jcheinbar ungeordneten Mafje erdrückt fühlt, für welchen
fi daher durd die Einficht in das Syſtem das wüſte Haufwerk in ein wohl-
gegliedertes und in allen jeinen Glievern wohl zujammenhängendes Ganzes ver-
wandelt. Innerhalb der Naturwifienichaften müffen daher die hiftorifchen Ge—
jege dem Schüler als etwas Poſitives gegeben werden: man kann ihn
wohl zum Berftändniß berjelben bringen, ohne daß er jie aber doch wahr-
haft umd ihrer Bedeutung nad begreift. Außerdem ftehen die für die Natur:
eriheinungen geltenden hiſtoriſchen Gejege, namentlich joweit fie innerhalb des
Schulunterrichts Berüdjichtigung finden können, dem Geiftigen zu fern, als daß
durch die Beſchäſtigung mit ihnen der hiſtoriſche Sinn und der hiſtoriſche Tact
für Geiftiges gewedt und wejentlic gefördert werben könnte. Im beiden Be—
ziehungen können und müfjen daher die humaniſtiſchen Studien — mögen jie
ih num auf das rein Spradlice beziehen oder auf das, was in der
Sprache jeinen Ausorud gefunden hat — nicht allein ergänzend eingreifen, fon-
dern vielmehr die eigentlich grundlegende Arbeit übernehmen. Das rein ſprach—
lihe Material ift verhältnigmäßig leicht herbeizufchaffen ; das, was in der
Sprache jeinen Ausprud gefunden hat, ift — jedes einzelne für fid — von
Werth und Beveutung und wohl geeignet, das Intereffe zu erweden: das
Durcharbeiten eines reichen Materials braucht das Gefühl des Ueberpruffes
nicht zu ermweden, was bei dem Durcharbeiten einer großen Mafje naturwifjen-
Ibaftliher Daten nur zu leicht eintritt, jo lange man ihre Bedeutung für ein
größeres Ganzes des Willens nicht zu erfennen vermag. Das erftere, das
Sprachliche, fteht mit dem Geiftigen in engiter Beziehung ; das leßtere, das
was in der Sprache jeinen Ausprud findet, iſt das Geiftige jelbit. So künnen
wir fchon in diefer einen Beziehung dem Humanismus feinen alten Ruhm nicht
nehmen, eine der Hauptgrundlagen für jede gediegene wiſſenſchaftliche Bildung
zu legen,
Nach den Anjchauungen des Realismus — und er wird in diefer Be-
ziehung wohl recht haben — ift der Zuſammenhang zwijchen ven Ideen nicht
immer und ohne weiteres ein getreues Abbild des realen Zi ſammenhanges
zwiſchen ihren Objecten; die Ideen haben an und für ſich und ohne weiteres
feine Macht über das, was in Wirklichkeit iſt und geſchieht. Aber doch wird
jelbft der nüchternſte Realift den Gedanken nicht ganz von fi fern halten
fünnen, daß ein gewiffer logiſcher Zuſammenhang zwiſchen Begriffen in ven
Dingen diefer Welt einen, wenn auch wielleiht nur undentlihen Ausdruck finde,
Er wird dieſem Gedanken, wenn er ihn auch grundjäßlich werwirft, wider Willen
einen Einfluß auf jeine Weltanihauung verjtattn. Wenn aud) niemand einen
logiſchen Weltplan genau darzuftellen vermag, jo wird dod die Vorausſetzung
von dem Borhandenfein eines ſolchen ein vegulatives Princip für das Denken
bilden. Die verſchiedenen naturbiftoriichen Syjteme werden ja immer noch —
wenn auch vielleicht nur unmilfentlich und im Geheimen — als Verſuche be-
trachtet, einzelne Bruchſtücke dieſes Weltplans klarer und bejtimmter vor Augen
zu legen ; und jelbjt die befannte Phraſe von der Logik der Thatſachen deutet
hin auf die ftillfchweigende Annahme eines logiſchen Zufammenhanges zwiſchen
x
22
den weltgeichichtlihen Begebenheiten. Mag es indefien hiermit fein wie es
will, eine läßt fi auf feine Weife in Abrede ftellen: Ueber die Erkenntniß
deſſen, was ift und geſchieht, erheben fich mit unantaftbarer Autorität die Ideen
deffen, was jein und geſchehen jollte Niemanden ift e® möglich, den Lauf
der Dinge und Begebenheiten fortwährend mit Falter Gleichgültigfeit zu ver-
folgen: unwillkürlich regt fih in jedem — wenn auch nicht im jedem in
gleicher Stürke und. auf diefelbe Weile — em Urtheil über ven Werth md
die Würde defien, was er vor fich fieht, ein Urtheil, welches durchaus umab-
hängig ift von allen felbftiihen Intereffen, von allen Rückſichten auf eigenes
Wehe und Wohl, welches wohl iüberhört oder mißachtet, deſſen Gültigkeit
aber auf feine Weife in Abrede geftellt werden kann. Die unbedingte Bered-
tigung einer idealen Auſchauung der Dinge in diefem Sinne des Wortes faun
fein vernünftiger Realismus verfennen ; und trog alles Widerjtreites der An—
jihten und Meinungen, welchen wir täglid vor une jehen, ift die Ueber:
zeugung unabweisbar, dar eine allgemein gültige Norm jener Beurtheilung zu
Grunde liege, in deren Anwendung man wohl fehlgreifen könne, welde aber
an und fir ſich über allem Zweifel erhaben, welde für jeden und im allen
Füllen gültig iſt.
Sowohl der einzelne Menſch wie auch ein ganzes Volk gehen unfehlbar
dem Berberben entgegen, wenn eine ſolche ideale Anſchauung der Dinge in
ihnen wicht mehr in lebendiger Wirkſamkeit fih regt, wenn das Gewicht der
ſelbſtiſchen Intereffen fie erftidt, wenn das Streben nad Genuß, von welcher
Art er auch fein mag, das alleinige Motiv des Wollens und Handelns bilvet,
anschließend die Gefinnung beſtimmt. Mag dann das materielle Wohlergehen
vielleicht auch noch gedeihen können — obgleich felbft dieſes mehr als zweifel-
haft iſt —, die innere Würde ift doc verloren: einem Menfchen, wie einem
Bolfe, welche nichts Höheres Tennen als Wohlergehen und Genuß, können wir
feine Achtung mehr zollen. Was nicht zum aufgegebenen Theil des Boltes
gehören will, muß einen Reſt idealer Interefien in jeinem Innern bewahren;
der gebilvete Theil der Nation muß fie immer veimer erfafien, in feinem Leben
zu immer höherer Geltung, zu immer höherer Wirkfamfeit bringen. Eine ge
junde praktiſche Philofophie zeigt jedoch, daß die Beurtheilung, auf welde vie
ideale Auffaffung der Dinge fi gründet, unmittelbar gebumden ift am das
Borjtellen des zu Beurtheilenden und ohne weitere bewußte Bermittelung aus
ihm jich ergiebt. Sie ift daher durchaus unabhängig von der Art und Weife,
wie das zu Beurtheilende entftanden it, ja fogar unabhängig von jeiner Mög—
lichfeit oder Unmöglichkeit. Der edle Menfd wird dadurch nicht weniger edel,
daß fein Charafter Das Ergebniß einer unter den gegebenen Umſtäuden notb-
wendigen Entwidelung it; meine Achtung vor ihm wird dadurch nicht ver—
mindert, daß ich begreife, auf welche Weiſe er das geworben ift, was er iſt.
Aber ebenjo wahr ift es, daß die Beurtheilung erft dann hervortritt, wenn
man das zu Benrtheilende in feiner Gefammtheit, gleihmäßig in allen jenen
Theilen vorftellt ; nicht, wenn man erit auf den einen und dann auf dem andern
feiner Theile allein oder doch vorzugsweiſe fein Augenmerk richtet: dann mag
man bie Schönheit oder die Würde der einzelnen Theile, aber nicht die des
Ganzen erkennen. Die Beurrheilung ift gebunden an das vollendete Bor-
ftellen des zu Beurtheilenden und tritt nur infoweit hervor, als es zu einem
ſolchen vollendeten Vorftellen fommt. Der Botaniker, welcher die Staubfäden
23
einer Blüthe zählt oder die Formen der einzelnen Theile der Pflanze genau
aufzufaffen fucht, ver Phyſiolog, welcher eine Einſicht zu gewinnen fucht in
die einzelnen Borgänge, welde die Entwidelung der Pflanze bedingen: fie
haben, infoweit fie damit bejchäftigt find, feinen Sinn für die Schönheit ihrer
Dlüthe. Der Aftronom, welder die Bahn eines Planeten berechnen oder durch
Beobachtung feftitellen will, darf ſich nicht in die Bewunderung des Sternen-
himmels verlieren, fondern muß fein Augenmerk auf die Zahlen feiner Rech—
nung, auf das Fadenkreuz jeines Fernrohrs und feine Pendeluhr richten.
Daraus geht hervor, daR diejenige Sinnesweiſe, welde darauf gerichtet ift,
ein zufammengefettes Ereigniß in bie. einfahen Grundvorgänge, aus deren Ver—
flehtung es hervorgeht, zu zerlegen und die phyſikaliſchen Gefege für fie feit-
zuftellen, wenig geeignet ift, das Ereigniß aus dem idealen Gefichtöpunfte zu
betrachten. Soll die Würde oder Unwürde des Seienden und Geſchehenden ſich
geltend machen, jo muß die phyſikaliſche Auffaffung der Dinge weichen und
die hiſtoriſche an ihre Stelle treten ; die hiftorijche liegt wenigſtens der ethifchen
und äfthetifchen bei weiten näher als die rein phyſikaliſche. Hierzu kommt in-
deffen no ein Andres. Die ideale Weltanſchauung befteht nicht allein in ber
Würdigung des Seienden und Gefchehenven ; fondern es ift ein wejentliches
Moment verjelben, daß fie die Ideen dem wirklich Beſtehenden als Norm oder
Mufter gegenüberftellt. Die Ideen enthalten die Forderung in ſich, daß das
Beftehende nad ihnen fih richten jollte Die Berehtigung zu dieſer For—
derung gründet ſich aber ganz allein auf die Würde des in ihnen Vorgeſtellten
oder Gedachten und iſt durchaus unabhängig von der Möglichkeit oder Unmög—
feit feiner Verwirklichung. Cie fchlieft außerdem ven mehr oder weniger feften
Glauben in fi, daß die Ideen auf irgend eine Weife einen beftimmenben Ein-
fluß ausüben auf den wirklichen Yauf der Begebenheiten. Jenes freie Operiren
mit Gedanken und Begriffen, welches abfieht von den realen Beziehungen und
Bedingungen des in ihnen Gedachten, weldes oben als eine Scattenfeite der
auf rein bumaniftiiher Schulung ruhenden Bildung dargeſtellt wurde, ermeift
fi) in diefer Beziehung als ein Vorzug derfelben. Das Ideale muß erft im
freien Denken erfchaffen werben, ehe es als etwas, das Wirflihe am innerer
Würde Uebertreffendes erkannt werden kann. Die engen Scranten der Wirk:
lichfeit müſſen befeitigt werben, wenn man fich zu dem Idealen erheben will ;
nur darf man, wenn man nit in leere und wüſte, durchaus thörichte
Bhantaftereien verfallen will, fid) nicht auch hinwegſetzen über bie ewigen Nor—
men des Schönen und Guten. Wenn die Ideen auch feiner Stütze bedürfen
in der Möglichkeit des von ihnen Geforverten, jo müſſen fie fie doch befiten
in ihrer eigenen Würde. Und die Spuren von dem Einfluß der Ideen auf
das Wirkliche, auf welche ein vernünftiger Glaube an ihre Macht allein fid)
gründen kann, zeigen ſich nicht etwa in den phyſikaliſchen Geſetzen der ein-
fachen Vorgänge. Ans ihnen könnte ebenſo gut ein vernunftlojes Chaos her-
vorgeben als das geordnete Ganze, weldes wir vor uns fehen. Die Spuren
einer Einwirkung vernünftiger Ideen zeigen fich vielmehr erft in der Art und
Weiſe, wie jenen Geſetzen gehorchend größere Ganze ſich bilden, deren Weſen
und Entwidelung wir in der Regel nur durch hiftorifhe Geſetze aufzufaſſen
vermögen. Endlich — und das ift ein Hauptpunft — muß noch hervorge-
boben werden, dak, wenn oben eme tdealiftiiche Anſchauungsweiſe der Dinge
als efwas dem Menfchen Unentbebrliches bezeichnet wurde, damit vor allen
24
Dingen diejenige gemeint ift, welche ſich auf das Geiftige und das damit in
enger Beziehung jtehende Ethifche bezieht: Geiſtiges und Ethiſches findet aber
vorzugsweije jeinen Ausdruck in der Sprade und durd die Sprade ; Sprad-
ſtudien und die mit ihnen verbundene Lectüre find daher das Hauptinittel, um
in dem Jüngling ein eingehenves Verſtändniß des geiftigen Lebens zu erweden
und ihm die Fähigkeit zu geben, fi zu ven auf daſſelbe ſich beziehenven
Idealen zu erheben.
Aus dieſen Gründen — denen wir nod mande andere hinzufügen könnten,
wenn e8 ums nicht zu weit von unjerm jegigen Gedankengang abführen würde
— müſſen die humaniſtiſchen Studien den Mittelpunkt des Jugendunterrichtes
bilden. Da aber die aus den realiſtiſchen Studien hervorgehende Welt-
anſchauung nicht allein factifch vorhanden ift und einen beveutenden Einfluß auf
das ganze geiftige Leben ausübt, jondern auch — wie in dem Borigen nad)
gewiejen jein dürfte — ihr Borbandenjein und ihr Einfluß wohlberechtichte
find; da fie eine nothwendige Ergänzung und ein unentbehrliches Correctiv
der an den Humanismus ſich anliegenden bilvet: jo muß den realiftifchen
Unterrichtsfächern in ven Unterrichtsanftalten, aus denen die eigentlich wifjen-
Ichaftlih Gebildeten hervorgehen ſollen, ein größerer Raum gewährt und eine
intenfivere Wirkung verſchafft werden, als ed dahin geichehen iſt. Es muß
biefe Forderung geitellt werden nicht in Beziehung auf Diejenigen, welde ſich
fpäterhin den realiftiihen Fächern zuwenden — denn für dieſe wird bie noth—
wendige Ergänzung durch den Realismus fib ſchon von jelbft ergeben —,
jondern gerade in Bezug auf die, welde ſpäterhin jid allein auf humaniſtiſche
Studien bejchränfen werben ; aljo in Bezug auf fünftige Geiftlihe, Yuriften,
Philologen, Philofopben u. j. wm: Es muß Das gerade deshalb gefordert werben,
damit diejenigen, welden die auf wifjenichaftliher Grundlage ruhende Pflege
des Geiftigen und Ethiſchen anvertraut ift, auch die Bedürfniſſe ver eine andere
Bildungsrihtung Verfolgenvden zu erfennen im Stande find, damit fie bie
Punkte in jenem andern Gedankenkreis aufzufinden vermögen, im denen er
den ivealiftiichen Anſchauungen zugänglid ift, ja zu ihnen drängt. Geſchieht
diefes nicht, jo iſt die dringende Gefahr vorhanden, daß jene beiden Haupt-
richtungen zum Schaden ver Wiffenjchaft und des geiftigen Yebens unjeres
Bolfes zufammenbangslos auseinanderfallen, daß jede von ihnen verkimmert,
indem ihr die Wurzeln abgejchnitten werden, durch welde fie aus der andern
die ihr umentbehrlihe Nahrung ziehen muß.
Die Löſung der allerdings vecht fehwierigen Aufgabe, wie beide Bildungs-
richtungen zu dem ihnen gebührenden Rechte kommen fünnen, ohne dod die
Jugend zu überlaiten, muß denen überlajfen bleiben, welde das Gymnaſium
aus eigener Erfahrung genauer kennen. Hier mögen im Bezug auf fie nur
einige wenige Bemerkungen folgen. Der Mathematik, viefer unentbehrlichen
Borbedingung einer jeden naturwifienjchaftliben Weltanſchauung, it auf unfern
Öymnafien wohl binreihender Raum gegönnt; ed müßten in dem mathe—
matiſchen Unterricht derjelben jedoch nod einige Gegenftände aufgenommen
werden, die jest allgemein von ihm ausgejchlofjen find. in einigermaßen ein-
geheudes Studium der Phyſik ift heutzutage kaum noch möglich ohne Kenutniß
ver erjien Clemente der höhern Analyjis. Sie find, wenn man ji auf das
Nothwendigite bejhränkt, für einen 16—1Sjährigen jungen Mann gewiß nicht
zu ſchwer zu begreifen, und es bürfte bei zwedmäfiger Methode durch Weg-
25
laffung andrer, weniger wichtiger Saden ohne Vermehrung der Stundenzahl
für fie die nöthige Zeit gewonnen werben fünnen. Zu dem, was weggelafien
werden könnte, gehören die höhern (cubifchen) und diophantifchen Gleichungen,
die Wahrjcheinlichkeitsrehnung, die Kettenbrüche, die Kegelfchnitte (das LUnent-
behrlichfte von ihnen kann zu Beijpielen für die Differenzial- und Integral-
rehnung verwendet werben) u. ſ. w. Auch die neuere Geometrie, trog ihres
jonftigen hohen Werthes, bildet doch zur Zeit no Fein jo umentbebrliches
Werkzeug zur Auffaſſung natitrliher Vorgänge wie die Grundbegriffe der
böhern Analyfis. Die Uebungen im Buchftabenrehnen könnten ebenfalls wohl
mehr eingejhränft werden, als es jett Gebrauch zu fein fcheint: es kömmt ja
niht daranf an Mathematiker zu bilden, welche ſich in allen Fällen zu belfen
wiſſen, jondern nur den Schüler in den Stand zu jeben, dem jpätern Unter—
richte zu folgen. Was den phyſikaliſch-chemiſchen Unterricht anbetrifft, jo find
die Kenntnifje, welche der Schüler gewinnt, von dem hier feftgehaltenen Ge-
fihtspunfte aus betrachtet, nur Nebenſache: die Hauptſache ift die Einführung
in die realiſtiſche Anſchauungsweiſe. Er darf daher nicht zu jpät beginnen,
damit er lange genug fortgefetst werden kann, und damit er die entgegengejette
Auffaffung nicht ſchon zu feit ausgebildet vorfindet, obgleich nicht zur verfennen
ift, daß das rechte Interefje für ihm erft in fpätern Jahren erwacht ; er müßte
daher wohl ſchon in Tertia beginnen, Um einige Zielpunfte defjelben zu be—
zeichnen, jo müßte er in der einen Richtung fortgeführt werden bis zu einer
auf mathematifher Grundlage ruhenden Einficht in die Grundlehren der Mechanik,
jo daß der Schüler zum Berftänpnif des Geſetzes von der Erhaltung der Kraft
gelangt, und zu den Elementen der Aftronomie ; in der andern Richtung bie
zu den hauptfädlichiten modernen Theorien der Chemie in ihrer Berbindung
mit der neuern Wärmelehre. Cine Hauptjchwierigfeit in Bezug auf den leßten
Punkt dürfte fein, zu einer Einficht in jene Grundlehren zu gelangen, ohne
ſich doch zu fehr in chemiſche Einzelheiten zu verlieren. Mit diefen Andeu—
tungen mag e8 hier jein Bewenten haben: die Ausarbeitung einer recht brauch—
baren Schulphufit fir Gymnaſien, in welcher vie bier dargeftellten Grund-
gedanken eine zweckmäßige Ausführung fänden, die außerdem die übrigen Theile
der Phyſik, Optik und Elektricitätslehre, auch behandeln mühte, wiirde jeden-
falls feine leicht zu löſende Aufgabe jein.
Berlag von I. VBacmeifter in Eifenad.
Deutihe Sprachlehre für höhere Lehranftalten jowie zum Selbftftubium
nn N Dr. Theodor Gelbe, Kealihuldireltor in Stollberg i. S. Preis
pr
Bormwort: Die Mutteriprahe immer mebr und mehr zu pflegen, in beren Verſtändniß tiefer
einzubringen, deren Schönheiten befler zu erfafien, ift das Etreben ber neueren Zeit.
Leider vermögen nur wenige das hohe vorgeitedte Biel volftändig zu erreichen, ber größten Babl
feblen bie hierzu geeigneten Hülfsmittel, Unterricht umdb Lehrbücher. Denn wenn man aud gern
alte wirb, daß rübrige Geifter eine Anzabl Lehrbücher der deutſchen Sprache geichaffen baben,
od wirb man doch auch nicht verfennen dürfen, daß einerieitö einige, wie Schleicher, zu bobe For:
derungen an bie Bildung ber Leſer ftellen, oder bo ben Boden ber jepigen Sprache zu wenia ober
zu leife berühren, und fomit jedem, der nicht zum Fache gehört, eine leichte und erfolgreiche Benüsung
ihrer Werke unmöglich machen; tab viele andererfeits wieder zu wenig vom Althergebrachten ſich los:
zulöfen vermögen, weshalb ein Wihbegieriger feine genügendbe Ausbeute gewinnt,
Es feblt nad den Erfahrungen, die Verfaſſer als Gründer und Leiter mehrerer Vereine für deutiche
Sprache und ald Lehrer zu machen Gelegenheit hatte, ein Buch, bas ohne große Anforderungen an
das Wiſſen zu ftellen, den gegenwärtigen Stand der deutſchen Sprade ſyſtemätiſch und fehlerlos dar:
ftelt, von biefen Standpunkte aus aber auch meitere Blide in die Vergangenheit und Entiwidelung
ber. deutſchen Sprade eröffnet und ermöglicht, namentlich den nicht genügend bewanderten Lehrer zum
Denten und Lernen reizt und leitet, ibm Aufihluß giebt über die Regelmäßigkeiten ſowohl als aud
über bie a erg der Epradie, ja fogar über un- oder außergewöhnliche Ausdrüde und
Redeweiſen unjeres Volles, unferer Klaſſiker: ein Buch, das wie dem Lehrer, jo dem reiferen Schüler
als Grundlage für den beutihen Sprachunterricht im die Hände gegeben werden faun, das aber auch
vermöge jeiner geſucht einfachen und gemeinverjtändlichen Fafiung von Gebilbeten jedes Starbes als
treuer und zuverläſſiger Ratbgeber benugt zu werben neeignet erſcheint.
Namentlih bat mir am Kerzen gelegen, für die Böglinge der Lehrerieminare, welche ja in Ju:
funft die berufenen Heger und Pfleger der deutſchen Sprade fein jollen, ein Buch zu ſchaffen, welche
unter der Leitung eines tücdtigen Lehrers ibnen jelbft bei Mangel fremdſprachlichen Unterrichts jene
grammatiihe Bildung ermögliche, deren fie für ihren zufünftigen Beruf bedürfen, die ein nöthiger
Schmud jedes Gebildeten ift.
Diefen Zwred foll vorliegenbes Büchlein verfolgen, es foll aber and dazu bienen, biejenigen,
welche e8 benugen, zu belehren über bas, was jest als eine Beſſerung der beutichen Spradhe und als
eine Erleihterung in deren Gebrauche von hervorragenden Männern erftrebt wird, und fomit foll es
deren been in weiteren reifen Bahn zu brechen bemübt fein. Deshalb ift das Büchlein in Tateimiichen
Leitern gebrudt, beöhalb hat Berfafler die Echreibweife, welche von ben bebeutendften Gelehrten
Deutihlands in Berlin aufgeftellt wurde und melde einft die Schreibweiſe des einigen Dentichen Reiches
werben fol, möglihit in Anwendung gebradt.
Ob das Bud dieje Ziele zu fördern geeignet fei, ob der Berfafier den rechten Weg eingeichlagen,
die beften Mittel angewendet hat, das möge ber geneigte Leſer entſcheiden, der Erfolg lehren.
Deutſche Gedichte. Tine Mufterfammlung für mittlere und höhere Schulen ſowie
zum Privatgebraudh. Nebft Anhang: Die Bersiehre. — Die Diehtungsgattungen. —
Die Bildlichkeit der Poeſie. — Kurze Biograpbien der Dichter. Herausgegeben von
Wilbelm ride. 28 Bogen gr. 8%. Preis broihirt 3.4 0 Pf., gebunden mit
Titel 3.4 60 PB.
j ‚Eine Zuſchrift an die Verlagshandlung jagt: „Mit größtem Intereſſe habe ich Einfit genommen
in Fricke's Gebihtiammlung; es ilt eine reiche, mwohlgeordnete und mit richtigem Geihmad unb päba»
galigem Blid getroffene Auswahl, die in vortheilbaftefter Weile auch bie neueſte Beit berüdfichtigt.
er Heraudgeber hat fi bie Aufgabe geftellt, nicht allein den Entwidelungsgang der deutſchen Poeſie in
einen überfihtlihen Rahmen zu fafien und die Schüler und Schülerinnen mit den bervorragenderen
Dichtern und deu Gattungen der Dichtung vertraut zu machen: er war auch beftrebt, das Beſte, und nur
dieſes allein ift gut genug für die Jugend, mit dem Schulgemäßen zu vereinigen. Daß ein ſolches Buch
auch benen, welche na mit dem Gange und dem Schönften deutſcher Dichtung dur Selbftitubium be—
fannt maden wollen, joldhen, die aus innerem Drange gern in Boefien fi) vertiefen, eine willfommene
®abe jein wird, bezweifeln wir feinen Uugenblid. Ber Anhang, welcher die methodiſche und leicht
faßlihe Darftellung der Bildfichkeit der Poefie, der Vers- und Gattungslehre nebft ben Biographien
ber Dichter enthält, wird dazu dienen, den Werth biefe® Buches ſowohl für den Privat: wie Schulgebraud
zu erhöhen.“ — Da es durch das jorgfältigfte —— des Satzes ermöglicht worden ift, Bu
die reihhaltigfte Sammlung berzuftellen, bürfte das Buch vor älteren ähnlihen Werten entichieden
den Vorzug verdienen. Inhalts-Verzeichniſſe, alpbabetiih nad den Unfangszeilen der Gebichte und
Khronologiih nad Dichtern und Inhalt geordnet, erhöhen die praftiihe Verwendbarkeit.
Sandbud der Allgemeinen Literaturgefhidhte von C. S. Wollſchlaeger.
Zweite Ausgabe. Preis 4 .A 80 Pf. Elegant gebunden 6 .A
Der Verfaſſer beabfichtigt mit dem vorliegenden Werte eine kurzgefaßte Ueberficht über die Ge—
fammtliteraturgeihichte als praltiihes Hülfs- und Nahichlagebuh zu geben, und man muß gefteben,
daß er die Aufgabe, die er fich geitellt, recht glüdlich gelöft bat. Im Mlarer überfichtlicher Darftellung
werden bie irgendwie bedeutenden Dichter und Literatur-Erzeugnifje ſämmtlicher Eulturvölfer angeführt
und nad dem heutigen Stande der Wiſſenſchaft furz unb durchweg treffend charakterifirt, jo daß es mohl
au beicheiden ift, wenn die Vorrede bervorbebt, es fei vor Allem darauf angelommen ,- ein pafiendet
Ueberſichts ſchema zu ihaffen. Wir empfehlen das Wert, das troß feiner ſchlichten Art ein ebenfo ſcharfes
wie anziehendes Bild von dem allmälinen Gange der Geiftesbilbung und Eulturentwidelung ber einzelnen
Xölfer entwirft, auf'e Beſte. Der Schluß bringt ein ausführliches Namen: und Sacdıregifter.
Goethe's dramatiſche und epiſche Sauptwerke, kurz erläutert und be-
er Carl Hobeifel, Gymnafial- Direktor. Preis 2.4 40 Pf. eleg. geb.
Eine Schrift, die im gebrängter Kürze, in einer leicht faßlichen, auch einem weiteren ge-
bildeten Z2ejerfreis zuoängti en Form unb Sprache eine eingehende Erklärung unb äftbetifähe
Würdigung aller poetiihen Hauptwerke Goethe's zujammen enthält, dürfte hoch willlommen fein.
Melchior Merle's Reimchronik von Eiſenach, Thüringen und Heſſen. Heraus-
gegeben von Dr. H. Müller, Unterbibliothekar in Marburg. Preis 1 4%
Nach) einer ungebrudten Handſchrift, vom Herausgeber in der Marburger Univerfitätsbibliothet
aufgefunden. Ein interefjanter Beitrag zur Thüringijchen, *— Eiſenachiſchen Lokalgeſchichte.
Die Reimchronik ſtammt aus dem Ende des 16. Jahrhunderts, beginnt die Erzählung aber fa mit
dem Jahre 450. Sie ift ein reicher Beitrag zur Denkt» und Anichauungsweije jener Zeit, und in Kultur-
biftoriiher Beziehung find einige Stellen von größtem Werthe. Der Herausgeber bat der Chronik eine
furze aniprehende Einleitung vorangeſchickt.
Die Gardinalzjahlen des claffiihen Alterthums (bis 476 nach Chr.). Bon
C. ©. weitiaiäger Preis 60 Bf.
Genaue und zuverläjfige, in einem —— Zuſammenhange ſtehende, möglichſt kurze aber auch
mõg lichſt vollftändige, chronologiſche Ueberſichtstafeln, wiſſenſchaftlich durchgeführt, liefern bier ein durd-
— —— anzes über die Geſchichte der beiden Hauptvölker des Alterthums, — der Griechen
un er.
Genealogiſche Tabellen für die hervortretenden Partieen der Weltge—
ſchichte. Bon C. S. Wollſchlaeger. Preis 1M 35 Pf.
Dieſes Tabellenwerk fol eine ſchon oft gefühlte Lüde ausfüllen, indem die Art der Ordnung
und Wufitellung der dargeftellten Geſchichtsepochen und die notwendige Deutlichfeit der Regentenreihen
für die Geſammt-Geſchichte der Staaten hier muftergültig gegeben ift.
Die Zeitreihe der Päpfte His auf die Gegenwart. Gine kurzgefaßte hrono-
logiſche Ueberficht der Geichichte der Päpfte als biftorifches Hülfsbuch zum Nachſchlagen.
Bon E. S. Wollſchlaeger. Preis I .A
Eine kurze Geſchichte der Päpfte, in größter Objectivität und abfoluter Unparteilichkeit. Der
Bmwed der Arbeit ift ein rein hronologiidhrinftructiver, indem bier bie Reihe der Yäpfte mit
vollkommen zuverläffiger Genauigkeit aufgeitellt worben ift.
Beiträge zur Realihulfrage von Prof. Dr, C. Balzer. Preis 30 Bi.
Die vier Heinen Aufſätze enthalten Urtbeile des Verfaſſers über die Unterrichts - Prüfungs = Ordnung
von 1859, ihre Wirkung und Weiterentwidelu Berfafler fteht auf dem Boden der unlateiniichen
Realſchule, ift ein Gegner der Ausdehnung der ealihufberehtigungen und tt in III einen Lehrplan
für eine Realichule mit neunjährigem Curſus und nad Fächern getheilten Oberclafien vor. IV bes
ſpricht aus reicher Erfahrung den engliihen, beziehungsweile andern ſprachlichen Unterricht.
Specimens of English Literature. Engliſche Yectüre für die oberen
Claſſen höherer Fehranftalten. Herausg. von Prof. Dr. C. Balzer. Preis a Heft 60 Pf.
Auf diejes Unternehmen möchten wir die Aufmerkſamkeit der Lehrer Ienten, da wir glauben, dab
ihnen bier ein fehr braudbarer Stoff für den Unterricht im Englifchen —— iſt, Die bisher er:
ſchienenen 4 Hefte enthalten: I. Bier Kriſen des Papſtthums von Macaulay. Il. Shake—
jpeare'3 Leben und Werte nach Thomas B. Sham. II. Der Beginn des amerikani—
ſchen Befreiungstampfes aus dem Bancroft’ihen Werke über bie Bereinigten Staaten.
IV. Addiſon, VBierzehn Beiträge sum SGpectator aus jeiner Feder. Die Stüde find jämmt-
lich mit einführenden Einleitungen und jehr guten erflärenden Anmerkungen veriehen und befolgt
der Serausgeber das jehr praktiihe Spitem, aus umfangreiheren Werten nur einzelne Hauptftüde
zu bringen, die in fi doc ein abgerundetes Ganze bilden.
Grundzüge der Poetif. Ein Yeitfaden für böbere Schulen. Bon Dr. Anton
Dborn. Preis 60 Bf.
Ein gutes, mit klaſſiſchen Beiſpielen gewürztes Buch, das gründliche Belehrung über die Kunft-
formen der Boetif giebt.
Reitfaden der Kirchengeſchichte für höhere evangelifhe Schulen, nebft einer über-
ſichtlichen Darftelung der wichtigften Unterfcheidungslehren, Bon 3. Tb. Helm:
fing, Oberlebrer, Zweite Auflage. Preis 1.4 35 Pf.
Der reihe Inhalt giebt ein Leicht überſchaubares Bild von dem gefammten Gange der Kirchen:
eſchichte und wird dieje zweite Auflage, gleich der erften, in höheren Schulen ein willflommenes Lehr:
Buch fein. Der äußerft billig geftellte Preis erleichtert die Einführung.
Praktiſches Rechenwerk
von
A. Koren, unb €. Dorſchel,
Director der Realſchule I. O. in Gera. Lehrer ber I. Bürgerſchule in Eifenad.
Eintheilung und Inhalt.
Die erſte Abtheilung, von C. Dorſchel bearbeitet, umfaßt die
Rechenaufgaben für den Elementarunterridt. Vierte Auflage.
I. Heft. Allfeitige Betrachtung u. Anwendung der Zablen von I—20 Preis 40 Pr.
U. Heft. Allfeitige Betrachtung u. Anwendung der Zahlen v.21—100 Preis 40 Bi
III. Heft. Allfeitige Betrachtung und rer ber Zablen über 100 Preis 25 Pi.
IV. Heft. Die Grundrehnungsarten und die Regeldetri mit ganzen
Zahlenn. Preis 40 pj.
V. Heft. Elemente der Bruchrechnung ſowohl der gewöhnlichen,
als auch der Decimalbrüche.. 2 2 22. BPresd Fi.
VI. Heft. Die Grundrehnungsarten und bie Regeldetri mit ge-
gewöhnlichen und Decimalbrüden . . . Preis 35 Pr.
Auflöfungen zu den ſechs Heften der I. Abtbeilung: Auf gaben .
für den Elementarunterridt . . 2 2 2 220% Preis1.4A0 Fi.
Die zweite Abtheilung, von A. Toren bearbeitet, umfaßt die Auf:
gaben für das praftifhe Rehnen: Die höheren Rechnungs:
arten des bürgerlichen Lebens.
I. Seit. Decmalbrüde; Berhältniffe. und Porportionen; einfache
und zufammengefette Regeldetri; Kette; NRepartitions-
und Mifhungsrehnung - > 2 2 2 2 2 nen
11. Heft. Aufgaben zur Procent- und Promillerehnung und zu
ben angewandten procentilhen Rechnungen (Zins—
rehnung, Diskontrechnung, Rabattrehnung, Termin—
rehnung, Münzrehnung, Kurs- und Wechfelrehnung) Preis 45 Pi.
II. Heft. Das Auszieben der Quadrat- und Kubikwurzel; die
arithmetifchen und geometrifchen Progreifionen; Yoga»
rithbmen; GHleihungen; Zinſeszins- und Renten—
vehnung; Kettenbrüche ee a
IV. Heft. Berehnung ber Raumgrößen; Linien, Winkel, gerab-
linige Figuren; Kreis, Ellipfe, Parabel, Würfel,
Prisma; Pyramide; Eylinder, Kegel, Kugel; regel-
mäßige Köipr . 2. 2m. . N
Auflöfungen zu den vier Heften ber II. Abtbeilung: Aufgaben
für bas praktiſche Rechnen.
Zu Heft I u III IV
Preis 60 60 80 6
Die dritte Abtheilung, von A. Loreh bearbeitet, enthält das Hand-
buch des praftiihen Rehnens . . . 2» 2 2 200. Preis 4A
= Das ganze Werk ift urfprünglich eine neue Auflage des früheren: „Aufgaben für das praftiide
Rechnen nebft kurzer Anleitung ge Auflöfung derielben, vom Standpunkte ber Koncentration aus“, nur
mit der Umänbderung der alten in die neuen Münzen, Maaße und Gewichte des deutichen Reiches und
mit ber Abänderung, daß die kurze, früher vor den Aufgaben enthaltene Yuseinanderjegung zu einem
Handbudje erweitert worden ift.
Die erften ſechs Hefte der erften und die nachfolgenden vier Hefte der zweiten Abtheilung, fönnen
für eine Realichufe I. und 11. ©., für höhere Bürgerihulen, Gumnafien, Seminarien und ähnlide An
ftalten vollftändig — werden. Aber auch für die Elementar- und Volleſchulen find die ſechs
Hefte der erſten und bie erſten zwei Hefte der zweiten Abtheilung berechnet; ja ich glaube, daß auch das
dritte und das vierte Heft mit Auswahl für gehobene Bürgerſchulen gebraudt werden Lönnen. In ber
erften Abtheilung fchreitet der Rechenunterricht in anihaulicher Weile vom Einfachften, der Eins, be
innend, von 1 bi8 20, von 21 bis 100 u. f. w. nach Grube'ſcher Methode fowie nad pädagogiihen
rundfägen zum Bujammengejegten aufwärts; der Elementarihüler überjieht und bemeiftert den Stoff
und arbeitet mit Luft und Liebe; die Einheit des Erkennens und des Willens wird erzielt umd
dadurch in dem Schüler die Kraft entwidelt, ſich jelbftändig weiter zu bilden. Mit der Aut
Breis 60 Pi.
Preis 60 Wi.
Preis 60 Pi.
faffung und ber Beränberung ber reinen Zahl iſt ſtets die angewandte Zahl — Beiipiele aus dem
praltiihen Leben, in fo meit biejelben in den Geſichtskreis dieſes Kindesalters fallen und dieſem
von Interſſee fein dürften, verbunden. Die Aufgaben der zweiten Abtheilung find aus dem bürgerlichen,
induftriellen und faufmänniichen Leben, aus ber Geometrie, Geographie, Bhnfit und Ehemie genommen
und in bier Heften Leer Der Stoff if ein, ſehr zweckmäß und führt ben Schüler durch die
mannigfaltigiten Berhältniffe, theils ihn zur Wiederholung nöthigend, theild ihn für einen neuen Gegen—
ftand vorbereitend. Die Aufgaben bieten ein reihes Material und Huldigen dem Grundlage: Der
Rechenunterricht fei vor Allem praktiſch und made tüchtig fürs Leben. Die Rechenfertigfeit ift für jeden
@ebildeten, welchem Berufe derjelbe auch angehöre, ein ——— Erforderniß. Der große „Philoſoph
bes Unbewußten“ hat in einer Schrift für das höhere Schulweſen, re de = ebfafiumg „er fih berufen
efühlt“ bat, gelagt, baß der Rechenunterricht Leine bildende Kraft habe. Nur ihm tit diefelbe unbemwußt ;
ahverftändige Schulmänner je die formal bildende Kraft defjelben in bie erfte Linie, den Nußen und
die ginge Shine für jeten Beruf in die ae Sämmtliche eingefleibete Mufgaben find vom Stand⸗
punfte der Koncentration aus gewählt und find ficher geeignet, mannichfaches Wiffen zu verbreiten und
zu befeftigen. Diejelben find nicht, wie in den meiften Rechenbüchern, in joldhe für Ropf- und Ziffer:
nen getrennt, obgleich auf beide Rechnungsarten Rüdfiht genommen worden if. Man fieht aus allen
Aufgaben, dab das Rechnen immer Dentrechnen fein fol; das Rechnen nad er und Regel ift
nicht ausgeſchloſſen worden. Die Zahl der . ift fehr groß, doch ift die Reihenfolge berfelben in
bei Abtheilungen eine folde, dab ber Schüler fi nie dem Mechanismus hingeben kann; jede neue
Aufgabe erfordert neues Nachdenken. Bu allen find Auflöfungen für den Lehrer vorhanden.
Diejelben find bei leichteren Aufgaben ganz kurz und ohne Entwidelung angegeben, bei ſchwereren aber
mit vollftändiger —— Eini 2 beſonders ben Gleihungen, find die Auflöjungen gleich
beigefügt; ob das richtig, darüber find die Meinungen verichieden. Heis gibt biejelben, Barde
nit. Auch bat es wohl einen Sinn, die Bebingungen der Aufgabe und die Auflöſung einmal falf
anzugeben.
Das Handbud, bie dritte Abtheilung des Rechenwerkes, ift jedem Lehrer zu empiehlen. Es
fann fid; Jedermann an demielben über alle weientlichen fälle bes Rechnens in ebenſo praftiicher mie
wiſſenſchaftlicher unterrichten. Auch den Schülern der Prima und Secunda höherer Schulen, ſowie
den Böglingen des Seminars, wird dieſes Buch für die Weiterbildung und Wiederholung ein ſicherer
Führer jein. Bor Allem ift die einfache, Mare, kurze und bündige ———— welche in entwickelnder
thode bie Grundlage des prafti 2 Rechnens darlegt, zu rühmen. Das Handbuch giebt eine voll=
ftänbige — ——— praktiſchen Rechnen und geht von den erſten Elementen, wenn auch in mehr
wiffentchaftlicher eile, aus. Die Urt den Generalnenner zu finden ift allein richtig, wie ichon ber
berühmte Mathematiler Unger unb in neuerer Zeit Dr. Kober in Meißen in der Beitihrift für Mathe
matif und Naturwiſſenſchaften von Hoffmann nachgewieſen hat. Die Decimalbrüde find jo ausführlich
und intereffant behandelt, mie kaum im einem andern praftiihen Rechenwerle Ebenſo richtig ift der
Bee in der einfachen und Ta Regelbetri, die Kette, die Repartitionsrehnung und
eſonders bie ein yore welche durch Railonnement und mit Hülfe der Gleichungen, auch der
diophantiichen, erledigt wird. Das neue Maf-, Münz- und Gewichtsſyſtem ift vollftändig durchgeführt.
Bei der —— find einzelne Aufgaben nad) dem Pfund à 50 Alth. gerechnet; allein in Haupt-
lade ift das Kilogramm mit feinen Unterabtheilungen zu Grunde gelegt und ift der Miſchungs⸗, Gold:
und Silberberechnung demgemäß ein befonderer Abichnitt mit lehrreichen Beilpielen gewidmet worben.
Sehr klar und einfach ift die Lehre von den Gleichungen. Dielelbe ift in einem praftiichen Rechenwerte
nothwendig, meil ug Be a und prattifhes Rechnen gegenfeitig unterftüßen jollen. Die diophantiichen
Aufgaben und ihre Auflöfung mwerben in elementarer und überzeugender Weile durch — aͤtze aus
ber Zahlenlehre eingeleitet, jo daß dieſelben in einfacher und leichter Weiſe zu löſen ſind. Auch die
Umwandlung der einen Zahlform in eine andere, die Grenzen der Zahlen ac. werben in den Aufgaben
und Aufldöjungen ſehr faßlich angedeutet. Es role dann eine ebenio wiſſenſchaftliche wie praftiihe und
deutliche Auseinanderfepung der Zinieszind- und Rentenrehnung; die beigefügten Tabellen find für ben
praftiichen Redner von großem Bortheil. Ebenfo deutlih und einfach ift die Darftellung über die Be—
—— der Raumgrößen. Da die Stereometrie ohne Berechnung von Aufgaben und ohne Fertigleit
in derſelben nicht vortheilhaft getrieben werden Tann, fo find die über die einzelnen Raumgrößen gegebenen
Beiipiele und * als ein Vorzug des Wertes zu —— Ebenſo richtig iſt es, daß von den
Kettenbrüchen zur Darſtellung von Räherungswerthen in Meinen Zahlen Gebrauch gemacht wird. Bon
großem Intereife für jeden Rechner iſt endlich die Darftellung der geihichtlihen Entwidelung des
praftiihen Rechnens, wenn auch eine vollitändige Geſchichte defielben nicht erwartet werden konnte.
So möge denn dieſes Werk, in welchem Wiffenichaftlichteit mit praktiſcher Methode auf’s befte
vereinigt ift, allen Lehren beftens empfohlen fein und ſich viele neue Freunde erwerben! Drud, Papier,
Preis ſind fo beihaffen, daß fie dem Berleger zur Ehre gereichen und bie —— bes Rechenwerkes
auch in dieſer Hinſicht vorzüglich empfehlen. (CEentral -GOrgan für die Intereſſen des Realfdmimelens.)
— —— ———— — —
Die
Gewerblichen Forthildungsſchulen
Deutſchlands.
Reiſeſtudien und Reformoorſchläge
auf Grund eines
den ügl. Preuß. Minifterien des Kultus und Handels eingereichten Keifeherihts
ausgearbeitet von
Dr. Rudolf Nagel,
RealihulsDberlehrer, Dirigent der gewerblichen Fortbildungsſchule in Eibing.
Mit 11 Anlagen.
—ñNi —
Il faut faire quelque chose.
Dr. 8 me,
der rdneten,
ie Beer.
Preis 3 Mark,
. Der Berfafler, jeit 10 Jahren Dirigent einer gewerblichen Fortbildungsſchule, hat Durch Unter:
Eosune bon Seiten der Königlichen Minifterien des Unterrichts und des Handels Gelegenheit gehabt,
ie außerpreußiihen deutihen gewerblichen Schulen zu bejuchen. Die Ergebnifje diefer Reiſen
ftellt er in dem eriten Theile feiner Schrift zufammen, indem er weniger einzelne Schulen, als viel-
mehr den Charalter ſämmtlicher Schulen eines jeden Landes darftellt und durch einzelne Beiipiele
dies allgemeine Bild ausführt. Dieſer erite Theil, die Reiſeſtudien, mit neun werthvollen Beilagen,
welche zum Theil ungedbrudte, ur Theil nur in bejonderen Gelegenheitsichriften oder Beitichriften
zeritreute Details umfaſſen, beichäftigt fih nebenbei auch mit der allgemeinen Fortbildungsſchule.
welche überall in Süddeutſchland den Hintergrund für die gewerbliche bildet, nnd giebt genau die Ge—
fese an, weldhe das Fortbilbungsichulmweien regeln. Es giebt jomit dieſe Reifeitubie jowohl ein all:
—— Bild deſſen, was in Beziehung auf gewerbliches Fortbildungsſchulweſen in dem nichtpreußiſchen
eutihland geleiftet wird, und enthält das zur vollitändigen Orientirung über bieie Frage
für Nichtfachmänner nöthige Material, quellenmäßig belegt, als fie auch für Communen, Vereine,
welche gewerbliche Schulen errichten wollen, eine erwünichte Ueberjicht über Lehrpläne, Ziele und Koften
ſolcher Schulen aus den verſchiedenſten Orten Deutichlands bietet.
Der zweite Theil beichäftigt fi mit dem Auftande der betreffenden Schulen in Preußen, und
weift nad, daß, mit Ausnahme der 1866 zu Preußen gefallenen Provinzen, welche vorher ſchon ein ge
orbnietes Fortbildungsſchulweſen hatten, überall jonit die Sache jehr im Argen liegt. Wis Beiipiele
——— Beſtrebüngen auf dieſem Gebiete in den Provinzen Preußen und Schleſien genaun
ausgeführt.
Der dritte Theil umfaßt einen Rückblick über das Vorhergehende, und eripart ſomit benjeniaen,
weice das Detail der beiden eriten nicht ftubiren, fondern ſich mit einem ganz allgemeinen Ueberblid
begnügen wollen, dieje Arbeit durch eine überfichtliche Zuſammenſtellung der gewonnenen Reiultate
und wirft einige Blide auf die Verhältniſſe außerdeutiher Länder. Das Gefammtergebnih ift, daß
Breußen hinter allen Anderen jo zurüd ift, Daß „etwas geiheben muß.“
Der vierte Abichnitt behandelt nun die Sigung des preußiſchen Abgeorbnetenhaufes vom 14. Fe⸗
bruar 1877, giebt eine detaillirte Ueberſicht der gehaltenen Reden und weiſt nach, daß die in dem erſten
Abihnitten ausgeſprochene Anfiht au in den Abgeordneten- und minifteriellen Kreiſen vollitändig —*
theilt wird. Er giebt ein lebhaftes und intereſſantes Bild davon, wie ſelbſt in den maßgebendſten Kreiſen
noch ein unſicheres Suchen nad einem Wege an dem als nothwendig erfannten Ziele
ftattfindet, und wie die Begriffe von der vollftändigen Klärung noch weit entfernt find.
Zu dieſer Klärung der Begriffe nnd der Feftitellung bes su erreihenden Ziele:
will nun der Verfaſſer in dem legten Mbichnitte beitragen, indem er feine Wünjche für die Organiiation
der gewerblichen Fortbiidungsihulen in Preußen ausipriht. Schließlich faßt er diefe Wüniche in Theien
turz zufammen und bittet, dieſelben nicht ald den einzig rihtigen Weg aufjufallen, den er alio
gefunden zu haben behaupte, fondern nur als einen ber vielen möglichen Wege, welcher jedenfalls
befier jei als keiner. Die Theien follen dazu dienen, in ®ereinen oder —— paſſenden Öffentlichen
Verſammlungen diskutirt zu werden. Sie gehen im Weſentlichen hinaus auf:
1) Die Bereinigung jämmtlicher gewerblicher Schulen unter dem Refiort des Handels minifteriums.
2) Die Einführung der obligatorifhen allgemeinen Lehrlingsſchule für alle Gewerte.
3) Die Einführung ber fafultativ gewerblichen Fortbildungsichulen.
4) Die möglichſte Begünftigung von kunſtgewerblichen Fachſchulen.
Der Berfafier will in allererfter Linie zu einer lebhaften Diökutirung diefer hodmwicdtigen
Frage thatfählihes Material liefern. Die kurze Inhaltöfkizge zeigt ſchon, daß es ihm gelungen ift,
diejes Material im reihlihiten Maße, geiihtet und Flar, den Leſern vorzuführen.
— —— —— —
Pädagogildhe Studien.
Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein.
1. Qelt.
Welcher Antheil gebührt Stunt, Schule und Haus
an dem Werke der Iugenderziehung?
Fin Beitrag
zur
Berftandigung über Prinzipien der Erzichung
mit Küdjicht
auf das demnächſt zur Beralhung kommende preußiſche Unlerrichtsgeſeh.
Von
Dr. Guſtav Radtke,
Prorector an der Fürftenichule zu Pleß.
„Dah die Jugenderzichung die Hauptiorge für
den Geſetzgeber jein müfle, darüber ift gar kein
Zweifel; und bie Staaten empfinden die Bernad)-
läffigung derfelben zu ihrem Schaden.“
Aristot. Polit VII, 1.
Wien und Jeipzig.
Berlag von A. Pichler's Witwe & Sohn.
uhhandlung für pädagogifhe Literatur und Lehrmittel » Anitalt,
Drud von Filher & Wittig in Leipzig.
Seinem treuen Freunde
einfligen Obergeſellen am Gymnafium zu Krotof chin,
Herrn Franz Wieländer,
Oberlehrer am Königl, Gymnaſium zu Schneidemähl,
widmet diefe Blätter in danfbarer Gefinnung
der Berfafler.
Digitized by Googl
Sieber Freund!
Als ich vor einem Decennium das Glück des perjönlichen Verkehrs
nit Dir genoß, und Du den braven Walter Berger, auf deſſen Hügel
jet jchon zum jiebenten Male vie treue Schweiterliebe friſche Blumen
pflanzte, und mich, uns Anfänger in ver Lehrkunſt, Deiner Freundſchaft
wiürdigteft, erfuhren wir Jüngeren durch Dich gar manche werthvolle Förde-
rung jowohl in unjeren wijjenichaftlichen Studien al8 auch namentlich in der
Klärung und Feitigung unferer päpagogifchen Grundjäge Wenn wir am
Nachmittage des legten Wochentages den traurig einförmigen Fluren Bojens
zu entlommen ftrebten und dem erſten Grenzort im lieben deutſchen Vater:
lande, dem traulichen Freihan mit feinem verlaffenen Schloß im Zopfitil
und jeinen wenig gepflegten Parkanlagen, zumwanderten, da redeten wir
am liebjten von der Schule. Wie oft haft Du auf diefen Spaziergängen
in Deiner verföhnenden Art die Strenge und Herbheit meiner übereilten
Urtbeile gemilvert, wie oft meiner jugendluftigen doctrinären Neuerungs—
jucht ven Zügel Deiner Ueberlegtheit und der aus einer reichen praftijchen
Erfahrung gewonnenen Bejonnenheit angelegt !
Ceitden bin auch ich ruhiger geworden. Ob Du bei der Lectüre
der nachfolgenden Abhandlung, die Dir meine berzlichiten Grüße vom
Fuße der Dir wohlbefannten Beskiden überbringen joll, gleichfalls dieſen
Eindrud von mir gewinnen wirft? Du fiebft, daß die Materie, die vor
Fahren unjeren Unterhaltungen fo oft zu Grunde lag, mich noch immer
bejchäftigt. Der Schmerz, jehen zu müfjen, wie viele Kinderſeelen theils
durch faliche Behandlung im häuslichen Kreiſe, theils durch directe
Bernabläffigung jeitens der Eltern wenn nicht geradezu fittlih zu Grunde
geben, jo doch ven Adel ver Seele einbüßen, jo daß fie ver Wiffenjchaft,
dem Baterlande und ven Voealen verloren geben, bat durch die Yänge
der Jahre, in denen ich jolche Erfahrungen mache, noch Nichts von feiner
Schärfe verloren. Und als vor ſechs Jahren jene Briefe über Berliner
Erziehung erichienen, welche wir jeiner Zeit in brieflihem Gedankenaus—
tausch beipracen, wurde mir immer Earer, daß bier in ver That eine
wunde Stelle in unſerem Volksthum liege, daß aber eine Heilung nur zu
finden jei, wenn der Staat jelbjt nicht nur den Unterricht, ſondern auch
die Erziehung des heranwachſenden Gejchlechtes unter feine Aufficht nehme.
„Zur Abwehr gegen Frankreich“ jchrieb unfer Berliner College feine
Briefe. Zwar nicht um die Abwehr eines mit den Waffen in der Hand
—
‚\.
geführten Angriffs handelt e8 fich, wohl aber darıım, daß der von Franf-
reich nach Deutichland mehr und mehr übergreifenden Bergnügungsjucht
bei Zeiten entgegen getreten werde. Wer das Volk bei feinen National:
feften, wer die Jugend bei ihren Beluftigungen ftill beobachtet, dem fann
e8 nicht entgehen, daß die Umbefangenheit eines kindlichen Lebensgenuſſes
verſchwunden ift, dab dagegen in erjchredendem Mafe die Zahl derer
wächit, venen das Vergnügen, und zwar gerade das grobfinnliche, das be—
wußte Endziel alles Strebens darſtellt.
In diefer Erjcheinung tritt uns nicht eine Krankheit, wohl aber das
Symptom einer ſolchen, und zwar einer bevenflihen entgegen. „Nach Ver-
gnügungen jagt der Menſch“, jagt irgendwo E. M. Arndt, „ver feine
Freude Hat.“ Wir, denen ſich die Sehnſucht vieler Generationen unjeres
Bolfes jo wunderbar erfüllt hat, die e8 erleben durften, daß unfer jo
lange von den Nachbarn verjpottetes Vaterland fich zur erſten Macht ver
Welt erhob, jollten feine Freude haben? Und doch it e8 in Wahrheit
jo. Wohl ward unmittelbar unter dem wuchtigen und überwältigenven
. Eindrud” der großen Ereignifje jo Mancdem das Wort Hutten’8 auf Die
Lippen gelegt: „O Yahrhundert, e8 ift eine Luft, in dir zu leben!“ Und
wie von Plate Yactantius berichtet, daß er den Göttern dankte, in Athen
geboren zu fein, nicht unter ven Barbaren, ſodann dafür, gerade zur Zeit
des Socrates zu leben, jo mag damals wohl Mancher von zwiefachem
Danke gegen die Vorjehung erfüllt gewejen fein, daß feine Wiege in
deutjchen Landen gejtanden hat, und dann, daß er den Aufichwung des
deutfchen Geiftes erleben durfte. „Aber jene Töne“, jagt W. Baum—
garten in feinen „Kirchliche Zeitfragen“ (Noftod 1874), „welche ven
Grund der Seele erfaffen und himmelan heben, wie die deutſche Nation
fie in den Seiten der fFreiheitsfriege vernommen“, die find dies Meat
ſchnell verflungen ; man hört fie längft nicht mehr. Und woher dieſes
raſche Herabfinfen von der Höhe einer großen und jo berechtigten Be—
geifterung? Liegt der Grund wirklich nur, wie man fich jo gern ſelbſt
überreden möchte, in der wirtbichaftlihen Galamität ver legten Jahre ?
Aber was hat doch die ſtudirende Jugend mit der Gefchäftsitilfle und dem
Rückgang der induftriellen Unternehmungen zu thun? Trotz der jtatt-
gehabten Erhebung des deutichen Volksbewußtſeins zeigt diefe, in welcher
jfih ja wohl die Blüthe des nationalen Lebens und der Volfsfraft, wie
einſt nach den Freiheitöfriegen in der frommen und von idealen Strebungen
getragenen Burfchenfchaft, abipiegeln jollte, gar wenige Ausnahmen ab-
gerechnet, einen nur zu bezeichnenden Mangel an Begeifterungsfühigteit.
„Es ift die allgemeine Mage der Schulmänner, — ich brauche die Worte
Baumgarten’ 8 — daß die Knaben an Zerjtreutheit und Schläfrigfeit
leiden, und an drei Hochjchulen haben drei hervorragende Lehrer in den
legten Jahren öffentlich fich bejchwert über Sclaffheit der academijchen
Jugend.“ Nach BVergnügungen eilen fie alle, aber jo raffinirt diefelben
jein mögen, fie fchaffen ihnen feine Freude, Feine Erholung Die über-
jättigten Knaben anticipiven die Genüſſe der Yünglinge, diefe in ihrer
Dlafirtheit die der Männer, — und doch die Herzensfreude bleibt fern
von Beiden. Bald werden fie gleich jenem Berjerfönig eine Belohnung
dem ausfegen wollen, der ihnen ein neues Vergnügen erfände.
%
vo
Diefe Signatur der heutigen Zeit darf der Patriot, darf der rechte Lehrer
des Volkes nicht aus dem Auge verlieren. Eind wir nicht im Stande, diefem
faft- und kraftraubenden Mehlthau ver Vergnügungsſucht entgegenzwiwirfen,
fo wird bald die allgemeine Stimmung flügellahın und dem Staube zuge:
wendet ericheinen. Ja mehr noch! Die Vergnügungsſucht birgt die
ernfteften Gefahren für ven Beſtand ver Nation. As der Römer Fabrictus
von Cineas, dem Höfling des Königs Pyrrhus, vernommen hatte, e8 lebe
in Athen ein Mann, ver als Weifer gelten wolle und ver die Lehre auf:
jtelfe, man müjje alles, was man thue, des DVergnügens halber thun, da
joll er dem Wunſche Ausoruf gegeben haben, daß doc die Samniten
und Pyrrhus ſelbſt dies als Wahrheit annehmen möchten, denn dann würde
der Sieg über ſie um ſo leichter zu erkämpfen ſein.
Aber wie iſt zu helfen? Wo iſt die Wurzel dieſes uebels? Baum:
garten jagt richtig: „Der legte Grund liegt darin, daß der Verfehr der
Volksſeele mit ihrem Gott, dem ewigen und einigen Urquell aller unferer
Freude, feit lange gehemmt ift. Die ftaatsfirchliche und die Kirchenftaatliche
Anjtalt, diefe beiden verweltlichten Priejterinnen, anjtatt das heilige Zwie—
geſpräch zwiſchen Gott und dem Bolf zu vermitteln und zu pflegen,
hemmen daſſelbe durch ihr unendliches Formel- nnd Ceremonienwefen. Fort
mit dieſem falfchen Priejtertfum, und e8 wird in ven Seelen wieder an—
gefacht die Glut der wahren Andacht, und vom Himmel her wird wiederum
in den Örund der Herzen die Fülle dev Freude fich ergießen. Erjt in
der Volkskirche, welche Luther's tieffinniges Wort: „Gott und Bolf find
Correlate“ wahr machen wird, wird die wahre chriftliche Freudigkeit geboren,
welche die Bolfsjeele mit einer jchöpferiichen Kraft der Begeifterung
ausrüftet“.
Die evangelifche Kirche in Preußen Hat nun eine VBerfaffung, die ung,
jo Gott will, diefem Ziele immer näher und näher zu kommen gejtatten
wird. Aber joll deshalb ver Lehrer, der die Verantwortung für die rechte
Erziehung des heranwachſenden Gefchlechts trägt, dieſe Zeit unthätig er-
warten, in der die Väter ihre Söhne wieder auf den Grund hinweiſen
werden, auf dem wahre und umvergängliche Freude erblüht? Ach, dieje
Zeit jcheint zudem noch fern. Denn
Was einft Troft und Heil den Maffen,
Ward zur Satung dumpf und ſchwer;
Diefer Kirche Formen faffen
Dein Geheimniß, Herr, nicht mebr.
Zaufenden, die fromm dich rufen,
Weigert fie den Gnadenſchooß:
Wandle denn, was Menſchen jchufen,
Denn nur du bijt twandellos,
Aus den dunkeln Schriftbuchftaben,
Aus der Lehr' erftarrter Haft,
Drin der heil'ge Geift begraben,
Laß ihn auferftehn in Kraft!
Laß ibn übers Rund der Erde
Wieder fluthen frob und frei,
Daß der Glauben Yeben werde
Und die That Bekenntniß fer!
vul
Flammend zeug’ er, was vereinigt
Einit der Boten Mund getönt,
Wie's vom Zeitlicen gereinigt,
Sich dem Menſchengeiſt verſöhnt;
Zeug’ ev, bis vor ſolcher Kunde
Iede Zweifelftimme ſchweigt,
Und empor vom alten Grunde
rei die neue Kirche fteigt,
Wir Lehrer wollen dem vorfichtigen Arzte gleib auch Prophylaxe
treiben. Es gilt, ven Knaben und Jüngling zu hüten, damit er nicht
auf jene abſchüſſige Bahn gerathe, die jählings abjtürzt, auf ver es feinen
Halt mehr gibt; es gilt, den Menſchen gleich von Jugend auf dazu
anzuleiten, daß jeine Freude und fein Schmerz fi an den rechten Gegen-
jtänden erweife; denn das iſt nach Plato und Ariftoteles die wahre Jugend—
evziehung (Plat. leg. II p. 653, Steph. p. 232, Bekk. Aristot. Nic.
Eth. I, 3, 2); es gilt, in unjerm Volke, das ſich von der grauer Vor—
zeit ber des Rufes eines warmen Herzens erfreut, die Flamme der Be:
geifterung für alles Hohe, Schöne und Heilige lebendig zu erhalten. Dazu
iſt freilich nöthig, dar die Schule ein erweitertes Feld und umfaſſendere
Rechte für ihre Wirkſamkeit erhalte Daß ich hierbei auf Widerſpruch
jtoßen werde, weiß id. Der liberale Diefterweg (Päd. Wollen und
Sollen, 2 Aufl. 1875, S. 233) und der orthodoxe Palmer (Ev. Schulpäd.,
Stuttg. 1853, II, p.,57) find darin einig, daß die Erziehung der Kinder
ein Hausrecht fei, in das der Staat nicht dreinreden dürfe Aber das
fann mich in meinem Vorſchlage nicht irre machen. Denn einerjeits
haben jene beiden Pädagogen eine Auffafjung vom Staate, welche die
unjrige nicht mehr jein Fann, andrerjeits gebietet die Selbjterhaltung, das
väterliche Necht infoweit zu bejchränfen, daß der aufwachſende Sohn in
den Stand gejett werde, die Aufgaben zu löfen, die der Staat ihm ftellen
muß. Schleiermaher wenigitens, deſſen patristifches Herz von hoher Be—
geifterung für das Ideal des Staates erfüllt war, fennt einen Fall, in
dem der Yegtere fi um die Erziehung zu kümmern hat. Er fagt in
jeiner Erziehungslehre, S. 528: „Der Staat fann einen thätigen Antheil
an der Erziehung des Volkes nehmen, wenn es darauf anfommt, eine
höhere Potenz der Gemeinjchaft und des Bewußtſeins derſelben zu jtiften.
Iſt das gejchehen, jo gibt er fie in die Hände des Volfes, d. h. an die
Gemeinden, an die Kommunalverfafjung zurüd, die durch ihre Gemein-
ſchaft mit der Kirche und den wiljenjchaftlichen Verein, deſſen Glieder
durch fie zerjtreut find, auch intellectuell belebt wird.“ Siehe zu, lieber
Freund, ob e8 mir, dem Du einft zum Studium Schleiermacer's energiſch
zuredeteit, gelungen ift, in den folgenden Ausführungen diefen Standpunkt
Deines Philofophen feitzubalten! In treuer Liebe
Pleh, im Wonnemonat 1877.
Dein
Radtke.
Inhaltsangabe.
eite
1} Die Wandelung in der Auffaffung der Rechte des Staates gegenüber Be
Einzelnen in unferem Jabrbundert . . . . |
2) Die Entwidelung der deutihen Schule zur Staaisſchule
3) Lockerung des Bandes der Familie in dem ſich vervollkommnenden Stantsmefen.
Familien- und Staatserziehung... 13
4) Die heutige Familienerziehung — —198
5) Die Notbwendigleit einer ſtaatlichen Benuffichtigung * —— — 2—
6) Die Organe des Staates bei dem Wert der Erziebung . . . A: |
7) Bon den Mitteln der Erziebung, befonbers in den böberen Lebranftalten, Die
Strafarten .
s) Zufammenftellung * Grundſat⸗ — ———— die in = —
Unterrichtsgeſetz Aufnahme zu finden verdienee. 495
Radike, Welcher Antheil ıc. 1
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I
1.
Die Wandelung in der Auffafung der Rechte des Staates
gegenüber dem Einzelnen in unferem Jahrhundert.
Ber Sturm- und Drangperiode, die fib im vorigen Jahrhundert auf
dem Gebiete unferer Yitteratur abjpielte, folgte in unferem Zeitalter eine Sturm—
und Drangperiode auf dem Gebiete des öffentlichen Lebens. Wie die erjtere
gerade dadurch, Daß jie mit der Tradition des Zopfes bredend die Feſſeln
jener erjtarrten Gefege, die bis dahin gegolten, abjtreifte und für das Subject
eine jchranfenloje Freiheit in Anfpruc nahm, aus ihrem Schooße die zweite
Blüthe unjerer Yitteratur gebar, weldye bei aller Wahrung der der Genialität
und der Originalität zufommenden Freiheit dod die Geifter wieder in die
Bahn der Kegeln lenkte, freilich der auf geläutertem Geſchmack gegründeten
und aus dem Studium der alten Klaffifer gefhöpften und zu klarem Bewußt—
jein gebrachten Regeln, jo haben vor den Augen der Zeitgenofjen die vevolu-
tionären Beitrebungen in der Politik einen ähnlichen Prozeß durchlaufen um
ein ähnliches Reſultat in unjeren Tagen gezeitigt.
Wenn hierbei nun aud unlengbar die Deldenthaten unferes Volkes in
ven legten Kriegen, die Befreiung defjelben von den das Recht der Selbit-
beftimmung beſchränkenden Einflüfien der Nachbarn und vor Allem die Wiener:
aufridtung des deutjchen Reiches als Die greifbarften Zeichen der neuen Zeit
in Die Augen jpringen, jo ſind dieſe Thatſachen doc für den tiefer im Die
Betrachtung der zeitgenöſſiſchen Geſchichte eindringenden Forſcher eben nur die
nothwendigen Folgen der inzwiſchen erfolgten Veränderung des geſammten
Volksgeiſtes. Dieſe Umgeftaltung hebt mit dem Befreiungsfampfe im zweiten
Decennium unjeres Jahrhunderts an; ihre Spuren verfolgt man dann in der
anfünglid) noch wirren Gejtaltung des nationalen und freiheitlihen Gedanfens
in ber Burſchenſchaft, bis dann der neue Geift in der Mitte unſeres Säcu—
ums in wilder Yeidenfchaft ausbricht, in der Folge aber durch heilfame ſtaat—
lihe Einrichtungen auf ein berechtigtes Gebiet gelenkt wird, um ſich hier zum
Frommen der Nation thätig zu erweiſen. Denn wahrlih, der Segen der
— Gott Yob! — überftandenen politiihen Sturm: und Drangperiode zeigt
ſich nur mittelbar in den Waffenthaten und in der jegigen achtunggebietenden
Stellung unjeres Bolfes nad aufen bin; er liegt vielmehr darin, daß ſich
aus ihr heraus der einſt verpönte Gedanke der Stantögewalt, oder, wie
die Gegner der heutigen Entwidelung fagen, der Omnipotenz des Staates,
1*
2
philoſophiſch geiprochen, des. Borrechtes der Allgemeinheit vor den Sonderinter:
eſſen der Einzelnen geftaltet hat. .
Denn wenn nad Hegel jedes Kulturvolf, bevor es zur Löſung jeiner
eigenthümlichen Aufgabe kommt, die Stadien der früheren Kulturwölfer zu
durchlaufen hat, jo ift es Feine Phraſe, wenn wir behaupten, daR die Deutſchen
im Yaufe des gegenwärtigen Jahrhunderts aus Hellenen zu Römern geworden
find, d. bh daß wir uns aus dem politischen Nihilismus, dem Kosmopolitismus,
zu dem poſitivſten Patriotiemus und aus einem weſentlich fpeculativer Arbeit
zugemwendeten Volk zu einem energiſchen und praktiſchen berausgearbeitet haben.
Diefe Umwandlung im Einzelnen zu verfolgen, bietet hohes Intereſſe, liegt
aber doc zu ſehr außerhalb des Rahmens unferer gegenwärtigen Betrachtung.
Dennoch ift das Factum felbft für die Grundauffaſſung der bier zu behandeln-
den Frage nad dem Umfange, in dem ver Schule, d. h. dem vom Staat
beauftragten Injtitut, die Aufficht über die Sitten des heranwachſenden Ge-
ſchlechts und deren Erziehung obliegt, jo wichtig, daf Ausgangs: und Endpunkt
jener Entwidelung einer furzen Charakteriſirung wohl werth erjcheinen.
Noch vor zwei Menfcenaltern nannte ein tiefjinniger Kenner des Alter:
thums, der alte Jacobs, Deutjcland das moderne Griechenland. Und mit
Hecht. Auf allen Gebieten des geiftigen Lebens und Strebens trug unfer
Bolf die Signatur des griechifchen Charakters mit allen feinen Borzügen,
namentlich aber auch mit allen feinen Schwächen. Ich mill nicht erjt von der
damaligen politiihen Zerriffenheit in unzählige Staaten und Staatchen, von
der Zerflüftung in faftenartig gejchiedene Stände und Parteien reden, jo jehr
auch gerade diefe Züge an das Hellenenthum erinnern. Jene ſchamloſen Ber-
väthereien innerhalb der Bürgerjhaften von Speyer, Worms und Frankfurt a/M.
und jener offene Abfall der Stadt Mainz zu den Franzoſen gegen Ende des
vorigen Jahrhunderts, die Sympathie jo vieler Deutſcher für die franzöſiſche
Revolution und jpäter für Napoleon I. find getrene Abbilder der ſchändlichſten
Ausſchweifungen des griechiſchen Particularismus, haben aber in der Geſchichte
feines andern Bolfes ein Analogon. Werner „entgegen der Erfahrung, daß
entjcheidende Ereignifje der Weltgejdichte der diberwiegenden Mehrheit des
zunächſt betroffenen Volkes dieſelbe Richtung verleihen, ſah man vordem bei
den Deutſchen wie einft bei den Griechen über die Hauptwendepunfte ihrer
Geſchichte die tieffte Meinungsverſchiedenheit. Soll id) fie aufzählen? es iſt
eine lange Reihe! Ueber den Urfpruug des deutſchen Reiches, über die
Natur der Kaifergewalt, über die deutfchen Kämpfe in Italien, über den Segen
oder Unjegen der Hausmächte, über die Reformation, über den Dreißigjährigen
Krieg, über Friedrih den Großen und ven fiebenjährigen Krieg, über Dejter-
reichs Reformverſuche im 18. Jahrhundert, über feine Reftaurationspolitif
im 19., über Preußens Beruf in Deutjchland, über Dejterreihs Stellung zu
beiden waren die Deutſchen völlig getheilter Meinung. Dafür gelten wir
freilich, wie ebenfalls die Griechen, als das Denker: und Dichtervolf zer
2Eoyyvr. Eine Nation von Dentern und Dichtern — dem Auslande unge:
führlich, zufrieden mit dem Looſe des Poeten in Schillers Gericht.“ *) Dieje
*) Worte Trauttwein’s von Belle aus deſſen Abhandlung „Deutſche Einheit und
deutſche Uneinigteit. Eine zeitgendffiihe Studie“ in der beutjchen Bierteljahrszeitichrift
1369, Heft 1,p. 1. Daß ich jeboch die weiteren Ausführungen dieſes Auffages mir
nicht zu eigen mache, darf ich wohl nicht erſt verſichern.
3
doctrinäre Beanlagung, diefe Ideologie unferer Nation erfüllte fie dur alle
Stände hindurch mit tieffter Verachtung gegen Praxis und Politik. Nur zu
wahr bezeichnete Yichtenberg feine Landsleute mit dem bekannten Ausſpruch:
„Der Charakter des Dentjchen liegt im zwei Worten: patriam fugimus,“
Aus Luft an imtellectueller Thätigkeit trieben wir Kunſt und Wiffenfchaft,
aber jede Art praftifcher Verwerthung, aud im Dienſte des Baterlanvdes, hätte
als Entweihung der Würde „der jchönen Künfte und Wifjenfchaften“ gegolten.
Diefe legteren und das öffentliche Peben wandelten auf ganz getrennten Bahnen.
Wohl conftruirten unfere Philofophen auch Staatöverfafjungen, aber wenn man
diefe hätte im Ernſt in die Praxis irgendwo übertragen wollen, jo würden fie
wohl wie Plato in dem gleihen Falle von einem ſolchen Unternehmen jelbjt
in aller Harmlofigkeit abgerathen haben. Die Goethes und die Sciller's,
die Humboldt's und die Hegel's, die Winfelmann’s und die Wolf’s, von den
Epigonen gar nieht zu reden, fühlten fi als Gelehrte hoch über vie feſſeln—
den Grenzen der Nationalität erhaben. Sie wollten viel mehr Menſchen und
Veltbürger als Deutſche fein. Und in ſolchen Auffafjungen wurde nun auch
die Jugend groß gezogen. Noch in den vierziger Jahren ftellte ein ſehr ge—
lehrter Philolog jeinen Secundanern als Thema zur Bearbeitung: Preis des
Kosmopolitismus; die. Schüler waren angewiefen, das befannte Wort tes So-
frates, mundanum se esse, zu verherrlihen. Dafür begehrte nunfreilich Jeder jo
viel perfönliche Freiheit für fich, als faum mit dem Wejen eines Staates verträg-
lih war. Das Aase Sıwcas galt jedem Familienvater, befonders aber ven
doctores umbratiei, die Manche heute jehr zur Unzeit in den höheren Schulen
gern wieder erwecten, al® wirkſame Beihwörungsformel gegen die Störungen
des öffentlichen Lebens und als die wahre Grundlage zu jeder Glüdfeligfeit,
der epicureifchen wie ber ſtoiſchen.
Und nun in der aus folder Schulweisheit und folder Familien-Erziehung
berausgewachjenen Generation weld’ völlig andere Geiftesrichtung! An die
Stelle ver Hinneigung zur Specnlation und zur Geftaltung leerer Phantafie-
gebilve ift auf jeden Gebiete des deutſchen Volksthums nüchterne, praktiiche,
energifche Arbeit getreten. Neben hervorragender Intelligenz findet der eijerne
Wille berechtigte Anerkennung. Die kosmopolitiſchen ITräumereien find einem
euthuſiaftiſchen Patriotismus gewicen. Das in bejchränftem und egoiſtiſchem
Selbſtſinn erkaltete Einzelſtreben iſt in warme Begeiſterung für das Allgemeine,
in Luſt am Schaffen und in opferfreudiges Wirken für die weiteren und
höheren Intereſſen des deutſchen Vaterlandes übergegangen. Auch bei uns er—
kennt man jetzt wieder nad den Worten des genialen Hiſtorikers Treitſchle
an, dar es außerhalb der Nationalität werer Kunft noch Wiſſenſchaft noch
irgend welches geiftige Leben gebe. Dieje legteren find ſich jest durchweg
ihrer Verpflichtung, für das Voltswohl zu jorgen, bewußt, und ihre Träger
wollen fich nicht mehr, wie ehedem, in eim einjeitiges und unfruchtbares Studium
verlieren, fie betrachten es vielmehr als ihre erſte Aufgabe, an der Förderung
des Vollsthumes nach Maßgabe ihres Vermögens mitzuwirken. Welche Kräfte
ni thätig gewejen find, um diefe Umwandlung zu Wege zu bringen, läßt
jih nicht in wenig Worten darthun. Aber den einen Hinweis vermögen wir
nicht zu unterdrücken, nämlic den, daß es der preußiſche Geift geweſen ijt,
der jo Großes gewirkt hat. Durd) Friedrih Wilheln den Erften, den jtrengen
Zuctmeifter der Preußen, ver nad Droyjens ebenjo gründlichen wie geiſt—
4
vollen Unterfuchungen jett enblich neben feinem großen Sohne und Nachfolger
gebührend gewürdigt wird, ift dieſem Volk jenes Pfliht- und Ehrgefühl bis
ins Mark eingepflanzt worden, das dann der tiefe Denker von Königsberg in
ein philoſophiſches Syſtem brachte. Hier find die Wurzeln der Neugeftaltung
des deutſchen Lebens. Die Thaten des großen Friedrich, dann die Nieder:
lagen bei Jena und Auerſtädt, die Stein’ihe Geſetzgebung thaten das Ihrige
zu deſſen Erftarfung. Und als num auch in ber Pitteratur mit Klopftod une
Leſſing, mit den Sängern der Freiheitsfriege und mit den ſchwäbiſchen Dichtern,
in der Philofophie mit Fichte und Schleiermader eine nationale Richtung
durchbrach, da war die Grumdlage für das neue deutſche Volksthum gejchaften.
2.
Die Entwickelung der deutfhen Schule zur Staaisſchule.
Sp wird denn auch unſere Pädagogik mehr und mehr eine nationale,
Nichte hatte die Schule in diefe Bahn zu bringen getrachtet, indem er ale
oberfte Aufgabe aller Erziehung die binftellte, in allen Herzen die wahre und
allmächtige Baterlandsliebe, den Enthuſiasmus für das Allgemeine zu entzünden.
Als nad dem Freiheitskriege das Bedürfniſß gefühlt wurde, an die Stelle ver
vielen verfchierenen und zum Theil unter fi entaegengefegten Beſtimmungen
über den VBolfsunterricht, Die in den einzelnen Theilen der preußifchen Monarchie
in Geltung waren, eine allgemeine Schulordnung zu ſetzen und dadurch die
nationale Einheit bauen zu helfen, wurde von dem Minifter von Altenftein ver
Staatsrat Süvern mit der Ausarbeitung eines Promemorias betraut. In diefem
finden wir die National-Jugenderziehung bereits fefter ins Auge gefaht. Es
heißt dort: „Jeder Staat wirft durch feine ganze Berfaflung, Geſetzgebung
und Verwaltung erziehend auf die Bürger ein, ift gewiſſermaßen eine Erziehungs:
Anftalt. im Großen .. . . Geſetzgeber und Lenker der Staaten, welde vied
erkannt, ſahen zugleich ein, daß zu einer folhen Nationalerziehung im Großen
die National= Jugenderziehung vorbereiten ımd des ganzen Werkes Grund legen
müſſe.“ Der nationale Aufſchwung der Freibeitstriege klingt bier noch mächtig
wieder. In den fpäteren Seiten ward jenes Ziel mehr und mehr aufaeneben.
Erit jeit dem Wiedererfteben des deutichen Reiches ertönt der Ruf nach nationaler
Erziehung, der fo lange verſtummt war, wieder lauter und lauter umd ift jett ein
allgemeiner geworden. Aber wenn dies jo berechtigte Streben fein Ziel gewinnen
joll, jo muß aud die Schule felbit, die höhere wie die niedere, eine nationale
Anftalt werden. Das Eine tft in meinen Augen ein nothwendiges Complement
zum Anderen, die Staatsfchule die anders nicht zu erfegende Grundlage für
eine gedeihliche Thätigkeit der Yehrer im nationalen Sinne. Die Schule darf
nicht mehr ganz oder auch nur tbeilweife im Auftrage der Familie wirken, wie
Hegel will, anch nicht commmmales Inftitut, wie vielfach heut zu Tage der Tall
it, nocd weniger firchliches fein, fie muß durch Staatsgeſetze organifirt, die
Lehrer müſſen ſtaatlich autorifirt, eine gewilfe Mitwirkung aber der Familie,
der Gemeinde, der Kirche unter ftantliher Aufficht geſetzlich gewährleiſtet fein.
In Preußen ift die Schule eigentlich von jeher eine Staatliche Einrichtung,
wenn auch die factiſchen Verhältniffe diefen Charakter derſelben vielfach und in
den verjchiedenen Zeiten bald mehr, bald weniger verdunfelten.
5
Schon Karl der Große, der bei der Gründung ſeines Reiches überall mit
jo glücklichem Tacte und mit jo klarem Verſtändniß für das, was einem Staate
North thut, verfuhr, machte die von ihm gejtiftete Schule zur Stantsanftalt.
Durch Einführung eines gewiſſen Schulzwanges gab er dieſem Inſtitut eine
gejegliche Grundlage. Dem Geifte dieſes vortrefflihen Fürſten jchwebte eine
allgemeine VBolfsbildung vor. Denn er begriff wie Keiner vor ibn, Wenige
nach ihm, welche Schätze in dem deutjchen Volksgeiſt ruhten. Da er aber, wie
noch mehr jeine Nachfolger, ſich genöthigt ſah, als Lehrer Geiſtliche anzuſtellen,
ſo geſchah, was auch in der Folge immer wieder eintreten mußte, ſo oft auch
energiſche Staatsmänner die Schule als Staatsinſtitut in Anſpruch nahmen,
daß nämlich bei dem Mangel eines eigenen Lehrerſtandes ſich die Kirche der
Erziehung der Jugend bemächtigte.“) Die Kloſter- und Domſchulen des Mittel-
alters trugen jo gut wie Nichts von ftaatlihem Charakter. Ihre Aufgabe
beitand ja auch hauptſächlich nur darin, für den geiftlihen Beruf vorzubilven,
wiewohl ja auch einzelne adlige Kinder im ihnen Bildung ſuchten, die nicht
dem geiftlihen Amt ſich widmen wollten. **) Luther ***) war der Erfte, der
die Schulen ausprüdlich als nicht blos kirchliche, jondern zugleich auch ftaat-
lihe Emrichtung aufgefaht willen wollte. „Man fann die Schulen“, fagt er
ein Mal, „nicht entbehren. Wenn die Fürften die Unterthanen zwingen können
auf die Mauer zu fteigen umd zu ftreiten, um wie viel mehr jollen die Obrig-
feiten nicht die Schulpflicht einführen?“ Unbewußt geht er damit auf ben
Standpunkt Karl's des Großen zurüd. Doch ftrebt er infofern weiter denn
diefer, als er den Schulzwang auf die Mädchen ausgedehnt wiſſen will. Die
*) Hahn, Geld. des Unterrichts, in Franfreihb IL, ©. 13. „Nachdem aber bie
Schwäche der Nachfolger Karl's des Gr. die letzten Ueberrefte feiner koloſſalen Königs—
macht batte dabinichwinden lafien, nachdem die öffentlihe Gewalt geſchwächt und ae-
tbeilt aus den Händen des Königs in die.der Fehensritter berabgefallen war, blieb
die Geiftlichkeit lange Zeit in fait unumſchränktem Befite des öffentlichen Unterrichts,
deffen Pflege ihr Karl der Gr. nur unter feiner Oberbobeit anvertraut hatte. Seit
dem 10, Jahrh. fam das Recht der Staatsgewalt über den Unterricht in Vergeſſenheit,
um während mebr al8 dreier Zabrbunderte der ausſchließlichen Geſetzgebung der Biſchöfe
und Fäpfte Platz zu maden. “
**) Vergl. u. A. Juſt, Zur Pädagog. des Mittelalters, Heft 6 diejer Pädag.
Studien, p. 24.
***) Daß auch jchen lange vor Luthers Mahnung einzelne beutiche Städte, wie
Heidelberg, Yübed, Hamburg, Breslau, Yeipzig, Braͤunſchweig, 9 Lüneburg, Noftod,
Greifswalde, Stettin, ja auch Kleinere wie Goldberg i /Schl., um dem in allen Ständen
damals erwachten Bildunasbedürfnifi zu. entiprechen, Schulen ins Leben riefen, ift be
fannt. Ja in Nürnberg bildeten die Schullebrer jchon eine Zunft. Im dieien Grün
dungen iſt allerdings die Wiege der Volksſchule zu ſuchen. Aber vor Luther waren
diefe Pebranftalten, wenn gleich die Magiftrate mit Schulmeiftern Contracte abſchloſſen,
doch nur Unternehmungen privaten Charakters. Wie der Krämer, fo lud auc ber
„Yebhrmeifter“ duch ein Ausbängeichild (fiebe Hechter, Geſchichte des Schulweſens in
Bafel bis zum Sabre 1589, S. 26) zum Beſuch ein. Erft mit dem von Yutber auf-
aeftellten Prinzip der Schulpflicht ward ber eigentliche rund der Volksſchule aelent.
Wenn Balmer (ev. Pädag., Stuttg. 1853, IL, S. 27) berichtet, daß die Lehrer an dieſen
Schulen ftets leriler waren, und nur einen Ausnahmefall kennt, wo ein Mediciner
als Schulmeifter berufen wurde, jo ift zu bemerken, daß Diele Ausnabme doch nicht To
ſelten geweſen zu fein ſcheint. Wenigftens weift die Reibe der Nectoren ber jüngft auf-
aelöften, ebemals jo beriibmten lat. Schule in Goldberg innerbalb des 1. Jahrhunderts
ihres Beftebens zwei Mediciner auf. Vergl. meinen Auffa über diefe Schule in der
Zeitſchrift von Fledeifen-Mafius, Jabrg. 1877, September-Heft.
proteftantifchen Fürften und Städte folaten befanntlich mit einer bewunderungs—
würdigen Opferfreudigfeit dem Mahnruf des NReformators, überall Schulen zu
gründen. Die kurſächſiſche Kirchenordnung vom Jahre 1580 ordnet an, daß
wo in den Dörfern nod feine Schulen für die Kinder „der arbeitenden Leute“
errichtet wären, mit deren Eröffunng alsbald vorgegangen werden jolle „nad
Rath der Erb- und Gerichtöäherren”. Die Idee der deutſchen Volksſchule wird
dann von Comenius weiter ausgeführt. Ale Knaben, ohne Ausnahme, auch
die, welde das Studium ergreifen follen, will er durd die allgemeine Volls—
ſchule hindurchgehen laſſen, für die er jie vom vollendeten ſechſten bis zum
zwölften Lebensjahre in Anfpruc nimmt. Und in praftifcher Durchführung
zeigt jich diefe Idee von der Mitte des 17. Jahrhunderts ab in dem Herzog:
thum Gotha, wo nad einem damaligen Sprüchwort die Bauern nelehrter waren
ale anderswo die Städter und Evelleute. Nah dem Schulmethodus des Herzogs
Ernft L, Gotha 1642, gehören alle Kinder, Knaben und Mädchen, in Dörfern
und Städten, jobald jie das fünfte Jahr zurücgelegt baben, Sommer und
Winter der Schule, in der täglih „3 Stunden VBor- und 3 Stunden Nadı-
mittags unterrichtet werten ſoll; nur Mittwoch und Sonnabend find die Nach—
mittage frei. Den armen Schulfindern hat die Gutsherrſchaft umſonſt das
„Syllaben= und Yejebüchlein“ zu geben. Schulverfäumnifje aber werden Seitens
der Eltern durch Gelpitrafen gebüßt.
Aber vor Allen haben die Hohenzollern von Anfang an aud auf dem
Gebiete der Schule ſich als die eigentlichen Erben des Staatsgedankens des
großen Karl und als die Träger der protejtantifchen Geijtesfreiheit, die ohne
die Volksſchule nicht beftehen kann, gezeigt. Denn die preußiſchen Regenten
begnügten ſich jo wenig wie jener Herzog von Gotha, für die ftudirende Jugend
Selchrtenichulen ins Leben zu rufen und dadurch Vorforge zu treffen, damit
fein Mangel an geeigneten Kräften zur Befegung der Beamtenpoften eintrete*),
jondern fie richteten ihr Augenmerf noch vielmehr auf die Elementarjchule und
damit auf die Erziehung des ganzen Volkes. Schon in der brandenburgijden
Kirchenordnung vom Jahre 1572 erhalten die Pfarrer und Küfter den Auftraa,
auf eine entſprechende Belehrung des Volles turd Katechefationen Bedacht zu
nehmen, Den eigentlichen Grund zur Volksſchule in Brandenburg - Preußen
legte der große Kurfürft, ver im Jahre 1662 die Verordnung erließ, daß die
Gemeinden allen Fleiß aufwenden jollten, in den Dörfern wie in den fFleden
und Städten wohlbeftellte Schulen ins Leben zu rufen. Im feine Fußtapfen
tritt Sriedrih Wilhelm J. mit dem wohlbelannten Generalſchulplan. Dieſer
arope Disciplinator des preußiſchen Volkes organifirte troß mannigfacher
Schwierigfeiten und unter erheblichen Koften die Landſchule als ftaatliche
Ordnung und bejtimmte als jchulpflichtiges Alter die Zeit vom fünften bis
zum zwölften Pebensjahbr. „Zum Oberdirectorio muß ein Weltlicher fein“,
jo lautet eines der eigenhändig vom König gefchriebenen Principia. Wenn nun
*) Solhen Mangel empfand Kaifer Marimilian I, wie aus folgender Stelle in
Luther's Predigt: „daß man Kinder zur Schulen halten ſolle“ 1530 (Jenaer Ausg. V, 151)
bervorgebt: „Ah bab von dem löblichen fbeuren Kaiſer Marimilian hören jagen, wenn
die großen Saufen drumb murreten, das er der Schreiber fo viel brauchte zu Bot-
haften und fonft, das er foll gefagt haben: ‚Wie fell ih tbun? Sie wöllen fi nicht
brauchen laffen; jo mus ich Schreiber darzu nemen‘, Und weiter: ‚Ritter fan ich maden,
aber Doctor fan ich nicht machen‘.“
-
auch die Schulmeifter in erſter Inftanz unter die Prediger geftellt wurden, fo
waren dieſe doch unter der Regierung dieſes Fräftigen Königs jelbft recht
eigentlich Staatsbeamte. Die große Bereutung der Schule fir den Staat
fonnte am wenigiten-Friedrich dem Großen entgehen.*) Was er für die Hebung
des Unterrichtswejens und der Volkserziehung gethan willen wollte, finden wir
am Farjten im Eingange jeines Briefes über die Erziehung ausgeſprochen.
„Ic liebe e8“, jagt er dort, „diefe Jugend zu betrachten, die unter unjeren
Augen heranwächſt. Sie iſt die Fünftige Generation, die der Aufficht ber
jeßigen anvertraut it, eim neues Menſchengeſchlecht, das beranreift, um das
gegenwärtige zu erjeßen; es ift die Hoffnung und die Kraft des Staates, die
aut erzogen, jeinen Glanz und feinen Ruhm fortdauern machen fol. Darım
muß ein weijer Fürſt allen feinen Fleiß darauf verwenden, in jeinen Staaten
nützliche und tugendhafte Bürger zu erziehen.“ **) Friedrich's Unterrichtsminifter,
der Freiherr v. Zedlig, unterftüßte feinen König in den auf dies Ziel nerichteten
Beftrebungen auf das Treuefte.***) Sofort mit Beendigung des fiebenjährigen
Krieges beginnen FFriedrihb des Großen Sorgen für Wiederaufrichtung des
durch den Krieg arg verwülteten Volksſchulweſens feiner Provinzen. Bereits
fieben Tage vor dem Abſchluß des Hubertusburger Friedens, den 8. Februar
1763, erläßt er am die Kurmärfiiche Kammer den gemefjenen Befehl, nur
eramimirte und tüchtig befundene Sculmeifter anzuftellen, umd drei Tage vor
dem Abjchluffe diejes Friedens, am 12. Februar 1763, jchreibt er aus Leipzig
feinem damaligen Eultusminifter, v. Dandelmann, er habe acht Schulbalter in
Sachſen angenommen, wovon vier in der Kurmark, vier in Hinterpommern auf
Aemtern angeftellt werden jollten, und befahl für ihr Unterfommen zweckmäßig
zu jorgen und fie gegen alle Verfolgung des Neides zu jhüten, damit fie zum
Berjpiel dienen und fogar die Schulmeifter lehren fünnten, die Jugend befier
zu unterrichten. Einen Monat jpäter, am 20. März, ordnete er in einem
Screiben an das gneiftlibe Departement in Schlefien und an den Weihbiſchof
v. Stradwig in Breslau für die Schulen beider Confeffionen regelmäßige
Reviſionen von Staatswegen an.z) Den Schlußſtein endlih der Organiſation
des Volksſchulweſens ſetzte der große König am 12. Auguſt deſſelben Jahres
mit dem Erlaß des von dem Oberconſiſtorialrath Hecker verfaßten General—
Land-Schulreglements, das in gleicher Weiſe für alle Provinzen wie für alle
*) Deſſen Verdienſte um die Volksbildung beleuchtet in klarer und anſprechender
Daritelluna Dr. Fiſcher, Friedr. d. Gr. und die Volkserziehung. Berlin 1877.
**) Qeuvr.t. IX, p. 115, ich babe dies, wie die folgenden Citate aus Friedrich's
Werten der eben genannten Schrift von Fiſcher entnommen.
***) Siehe Trendelenburg, Friedrib der Große und fein Staatsminifter Freiherr
von Zedlitz. Eine Skizze aus dem preuft. Unterrichtsweien. Monatsberichte der Aka—
demie der Wiſſenſchaften zu Berlin 1859,
T) Der katholiſche Abt Ignaz von Felbiger, der in diefer Provinz ganz befonders
die wohlgemeinten Abfichten des Königs in Ausführung bracte, erließ i. 3. 1772 eine
Anftruction für die Pebrer, in der er als erften Zwed der Schule binftellte, die Kinder
tüchtig zu machen, nützliche Glieder des Staates zn werden. Wie wenig damals bie
Confeſſion die Schulen voneinander trennte, mag man daraus entnehmen, daß der ge—
nannte Reorganifator der Tatbolifhen Schulen Echlefiens jelbit das Schullebrer-Seminar
des evanaeliichen Oberconfiftorialratbes Hecker in Berlin beſuchte und demnächſt auch
obne den aerinaften Anftand zwei feiner Prüparanden dorthin ſandte, damit fie bie
neue Unterrichtsmetbode erlernten und nad ihrer Zurüdtunit in Schleſien befannt
wachten.
8
Confeſſionen Geltung erhielt. Dies Geſetz gründet ſich wie ſchon der General—
Schulplan auf die allgemeine Schulpflicht, die alle Kinder wenn nicht früher
ſo doch vom fünften bis dreizehnten oder vierzehnten Jahre umfaßt. Wenn in
demſelben dem Lehrer u. A. die Aufſicht über das Betragen der Kinder auf
dem Schulwege zur Pflicht gemacht wird, ſo erkennen wir hier ſchon eine Spur
der Intention, die in der Volksſchule liegt, nämlich vom öffentlichen Volks—
Unterricht zur öffentlichen Volks-Erziehung überzugehen. Auch das iſt bezeichnend,
daß dies Reglement verordnet, die Kinder ſollten ſich zum Kirchgang vor der
Schule verſammeln, von wo ſie geordnet in das Gotteshaus zu führen ſeien.
Hier habe der Lehrer auf Wohlverhalten und Stille derſelben zu halten, „wie
dieſe denn bei aller Gelegenheit ſittſam, beſcheiden, höflich und freundlich in
Geberden, Worten und Werken ſich erzeigen müſſen“. In wie hohem Grade
aber Friedrich dem Großen die Volksſchule als Staatsanſtalt galt, erkennt
man aus der Schlußbeſtimmung jenes Geſetzes, die beſagt, daß die Super—
intendenten und Erzprieſter jährlich die geſammten Schulen ihrer Juſpection
zu bereiſen und über den Befund an das Ober-Conſiſtorium zu berichten
haben. „Winkelſchulen, fie mögen von Manns- oder Weibsperſonen gehalten
werden, follen hierdurch bei Strafe gänzlich verboten fein.“ Eine Mafrenel
vorzäglich, die Friedrich ara verdacht worden ift, bat fiherlich nicht am weniajten
dazu beigetragen, die Schule zum Staatsinftitut zu machen. Als nämlich der
König 1779 auf einer Imfpectionsreife durch Schlefien ſich bitter darüber
beflagte, daß er für Oberjchlejien feine geeigneten Schulmeifter finden fünne —
denn bier jaßen nirgends auf den Gitern Männer wie Rochow —, jo wurde
ihm gerathen, mit invaliden Eoldaten einen Verſuch zu machen. Mit aröfter
Bereitwilligfeit ging Friedrich auf diefen Gedanken ein, und trog des Wider:
ſpruchs des Herrn v. Zeblig gelangte ev zur Ausführung. Daß Die pommerſchen
und märfifchen Jungen bei vdiejen alten Schnauzbärten nicht viel in litteris
et artibus gelernt haben mögen, glaube ich wohl; daß ihnen aber dafür die
eiferne preußiſche Disciplin durch diefe alten Soldaten von Kinvesbeinen auf
anerzogen wurde, war ein Gewinn, der den Nachtheil der geringeren
intellectuellen Ausbildung im vollften Maße ausglih. Nicht weniger als auf
die Volksſchule richtete der große König fein Augenmerk auf die höheren
Schulen. Sogar die Lehrpläne verjelben waren ein Gegenftand feiner Für—
forge. „Vom Griechiſchen und Lateiniſchen gehe ich durchaus nicht ab bet dem
Unterriht in den Schulen“ **), ſchreibt er an den Cultusminifter von Zedlitz.
In der Imftruction für die Ritter-Afademie hebt er bejonders die Nothwendig—
feit der Bekanntſchaft mit der neueren Gefchichte hervor. „Die Ereignifie feit
Karl V. wirken bis auf unfere Zeit fort; feinem jungen Mann, ver im bie
Welt eintreten will, ift es geſtattet, über Thatſachen umumterrichtet zu fein,
welche mit der Kette der laufenden Welthändel Europas zujammenhängen und
auf fie einwirken.“) Der nationale Charakter ver Schule ſoll feinen Ausorud
befonders in der Pflege ver vaterländiſchen Gefchichte finden. „Mag ein Eng:
länder Nichts von dem Leben ver perfiichen Könige wiſſen, oder die unzählige
*) Oeuyr. t. XXVII, troisicme partie, p. 255. Diefe Willensäußerung des
Königs follte uns viel zu denfen neben. Denn fie fommt von dem Regenten, Der
wiederholt an die Spite der Unterrichtäziele das Ziel aefetst bat, den Knaben ſelbſt—
ſtändig denken zu lebren. Vergl. Fiſber .©.7.
**) Qeuvr. t. IX, p. 79, und übntich t. VII, p. 115.
9
Menge von Päpften, welche die Kirche beherrſcht haben, mit einander verwechſeln,
man wird es ihm verzeihen; aber man wird nicht gleiche Nachjicht mit ibm
haben, wenn er von dem Urſprung feines Parlaments, von den Gebräucen
feiner Infel und von den verfchiedenen Gejchlechtern der Könige, die in Eng-
fand regiert haben, Nichts weiß.“ *) Was die Aufficht über die höheren
Schulen betrifft, fo wurde fie von Zeblig den Geiftlichen als jolhen genommen
und Fachmännern übertragen, welde der Provinzial Regierung beigegeben
wurden. Das war alfo der Grumbitein zur Bildung der Provinzial Schul-
Gollegien, in denen die Möglichkeit für die Einiqung der Schule gegeben ift.
Auch dürfen wir bier nicht übergeben, daß Friedrich ſich ſogar für die Ber:
befferung der Erziehung des weiblichen Geſchlechtes auf das Yebhaftefte inter:
effirte.e Auf der weiblichen Jugend, jo jagt er, beruhe nicht minder bie
Hoffnung des Staates ald auf den jungen Männern, und daher dürfe der
Unterriht der Mädchen nicht vernacläjfigt werden.**) Am Flarften aber
ſprechen fich einerfeits die Beſtrebungen, welche Friedrich und fein Minifter
dem Unterrichtswejen und ber Bolkserziehung zumendeten, andererſeits vie
Grundfäge, nach denen Beide die Schule verwalteten, in den geſetzlichen Be-
ftimmungen des großen preußiſchen Gefegbuches, des Allgemeinen Landrechtes,
aus, das zwar erft unter Friedrich's Nachfolger die geſetzliche Sanction erlangte,
aber durchaus von dem großen König veranlakt und in feinem Geijte ent-
worfen ift. Der zwölfte Titel im zweiten Theile des Allgemeinen Landrechts,
welcher von den niederen und höheren Schulen handelt, bildet bis auf den
heutigen Taa die Magna Charta unferes gejammten Unterrichtswejens.
„Schulen und Univerfitäten find Beranftaltungen des Staates!” Diefer Sag,
mit welchen der Titel des Landrechts über das Schulweſen anhebt, ſpricht
jowohl das Recht als die Pflicht des Staates, den Unterriht der Jugend
als eine feiner wichtigften Aufgaben zu behandeln, völlig Far und unzwei-
deutig aus. Darım follen „vergleichen Anjtalten nur mit Vorwiſſen und
Genehmigung des Staates errichtet werden“ ; auch Privat- Schul- und Er-
ziehungsanftalten find der Auffiht des Staates unterworfen ; ihm liegt es
ob, vie wilfenichaftliche Befähigung -Derjenigen, welde an öffentlihen, an
Brivatichulen oder in den Häufern Unterricht ertheilen wollen, zu prüfen
und feftzuftellen.***) Wo die Beitellung der Yehrer nicht etwa gewiſſen Perfonen
oder Corporationen, vermöge der Stiftung oder eines befonderen Privilegti,
zufommt, da gebührt diefelbe dem Staat. Die Vehrer bei den Gymnaſien
und andern höheren Schulen werben als Beamte des Staates angejehen.
Sonach „begegnen wir bei Friedrich der conjequenten Durchführung der Anficht
von der Schule als Staatsanftalt umd der Anwendung politifcher Grundfäge
anf ihre Behandluna“.+) Jene Fundamentalſätze der landrechtlichen Schul:
gefeßgebung hält im Wefentliben aud die Verfaſſungsurkunde vom 31. Januar
1850 feſt, welche den öffentlichen Lehrern die Rechte und Pflichten der Staats-
diener verleiht. Auch künftig, jo fcheint es, werden die Grundſätze des großen
Friedrich die Pfeiler bleiben müſſen, auf die ſich die preußiſchen und deutſchen
*) Oeuvr. t. L,p. 11,
**) Oeuvr. t. IX, p. 125.
***) Aus Fiſcher, Friedrich der Gr. und die Bolkserziebung, ©. 36,
+) Martin Herb, Friedrich des Gr. Beziebungen zur Univerfität. Nectorats-
rede. Im neuen Reich 1876, I, ©. 761,
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Unterrichtögefege zu ftügen haben werden. In der modernen Zeit ift die
Intention, ven Umfang des ftaatlichen Einfluffes auf den Unterricht zu er-
weitern und aud ſchon auf die Erziehung auszudehnen, in einzeluen Der:
fügungen der Sculbehörden zu Tage getreten. So ift z. D., und zwar mit
vollem Recht, verordnet, daß die Penfionen der auswärtigen Schüler nur mit
Genehmigung des betreffenden Schuldirectors gewählt werden dürfen. M
letter Zeit enpli bat der Conflict mit der katholiſchen Geiftlichfeit dazu
Aulaß gegeben, nochmals durch ein befonderes Geſetz die Schule als Staate-
anftalt zu bezeichnen. Den nothwendig gewordenen weiteren Ausbau der
Staatsſchule erhofft die Nation von dem im der Berfaflungs- Urkunde ver:
heißenen Unterrichtsgefeg. Wenn daſſelbe dem in der Geſchichte Breußens*)
deutlich vorliegenden Entwidelungsgange folgt, jo wird es die geſammie
rendsie in die Hand nehmen und ſomit nicht ſowohl ein Unterrichts als
vielmehr ein Erziehungsgejeg jein.
Daß nämlich jenen Beftrebungen und Verordnungen Seitens hervorragender
Staatsmänner nur der Wunſch zu Grunde gelegen haben jollte, durch vie
Schule einen beftimmten Grad von Wiffen, einen rein intellectuellen Schat
zum Oemeingut des Volkes zu machen, ift eine im fi völlig unbaltbare Ans
nahme. Im Gegentbeil, wie der Wille fort und fort feine Anregung und
Direction dur Die Imtelligenz erhält, fo bat die Staatsſchule durch das
Medium der allgemeinen Bolfsbildung auf die Bolksdisciplin eimwirfen wollen.
Schon aus Luther's Schriften geht dieſe Abſicht unzweidentig hervor. Durd
die Katecheje follte dem Volke eine beftimmte Richtung nicht nur für das Denken,
jondern damit auch für das Handeln gegeben werden. Ja wir finden im ben
Schulorpnungen ſchon ganz beſtimmte Hinweiſungen darauf, daß der Lehrer
auch das Betragen ſeiner Schüler, und zwar nicht blos das in der Schul—
ſtube, in den Kreis ſeiner Beobadtung und Aufſicht ziehen foll.**) Das General:
Scul-Keglement des großen Königs legt, wie wir oben gejehen haben, dem
Schulmeiſter die Pflicht auf, „ven Kindern nadızufehen, wie jie fid auf dem
Wege betragen“. Auf dieſe Weije fol der Volkslehrer zu einem Volkserzieher
werden. Die höheren Unterrichtsanftalten, und zwar nit etwa blos die ſo—
genannten gejchloffenen, haben es ftets als ihre Aufgabe betrachtet, wicht nur
zu lehren, jondern vielmehr zu erziehen, und es galt hier von jeher der Grund—
jaß, daß qui profieit in litteris nee in moribus, is plus defieit quam pro-
fieit. Für die innige Verbindung, in der nad deutſcher Auffaſſungsweiſe
Unterricht und Erziehung ftehen, iſt wohl der ſprechendſte Beweis, daß unſere
großen Schulmänner fib nie darauf befchränften, die Divactif zu verbejiern,
fondern ſtets aud in der Pädagogik neue Bahnen wiefen und betraten. Die
Volksſchule trägt unzweifelhaft in fi) die Intention zur Herbeiführung einer
allgemeinen Jugenddisciplin, die unter ſtaatlicher Autorität und Controle gehand—
habt wird. Daflir zeugen z. B. die Polizei-Verorbnungen, welde dem Yehrer
ein Züchtigungsreht für Vergehungen der Schulkinder auch außer der Schule
zufpreden, jo z. B. bei Fällen von Thierguälerei, Ausnehmen von Neftern u. |. w.
*) Auch auferbalb Preußens tritt uns bier und da in deutſchen Staaten =
aleiche Beftreben, nur weniger conjequent ausgeprägt, entgegen. Bergl. I. Klaiber,
Hohe Karlsſchule. Im neuen Reich 1876, I, ©. 663.
**) So verbieten fchen bie Schulordnungen des 16. Jahrhunderts, auch die Gold-
berger des Reector Trobendorf, das öffentliche Baden, ja das Schlittſchuhlaufen.
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Auch im Volksbewußtſein lebt die Vorſtellung von einer Sittenaufficht, welche
der Yehrer über feine Kinder ganz allgemein führt. Iſt doch der Fall nicht
jelten, daß Privatleute das Einfchreiten defjelben gegen Ungezogenheiten von
Schulkindern in Anfpruch nehmen, ferner daß man das Verhalten der Jugend
in der Deffentlichfeit zum Maßſtab ver Echulvisciplin nimmt, ja daß Eltern
in bejonders jchweren Fällen den Vehrer um Beftrafung der eigenen Kinder
angehen.
Freilich ift das Imftitut der Staatsſchule feineswegs ohne Widerfpruch
geblieben. Es iſt bekannt, daß dem Brincip der Schulpflicht gegenüber von
den ertremen Parteien die Parole der Unterrichtöfreiheit ausgegeben wurde.
Welche Gefahren aber lettere für das Volksthum in jich birgt, dafür iſt Franf-
reich ein unwiderlegliches Beifpiel, in neuerer Zeit faſt noch mehr Belgien.
Nicht blos daß es der größeren Zahl der weniger gebilveten und bemittelten
Eltern an dem rechten Verftändnig für die große Bedeutung eines geregelten
Schulunterrichts ihrer Kinder gebricht, nicht blos daß leider vielen Eltern auch
das nöthige Intereſſe für die fittliche Förderung ihrer Kinder fehlt, jo bemäch—
tigen ſich auch gar zu leicht in Schulconventikeln ftaatsfeindliche Parteien des
empfänglichen heranwachſenden Geſchlechts zu ihren bejonderen, dem allgemeinen
Beſten feindfeligen Zweden. Noch entjchiedener aber wird von manden Seiten
gegen die Berbindung von Unterricht und Erziehung Verwahrung eingelegt
und insbejondere dem Staate das Recht abgejproden, die Yugenddisciplin in
jeine Hand zu nehmen. Dieje jeltjame- Auffaffungsweife gehört zunächſt der
im Eingang charafterifirten Periode des Subjectiviemus an. Die Gitten-
aufjicht follte nur injoweit dem Lehrer eingeräumt fein, als fie fih aus dem
Geſichtspunkt des Unterricht-Intereffes mit Nothwendigfeit ergab. Nur den
Studienbetrieb ftörende Einflüffe fern zu halten, lag ibm ob. Neuerdings ift
diefe Aftertheorie, nachdem fie in Deutſchland faft ausgeftorben, wiederum über
das Meer zu ums importirt worden*) und hat, allerdings nur vereinzelt, jogar
in den Sreifen von Pädagogen Eingang gefunden. Es ift jedenfalls ver Be—
achtung werth, daß auf der vor zwei Jahren abgehaltenen Conferenz der Direc-
toren der pommerjcen höheren Yehranjtalten von den Vertretern einer Anftalt
ven höheren Schulen die erziehliche Aufgabe völlig abgejproden und die Anficht
aufgeftellt wurde, „es ſei ohne Frage ganz und gar Sache der Eltern, für bie
ſittliche Ueberwachung ihrer Kinder außerhalb der Schule entweder unmittelbar,
wenn fie am Schulort leben, oder durch angemejjene Penſionen zu jorgen; die
Schule habe ihre Zucht auf den Unterricht und die zu demjelben geforderten
häuslichen Leiſtungen zu bejchränfen und ihre Rathſchläge und Hilfe in ver
Erziehung zurüdzuhalten, bis die Eltern folhe begehrten“. Doch haben foldye
Stimmen glücklicherweiſe feinen Anklang gefunden, Nicht blos ift jenes Yehrer-
Collegium in Pommern mit feiner Auffaffung allein geblieben, ſondern es hat
audy die Directoren-Conferenz der Provinz Sachſen im Jahre 1874 einftummig
die Unmöglichkeit ausgeſprochen, die erziebliche Aufgabe der höheren Yehranftalten
von der umterrichtlien zu trennen. Und was nocd mehr werth iſt, es ift
die Anficht, daß dem Yehrer audy die Erziehung der Schüler anvertraut jein
miffje, nicht etwa nur in den Kreiſen der Fachmänner nahezu allgemein feit-
*) Bergl. Verhandlungen der erften Directoren - Berfammlung in Sachſen, Halle
1874, ©. 75.
ſtehend, jondern ſie ift gewiſſermaßen in Fleiſch und Blut des deutſchen Volles
übergegangen. |
Denn nun aber aud dem Zuge unferer geſammten geſchichtlichen Ent—
wiclung gemäß bei uns in Preußen die Aufgabe von Erziehung und Unter:
richt als eine nothwendig einheitlihe anerkannt wird, wenn damı zweitens,
da die Schule ſchon jetzt Stantsanftalt iſt, aud die Erziehung zu einer Sache
des Staates thatfächlic wird, jo gehen dod im Einzelnen, namentlich über
die Grenzen der Befugnifje des Staates, die Anfichten nod jo weit ausein-
ander, daß ein fejtes Ziel, nad dem wir bewußt zu ftreben hätten, nod gar
nicht ins Auge gefaßt ift, demmad die Gewinnung eines pojitiven Rejultates
nody in weitem Felde zu liegen ſcheint. Wenn daher über dieſe jo wichtige
Materie, die offenbar eine fundamentale Stellung bei der Conftruction des
Unterrichtsgefeges inne hat, namentlich gelegentlih der Directoren-Conferenzen
die Debatte eröffnet wird, jo ift das eine unabweisbare Nothwendigfeit. Cine
Nothwendigfeit — auch im Hinblick auf die nicht zu leugnende Bernadläffigung
der Erziehung Seitens ihrer bisherigen Hauptfactoren, der Familie und ber
Kirche. Iſt mm aber auch durch das Geſetz die Schule zur Staatsanftalt
gemacht, alfo der erſte Schritt gejchehen, auch die Erziehung, die ja von Unter:
richt nicht getrennt werden kann, als Sache des Staates in Anſpruch zu nehmen,
jo find dod die Gonfequenzen noch nicht gezogen, ja es gewinnt oft den An
ihein, als ſcheue der Staat jelbjt vor denſelben noch zurüd, wenigitens
beſchränkt er felbft feinen Einfluß auf die Erziehung des heranwachſenden Ge-
jchlechtes in einer Weiſe, weldhe, wie wir im Weiteren nachzuweiſen gedenten,
dem öffentlichen Wohle nicht fürderlib if. Der Staat und der ausübende
Beamte, d. i. der Pehrer, müfjen fi ein feit begründetes und bewußtes Urtbeil
über die große Aufgabe, die fie nah dem Gejeg bereits übernommen haben,
bilden, wenn fie anders ſich derjelben gewachjen zeigen wollen. Mit den wei—
teren Rechten hat der Staat auch jchwerere Pflichten auf fich genommen. Unt
nod ein anderer Geſichtspunkt ift hier feitzuhalten. „Wie Die Kirche im Mittel:
alter gerade dadurch ihre Machtjtellung gefchaffen, daß jeder ihrer Diener, ber
oberjte Kirchenfürſt ſo gut wie der jüngſte Lehrer an.der Domſchule, von der
Intention derjelben durchdrungen war, jo müſſen aud wir heute, um das
Staatsideal zu verwirklichen, auf Grund eingehender culturhiftorifcher Studien
den Zug der Gejchichte verftehen lernen und im Einklang mit deren Rejultaten
uns eine feſt begründete Anficht über die Aufgabe des Staates umd das zu
erjtrebende Ziel verjchaffen. Ehe unfere Staatömänner nicht das ſchwierige
Problen, die Schule in das Gefüge des modernen Staates zwedmäßig ein—
zugliedern, ebenjo gut zu löſen wifjen, wie die mittelalterliche Kirche es ver-
jtanden bat, Univerfitäten, Dom- und Kloſterſchulen in ihren Dienft zu nehmen,
werden wir den jegigen Zwitterzuftand im Stantsleben, der je länger deſto
drüdender wird, nicht überwinden.“ *)
Nach Maßgabe unferer Kräfte einen Kleinen Beitrag zur Erreihung dei
Verſtändniſſes für das, was die deutſche Schule als Staatsinftitut auch auf
dem Gebiete der Erziehung zu leiften bat, zu liefern, ift unſere Abſicht gewejen.
Denn mit Rüdjicht auf die demnächſt in der Landesvertretung bevorjteheikven
*) Sp ungefähr jchrieb mir vor zwei Jabren Herr Prof, Laas in Straßburg über
diefe Frage,
13
Beratbungen über das preußiſche Unterrichtsgejeg, das nicht ohne den ein-
ſchneidendſten Einfluß auf die Berhältniffe von ganz Deutſchland bleiben Tann,
pürfen derartige öffentliche Beſprechungen wenigjtens den Anjprud erheben,
einer patriotifchen Gejinnung zu entjtammen,
3.
Lockerung des Bandes der Familie in dem ſich vervoll-
kommmenden Stantswefen, Familien- und Staats- Erziehung.
Wenn auch die Entwidelung des einzelnen Menſchen im Diesfeits ihren
Abſchluß micht findet, wie wir gläubig vertrauen, fo tft ihm doch unleugbar
die größte Sorge dafür eingepflanzt, daß die irdijche Arbeit, wenn er vieje,
durch den Tod abgerufen, verläßt, in feinem Sinne fortgefegt wird. Dies tt
jo jehr der Tall, daß den menjchlichen Geift noch im Augenblid jeines Ab-
jbeidens neben dem Gedanken an jeine bevorftehende Vereinigung mit Gott
der am meijten zu bejchäftigen pflegt, welchen Händen er die Weiterführung
jeines Werkes anvertrauen ſolle. Noch mehr! Die Erreihung irdiſcher Ziele
kann ihm jo wichtig erjdeinen, daß er am dieſelbe fogar das Leben freudig
dranfett, in der tröftlihen Gewißheit :
Wo immer müde echter
Sinken im blutigen Strauß,
Es fommen andre Gejchlechter
Und fechten es muthig aus.
Hier ift alfo die Quelle der moralijhen Seite des Yortpflanzungstriebes.
Allein die bloße Eriftenz der Nachkommenſchaft gibt noch feine Gewähr für
den weiteren Bejtand oder Ausbau unferer Schöpfungen. Dazu gehört viel-
mehr, daß das heranwachſende Geſchlecht in eine ſolche Verfaſſung gejett werde,
daß es uns in unſerer Wirkſamkeit dort ablöſen könne, wo wir durch den Ein—
tritt des Todes oder durch die allmählich ſchwindende Körperkraft und Geiſtes—
friſche zum Abtreten vom Schauplatz der Thätigkeit genöthigt werden. Bis
dahin aber wollen wir in unſerer Jugend ſchon Gehülfen der Arbeit ſehen. —
Nun finden wir im Alterthum überall, daß anfänglich die Familie die Form
iſt, welche dem einzelnen Menſchen ſeine eigenthümliche Lebensaufgabe anweiſt
und eine eigen geſtaltete Lebensidee eingibt. Erſt in zweiter Linie wirkt der
Staat, der den Beſtand der Familie vorausſetzt, beſtimmend auf den Einzelnen
ein. Was iſt daher natürlicher, als daß in der Familie mit ihren beſonderen
Traditionen, ihrer beſonderen Lebensauffaſſung, ihrer beſonderen Ehre, ihren
beſonderen Kulten die Kindererziehung beſchloſſen liegt, alſo eben in der In—
ſtitution, die ja auch phyſiſch den Fortbeſtaud des Menſchengeſchlechts vermittelt?
Daher galt es bei den Juden wie bei den Griechen und Römern — ich ſehe
hier von den beſonderen Verhältniſſen der Kaiſerzeit ab — nicht ſowohl für
den Staat als vielmehr für die Familie als ein Unglück, wenn der Kinder—
ſegen ausblieb. Dieſes wurde, je weiter wir in die Vorzeit mit Hülfe der
erhaltenen Denkmäler zurückgehen, deſto tiefer empfunden. Allerdings trat der
Staat mit jeinen Geſetzen da ein, wo durd das Ausbleiben des Nachwuchſes
der Beſtand der Familie gefährdet war, nicht aber in feinem Intereffe, ſondern
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in dem der Namilie, für deren Forteriftenz er zu jorgen hatte. Wooption und
Yevirats-Ehe waren derartige Einrichtungen, um die in dem einzelnen Geſchlecht
überfommenen Weihen, Gottespienjte und Opferverpflichtungen auf die Nach—
welt fortzupflanzen. Denn die Familie ftellt jih in allen Beziehungen als
die eigentliche Yebensform dar. An fie ergehen die göttlichen Verheißungen,
fie haben die Verwaltung dar Götterculte, ftellen aljo die Verbindung zwiſchen
der Gottheit und dem Menſchen ber, in ihnen vererben fich nicht nur politijche
Rechte und materielle Beſitzthümer ſondern auch amtliche und priefterlide Ver—
richtungen, Kenntniffe und Fertigkeiten. So gingen, um von dem ägyptiſchen
und indiſchen SKaftenzwang bier abzufeben, die priefterlihen Vorrechte vom
Bater auf den Sohn über in den Geſchlechtern der Leviten, der Gephyräer
und der WPotitier, jo pflanzte ſich in den Dichter- und Künftlerfamilien Griechen:
lands die Pflege von Kunft und Wiſſenſchaft fort. An die Mitgliedſchaft in
einer Familie knüpfte ſich das ſtaatliche Bürgerrecht, und in dem pater familias
fand ſich jedes Familienglied in der Gemeindeverfammlung vertreten. Das
war die Zeit, wo die Familie das verjüngte Abbild eines Staates und dieſer
das vergrößerte Bild einer Familie zeigte. Wie der Loy» über den Staat,
jo berrichte der pater familias über die Frau, die Kinder umd die Sclaven,
über die Erjtere mehr rrodırızws, d. b. unter Vorausſetzung gleicher Rechte,
über die Kinder Aacıkızas, über die Sclaven deomorinwc.*) Bei dieſer
Eigenartigkeit und Abgeichlofienheit der Familien alſo ift es fein Wunder,
wenn jid die Erziehung der Kinder völlig in ihrem Schooß vollzieht.
Almählid aber wuchſen die ftaatlih verbundenen Familien mehr und
mehr zu einer Einheit unter fih zufammen. Während die Familienverbände
in dem Ctaatsverbande immer merklicher aufgingen, ward dem Staat ein
eigenthümlicher etuheitliher Charakter in demſelben Grade aufgebrüdt, in
welchem die Familien den ihrigen verloren. Das wachſende Staatsbewußtſein
fand feinen Ausdruck auch im der geſetzlichen Feftitellung einer ſtaatlichen
Beauffichtigung der heranwachſenden Jugend. So in der Soloniſchen Geſetz—
gebung, in welcher ſich ſowohl Beſtimmungen über das jchuipflichtige Alter
und die Gegenftände des für jeden Bürgerfohn obligatoriſchen Elementarunter-
richts finden, als auch eine Sittenaufficht Über die Jugend dem Areopag zu—
geſprochen wird.** Die Anfäge zu einer Staatserziehung find biernad bei
den Athenern unzweidentig vorhanden. Im Yaufe der weiteren politifhen Ent:
widelung blieb zwar die äußere Form der Familie bejtehen, ihres eigenthüm—
lihen Inhaltes aber und ihres Geiftes wurde fie mehr und mehr beraubt.
Das Familienleben ging immer mehr in ein öffentliches über, das Familien—
gefühl erſtarb. Dabei litt die Kindererziehung im der Familie Schaden. Es
hätte, jo jcheint es, num zwei Wege gegeben, auch für die Folgezeit ein ſtarles
Geſchlecht heranzubilden; entweder mußte die Familie als folde von Neuem
gekräftigt werden, oder mit Benutzung der ſchon vorhandenen Anſätze das
Prinzip der Staatserziehung zur vollkommenen Durchführung gelangen. An
den erjteren Weg hat damals Niemand mehr gedacht, und es war wohl aud
ummöglic, der Familie eine neue Grundlage zu ſchaffen, nod weniger möglid,
die alten, morjc gewordenen Stüten verjelben neu zu feitigen. Einem Yeichnam
*) Vergl. Aristol. Nie. Eth. VIII, 10, 4 und 5. (cap. 12 bei Better).
**) Bergl. E. Eurtius, Griechiſche Geſch. I, ©. 275,
15
kann man eben nicht neues Leben einbauen. Das andere Heilmittel empfablen
Bhilofopben und Staatsmänner. Allen die Annahme deſſelben fjcheiterte an
dem im dieſer Zeit herrſchenden Subjectivismus, der felbjt an den ftaatlichen
Grundlagen ſchon rüttelte. Wie die Einigung der Griechen zu einer Nation,
welde der Keim für eine neue, höhere Entwidelungsphaje des Hellenenthums
hätte werden können, durch die Unfähigkeit dieſes Bolfes, das Ich in der Liebe
und Hingebung an das Ganze aufzuheben, vereitelt wurde, jo lag es ihrer
Sinnesart noch ferner, die ſtarre Autorität des Staatsgeſetzes den Kindern
aeaenüber zur Geltung zu bringen. So blieben denn zwar die aejeglichen
Beſtimmungen, durch die dem Staat ein Auffichtsrecht über die Sitten ber
Jugend eingeräumt war, formell beftehen, aber zu einer fraftvollen und heil—
famen Ausübung diefes Rechtes und zu einer Weiterentwidelung jenes Prinzips
ließ e8 die allgemeine Ungebunvenheit des griechiſchen Lebens nicht mehr kommen,
jo nothwendig diefelbe auch für den Beltand des Staates geweien wäre Die
Pädagogen und Grammatiker wirkten nad wie vor im privaten Auftrag, aber
es mußte ihnen natürlih von dem Augenblide an die rechte Autorität fehlen,
da der Familienvater ſelbſt feine Theinahme an der Kindererziehung mehr
bewies. Und wenn auch wentaftens die Turnſchulen durd den Gymnaſiarch
eine ftaatlibe Beauffichtigung erfuhren, jo war dod die hier gebotene Bildung
nur eine äuferliche und Fonnte einer Jugend nicht genug bieten, die zu ber
Löſung der Aufgabe eines pericleiihen Staates berufen war. Dazu fam,: daß
die Staatsaufficht je länger je mehr beveutungslos wurde. Den lebten Reft
von Autorität büfte fie ein, als fie nicht mehr vom Areopag jondern von den
jährlih vom Volk gewählten Sophroniften geübt wurde.“) Wie hätte wohl
dies Kollegium mit Erfolg in einem Volke wirken follen, das durch das
Sophiſtenunweſen der ſchrankenloſeſten Zügellofigfeit anheimgefallen war, und
dem der Sat als Ariom galt: dewor slvaı, el un rıs daacı vor djuor
noarısıv, 6 dv Bobkmaa.*)
Während nım das eben noch hoffnungsreihe Athen aus dem Zuftande
der höchiten Blüthe, faft ohne jedes Zmifchenftadium, an den Rand des Ber-
derbens gerieth, und feine berühmten Mauern ımter Flötenjhall von den Pelo-
ponnefiern eingerifien wurden, richteten fi die Aunen der xadol xayadol
in allen griechiſchen Landen, auch in Athen felbit, auf einen Staat, zu defjen
Gunſten foeben das Kriegsglück entichieden hatte, und deſſen Berfaflung auf
wejentlih anderen Grundfägen berubte als die der anderen helleniſchen
Staaten. Sparta ſchien feine Probe beftanden zu haben. Hier war jeit Lycurg
die Staatserziehung in ihrer fchärfiten Ausprägung in Geltung. Die Familie
batte ja auch nach der Berfaffung des genannten Geſetzgebers bei der völligen
Sleichberechtigung der Spartiaten feinen einenen Gedanfen zum Inhalt, ımd
folgerichtia war die Erziehung der Jugend dem Staat übergeben, der eine
Idee verkörperte, nämlich die der unbedingten Staatshoheit. Schon im Alter-
thum bat es nicht an Gennern der fpartantfcher Berfaffung gefehlt. Der
Erfte, der über fie unmuthigen Tadel ergoß, war wohl Pythagoras, der es
*) Bergl. E, Curtius, Griechifche Geſch. II, S. 137.
**) Hen. Hell, 1, 7, 12. Das Volk von Atben wollte in dem Prozeh gegen bie
zehn Feldberren der Arginufen » Schlacht feine ſouveräne Gewalt nicht einmal durch
die beftebenden Geſetze beſchränkt wiffen:
Radttke, Welcher Antheil ıc. 2
16
für Das aröfte Unrecht erklärte, Kinder und Eltern auseinander zu reifen.
Heut zu Tage hat man fi fogar gewöhnt, den Berfall des ſpartaniſchen
Staates gerade aus dem Mangel der Familie, Des bäuslichen Yebens, der häus—
lihen Anregungen und gemüthlichen Einprüde auf dem Gebiete der Kinder:
erziehung berzuleiten. Aber man überjieht, daß die Auflöfung Spartas viele
Jahrhunderte nach Einführung der Staatserziehung erfolgte, ſodann daR einer:
ſeits die Eriftenz der Familie, andrerjeits der Einfluß der Eltern, nameutlich
der Mutter, auf die Kinder trog der Ztaatserziehung hiſtoriſch nachweisbar
it. Iſt Doch das Alterthum voll von Berichten über das Anfehen, das die
ſpartaniſchen Matronen gleich jehbr bei den Männern wie bei den Kindern
aenofien, und mehr al& eine Anefvote ift aufbewahrt, aus der hervorgeht, dak
der Frau in Lacedämon mit viel größerer Ehrerbietung begegnet wurde als
jonft im griechiſchen Landen. Der Berfall dieſes Staates ıft auf ganz andere
Gründe zurüdzuführen, vor allem auf den, daß feine Berfaffung zu conier-
vativ gegründet war, als daß fie, wie es die Erweiterung der politischen Be-
ziehungen zu den Nachbarſtaaten erheifchte, zeitgemäß hätte verbeflert werten
können. Im der ſpartaniſchen Stantserziehung aber befenne ih eine, wenn
auch nicht materiell in allen Theilen, jo doch formal und prinzipiell für ung,
wie ein Mal beute die Verhältniſſe ſich geftaltet haben, vorbildliche Inſtitution
zu erbliden. Die Theilnahme der Mädchen an verjelben und die eneratice
Ausprägung des Staatsgedanfens find Züge, durch welde die jpartanifche Er-
ziehung in Griechenland einzig daftand, und die unſer Staat bei der Feſi—
ftellung des Unterrichtsgeſetzes nicht ungeftraft außer Act jeten dürfte Doc
wir Dürfen die hiſtoriſche Meberficht über den Gang, den Die Jugenderziehung
bei den Culturvölkern genommen bat, nicht unterbreben und ebenjowenia der
Darlegung unferer erziehlichen Bedürfniſſe hier vorgretfen.
Bei der Conjequenz, mit der fib der Staatsgedanfe in Rom Bahn at
broden und in allen Lebenskreiſen geltend gemacht bat, ſtand wohl zu erwarten,
daß dort auch Die Erziehung ſehr bald unter ftaatlibe Aufſicht und ftaatlicen
Einfluß treten würde, wenigftens von der Zeit ab, da das Haus feinen eigen-
thümlichen Geift verloren hatte und das Bolf in feiner Geſammtheit zum
Träger der die Geifter beherrjchenden Idee geworden war. Dem war befanntlid
nicht jo. Nicht als ob die Familie eiferfüctig das Recht der Jugenderziehung
fi) gewahrt willen wollte, — die Familie entbehrte im Gegentheil im ven
legten Zeiten der Republik fajt durchweg eines inneren Zuſammenſchluſſes“),
wie denn ein Mann, der zur den fittlih ernfteren und würdigeren Charakteren
jeiner Zeit zählt, Cicero, fein Bevenfen hatte, fi ohne triftige Gründe nad
einem mehr als 30jährigen ebelichen Yeben von feiner Jugendgemahlin zu
ſcheiden, — nur der Sinn fiir Unterordnung zum Beten des Staates war
gänzlich erftorben. Die Kaiſer beichränften zwar die patria potestas**), aber
die Rechte und Pflichten der Kinvererziebung verblieben unverkürzt dem Haufe.
Sp haben wir nım aejehen, daß es im Altertbum — abgejehen von
Sparta — zu einer Staatserziehung auf dem Wege der politifchen Entwidelung
*) Rezeichnend bierfür ift 3. B. Cie. de offieiis II, 23, W,
*0*) Das römifche Hausrecht, nach dem fein Beamter des Staates ohne Einwilli
gung des pater familias deflen Haus betreten durfte, fiel ebenfalls erit in ber
Kaiſerzeit.
17
nicht fam, weil 1) zu der Zeit, wo die Familie bie Erziehung an ven
Staat hätte abgeben müſſen, die Geiſter zu einer Unterordnung unter das
Allgemeine nicht mehr befühigt waren, 2) weil e8 den damals wirkenden
Staatsmännern an dem Geſchick zu jchöpferiichen und organifirenden Ihaten
gebrach, welches nach einem Geſetz der Weltgefchichte nur in Zeiten nationaler
Kraft gefunden wird.
Das Chriſtenthum durchgeiſtigte die Kultur der alten Welt, namentlich
die griechiſche Philoſophie, und das Germanenthum trat als Erbe der Nömer
in die Weltherrichaft ein. Dieje beiden neuen Vebenselemente begründeten
durch ihre gegenfeitige Durchdringung ein neues Zeitalter. Für die Geſchichte
der Erziehung ift das Chriftenthum in vielfacher Hinſicht von höchſter Bedeu—
tung geworden. Wir betrachten hier nur die Seite der chriſtlichen Erziehung,
die für die gegenwärtige Betrachtung Intereſſe hat. Das Chriſteuthum jtellte
alle Menſchen in noch höherem Grade und confequenter, als es der Steicis-
mus fon gethan, als Eraigos bin, die unter ſich völlig aleichberechtigt find.
Die Familie wird keineswegs aufgehoben, vielmehr ihre jüttliche Seite mehr
bervorgefehrt ımd dabei der Frau die gebührende Stellung zugewiefen ; allein
in ter Gemeinſamkeit des Glaubens und Lebens der erjten Chriſten liegt es
nothwendig, daß die Abgeichlofienheit der Familie nad Außen fällt. Da un
alle Menſchen Kinder Gottes find und demnach in gleichen Grave Anſpruch
auf Erziehung haben, fo ift damit die Grundlage zu dem neuen Prinzip der
allgemeinen Bolksbildung gegeben. Und da” jegt nicht mehr, wie bei ven
Griechen und Römern, die Familie ihre bejonvere ſchützende Gottheit beſitzt
und verehrt, fondern alle Menichen ohne Rüdjicht auf ibre Abjtammung ben:
jelben einigen Gott anbeten, jo ift aud der Grund gefallen, die Unterweifung
und Erziehung der Kinder im Schooße der Familien ſich vollziehen zu Laffen.
So iſt e& denn Karl der Große, wie wir oben ſchon nachwieſen, der zuerjt
diefen Gedanken einer allgemeinen Erziehung des Volkes durch ftaatliche Ber-
anftaltung zur Ausführung zu bringen ſuchte. Nach langer dunkler Zeit ift
es dann wieder Yuther, der das Verſtändniß für Diefe jo wichtige Aufgabe
des Staates bei Fürſten und Städten wedt, und die Hohenzollern haben
gerade in ihren hervorragendſten Vertretern diefe Sorge mit dem vollen Bewußt—
fein ihrer Wichtigkeit in ihrer Eigenſchaft als Negenten für ſich in Anſpruch
genommen. Wohl uns nun, dag wir heute alle Beringungen erfüllt und
überall den Boden vorbereitet finden, um die Erziehung der Jugend auf den
Staat Übertragen zu können, da die Familie in ihrer beutigen Gejtalt die
ſchwere Verantwortung für Diefelbe allein auf ihren Schultern zu tragen ſich
keineswegs durchweg mehr fühig zeigt.
Das öffentlibe Leben unferer Nation nimmt jetzt derartig alle Kräfte
für ſich in Anspruch, daß alle anderen Intereffen zurücktreten, alle Gemein-
Ihaften nnd Verbände, die nicht politifher Natur find, an Bedeutung und
Zuſammenſchluß mehr und mehr verlieren. Ich erinnere an die Zünfte, an
die wiffenichaftlien Bereinigungen, an die Verbindungen umter den Berufs:
genofien, jelbft an die Ständennterjchiede, ja jogar am die Gliederungen nad)
kirchlichem Bekeuntniß, — deren Stüßen und treunende Zchranfen fallen mehr
und mehr. Hat doc jelbit der Stand viel von jeiner Abgeſchloſſenheit ein:
gebüßt, ver als ein Staat im Staate mit befonderer Berfaffung, mit eigenen
Geſetzen, Gerichten und Pebensauffafiungen beſteht, der Ztand ver Berufes
2*
18
folvaten. Hat doch felbit fo feite Bande wie die des Freimaurerordens, die
Berfolgungen aller Art nicht zu löſen vermochten, der nivellivende Geiſt ver
Neuzeit gelodert.
Und die Familie? Auch fie trägt feinen einenthümlihen, nad außen
abaejchloffenen Charakter mehr. Ihre Befonderbheiten und ihre Privilegien
find der Reihe nach durch den weiteren Berband des Staates abforbirt worden,
von der Blutrache und dem alten jus talionis an, Das einft 3. 3. der
Gründung des Staates fo ſchwer fih einfchränfen ließ, bis auf tie letten
politifhen Vorrechte, die bis im unfere Tage hinein fid einzelne Familien
von hohem Adel vem Staat gegenüber zu erhalten gewußt haben. Daher ift es
fein Wunder, daß auch das Gefühl für Familienehre beute fange nicht mehr ie
rege mie in früheren Zeiten ift, wo bie ımfittlibe Handlungsweife des Mit:
aliedes einer Familie diefer im Ganzen einen ımtilabaren Makel zufügte.
Die Familie gilt überhaupt nicht mehr als die Yebensform, in welcher ver
Menſch feine nächte Beftummung findet. Es ift ein nicht abzumeifendes Zeichen
der veränderten Vebensauffaffung, daß von Jahr zu Jahr, und zwar im allen
Ständen, der Procentfat derer fteiat, Die eine Che gar nicht mehr eingeben.
Und wenn man beute, und zwar mit Necht, klagt über den Mangel an Häus—
lichkeit beit Männern und Frauen, fo liegt der Grund zum Theil allerdings
in der fteigenven Genußſucht ımferer Generation, aber mehr nod in dem
nicht mehr einzudämmenden Drange in das öffentliche Yeben. Kür vie Ver:
äußerlichung des Namilienlebens gibt es feinen fchlagenderen Beweis als die
Einrichtung der heutigen Ramtlienwohnungen, die in den eigentlichen Familien—
zimmern eine ungebübrliche Vernachläſſigung, in den Geſellſchaftsräumen eine
maßloſe Verſchwendung erkennen Lafjen.*) Soll ich num noch auf Die in umferer
Zeit auf der Tagesordnung der focialen Umwälzung ftehende Frage der Frauen—
arbeit hinwetien ? Jene Worte, die vor vier Dahren der General: Rojtmeiiter
Stepban im Neichstage bezüglich der Zulaffung der Frauen zu Aemtern ver
Staatöverwaltung ſprach, welchem ernfteren Charafter, welchem um das Wobl
des Baterlandes fjorgenden Mann wären fie nicht aus der Seele geſprochen
geweien? Und doc kann ich mic dem Gedanken nicht verjchliefen, daß alle
vetardirenden Maßnahmen der Regierung, die etwa in dem Sinne ergriffen
werden möchten, die Frau auf den Kreis der häuslichen Arbeiten einzufchränfen,
doch im Grunde wenig helfen werden. Cie werden e8 unjerer Meinung nad
um fo weniger, als auf gewiffen Gebieten der Staat felbit jenen Grundſätzen
zuwider handelt. Denn was heißt es anderes, als die Franenarbeit außer dem
Haufe begünftigen, wenn das Cultusminiſterium die Anstellung von Yehrerinnen
in immer weiterem Umfange zuläßt? Im wie weit diefe Concurrenz dem
Intereſſe der Schule dient, ift bier nicht der Ort zu unterfuchen. Wie dem
aber auch jei, tft denn micht Die Frauenarbeit in gar vielen Familien geradezu
eine VPebensfrage geworden? Nicht mehr bloß in den arofen Städten arbeitet
jo mande Hausfrau ftatt für ibre Häuslichfeit fir den Yaren. Da wird die
Familienküche aufgehoben und jomit der Familtentifh, auf var die Frau Zeit
gewinne, gleich dem Mann fir den Unterhalt, öfter aber zur Weftreitung von
Luxusausgaben zu arbeiten; da forgt für die großen und auch ſchon für die
*) Hierauf macht mit vollem Recht der VBerfaffer der Briefe über Berliner Er-
ztebung aufmerkſam. 5. 14 und ff.
19
Heinen Bebirfniffe an Wäſche und Kleidung nicht mehr die in allen Künſten
der häuslichen Arbeit wohl unterwiejene Hausfrau, jondern der „billige Yavden“.
Wer da glaubt, daß dies bedeutungsloſe Kleinigkeiten find, der fennt den ge—
beimnigvollen Zauber nicht, der für Mann und Kinder gerade darin liegt,
daß die Handarbeit der Hausfrau unmittelbar den Yamilienglievern zu Gute
fommt. Und wie anders müfjen auch Mutter und Töchter am Haufe hängen,
an deſſen Mobiliar fie mit jtiller Freude ihre eigene Thätigfeit nachweiſen
fünnen! Aber freilih billiger jtellt ji das im Yaden gekaufte Hemd, wenn
dafür die Zeit der Mutter und der Töchter für die beffer bezahlte Handarbeit
oder für die Ertheilung von Unterricht frei wird. Wo gibt es dba
diefer Thatſache gegenüber eine Beredfamfeit, und hätte fie Engelszungen,
welde die Frauen vermöchte, zu der Sitte ihrer Mütter zurüdzufehren und
lieber jelbjt die Wäfche für ven Mann und die Kinderanzüge zu fertigen, auf
den baaren Verdienſt aber zu verzichten? Wer, wie der Verfafler, das Glüd
gehabt hat, in einer altwäterifhen Familie aufzuwachſen, der mag es wohl
tief beklagen, daß die heutige Zeit ſich Ddiejes gemüthvollen Zuſammenſchluſſes
am Familienherve mehr und mehr entſchlagen zu fünnen glaubt, aber dem
Staatsmann geziemt es, auf die Zeichen der Zeit zu achten und neue wirk—
ſame Inftitute zu Schaffen, wenn die alten ihre Kraft zu verlieren beginnen und
ihren Verpflichtungen nicht mehr gerecht werden.
4.
Die heutige Familienerziehung,
Wem entginge es wohl, daß die Tamilienerziehung längft das nicht mehr
leiftet, was fie zum Wohle des Ganzen zu leiften verpflichtet it? Alle päda—
gogiſchen Schriften der Yetztzeit find voll von Schilderungen der entweder ganz
mangelnden oder doc verkehrten Zucht im häuslichen Streife. Schon im Jahre
1845 Hagte ein um das Volkswohl ernftlich bejorgter Mann:* „Wo tft die
patriarchalifhe Form unferer Hausväter, wo die Zeit, da ihr Wort noch Geſetz
war? Fuimus Troes! Wo iſt das Verharren unferer Hausfrauen in ver-
borgener Zurüdgezogenheit? Aus Frauenzimmern find Frauengafjen geworben,
wie Abraham a Sancta Clara jagt.“ Und an einer andern Stelle derjelben
Schrift: „Es fehlt an Müttern. Die befjere Zukunft fommt nur von den
Müttern.“ Auch Raumer bridt im jeiner Geſchichte der Päragogif**) in
diefelben Klagen aus und führt die VBernachläffigung der Erziehung des
heranwachſenden Geſchlechts theils auf die mangelnde Befähigung der heutigen
Familie für diefe Aufgabe, theils auf das ihr mehr und mehr abhanden
fommende Interefje für eine gute Kinderzuct zurüd. Selbſt die Schmid'ſche
Encyelopädie erkennt in einer Reihe einſchlägiger Artikel die Unvollfommenheit
der modernen Privaterziehung offen an. Und welcher Lehrer wüßte nicht über
dies Gapitel aus feiner eigenen Praris gar Trauriges zu beridhten? Die
Einen ſuchen die Berantwortung fir das Förperlihe und geiftige Gedeihen
—
*) Scheinert, — des Vollkes, 1845,
**) Bd. II, ©. 452.
ihrer Kinder fo zeitig als möglich auf andere Schultern zu wälzen. Nicht
erwarten fünmen fie es, bis das fchulpflichtige Alter die Uebergabe ihrer Kinder
in die Pflege und Aufficht der Schule möglih macht und damit im ihren
Augen die Befreiung von der läſtigen Verantwortlichkeit für das Verhalten
derjelben herbeiführt. Die große Beliebtheit, deren ſich die Kleinfinderbewahr:
anftalten, die Spielſchulen und die Kindergärten, Echöpfungen unſerer Zeit,
zu erfreuen haben, iſt charafteriftifch fir den Begriff, ven fich heute die große
Mehrheit ver Eltern von ihren Pflichten gegen die Kinder madt.*) Andere
Väter und Mütter haben eine jo verkehrte Yiebe zu ihren Kindern, daß fie,
bejeelt von dem Wunſch, diefe nicht zu betrüben, eine jo weitgehente Nachſicht
gegen fie in Anwendung bringen, daR fie einerjeits feinerlei Genüſſe ihnen
verjagen, andrerjeits jelbit bei groben Unarten Strafen zu verbängen ober
and nur ernſtliche Mißbilligung zu äußern ſich nur ſchwer oder gar nicht
entichliegen fünnen. Wachjen ihnen dam, wie ja umvermeidlich tft, die Kinder
über den Kopf, dann bitten fie wohl den Yehrer um jeine Mithilfe, erfolgt
fie aber mit der möthigen Energie, fo macht fid) jofort wieder bei ihnen eine
Regung der Schwachheit geltend und fie nehmen nun das Kind gegen denſelben
Vehrer in Schuß, deſſen ſtrafendes Eintreten fie eben noch ſelbſt begehrten.
Solche Imconfequenz ift ums in unſerer Yehrerpraris nicht nur ein Mal ent:
gegengetreten. Die Verkehrtheiten jo mander häuslichen Erziehung, welche
für bloße Ungefchidlichkeiten des Kindes, z. B. wenn es eine Taſſe zericlagen
hat, die Strafe ftrenger bemißt als für ſchwere fittlihe Vergehen, z. B. für
Vüge, weldye aus Unfenntnig der Folgen Ungehorjam jtraflos ausgehen läft,
— dieſe und ähnliche Berfehrtheiten, Die doch das Kind ſchwer ſchädigen, bier
erihöpfend aufzuführen iſt unmöglich; es muß genügen, hier nur Darauf hin—
zumeifen. Dazu fommt nun, was die die höheren Lehranſtalten bejuchente
Jugend anlangt, daß ein erheblicher Theil derjelben jeine private Erziehung
in Penfionswirthichaften erhält. Daß diefe in verhältnißmäßig feltenen Fällen
ihre Aufgabe richtig auffaffen und mit Ernſt zu löfen ſuchen, iſt eine all-
befannte Thatfahe. Die Schule begegnet bier im der Negel theils in Folge
mangelnden Verſtändniſſes für ihre wohlgemeinten und wohlerwogenen An—
ordnungen, theils in Folge tadelnswerther Nachgiebigfeit gegen den eimen
*) Schr ſcharf geht der Verfaſſer der Briefe über Berliner Erziebung mit den
Kindergärten ins Gericht. „Diefe Anftalten (nämlich die Kindergärten) find noch nit
alt genug, um die Größe des Bortheils oder Nachtbeils, den fie den Kindern gemäbren,
ganz ermeilen zu können, nad meinen bisherigen Erfabrungen ift der letztere größer als
der erftere: ich babe wiederboit wahrnehmen müflen, daß Knaben, welche in der Metbode
der Kindergärten Jahre laug erzogen worden waren, noch von neun und zehn Jabren
eine Art Traumleben führten, aus dem fie kaum aufzumweden waren; das Anſchauungs—
vermögen war fo einfeitig anf often der übrigen Kräfte, namentlich des Berftandes,
ausgebildet, dak fie zu munterer Aufmerkſamkeit und leichter ſcharfer Auffaffung ganz
unfäbig waren. — — — Der Ausbrud, den man zuweilen bört, in den gebildeten
Kreifen feien die Kindergärten nur für Stiefmütter und faule Mütter da, mag bart
Hingen, trifft aber volltommen die Sade, nur wiirde ich noch binzufügen: und für
jene eitlen, flachen Gejchöpfe, die Mütter zu beißen Überbaupt nicht verdienen, — — —
Ich wäre wohl begierig die Antwort zu bören, wollte man folhe Mütter einmal fragen:
„Im welder Zeit erziebt Ihr denn nun Eure Kinder ?“* Die Notbwendigfeit dieſes
Inftituts wird ſich trot alledem für unſere Zeit nicht mehr beftreiten laſſen, im ber
nun einmal viele Mütter die Negierung im bänslichen Kreiſe nicht mebr für ibre erſte
und liebſte Aufgabe halten. e
21
materiellen Gewinn bringenden Penfionär einer heimlichen Oppofition, die um
jo gefährlicher wirkt, je mehr jie zugleih dem Schüler die Offenheit umd
Aufrichtigkeit gegen den Yehrer abgemwöhnt und damit das Vertrauen zu ihm
untergräbt. Endlich ift nicht zu überfeben, daß die höheren Schulen viele
ihrer Zöglinge aus den unteren Ständen erhalten, die mit ihrem Eintritt in
die oberen Klaſſen ſich gewiſſermaßen über das geiftige Nivean ihrer Eitern
erheben und daher Yegteren in den meiſten Fällen eine Achtung einflößen,
die fie unfähig macht, Das Erziehungswerk fortzujegen. So hört denn gerade
bei diefer Klaffe von Jünglingen der bejtimmende Einfluß der Erwachſenen in
einer Periode nahezu auf, wo er am nöthigiten ıft. Wo wir bei afademijch
gebildeten Männern auf unleidlichen Hochmuth und auf rücdjichtslofe Herzens:
bärtigfeit jtoßen, da werden wir meiſt den Grund Ddiejer Fehler darin ent:
decken können, daß Dene, bervorgegangen aus Familien ver unteren
Stände, in den Jahren des Weberganges zum Dünglingsalter ihre Eltern
überjaben.
Das düſterſte Bild von der Art, wie heute die Familie ihre Pflicht, die
Kinder zu erziehen, auffaßt, entwirft ver Verfaſſer der Briefe über Berliner
Erziehung, eines Buches, das mit Recht alljeitig die größte Aufmerkſamkeit
erregt und bei ven praftifchen Schulmännern Zujtimmung gefunden bat. Und
wenn man vielleicht einzumwerfen geneigt wäre, daß dort ein mifvergnügter
Pädagoge die Dinge zu ſchwarz anficht und zeichnet, fo leje man, wie ein
Yaie iiber diefen jelbigen Gegenſtand urtbeilt, ein Laie, dem man jchwerlid)
den Borwurf wird machen wollen, daß er zu den grümlichen laudatores
temporis aecti zähle. Gerade Yasfer's Ausführungen über diefen Punkt ver-
dienen die vollfte Berüdjichtigung.*) Er, wie ver Berliner Pädagoge, fommt
zu dem Schluß, daß es mit der Zukunft unferes Bolfes übel bejtellt fein
würde, wenn nicht baldige Abhilfe gegen diefen won Jahr zu Jahr mehr um
ih frefienden Schaden eintrete. Beide erwarten einen Umſchwung nur dann,
wenn wir durch die öffentlibe Erziehung die künftigen Bäter und Mütter
jelbit erjt im eine befjere Richtung gebracht baben werben.
Wir hören als Dritten noch einen Nationalöfonomen. Felix fagt in
jeinem Werte „Die Arbeiter und die Gefellfchaft“ **) hierüber Folgendes: „Die
den höheren Ständen angebörenden Perfonen vermögen es zumeilen gar nicht
zu faffen, daß arme Handwerker, melde mehr als irgend Jemand das Ihrige
zu Rathe ziehen jollten, die jorgfame Sparfamfeit und die Mäßigkeit vermiffen
lafien, melde jie jelbit an ven Tag legen. Die einfade Erklärung fo ſelt—
jamer Erſcheinungen liegt in dem Umſtande, daß dieſe Perfonen nicht zur
Sparjamfeit, fondern zum Genuß erzogen find. Das arme Kind eines Ar-
beiters, deſſen Eltern ſich häufig unmäßig und unreinlid zeigen, miteinander
hadern, die Zeit vergeuden und gar oft ohne Scheu vor feiner Anweſenheit
unanftändige Reden führen, kann, wenn überhaupt, nur erſt in der erniten
Schule des Yebens nach herben Erfahrungen, meist zu jpät, die Eigenſchaften
würdigen lernen, welde es an feinen Eltern vermißte Darum foll, jo führt
der Berfafler fort, der Volkslehrer zugleich der Erzieher der ihm anvertrauten
*) Siebe deſſen Aufſatz über Erziehung und Anlagen in der deutſchen Rundſchau 1,
**) GEribienen bei Otto Wigand in Yeipzig, 1874.
22
Kinder fein, der ſich die Aufgabe zu ftellen hat, ihnen, neben den nothwendigen
Disciplinen, durch Yehre und Uebung all die fittlihen Eigenſchaften einzuflögen,
deren fie zu ihrem Lebensglüd nicht entbehren können.“ Nicht blos zu ihrem
Lebensglüd, füge ich hinzu, jondern vor Allem zum Heile der Gejellibaft, dei
Staates. Und nun bevenfe man, eimen wie großen Brocentjag unter dem
heranwachſenden Geſchlecht gerade die Arbeiterfinder bilden, fie, die unzweifel—
haft in Folge der nicht mehr aus der Welt zu ſchaffenden Frauenarbeit un
der umleugbaren Yüjternheit der Eltern die jchlechtefte Erziehung genießen.
Den Erwachſenen wird die ftaatlide Zucht felbft durch die ſtrengſten Geſetze
nicht zur Gefeglichfeit zwingen, höchſtens zu einer äuferlichen, Die doch im
Grunde feine ift, auch Feine Stüge des Staates fein kann, das Kind aber
vermag die Disciplin eines treuen und gejchulten Lehrers jo zu leiten, daß
es dereinft als Staatsbürger zum Heile des Ganzen die Gejege aus Weber: .
zeugung vejpectirt.
Aber bei der fo tief einſchneidenden Wichtigkeit dieſer Aufgabe für die
Geſundheit unferes Bolfsthums — denn es handelt ſich eben darum, ob unſere
Nation in derjelben Entwidelungsphaje ihren Lebensproceß abſchließen jolle wie
die Völker des Alterthums, oder ob fie im Stande ift, durch Gründung neuer
Inftitutionen, die einen Erjag für die im Yaufe der gejchichtlihen Entwidelung
gleihfam abgenugten veriprehen, einen höheren Aufjhwung zu nehmen, — id
jage: in diefer Frage um Sein over Nichtfein darf es uns nicht genügen, wie
der Berfaffer der Berliner Briefe thut, die Erwartung auszuſprechen, daß es
der öffentlichen Erziehung gelingen werde, das drohende Verderben zu beſchwören.
Es gilt vielmehr, pofitive VBorfchläge zu machen und auf eine geſetzliche Rege—
lung der jegt übel vernachläſſigten Jugendrisciplin in Wort und Schrift hm:
zuwirfen. Man vergeſſe doch ja nicht, daß gerate bier ein Zuwarten, cm
Auffhub ver dringlihen Reform ſchwere Schädigungen des Vollsthumes herbei:
führen muß. Oder wird etwa Das heranwachſende Geſchlecht, das nach über:
einftimmender Schilderung bejonders in den großen Stäbten und in induftriellen
Bezirken nit mit der nothwendigen Sorgfalt und pädagogiſchen Einſicht
im Haufe erzogen wird, nad) menſchlicher Berehnung mehr Geſchick ent-
falten, jeinerjeits feine Kinder zu erziehen, wenn dazu an daſſelbe die Reihe
kommt? Man jehe ſich doch ja vor, daß nicht auch auf unfer Voll einft
pafie, was der römiſche Dichter von dem jeinigen mit wehmüthiger Trauer
berichtet:
Aetas parentum, pejor avis, tulit
Nos nequiores, mox daturos
Progeniem vitiosiorem.*)
Die Enten, die dur Hühner ausgebrütet werden, verjtehen das Brüten
jelbft nicht mehr.
*) Hor. carm. III, 6, 4b.
23
5.
Die Nothwendigkeit einer ſtaatlichen Beaufſichtigung der
Kindererziehung.
Mit halben Mafregeln ift hier nichts zu gewinnen, wohl aber mehr nod)
zu verlieren. Den Rath, den der Verfaſſer der Berliner Briefe den Eltern
ertbeilt, bei den Seelenfranfheiten ihrer Kinder den Pädagogen von Fach als
Hausarzt zu Rathe zu ziehen, — hat er wirflid auch nur einige Ausjicht auf
Beherzigung und Befolgung bei der großen Menge, ja jelbjt bei den gebilveten
Vätern? Es bleibt eben nur übrig, daß der Staat, allerdings mit Benugung
der Familie und anderer Injtitutionen, die im Weiteren zur Bejpredung
fommen jollen, die Erziehung injofern übernimmt, als er gejetlich gewiſſe Prin-
cipien fejtftellt, nady denen diejelbe geleitet werden joll. Gemeindeorgane wer—
den die Befolgung derjelben zu beaufjichtigen haben. Zu diefem Schluß bringt
mich nicht nur die Wahrnehmung, wie das Haus vielfady Die ihm bisher fait
ohne Einſchränkung zugefallene Erziehung der Kinder vernadyläffigt, jondern
aud die Erwägung, daß heut zu Tage bei der Vielgefchäftigfeit unjerer Gene—
ration die TIheilung der Arbeit fih mehr und mehr vollzieht. Wohl weiß ic,
daß gerade dieſe großen Gefahren für die Lebenskraft der Nation in ſich birgt
und daß man ſich daher eher gegen eine weitere Durchführung verjelben ſtemmen
müßte Allein ein Correctiv für diefelbe hat die Geſellſchaft in der Juſtiz, in
der Berwaltung des Staates, des Kreifes, der Commune, im Militärwejen, in
der Kirche und auf fo vielen anderen Gebieten glüdlicd gefunden, da in ben
genannten Sphären überall jegt neben Fachleuten berufene Laien mit Rath und
That mitwirkend eintreten. Und wenn id) num empfehle, die Erziehung einem
Stande, den Yehrern der Staatsjhule nämlich, von Staatöwegen anzuvertrauen,
jo ift es meine Abſicht durchaus nicht, diefem eine Domäne zu jchaffen, in ber
er für ſich abgejchloffen und ohne geiftige Befruchtung dur die andern Bes
itandtheile der Nation arbeite. Wenn aber ſchon Plato im Laches“) die Be—
merfung macht, daß die Männer jeiner Zeit zu jehr den Geſchäften des öffent-
lihen Yebens angehörten, als daß fie noch Interefje für die häuslichen Aufgaben,
infonderheit für die Kindererziehung hätten, jo gewinnt einerjeit® durch dieſe
Worte die oben des Weiteren gejdilderte ähnliche Erſcheinung unferer Tage
eine Erklärung, andererjeits wird und das Mittel nahe gelegt, von Neuem
das Intereſſe für die Yugenderziehung zu erweden. Man made diejelbe zu
einer öffentlichen Sache, und jofort werden auch wieder alle geijtigen Kräfte jic)
ihr zuzumenden Antrieb finden.
Endlich bejtimmt mid zu meiner Auffafjung von der unumgänglicen
Nothiwendigkeit der Staatserziehung auch folgende Rückſicht. Bisher gehörte
das mit 14 Jahren aus der Schule entlafjene Kind, wenn es fein Brot in
*) Gleich im Eingange des Dialogs gedentt Plato der Erfabrung, die er auch in
anderen Schriften in Erwägung gezogen bat, daß nämlich viele ausgezeichnete Männer
ihre Söhne nicht zu gleicher Tüchtigleit erzogen bhätten. Im 3. Capitel beißt es dann
mit Bezug hierauf: vo Te TWr nolwr ngerrougew, «vrois oyedor rı ravıa
ovußeiveı, & ovrog Ayeı, zei negi naidas xui radlı idie, ohıywgeisdei 1 xui
«urshag diurideode.
24
eirem fremdem Haufe fich erwerben mußte, der Familie an, in die ed ale
dienendes Glied eintrat. Das Dienſtmädchen, der Pferdejunge, der Yehrling,
der Geſelle und der Knecht fogar afen am Tiſche ihres Brotherrn mit umd
genoffen alte die erziehlihen Anregungen und vor Allem auch die ſittliche Hut
und Beauffichtigung, welche die Familie den eigenen Kindern zu Theil werden
lief. Das it inzwiſchen felbft in den Fleinen Städten und auf dem platten
Yande durdaus anders geworden. Das Gefinde und die Gehülfen aus der
MWerkftätte jind außer der Arbeitszeit faſt völlig ſich ſelbſt überlaffen. Die
Pflicht, außer für den leiblichen Unterhalt auch für die fittliche Förderung diejer
jungen Yeute zu jorgen, ift fat vergeſſen. Höchſtens wird noch auf eime Art
von Dieciplin im Hauſe felbjt umd bei der Arbeit geſehen, aber bei den Dienit-
mädchen vielfach aud dies nicht mehr. Was außer ver Wohnung der Dienft-
herrſchaft geſchieht, das füllt nach faſt allgemeiner Auffaffung nicht mehr
in das Bereich der Aufficht derjelben. Daß daher Kuaben von kaum
15 Jahren in unziemlicher Art und außerdem zum Schaden ihrer Geſundheit
rauchen und unmäßig Spirituoſen genießen, die Straße veritellen, lärmend und
tobend die öffentlichen Plätze durchſtreifen, das Publikum beläftigen, vie Mäpden
mit unanftändigen Scherzen anrufen und verfolgen, — wer jieht es nicht,
ohne ſich über die Ohnmacht der Polizeiorgane zu wundern? Aber das jind
nicht jowohl die Folgen der neueren, allerdings ja viel zu humanen Straf
und Bolizeigefege, jondern vielmehr die der heutigen Geſindeordnung. Mit
dem Zunftzwang iſt auch die Disciplin der Yehrlinge nefallen. Jeder Meiſter
wird uns das jagen. Mochten immerbin die den Erwachſenen durd die Zünfte
gezogenen Schranken in viefen Tagen überflüjfig, ja jchädlich geworden fein, —
für die noch unerwacjene Hanpdwerter-Jugend mußten neue Formen gefunden
werden, um die diefem Alter jo nothwendige Bevormundung zu ſichern und zu
regeln. Darf nun der Staat auch fernerhin diefen fo beveutenden Procenjag
des herammwachjenden Geſchlechts, der fid) mit 14 Jahren, aljo gerade im der
für phyſiſches und fittliches Gedeihen jo entſcheidungsvollen Periode des Ueber—
ganges vom Knaben zum Jüngling, jedem erziehlichen Einfluß entzieht, feinem
Schickſal überlaffen? Darf er auch in Zukunft die ſchon jo grell hervortre—
tenden Mängel dieſes ungejunden Zuſtandes überſehen? Iſt es nad den bie:
herigen Erfahrungen gereditfertigt, die fernere Erziehung diefer großen Maſſe
der Kirche allein zu überlaffen? Oder bat lettere den Beweis gegeben, daß
fie die Fürforge*) für diefen Theil der jungen Bevölkerung in der rechten Art
wahrnimmt? Darf überhaupt die Kirche von Staatöwegen zu einer Art von
polizeiliher Mithilfe zugezogen werden!
Keine diejer Fragen wird man bejahen wollen. Obſchon man damit notb:
wendig zur Annahme meiner Propofitionen gedrängt wird, jo babe ih doch
noch maunnigfachen Wivderjpruch zu erwarten, dem ich von vornherein zu begegnen
verſuchen will.
*) Die Geiftlichleit bat für die jungen Sandwerler in ben jogenannten Geſellen—
und Jüuglings-Vereinen unzweifelbaft viel gethan. Wir kennen Beiſpiele, daß ſich
namentlich jüngere Geiſtliche mit einer höchſt achtungswerthen Selbftverläugnung und
mit unberechenbaren Opfern an Zeit, Mübe und Geld die Fortbildung dieſer Jüng—
linge — ſein ließen. Allein die Lehrlinge ſind ſich völlig allein überlaſſen
geblieben.
25
Zunächſt kaun es nicht auffallen, in einer Zeit, da Alles zu unbedingtem
Gehorſam und zur Unterwürfigfeit unter den Staat hindrängt, auch das andere
Ertrem vertreten zu finden: den ſchrankenloſeſten Subjectivismus. Er mwurzelt
nod) in den Ideen und Beitrebimgen des Anfangs unferes Jahrhunderts. Diejer
begehrt die Erziehung als ein unveräußerliches Recht der Familie.
Wilhelm von Humboldt conftruirte gegen Ende des vorigen Jahrhunderts
in feiner Schrift: „Bon den wahren Grenzen der Wirffamfeit des Staates“
eine Politie, in welcher die Staatsmacht auf ein Minimum veducirt iſt: ein
treues Abbild von den damals ımter den Glebilveten ver Nation herr—
jhenten Auffafjungen von dem jogenannten Nothſtaat. Selbſt der bejte Staat
galt in jener Zeit eben nur für ein nothwendiges Uebel. Bon dieſem Stand-
punfte aus erklärte auch Hegel in feiner zweiten Gymnaſialrede die Zucht der
Eitten als eine nicht öffentliche Sache, fondern als ein Geſchäft und eine Pflicht
der Eltern. Im der dritten Rede führt derſelbe Philoſoph aus, daß die Dis-
cıplin und moraliſche Wirkſamkeit der Schule fih nicht auf den ganzen Um—
fang der Eriftenz des Schülers erftrede, der nur mit einem Fuß in derjelben
ftehe. Dieje ſelbſt ift ibm nichts weniger als Staatsanftalt, fie fteht ihm
zwifchen der Familie und der wirkliben Welt und wirft im Auftrage der
Familie und auf Grund des ihr von leßterer geſchenkten Vertrauens.
Diefer Standpunkt mochte jo lange feine Berechtigung haben, als die
Familie ihrer Berpflichtung, auch für das fittlihe Wohl der Kinder zu jorgen,
fidh bewußt blieb. Heute aber, wo die Pflichten nicht mehr von Allen geübt
werden, fünnen auch die entiprechenden Rechte nicht ungeſchmälert belaffen werben.
Das höhere Imterefie der Geſammtheit erfordert diefe Einſchränkung auf das
Entſchiedenſte. Wenn man heute itbereinftimmend berechtigte Klagen vernimmt,
daß die Jugend theils in Genußſucht erſchlaffe, theils — was mehr von dem
die höheren Schulen nicht bejuchenden Theile gilt, — fittlidy verwildere, jo
möchte man freilich bei der Gleichgültigfeit, mit der bislang der Staat ſolche
Schäden binnahm, meinen, daß derfelbe in ver That ein innigeres Interefje
daran nicht zu nehmen brauche. Aber ift denn der Staat nicht eine fittliche
Anftalt, Die ohne die Sittlichleit ihrer Angehörigen gar nicht beftehen kann?
Und mehr nob! Der freiefte Staat braucht ohne Zweifel auch die fittlichiten
Perjonen. In der abjoluten Monarchie ift der Menfb nur Majchine, nur
thätig in der Hand eines höheren Willens und bedarf daher nur infoweit der
Erziehung, daß er gehorchen lernt. Anders im conftitutionellen Staat. An
die Stelle des knechtiſchen Gehorſams muß bier der freie treten und eine edle
Bereitwilligfeit, vem Staat alle Opfer an Gut und Blut, am Arbeit und
Mannesfraft zu bringen. Wie mag man hoffen, bei den jegigen Zuſtänden
der Erziehung ein jo hohes Ziel zu erreihen? Mit Recht macht der Philo-
joph Ariftoteles in dieſer Beziehung darauf aufmerkſam, daß das wäterliche
Sebot nicht jo zwingend ift wie Das Staatsgebot, und daß ver Staat Alle
ohne Ausnahme über einen Yeiften ſchlagen könne.) Wo das Intereſſe des
*) Aristot. Nie, Eth. X, 9, 11 und ff. überjett von Ad. Stabr: „Wenn ber
Mensch, um gut zu werden, fittlich erzogen und gewöhnt werden, und demnächſt bas
ganze Thun und Treiben feines Yebens ein fittlich gutes jein und er weder mit noch
ohne feinen Willen das Schledte tbun muß, und wenn alles dies nur geſchehen kann,
wenn der Meuſch nach einem gewiſſen Bernunftgeieß und nad richtigen Inftitutionen
26
Staates mitjpridht, haben wir uns Alle zu fügen. Auf dieſem Grundſatz
beruhen ſchon jo viele Gejege, die das Recht des Individuums einfchränfen,
wie das der Schulpflicht und des Impfzwanges, das der allgemeinen Wehr:
- pflicht, das des Zeugenzwanges u. j. w. Um wie viel mehr Recht hat ver
Staat dazu, die Feltjegung gewifjer Erziehungsgrundfäge für ſich in Anſpruch
zu nehmen, da ihm hierzu die Pflicht der Celbjterhaltung recht eigentlich nöthigt!
Scheinbar jchmwerer wiegt es, wenn mein Borjchlag den Vorwurf erfährt, daß
nad) ihm die Erziehung einem Inſtitut überantwortet wird, das nur auf dem
Utilitätsprincip erbaut je. Wo jei die erwärmende, adelnde Idee, in der die
Jugend an der Hand eines Staatsbeamten heranwachſe? Auch hier tritt ung
wieder die Vorftellung vom Staate entgegen, die wir oben ſchon zurückwieſen.
Wo iſt denn eine idealere Grundlage für die Erziehung der Jugend zu finden
als in der Platoniſchen dixauoovvn, auf welder der Staat beruht? Auch
in dem chriftlichen Staate weht ein anderer Geift nicht. Oder baben etwa
jene „chriſtlichen“ Dejuitenjchulen, in denen das Trachten nady Ehre zum Hebel
jeder geiftigen Anjpannung und Yeiftung gemacht wurde, in einem chrijtlicheren
Geiſte die Jugend erzogen? Der chriſtliche Geift ijt ja übrigens, Gott jei
Dank! heute nicht mehr blos hier oder da; er iſt jet ein untrennbarer Be:
jtandtheil unjerer Eultur, ein Gemeingut des deutſchen Bolfes geworden, jo
zwar, daß gar viele Männer, die ſich äuferli gar nicht zur Kirche halten,
mehr von ihm, wenn aud ganz unbewußt, in jid haben als jo mander
zelotijche Belenntnifchrift. Darum it e8 entweder eine Phraſe oder es verfteht
ſich von jelbit, dag die Erziehung unjerer Jugend im chriſtlichen Geiſte gejchehen
muß. In feinem alle darf die von mir vorgejchlagene Staatserziehung als
in einem Gegenfat zur chrijtlihen ſtehend aufgefaßt werden.
Endlich höre ich meine Gegner einwerfen, daß ich die Bedeutung ber
Familie in einer Weije verfenne und herabjege, die den Beſtand des Staates
jelbjt in Frage ſtelle. Daſſelbe jagte man Yuther nad, als er jein Send»
ihreiben an die Städte erließ, daß fie chriftlihe Schulen aufrichten jollten.
„Ein Jeglicher mag jeine Söhne und Töchter wohl jelber lehren und fie ziehen
mit Zucht.“ Ich antworte mit Yuther: „Da, man fiehet wohl, wie jid's
lehret und zeucht!“ Sodann weiß ich jehr wohl, daß die Staaten jich jtets
auf die Familie gründeten. Aber ich erfenne in der Entwidelung der Menſch—
lebt, welche Kraft baben, fich Geltung zu verichaffen: jo bat zumächit das väterliche Ge-
bot nicht die dazu erforderliche Stärte und zwingende Kraft, ebenjowenig wie überbaupt
das Gebot eines einzelnen Mannes, wenn derjelbe nicht König oder jonft eine mit ab-
joluter Macht bekleidete Perjon if. Das Geſetz dagegen bat zwingende Kraft, denn es
ift eine Vorjchrift, die fo zu jagen aus der praftifchen Klugheit und Vernunft bervor-
gegangen ift. Dazu kommt noch eins: wenn es Menſchen find, die unferen Neigungen
entgegentreten, jo bafjen wir fie, auch wenn ihr Widerftand gerecht iſt, das Gejeg bin-
gegen, weil es überhaupt nur die Norm für das Rechte und Gute aufftellt, erregt in
uns fein Gefühl des Widerwillens. In dem einzigen lacedämonifchen Staate, wenn
man ein paar andere ausnimmt, fcheint der Gejetgeber fih um die Auferziebung und
die Unterrichts- und Bildungsgegenftände der Individuen befüümmert zu baben, wäbrend
dagegen im dem meiften übrigen dieſe Dinge völlig verwabrloft find, und Jeder lebt,
wie er Luft bat, auf gut kytlopiſch richtend über Weib und Kinder.” Die leiten Worte
enthalten eine Anfpielung auf Hom. Odyſſ. 9. 144. Dieje Worte paffen genau auf
unjere Berbältniffe. Die Nothwendigkeit geſetzlicher Verordnungen gegenüber der elter—
lichen Nachſicht, welchen ſich Alle in gleicher Weiſe zu unterwerfen haben, läßt ſich nicht
ſchärfer darthun.
27
beit die Intention, dae Imor rokırızöov mehr und mehr darzuftellen. Und
wenn bisher die Culturſtaaten aerade in dem Zeitpunkt zuſammenfielen, wo fie
die Familie abjorbirt hatten, jo ahne ich bier dennoch den Anſatz zur Erklim—
mung einer höheren Stufe der Vervollkommnung, die allerdings nicht gleich bei
dem erften Werfuch aelinat, wohl aber dann gelingen könnte, wenn die nöthigen
Zwiſchenglieder und beffenden Momente durch den Gang der Entwickelung vorber
geſchaffen find. Diefe mit bewußter Leberlegung allmählich zu Schaffen, betrachte
ih als die Aufgabe unferer Zeit. Hier mögen wir von dem praftifchen und
ſtaatsklugen Bolfe der Römer lernen, die zwar nie von der Borzeit über-
kommene Inftitutionen durch Geſetze aufhoben, aber doch redhtzeitia für deren
Erſatz durch zeitgemäßere Bedacht nahmen, wenn erftere ſich überlebt zu haben
ſchienen.
*
6.
Die Organe des Stantes bei dem Werk der Erziehung.
Es entfteht num die frage, Durch welche Organe der Staat die Erziehung
zu leiten habe. Als ſolches gilt mir in eriter Pinte die Familie. Erft in
diefem Einne gefaßt, erhält fie heute ihre rechte Bedeutung. Da die Eltern-
und die Kindesliebe die erfte Bafis für die Sittlichfeit ift, jo wird fich in ihrem
Schoofe auch die Erziehung in dem erjten Stadium am glücklichſten vollziehen.
Bis zum fiebenten Jahre mögen die Kinder beiderlei Geſchlechts aanz dem
elterlihen Haufe itberlaffen bleiben. Hier jollen fie ſich zunächſt Förperlich ent—
wideln und aud die eriten geiftigen Eindrüde von der Mutter empfangen.
Die Eigenart der Eltern mag Gelegenheit haben, ſich bei den Kindern Geltung
zu verichaffen, damit der Charakter der Staatsbürger vor Einförmigfeit be:
wahrt bleibe.
Wo die Erziehung von Eltern unverjtändig betrieben oder aanz vernach—
(äffiat wird, bat der Waiſenrath unter dem Vorſitz des Gemeindehauptes und
unter Zuziehung des Geiftlichen des bezüglichen Bekenntniſſes über die einzu:
ſchlagenden Schritte zu berathen umd zu beichließen. Wenn Rath und Zuſpruch
fruchtlo® bleiben, jo iſt es dem pflichtmäßigen Ermefjen des genannten Colle-
giums anheimgeftellt, das Kind anderweitig geeignet unterzubringen. In den
größeren Städten wird durd Einrichtung von Kindergärten denjenigen Eltern,
welche durch die Art ihrer Beihäftigung außer dem Haufe von der Beauf—
fichtiqgung der Kinder abgezogen werden, Gelegenbeit zu bieten jein, dieſelben
für die Zeit ihrer Abwefenheit von Haufe fremder Obhut anzuvertrauen.
Erſt mit fieben Jahren tritt das Kind in die Bolfsfchule ein. Wenn
Colon, Plato und Ariftoteles dies Pebensjahr für den Beginn des Unterrichtes
anfesten, jo haben wir, die wir nördlicher wohnen, e8 wohl zu überlegen, ob
das fünf- und ſechsjährige Kind, das bei ums geſetzlich ſchon zum Schulbeſuch
verpflichtet ift, nicht befjer no won den Anftrengungen des Denkens verjchont
bleibt.*) Bon dem Eintritt in die Schule ab fol das Kind Feineswegs dem
*) Wenn Friedrich der Große und ſchon befien Bater die Kinder wenn wicht
früber, fo doch wenigftens mit bem 5, Lebensjahre für die Schulen in Anfpruch nebmen,
jo möchte ich bierin ben Verſuch feben, ſchon in möglichft frühem Alter dem Yebrer
28
elterlichen Einfluß entzogen werden, wohl aber in ver Schulanftalt eine ſtaat—
liche Einrichtung rejpectiren lernen. Die Verantwortung für die Erziehung
des Kindes dem Staate gegenüber rubt auf dem Yehrer, der Fraft jenes Amtes
überall einzuwirfen bat, wo er das Seelenheil jeines Zöglinges gefährdet jieht.
Dabei verjtebt es ji aber von jelbit, daß Seitens der Schule eine tactvolle
Berückſichtigung der häuslichen Verhältniſſe ftattfinden und eine ängſtliche Scho—
nung der Pietät gegen die Eltern geübt werden muß. De älter das Kind
wird, deito mehr rüdt der Schwerpunft der Erziehung in die Schule. Dieſe
aber darf, nicht Durd den Lehrer allein vertreten jein. Den Unterricht zwar
leitet er allein, die Disciplin aber, foweit fie nicht unmittelbar mit Dem Unter
richt verwachjen it, gehört einem Collegium, das unter dem Vorſitz des Rectors
oder Directors aus den VYehrern der betreffenden Anjtalt und aus gewählten
Bertretern der Gemeinde beiteht. Im Einklang mit den ſtaatlich aenebenen
Schulgejegen und den erläuternden Anordnungen der berufenen Behörden bat
diefes nicht nur die jpeciellen Schulordnungen feitzufegen, jondern aud über
die Beachtung derjelben von Ceiten der familien, der Yehrer ımd ver Schul—
jugend zu wachen und überhaupt die Schulzucht zu üben. Die Genfuren und
Berjetungen, die Beſtimmung ımd Abmeffung der Strafen für gröbere Vers
gehungen, die Anordnungen bezüglich der Schulfejte u. a. gehören vor jein Forum.
Mit feiner Genehmigung erfolgt mit 14 Jahren ver Austritt des Kindes aut
der Volksſchule. Dieje Genehmigung ift zu verjagen, wenn die intellectuele
und ſittliche Reife bezweifelt werden muß. Der aus der Schule entlafiene
Knabe bleibt, ebenjo wie das in dem gleichen alle befinnlihe Mädchen, zum
regelmäßigen Bejucd der itberall, namentlich aud auf dem platten Yande ein
zuführenden Fortbildungsſchulen verpflichtet und beide treten unter den erzieb-
lihen Einfluß und vie Disciplin des Collegiums der Fortbildungsſchule, in
welchen dem Yaienelement eine entjprechend ftärkere Vertretung wegen der hinein:
ipielenden Intereffen der gewerblichen Stände einzuräumen iſt. Cine Stunde,
für die von diefer Behörde die Zeit feitzufeten iſt, muß täglich mit Ausnahme
des Sonntags diefem Unterricht gewidmet werden. Derielbe bat die Kenntuniß
der Organijation des Staates, der Rechte und Pflichten der Staatsbürger und
der wichtigeren Geſetze zu vermitteln*), Die der vwaterländiichen Gejchichte zu ver-
tiefen, außerdem in den Städten den Bedürfniſſen der Gewerbe zu Dienen, auf
dem Pande aber die Disciplinen der Aderbaufchulen joweit als möglich auf:
einen Einfluß auf die Erziehung des Kindes zu fihern, Denn daf ein Kind in ie
zarter Jugend dem Unterricht mit Erfolg und, wenn dies, obne Schaden an feiner
geiftigen und körperlichen Gefundbeit folgen könne, bezweifle ich nach meinen Erfahrungen.
Sa, ich bin ſehr geneigt, die Erſcheinung, daß es unferer Zeit an berverragenden
geiftigen Kapacitäten jo ſehr feblt, auf Rechnung des zu früben Schuibefuches zu jeten.
Was Ariftoteles von den Gefahren zu frübzeitiger Anftrengung des kindlichen Körpers
durch die gummaftiichen Uebungen jagt, (Pol, VII, 4. Er yag rois "Okuumorixaus
dio is av 7 TOEIS EVEOL TOUS auroVS verixnroras ardoas re zur neides, dia ro vlovs
aaxovürras epageide rıjv duvauır uno rar drayzaior yuuraolior.) findet ganz
enijprechende Anwendung auf zu früh dem kindlichen Geift zugemutbete Anfpannung.
*) Als ein ganz vorzünliches Lehrbuch fiir diefen Theil des Unterrichts wäre zu
empfehlen: Deimling, Die Segnungen der menſchlichen Gejellicaft. Populäre Be
tradhtungen aus dem Gebiete des fittlihen Yebens. Gin Büchlein für das Boll umd
die Jugend. Strafibura, W. Schauenbura, 1873. Diesbelebrente und noch mebr an-
vegende Buch jollte auch in feiner Schüler-Yejebibliothet fehlen,
29
zunebmen. Der Efementarlehrer wird auf dem Seminar diejenige Vorbiltung
erhalten müſſen, die ibn für die Ertbeilung dieſes Fortbildungsunterrichts be-
fühigt.*) Am Sonntag Nachmittag verjummelt fih die geſanmte männliche
Jugend in Stadt und Yand auf dem Turnplatze, um ſich mit Spielen zu
beluftigen. Daß diefer bald ver Sammelplag aud der Eltern werden und
auf dieſe Weije eine wiürdigere Begehung der Sonn und Feſttage im Bolf
fi anbahnen wird, ift zu hoffen. Für die Mädchen wird ein Induftrieunter-
richt eingerichtet, der viejelben befähigt, die in der Familie vorkommenden weib-
lihen Handarbeiten ohne fremde Unterftügung zu fertigen.
Den Schlußſtein der Erziehung der männlichen Jugend bildet dann ähnlich wie
einst in Athen die militäriiche Ausbildung zur Vertheidigung des Ihrones und
Baterlandes. Erft mit der Entlaffung von der Fahne, aljo in ver Kegel mit
23 Jahren, gewinnt der junge Mann das Recht der freien Selbſtbeſtimmung,
das Recht, einen eigenen Hausſtand zu begründen, überhaupt die Rechte eines
Staatsbürgers.**)
ie
Von den Mitteln der Erziehung, befonders in den höheren
Lehranfalten.
Nachdem wir in großen Zügen die Inftitution der Bolfserziebung ent:
morfen haben, wenden wir uns fpecieller zur Beſprechung der Erziehung,
welche die höheren Vehranitalten geben follen. Es fprinat ſofort in die
Augen, dar den Gymnaſien, infofern fie für die Umiverfitäten vorbereiten,
die Aufgabe zufällt, die künftigen Führer des Volkes zu bilden. Daran
folgt, dar es nicht Darauf ankommen kan, die das Gymnaſium beſuchende
Jugend nad der Schablone nur zum Gehorſam zu erziehen. Schon Aristoteles,
ver doch die Staatserziebung eingeführt wiſſen wollte, verfennt nicht, daß Die
Familienerziehung in einem Punkte einen Borzug enthalte, nämlich infofern
fie individueller jer, denn jene. Der Pehrer bat alfo, um viefen Nachtheil
möglichft gering zu machen, ftets zu bevenfen, daß der Menſch zu einer Perſon
gebildet werben foll. Die Intentionen der einzelnen Naturen müſſen infoweit
berüdjichtigt werden, als ihre Anlage nicht fehlerhaft ift. Demnach wird man
fih zwar beifpielömeife auf das Nengitlichite zu hüten haben, einem ſich jchen
früh entwidelnden Ehrgeiz Nahrung zu geben, andererſeits aber wird man
Anftand nehmen, einen tränmerischen Knaben zu einen willensfräftigen machen
*) Das verlangt auch Felix, Die Arbeiter und die Gefellichaft, Leipzig 1874, S. 206.
Beraleihe auch Dr. Jürgen Bona Meyer, Die Kortbildungsichule in unferer Zeit,
Berlin 1873, Muftergältia ift das Gefet über den Kortbildungsunterricht im Herzog
tbum Gotha vom 3. Juni 1872. Vergleiche endlih auch Dr. Bict. Böhmert, Arbeiter
verbältniffe und AFabrifeinrichtungen der Schweiz. 8b. I. Zürich 1873,
*#), Friedrich der Große betont in jeiner Schrift de l’education (Veuv. t. XXIII),
daß es Sehr jchädlich wirfe, den jungen Dann zu zeitig zu emancipiren, Er will daber
den Sobn bis zum 26. Jahre in der väterlichen Vormundſchaft belaffen wiffen. Unſere
Zeit bat, wir meinen nicht mir Recht, die Entlaffung dev Mündel aus der Bormund:
ſchaft auf ein weit früberes Lebensjahr zurücdgelegt.
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zu wollen, vielmehr fich bemühen, jene Tränmereien in die rechte Bahn behufe
Erhebung zu intellectueller Klarbeit zu lenfen. Ne quid invita Minerva!
Damit wollen wir aber feineswegs einem Glauben an blinden Fatalismus
das Wort reden. Wo in der Pädagogik diefer herricht, da ift die Wirkung
des Erzieher beveutungslos und nur, wie fi der hedwerdiente Trendelenburg
in jeinen Borlejungen über Pädagogik und Divdactif fo treffend äußerte, der
Refultante in dem Parallelogramm ver Kräfte zu vergleichen. Alſo unter
möglichſter Berüdjichtiqung der imdividuellen Anlagen lenke man den Knaben
und Jüngling zur willigen Fügſamkeit in den vernünftigen Willen des Andern;
zeitig lerne er feinen Eonderwillen unter den des Allgemeinen, des Geſetzes
beugen. Der rechte Weg zur Erlernung der Kunſt des Befehlens, die ja
gerade die Gymnaſialjugend fi aneignen fol, führt — das wußte jchen
das Alterthum — nur durd die Aneignung der Kımft des Gehorchens.
Den jungen Mann zu befühinen, ſich als dienendes Glied dem großen Ganzen,
dem er durch Geburt angehört, anzuſchließen, das ſei Ziel der Erziehung.
Aber wenn auch der Eigenwille überall zu umterdrüden ift, jo doch gewiß
nicht der eigene Wille. Müſſen wir doch aerade Charaktere zu bilden ſuchen,
zumal in dieſer Zeit, Die an folchen, wie die landläufige Klage heißt, in dem:
jelben Grade vor andern Zeiten bittern Mangel leidet, wie fie dieſelben
gerade vor andern Zeiten braucht.
Unter den Mitteln mm, die Aufgabe der Erziehung zu löfen/ unter:
ſcheiden wir directe und indirecte. Unter den erfteren fteht obenan der Unter:
richt. Diefer muß jo gewiß feine ethiſche Seite haben, wie die Erziehung
unterrichten fein muß. Abgeſehen auch von der Forderung der Intelligenz;
und der Gewöhnung an ein confequentes Denken, welche beide den Willen
nothwendig beeinfluffen, bat auch die Disciplin und die Methode des Unter:
richt® fir den Schiller ungefähr diefelbe Bedeutung wie der fogenannte Drill
des Exercirplatzes für die militäriiche Ausbildung. Der Zwang zur Auf:
merfjamfeit und aeiftigen Thätigkeit verleiht in dem Make fittlihe Kraft, als
er nicht mehr blos äußerlich geübt wird. Und nicht die Puft am Yernen,
Wiffen umd Können als an folden darf allein aepfleat werden, viel mehr
noch die Freudigkeit des Bewußtſeins erfüllter Pflicht. Namentlich von dieſer
Seite gewinnt in meimen Augen das jogenannte Ertemporale eine pädagogiſche
Bedeutung. Ber deifen Anfertigung arbeitet der Jüngling mit volliter An:
ſpannung aller jeiner geiltigen Kräfte und bat nicht nur darzuthun, daß er
fi einen beftinunten Schatz von Kenntniffen erworben bat, ſondern vor Allem
daß er fein Pfund, eben dies fein Wiffen, mit Befonnenheit und Geiſtes
gegenwart anzuwenden und fo feine Sculdigfeit zu thun vermag. Er muß
das Gefühl haben, nur dann eim nützliches Glied des Schulförpers zu jein,
wenn er von feinem Willen an der rechten Stelle auch Gebrauch zu machen
versteht. Daher gilt es mir auch als eine umabweisliche Pflicht jedes Pehrers,
eben damit er diefe Gelegenheit, erzieblib auf den Schüler einzuwirfen, niet
verliere, daR er jeine Ertemporalien jelbit zuſammenſtelle, jo zwar, daß er
im höchſten Make die Concentration des geſammten aeiftigen Vermögens ae
fegentlich diefer Uebung bei feinen Zöglingen herbeiführe.*) Gedankenloſigkeit,
*) Diefe Rorbernna ift von jeher von den Gymnaſialpädagogikern aufgeteilt
worden, fo 3. B. von Nägelsbach. Bergl. Autenrietb, Carl Friedrih von Nägelsbach's
diefer Mehlthau auf dem friichen Geifte des Jünglings, wird durd Nichts jo
gepflegt, wie durch Uebungsjtüde, in denen entweder feine rechte Beziehung zu
dem zeitigen Glajjenpenfum Statt hat, oder überhaupt zu wenig Sraft und
Aufmerkjamfeit in Anfprucd genommen wird. Je älter der Knabe wird, deſto
höhere Anforderungen darf und muß das Ertemporale an ſein Leiſtungs—
vermögen jtellen.
Demnädft übt der Stoff des Unterrichts durch das Medium des Er:
kenntniß⸗ und Gefühlsvermögens unzweifelhaft Einfluß auf das Willens-
vermögen. In diefer Beziehung ift jeit Anfang diejes Jahrhunderts, bejonders
aber in den legten Jahren, immer dringender eine Neorganijation des höheren
Schulmwejens in Deutſchland von Männern begehrt worden, deren Patriotismus
ihren Vorſchlägen ein bejonderes Gewicht verleihen dürfte. Und es ift wahr:
haben wir unjere Kinder wirklih zur Bollfommenheit des deutſchen Wejens
zu erziehen, jo wird fid) das Gymnaſium einer Berückſichtigung dieſes Zieles
auch in der Wahl der Unterrichtsfücher und demgemäß einer theilweiſen
Aenderung feiner Anforderungen in wiſſenſchaftlicher Hinficht nicht wohl ent-
ziehen können. Denn die gelehrte Schule gönnt bis jegt dem deutjchen Geiſte
immer nod wenig Spielraum. Die alten Traditionen, melde ja freilic aus
einer großen Zeit ſtammen, erweijen ſich mächtiger als der heut ſich erhebende
Ruf nad nationaler Erziehung. Hat man vordem mit Unrecht dem Gymnaſium
den jchweren Borwurf gemacht, daß es durch jeine einjeitige und ftarre Be—
tonung des antifen Claſſicismus jene unjelige Zerrifjenheit der deutjchen Nation
in Gelehrte und Ungelehrte verſchuldet habe, — ich ſage mit Unrecht, denn
an melde andere Duelle hätte es wohl die wifjenspurftige Jugend Führen
jolen? — jo wird man doch heut zu Tage über den Claſſikern des Alter-
thums die nationalen nicht vernachläffigen dürfen. Ja mehr noh! Wenn
der Senat der Berliner Univerfität in feinem befannten Gutachten über die
Möglichkeit der Zulaffung der Realfchul- Abiturienten zu den Univerjitäts-
Studien dem Knaben eine ideale Richtung eingeflößt willen will, damit er
nicht jpäter „im materiellen Treiben“ untergehe, jo müſſen wir wiinjchen, daß
piefe Ideale in erfter Linie aus dem deutjchen Geifte gejchöpft werden. Das
Studium der deutjchen Geſchichte, Sprache und Yitteratur muß im weiteren
Grenzen betrieben, der deutſche Auffag der Gradmeſſer der Reife des Abiturienten,
ver lateiniſche Aufjag gänzlich abgejchafft werden. Die Sprade iſt der Menſch,
und unzweifelhaft jaugt der Knabe und der Jüngling durch den jelbjtindigen
Gebrauch der lateinifchen Sprache in den Aufjägen etwas von jenem römischen
Geiſt in fih auf, der dem deutſchen keineswegs homogen ift. „Zwei Dichter
haben mein Baterland im Piede einfach und groß charafterifirt: der eine be-
fang es als das Baterland der Treue, der andere als das Yand voll Yieb’
und Yeben. Hat jemals ein Volk, jeitvem die Menjchheit nad Bervolllommmung
ringt, durch edlere Erſcheinungen bervorgeleuchtet? Yiebe, Treue, Yeben —
das jind die drei wunderfräftigen, gewaltigen, unzerftörbaren Wurzeln des
urdeutſchen Niejenbaumes.“ * Dieſer Geift der Yiebe und Treue weht in
Gymnaſialpädagogik, Erlangen 1862, ©. 110 und fi. Aber die Bedeutung des Er-
temporale bat am treffendften der verftorbene Director von Ilefeld, Sceibel, in ben
Berbandlungen der Schlefiichen Directoren - Konferenz von 1867 daralkterifirt.
*) Kaffner, Die deutſche Nationalerziebung. Berlin 1873, ©. 171.
Radtke, Welher Antheil zc. 3
32
der lateinifchen Sprade und Pitteratur nicht. So mag denn das Herz dei
deutſchen Jünglings feine den Willen beeinfluffende Begeifterung aus ber
Pitteratur und Geſchichte jeines eigenen Volkes ſchöpfen. Gewiſſermaßen ein
Somplement dazu bilde das Studium der Alten, durch welches eine für die
Ausbildung eines vernimftigen Willens heilfame Klarheit der Gedanken und
befonnene Intelligenz gewonnen wird. Denn an eine Einfchränfung oder
gar Abſchaffung der altelaſſiſchen Studien kann Fein Berftändiger denken. Sit
doc; der geiftige Gehalt der beiden Eulturvölfer des Altertjums zu einem
Beitandtheil des modernen Germanenthums geworden.
„Das Leben aller Weltgeſchlechter ſchloſſen
In unſres wir; wir haben kühngemuth
Den fremden Geiſt in deutſch Gefäß gegofſſen,
Die fremde Form durchſtrömt mit deutſchem Blut.
Da ward, im Ringen tiefer nur genoffen,
Zum Eigentbum uns das entlehnte Gut,
Und keine Blume, die mit frobem Glanze
Der Menichbeit aufging, fehlt in unfrem Kranze.“ *)
Wollten wir die alten Spraden aus den Gymnaſien weifen, jo würden
wir bald ums felbjt verlieren, jo untrennbar ift ihre Kenntniß mit dem
beutjchen Weſen verknüpft. Bergeblid hätten dann die großen Pbilologen
unferes Bolkes, Fr. A. Wolf und das Diosfurenpaar, Böckh und G. Her:
mann, die Kenntniß des Alterthums uns ericloffen, vergeblih Schiller un
Goethe uns eine claſſiſche Pitteratur geichaffen.
In dritter Linie wirft auf den Menjchen auch ein jubjtantielles Element,
wie ed Hegel nennt, erziehlich ein. Es ift dies in der Ordnung begründet,
in der er lebt und nach der er feine geiftige Organiſation bequemt umd richtet,
inwiefern die Grundſätze mehr als Sitte an ihn fommen und allmählich eigene
Gewohnheiten werden. Im dieſer Hinficht it nun die Schule ein fittlicher
Zuftand. „Sie ift eine Sphäre, die ihren eigenen Stoff und Gegenſtand,
ihr eigenes Geſetz und Recht, ihre Strafen und Belohnungen bat, und zwar
eine Sphäre, die eine weſentliche Stufe in der Ausbildung des gungen fitt-
lihen Charakters ausmacht. Die Schule fteht nämlich zwiſchen der Familie
und der wirflien Welt und macht das verbindende Mittelgliev von jener in
diefe aus. Das Veben in der Familie ift ein perſönliches Verhältniß, ein
Verhältniß der Empfindung, der Yiebe, des natürlichen Ölaubens und Zu—
traueus, es ift nicht Das Band einer Sache, fondern das natürliche Band des
Blutes. Das Kind gilt bier darum, weil es das Kind ift; es erfährt ohme
Verdienſt die Yiebe jeiner Eltern, jowie e8 ihren Zorn, ohne ein Recht da—
gegen zu haben, zu ertragen hat. Im der Welt dagegen gilt der Menſch nur
das, was er leiftet, er hat ven Werth nur, infofern er ihn verdient. Die
Schule nun führt den Menfhen aus dem Naturverhältnif der Empfindung
und Neigung in das Element der Sache. Im der Familie herricht perfönlicer
Sehorfam und Liebe, in der Schule Pflicht und Geſetz. Der formellen Ord—
nung halber hat das Kind dies zu thun, Das Andre zu laffen, was fonft
wohl dem Einzelnen geftattet werden könnte. Nach Andern ſich richten, Zu:
*) Seibel, Deutſch und Fremd, in „Gedichte und Gebenkblätter”, 5. Auflage.
Stuttgart 1868.
—
trauen zu ſich gewinnen, kurz die ſocialen Tugenden erwachſen in ihren
Räumen.“ *) e
Schon der Geift der Schule muß den Zögling in den Schranfen ver
Beſcheidenheit und Sittfamfeit, der Ordnung und Pflichttreue, des Gehorjams
und der Fügſamkeit erhalten. Plato jagt fehr richtig, daß für alle Erziehung
gewilfermaßen die Grumdpfeiler die Beſcheidenheit und der Gehorſam jeien.
In diefer Beziehung wird darauf die Schule ihr Augenmerk zu richten haben,
die Unerwachjenen prinzipiell von der Theilnahme an denjenigen Genüfjen und
Vergnügungen Erwachjener fern zu halten, die am ſich unbedenklich auc der
Jugend zu geftatten Wären, die aber, weil im Verein mit Erwachſenen ge-
währt, ihr das umberechtigte Gefühl, viejen gleichzuftehen, mitzutheilen geeignet
find. Im Kreife der Familie find derartige VBeluftigungen unverwehrt, un:
ftatthaft aber, jobald fi mehrere Familien zu einer gewiſſermaßen öffentlichen
Feier zufammen vereinigen, wie dies beijpielömeije bei den Tanzluſtbarkeiten
geihieht. Die Zuziehung von Schilern, und gehörten fie auch der oberjten
Clafje an, zu Refiourcen » Ergöglichkeiten halte ih nad) den Erfahrungen, die
ih darüber gemacht, fiir durchaus ſchädlich. Wie will man bei derartigen
verfrühten Maßregeln noch boffen, die Jugend vor der Blafirtheit zu be-
wahren, welde heute allerdings in‘ Folge der durch die übel angebradte, un—
verantwortliche und geradezu grenzenlofe Nachgiebigkeit gewiffer Eltern und
jogar einzelner Yehrer verjchuldeten Anticipation der Bergnügungen Erwachſener
in erjchredendem Maße eingerifien ift und nicht nur die Unbefangenheit des
finplihen Herzens, den foftbarjten chat des Knaben, ſondern aud die Fähig—
keit der Begeifterung, der Weihe des Jünglings, zu ranben droht? Mit
Recht hielten die Römer die sera juvenum aetas für das eigentlihe Ziel
der Erziehung. Aber aud die alte gute Eitte in der deutjchen Familie ſchloß
den Sohn, jo lange er Schüler war, von Bällen und Schmanfereien, ja jogar
vom häuslichen Tifc aus, ſobald Säfte geladen waren. Was thut die moderne
Eitte dagegen? Als ob die Söhne und Töchter noch nicht gemug Unterhaltung
hätten, wenn. fie an ben Vergnügungen der Erwachſenen fich betheiligen,
arrangiren bier und da Familien „von gutem Ton“ noch befondere Kinder-
bälle. So werden Zierpuppen erzogen, jo wird die natürliche Unbefangenheit
und Wahrheit zeitig in den jugendlichen Herzen ertödtet, und an deren Stelle
der Schein und die Phraje groß gezogen. Man bevenfe doch ja, daß „Dies
die Jahre find, in denen, wie Schiller jagt, der Knabe ſich ſtolz vom Mädchen
reißt, d. h. nach der Ordnung der Natur die Geſchlechter Nichts von ein—
ander willen wollen“. „Diefe Orbnung der Natur zu rejpectiren, wäre
weife, jehr weile.“ **) Wer halb Knabe, halb Jüngling bereits feine Kinder—
*) Worte Hegel’s, feiner dritten Gymmafialvede entnommen, ,
**) Briefe Über Berliner Erziebung. Berlin 1872, ©. 72. Ueber die Formali—
täten bei der Einladung zu biefen Feften beiftt es ©. 73: „Man erwartet eine offi-
zielle Einladung von Seiten der Eltern, und zwar, wo ein folder vorhanden ift, durch
den galenirten Bedienten mit weißer Salsbinde, da eine Botſchaft durch das Dienft-
mädchen in ſolchem Falle ſchon als ein arger Formfebler von den Eitern und natür-
lich auch von den Kindern — Übel genommen würde; damit nicht genug: ift Die in
Ausficht ſtehende Geſellſchaft von der entiprechenden Größe, jo ift auch jene Form nicht
mebr brauchbar, man ſchickt durch den Bedienten die litbograpbirte Einladungsfarte!“
— „If die Einladung erfolgt, fo werben die Vorbereitungen mit ber entjprechenden
Wichtigkeit und Gründtichleit betrieben, denn in einem fo glänzenden Haufe können Die
3*
—
bälle mitgemacht hat, der iſt für den Zauber der deutſchen Minne verloren.
Ihr Eltern, bedenkt es wohl, daß ihr eure Kinder für das höchſte Glück
unempfänglich macht, welches das Herz eines deutſchen Jünglings oder einer
deutjhen Jungfrau erheben kann! Daß ihr die ſchönſten Jahre aus ihrem
Yeben ftreicht, in denen das ftille Sehnen der Liebe zum Lied begeiftert und
erröthend den Spuren der Geliebten zu folgen zwingt! Aud um den Geuuß
der herrlichiten Yitteraturfchäge und um die durch deren Lectüre vermittelte
jugendliche Begeifterung bringt ihr eure Lieben! Oper follte Siegfrieds und
Chrimhildens Liebe und Kudruns Treue verjtehen, der ſchon im Knabeuröd—
hen jeine Pflichttänze zu machen gewiejen wurde?
Noch ımzweifelhafter ift es mir, daß der Beſuch der Schanflofale, auch
in Begleitung Erwachſener, jchlechterding® zu verbieten ift. Nur, wo die Noth
zwingt, alfo 3. B auf Reifen, mag man Ausnahmen ftatniren. Wenn nänlid
Plato e8 dem Erzieher einfchärft, namentli zu verhüten, daß ein Mal ein
Jüngling einen Alten etwas thun jehe oder reden höre, was mit der Zittlid-
lichfeit und Schambaftigfeit collivirt, jo wird dieſe Vorſchrift gerade ein unbe
dDingtes Berbot des Beſuches der Neftaurationen nothwendig machen. Denn
daß am Biertiſch die reverentia pneris debita beachtet werden würde, wird
Niemand zu behaupten wagen. In Gegenwart feines Sohnes, jo wird berichtet,
ſprach der ältere Cato mit ſolcher Vorficht, als ob BVeftalinnen zugegen wären.
Und Ariftoteles warnt eindringlich davor, die Kinder zu lange den Sklaven
zu überlaffen, deren Einfluß leicht ein entjcheidender werden könnte. Im unjerem
Bolfsbemußtjein lebte einft ein ähnliches Zartgefühl, das den Verkehr ver
Kinder mit den Dienftboten mit Argwohn beobachtete. Heute überläßt die
Mutter ihren thenerften Schatz gern diejen Händen, um inzwijchen ihrem Ber-
gnügen nachzugehen oder jogenannten gefellichaftlichen Verpflichtungen zu genügen.
Doch wir ſprachen von demBeſuch ver Rejtaurationslofale! Alle übrigen Gründe,
die man für das Verbot defjelben anführt, nämlich daß die Jugend vor Zer-
ftreuumgen bewahrt werden müſſe, ferner, daß ſie nicht das Recht auf einen
durd Geld zu beſchaffenden Genuß babe, da jie joldes nod nicht verdiene,
gelten nur erjt im zweiter Reihe. Für mich ift emticheidend, daß die Be-
jheidenheit und Schambaftigfeit der Jugend in den Gafthäufern Gefahren
ausgeſetzt iſt.
Kinder aus einem fo glänzenden Haufe doch nicht anders als glänzend erſcheinen. St
ber, Tag des Feftes da, fo beginnen -einige Etunden vor der „befoblenen“ Zeit die
Toiletten: der Krifeur fommt und kräuſelt den Mädchen die Poden um ben platten
Schädel, brennt den Knaben das Saar und ziebt den Attachéſcheitel über den jüb
abſtürzenden Hinterkopf. Daß die Mädchen nicht ohne Blumen im Haar erſcheinen
dürfen, namentlich wenn ein Tanz in Ausficht ſteht oder geradezu zum Ball geladen iſt,
verſteht ſich von ſelbſt.“ — „Natürlich erſcheinen die Knaben ganz in Schwarz, die
Weſte tief ausgeſchnitten, das Jabot friſch getollt und mit den goldenen Knöpfchen ge
ziert (das faire jabot, ich verſpreche es Ihnen, wird nicht ausbleiben), darunter das
glatt geſpannte Hoſenbein und der zierliche Lackſtiefel.“ — „Halten Sie es für möglich,
pſychologiſch möglich, daß die Kinder, welche ſo zuſammenkommen, nun harmlos mit—
einander wie Kinder ſpielen? Iſt es nicht nothwendig, daß die Gedanken in der Rich—
tung, in welcher man ſie zwei Stunden zu Hauſe beſchäftigt hat, forttreiben und ſo,
zumal im Anfang, das Hauptgejchäft fein wird, fich gegenfeitig zu muftern u. |. m.“
Wabrlich, wer ein Herz für die Jugend und für das Vaterland bat, wird nothwendig
darauf geführt werden, daß bier ein vernünftigerer Wille die vom Pfade der Natur
abirrende Sitte gewaltfam zurechtweifen müſſe.
—
Mit ſicherem Tacte verboten die Griechen den jungen Leuten auch das
müßige Verweilen auf dem Markte. Die ſittlichen Zuſtände der heutigen
Zeit machen es durchaus nöthig, wenigſtens für die Abendſtunden das gleiche
Verbot zu erlaſſen. Was den Beſuch des Theaters anlangt, jo empfiehlt es
ji, der Jugend nur zu den großen Theatern den Zutritt zu gejtatten. Vor
wenigen Jahren hat der Kronprinz des deutſchen Neiches ein jehr beherzigens-
werthes Urtheil über die Berliner Lokalbühne aejproden. Auch die Boflen,
die in den Heinen und mittleren Provinzialftädten aufgeführt zu werden pflegen,
fündigen derartig gegen Moral und Gejhmad, daß fie eigentlich polizeilic)
verboten werden müßten. Wenn Väter und Mütter diefelben in Begleitung
ihrer Söhne und Töchter anjtandslos beſuchen und bis zum Schluß ohne
Erröthen ausharren können, jo ift damit ein neuer Beweis erbracht, daß der
Staat ohne Schaden für das Volksthum die Jugenderziehung nicht länger den
Eltern allein überlaffen darf. *)
Die Benugung der Leihbibliotheken jeitens der Zöglinge ift mit Rückſicht
auf die lascive Nomanlitteratur, die in denſelben hauptjächlich vertreten zu fein
pflegt, gänzlich zu unterjagen.
Der Beſcheidenheit und Züchtigfeit widerjpricht auch jedes renommiſtiſche
Auftreten in der Deffentlichkeit. Bier wird jedoch der perſönliche Einfluß
des Pehrers ohne directes Verbot wohl am weitejten wirkſam jein. Schüler:
verbintungen, die ihren Grund nicht in wiffenjchaftlihen Studien finden, jind
ftreng zu unterdrüden. Dagegen ift ein vernünftiger Corpsgeiſt innerhalb
der lafienverbände forgjam zu pflegen. Cine publiciftiiche Ihätigfeit darf
dem Schüler ſelbſt dann nicht gejtattet werden, wenn ſich Yehrer finden jollten,
welche die Redaction und Verantwortung für Scyitlerzeitichriften zu übernehmen
Willens wären. Ein derartiges Heraustreten in die Deffentlichfeit widerjpricht
allen gefunden pädagogiſchen Grundfügen.
Endlich kann es fid) noch fragen, ob die Einführung einer Tagesordnung
für die ganze Schule oder für die Schüler einzelner Claſſen wünſchenswerth
erjcheine. Dies verneine ich, jelbft für die unteren Claffen, und zwar erftens,
weil die Schule nicht ohne zwingende Noth das häusliche Yeben zum Gegen—
ſtand reglementarischer Beſtimmungen machen joll, ſodann weil wir — uud
das ift die Hauptſache — einen freien Gehorjam und eine Erziehung zu
jelbftändiger Arbeit anzuftreben haben. Cine derartige Anordnung dirfte nur
ausnahmsweife in den unteren Glaffen auf Zeit, über Schüler der oberen
Claſſen aber nur in ganz befonders qualificirten Fällen als Strafe bei fort:
geſetzter pflichtvernachläſſigung verhängt werden, und zwar ebenfalls nur auf
eine kürzere Friſt, um immer wieder die Möglichfeit zu freier Thätigkeit zu
eröffnen.
Eine unmittelbare Einwirkung auf die Sittenzucht haben die moralifche
Belehrung und die Ahndung der Uebertretungen, von denen nun die Rede
fein wird,
„Man könnte die erfteren für überflüffig halten, weil bei ſolchem Neben
und Wiffen häufig alle übeln Yeivenfchaften, Heine Empfindungen und vor-
*) „Ferner fol das Gejet jüngere Yeute weber bei Spottipielen noch bei Komödien
als Zuſchauer zulaſſen, bevor fie das Alter erreicht haben, in welchem ihnen geitattet
ift, bei dem gemeinjchaftlihen Mahl ibren ordentlichen Blat einzunebmen und unge—
mifchten Wein mitzutrinten.“ Aristol, Polit. VII, 15.
r 36
nehmlich moralifcher Eigendinfel Plat greifen können. Es bleibt aber dennoch
nicht weniger wichtta, nicht lediglich auf die natürliche Entwidelung des Guten
aus dem Herzen und auf die Angewöhnung durch das Beifpiel ohne Reflexion
fi) zu verlaffen, jondern das Bewußtſein mit den fittlihen Beſtimmungen
befannt zu machen, die moraliichen Meflerionen in ihm zu befeftigen und es
zum Nachdenken darin anzuleiten. Denn an diefen Begriffen haben wir bie
Gründe und Gefichtspunfte, aus denen wir und und Anderen Recenjcaft
über unjere Handlungen geben, die Richtungslinien, die uns durch die Manni:
faltigfeit der Erſcheinung und das unfihere Spiel der Empfindungen hindurch
leiten. Es ift der Borzug des Selbſtbewußtſeins, daß es ftatt der Feſtigkeit
des thierifchen Inſtinets einerſeits willkürlich iſt und andrerjeits dieſer Willfür
aus ſich ſelbſt durch den Willen Schranken fett. Das Feſte und Pindende
gegen das Unftäte und die Widerfprüce jener Seite find die fittlichen und
dann noch mehr die religiösen Beltimmungen.“ *)
Deshalb fcheint es mir höchſt nothwendig, daR der Ordinarius auch ftets
der Neligionslehrer feiner Claſſe it. Wenn aud oft der Fall eintreten mag,
daß der Ordinarius die Religionsfacultas entweder gar nicht oder doch nicht
für feine Clajfe hat, jo wird doch meines Dafürbaltens in feinem Face je
(eiht von der Unterrichtsberechtigung, die doch nur auf Grund einer beftimmten
Summe von Kenntniffen erworben tft, abzufehen jein, wie gerade in ver
Religionswiſſenſchaft. Mir will es ſogar fcheinen, als ob es mit dieſer Die:
ciplin nicht jo fchleht auf dem Gymnaſium beitellt fein würde, wenn der
Lehrer auf Einzelheiten der Dogmatif weniger einzugeben in der Lage iſt.“
Daß im Allfemeinen gerade Der Ordinarius diejen Unterricht mit dem aröften
Segen für das Herz und die Kräftinung des vernünftigen Willens feiner
Zöglinge geben wird, iſt mir unzweifelhaft.
Der Altmeifter der Pädagogik, Onintilian, aiebt bekanntlich die höch
beherzigenswertbe Mahnung***), man möge die Zönlinge durch treue Be:
aufſichtigung anleiten, zu thun, was vecht tft, damit man nicht hinterher gezwungen
werde, diefelben zu ftrafen, wenn fie Unrecht thäten. Daß das Ziel des
Vehrers in der Ihat darauf gerichtet jein muß, durch feine geſammte Wirk:
jamfeit die Strafen unnöthig zu machen, iſt unzweifelhaft. Aber jelbjt ver
beite Lehrer und felbit die beite Schule vermag ganz ohne Strafen wicht durch—
zufommen. Und wenn ich jchon geneigt bin, aus dem Umftante, daß ein Pehrer
häufig zu Strafen jchreiten muß, mir ein ungünftiges Urtheil über feine päda—
*) Aus Hegels dritter Gymnaſialrede.
**) Mio weit fih der Lehrer bei folchen dogmatiſchen Klaubereien von den wirklich
nutzbringenden Betrachtungen verlieren kann, dafür ein Beiſpiel. Hollenberg, Hülfsbuch
für den evangel. Religionsunterricht in Gymnaften, Berlin bei Wiegand und Grieben,
gibt zu 8 DI einen Ercurs über die Engel, indem es von ihnen unter Anderem wört—
lich beifit: „eine geſchlechtliche Fortpflanzung findet nicht Statt." Gerade diefe Materie
muß wohl einen befonderen Reiz zu weiteren Specenlationen bieten. So ift mir zu—
fällig befannt, daß ein anderer Religionslehrer die Arten der Engel feine Schüler
lorafültig unterfcheiden lebrt.
***) Quintil. inst. orat. 1. 3, 14. Caedi vero discipulos — — minime velim.
Primum quia = — — postremo quod ne opus erit quidem hac castigatione,
si assiduns studiorum exactor astiterit. Nune fere neglegentia paedagogorum
sic emendari videtur, ut pueri non facere, quae recta sunt, cogantur, sed, cum
non fecerint, puniantur.
gogiſche Gejchidlichkett und feine Treue im Amt zu bilden, jo erregt in mir
doch die Prablerei jtrebjamer Collegen, daß fie ganz der jtrafenden Einwirfung
zu entrathen vermöcdten, nod größere Bedenken über deren erziehliche
Wirkſamkeit.
Die Strafe charakteriſirt ſich als ein gewaltſamer Eingriff in die mora—
liſche Entwickeluug des Zöglings.) Ihre Anwendung beruht auf dem Satz,
daß Vitia fugere est virtus et sapientia prima. Aus der Luſt über die
Beſiegung des Fehlers entipringt dann die höhere Yuft zur Tugend.
Die Schuljtrafen werden nicht ſowohl auf die Abjchredungstheorie als
vielmehr auf die Beſſerungs- und Sühntheorie zurüdzuführen fein. Der
Lehrer muß dur die Strafe beffern wollen, ver Schiiler in ihr eine Sühne
für jeine Verſchuldung um der verlegten Gerechtigkeit willen erbliden. Aus
dem erjten Satz folgt, daß die Strafen, die auf einer Neizung des Ehrgefühls
beruben, mit großer Borficht angewendet werden müſſen. Man bat zwar ge-
meint, dag man Die niedere Neigung zunächſt nur durch Erregung einer relativ
höheren Neigung vertreiben müſſe, um jo allmählich den Zögling der fittlihen
Vollkommenheit, joweit überhaupt dem Menſchen möglich, näher zu führen.
Die Trägheit z. B. iſt Neigung ver vegetabiliihen Welt, und fo folle man
dieſe durch Erregung der Nafchhaftigfeit, der Neigung der thieriihen Natur,
bezwingen, dieſe demnächſt durch Erregung des Ehrgeizes u. j. w. Allein
dagegen macht mit Recht der verjtorbene Trendelenburg die Anficht geltend,
daß wo das Böje gedämpft werben folle, es nur durch das Gute gejchehen
fönne. Der beherrjchende Wille muß von vornherein in eine vernünftige
Richtung geleitet werden. Aus dem zweiten Saß, daß der Schüler in ver
Strafe gewifjermaßen eine Reaction des von ihm verlegten Rechts erkennen
jo, ergiebt ſich, daß Strafen in der Regel nicht erlaffen werden dürfen. Es
würde in dieſem Falle die jtrafende Ihätigfeit in die Gefahr gebracht, in den
Augen des Zöglings als willkürlich zu ericheinen und damit die Wirkung
aufgehoben werden, welche gerade in der Objectivität derjelben liegt.
Eine dritte Regel jet, daß der Erzieher beim Strafen fortiter in re,
suaviter in modo verfahre. Daß nur die Milde anf dem Grunde einer
vernünftigen Strenge Eindruck macht, ift eine alte pädagogiſche Erfahrung.
In dieſer Beziehung ift zu verfchiedenen Zeiten in verſchiedener Weiſe ſchwer
gefehlt worden. Bald paarte ji die Strenge mit Grauſamkeit und Roheit,
Bitterkeit und höhniſcher Freude über den Schmerz des Gezüchtigten, bald die
Milde mit Schwächlichfeit und mit einem ſchimpflichen Buhlen um die Gunft
der Schüler.
Wie die Strafen für öffentliche Vergehen und Verbrechen mit dem Fort—
jchritt der menſchlichen Entwidelung gelinder werden, jo zwar, daß die Arten
der Strafen ein getreuer Gradmeſſer für die Cultur des gejammten Volkes
jind, jo ähnlich auch im Schulleben. Gegen die Prügeliucht eines Chryfippus
und der Orbilier legte Quintilian Verwahrung ein, gegen die wahrhaft grau—
jamen Strafen der Scholaftifer, welde in viefen Studien von Yuft „Zur
Pädagogik des Mittelalters” Abjchnitt V des Weiteren behandelt find, Eras—
*) Worte Trendelenburg’s in feinen Borlefungen über Pädagogil und Didactif.
Aus dem Eolleg diejes hochverehrten Meifters — auch ich durfte einst zu jeinen Füßen
fiten — ſtammt mebr als ein Gedanke, den ich hier vorgetragen babe.
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mus. Bor ihm hatte ſchon Walther von der Vogelweide gefungen: „mieman
fan mit gerten kinderzuht beherten: den man z’&ren bringen mac, dem tt
ein wort als ein flac.“ Auch Luther mahnte befanntlih von Grauſamkeit in
ver Wahl der Erziehungsmittel ab, er verwarf Strafen, die eine ſervile Ge:
finnung in den Beitraften erzeugen möchten, und wenn er auch ausprüdlicd
vie Prigelitrafe als nothwendig bezeichnet, jo ſchärft er es doch den Rectoren
eindringlich ein, die Kinder „höviſch“ zu behandeln. Trotzendorf danegen,
deſſen Schuldisciplin etwas von dem römiſchen Geiſte in ſich trug, ftrafte oft
jehr hart in der Art der Kloſterſchulen, nur daß er fein Anjehn der Perſon
gelten ließ und daher Gelpftrafen ausſchloß, weil durch dieſe die Eltern und '
nicht die Kinder betroffen würden. **) Auch daß man fi in feiner Schule
durch eine mohlgejette Iateinische Nede von der Strafe gänzlich frei machen
fonnte, ift eine Erbicdaft, die der font fo eifrige Lutheraner ans der Kloſter—
disciplin angetreten hatte. In den evangeliihen Schulorbnungen des 16. Yabr-
hunderts jpielt die Ruthe eine große Rolle. Prügelftrafe tritt ein für Wider:
feglichfeiten, Roheiten, aber aud für Trägbeit und fogar für Ummiffenbeit.
Ganz beſonderes Jutereſſe bietet die Nordhäuſer Schulordnung vom Jahre
1583 ***) nicht bloß wegen der entſetzlichen Roheiten der Schüler, die im ver:
jelben mit Strafen bedroht werden, jondern nody mehr wegen der brutalen
Weife, in welcher die dortigen Lehrer zu trafen Anweifung erbalten. Wo
von den Uebungen im Disputiren und Declamiren in Prima und Secunda
die Rede ift, heißt es wörtlih alfo: „Der Lehrer foll Dem, welder etwas
Falſches fagt, einen Schmit mit der Ruthe auf die Hand geben.“ Ferner:
„Ein jeder Lehrer joll Diejenigen, welche ihre Yection nidyt können, alsbald
ftäupen. Bet der Gorrectur der Arbeiten werden die fehler gezäblt, auf drei
gehört ein Schilling (d. i. Obrfeige), auf vier zwei.“ Geradezu deprawirend
mußte aber das im dieſer Schulordnung befohlene Spionierſyſtem wirken.
Und nad all dieſen wahrbaft rigorofen Beſtimmungen werden jchlieklic die
Lehrer doch noch ermahnt, ja nicht tyranniich (1) zum handeln, Die Knaben
nicht bis aufs Blut zu ftäupen, mit Füßen zu treten, bei ven Ohren und
Haaren aufzuheben oder mit dem Stod ins Geficht zu fchlagen: Strafarten,
die damals doch vorgefommen fein müſſen, da die Schulordnung es für nöthig
findet, fie namentlid zu verbieten. Die Strafen der Schulen im 17. Jahr—
hundert entſprechen noch weniger dem Ideal des Erasmus, daR die pmeri
liberaliter educandi jeien. Die Scala derſelben ift: Geld-, Ruthen-, Prügel—-,
Garcerftrafe und Relegation. Gelpftrafe trat flir grammatifalifche Fehler ſowie
für unentjchuldigtes Ausbleiben aus der Schule und für verjpätete Ablieferung
der jchriftlichen Arbeiten ein. Auf Rebellion ftand Prügelſtrafe, die, zu ihrer
Sharafterifirung ſei es gefagt, unter Zuziehung „Fräftiger Männer aus dem
Volke“ zur Erecntion gelangte. +) Auch die Iefuitenichulen, welche ihr Er:
ziehungsſyſtem befanntlid) auf die unlautern Triebe und Negungen der Menjhen,
auf Ehrgeiz, Eelbjtjucht und Eigendünkel, gründeten und daher über die Zög—
*) Bergl. Durand de Laur, Erasme, III, p. 6. Paris 1872.
**) Sonft büßten Freie in Geld, was Unfreie mit ihrer Haut bezabiten.
“r, Abgedruckt bei Bormbaum, ev. Schulordnungen, 1.
7) Siebe die Schulordnung von Herford, mitgetbeilt von Hölfcher im Programm
des Gymnaſiums daſelbſt 1874. ©, 13.
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(inge mit großer Zicherheit herrichten, Fonnten doch der Prügelftrafe nicht
entbehren. Aber durch die Art ihrer Ausführung nahmen fie ihr den letsten
Reſt fittliher Einwirfung. Nicht der viejelbe verhängende Lehrer, ſondern
ein zu diefem Behuf bejonders angejtellter Profos vollzog fie. Da ift es
denn Ratichius, von dem binfichtlic einer liberaleren Behandlung der Schüler
die neuere Pädagogik ihren Anfang nimmt Er verlangt, daß der Lehrer
alle Grauſamkeit im der Beitrafung auf das Aengitlichite vermeive. Weiter
und zwar zu weit geht Yode, der fid überhaupt gegen die Anwendung ber
Ruthe erklärt und jhon die Kinder wie verftindige Männer behandelt wiſſen
will. Aehnlich, freilich von einem ganz andern Standpunkt aus, weiſt Aug.
Herm. Fraucke die Prügelftrafe ab, wenigitens joll fie um geringer Dinge
nicht angewendet werden. Mit chriftlicher Gelindigkeit und janftmüthtaer
Zuſprache gedenkt er viel mehr auszurichten als mit Strafen. Ebenſo fah
das Philanthropin von der Ruthe ab und führte nur folgende Strafen ein:
1) Verminderung der Meritenpunfte, 2) Berwandlung einer Studienftunde
in eine Handarbeitsftunde, 3) Einſchließung in ein einfames, Fahles Zimmer,
während die Genoſſen, dem Beftraften wahrnehmbar, in einem Nachbarzimmer
geiftigen Arbeiten oblagen.
Unter dem Einfluß diefer Anftalt, der gar nicht unterſchätzt werden darf,
hat fi im Schulregiment, wenn aud im Ganzen weniger unter ben praf:
tiſchen Lehrern, eine bisweilen ins Kranfhafte überjpielenvde humane Richtung
ausgebilvet, die auch im unſern Tagen gegen jeden Gebraud der Ruthe im
der Schulſtube anfimpft. Cine bejondere Stärkung erführt fie einerfeits durd)
die noch immer im lebhafter Erinnerung ftehenven Yorinfer’ihen Klagen, dann
aber noch mehr dur den Zeitgeift. Dieſer zeigt faſt auf allen Gebieten der
Staatsverwaltung eine Franfhafte Schwachherzigkeit und eine überaus milde
Beurtheilung von Bergehungen. Schon ift der Schaden diefer weichmüthigen
Beftrebungen für das Volfsthum deutlich genug kenntlich geworden. Ich erinnere
nur an die Erfahrungen, die unjere Zeit mit dem neuen Strafgeſetzbuch, mit
der jo rücdfichtsvollen Behandlung der Etrafgefangenen, mit dev milden Auf-
faflung des jogenannten Nctienichwindels, mit der Aufhebung der Zünfte u. ſ. w..
gemacht hat. Ein gewiſſer Doctrinarismus macht fich breit, der, weil er auf
die wahren Bedürfniſſe des Volks, wie ich meine, zu wenig Nüdficht nimmt,
nothwendig ſchädlich wirkt. So ftreifen denn wirklich Regterunasverordnungen
an die Grenze des Möglichen, wenn fie die fürperliche Züchrigung ganz aus
der Schule, ſogar aus der Dorfihule, entfernt willen wollen. In den höheren
Vehranftalten, vie ſich der nichtsnutzigen Knaben im äußerſten Fall durd
Relegation entledigen fünnen, mag die Prügelftrafe noch entbehrt werben
fünnen, nicht aber in der Bolfsjchule, we eine ultima ratio für unbändige
Koheiten eine Nothwendigkeit ift.
Eine Disciplinar - Ordnung für die preufifhen Schulen fehlt nod).
Das in Ausfiht ftehende Unterrichtsgeleg wird hoffentlich auch auf diefem
Gebiet regelnd eintreten und der Willfür der einzelnen Lehrer und Schul:
Infpectoren durch Aufftellung allgemeiner Normen über die Schulzucht Grenzen
jegen. Jedoch da die Strafen gemäß ihrer eigenthümlichen Natur ihre wahre
Bedeutung erft durch den fie vollziehenden Lehrer erhalten und, wenn "fie
von Erfolg jein jollen, mit Rückſicht auf die individuellen Eigenjchafen des
Zöglings in jedem einzelnen Falle gewählt werden müſſen, jo wird man ſich
40
gerade hier zu hüten haben, durch Ertheilung zu ſpecieller Borjchriften vie
Wirkſamkeit des Strafmittels von vornherein aufzuheben. Der Perſönlichkeit
und dem Gewiſſen des Yehrers und des Pehrer » Collegiums muß ein gewiſſer
Spielraum gelaffen werden. Aber die allgemeinen Grundfäte wird Das Geſetz
allerdings aufftellen müffen. Diefe wären wohl folgende.
Zunächſt verftebt fi von ſelbſt, daß jede Strafe von Grauſamkeit frei
bleiben muß, und ihre Verbüßung in feiner Weije Gefahren für die geiftige
oder körperliche Gejunpheit des Schillers herbeiführen dürfe. Hinſichtlich des
Strafmaßes gelte der Grundſatz weiſer Sparſamkeit, hinfichtlih der Methode,
daß die Strafe der Natur des Vergehens nah Möglichkeit anzupaffen jet.
Die. Strafarten alle anzuführen, it unmöglich, da die Individualität des
Lehrers dieſe jehr verſchieden gejtalten, ihmen jehr verjchievenen Werth geben
kann. Schon mit dem ftrafenden Blick wird ein guter Yehrer feine Strafen-
Stala beginnen. Wir reden im Folgenden nur noch von den fünf allgemein
in den höheren Schulen recipirten Strafmitteln.
1) Die Strafarbeiten. Bon den meiften Pädagogen unjerer Tage
werden biejelben beanftandet. Dieſen ſchwebt dabei wohl jener tm früherer
Zeit weit verbreitete Mißbrauch derjelben vor, der darin beſtand, möglichſt
geiftloje und langweilige, dazu auch recht zeitraubende Penfen zur Strafe für
jedes beliebige Vergehen, namentlid auch für Ungezogenheiten, aufzugeben.
Aber abusus non tollit usum. Die Strafarbeiten find meines Erachtens
da am Plage, wo ein Schüler fi eine Saumjeligfeit oder Nachläſſigkeit in
der Erfüllung feiner Pflichten hat zu Schulden fommen lafjen. Die Theorie,
für jedes Bergehen eine adäquate Strafe feftzufegen, rechtfertigt ihre An-
wendung in dem angegebenen alle ſicherlich. Aud wohl Für unentſchuld—
bares Zuſpätkommen mag dieje Strafe ertheilt werden. Andere wollen die
Sache gelten lafjen, nehmen aber au dem Namen Anſtoß, weil es unpaſſend
fei, irgend eine Arbeit, die doch dem Schüler ftets eine Quelle der Luft fein
jolle, als Strafe zu bezeichnen. Wie man inveffen auch eine ſolche Yeijtung
nennen mag, die durd den Unfleiß des Schlilers nöthig geworden, fie wirt,
wie Director Kramer in der Directoren = Berfanmlung zu Magdeburg richtig
bemerfte,*) immer als eine Strafe empfunden werden, und indem der Schüler
dur fie genöthigt wird, feine Pflicht voll zu erfüllen, trägt fie auch in ber
That den Charafter einer jolden. Die Strafarbeit ift nichts Anderes als
die mildefte Form der SFreiheitsentziehung, wie Bormanıı **) in derjelben
Berfammlung ſagte. Und da bei jeder Freiheitsentziehung gleichzeitig fir
eine Beihäftigung des Schillers in diefer Zeit nothwendig zu forgen ill,
diefe Beihäftinung doch aber nicht wohl anderer als geiltiger Art fein Fanı,
jo würde mit der Ctrafarbeit als folder auch jeve andere Freiheitsitrafe
fallen müſſen. So wird man denn wohl in verfelben das gelindefte Mittel
erbliden dürfen, ven nachläſſigen Schüler zur Pünktlichkeit und zu ftrengerer
Pflichterfüllung zu zwingen. Cautelen allerdings macht diefe Strafart nötbig.
Nämlich erftens ift von ihr alles Mechaniſche und Geiſttödtende fernzubalten,
*) Berbandlungen der erften Berfammfung der Directoren der Prov. Sachſen zu
Magdeburg, Halle, Waifenbaus 1874. ©. 87.
**) Ebenda ©. 104.
41
und ein mehrmaliges Abfchreiben deſſelben Penjums durchaus unftatthaft.
Zweitens ijt bei’ der Auswahl des Penfums darauf zu achten, daß feine
Materie verwendet werde, die dem Schüler ein Gegenftand ehrerbietiger Scheu
oder achtungsvoller Yiebe bleiben ſoll. Drittens darf die Strafarbeit unter
feinen Umſtänden jo groß bemefjen werden, daß dem Schüler die Möglichkeit
genommen wird, die laufenden täglichen Arbeiten mit der gehörigen Sorg—
falt anzufertigen. Endlich überjehe man nicht, daR, wenn jchon die übrigen
Strafen ſich durch zu häufigen Gebrauch abnugen, dies ganz bejonders von
der Strafarbeit gilt.
2) Die Strafe des Nahjigens wird zumädit angewendet werden,
um den Schüler, wenn er eine Arbeit verjäumt oder in nicht zufriedenftellen-
der Weiſe gemacht hat, zum nachträglichen, beziehungsweife zum jorgfültigeren
Anfertigen derjelben anzuhalten. In den leichteren Fällen dieſer Art, z. B.
bei mangelhafter Präparation auf den Schriftiteller, ungenügender Nachüber—
jegung u. |. m. wird es wohl genügen, dem Schüler die Arbeit noch ein
Mal aufzutragen und ihm eine Zeit außerhalb ver Schuljtunden feitzujegen,
da er fih dem Lehrer gegenüber in deſſen Behauſung darüber auszuweiſen
bat, wie er jeine Aufgabe nachgeholt habe.
Die Strafe des Nachſitzens tritt zweitens paffend für leichtſinnige Ueber-
tretungen ber Schulgejege ein. Denn da die Öejegesverlegung einen Miß—
braudy der Freiheit imwolvirt, jo iſt als Gegenmittel eine Freiheitsentziehung
angezeigt. Ueber den Modus der Abbüßung dieſer Strafe dürften noch
folgende Bemerkungen am Plage jein. 1) Ohne Aufſicht eines Vehrers darf
dieje Strafe niemals verbüßt werden. Cs it ja befannt, zu welden ſchmutzigen
Jugendſünden, in einzelnen Fällen auc zu wie verzweifelten Entjchlitiien die
Einjamfeit Schiller während des Nachſitzens jchon veranlaft hat. Da nun
dem vielbeichäftigten Yehrer nicht zugemuthet werden darf, behufs ver Inipection
eines Arreftanten fich noch über die Schulzeit hinaus in der Claſſe aufzubalten,
jo erſcheint es gerechtfertigt, da Das Nachſitzen in der Wohnung des Lehrers
erfolgt. Dabei ift aber jedenfalls Vorjorge zu treffen, daß hierbei das Ehr—
gefühl des Schülers nicht dadurch Schaden nehme, daß er als Delingquent
den Mitgliedern der Familie des Yehrers begegnet. Wenn man gegen diejen
Modus des Arrefts eingewendet hat, daß dem Schüler durch venjelben leicht
das Gefühl abhanden kommen werde, daß es für ihn eine Auszeichnung ift,
wenn er mit dem Vehrer außerhalb der Schule, namentlich aber in deſſen
Haufe, zufammenfommen dürfe, jo liegt e8 dod wohl auf der Hand, daß der
Schiller eine Einladung in das Haus des Yehrers immer noch jehr gut von
einer Beitellung dahin behufs Erduldung einer Strafe zu unterjcheiden willen
wird. 2) Ein gleichzeitiges Nachſitzen mehrerer Schüler it möglichſt zu ‚ver-
meiden. Jedenfalls dürfen nicht Schüler aus mehreren Claſſen, wie dies an
einigen Anjtalten allerdings üblich geworden it, unter der Aufjicht eines dazu
bejonders beftimmten Lehrers dieje Strafe verbüßen. Denn das Gefühl der
Gemeinſchaft vermindert ohne Zweifel erheblih den Eindrud der Strafe und
ſtumpft zugleich das Chrgefühl ab. 3) Eine entſprechende Arbeit ift den
nahfigenden Schülern ftets aufzugeben und zu vermeiden, daß fie im biejer
Zeit einem gefährlichen Hinbrüten anheimfallen. 4) Diefe Strafe muß nad)
oben hin immer jeltener, aljo in Secunda nur in ganz bejonderen Fällen,
in Prima aber gar nicht mehr verhängt werden birfen.
42
3) Die förperlide Zühtiaung Wie fih zu dieſer Strafe der
moderne Zeitgeiſt ftellt, ift oben bemerkt worden. Allein jo gewiß der mittel:
hochdeutſche Dichter Necht hat: Niemand kann mit Gerten Kindes Zucht be-
bärten, jo gewiß tt es auch, daß allein durd) das Wort noch nie ein Menſchen—
find gut erzogen worden ift, es auch nicht werden wird, jo lange die menſch—
lihe Natur diejelbe bleibt.
Man könnt” erzogene Kinder aebären,
Wenn die Eltern erzogen wären.
Menn freilid die Schulordnungen proteftantiicher Gymnaſien vordem die
Prügelſtrafe noh bei Unfleiß und Unwiſſenheit jogar bis im die oberften
Claſſen in Anwendung bracdıten, jo werden wir fie nur für Roheit und
grobe Wiverfetlichfeit, und auc nur in den beiden unteren Claſſen, in Anſpruch
nehmen. Der Stof in der Hand des unterrichtenven Vehrers iſt jchon in
Serta höchſt verwerflih und mur ein testimonium paupertatis für den
Docenten. Auch kann es nicht gebilliat werden, wenn beim Unterricht Fleine
körperliche Züctiaungen mit der Hand fir mangelhafte Antworten, beimiejene
Unaufmerkſamkeit und Bernachläfftaung im der Körperhaltung angewendet
werben. Gin derartiges Berfahren verdirbt den Geift der Claſſe und ſtumpft
auf Jahre bin das Gefühl der Kinder ab. Mas Wieje in feinen Briefen
iiber engliſche Erziebung binfichtlih ver Anwendung der Priügelftrafe bis in
die oberjten Claſſen der Schule zu Eton erzählt," darf uns in feinem falle
zu der Meinung verleiten, als brauchten auch wir nicht jo ängſtlich Die förper:
liche Züchtigung auf die unterften Claſſen einzufchränten. Denn in England
ift jene Strafe eben Sitte, und Schleiermacher macht mit Recht Darauf auf
merffam, daß für die Arten dev Strafe arade die Sitte von entjcheidender
Bedeutung fein müſſe. Einem Erzieber, der bei ums noch in ven oberen
Claſſen durch Schläge für das Gute zu gewinnen fuchen wollte, müßten wir
zurufen: Men das Wort nicht züchtiat, den ſchlägt auch ter Stod nice.
Schließlich ift noch die Beſtimmung jelbitverftändfich, daf die Strafe der förper:
lichen Züchtigung wicht von dem Sculdiener, ſondern allein von dem Pebrer
zur Ausführung zu bringen it.
4) Auch gegen die Carceritrafe wird neuerdings, namentlich in ben
Kreifen der Lehrer, Mancherlei, das der Beachtung werth it, geltend gemacht.
Das jchwerwiegendfte Moment gegen dieſes Strafmittel jcheinen Die anzufübren,
welche vemfelben ven Charakter einer Gefängnißhaft zuſprechen, Die für Zög—
(inge nicht angemeſſen fein könne. Democh meine ih, daß fie fir Schüler
der oberen Claſſen thatſächlich nicht entbehrt werden könne. Jenes Bedenken
Ihwindet, wenn wir beriüdjichtigen, daR ja die Schüler der oberen Claſſen
in der That ſchon im einer gewiſſen Periode Des Ueberganges in das öffent:
fie Yeben stehen. Der Charakter der Schulftrafe muß aber dadurch feſt—
gehalten werden, daR die Dauer derjelben zwei Stunden nicht überſteigen darf.
‚
*) Wiefe, Briefe über engl. Erziebung ©. 33. „An Eton find ſelbſt Die Zöglinge
der oberjten Claſſen noch wicht davon erimirt, mit Schlägen beftraft zu werden. Der
Widerſpruch zwiſchen dem Ertragen diefer Bebandlung und dem reizbaren Selbitgefübl
des jungen Engländers bat darin feine Löſung: die aenannte Strafe ift eine altber
fümmliche und geſetzliche; mur der hend-master in feinem vollen Amiskleide vollzieht
fie und fie bat in der allgemeinen Meinung nichts Beſchimpfendes.“
=
Nur als ultima ratio gegenüber ſchwereren Verletungen ver Schulgeſetze komme
fie in Anwendung. Nicht in einem verfchloffenen Claſſenzimmer werde fie
verbüßt, jondern in einen bejonders zu dieſem Zweck beſtimmten hellen und
gefunden Raume, der zwar jeder Ausſchmückung entbehrt, aber mit Tifch nnd
Stuhl verjehen it. Der Ordinarius bat dem Schüler eine Aufgabe zur Aus-
arbeitung zu ftellen, denſelben bei der Arbeit im Garcer zu controliren und
ihn nad Ablauf der beſtimmten Frift zu entlaffen. Bei diejer wie überhaupt
bei allen Strafen wird diefer Lehrer es nicht unterlaffen, nachdem fie verbüßt
it, im geeigneter Weife dur eindringliche Zufprache den beijernden Eindruck
derjelben zu erhöhen.
5) Das consilium abeundi ſchließt ſich erforderlicheufalls an die
Garcerftrafe an, wenn die Wiederholung des Bergehens einen bevenflihen Ein-
flug auf die Mitſchüler befürchten läßt. Ungehörig dürfte es fein, ein ſolches
consilium von dem Betroffenen noch unterjchreiben zu laſſen; es erimert
diefe Form an ftudentifche Sitten ımd harmonirt durchaus wicht mit dem Ge—
wohnheiten der väterlichen Zucht, welde die Schule ſtets nach Möglichkeit
nachzuahmen bat. Dagegen find die Eltern ftets von der Mafregel durd
den Ordinarius in Kenntniß zu feßen.
Die Entfernung von der Anftalt ift im Grunde feine Strafe mehr.
Sie tritt ein, wo die Schule nad gewiſſenhafter Anwendung aller ihr zu
Gebote ftehenden Befjerungsverfuhe ihre Aufgabe als unlösbar erfennt, ſodann
wo feitens eines Schülers ein verderblider Einfluß auf die Mitjchitler zu
Tage tritt, endlich wo ein Schiller ſich durch eine unmoraliſche Handlungs—
weife in den Augen feiner Kameraden jo vergangen bat, daß zu erwarten
fteht, Diejelben würden ihn ihres Umganges ferner nicht würdigen. Im dieſen
Fällen ijt es beffer, daß ein Einzelner leide, als daß Viele an dieſem Einzelnen
ein Aergernig nehmen. Man erweift ja wahrlich nicht ein Mal dem Schiiler
jelbft, der die Eittengefege in einer ihn entehrenden Weiſe übertreten hat,
einen wahrhaften Gefallen, wenn man ihn noch länger auf der Anjtalt läßt.
Denn ift der Geift der Anftalt ein guter, jo ift e8 ganz unvermeidlich, daß
ih vie Mitjchitler von ihm mit Verachtimg abwenden, und daß er jomit
einem Zuftand der Vereinſamung anheimfällt, der das Chrgefühl vollends
untergräbt und nichts weniger als ein Hebel zur Beſſerung werden kann.
Diefe kann nur eintreten, wo man mit Vertrauen dem Gefallenen entgegen—
fommt. Dies aber ift mur an eimer andern Anftalt möglid, wo derſelbe ale
ein homo novus für feine Mitſchüler auftritt. Ich wünſchte, daR er aud)
feinen neuen Yehrern als ein durchaus Unbekannter entgegentreten dürfte.
Darum meine ich, daß jede Entfernung im Stillen und ohne Mittheilung an
die benachbarten Anftalten erfolgen jolle. Ich finde es hart, eine Erelufion
dadurch zu verichärfen, daß gleichzeitig ausgeſprochen wird, der Entfernte
dürfe auf Feiner Anstalt je wieder Aufnahme finden. Die Möglichkeit, fich
zu bejjern, follte man Niemandem, am wenigften einem jungen Menjchen
An legter Stelle hätten wir nod) von dem Forum zu reden, vor das die
einzelnen Bergehungen der Schitler gehören, jowie im Zuſammenhang damit
von dem Umfange der Diseiplinar-Strafgewalt der Lehrer.
Jeder ordentliche Yehrer wird die Disciplin während jeines Unterrichtes
voll und ganz in Anfpruc zu nehmen haben. Nur bei fortgejegtem Unfleiß
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und hartnädiger Unaufmerkjamfeit wird er es für feine Pflicht haften, mit dem
Ordinarius Rückſprache zu nehmen, um ein gemeinjames Einwirfen der Glafien-
lehrer zu erzielen. Schüler, die in offenbar muthwilliger Art den Unterricht
jtören, wird er aus der Glafje herausweiſen dürfen. Nach der Stunde aber
wird er davon aus dem Grunde Mitteilung an den Ordinarius und an den
Director zu machen haben, weil ein derartiger Borfall für die geſammte Beur-
theilung und Erziehung des Schülers höchſt wichtig ift.
Die eigentliche Erziehung des Schülers liegt dem Ordinarius ob. Diejer
wird, was zum Schaden der Sache heute oft nicht der Fall ift, immer nur
ein definitiv angeftellter, aljo ein bereits erprobter Yehrer fein. Steht vies
gejeglich feit, jo werden auch ſchon die Kräfte für die Ordinariate ſich finden
laffen. Warım z. B. der Matbhematifus nad) dem jegigen Brauch nur aus
nahmsweije ein Drdinariat verwaltet, iſt nicht einzujfehen. Und ein älterer
Symmajial- Elementarlehrer dürfte in der Negel eine geeignetere Perſönlichkeit
für das Ordinariat von Serta oder Quinta jein als eim eben examinirter
Probe - Candivat. Auch dafür, Daß bier und da der Director ſich von der
Führung eines Ordinariates entbindet, läßt ſich ein triftiger Grund nicht finden.
Es muß — das verlangt der Ernjt der erziehlihen Aufgabe der Schule, —
Grundſatz fein, daß gerade die älteften Pehrer des Collegiums die Ordinariate
haben. Wie heute wohl ein Streberthum binfichtlichtlih der Stunden in ven
oberen Claſſen ſich in unerfreuliher Weife an manchen Anftalten breit macht, je
mag es lieber als eine begehrenswerthe Ehre gelten, Ordinarius einer Claſſe
zu jein, gleich viel, welde es fei.
Der Ordinarius hat das ganze Betragen der Schüler feiner Klaffe, ſowehl
vor den Stunden als aud in denjelben, jowohl im Hauſe als auch auf der
Strafe, im Auge zu behalten. Ihm liegt die Aufſicht über die Penfionen und
die Bermittelung zwiſchen Schule und Elternhaus ob. Wie er feine Schüler
am beiten fernen joll, jo wird ihm auch die ftrafende Wirkſamkeit anzuvertrauen
jein, wo e8 ſich um Bergehungen gegen die allgemeine Schulordnung handelt.
Dennod werden jeiner Strafgewalt Grenzen zu ziehen fein, und zwar am
natürlichjten in der Weiſe, daß
der Ordinarius für Unfleig und Unaufmerkſamkeit, jowie für Unarten Strof-
arbeiten und einftündiges Nachfigen verhängen kann.
Die Disciplinargewalt der übrigen Lehrer und der Gonferenz dürfte je
zu regeln jein, daß
1) jeder Lehrer dieſelbe Strafbefugniß gegenüber den in feinen Unterrichts—
jtunden zu Tage tretenden Vergehungen hat;
2) die engere Gonferenz, zu der die definitiv angeftellten Anftaltslehrer ge
hören, nad Anhörung des Ordinarius bejchliegt, wo es ſich um bie
Beitrafung eines jchwereren, innerhalb der Schulräume verübten Ber:
gehend handelt ;
3) der weiteren Gonferenz, der, wie oben $ 6 ausgeführt worden, außer
den Pehrern der Schule auch gewählte Vertreter der Familien umd ber
politiihen Gemeinde angehören, die Ahndung der außerhalb ver Schul—
räume vworgelommenen Bergehungen zufteht.
Ein Conferenzbeſchluß ift nothwendig, wo eine fürperlihe Züchtigung (mur
in den beiden unteren Claffen, bei Knaben bis zu 12 Jahren), eine mehr ale
einftündige Arreftitrafe (in den Mittelclaffen) oder eine Garcerftrafe (mer in
45
den beiden oberen Claſſen) eintreten joll; das consilium abeundi und
die Berweiſung von der Anftalt kann immer nur die weitere Gonferenz
ausjpredyen.
8.
Bufammenftellung der Grundfäße der Erziehung, welde in dem
bevorſtehenden Unterrichts - Hefe Aufnahme zu finden verdienen,
Db num die im Borhergehenden wiedergelegten Grundſätze der Erziehung,
namentlich infofern fie beſtimmend auf die Yebensweife des Zöglings einwirken,
in einem fogenannten Schulgeſetz, das dem Knaben bei feiner Aufnahme in die
Hand gegeben wird, niederzulegen feien oder nicht, Darüber herrſcht umter den
Pädagogen getheilte Anſicht. Bis in die Mitte der fünfziger Jahre haben
wohl alle Gymnaſien ihren Schülern gedrudte Eremplare der Schulgejege ein-
gehändigt. Seitdem bat diefer Brauch mehr und mehr aufgehört. Man jagte,
daß die Folge eines gejchriebenen Geſetzes nur die fein könne, daß zwiſchen
dem Yehrer und dem Schiller ein Nechten eintrete, ein Verhältniß, das ſich ala
fittlich nicht erkennen laffe Dazu fomme, daß alle Gejege bejtimmte Zwecke
ind Auge fahten. Cie jeien daher im Staate notbwendig, da fich hier die
Zwede vielfach Freuzten. Anders in der Schule, wo nur ein Zweck walte,
Dem Knaben könne durd das Geſetz der Schule Nichts gejagt werden, mas
er nicht jchon ſelbſt wüßte.
Dem ſei nun, wie ihm wolle ; aber eins ift unzweifelhaft: Das Interefle
des Staates erheiicht, daß im dem Unterrichtsgefeg nicht mur die äußeren Ber:
bältniffe der Schulen und des Pehrerftandes eine gejeglihe Negelung erfahren,
die Berechtigungen der verſchiedenen Schulgattungen fejtgeftellt, die Unterrichts—
gegenftände und die Unterrichtsziele fiir jede Schulcategorie beſtimmt, jondern
daß vor Allem auch gegenüber der im deutſchen Yanden einreißenden Sitten-
verwilderung, Püfternbeit und Vergnügungsſucht der Jugend Erziehungs-Grund—
füge ausgeiproden werden, die für Eltern und Lehrer, ſowie für das heran-
wachjende Geſchlecht unbedingt und überall maßgebend find.*) Im diefem Sinne
begehren wir, daß in dem Geſetze
1) der Staat ſich nit mur die Aufficht über die Schulen und den Unter:
richt, fondern über die Yugenderziehung im Ganzen zufpreche ;
2) angeordnet werde, daß Die Jugend im Geijte der Züchtigfeit, Bejcheiden-
heit und Ordnung erzogen "werden jolle, und daR ihr jomit
a. der Beſuch von Keftaurationen und Schankſtätten,
b. vie Theilnahme an öffentlihen Tanzbeluftigungen,
ec. der Zutritt zu den Borftellungen von Poſſen,
d. die Benugung von Yerhbibliothefen
verjagt bleibe ;
*) Daß mit folchen generellen, für den ganzen Staat geltenden Beſtimmungen
ein ſchwerer Schlag gegen die Selbftändigkeit der einzelnen Unterrichtsanftalten geführt
wird, entgebt mir nicht. Allein da eine Regelung der Disciplinar - Berbältniffe den
einzelnen Gemeinden und Schulen nicht überlaffen bleiben kann, obne die Jugend—
erziebung und damit Das Intereſſe des Staates zu gefübrben, jo ift dies Vorgehen
berechtigt.
46
3) nähere Beftimmungen getroffen werden, um in ven Schulgemeinden Be—
hörden ins Leben zu rufen, weldye die Erziehung beauffichtigen, jo zwar,
daf Die Zahl der von den Familienvätern gewählten Mitglieder weniaftens
gleich) der Zahl der mitberathenden und mitjtimmenden Yehrer it;
4) diejen Behörden zugleich die Entſcheidung über Aufnahme in die Schule
und Entlaffung aus derjelben, die Sorge für die äußeren Angelegenheiten
der Anjtalt, die Anordnung von Schulfeſten, ſowie namentlid die Straf:
gewalt iiber die Zöglinge, joweit fie nicht unmittelbar dem unterrichten-
den VYehrer oder dem Ordinarius zukommt, eingeräumt werde;
5) von den bisherigen Schuljtrafen die körperliche Züchtigung als Aus—
nahme Mafregel bezeichnet werde, deren Anwendung in der Volksſchule
möglichſt einzujchränten, in den höheren Schulen aber nur in den beiden
unterjten Claſſen jtatthaft fei.
Pädagogifde Htudien.
Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein.
17. Seft.
Die Lehre
bon ber
Schuldisciplin.
Von
I. Böhm,
Kl. Seminarlebrer in Altdorf.
„Eine Schule ohne Schulzucht ift eine Mühle
ohne Waſſer.“ Eomenius,
„Hauptmittel der Erziehung ift der Unterricht,
ber ftrenge Unterriht, bann bie That oder das
Erempel und enblich die Disciplin, ohne welche
feine Gemeinde, fein Haus, fein Staatäwejen, feine
Schule gedeiht.“ Dieftermweg.
Wien und Leipzig.
Verlag von U. Pichler’s Witwe & Sohn.
Buchhandlung für pädagogiihe Literatur und Lehrmittel » Anitalt.
Drud von Fiſcher & Wittig in Leipzig. 1877.
Vorbemerkung.
Die nachftehende Arbeit ift aus der von dem Verfaffer 1876 bei
Bed in Nördlingen erfchienenen Schrift: „Die Disciplin der Volksſchule“
(11 Bogen) hervorgegangen. Die legtere hat den Zwed, Schuljeminariften
und angehende Yehrer mit den Grundfägen und der Handhabung der
Schuldisciplin theoretifh befannt zu machen. In ven vorliegenden
Blättern wird verfucht, in kurzen Umriffen fowohl die Stellung ver
Schuldisciplin im Gefammterziehungsgebiete als auch Begriff und Wefen
verfelben im Sinne der neueren Päragogif darzulegen oder feitzuftellen
und daran eine Beiprechung der Mittel und der Methode der Disciplin
anzureihen. Da viele trübe Erfcheinungen des focialen Lebens der Gegen-
wart bereit zu Anklagen gegen die Schule geführt haben, die Pädagogik
der Neuzeit ſich aber theoretifch mit der Schuldisciplin verhältnißmäßig
wenig bejchäftigte, jo hielt der Verfaſſer ven Zeitpunkt für geeignet, eine
wichtige Frage aufs Neue anzuregen. Wenn dabei die rechten Grenz—
linien gezogen worden umd fein wejentlicher Punkt unberührt geblieben
ift, fo dürfte die gedrängte Darftellung dem Verfaſſer nicht zum Vor—
wurf gereichen.
Altdorf, im Zuli 1877,
3. Böhm.
Inhalt.
nn
ei
1. Einleitung — —
II. Vom Weſen und Zweck der Schudisciffin . » 2 2 2 nn 4
Il. Bon den Mitteln der Schuldisciplſiiiin.. en .
IV. Bon der Methode der Schuldiscihlin . 2 2 m m nn. A
J. Theoretiſcher Theii. 21
2. Praktiſcher Theiii. 24
a. Phyſiſche Gewöhnung.... 24
b. Geſellige Gewöhnung. . . *
e. Sittliche Gewöhnung.... rn. fh
JJ ee ee ee
— —— —
I. Einleitung.
—ñN —
Deutſche Zucht“, wer ſoll ſie üben? Haus und Schule und wer
erziehen kann. „Deutſche Zucht geht über alle“ ſang im Mittelalter Walther
von der Vogelweide. Heute klagt man auch in Deutſchland über Rohheit und
Zuchtloſigkeit der Jugend. Iſt nun der gute Geiſt, welchen der Minneſänger
im Liede preiſt, wirklich aus dem deutſchen Hauſe gewichen? Iſt es wahr,
daß die deutſche Schule nur einſeitig die Intelligenz bildet und Gemüth und
Willen ſo wenig in Anſpruch nimmt, daß mit dem Steigen der Bildung ein
Sinken der Sittlichkeit Hand in Hand geht? Es läßt ſich kaum verkennen,
daß der materialiſtiſche Zug unſerer Zeit, der die öffentlichen Intereſſen den
Privatintereſſen unterzuordnen ſucht, eine große ſittliche Verwirrung anzurichten
droht. Auch ſieht man mit Bedauern, daß ſelbſt aus wohlſituirten und ge—
bildeten Familien Kinder hervorgehen, die der deutſchen Zucht keine Ehre
machen. Ebenſowenig läßt ſich leugnen, daß es viele Schüler giebt, die ein
rohes, raffinirtes, unſittliches Verhalten an den Tag legen und damit dem Lobe
deutſcher Zucht Hohn ſprechen. Aber trotz dieſer „Zeichen der Zeit“ bleibt
es wahr, daß der Egoismus auch in der ſogenannten „guten alten Zeit“ ſchon
da war und ſich nur zu oft auf eine ſehr unziemliche, ja ſchauderhafte Weiſe
geltend- machte. Von der guten alten Zeit bis heute find die Menſchen doch
im Allgemeinen klüger, geſcheider, einfichtsvoller und befjer geworden. Wie
bocherfreulich ift e8 heutzutage, aud aus armen und geringen Berhältniffen
heraus fi viele Männer entwideln zu jehen, welde zu ben Zierden der
Nation gehören. Die meiften unferer Schulen wollen aud am ganzen Menſchen
arbeiten, juchen nicht nur die Normen des Sittengejeges zur Erfenntniß zu
bringen und überhaupt die Einficht zu mehren, jondern aud die Uebereinjtinmung
des Willens mit der Erkenntniß des Rechten durch Gewöhnung zur andern
Natur zu machen. Und wahrlich, die weitaus größte Mehrheit der Schul-
jugend iſt folgſam, beſcheiden und ſittig. Warum aber dann jolde Klagen
und Anflagen? Weil, wie jhon gejagt, fie zum Theil begründet und berechtigt
ind; denn es gibt Kinder over Schüler, die fi eine Verlegung der Pietät
zu Schulden kommen lafjen, daß man ftaunen muß. Die Klagen ftammen aber
aud) aus der Unkenntniß der Erziehungsgejchichte, aus der verwerflihen Sehn-
ſucht nach den Mitteln und der Weife der mittelalterlihen Zucht und aus
der Berleumdungsjucht gegen die Principien der modernen Schule. Die eigentliche
Urjahe von dieſen theilweiſe berechtigten, aber ſtark übertriebenen Anklagen
liegt, abgeſehen von den in der Erziehung oder im Unterricht gemachten Fehlern,
hauptſächlich im Mangel eines getreuen und verſtändigen Zuſammenwirkens
Böhm, Die Lehre v. d. Schuldisciplin, 1
2
der Erziehungsfactoren, bejonders von Hans und Schule und in der Bernab-
läffigung der Kindererziehung durch viele Familien. Dies dürfte Ber:
anlajiung jein, die Aufgaben des Haujes und der Schule in Betreff der Zucht
einer genaueren Unterjuhung zu unterziehen. In dieſen Blättern joll zu:
vörderjt die Aufgabe der Schulzudt des Näheren bejproden werben.
Zunächſt dürfte es dabei angezeigt erjcheinen, fi über die Etellung
zu orientiren, welde die Schulzuht oder wie fie hier genannt wird, Die
Schuldisciplin im Gejammtgebiete der Erziehung einnimmt.
Coll der Schuldisciplin innerhalb der Erziehung eine beftimmte Stelle
angewiejen werben, jo entiteht erjt die Frage, was Erziehung iſt. Nun
verjteht man unter Erziehung im allgemeinften Sinne alle die Thätigkeiten
(gleihviel von wem fie ausgehen), welhe den Menſchen abfichtlib und plan-
mäßig zu befähigen juchen, ver höchſtmöglichen Vollkommenheit in jelbjtbewußter
Freiheit nachzuftreben. Vollkommen ift nur Gott, deſſen Ebenbild Chriftus
ift, der in jeiner Perfon umd in jeinem Yeben das höchſte Tugendideal menſchlich
dargeftellt. Wird ein Menſch zu ftetem Streben nad dieſem höchſten Ideal
gebracht, dann hat die Erziehung ihren Zwed erreicht. Die vom Erzieher zu
diefem Behufe ausgehenden, von jeinem Geift geleiteten Thätigfeiten find die
Erziehungsmittel, als welde wir
1) die Pflege (zur Förderung des leiblichen Yebens),
2) den Unterricht (zur Erzeugung der Einjicht) und
3) die Zucht (zur Einleitung eines mit der richtigen Einſicht überein-
ftimmenden Wollens) unterjcheiden.
Denkt man ſich alle diefe Mittel in Anwendung, jo ſpricht man von
Erziehung im weiteren Sinne Nimmt man dagegen in der Theorie
eine Scheidung vor, jo erhält man a) die Erziehung im engeren Sinne,
weldye die Einwirkungen der Zucht auf den Willen und die nicht aufer Acht
zu lafjende leiblihe Pflege umfaßt, und b) den Unterricht, der auf bie
Erfenntniß gerichtet ift, wie folgendes Schema zeigt.
Erziehung im weiteren Sinne.
a. Erziehung im engeren Sinne, b. Unterricht.
|
aa. Pilege. bb, Zucht.
Faßt man ins Auge, daß die eigenthümlichen Verhältnifje des Menſchen—
lebens in der Erziehung Berüdjichtigung verlangen, jo kommt man in Hinficht
auf den Stand und Beruf zur Unterjcheidung einer Erziehung des Bürgers
und Yandmanns, des Gelehrten und Militärs, des Adels und der Fürſten,
während man binfichtlid) des Kreijes, in welchem die Erziehung ihre Stätte
hat, Familien- und Schulerziehung, kirchliche und ſtaatliche Erziehung unter:
jheiden fann. Familie, Schule, Kirche und Staat find die Erziehungsanftalten,
welde ihren Einfluß aufbieten, um der Erziehung eine joldhe Richtung zu
geben, wie fie erjtens ihren jelbiteigenen Zweden eutſpricht, und wie zweitens
aber auch die Erreihung der allgemeinen Menſchenbeſtimmung es erfordert.
Die Schulerziehung hat deshalb einerjeits jowohl einen guten Schüler,
als anderjeits einen guten Menſchen zu erziehen. Sie hat und bedarf dazu
feine anderen Mittel, als die Erziehung überhaupt, als: Pflege, Zucht
und Unterricht. Wohl it es zweifellos, daß die Familie, welche als die erite
3
und widtigfte Erziehungsftätte gelten muß, welcher im Verein mit ver Schule
die Hauptarbeit in der Yugenderziehung zufüllt, — daR die Familie die
Willensrihtung in überwiegender Weiſe beeinflufen, ihre Erziehungsthätigfeit,
bejonders durch die Pflege und Zucht, zu einer tiefareifenderen Wirkung zu
concentriren vermag, als die Schule. Allein wie in der Familie Pflege und
Zucht den Mittelpunft ver Erziehungsthätigfeit bilden, ohne daß der Unter:
richt ausgeſchloſſen oder entbehrt werden fünnte, ebenfo hat die Schule den
Unterricht zum Gentrum ihrer erziehliben Thätigkeit, ohne aber Pflege und
Zucht umberücjichtigt zu laffen oder zu vernachläffigen. Da „gerade ber
gemeinjame Schulunterricht gibt die beſte Gelegenheit, gejellige Tugenden
anzueignen, das eigene Behagen dem Wohl des Ganzen unterzuordnen und
bie Lehren und Forderungen bezüglich der Geſundheit und Sittlichfeit Fennen
und erfüllen zu lernen. Damit ift aber dargethan, daR die erziehliche Thätigfeit
der Schule, oder die Sculerziehung, ſich (analog der Erziehung im All
gemeinen) in Schulerziehung im engeren Sinne und in Schulunterridt
jheiden läßt. Da die Schulerziehung im engeren Sinne (Pflege und Zucht)
bier Schuldisciplin (= Schulzucht) genannt wird, fo ift damit zugleich die
Stellung gefennzeichnet, welche diejelbe im Gejammterziehunsgebiete einnimmt,
Folgende Gliederung wird zur Veranſchaulichung des Geſagten binreichen.
Erziehung.
|
A. Familien B. Shu- _C, Kirdlihe D. Staats
erziebung erziebung Erziehung erziebung
a. Schulunterricht. b Schulbisciplin
— Schulerziehung im engeren Sinne.
aa. Pflege. bb. Zuct,
Die Anweifung N Erziehung im Allgemeinen gibt die Erziehumgslehre
oder Pädagogik, die Anleitang zur Schulerziehung die Schulerziehungslehre
oder Schulpädagogif. Dide hat ſich nun einerſeits mit der Lehre vom
Schulunterriht, anderjeits fit ver Yehre von der Schuldisciplim zu
befaffen. Lestere hat Wefen und Zwed ver Disciplin zu erläutern und
feftzuftellen, die Disciplinarmittel aufjwjuchen, vie Art und Weije
Ihrer Anwendung anzugeben und überhonpt in die praktiſche Ausführung
den Blick zur eröffnen. Cine ſolche Anleitung gliedert ſich demnach in drei Theile,
welche ſich der Schulerziehungstehre folgendermaßen einordnen:
J
Hcuferziehungsfehre.
|
‘ II.
Lehre vom Unterricht. Lehre von der Diseiplin.
— Im.
Weſen u, Zweck. Mittel. Methode u, prakt. Ausführung.
Verbürgt die Lehre von der Schuldisciplin noch keineswegs eine gute und
richtige Handhabung derſelben, da das Discipliniren wie jede Kunſt Verſuch,
Uebung und Erfahrung fordert, fo leiſtet fie derſelben doch allen Vorſchub.
Indem fie nämlich mit den auf dem Wege pfychologiſcher Forſchung gefundenen
1*
4
und von der Erfahrung geprüften Gejegen und Regeln bewährter Pädagogen
befannt macht, fordert fie zur Bergleihung auf und wird fo zum Prüſfſtein
für die eigene Führung der Disciplin. Eine jolde Theorie ift alfo etwas
jehr Praftifhes. Sie jagt ja auch immer wiederholt, daß die Jugend nicht
bloß durch Vpeen, fondern aus dem Yeben heraus für das Yeben gebildet, daß
das Yeben in der Schule zu einer Schule des Yebens werden und deshalb die
Schule von dem Bewußtſein durchdrungen fein müffe, daß die Erziehungsauf-
gabe eine allen Erziehungsfactoren gemeinfame jei, daß beſonders Schule und
Haus fi die Hände reihen und gegenfeitig unterftügen mitffen, wenn aus
ihrem Gegenftande der Zudt, dem Kinde, einjt ein tugenphafter und charafter:
fefter Menjc werden foll.
II. Vom Wefen und Zweck der Sculdisciplin.
Wie man für Schulerziehung im engeren Sinne öfters Schuldis—
ciplin zu fegen pflegt, jo wird biefür auch Schulzucht als gleichbedeutend ge-
braudt. Allen man ftelt Schulerziehung im engeren Sinne der Schuldis—
cıplin aud gegenüber und verfteht dann unter Schulerziehbung diejenigen
Einwirkungen, welde auf die Gejinnung und Gefittung (Erziehung zur Gottes—
furdht, zum Gehorfam, zur Nächftenliebe ꝛc.) abzielen, unter Schuldisciplin
hingegen den Inbegriff aller Maßnahmen, wodurd der Lehrer eine gute äußere Zucht
und Ordnung unter feinen Schülern berzuftellen und zu erhalten ſucht. Ferner
jest man hie und da für Schulerziehung im engeren Sinne Schulzucht ale auf
das Innere, und gegenüber Schulpisciplin, als auf das Aeußere ſich be:
beziehend. Wieder andere unterfcheiden eine höhere und niedere Tendenz
der Ecdhuldisciplin; die erftere gebt auf das Innere, die legtere auf das
Aeußere. Erftere entſpricht ungefähr dem, was Herbart Zucht und Stoy
Führung, legtere dem, was Herbart Negierung und Stoy Polizei
nennt. Diefe verfchiedenen Auffaffungen und Bezeichnungen, welde alle mehr
oder minder im Zufammenhange ftehen, möge folgendes Schema veranſchaulichen:
Schulerziehung im weiteren Sinne.
|
A. Schulunterricht B. Schulerziebung im engeren Sinne,
— Schuldisciplin — Schulzudt.
a. Schulerziehung b. Schudisciplin
l. (Inneres) | —= Schulzjudt
u — F Aleußeres
2 a, Schulzucht * b. Schuldisciplin
" (Inneres) L Aeußeres)
oder
3 a. Höhere Sphäre J b. Niedere Spbäre
Inueres) Aeußeres)
*
a. Zucht b. Regierung
(06 Sta (Inneres) (Aeuferes)
a a —
5, a, Führung b, Polizei
(nad Stov) (Inneres) (Aeußeres)
5
Damit ift aber die Verfchiedenheit in der Bezeichnung nod nicht am Ende.
So wird z. B. das Wort Dieciplin auch ale auf das Innere gehend ge—
braucht, das Wort Schulzucht aber bin und wieder in der engften Be-
deutung von Zucht (— Strafe) angewendet.
Der häufige Gebrauh von Schulzucht ftatt Schulerziebung (im
engeren Sinne) iſt leicht erklärlich. Abgefehen von den Nebendeutungen, welche
das Wort Zucht zuläßt, fällt es feiner pädagogiſchen Bedeutung der Haupt:
ſache nad doch mit Erzieben, Erziehung zufammen Zucht leitet ſich
gerade wie Erziehung ab von Ziehen Die Zucht ift das Ziehen ves
Kindes aus feiner Hilflofigfeit, Schwachheit und Unwiſſenheit heraus zur Kraft,
Vernünftigfeit und Selbitftändigfeit. Das ift aber mejentlih das Erzieben,
oder Erziehung. Darum ſetzt die Volksſprache für Erziehung der Kinder auch
den nicht mißzuverſtehenden Ausdruck „Kinderzucht“.
Wie aber ſteht es mit Schuldisciplin und Schulzucht? Auch
ſie ſind im Grunde daſſelbe, nur auf verſchiedenem Sprachboden gewachſen.
Das lateiniſche Wort disciplina bedeutet Unterweiſung, Lehre, auch Wiſſen—
ſchaft, dann aber auch Regelung des Verhaltens, ſittliche Gewöhnung,
Zucht. Dieſe Vollſinnigkeit des Wortes enthält zugleich den Hinweis, daß
der Unterricht ſelbſt Zucht üben könne und ſolle. Daher ſagt Dieſterweg:
„Schuldisciplin iſt gar nicht etwas Beſonderes, Selbſtſtändiges, ſondern eins
mit dem Unterricht. Der wahre Didaktiker iſt auch Disciplinator; wer ſich
recht auf den Unterricht verſteht, verſteht ſich auch auf die Disciplin, wer
gut unterrichtet, disciplinirt gut. Die Unterrichtsgegenſtände ſind nach alter,
aber oft wieder vergeſſener Anſicht Disciplinen.“ Hienach könnte es ſcheinen,
als ob es überflüſſig wäre, von der Schuldisciplin als von etwas Beſonderem
zu reden, und daß, da der Unterricht die Disciplin (Zucht) von ſelbſt einſchließen
ſoll, nur von dieſem, dem Unterricht, zu reden ſei. Indeſſen verhält ſich die
Sache doch wohl alſo: Zwar iſt die Volksſchule zunächſt und hauptſächlich für
den Unterrichtszweck gegründet und bildet der Schulunterricht auch inſofern
den Mittelpunkt ver Schulerziehung, da er in feinem letzten Zwecke nicht bloß
eine ruhende, ſondern eine zum Wollen treibende Erkenntniß des Guten und
Wahren erzeugen, den Zögling nicht nur zur bloßen Einſicht, ſondern auch
zur Willensſtärke erheben und ihn helfen befähigen ſoll, die Ziele und Zwecke
ſeines Lebens und ſeiner Beſtimmung ſelbſtſtändig zu erreichen. Der Schul—
unterricht, und zwar der erziehende, hat ſomit kein anderes Endziel als die
Erziehung, iſt aber, wenn auch ein ſehr wichtiges, doch nur ein Mittel
der Schulerziehung, welche, wie die Erziehung überhaupt, unbedingt noch der
Zucht und Pflege bedarf. Die treibende Kraft kindlicher Erkenntniß iſt
nämlich oft noch ſo ſchwach, daß ſie nicht ausreicht, des Kindes Streben und
Wollen zu leiten und zu regeln. Dazu iſt Selbſtbeherrſchung nöthig, die ſich
das Angenehme, das den Sinnen Wohlgefällige auch verſagen kann. Dieſe
will aber durch Uebung erlernt ſein. Dieſe Thätigkeit des Lehrers aber,
welche es ſtets auf die Bethätigung der rechten Geſinnung, auf die
Manifeſtation der Lehre in der Handlung abgeſehen hat, welche das vom
Schüler erkannte Gute an ihm zur Erſcheinung bringen will, ihn anhält, ſo
zu leben, wie er es als recht und gut erkannt hat: das iſt die ſittliche Ge—
wöhnung. Nun hat es die Schule aber nicht bloß mit dem einzelnen Schüler,
ſondern auch mit der Maſſe zu thun. Das Kind ſoll nicht nur thun, was
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ihm behagt, jondern was zugleich. im Intereffe ver Gemeinjhaft liegt. Es
fol feinen Eigenwillen dem gemeinfamen Wohle unterorbnen lernen. Dieje
Thätigkeit aber, welche das Veben ver Schulgeſellſchaft jo regelt, daß im ber
jelben ftets gute Ordnung berricht, der Schüler ſich aefellige Tugenden au—
eignen und die für den Unterricht erwünſchte Gemüthsftimmung bei ihm Plag
greifen kann, iſt die gefellige Gewöhnung Die Schule hat aber, da
jedes Individuum nad der Beſchaffenheit feines Körpers, des realen Trägers
der geiftigen Zuſtände, eigenthümlich disponirt, da die Yebensweije auf das
leibliche Wohl und diefes auf die Sefinnungs- und Handlungeweife von großem
Einfluffe ift, auch auf die leibliche Pflege und die Geſundheit ver Schüler zu achten
dur die phyſiſche Gewöhnung, melde, jo ferne fie zu einer vernünftigen
Befriedigung der natürlichen Bedürfniſſe führt, Zucht oder fittlihe Gewöhnung
if. Dieje nah dreifaher Richtung gehende, jid aber ſtets wechſel—
feitig durchdringende Thätigfeit, melde die phyſiſche, geſellige und
fittlihe Gemwöhnung der Schüler bezwedt und zur Erreihung der
fittliden Idee in der Schule dient, überhaupt auf fittlihe Charakter—
bildung abzielt, das it Schuldisciplin. Damit ift zugleich angedeutet, daß
ihr nächſter Zwed, von ver Schule als einer eigenthümlichen Pebensgemein:
jchaft bedingt und bejtinmt, der tt, den Schüler an das rechte Leben im der
Schule zu gewöhnen, der fernere aber: durch Anbahmung einer jittlicen
Charalterbildung denfelben zur Erreihung der allgemeinen Lebenszwedce
vorzubereiten. Die Aufgabe der Schulvisciplin ift daher, erſtens in fteter Ver:
bindung mit dem Schulunterricht der Schulerziehung (im weiteren Sinne), d. b.
ten Sweden ver Schule zu dienen, anderfeits aber im Verein mit allen
wohlgemeinten Erziehungseinflüffen außer ihr, bejonder® des Haufes, den Zög—
ling auf ven Weg der jittlihen Freiheit zu führen und diefen jo lange mit
Geländern, Schugfteinen und Wegweijern zu verſehen, bis jener jelbit ven
rechten Weg zu finden vermag. In ſteter Verbindung mit dem Unterricht ?
Gewiß; denn die gegenfeitige Abhängigkeit beider macht ſich ſtets fühlbar.
Wenn auch die Disciplin in den Unterclaffen, der Unterricht dagegen im den
Dberclaffen in den Vordergrund tritt; wenn die Disciplin den Unterricht bes
fördert, indem fie durch äußere Vorkehrungen das Verhalten der Schüler jo
regelt, daß derſelbe Anfang und fruchtbaren Sortgang nehmen kann, der
Unterricht hinwieder die Disciplin befördert, indem er die Einſicht und Ideen
erzeugt, die zu einem fittlihen Verhalten und zum Thun des Guten antreiben:
jo ergänzen fie ſich doch in Wirklichkeit nur zu einer einzigen Geſammt—
thätigkeit (der Schulerziehung im weiteren Sinne). Bon diefem Gefichtspunfte
aus bat Diefterweg alſo vollftindig recht, wenn er ſagt: „Die Disciplin iſt
eins mit dem Unterricht.“ In der Theorie ift es andere. In der Theorie
fpricht man mit eben vderjelben Berechtigung von der Disciplin allein, als
man den Unterricht geſondert behandelt.
In der auf Seite 4 gegebenen Ueberficht über die verſchiedene Auffaffung
und Bezeichnung in der Eintheilung der disciplinarifchen Thätigfeit iſt drittens
die höhere der niedern Sphäre der Disciplin gegemübergejebt.
Dieje Aufitellung und Gegenüberjegung bedarf vieleiht einiger Erläuterung.
Aus der bisherigen Darlegung geht zur Genüge hervor, daß die Schulvie-
ciplin zuerjt das äußere Verhalten der Schüler jo zu regeln, ſolche Ordnung
herzuftellen hat, daß der Unterricht ermöglicht, die Geſundheit gefhont wird ıc.
7
Da das Schulkind in den bier zutreffenden Beziehungen das Rechte aber aus
eigener Einfiht noch nicht treffen fann, das aus den niederen Begierben ges
borene Betragen aber die Ordnung der Schulgemeinſchaft ftören, die Geſund—
beit ꝛc. ſchädigen und ein Gewährenlaffen ver Zukunft des Schülers ſchaden
fünnte und wiirde, jo ift es nothwendig, daß er durch die höhere Einſicht des
Lehrers unmittelbar geleitet werde, deſſen Willen unbedingt vollziehen lerne.
Dieje behütende, gegenwirfende und unterftügende Thätigkeit des Lehrers, bie
anfceinend mir in der Gegenwart ihren Zweck hat, fennzeichnet Die
niedere Sphäre der Schulvisciplin, melde Stoy Polizei, Herbart
Regierung nennt und als eine eigentlich erziehungslofe Maßregel charak—
terifirt. Das Letztere wird ſich indeſſen nicht feithalten laffen. Denn obwohl
der nächſte Zwed der niedern Sphäre der Schulvisciplin in ber Gegen—
wart liegt, fo ift ihr letter Zwed dod die Fünftige Geftaltung der find-
lichen Berfönlichfeit ; wenn fie gleih nur das äußere Yeben der Schüler
regelt, jo bereitet fie dody auf das innere vor. Die Maßnahmen der niedern
Sphäre dienen aljo mittelbar dem eigentlichen Erziehungsinterefie fo lange,
als nicht ein fittliches Wollen den Schüler zur That beftimmt, find im legten
Grunde von feiner andern Abficht geleitet, als die Erziehung felbit, find daher
in Wahrheit Erziebungsthätigfeiten.
Nun genügt es aber nicht, den Ausbrücen der Sinnlichkeit einen Damm
gejegt, den Willen des Schülerd dem des Yehrers untergeorbnet zu willen.
Der Schüler fol frei werben, d. b. es ſoll in ihm ein Wollen entiteben, das
durch die aus dem jittlihen Ideen geborene Einficht eine beftimmte Richtung
dauernd erhält, vas als Ausfluß feines ganzen Gedanfenfreifes, als grumb-
ſätzliche Aeußerung feiner eigenen Perjönlichfeit erſcheint. Die Bildung eines
ſolch herrſchenden Gedankenkreiſes, der ſich in fittlihen Grundſätzen kryſtalliſirt
und die Baſis des ſittlichen Charakters iſt, iſt aber, abgeſehen von der indi—
viduellen Beanlagung, der ſonſtigen Lebenslage ꝛc., vom Reſultate des Unter:
richts abhängig, Dieſer muß aufklären, belehren, um unrichtige Anſchauungen
und Urtheile zu beſeitigen, neue richtige Vorſtellungen, Begriffe und Anſichten
zu erzeugen und den Sinn des Schülers auf das Rechte und Gute zu lenken.
Da dies aber wieder nicht ſofort gelingen kann, weil der Unterricht die aus
Umgang und Erfahrung ſtammenden Gedanken nicht ſofort zu verdrängen ver—
mag, ſo muß zum Unterricht noch eine Einwirkung kommen, welche den Schüler
anleitet, das einmal erkannte Gute immer wieder und wieder zu thun, bis
er es aus Gewohnheit und zuletzt aus Grundſatz thut. Die Thätigkeit des
Lehrers nun, welche den natürlichen Menſchen im Schüler zu beſiegen ſucht,
die es auf ein auf klarer Einſicht beruhendes energiſches und dauerndes
Wollen des Sittlichen abſieht, die ein grundjäglid ſittliches
Handeln anftrebt und einen jittlihen Charafter anzubahnen bemüht
ift, das it die höhere Sphäre der Schuldisciplin, ift im weſentlichen das,
was von Herbart mit dem Namen Zucht belegt, von Stoy Führung
genannt wird. Dieſe augenjcheinlih auf die Fünftige Wohlfahrt des
Schülers abzielenden Einwirkungen fordern au die Einſicht des Zöglings
beraus, während die Einwirkungen der nievern Sphäre den unbedingten
Gehorſam zur Pflicht machen. In der Praris ift eine jolde Trennung nicht
möglih. Im ihr fließen alle Mafregeln der niedern und höhern Sphäre
zujammen. Da ihr legtes Ziel im Grunde bafjelbe ift, aud mit im wejent-
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lichen gleichen, wenn auch in verfchievenem Sinn angewandten Mitteln erftrebt
wird, jo trennen wir nicht, wie Herbart, die Regierung von der Zucht, jondern
iprechen bloß von einer niedern und höhern Sphäre oder Tendenz ber
Schulbisciplin.
Da drängen fi nun dem erziehenden Yehrer verſchiedene Fragen auf.
Wie es nämlih anzufangen ift, daß das Kind troß der Einjchränfungen ber
Disciplin frei handeln lerne? Wann die unmittelbare Willensleitung (niedere
Sphäre) in den Vordergrund zu treten oder aufzuhören, in welcher Weiſe
und in welchem Maße ver Unterricht die Willensleitung zu beeinflußen, wie
und wo dieſem die Zucht der höhern Sphäre zur Seite zu treten babe? Die
Löſung diefer und ähnlicher Fragen ift ſchwierig und praftiih unausführbar,
wenn der Pehrer die Individualität des einzelnen Schülers nidt
fennen und berüdjichtigen lernt, wenn er nicht mit aller Yiebe den Anlagen
und Bedürfniſſen vefjelben nachgeht, um ihm ben Weg zu jeinem künftigen
Lebensglück bahnen zu fünnen, wenn er nicht die Kraft bejitt, fremdartige
Naturen anzuerkennen und richtig zu leiten. Aber ebenjo jchwierig iſt die
Pöfung, wenn er nicht die Individualität der Maſſe ind Auge fat, ibre
Schwähen, Eigenthimlichfeiten und Bebürfniffe ftubirt, um, wenn möglid
und wenn räthlih, nadzugeben oder ebenjo entjchieven entgegen zu treten.
Eine gute Echuldisciplin ift aber aud nur da denkbar, wo ber einzelne
Schiller zu dem Bewußtjein fommt, daß er durch jedes Unrecht, das er tbut,
an feinem innern Werthe verliert und in ber Achtung der guten Menjchen
finft ; ift nur möglih, wo das beſſere Streben zum Gemeingut der
ganzen Claſſe wird, wodurch dieje erft das Siegel einer fittlihen Gemein-
ſchaft aufgeprägt erhält. Die größere oder geringere Schwierigkeit der Löſung hängt
übrigens zugleih aud von ver Schuleinridhtung der Schülerzahl x. ab.
So tritt z.B. bei dem Fachlehrerſyſtem, Das in unterrichtlicher Beziehung greifbare
Vortheile bietet, das erziehende Moment zurüd, weil der Yehrer meift nicht im
Stande ift, feine Schüler kennen zu lernen, aljo ihre Willensentwidlung nicht ftufen:
mäßig zu fördern vermag. Zugleich geht, wenn nicht ein Vorſtand die Weber:
einftimmung ber Yehrer zu gewinnen weiß, die Einheit des Erziehungsgevanfens
verloren. Aber auch das ftehende Claſſenlehrerſyſtem, nad welchem jährlich
die Schüler wechjeln, ermöglicht fein inniges Zuſammenleben, weil die Be:
ztehungen zwijchen Lehrer und Schüler zu bald abgebrodyen werben. Ueber:
füllte Clafjen hemmen nadı jeder Öinficht die gute Disciplin. Gleihwohl Liegt die
Urſache des disciplinarifhen Miferfolgs mandmal weniger in der Schwierig:
feit der Aufgabe, als vielmehr in der Macht der der Schuldisciplin entgegen:
wirfenden äußern Verhältnifje, oder in dem Mangel disciplinariicher Kraft
auf Seite des Yehrers, der vor jener zurückſchreckt, obgleich gerade darin die
Aufforderung liegt, die fittlihe Macht der Schuldisciplin zu fteigern.
Es iſt ſchon hervorgehoben worden, daß die Schuldisciplin nicht bloß
dem Schulzwed,. jondern auch dem allgemeinen Lebenszwecke zu dienen,
nicht bloß den Schüler, jondern den ganzen Menſchen zu berüdfichtigen und
in diefer Hinficht die wohlgemeinten Erziehungseinflüffe der übrigen Erziehungs-
factoren zu unterftügen bat, fowie fie binwiederum deren Unterftügung bedarf
und beanſpruchen kann. Wie ſchon eingangs bemerkt, kommt bier zunächſt
das Haus als die wictigfte Stätte der Kindererziehung, die Familie,
in der alle Wurzeln des Pebens, Denkens und Empfindens des Kindes liegen,
9
in Betracht. Der Familie kommt die Pflicht zuerſt zu, die in ihrem Schooß
geborenen Kinder zu erziehen. Das Haus iſt der Tempel, in welchem der
Grund zu aller Wiſſenſchaft und Tugend gelegt und die heilige Opferflamme
eines reinen Herzens entzündet werden fol. Das Haus kann aber dieſer
Aufgabe nicht völlig genügen. Nicht bloß der Unterricht ift es, den es allein
nicht genügend zu ertheilen vermag, auch die Zucht des Haujes bedarf, felbft
im günftigen Falle, der Ergänzung und Erweiterung durd die Schuldisciplin,
deren Wirkungen durd den Umjtand, daß der Zögling in der Schule handelnd
an einem feft geregelten Gemeinjchaftsleben mit ven verſchiedenſten Indivi—
dualitäten aus den verjchiedenften Ständen theil nimmt, iiber das Familienleben
binausreihen. Indem die Eltern ihre Kinder der Schule zur Miterziehung
übergeben, machen fie dieſe zu ihrem zweiten Vaterhaus, das fie gleich dem
erften lieben und werth halten follen. Hochwichtig für die Erreihung der
gemeinfamen Erziehungsaufgabe ift es nun, daß dem zweifachen Gemeinſchafts—
(eben, vem das Kind von feinem Schuleintritt an angehört, bei aller Eigenartigkeit
biefer Lebensfreife, doch die höhere Einheit nicht fehle Dieſe ift leider
nicht immer vorhanden. Denn obgleih Haus und Schule an demſelben
Gegenftande der Erziehung, dem Rinde, arbeiten, meiftens denjelben
Zwed mit im wefentlihben gleichen Mitteln zu erreichen fuchen, fo
unterfcheiden fie fi Doch oft in den Principien, im Ziele, oder in der Durd)-
führung, öfters in allem zugleich.
Iſt das Familienleben wie das Schulleben rechter Art, vom rechten Geifte
durchdrungen, dann ift das leßtere ein erweitertes Yamilienleben mit vermehrten
Pflihten. Wo dies Verhältniß ftatt hat, werben die Kinder zu dem Bemuftfein
fommen, daR fie nur dann aute und fittlihe Menſchen find, wenn fie durch
(tebevolle Theilnahme und treue Pflichterfüllung das Wohlergehen beider
Gemeinschaften fördern. Diefes Bewußtſein ſtets mach zu erhalten ift die
Aufgabe ver! Schuldisciplin in dieſem glüdlihen Falle. Die Zucht des Haufes
fann ferner zwar von auten Abfichten geleitet, aber e& kann weder Die nöthige
Intelligenz Inoch die Energie, noch das erzieherifhe Geſchick zu ihrer Aus-
führung vorhanden jein. Auch bildet ſich bei manden Eltern die Vorftellung,
daß die Schule mit der Aufnahme der Kinder nunmehr das geſammte
Erziehungswerf übernehme. Hier wird die Aufgabe der Schuldisciplin ſchon
eine ungleich ſchwierigere. Wenn die Eltern es noch nicht dahin gebracht
haben, daß das Kind feinen Willen dem ihrigen unterwirft, wenn fie alauben,
die Erziehumgsthätiafeit Binde ſich nur an die beftimmten Schulftunden, dann
alt es, alles aufzubieten, um die innere Theilnahme des Schülers für das
Schulleben zu gewinnen, in ihm den Gemeinfinn zu wecken und ihn conſequent
im Gehorfam zu üben, um die Lücken der häuslichen Zucht nad Möglichkeit
auszufüllen. Wenn aber das Haus gar verbietet, was die Schule ge bietet,
wenn das Haus für aut erklärt, was die Schule fiir vervderblich erkennt, wenn
das Haus blind ift fir alle fittlihen Schäden und Mängel und feine Zucht
ſich mit einem Worte als eine jchlehte, oder als gänzlihe Verwahrlofung
erweift, dann fitt der Schade tief; denn dann ift die geſammte Charafterent-
wiclung des Schülers in Gefahr, der Pehrer aber verpflichtet, durch eine zweck—
mäßige und möglichft energifche Disciplin, unterftügt won feinem Lehrenden
Wort, in die Schüler feſte fittliche Grundfäge zu pflanzen, um die Folgen
ver jchlehten häuslichen Zucht nad Thunlichkeit zu paralyfiren.
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Will ver Pehrer aber unterſtützend, berichtigend und paralyſirend auf vie
Zucht des Haufes hinüberwirken, jo ift ihm, abaejehen von den in Gebrauch zu
nehmenden Dieciplinarmitteln, bejonders Kenntniß des Haufes mb
feiner Erziehungsgrundfäte und Erziehungmafregeln von Nöthen, woraus ji
von felbft die Pflicht ableitet, mit dem Haufe in lebendige Wechjelbeziehung
zu treten, ſei e& durch Benacrichtigungen, Mittheilungen von Zeugniſſen,
Einladungen zu gemeinſchaftlichen Berathungen ober durch perfönlice Beſuche
des Pehrerd. Auf diefe Weife wäre die Möglichfeit, ja häufig vie Wahrſcheinlich—
feit in Ausficht, eimerfeit® die zwiſchen Schule und Haus beſtehende Weberein-
ftimmung zu befeftigen oder andernfalls die vermißte Einheit anzubahnen oder
gar zu erreichen.
Wie jehr ein ſolches Vorgehen ber Schule zu wünſchen umd zu empfehlen
ift, fo ift doh Mar, daß in noch viel höherem Grade pas Haus
die Verpflichtung befißt, einen Anſchluß an die Schule zu
fuhben. Die Kinder gehören ja den Eltern und ihmen muß Darum am
meiften daran gelegen fein, daß Diefelben zu fittlihen Menſchen ausgebilvet
werben. Dit hiezu nun eim einheitlicher Geiſt in der Erziehung nöthig, Te
mäffen fie mit dem Lehrer in Verkehr treten, da fie wegen der natürlichen
Bande, durd Die fie mit den Sindern verbunden find und ihre® lang:
andauernden Erziehungseinfluffes halben im Stande find, dem Yehrer alle
die Aufſchlüſſe und Mittel an die Hand zu geben, die ihn mehr in den Stand
jeßen, in der rechten Richtung auf das Kind zu wirken und einer fdhiefen
Entwicklung vorzubeugen. Steht einmal feit, daß das Haus die Schule in
der Schuldisciplin unterftügen joll, jo ift gewiß, baf die Eltern aud vor ber
Schule, ihrer Arbeit, ihren Yehrern, Ordnungen und Eimridtungen Adtung
hegen und bezeugen müſſen. Einem guten Scitler ift die Schule ein Heilig:
thum. Wer e& angreift, beipöttelt oder gar beſchimpft, verlegt fein Gemüth,
bringt e8 in Conflict mit andern Regungen und vaubt ihm einen guten Theil
der Freudigkeit und des pietätvollen Sinnes, die er außerdem mitgebracht
hätte. Wenn die Eltern dagegen an Allem, was in der Schule für das Kind
gefchieht, Intereſſe nehmen, wenn jie jedes die Echule umd ben Yehrer be
treffende Wort auf die Wage ver Vorfiht legen und mit dem Maße ber
Klugheit meſſen und felbft eine gute fittlihe Zucht mit allen Ernfte hand:
haben, dann fördern fie die Schuldisciplin und mit diefer die fittlihe Charakter:
bildung der Kinder. Wo ſolches Zuſammenwirken ftattfindet, da hören and
viele Klagen über die Rohheit und Gemeinheit, über die Sittenlofigfeit und
Berwilderung der Jugend auf, deren Urſachen man gar zu gerne im der laren
oder verfehrten Schuldisciplin jucht, wiewohl es zweifellos erfcheint, daß bie
Disciplin der Schule in den weitaus meiften Fällen ftrenger, energiſcher,
confequenter und noch dazu vernünftiger ift, al® die häusliche Zucht.
Da eine durch die Schuldisciplin confequent im Gemeinſinn geübte und
zur Selbſtbeherrſchung herangebildete Jugend meiſtens gute Gemeindebürger,
ſittlich feſte und entſchloſſene Männer im örtlichen, kirchlichen und ſtaatlichen
Peben geben wird, melde dieſen Gemeinſchaften hervorragende Dienſte leiſten,
jo it es Pflicht, auch dieſer Factoren, zur Unterftiigung der Schulpisciplin
im Intereſſe des Geſammtzweckes ſich folidarifch zu verbinden. reifen ber
Schuldisciplin dieſe ſämmtlichen Erziehungstreife unter die Arme, legen fie
ihr nicht Verpflichtungen auf, Die zu erfüllen eben an ihnen jelbit iſt, und
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beſchränken fie auf der andern Seite die Disciplinargewalt der Schule nad
Umfang und Maß nicht zu jehr*), jo wird unter treuer Beihilfe des Hauſes
die Schuldisciplin nicht mur ihre fpeciellen Zwecke leichter erreichen, ſondern
auch den allgemeinen Yebenszweden nit größerem Erfolg dienftbar werden fönnen.
III. Von den Mitteln der Schuldisciplin.
Die Schuldisciplin bat ihrer höhern Tendenz nad) feinen andern Zweck,
als Gewöhnung an ein vernünftiges und fittlihes Leben, ken
anderes Ziel, ald dem fittlihen Geifte zur Herrichaft zu verhelfen. Der
höchſte Disciplinarzwed kann deshalb aud nur durd ein geiftiges Mittel
erreicht werben, deun Gleiches erzeugt Gleiches. Der Geift des Erziehers
iſt e8 darum, durch welden die Schuldisciplin allein wahrhaft pädagogiſch
auf den Zögling wirken kann. Die allgemeinfte Norm des Erziehungsgeijtes
tft Das eigene Yeben des Erziehers, das erfte und allgemeinite Mittel
ver Schuldisciplin daher die beifpielgebenvde Perſönlichkeit des Lehrers;
denn im ihr liegen die Yeitjterne aller Zucht, nämlid Autorität und Piebe
beichlofien, fie allein vermag durch das lehrende Wort, den Unterricht, zu
überzeugen. Ohne dieſe in der Perlönlichkeit des Lehrers begründeten Bor:
ausſetzungen würden die Übrigen Tisciplinarmittel, welche wir die befonderen
nennen wollen, geringe Wirkung haben. Zu diefen gehören: 1) Berbütung,
2) Aufſicht, 3) Gewöhnung, 4) Beihäftigung, 5) Gebot und Vor-
ihrift, 6) Belohnung und 7) Strafe.
Die wunderbare Macht des Beiſpiels, welde ſchon die Pädagogen der
ülteften Völker erlannten, beruht auf der Kräftigkeit des Nachahmungs- und
Ehrtriebes. Das Kind ſucht es andern gleich zu thun. Darum kommt Alles
darauf an, daß ihm nur das Gute und Nahabmungswürdige entgegentrete,
zumal daffelbe noch fein jo fittlih ansgebilveres Urtheil befitt, um Gutes
und Böjes immer unterjcheiden zu können. Die negative Wirkung des böjen
Beiſpiels kann deshalb verwirren, und wollte der Erzieher aud jagen: Halte
dich nad) meinen Worten und nicht nach meinen Werfen —, fo wird es metjt
ih bewahrheiten, daft „Worte bewegen“, aber „Beijpiele binreigen“. Vom
Lehrer als Disciplinator muß deshalb verlangt werden, daß er au jeine Perjon
die ftrengiten Forderungen jtelle, um pofitiv zu wirken. Gr muß fi bemühen,
jeinen Schülern nad jeder Seite als ein Ideal zu erfheinen. Denn wie
der Yehrer, jo die Schule. „Will der Lehrer in feiner Schule eine gute
Yebensorbuung jchaffen, jo muß er fie an ſich felbit darſtellen; will er bei
jeinen Schülern Charakterbildung anftreben, muß er ſelbſt ein Charakter jein.
Er muß das jein, was feine Schüler werden jollen; er muß die Tugenden
vorleben, denen jeine Schüler nahleben ſollen.“ (Kebr.) Wie der
Lehrer, jo die Schüler. Iſt er freundlich und höflich, jo ſind's auch feine
* Der erziebende Lehrer darf nicht denken, was außerhalb der Schule vorgebt, das
gehe ibn nichts an, Sein wäterliches Gerz muß ibn treiben, fchlimme Vorkommniſſe vor
das Forum der Schufe zu zieben. Bei rein polizeilichen VBerfehlungen wird er ſich indes
nicht obme weiteres zum &erichtädiener berzuneben baben; doc erfordert es micht
jelten die Ehre der Schule, davon weniaftens Kenntnin zu nebmen, um einer Miederlebr
entgegenarbeiten zu können,
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Schüler ; ift er finfter und bart, jo find feine Schüler troßig und roh; ift
er pünktlich und rechtzeitig in feiner Claffe, jo kommen feine Schüler nicht
zu ſpät; ift er reinlich und anſtändig gekleidet, jo werben feine Schüler eben
darnach trachten ; ift er fleißig, trem und hingebend in jeiner Berufsarbeit, je
hat er fiher aufmerkjame und fleigige Schüler. Darum beift es, mit Auf:
btetung aller Willenstraft Selbftbeherrihung und Selbſtzucht zu üben
und fih zum Meifter über ſich jelbjt zu machen. Denn nur dann ver:
mag der Lehrer jich frei zu machen won den Untugenden der Trägheit und
Fälligkeit, Unentichloffenheit und Muthloſigkeit, Zornmütbigfeit und Partei:
lichfeit, von mürriſcher Laune und Miftrauen, nur dann vermag er fi zu
wappnen mit allen fittlihen Iugenden, mit Gotteöfurdt, Gewiſſenhaftigkeit,
Keuſchheit, mit Geduld, dieſem goldnen Gefäß, das einen gar künſtlichen Dedel
bat und nie überläuft; mit Feſtigkeit, die das wohlüberlegte Wort nie wider:
ruft und ben vorher bedachten Plan nie aus geringfügigen Gründen abändert;
mit Umſicht, die mit hellem Auge den Kreis der Thätigfeit beherrſcht; mit
Ruhe, die nie eilt, und mit Eile, die nie rubt; mit Klarheit, dieſer Leuchte
auf dem Unterrichtswege ; mit Wahrheit in Wort und That, und mit Gerech—
tigkeit, der unbeitechlihen Richterin. Beſonders find es die vier Garbinal-
tugenden der Wachſamkeit, Weisheit, Geredtigfeit und Feſtigkeit,
ohne deren Bejit es dem Yehrer jchwerlich gelingen dürfte, eine gute Discıplin
herzuftellen umd den Zögling an ibm jelbjt empor zu ziehen.
Da die Schüler alle Beariffe von Vollkommenheit im Lehrer, ver ihr
Ideal ift und jein ſoll, verförpert jehen wollen, jo hüte er fi ja, „Eins
diefer Kleinen zu ärgern”. Er wade über fich, über fein Herz, daß fein
unreiner Gedanke darinnen Wohnung nehme, behüte feine Pippen, daß fein
unwahres oder umfittlihes Wort über dieſe Schwelle trete, bewahre feinen
Fuß, daß er nicht auf unrechten Wegen wandle, feine Hände, daß fie nicht
ihleht handeln, und fein Aeußeres, daß es weder dem Fluch des Yächerlichen,
noch der Mißachtung verfalle.e Nie jollten Zweifel über den fittlihen Werth
des Vehrers im zarten Kinderherz fich regen, nie aber auch fein guter Ruf
im Bolfe Schaden leiden, da die Liebe umd Achtung, oder der Haft und bie
Geringſchätzung, die ihm im öffentlichen und häuslichen Yeben zu Theil werden,
ihre Pichter oder Schatten bis in die Schule hinein werfen. Die Wachſam—
feit des Vehrers muß aber auc auf jeine Schüler gerichtet fein. Zu dieſem
Behufe bat der Pehrer Stellung oder Sitz vor der ganzen Elaffe zu nehmen,
um fie jtets im Ange zu haben. Das Herumwandeln taugt nichts, Er joll
jehen und bören, wie die Schüler äußerlich fid) halten, was fie reven, thun
und treiben, ja er muß ihnen ins Herz ſchauen und zu erfahren fuchen, ob
fie und was fie denfen und wollen, da er fie dann von innen heraus für bie
geiftige Mitarbeit gewinnen kanu. Ex darf nicht wachen bloß mit dem Polizei:
auge, mit dem Auge des Geſetzes, jondern aud mit vem Auge der Liebe,
das die Schüler vor allem Böjen zu behüten und in allem Guten zu be
wahren bat und alle Urjaden und Umftände, welche aufer den Kindern
liegen, aber Störungen der fittlihen Yebensorpnung berbeiführen könnten,
zu bejeitigen oder unſchädlich zu machen ſucht. Wenn darum die hausbadene
Erziehungstunft gar häufig in dem Satze gipfelt: „Man muß die Augen zu:
machen und dreinichlagen“, jo gilt für fven Pehrer ver umgefehrte: „Die
Augen aufmachen und das Dreinjchlagen verhüten.“ Solde Wachſamkeit
geht aus der Weisheit und Bejonnenheit hervor, welche Ziel und Aufgabe
Har ins Auge faßt und ftets im Auge behält und zur Erreichung derjelben
die rechten Mittel anwendet und die richtigen Wege einſchlägt. Das führt
uns zur dritten Gardinaltugend, zur Geredtigfeit, welche den rechten Weg
darin erkennt, vom Schüler nur zu fordern, was jeinen Kräften entjpricht
und jeine Handlungen nur nach ihrem inneren Werth zu beurtheilen, vie
Thaten nur nad) der Gefinnung, der fie entſprungen find, zu lohnen oder zu
trafen. Hiezu kommt endlid die Feitigfeit oder Conſequenz, d. i. die
geiftige und fittliche Kraft, welche alle edlen Ziele entſchieden und ausdauernd
verfolgt, unbefümmert um das Wohlgefallen oder Miffallen der Menge.
Wo alle die genannten Tugenden ſich in des Yehrers Perjon vereinigen,
da wird durch biejelbe ver Schüler mächtig angetrieben, jeine Begehrungen
und feinen Cigenwillen zu unterdrüden und aufzugeben und fih dem Wunſch
und Willen des Yehrers unterzuorpnen. Das, was den Schüler hiezu aber
jo eruſtlich antreibt, iſt die gefühlte überlegene Macht des jtärferen Geiftes
und Das daraus rejultirende unbegrenzte Bertrauen, die Autorität des
Lehrers. Dieje Perle in feinem Schmud, diefen Zauberftab für Zucht und
Orpnung, der das Böje mühelos entwaffnet, kann jich der Yehrer nicht geben,
er muß Autorität haben; fie ift micht die Frucht eines äußerlichen Strebens,
jondern folgt aus der innern Würde und Hoheit, der ſich die Jugend ganz
von ſelbſt unterwirft.
Es iſt aber nod) ein anderes Etwas, das der beijpielgebenden Yehrer-
perjönlichleit entjpringt, das der Autorität ergänzend zur Seite tritt und ben
Schüler mit wunderbar geheinmißvoller Macht bejtimmt, den Willen des Lehrers
mit aller Freudiglkeit zu erfüllen. Es ift das lebhafte Streben des Schülers
nad innerer Einheit mit dem Yehrer, die Yiebe zu ihm. Dieje Yiebe kommt
nicht von ohngefähr, fie muß erworben werden dur die herablajjende und
heraufziehende Liebe des Vehrers zum Schüler ; denn nur ſolche Yiebe erzeugt
Gegenliebe. Autorität und Liebe aber müſſen ſich in der Perſon des Yehrers jters
begegnen, wie fie durd) Vater und Mutter fih in der Familie ergänzen. Da
num die Yehrer- und Schülerindividualitäten jehr verſchieden find, Die Wurzeln
und Triebfräfte von Autorität und Liebe aber im Familienleben liegen, jo
bat die Autorität wie die Liebe des Yehrers gewiffe Grenzen. Ya, fie können
jeitweife jogar Unterbrehungen erleiden und aufhören, und ift daher ein weiteres
Mittel nöthig, durd welches die Perfünlichleit des Vehrers überzeugend
auf den Schüler zu wirken vermag, der Unterricht. Der Unterricht foll die
Einficht vermitteln, welche den Schüler in Stand jet, aus freier Ueber-
zeugung jelbitjtändig das zu thum, wozu ihn die Zucht anhält, oder was ber
Lehrer durch jein Beijpiel ihm vorgemacht hat. Wenn der Unterricht dieſem
Ziele zuftreben will, jo handelt es ji) weniger um Mittheilung eines bloßen
Wiſſens, als um Einpflanzung eines jolhen Maßes von fittlihen Ideen, daß
durd fie der Schüler zum Wollen und Thun des Guten getrieben wird.
Nun bildet ein folder Unterricht zunächſt die Intelligenz, weil er an den
verſchiedenen Lehrjtoffen das Denken lehrt, jo daß der Schüler die Dinge
und Berhältniffe, die ihm umgeben, in ihrem wahren Werthe abwägen und
beurtheilen lernt. Dieſes Abwägen und Urtheilen ift allerdings noch nicht
Sittlichfeit, aber die Klarheit des Denkens, die zwingende Macht der Schlüſſe
wird zur Zucht der Wahrheit, welde den Schüler befähigt, im Sittlichen
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far zu jeben. Dieſer Unterricht bilvet ven Gedanfenfreis als ein Ganzes,
läutert und verebelt durch Vorführung reiner Bilder die Fantajie und das
Gefühl und erzieht, indem er des Schillers Gedanken um beftimmte Dinge
fammelt und veffen Imtereffe jo in Anſpruch nimmt, daß er mit Lebendigkeit
die Eindrüde aufnimmt und verarbeitet: zur Aufmerfjamfeit. Da bier-
nad) der Unterricht durch alljeitige Uebung ver Kräfte die Selbftthätigkeit des
Schülers anregt und damit die Selbſtſtändigkeit des Charakters, und zwar
des fittlichen, der ſtets nach freier Entſchließung fittlid handelt, anbahnt, die
Schuldisciplin aber dafjelbe Ziel nur durch dem Unterricht erreichen kaun,
ohne ihn zur Dreſſur wird: jo ift der erziehende Unterricht (demm nur
von ſolchem jpreden wir) im der That das wichtigſte Mittel, das dem
Vehrer zur Erreihung einer guten Disciplin zu Gebote fteht. Freilich kommt
wieder alles darauf an, wie ſich die Perſönlichkeit des Lehrers auf diejem
Gebiete geltend macht. Der Ernit, die Treue und Gemiljenhaftigfeit, womit
der Yehrer feiner Unterrichtsarbeit nachlommt, dann die eifrige und doch ge-
duldige Bemühung zur Förderung der Kinder kann dieſen gegemüber wicht
ohne fittlihe Wirkung bleiben. Die vor den Augen der Schüler ſich voll-
ziehende Yehrerarbeit ift ein Stüd Yeben, eine fortgehende That, welde vie
Schüler mit Achtung erfüllen muß. Umgekehrt wird der Mangel an Ernft und
Treue, werben Oberflächlichfeit oder Ungepuld von Seiten des Yehrers ihm die
Herzen jeiner Schüler entfremden und gleiche Läſſigkeit bei denjelben hervorrufen.
Wie ſchon oben angedeutet, bedarf die Schuldisciplin noch bejomderer
Mitte. Da beim Schulfinde die Erfenntniß, welche das Wollen des Rechten
erzeugt, ſich ſehr häufig noch nicht worfindet, jo hat der Yehrer zu verhüten,
daß durch Anjehung des Böjen oder durch die Befriedigung jeder Begierde
bei dem Schüler ein verfehrtes Wollen entjtehe, daß die Untugend ſich feit-
jege oder daß er irgend Schaden leide. Die Verhütung und Bewahrung wird
vornehmlich durd die Aufjicht bewirkt, welder jchon bei der Wachſamleit
des Yehrers Erwähnung geſchah und worauf bier nur zuräüdgewiejen wird.
Die negative Wirkung der Verhütung, das VBerhindern der Befriedigung
der böjen Triebe, Neigungen und Begierden ift aber unzureichend. Es müſſen
auch Anläffe zur Erregung der beffern Triebe und zu deren öfteren Befrie-
Digung geboten werden. Dieje Uebung im Guten, welche viejelben Boritel-
Iungsreihen wiederholt bewegt, ift die Gewöhnung. Sie will das Gute im
Gedanfenfreis zur Herrſchaft und im der Handlung bis zur Fertigkeit, d. i.
bis zur Öewohnheit bringen. Inſofern ijt alle Erziehung nichts anderes
als Gewöhnung. Wir jprechen daher auch in der Disciplin von der phyſiſchen,
gejelligen und jittlihen Gewöhnung. Gewohnheit ift eine Macht, deren folgen
durch das ganze Yeben reihen. Yung gewohnt, alt gethan. Beſonders wichtig
ift die Gemöhnung an regelmäßige Beihäftigung, die einem körperlichen
und geiftigen. Bedürfniß zugleid entgegenfommt. Wo die Beichäftigung fehlt,
entjteht Langeweile, da treten böje Neigungen auf, welche unterdrüdt werben,
jobald der Thätigfeitötrieb richtig geleitet wird. Hiezu bietet zumächft ver
Unterricht und die damit verbundene Uebung die erjte und bejte Gelegen-
heit, welche ji durch manche dabei und dazwiſchen zu bejorgenvde Fleine Ge
ſchäfte, eingeftreute Spiele und Yeibesübungen mehrt. Die andauernde Ge—
wöhnung an Beſchäftigung entwidelt aber nah und nad im Schüler einen
nüchternen Zinn und einen bejonnenen Öeijt, welcher die Arbeit als Yebens-
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bedürfniß erfenut und fühlt und vor den Falljtriden bewahrt, im melde
ber Müſſiggang ſtürzen kann.
Wenn die Disciplinarmittel mehr oder minder dazu dienen jollen, den
Schüler dem Willen des Lehrers unterzuordnen, jo it es doch auch nöthig,
daß dieſer Wille jenem. befannt werde. Nun erfolgt die Willensfundgabe von
Seite des Lehrers zwar jchon. durch deſſen VBorleben und Beijpiel, fowie durch
jeine Yehre. Auch in Norm eines Wunſches oder Urtheild vermag er dem
Schüler jeinen Willen merken laſſen; am entjchiedenjten gejchieht es jedoch
durh Gebot und Vorſchrift, welche als Mittel der Disciplin gar wicht
entbehrlich find. Das Gebot, mweldes pofitiv jagt, was das Verbot negativ
ausdrückt, bezieht ji auf einen einzelnen Schüler und al, während bie
Vorjchrift allgemeiner Natur iſt und einem Jeden in dem Ganzen gilt, das
Ganze berückſichtigt. Wie Gebot und Verbot im einzelnen Fall bejchaffen
jein follen, ift vorher nicht zu beſtimmen und daher dem päbagogijchen Tafte
des Lehrers zu überlafjen. Im Allgemeinen hingegen läßt ſich gar wohl
jagen, daß fie den pädagogiſchen Grundgeſetzen, dem Schulzwed, der Yubivi-
dualität des Schülers umd feinen Verhältniſſen entſprechen, aljo weije und
beredtigt jein müjjen, jowie fie zweitens dem Schüler klar und deutlich
zu machen haben, was er zu thun und zu laſſen hat. Wird hiedurch jede
Ausrede abgejchnitten, jo benimmt ein furzes und beftimmtes Gebot, das
duch Ton, Blid und Miene verftärft werden kann, jeden Zweifel, ob ihm
gehorcht werden joll oder nicht. Selten verfehlt es jeine Wirkung, wenn es
jparjam gebraucht wird, d. h. wenn es nicht zu häufig auftritt und micht zu
viel auf einmal verbietet, jo daß dem Schüler immer noch Gelegenheit zur
freiwilligen Bethätigung des Guten bleibt. — Alle dieſe Forderungen gelten
au für die das gejammte Schulleben betreffenden allgemeinen Disci-
plinarvorjdriften, welde vielfach auch mit dem zweideutigen Namen „Schul-
gejege“ *) benannt werben. Weber den Werth oder Unwerth verjelben, mehr
aber um die Form als die Sache, ift ſchon viel hin und ber geftritten worben.
Während die Einen gejchriebene oder göbrudte Disciplinarfagungen für
wünjchenswerth, ja jogar für nothwendig halten, jagen die Andern, daß die
Perſönlichkeit des Yehrers und jein lebensfrifhes Wort jene völlig
überflüffig machen müſſen, wo aber vie perjünlihe Darftellung des Geſetzes
fehle, weder gejchriebene noch gebrudte Disciplinarvorichriften etwas: nützen. —
In ſolchen Schulen nun, in denen von nur einem Vehrer die ganze Disciplin
abhängt, in denen Unterricht und Diseiplin von einer Perfon ausgehen, aljo
in den Volksſchulen und Vorſchulen der höheren Yehranftalten, muß die Ord-
nung und Disciplin im Yehrer realifirt jein. Hier find darum. gebrudte
oder gejchriebene Gejege unnöthig, ja jogar nachtheilig. Im höheren Schulen
dagegen, an denen verjchievene Lehrer an einer Claſſe thätig find, in. welchen
auch reifere Schüler fi befinden, bei denen der perjünlide Gehorfam gegen
*) „Schulgeſetze“ im Sinne der Disciplinarvorichriften, Satzungen, Statuten,
nennt man die von dem. Lehrercollegium feſtgeſetzten Beftimmungen, nach welchen die
Schüler ber betreffenden Schule ihr Berbalten einzurichten baben; cbenjo die mündlich
gegebenen Befeble eines Yebrers, die allen Schülern gelten. — „Schulgeſetze“
find aber auch die von den gejeßgebenden Factoren eines Staates vereinbarten Be—
ftimmungen über die Redtöverbältniffe der Schulen, Lehrer, Schulgemeinden ꝛc. Yebtere
fommen bier nicht in Betracht.
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die Autorität des Yehrers zum Gehorjam gegen das dem Schüler in irgend
einer äußern Form entgegentretende Geſetz ſich entwickeln joll: im jolcen
Schulen jind bejtimmte Disciplinarjagungen jehr geeignet, die Disciplinar-
zwede zu fördern, da fie den Schülern einen gejeglihen Sinn eingewöhnen,
der jie vor jittlihen Berirrungen bewahrt, da fie auch von den Yehrern als
eine über ihnen ftehende, die Einheit berjtellende Gewalt anerkannt werden
und jelbjt von den Eltern zu beachten find. Noch immer dürfte hervorzu-
heben jein, daß ein ſolches Disciplinargejeg möglichjt wenige, nur auf das
Schulleben bezüglihe Beftimmungen in möglichſt anſchaulicher und verjtänd-
licher Form („Du ſollſt!“) enthalten, daß es durch Borlejen am Anfang
eines jeden Semejters den Schülern befannt gegeben, vejp. in Erinnerung ge-
bracht und darauf gejehen werben jolle, daß die Schulorpnung nad und nad)
zur fejten Sitte werde, an welde die Neneintretenden mehr durch das Bei-
jptel der älteren Schüler, als durch die Furcht vor dem Geſetz gewöhnt werben.
Wenn der finnlihe Hang des Schülers den Inhalt des ihm gegebenen
Gebotes oder Gejeges verbunfelt, dann wird es nöthig, den Schüler zu reizen,
fi über jeine Neigungen und Begierben zu erheben umd ihn für treue Pflict-
erfüllung zu erwärmen. Dies fann durd die jtufenmäßige Anwendung eines
pojitiven Disciplinarmittels, durch die Belohnung gejheben. Wirkt ſchon
eine freundliche Miene, ein liebevoller Blid oder Winf anregend auf Herz
und Gemüth fleiner wie großer Kinder, jo jteigert ih die Wirkung be
deutend, wenn ber Lehrer jeine Zufriedenheit mit dem bisherigen Verhalten
in Worten ausſpricht, aljo Lob jpendet, oder zugleih die freundliche Zu—
muthung macht, den betretenen Weg auch in Zukunft einzuhalten, d. h. eine
Ermunterung gibt. Lob wie Ermunterung müfjen in wenige, kurze Worte
gefaßt jein und dürfen wegen der aus der Gewohnheit folgenden Abſchwächung
nicht zu häufig gebraucht werden. Thut fih eim Schüler durch die Soli-
dität jeined Verhaltens und Fleißes unter jeinen Mitſchülern bejonders ber-
vor, jo laun der Yehrer das Yob zur Ehrenbezeugung fteigern, wobei er
aber jehr vorfichtig jein muß, damit die am fidy zu billigende Befriedigung
des Ehrtriebes nicht ſchädlich werde, die Ehrliebe ſich nicht in Selbſtgefällig—
keit, Ehrſucht und Ehrgeiz verkehre. Dies ift beionders bei der Anweijung
von Ehrenpläßgen (Clafjen- und Bank-Erſte) und bei der Webertragung von
Ehrenämtern (Monitoren, Helfer) zu beachten. Hiebei gejchieht auch der
Yocation Erwähnung. Die Yocation, oder die Placirung der Schüler nad)
der Yeiftung, welche gegenwärtig noch in den meiſten niedern Schulen üblich
iſt, hat auch zahlreiche Gegner. Dieſelben ſagen, es ſei unrecht, die meiſt auf
der Begabung beruhende Leiſtung zum Maßſtab des Schülerwerthes zu machen
und nicht auch Fleiß und Verhalten auf die Rangordnung beſtimmend wirken
zu laſſen. Da die gerechte Durchführung auf viele Hinderniſſe ſtoße, ſo thue
man beſſer, von dieſer Locationsweiſe abzuſehen, dagegen innerhalb der Claſſen
nach dem Alter oder Alphabet zu lociren. Die Freunde der erſteren Art
hinwieder bezeichnen die Location nach der Leiſtung als eine äußerſt praktiſche,
das Streben und den Eifer anregende und die Rangordnung des Lebeus, in
welcher auch der Tüchtigſte den erſten Platz erhalte, gut vorbildende Maß—
regel. Da es nun aber ſicher keinem Zweifel unterliegt, daß kurzſichtige,
ſchwerhörige, plauderhafte Kinder ꝛc. nahe dem Lehrer, die größeren Schüler
nach hinten zu ſetzen, die würdigſten zu Bank- und Claſſen-Erſten zu machen
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find, jo ift eine reine und vollftändige Yocirung nad) der Yeiftung ſchwer aus—
zuführen. Wo aber nady diefem Princip gehandelt wird, hüte man fi vor zu
häufigem Platzwechſel, da derjelbe der Ordnung Eintrag thut. Dies gilt aud)
von dem jogenannten Certiren, welches pädagogiſch auch deswegen nicht zu
rechtfertigen it, weil die Schägung und Ehrung der Schülerperjönlichfeit nad)
einer Leiſtung in einem einzelnen Fache eine höchſt einjeitige, wechſelreiche und
zugleich ungerechte werben kann.
Endlid wäre der eigentlihen Belohnung zu gebenfen, die in Haus
und Schule, bejonders aber in Inftituten eine zu häufige und oft unzwedmäßige
Anwendung findet. Dit fie bei Heinen und ſchwachbegabten Schülern eine ge-
wiß zuläjlige Reizung der geringen Kraft, jo wirkt fie hingegen bei eigen-
finnigen und faulen Kindern in der Regel nachtheilig, da dieje nur ber Ge—
ichente halben geboren und fleißig werben. Sollen aber Belohnungen, die
auf alle Fälle mit der zunehmenden Entwidlung der Kinder fi verändern
und jeltener werben müſſen, der Sittlichkeit nicht hinderlich werden, jo dürfen fie
nicht Zwed, jondern die Folge guter Handlungen jein; and ſoll nicht ihr
materieller Werth die Lohuſucht erregen, fondern die Geſinnung des Gebers
dem Schüler freude bereiten. Darum it auch die jejuitiihe Pädagogik,
welche Prämien und WPreife zum Zwechk der Pflichterfüllung ftempelte, und
durch die Art ihrer Bertheilung den Hochmuth und Egoismus in maßlojer
Weiſe förderte, Dagegen die Tugend eben jo jehr verumreinigte, ganz ver-
werflih. Wenn dagegen zur Anerlennung des Fleißes und guten Verhaltens
einzelnen Schülern ein geeignetes Lernmittel geſchenkt, der Claſſe zu gewiſſen
Zeitabſchlüſſen (Ende des Schultages oder der Woche) eine Geſchichte erzählt
oder ein Spiel gelernt, oder mit ihr hie und da ein Spaziergang gemacht
wird, jo iſt eine joldhe Belohnung gewiß von guter Wirkung und beshalb
nur zu billigen. Tie allgemein giltige Negel für die richtige Anwendung
ver Belohnung: Belohne jelten, mäßia, pajjend und gerecht — darf
natürlih auch bier nicht außer Acht gelaffen werben.
Der Belohnung als pofitives Disciplinarmittel fteht eim negatives, die
Strafe, gegenüber. Wenn weder die Autorität des Lehrers, nod die Yiebe
zu ibm, nody die Ueberzeugung beim Kinde die Unterorbung feines Willens
unter den des Lehrers vermögen, jo muß es durd die Strafe erfahren, daß
ſich der Yehrer den Gehorſam auch zu erzwingen vermag. Die Strafe ift
aljo die Reaction gegen den Ungehorſam, gegen das Böje überhaupt. Dieſe
Reaction geftaltet fi) aber anders auf dem Nechtögebiet des Staates als in
ver Schule. Dort wird die Strafe ald Sühne betradhtet, melde Bedeutung
ihr in der Erziehung nicht zukommt, wiewohl das Moment der Sühne auch
in ber pädagogiihen Strafe erſcheint. Denn ift das Gewiflen des Kindes
erwacht, jo fordert es jelbjt eine Sühne; ift dies nicht der Fall, jo wird durch bie
Strafe das Bewußtſein im Rinde rege, daß jein Wille fi der Vernunft, dem
göttlichen Willen unterwerfen müſſe. Im diefer Anerkennung der ewig giltigen
Bernunft liegt die Berföhnung des Kindes mit den objectiven Mächten. Soll der
purd die Strafe bewirkte Schmerz ein gejegliches Verhalten bewirken, jo iſt fie
ein Abjhredungsmittel,, Der eigentlihe Zwed ver pädagogiſchen Strafe
muß aber die Bejjerung jein. Zunächſt freilich bezwedt fie nichts anderes,
als dem Kinde den vergejlenen Inhalt des Gebots und Verbots oder der Vor—
ihrift ind Bewußtjein zurückzurufen, dadurch aber jein Gewiſſen zu weden und
Böhm, Die Lehre v. d. Schuldiseiplin. 2
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es an feine Pflicht zu erinnern. Von dem durch die Strafe wieder ind Ge—
dächtniß gerufenen Inhalte des Gebots und dem dadurch aufs Neue erwachten
Pflichtgefühl geht darum erft die Befjerung aus, während die Strafe an fid
nur ein gejegliches, wicht aber ein ſelbſtbewußtes, fittlihes Handeln bewirkt.
Die Strafe, die fih der Art des Fehlers möglichſt genau anzuſchließen
hat, entzieht dem Kinde entweder ein Gut, d. h. Beſitz, Genuß, Ehre, oder
fügt ihm ein Uebel zu durch Beihämung, phyſiſchen Zwang oder finnlicen
Schmerz. Daraus ergeben fi die verfchiedenen Arten der Strafen, als
Ehren-, Freiheits- und förperlide Strafen. Wird dem Kinde ;. B.,
das ſich gerne des Beifalld guter Menſchen erfreut, der des Lehrers entzogen,
es von ihm dagegen getabelt, jo fühlt es ſich beſchämt und gejtraft am jeiner
Ehre, befonders wenn dies vor der ganzen Claſſe geſchieht. Die in der Kegel
verhängten Ehrenftrafen, wie Stehenlaffen am Plage, an der Thür, im ver
Ede, Alleinfigen, Entziehung eines Ehrenplages ꝛc., find für die Schüler meift
gelinder als die Freiheitsftrafen, da bei Kindern das Ehrgefühl dem Freiheits—
gefühl noch nicht die Wage hält. Der Bewegungstrieb ift im Schüleralter
fo mächtig, daß die Freiheit der Bewegung als ein hohes Gut gefühlt, ihre
Entziehung als ein großes Uebel empfunden wird. Die Schuldisciplin bringt
meift das Nacerbeiten zu Haufe oder im Schulzimmer, Schulzimmerarreft,
Ausſchluß von Spaziergängen x. in Anwendung und zwar entweder gegen
faule Schüler, oder foldhe, welche die Freiheit durch Streitfucht und Drbnunge
wibrigfeiten auf dem Schulwege mißbrauchen ꝛc. Die förperliden Strafen,
welche in der Schulvisciplin früherer Zeiten eine leider viel zu bedeutende Rolle
fpielten, find nad dem Auftreten Rouſſeau's und der Philanthropiften oft
gänzlich verurtheilt worden. Im der That muß eim tüchtiger Yehrer den
meiften Schülern gegenüber die körperliche Strafe entbehren können; dagegen
müſſen den Ausnahmen gegenüber, bei welchen entweder die Erziehumgsfehler dee
Haufes nachwirfen und ſchlimme Neigungen zu Tage fördern, oder das täglich
umwogende Peben zu auffallenden Ausfchreitungen verlodt, energifche Strafen
und nöthigenfalls auch förperliche Züchtigung Anwendung finden dürfen. Ale
Beitrebungen, dieſes Zuchtmittel der Schule gänzlich zu entziehen, beruhen auf
Unfenntni der Entwidlungsverbältniffe der Jugend, find nur Beweiſe falſcher
Humanität, die nicht der Kinder Beſtes fucht, oder Ausflüffe der Selbſtſucht,
welche jede Fleine Unannehmilichkeit vermieden wiſſen will, ohne zu bebenfen,
daß daraus fpäter größere entjtehen. Freilich muß won dem Pehrer erwartet
werden, daß er bei der Förperliden Züchtigung vorſichtig, maßvoll und
human zu Werke gehe, daß er alle Strafarten ımterlaffe, welche gegen die
wahre Menjclichkeit verftoßen (Obrfeigen, Maultaſchen, Stoßen, Aneinander:
jtoßen der Köpfe ꝛc.) und mehr im einen ruffifchen oder türkiſchen Straffoder
gefucht werden. Die körperliche Züchtigung wird im niederen Claffen, deren
Schüler noch zu fehr von finnlichen Eindrücken beherrſcht werden, häufiger An-
wendung finden dürfen, als in oberen Clafien, wo fie durch andere Mittel und
Strafen zwedmäßig erjegt werden kann umd muß. Der ftrafende Yehrer bat
da immer aufzufchauen und zu erwägen, wen er vor fid) hat.
Jede vernünftige pädagogifche Strafe hat ſich aber nicht bloß der Art,
jondern auch dem Grade des Vergehens anzufchließen. Das Schulleben bat
nun in der Beftrafung beftimmte Steigerungsarade ans Licht gebradt,
nämlich die Strafen mit Geberden, Worten und mit der That. it ein
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Schüler unahtfam, nachläſſig, zeritreut, fo genügt, wenn die Kinder gewöhnt
find, die Augen auf den Yehrer gerichtet zu haben, ein Blid, eine Miene,
ein Winf, eine kurze Stille, ein leichtes Klopfen ꝛc., erjteren an feine Pflicht
zu erinnern. Iſt das Geberdenfpiel erjchöpft, jo tritt das Wort ein, indem
man den Namen des Schüler an die Wandtafel jchreibt, oder ihn laut
ausſpricht. Yaffen die Schüler die richtige Haltung aus dem Auge, jo ges
nügen die kurzen Worte: „Hände!*, „Füße!“, melde ſtets eine Erinne-
rung jind, um des Schülers befjeres Ich zu wecken. Mit ernjter VBorftellung
juht dann die Ermahnung zum Guten zu bewegen und die Abmahnung
vom Böfen abzuhalten. Die Warnung macht auf die fchlimmen Folgen auf:
merkſam, welche eine Nichtbeachtung der Gebote nach ſich ziehen könnte, während
die Drohung dieſe ımangenehmen Folgen in fichere Ausfiht jtellt. Die
Drohung kann ſich erfüllen im Tadel, der das Fehlerhafte und Unziemliche
in dem Berhalten des Schillers ins Licht ftellt, im der Rüge oder im Ber-
weis, melde das Unpaffende und Unrechte in feinem Betragen ihm in nod)
beftimmteren Worten vorhalten. — Alle Strafen des Wortes find fteigerungs-
fähig, jofern fie nämlid unter vier Augen, vor allen Mitſchülern, vom Lehrer
allein, vom Schulvorſtand oder vor dem gejammten Yehrercolleginm ausge:
jprodhen werden fünnen. Eine Steigerung bis zu Schelt- und Schimpfworten
it damit aber nicht gemeint. Der rechtzeitige Gebrauch eines entjprechenden
Kraftausprudes joll zwar nicht abfolut verworfen, dabei aber doch größte Vor—
jiht empfohlen werden, da durd derartige Zungenjchläge der Lehrer nicht mur
leicht verlegt, jondern auch jeine Worte ſelbſt entwerthet, fi lächerlich oder
gar verächtlich macht. — Fruchten ftrafende Worte nicht, jo folgt die That.
Die mildefte Beftrafung mit der That dürfte das Aufftehen und Stehen-
bleibenlajjen auf dem Plage fein, das z. B. bei Plaudern und Unacht—
jamfeit angewendet wäre. Das Stehenlaſſen aufer der Bank iſt unbe-
quemer, daher eine Steigerung, bejonderd wenn auf ſtramme Haltung des
Stehenden gejehen wird. Bei Unverträglihen, Unreinlihen und Gewohnbeits-
Ibwägern iſt das Alleinfigen auf einige oder längere Zeit von guter Wirkung.
Einer eigentlihen Strafbant fünnen wir das Wort nicht reden, weil jie uns
zu züchtlingsmäßig vorfommt. Die Einzeichnung eines Tadel ꝛc. in regelmäßig
den Eltern zur Sicht zu bringenden Cenſurbüchlein wird vielfadh mit Erfolg
als Strafe angewendet. Häufiger wird das Nachſitzen verordnet und
empfiehlt jih, wenn der Schüler entweder die Schulzeit jelbjt oder die häus—
lie Vorbereitungszeit nicht treulic angewendet hat, bei mangelhaften Yeijtungen
im Memoriren, in jchriftlihen Arbeiten, aber aud, wie ſchon erwähnt, wegen
vorgefommener Unarten auf dem Schulwege. Ueber eine Stunde jollte das
Nachſitzen nie dauern, audy nicht über die Eſſenszeit, wenigſtens nicht in jolden
Schulen, die ihre Schüler täglich zum elterlichen Tiſch entlaffen. Am zweck—
mäßigften werden die Nachjiger zweifellos vom Lehrer ſelbſt beaufjichtigt und
beichäftigt. Auch thut er jehr wohl, wenn es möglich, die Eltern oder Pfleger
der Schüler von deren Zurüdbehaltung in der Schule in Ktenntniß zu jegen.
Iſt das Nachfigen durch Trägheit, Flüchtigkeit und Ungewifjenhaftigfeit in der
Arbeit veranlaft, jo lafje man nicht loder, bis der Schüler ſie nad der Schule
ganz ordentlich gefertigt hat. Solche Arbeit ift ein Segen. Hat der Schüler
ein Wort falſch gejchrieben, jo mag er es ſechs bis zwölf Mal richtig jchreiben.
Solche Strajarbeit ift zu billigen und hat einen Sinn, dagegen die Arbeit will-
2%
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fürlib als Strafe für andere Berfehlungen gebrauchen, ift eine ſündliche Ent-
weihung derjelben. Das ſtrafmäßige Memoriren des 119. Plalms, eines jehr
langen Geſangbuchliedes, das 100Umalige Nieperichreiben eines Wortes over
Satzes hat pädagogiſcher Aberwitz erdacht. — Eine jehr empfindlibe Strafe
ift auch die Entziehung eines Ehrenamtes als Folge des Vertrauensmißbrauchs
oder schlechter Führung. Die energifchite Strafthat iſt die förperliche Züch—
tigung mit der Ruthe oder dem Stod. Sie ift oft mißbraucht worden, aber
wer ftraft, weil er liebt, und würde lieber nicht ftrafen, wenn ihn die Yiebe
nicht zwänge, der wird ſich die ultima ratio des Stodes nicht unbedingt ent-
winden lafjen.
Die verſchiedenen Strafgrade find geeignet, die verſchiedenſten Umnluftge:
fühle zu erzeugen, was ber Strafe eine hohe Bedeutung verleiht. Dabei
darf man ſich aber nicht der Meinung bingeben, daß die Anwendung ber
Strafen gerade im der oben angegebenen Reihenfolge geſchehen müſſe, daR
ein ftarfes Mittel erſt dann gebraucht werden bürfe, wenn alle vorhergehenden
ihwäceren ſchon in Benugung waren. Der Lehrer muß vielmehr jeden
einzelnen Fall beurtheilen und darnadı das entſprechende Etrafmittel, aud
wenn es ein ftarfes wäre, auswählen. Allein er darf nicht immer gleich das
jtärfjte Mittel anwenden, da er fonft bei der Wiederverfehlung des Schülers
die Strafe nicht fteigern fönnte. Reicht darum der Blid, jo jpare er das
Zeichen, genügt das Anfchreiben des Namens, fo nenne er ihn nicht laut, wirft
die Warnung, jo unterlaffe er das Droben, bilft der Verweis, jo verzichte er
auf jedes weitere Strafmitttel. Zugleich vergeffe er nie, daß die Strafmittel
eigentlih Heilmittel fein und zur Heilung dienen follen, daR fie aber feine
Unwerfahnittel find und daß daher neben der Natur und Art des Fehlers auch
die Natur des Schülers berüdfichtigt werden muß. Die Strafe iſt natür—
(ib und am wirkſamſten, wenn fie dem Schüler ald die natürliche Folge
jeines Thuns oder Laſſens erſcheint. Dies wird aber nur der Fall jein, wenn
die ruhige Ueberlegung und gerechte Erwägung fie beſtimmt bat
und wenn fie, obwohl empfindlich, mit Mäfigung ausgeführt wird,
In ſolchem Falle ift die Strafe vernünftig. Die vernünftige Strafe
erjcheint uns aber als ein der ftarfen und reinen Yiebe in die Hand gegebenes
unentbehrliches Disciplinarnuttel, um den jubjectiven Willen der böhern Ber:
nunft unterzuorpnen. Nur da, wo unverninftig, leivenfhaftlid und übermäßig
geftraft wird, tritt die Strafe in einen Gegentor zur Piebe und verfehlt ihre
gute Wirkung.
„Der Bater ftraft fein Kind und fühlet ſelbſt den Streich;
Die Härt' ift ein Berdienft, wenn Dir das Herz iſt weich.“
(Küldkert.)
IV. Von der Methode der Schuldisciplin.
Die Methode der Schuldisciplin hat eine theoretifhe und eime praf-
tifche Seite. Nach der erfteren ziehen wir die Momente der Methode
und die Grundfäge des methodiſchen Stufenganges im den Kreis
unjerer Ueberlegung, nad der anderen die praftiibe Handhabung oder
das Berfahren der Schuldiseiplin.
21
1. Theoretifher Theil.
Die Auswahl der Disciplinarmittel und die Reihenfolge, in der fie zur
Aufnahme kommen follen, bildet das erfte Moment der Methode, den Gang
der Disciplin. Im ange derſelben muß, objehon wir es mit einem zur Geiſtig—
Feit beftimmten Weſen zu thun haben, doch zuvörderft das natürliche Yeben
berücfichtigt, fein Träger, ver Schüler, jo weit möglich zur Einſicht in feine
natürlichen Bedürfniſſe und in die Art ihrer vernünftigen Befriedigung geführt
werden. Fällt diefe Aufgabe, welche wir die phyſiſche Gewöhnung nennen,
auch zumeift den Eltern zu, fo bat doch auch die Schule für das leibliche
Wohl ihrer Schiller nach Möglichkeit zu forgen, da von der gefunden Entwidlung
ver leiblichen Organe die der geiſtigen abbängig ft. — Der Aufenthalt und das
jelbftthätige Auftreten des Schülers in der Schulgemeinfchaft hält ferner Die
Forderung mit eingeichloffen, dar derſelbe ſich in die vechte Beziehung zum
Pehrer und feinen Mitſchülern, ſowie zur geſammten Schulgeſellſchaft jegen, das
rechte gejellige Verhalten beobachten, ſich ver gemeinſchaftlichen Intereſſen halben
in die Ordnung des Scyullebens überhaupt und fpeciell beim Unterricht einfügen
lerne. Die Anleitung zu ſolchem Berhalten nennen wir gefellige Gewöhnung.
Phyſiſche und gefellige Gewöhnung find nur Durchgangsſtufen. Der Schüler
ſoll nämlich ſchließlich dahin geführt werden, fein leibliches und gefelliges Yeben
nad der Idee des Wahren, Guten und Schönen jelbft zu beftimmen, damit
mit Hilfe eines durd den Unterricht gebildeten feften Gedankenkreiſes der fitt-
liche Charakter angebahnt werde. Dies ift die fittlide Gewöhnung, wo—
mit der Gang fein Ende erreicht.
Als das zweite Moment in der Methode der Disciplin erfcheint die Form,
oder die für die Aufnahme und Verarbeitung geeignete Geftaltung der Die-
ciplinarmittel. Sie fordert eine ftete Rückſichtnahme auf den Entwidlungsftand
und die Individualität, befonders auf das Seelenleben des Schülers. Die
Form ift eine innere und äußere Die innere Form ift entweder Anſchauen
des Beifpiels, Vorftellung des im Moment VBerlangten und Ueberlegung
der Borfchrift. Die äußere Form, in welder die Disciplinarmittel an den
Schüler herantreten, ift gegeben in Gebot und Verbot, Vorſchrift, in ver
Strafe, die die Befolgung erzwingt, und im Rath, der nur an die freie
Ueberzeugung appellirt, durd die der Schüler ſich felbft bejtimmen ol.
Das dritte Moment in der Methode der Disciplin iſt die Weiſe, welche
den Schüler innerlich geneigt machen foll, die dargebotenen Mittel felbitthätig
zu verarbeiten. Diefe Geneigtheit, welde nur dem rechten perfönlichen Ver—
hältniß zwifchen Lehrer und Schüler entjpringt und anf der geaenfeitigen
Achtung und Piebe beruht, ift fo innerlicher und individueller Natur, daß fie
ih deshalb mehr als die andern Momente der äußeren Darjtellung entzieht.
Die rechte Weife ift das alücdlihe Product des rechten Pehrer- und Sciiler-
geiftes, welches dem Schüler zur geiftigen Einheit mit dem Yehrer verbilft
Wo die Methode diefe drei Momente, den richtigen Gang, die richtige
Form und Weife, aleichzeitig entfaltet, da ift die Disciplin von erziehlicher
Kraft. Es wäre darım auch wichtig, Diefe Momente genauer zu beſprechen.
Allein bezüglich der Weife wurde ſchon angedeutet, daß fie fid ihrer Inner:
lichkeit wegen weniger zur äußeren Darftellung eignet, da fie im Wefen und
Charakter der Lehrerperſönlichkeit mit einbejchloffen iſt; hinfichtlih der Korn
22
aber ift zu bevenfen, daft fie ſchon fortwährend bei ver Beſprechung der Die:
cipfinarmittel in Betracht fam. So bleibt denn nur noch übrig, uns mit dem
Gange in der Methode der Dieciplin genauer zu befchäftigen, wobei ja die
zwei vorgenannten Momente micht unberührt bleiben werben.
Die Disciplin fol den Willen des Schülers methodiſch bilden, fo daß
in dem letteren ein mit dem Sollen übereinjtimmendes Wollen erzeuat, das
Sinnliche dem Geiftigen, das Gemeine dem Edleren, das Niedrige dem Höheren
untergeorbnet, alfo ein edler und feiter Charakter angebahnt wird, der im
Gefühl und Bewußtſein feiner Menfchenwürde, in voller Freiheit des Willens
dag Gute um des Guten willen vollbringt. Die Löſung diefer Aufgabe ae
bört freilid nicht nur der Schule, dieſe Erziehungsarbeit reicht vielmehr weit
über die Schule hinaus und führt im irdiſchen Peben gar nidt bis an das
(nichts deftoweniger ſtets zu erftrebende) Ziel, das da heißt Volltommenbeit.
Bon den erjten Willenstrieben bis zu der anzuftrebenden Willensfreibheit ift
ein langer Weg, befett mit Hinderniffen aller Art, vie jelbft den erfahrenen
Erzieher oft rath- und muthlos maden. Ya die Hindernifje find oft fo zahl:
reih und mächtig, daß er Gewalt und Zwang anwenden muß, um fie unfcäb-
(ih zu machen. Aber gerade da fraat es fich, weil Zwang und freiheit ſich
nicht miteinander vertragen, wie weit der Erzieher Zwang ammwenden darf,
damit das Kind, troß der Unterwerfung feines Willend unter den des Er-
ziehers, doch frei handeln lerne, wie weit er in den natürlichen Entwidlungsgang
eingreifen, wie weit er beftimmend und leitenb dabei einwirfen darf oder fol.
Wie die Entwidelung des menjchlichen Geiftes in Vereinigung mit dem Leibe
zu einer Perfönlichkeit ftufenweife vor ſich geht, fo auch die Entwidlung des
Willens. Dort find die Entwidlungsitadien durd Das Kindes-, Knaben: und
Jünglingsalter abgegrenzt, bier treffen die Stufen der Willensbildung im
Allgemeinen damit zufammen. Diefe Stufen finden ſich daher aud im Gange
der Methode der Schuldisciplin und lafien ſich mit den Hilfszeitwörtern des
Modus: „müjfen, follen und wollen“ fehr entjprechend bezeichnen.
Auf der Stufe des Müffens, auf welcher das geiftige Peben noch in der
Natürlichkeit befangen ift, hat der Erzieher den Kampf gegen die Herrſchaft der
Natur negativ zu eröffnen dur Fernhaltung alles Gemeinen und Schlechten. Die
dazuıtretende pofitive Einwirkung hat den Zögling durch die Anſchauung des
Guten, durch das Berfpiel, zur Nachahmung zu veizen und ihm Gelegenheit zu
Ichaffen, das Gute zu thun. Verhütung des Böfen und Reizen und Drängen zum
Guten ift Gewöhnung an unbedingten Geborfam. Diefe beveutente
pädagogiſche Einwirkung, welche ſich zumeist auf die noch nicht ſchulpflichtige Jugend
eritredt, hört aber mit der Erreichung des jchulflichtigen Alters noch nicht auf,
wenn auch von da an nach und nad ein Gehorſam von höherem Werthe gefordert
wird. Die aus der Gewohnbeit des Müſſens maſchinenmäßig entftandenen Hand:
lungen find noch feine Aeußerungen fittlicher Freibeit. Das Kind war nicht frei,
auch der Knabe ift es nicht, aber der Jüngling foll frei werden. ‚Im fchulpflichtigen
Alter befindet fich der Knabe nun auf der Mittelftufe des Sollens. Hier ver:
zichtet der Lehrer zum Theil auf die unmittelbare Willensleitung, er wendet ſich
zugleih an den aufmachenden Berftand des Schülers, reizt ihn zur Ueberlegung
und gibt ihm Befehle, die er befolgen fol. Der Wille des Schülers wird umter
das Geſetz gerban, das den Gehorfam zur Pflicht macht, was man ge:
ſetzliche Zucht nennen kann. Vergißt er feine Pflicht, übertritt er das Geſetz,
23
fo verfällt er im Strafe, die dem Geſetze Nachdruck verfchaffen, ihn zum Gehorfam
zurücdführen fol. Der geſetzbiche Gehorſam, zu welchem die im Schul-
(eben fih von jelbit einftellenden Pflichten hinreichend Gelegenheit geben, iſt
aber nod nicht höchſtes Erziehungsziel. Die Zufälligfeit der Entſchlüſſe des
Knabenalters ſoll nad und nad ven auf feiten Grundſätzen rubenden, im
ganzen Gedanfenkreife begründeten Entjchlüffen weidhen, das Sollen foll zum
wirflichen, felbitbewuften Wollen werden. Dies die Aufgabe der Erziehung
auf der dritten Stufe der Willensbildung, die vornehmlich das Jünglingsalter
umfaßt. Hier muß der Erzieher den Zögling auch gewähren laffen, ihm
nicht befehlen, was durch deſſen freien Entjchluß zu erreichen if. Der Zög—
ling wird freilih nod gar manchmal das Böfe thun und das Gute unter:
faffen. Je mehr aber die Einficht bei ihm wächſt, daß das durd freie Selbit-
thätigfeit wollbradhte Gute höheren Werth befitt, als dasjenige, das er auf
Befehl ausführt, deſto mehr geftatte man ihm Freiheit im Handeln. Gleich—
wohl darf die erzieherifche Einwirkung noch nicht aufhören. Jetzt ift ed 3.2.
an der Zeit, die erzieherifhen Maßnahmen mit Gründen zu belegen, dem
Zögling zu rathen, ihm eine Perfpective in die edlen Abfichten des Erziehers
zu eröffnen und die inneren Folgen zu beobachten, welche die Handlungen des
Zöglings auf dieſen felbft haben. Diefe Mafnahmen, welde die Gewöh—
aung an den freiwilligen und freudigen Geborfam ausmachen, wollen
es am Ende der Periode dahin bringen, daR der Zögling feiner Menſchenwürde
gemäß handelt, daß er ſich aus freier Meberzeugung, d. h. auf Grund feines Ge—
wiffens für das wahre Wohl des eigenen Ich, wie für das der gefanmten
Menſchheit entjcheidet. — Wird der Zögling fo in der Zucht des Gehorfams er-
zogen vom abjoluten „Du mußt“ (unbevingter Gehorfam) zum fategorifhen „Du
ſollſt“ (geſetzlicher Gehorfam) bis zum freien und freudigen „Ich will” (freier
Gehorſam), — fo wird er der Freiheit entgegengeführt, die da recht frei macht.
Denn dann gewinnt das Sittlihe im Zöglinge die Oberherrfhaft und dann
fann er getroft hinaustreten in die weite freie Welt der Verſuchungen und
Kämpfe. Kehr, Pär. Blätter 1875, pag. 176.) Aus dem Ebengefagten
erhellt, daß die Gewöhnung vornehmlich in der Vorſchulzeit, Die geſetz—
libe Zucht befonvers während dev Schufeit, die Gewährung aber haupt-
fählih im Jünglingsalter auftritt. Daraus darf nun aber nicht gejchlojien
werden, dak Gewöhnung und Gewährung auf der Stufe der gejeglihen Zucht,
aljo während der Schulzeit, gar feinen Platz finden follen. Die Gewöhnung
hört mit dem Eintritt des Kindes in Die Schule ja nicht auf, fie ift neben
der gefetlichen Zucht noc immer nöthig, fie tritt mit ihr nur auf eine Höher-
itufe und erreicht ihren Gipfelpunft auf der dritten Stufe, Bei der Gewöh—
nung hingegen ift das Gefet nicht entbehrlich, wie letzteres wieder eine Be—
Ihränfung durch die Freiheit finden muß. Deshalb darf auch während der
Schulzeit, in welcher der Zögling hauptjächlic unter dem Gejege fteht, Das
Element ver Freiheit nicht fehlen, da diefe jenes erft erträglich macht; beim
der Pehrer joll nicht bloß als Herr erfcheinen, fondern auch Vater fein. Daft
auf der Stufe der Gewährung endlich auch das Gefeg zur Anwendung kommen
muß, iſt ſelbſtverſtändlich, da der Zögling auf diefer Stufe ſich ja gewöhnen
joll, es aus freiem Willen zu erfüllen. So fann dann weder die Gewöhnung,
nod die gejetliche Zucht, nody die Gewährung auf irgend einer Stufe entbehrt
werden, wiewohl jede dominirend nur auf einer Stufe auftritt, und es find,
A
obgleih Gewöhnung und geſetzliche Zucht auf der legten Stufe gegen bie Ge-
währung zurüdtreten, Zucht und Gewährung im Grunde doch nur bie höheren
"Stufen der Gewöhnung. Alle Disciplin ift daher wie alle Erziehung Ge-
wöhnung, weshalb wir auch im Gange der Disciplin, den drei genannten
Stufen entſprechend, phyſiſche, gefellige und fittlihe Gewöhnung unter:
jcheiden. —
Diefelben treten ſchon ſämmtlich in der Vorfchulzeit ein; aber da das
Haus über die Mittel der leiblichen Pflege vorzugsweiſe verfügt und bie
meifte Urſache und Gelegenheit zur phyſiſchen Gemöhnung hat, jo tritt
diefe hier dominivend auf. Sobald das Kind in die größere Gemeinfchaft der
Schule verfett wird, tritt die gejellige Gewühnung in den Vordergrund, ohne
daß die phyſiſche Gewöhnung verabfäumt, oder bie fittlihe Gewöhnung, bie ja
die höchſte Thätigkeit im Gange der Schulvisciplin bildet, vernachläſſigt merben
dürfte; im Gegentheil joll die gejellige Gewöhnung die fittliche einleiten,
begründen, da lettere ihr Ende dod nur im jpätern Leben haben Fann.
Die Parallele zwiſchen den Stufen der Willensbildung und dem Gang
der Schuldisciplin möge folgendes Schema veranſchaulichen.
I. Stufe GVorſchulzeit). I. Stufe (Schufzeit), III. Stufe (Fünglingsalter).
Stufen der (| We. Supt | 0 | @e- | zu | @e Ge | gudt | oe |
Willens |‘ wöhnung währung Jwöhnung währung | wöhnung wäbrung
bildung. Müfen | Sollen | Wollen | Vüfien | Sofen | Wollen | Müfien | Sollen | Boten
Gang der Boyfiihe Geſellige Sitttiche| Phyfiche| Gefeige | Sitttiche Vhyſiſche Geſellige Sittlide
Disciplin. Kay Gewöhnung _ Gewöhmung Gewöhnung |
Dies find die drei gewiljermaßen von der Natur jelbjt veranftalteten
Stufen der fittlihen Entwidlung des Menfhen, welde von der Sculdisciplin
auch immer feſt im Auge behalten werden müſſen. Stufenmweife vom Sinn—
lihen zum Geiftigen auffteigend ift die [este Sproſſe der Stufenleiter, die
Summa aller visciplinarifchen Beftrebungen Die, daß der Schiller, die nied—
rigen Triebe beherrſchend, in ſelbſtbewußter Freiheit dem göttlihen Vorbild der
Vollfommenheit, das uns in Chriftus gegeben, ähnlich zu werben fuche. Liegt
die Erreichung dieſes Zieles auch in der Ferne, jo wäre es doch fälſchlich zu
alauben, daß der Zögling nicht ſchon in der Schulzeit für folche rein geiftigen
Intereffen empfünglid wäre. (Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, ſo
werdet ihr nicht in das Himmelreich fommen.) Vielmehr manifeftirt ſich auf jeder
Entwidlungsitufe ein Hinaufrüden zu dem Höheren und Epleren und ein böberer
Aufſchwung des Geiftes, ein unaufhaltfamer, wenn auch unbewußter Drang,
welcher als das Gefühl eines befjeren Seins den Menſchen auf feinen Lebens—
Ihritten begleitet, bis er zur völligen Cultur gelangt.
2. Praftifcher Theil.
Nach den bisherigen Darlegungen umfaßt die Handhabung der Schul-
bisciplin die phyſiſche, aejellige und fittlihe Gewöhnung.
a. Die phofifche &ewöhnung ift Pflege und wird zur Dieciplin, fobald
es fi um eine dem Kinde bemufte Angewöhnung handelt. Da nun alle
phyſiſchen Yeiden ımd Schwächen aud die geiftige Thatkraft lähmen, mährend
förperliche Friſche und Geſundheit jede geiſtige Anftrengung erleichtern, Froh—
25
finn erzeugen und den Muth und die Willenskraft erhöhen, fo bat die Schule
im Imtereffe einer harmonischen Ausbildung und der allgemeinen Wohlfahrt
die Erziehung des Körpers zur Geſundheit, Kraft und Gewandtheit ſich ernit-
lich zum Ziele zu ſetzen. Dies ift um fo ımerläflicher, als bei umnferer ge:
fteigerten Cultur und iiberfeinerten Sitte mit ihrer einfeitig materiellen Rich—
tung der Geift übermäßig ausgebeutet und dadurch die Geſundheit geſchädigt
wird. Auch die Schule bat in diefer Beziehung gefehlt, und es ift deshalb
jebr erfreulich, daf die Erkenntniß davon bei Pehrern und Schulbehörden mehr
und mehr einfehrt. Die Wirkſamkeit ver Schule ift nach diefer Richtung zwar
eine befchränfte und faft immer nur eine inbirecte ; immerhin kann fie Manches
thun, um den Schüler zu gewöhnen, feinen Peib zum willigen, geſchickten und
gefunden Träger des Geiftes zu machen. Dies fann indireet gefchehen durch
Belehrung der Schüler über den menſchlichen Körper, feine Organe und Be-
bürfniffe und bie richtige Art ihrer Befriedigung, z. B. über die Nahrbaftigfeit
und Verdanlichfeit der verfchiedenen Nahrungsmittel, iiber den Werth der Mäßig—
feit und die Nachtheile der Unmäßigkeit, über die möglihen Folgen eines zu
falten Trunkes oder ftarfer Zugluft bei Erhigung, über die Schädlichkeit zu
enger Kleidung ꝛc. Das Belehren ift aber unzureichend ; der Yehrer muß bie
Schüler auch fo zu gewöhnen fuchen, daß fie im finnlichen Genuſſe ihre
Ruhe und Freiheit nicht verlieren. Daber dürfen die Schüler nicht während
de® Unterrichts eflen, fondern in einer Zmwijchenpaufe ihren Imbiß in Ordnung
verzehren, bei Spaziergängen dürfen fie nur bie nöthigen Erfrifchungsmittel
genießen, damit nicht der Wirthshausbeſuch als der Zweck des Ausflugs an-
gefehen wird sc. Der Pehrer halte ferner ftrenge darauf, daß fie alle gegen
die größere Kälte ſchützenden Kleivungsftüde, als Krägen, Mantel, Shawls :c.,
beim Eintritt in das warme Schulzimmer ablegen, beim Wegaange aber wieder
anziehen, daß die Knaben ihre Halsbinden nicht zu feſt knüpfen, die Mädchen der
Landſchulen die in manden Gegenden üblihen Kopfeinhüllungen weglaſſen. —
Ein fruchtbares Feld für die Disciplinare Thätigfeit des Lehrers eröffnet die Ge—
wöhnung an Reinlichkeit, die fomohl im Intereſſe der Geſundheit als der Sitt-
fichkeit liegt, da, wie Rückert ſagt, die äußere Neinheit das Unterpfand eines reinen
Herzens ift. Da gilt es nun zunächſt, ein fauberes und freundliches Schul—
local in binreichender Größe und gefunder Page zu befommen und die Schüler
anzuleiten, e8 fammt dem Mobiliar vein zu erhalten, die Subfellien zu
Ihonen ꝛc. Das Ganze muß Wohlbehagen entgegenwehen ; darum feine Fahlen
Wände, fondern hübſche Bilder, die den Schönheitsfinn wecken und nähren.
Im ſchönen reinlihen Schulzimmer follen aud die Schiller reinlich, rein ge:
waschen, gekleidet, gekämmt ꝛc. fein. Ihre Schulfahen, Tafeln, Hefte und
Bücher müſſen jie gewöhnt werden, rein zu halten und baben ſich deshalb
wöchentlich einer Mufterung des Yehrer® zu unterwerfen. Vorſicht und Klug—
beit (megen der Yeichtwerleglichfeit der Mütter) mit Confequenz gepaart kann
viel erreihen. Die Schüler follen aber au in reiner Puft leben und leben
lernen, weshalb die ſchlechtgewordene Stubenluft möglichft oft durch frifche Zugluft
erjettt werben fol, ohne aber die Kinder ſolcher in fchänlicher Weife auszufegen.
An Falten Tagen wieder ift für eime rechtzeitige und möglichſt gleichmäßige
Erwärmung der Schulräume zu forgen. Das durch die ftete Sorge des Lehrers
ermöglichte Wohlbehagen, das die Schüler beim Athmen in reiner, gejunder
und richtig temperirter Yuft empfinden, wird jie veranlaffen, jest und jpüter
26
zu Haufe der dumpfen Zimmerluft eim entiprechendes Ventil zu geben, ver
Prutbige zu entfliehen und ber Schädlichkeit des Puftzuges wie ber Ddirecten
Dfenwärme fich zu entziehen. — Zur förderung des leiblichen Gedeihens ae-
hört ferner das rechte Verhältniß zwifdhen Bewegung und Rube Das Be:
dürfniß nach Bewegung, dem einigermaken durch Das Aufheben der Hände, das
Aufftehen ꝛc. entgegengefommen wird, iſt damit noch lange nicht befriedigt, vie
Anftrenguna des Stillfigens damit nicht aufgewogen. Es müſſen daher auf
allen Altersftufen geordnete Yeibesübungen betrieben werben, fei es durch die
Beihäftiaung der Kinder im Garten, dur Spaziergänge, Bewegungöſpiele,
Baden, Schwimmen, Eislauf oder das Turnen, weld letzteres felbit bei fchlechtem
Wetter und in Ermangelung befonverer Turnräume in den Freiübungen zur
Noth im Schulzimmer geihehen kann. Wo die entjpredenden Räumlichkeiten
vorhanden find, treten ſelbſtverſtändlich auch Ordnungs- und die geeigneten Ge-
räthübungen binzu. Der vernünftge Betrieb der Yeibesübungen, der jede Ueber:
anftrengung ausſchließt und die Individualität möglichſt berüdjichtigt, fördert
aber nicht nur die Gefunpbeit und Kraft, ſondern verleiht dem Körper auch
Gewandtheit, gewöhnt an Anftand, Muth, Geiftesgegenmwart und, indem der
Schiller ih als Glied eines Ganzen fühlen und deſſen Geſetzen ſich fügen
lernt, an Gemeinſinn. Zwiſchen ven Yeibesübungen hat ein entiprechenver
Wechſel ftattzufinden, auch find wie bei aller Arbeit rechtzeitige Erholungspaufen
und nad der Ermüdung Ruhe nöthig. Die befte und gründlichſte Ruhe ver:
bürgt freifihb nur gefunder Schlaf, den die Schule nicht gewähren fann ; aber
dag nad der Bewegung folgende Sigen der Schüler tft doc ein Ausruhen,
befonders wenn die Subfellien mit zwedmäßigen Nüdlehnen und Fußſchemeln
verfehen find. Immerhin bat dieſes Ruhen nur relative Bedeutung. Denn
auch beim Eigen dürfen wir die förperlihe Haltung nicht überfeben. Wir
fordern ein freies Eiten, mır von der Rücklehne aeftütt und dulden fein faules
Hineinliegen auf die außsgebreiteten Armknochen, nicht Das grobe Stützen des
Kopfes mit der Hand oder aar mit beiden, nicht das normalwidrige, Bruſt
ımd Augen fchädigende Vorbiegen des Dberleibes und Kopfes beim Schreiben,
ebenfo wenig eine fehlerhafte Federhaltung. Manchem Pehrer find jolhe Dinge
zu Mein; allein in der Disciplin haben auch diefe Fleinen Dinge ihre Be:
deutung, und wir halten jeve Bernadläffigung darin für unverantwortlid. Da
darf man nie müde werden in dem Kampfe genen die Macht der Trägbeit,
die an den Kindern immer wieder bervortritt; denn darin liegt eben auch ein
fittlihes Moment in der phyſiſchen Gewöhnung, daß die Jugend auf ibren
Peib achten und in der Tugend der Celbftbeherrichung fih üben lernt. — Zur
phufifchen Gewöhnung gehört auch die vielfeitige Hebung der Sinne des Leibes,
ver Schuß vor deren Weberanftrenaung und fonftigen ſchädlichen Einflüſſen,
ſowie die Gewöhnung, fich vor denfelben felbit zu fehügen. So ift zur Schema
der Sehfraft die allzu arelle Abwechslung von Picht und Schatten zu verbüten,
der Eintritt des zu arellen Sonnenlichtes dur mattgraue oder grüne Rouleaur
zu verhindern, das Nahehinfhanen auf Drud und Schrift ebenfo wenig zu
dulden, al® eine zu große Anftrengung im Weitjehen; der Gebraud zu blaffer
Tinte ift zu verunmöglichen, eine unzweckmäßige Aufftellung der Subjellien zu ver:
meiden, Bücher mit zu kleinem Drud find zu verbieten ꝛc. Auch der Gebörfinn
bedarf der Beachtung. Gemwaltige Einprüde, übermäßiges Schreien, Zug am
offenen Fenſter, Ohrenreißen ꝛc. können ebenfo gewiß nachtheilig wirken, als
27
Päffigkeit in der Reinhaltung des Gehörorgang, das Hineinbohren mit Stift und
Federhalter. Ueberhaupt gelten für alle Sinne die Grundfäge: Keine leberreizung,
feine Berfältung, fortgefegte Reinlichkeit. Befonders bebürfen aud die Nerven,
melde die Sinnesthätigfeit dem Geifte vermitteln, der Schonung, Damit das
Gehirn nicht überreizt werde. Alfo Feine zu frühe Aufnahme in den Schul:
unterricht, feine Ueberanftrengung bei demfelben, aud nicht durch die Aufgaben.
Die phyſiſche Gewöhnung bat Acht auf das aanze leibliche Yeben ver Schüler,
auch auf die Kranfheitterfheinungen, da der Lehrer die Gefunden vor
Anftekung zu bewahren hat und die Schüler anleiten muß, ſich felbft wor
Schaden zu behüten und nöthigenfall® rechtzeitig ärztliche Hilfe in Anſpruch zu
nehmen. Bet all diefer Borficht ift eine Verweichlichung des Körpers zu ver:
bitten, da diefelbe leicht jener Peltbeule der ftummen Sünden der Selbſtbe—
fledung Vorſchub feiftet, vor welden der Lehrer feine Schüler durch alle
Mittel, aud dur die ftramme Körperdisciplin zu bewahren ſuchen muß.
It die Eimwirfung des Lehrers in Hinſicht der phyſiſchen Gewöhnung
auch oft nur eine indirecte, fo ift jie troßdem eine jehr notbwendige, und wenn
mit Treue und Confequenz geübt, eime fehr fegensreihe, da der Schüler zur
vernünftigen Führung feines Yeibeslebens kommt und damit fehon theilweiſe
der aefelligen und jittlichen Gewöhnung vorgearbeitet wird.
b. Die gefellige Gewöhnung. Wie die phyſiſche Gemöhnng darauf
abzielt, daß das Kind feinen Peib als Tempel des Geiſtes anfehen lerne und
fih in leiblicher Beziehung an das rechte Veben gewöhne, fo bezwedt die ge—
jellige Gewöhnung das rechte Leben in der Gemeinfhaft der Schule
und zwar zumächit wegen der Schule Soll die Schulgemeinichaft ein lebens—
voller Organismus fein, fol der Unterricht und die Erziehung in berfelben
gedeihen, fo muß Ordnung in berfelben berrihen. Wie die „heilige Orb-
nung, die fegensreiche Himmelstochter, die das Gleiche frei und leicht und freudig
bindet“, uns itberall in der uns ummebenden Natur ala feite Geſetzmäßigkeit
vor Augen tritt, wie auf ihr jede Art des gefelligen, birgerlichen und ftaat-
(ihen Lebens ruht, jo muß auf ihr aud das Peben der Schule bafirt, fo muß
fie auch das Fundament des Schullebens fein. Das Zufammenfein einer Mafle,
bejonders einer großen, von 80, 90 und mehr Kindern macht eine fejte gefetliche
Ordnung unbedingt notbwendig. Die Menge wird zum Zweck des Unterrichts nach
Altersklaſſen und Kenntnißſtufen gegliedert und diefe Theilung ermöglicht auch die
Durchdringung der Maffe mit dem beherrfchenden Willen und Wort, obwohl
das Gedeihen der Pehrerarbeit auch wieder davon abhängt, daß er die getheilten
Häuflein zweckmäßig zu vereinigen weiß. Wo mehrere Pehrer fih in die vor:
handene Maſſe ver Schüler theilen, vereinfacht jich diefe Arbeit, während in
der einclajfigen Schule, in welcher fieben bit acht Jahrgänge vereinigt find,
die Kraft eines einzigen Mannes aufs Aeuferite angefpannt wird, auch bei nur
50 Schülern. Die Mafnahmen der Schulvisciplin in Betreff ver gefelligen Ge—
wöhnung gehen aljo auf Heritellung und Erhaltung der Schulordnung dur Ein-
gewöhnung der Schüler in dieſelbe. Dies trifft im wefentlichen mit dem zu—
ſammen, was Herbart unter Regierung verfteht. —
Nun ift eine gute Ordnung nur da, wo alles am rechten Orte und
zur rechten Zeit gefchieht. Der Drt, ver bier in Frage fommt, it das
Schul: oder Clajjenzimmer. Ales in demfelben muß am rechten ‘Plage,
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auch dem Schüler fein beftimmter Platz angewieſen fein, den er nicht ohne
Erlaubnik verfaffen darf und fir deſſen reinliches und ordentliches Ausieben
er verantwortlich ift. Alle diejenigen Schüler, welche der Rückſicht, Aufficht
und bejonderen Nachhilfe des Lehrers bedürfen, werden auf die vorderen Pläte,
die übrigen Schüler, foweit fie nicht Bank-Erſte find, auf die hinteren Bänke
verwiejen. Die Banf-Erften find Ordnungsgehilfen, die den Pehrer in allerlei
fleiner Arbeit und Handreichung zu unterjtiigen, überall mit autem Beijpiel
voranzugehen, über die Ordnung in ihrer Bank zu wachen, die Unordentlichen
zu mahnen haben ꝛc. Am meiiten wirft auch bier das Beifpiel des Lehrers,
der deshalb auf feinem Tiſch, im Schranfe u. f. w. gute Ordnung balten muß.
Die Ordnung verlangt, daß alles auch zur rechten Zeit aefchehe. Aus
diefem Grunde muß der Lehrer der Erfte in der Schule fein. Er hat ſich
eine Viertelſtunde vor Schulanfang im Schulzimmer einzufinden und darauf zu
halten, daR jeder fommende Schüler artig und freundlich arüßt, ſich rubig an
jeinen ihm zugewieſenen Platz jest, jeder gewaſchen und gekämmt erjcheint und
dar die Banf-Erften ihre Geſchäfte beforgen, wie er felbit Alles fir den Schul:
anfang vorbereitet. Derjelbe beginnt nad dem letten Glockenſchlage in altebr-
würdiger Sitte mit einem weibevollen Aufblit zu Gott durch Gefang md
Gebet. Während deſſelben darf fein Schüler in die Schule treten. Nach
demfelben müſſen fie, die Hände auf den Subfellien, ſich ruhig niederjegen,
auf feinen Befehl die Pöfungen der Hausaufgaben ruhig vorzeigen sc. Wen
die Abtheilungen, welche er zunächſt nicht umterrichtet, ſchnell beſchäftigt worden,
jo beginnt der Unterricht. Zwiſchen den einzelnen Unterrichtsjtunden
treten Pauſen ein. Den Stundenſchluß kündigt der Pehrer au. Darauf
ziehen die Schüler, wenn es die Naum- oder Witterungsverhältniffe geſtatten,
auf ein gegebenes Zeichen paarmeife in den Hof over auf den Spielplats, öfters
unter fröhlichen Geſang. Wer irgend ein Bedürfniß zu befriedigen bat, bat
jofert wegzugehen, um thunlichht bald wieder bei Spiel und Uebung zu er:
ſcheinen. Fünf Minuten darnach beginnt in gleicher Ordnung ver Rückzug
Die zwiſchen die zweite und dritte Stunde fallende, S—10 Minuten währente
Paufe wird ebenfo ausgenüßt ; bier kann auch der mitgebrachte Imbiß verzehrt,
ber Durft geftillt, können die Blumen am Schulfenſter begoffen werden. Bei
ſchlechter Witterung werden in Ermangelung einer Turnhalle oder eines Spiel:
faales nur die Schüler entlaffen, welche auf die Abtritte wollen. Sie haben
ſchnellmöglichſt wieder zu erſcheinen, um fi an dem im Schulzimmer auszu—
führenden Turnübungen zu betheiligen. Die Ordnungsgehilfen haben unter—
deſſen mit dem Lehrer Alles für den folgenden Unterricht geordnet, der nun
ohne Verzug beginnen kann. Ende gut, Alles gut. Auch die Schule muß
ordentlich zu Ende gehen. Fünf Minuten vor Stundenſchlag wird das Zeichen
zum möglichſt geräuſchloſen Zuſammenpacken und Aufräumen der Schulſachen
gegeben, darnach geſungen und gebetet. Nun werden die Kleidungsſtücke, Mäntel,
Hüte, Mützen ꝛc., ausgetheilt; wenn Alles fertig, giebt der Lehrer das Zeichen
zum Weggang. Der vom Schulzimmer oder Schulhof aus den ſich zerſtreuenden
Schülern nachgeſandte Blid des Lehrers hält die Gewiſſen wach und verhütet
viele Unarten. Der Pehrer macht hierauf im Claſſenzimmer feine Einträge in
das Tage-, Cenſur- oder Individuenbuch, die Oronungsgebilfen öffnen bie
Fenſter, wenn fie nicht der Nachfiger wegen, die der Lehrer am beften felbit
überwacht, geſchloſſen bleiben müffen ꝛc.
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Ordnung it ganz bejonvders aud während des Unterrichts nöthig ;
bier müfjen die gejelligen Tugenden ver Ruhe, Stille, Aufmerkjamteit,
Berträglichfeit, Schweigjamfeit, des Fleißes und des Gehorſams in fteter Uebung
ftehen. Rube und Stille ift des Schülers (wie des Bürgers) erſte Pflicht.
Wil der Yehrer fie heritellen und erhalten, ſei er zuerſt jelbit fein ftille, äußerlich
und innerlich, in Haltung, Rede und Gemüth, und darnach fordere er das Gleiche
von den Schülern. Die Schüler müfjen ſich zuſammennehmen, ihre Glieder be-
herrſchen und jelbit das leiſeſte Geſchwätz vermeiden lernen. „Achtung!“ „Richt euch! *
oder „Rührt euch!“ iſt auch das Commando im der Schule. Wo damit. nicht
ſchnell Ruhe hergeſtellt ift, it der Lehrer gewöhnlib an das Geräuſch ge-
wöhnt, wie der Müller an das Rädergeklapper. Das iſt ſchlimm, denn ohne
die äußere Stille kehrt beim Kinde nicht leicht Die inmere ein, welde mit der
Aufmerkſamkeit fo nahe verwandt iſt; ohne die äußere Stille iſt ein frucht-
bares Unterrichten nicht leicht denfbar. Halte ja der Lehrer jeine Worte für
zu gut, um fie einem Haufen unaufmerkjamer Kinder vorzufagen, halte er nad)
dem Commando lieber jtill unter jcharfer Beobachtung der Kinder ; fie werben
dann im der Kegel auch ftil. Die innere freiwillige Aufmerkjanfeit und ver
Fleiß werden durch einen guten und lebendigen Unterricht erreicht. Der
Wechſel in Unterricht und Uebung und in den verjchiedenen Gegenftänden, die
Friſche, Munterkeit und freudige Thätigfeit des Yehrers regt fonder Zweifel
die Selbitthätigkeit des Schülers auf das wohlthätigfte an. Stille, Aufmerk—
ſamkeit und Fleiß lajien fid) aber nicht denken ohne Gehorjam Wie Ruhe
die erfte, jo iſt Gehorſam die ftete Pflicht des Schülers, nicht mehr der unbe-
dingte, jondern der durch das Geſetz und die Borjchrift geforderte. Das ganze
Schulleben iſt Gewöhnung an Gehorſam; denn täglich, ſtündlich, ohne Unter-
laß erfährt der Schüler, daß er nicht thun darf, was ihn gelüftet, ſondern
nur das, was das Geſetz vorjchreibt und erlaubt um des Schulzweds willen.
So lernt die Jugend unter wohlgehandhabten Gejeten die gejeglihe Ordnung
ihäßen und ehren. Daß man es in der Schule mit Kindern und mit päda—
gogiſchen Geſetzen zu thun bat, darf natürlich, wenn nicht Recht zum Unrecht
werben fol, nicht überjehen werden. Wie die erwähnten gefelligen Tugenden,
jo ift aud ver ſprachrichtige mündliche Wechſelverkehr eine nothwen—
dige Bedingung für erfolgreichen Unterriht. Die Kinder müjjen in der Schule
hochdeutſch ſprechen und ven Dialect überwinden lernen; fie jollen ſich ge—
wöhnen, nicht zu haftig, nicht unrein oder in üblem Sculton, weder zu leiſe
noch zu laut zu ſprechen, dagegen ſich jtets feſt und ſicher, lautrein, deutlich,
vernehmlich und richtig accentuirt ausprüden, wie man in gebildeten Streifen
zu thun pflegt. Soldes Mühen der Schüler wird zu einer Zucht der Rede
und ift von um jo größerem Erfolg begleitet, je mehr ver Lehrer felbjt mit
gutem Beijpiel voran geht. Die Süddeutſchen mögen im dieſer Beziehung
von den Norddeutichen lernen.
Beim Unterridt jelbit find je nad der Unterrichtsform, dem Unter:
richtsmittel oder dem Unterrichtsgegenjtand verſchiedene Maßnahmen ver ges
jelligen Gewöhnung nöthig. So hat der Yehrer bei der mittheilenden Unter:
richtsform nebenbei über das Verhalten und die Aufmerkfamkeit der Schiller
zu wachen, bei der entwidelnden Yehrform die Frage an die ganze Claſſe zu
richten, um alle zur Thätigkeit zu reizen, und erjt hernad) einen einzelnen
Schüler zur Beantwortung aufzufordern. Wer die Antwort weiß, hat den Zeige
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finger der rechten Hand aufzuheben, darf aber weder einjagen, noch ſich unanftändig
hervordrängen. Der Yehrer muß die Schiiler mit dem Familiennamen in nicht
merfbarer Reihenfolge aufrufen. Cs foll kein Schüler fiher werben, aber jeder
(wenn möglich) gleidhoft daran fommen. Der Aufgerufene hat fich ſchnell und leife
zu erheben, ruhig und gerade zu ftehen, laut und deutlich, im den umteren
Claſſen immer in vollftändigen Sätzen zu antworten und darnach fich ebenjo
leife wieder zu jegen. Iſt die Antwort ausgeblieben, jo mag der Lehrer fid
doch immer jelbjt fragen, ob nicht im feiner Frageftellung die Urjache Liege.
Glaubt er diejelbe in der Unruhe und Unaufmerkjamfeit ver Schüler zu finven,
jo halte er ein wenig inne, gebe ein Zeichen mit der Hand oder Klingel, ver-
(tere fi aber nicht in lange Moralpredigten, die nur die Zeit frejfen und
Aerger bereiten. Beim Gebraudh der Unterridtsmittel tt feſte Gemöb-
nung dur Takt und Commando der Disciplin jehr förderlich. Bücher, Tafeln,
Hefte ꝛc. werben z. B. in drei Zeiten von der Bank vorgenommen und eben-
jo wieder zurüdgelegt. AU ſolch Heine Arbeit wird durch den Takt von
wirrem Durdeinander befreit umd zu einer durch Maß und Ordnung ver-
ihönten Ihätigfeit erhoben. Betreffs der Unterridtögegenftände möge
nod erwähnt jein, daR der Religionsunterricht jene höhere Stimmung erzeugen
joll, weldye disciplinäre Einjhreitungen, bejonders körperliche Züchtung, über-
flüffig macht. Beim Schreiben gibt die richtige Haltung des Körpers, die Ver:
theilung der Hefte, ihre Lage, das Einſchlagen in Schmußveden, das Löſchblatt,
die Feder und ihre Haltung, die Schiefertafel nnd ihr Zubehör x. fortwährene
Anlaß zu feften Angewöhnungen. Beim Leſen haben die Schüler das Buch gerade
vor ſich hinzulegen, den Kopf nicht zu jehr zu beugen, wicht mit dem Finger auf
dem Buche nadyzufahren, aber ftets fiber machzulefen. Beim ftilen Rechnen dürfen
weber Yippen noch Finger ſich bewegen; das Rejultat ift auf Commando
niederzujchreiben. Beim Zeichnen ift vor Beginn des Unterrichts das Material
zu prüfen, das Plaudern und Umfeben zu verpönen; beim Turnen ift auf
jtramme Ordnung zu halten und feinerlei Orpnungswidrigfeit zu dulden x.
In Summa: Der Lehrer thue Alles, was das Zuſammenleben und den Unter:
richt fordern, und verhindere Alles, was fie jtören könnte.
Wo der Yehrer jo conſequent auf Ordnung und Pünktlichkeit hält, da
bildet ib beim Schüler ein Sinn für Reinheit, Schönheit, Ordnung und
Gejegmäßigkeit, der nicht nur für die Erreihung des Schulzweckes die beite
Garantie bietet, fondern für's ganze Yeben wohlthätig wirft; denn jo ge
wöhnte Kinder werden einftens auch orbnungsliebende, pünktliche Menſchen
und braudbare Glieder der Gemeinjchaften, in die fie ſpäter eintreten.
e. Die ſittliche Gewöhnung. Durch die jittlibe Gewöhnung ſoll
der Schiller zum freien Gehorfam, zu einem jittlihen Yeben erhoben
werden, in welchem er, den höchſten fittlichen Ideen folgend, all jein Thum
in freier jittliher Geſinnung vollbringt. Wo zwijchen der idealen Einficht
und dem Willen ſolche Uebereinftimmung exriftirt, da it Tugend; wo ber
Wille allen Reizungen und Yodungen zum Trotz das dennoch ausführt, was
der rechten Einficht entipricht, da ift innere Freiheit; und wo ſtets eine
jolde Gemüthöverfafjung und ein ſolches Gefammtjtreben ſich offenbart, da ift
jittlide Charakterfeftigfeit. Dies höhere Ziel läßt die Schuldisciplin
bon bei ver phyſiſchen und gefelligen Gewöhnung nicht aus den Augen, ob-
gleich jie nur Durbgangsitufen für vie fittlibe Gewöhnung bilden. Ebenſo
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bereitet der Unterricht die fittliche Bildung vor und unterjtütt fie ſtetig. Bei
der einheitlichen Natur des Menjchengeiftes nimmt der rechte geijtbildende und
erziehende Unterricht für ſich auch dem jittlichen Willen vielfah in Anjprud) ;
denn die Aufmerkſamkeit ift, wenn auch einerjeit® von der Perfon des Lehrers,
anderjeitd dody von dem Willen des Schülers bedingt. Aufmerken iſt jchon
eine fittlihe That, Aufmerkjamfeit eine Tugend. Nun läßt ſich aber das
Wollen des Guten gar nicht denfen ohne die Erkenntniß defjelben. Gerade
aber die Eimfiht bat der Unterricht durch Verarbeitung des dargebotenen
Wahrheitd- und Wilfensftoffes zu bilden und den Gedankenkreis zu erweitern
und zu läntern, damit der Zögling die Dinge der Welt und die Berhältnifie,
in denen er lebt, nah ihrem Werthe richtig ſchätzen lerne und damit Die
rechten Neigungen, Borftellungen, Begriffe und Grundfäge in ihm entjtehen,
welche den böjen Trieben und Neigungen fein Aufjtreben geitatten. Sollen
die fittlihen Grundjüge dem Zöglinge aber, zum fittlihen Gejege, zum Ge—
wiſſen, joll die reine Yiebe zum wahrhaft Guten die Richtſchnur jeines Handelns
werden, jo muß einerjeits der Erzieher das Sittengejeg in jeiner Perſon dar-
jtellen,; anderjeit® der Zögling aber auch auf die Stimme hören, welde ihren
Ausgang über dem Erzieher und in ihm nur ihren Durchgang bat, auf das
göttlihe Gejet. Denn „jol der Menſch für fein irdiſches Dajein eine umer-
ſchütterliche Stütze feines Friedens, ein unmandelbares Ideal feiner Moralität,
eine helle Yeuchte jeines Geiftes erhalten, jo müſſen wir ihn zu jeinem
Schöpfer hinführen und mit dem Anker des Glaubens ausrüften“. (Dittes.)
Eo gehen denn diefe Drei immer zufammen: Erkenntniß des Rechten und
Guten, Freiheit des Willens, es zu vollbringen, in dem Verhältniß, in
welden wir und Über die Macht des blinden Naturtriebes erhoben haben, und
Verantwortlichfeit für unjer Thun und Laſſen. Welches ift nun die Auf-
gabe der fittlihen Gewöhnung, wenn fie fittlihe Freiheit und Charafterfeitig-
feit anftrebt?: Der Kampf gegen alle Untugend, die Förderung aller Tugend.
Da gilt es alfo nicht nur zu verhüten, zu hemmen und niederzuhalten die dem
Sugendalter eigenen Fehler, wie: Unbedachtſamkeit, Vergeßlichkeit, Yeichtfinn,
Nachläſſigkeit, Muthwillen, Unordnung, Ungeduld, Zerſtörungsſucht, Unreinlich—
fit, Geſchwätzigkeit, Ausgelaſſenheit ꝛc., ſondern auch energiſch zu kämpfen
gegen die Fehler des Gemüths, welche eigentliche Verſtöße gegen die ſittlichen
Vorſchriften find, als: Eigenſinn, Ungehorfam, Lüge, Betrug, Angeberei, Un—
verträglichkeit, Unhöflichkeit ꝛc. Zu dieſer negativen muß aber auch die poſi—
tive Sittengewöhnung treten und allen den Tugenden Raum geſchafft werden, —
welde in dem fittlidereligiöfen Charakter gleihjam als Grund- und Edpfeiler
bervorragen. Wir rechnen biezu: Gottesfurdht und Yiebe zu Gott, BVater-
landsliebe, Gehorſam, Gewifjenhaftigkeit, Selbſtbeherrſchung, Wahrhaftigkeit,
Wohlanſtändigkeit, Keufchheit, Höflichkeit, Beſcheidenheit und Dienſtfertigkeit ꝛc.
Die poſitive und negative Seite der ſittlichen Gewöhnung werden in der Praxis
einander vielfach begleiten, neben- und miteinander wirken, ja bisweilen in ein-
ander fliegen, da man faum zum Gehorjam, zur Wahrhaftigkeit, Wohlanftän-
digkeit wird ermahnen fünnen, ohne vor derem Gegentheil zu warnen, und
umgefehrt. Wir halten daher die pofitive und negative Eittengewöhnung
nicht weiter auseinander und beſprechen nur im Kürze, wie zu dem obenge-
nannten Tugenden binzuleiten ift. — Aus der Gottesfurdt und Liebe zu
Gott, zu welchen eine lebendige Gotteserkenntniß führt, emtwidelt ſich vie
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ganze Reihe der übrigen Tugenden. Daher ſuche der Lehrer durch feinen ge-
ſammten Unterricht den Schüler zur Erkenntniß Gottes und der ewigen Wahr:
heiten zu führen, lehre fie, um Gottes Tegen zu beten und für jenen Schutz
zu danken, made fie auf Gottes Werfe und Gaben in der Natur und Menichen-
welt aufmerkſam, leite fie zur Selbſtprüfung an, zur Bethätigung der Eltern:
und Nächſtenliebe und zeige ihnen, daß er jelbit in der That Gott über alle
Dinge fürdte und liebe.
An die Gottesfurdt reiht fib die Baterlandpsliebe, wozu die Schule
triebfähige Keime einfenfen kann, wenn fie aud erjt im Jüngling und Mann
zur vollen Imnigfeit und Stärke reifen. Da gilt es zuwörberft, in der Schule
edlen Gemeinſinn zu pflegen, die Schüler mit den Eigenthümlichkeiten und
Schönheiten des Baterlandes, mit feiner Gejchichte und den Großthaten feiner
Väter umd Helden im Unterrichte, jowie jpeciell an den patriotiſchen Feſttagen
befanmt zu machen, befonders aber den Schülern ſelbſt vorzuleuchten mit einem
ſich lebendig bethätigenden patriotifhen Gefühl. Der Gehorfam, die Grund-
tugend, in welder Paulus die ganze Eittenlehre für Kinder zujfammenfaßt, ſoll
auf der Stufe der fittlihen Gewöhnung zur berzliden Bereitwilligfeit werden,
den Eigenwillen ver befjeren Einficht unterzuorbnen. Die Pflege des Geber:
ſams ift zugleich die bejte Schule ver Gewiſſenhaftigkeit, die es darauf
abjieht, daß der Schüler das Böſe flieht umd das Gute thut, nicht bloß um
der äußern Folgen, jondern um des Gewiſſens willen. Aber des Yehrers ge
wiſſenhafte Pflichterfüllung in allen Dingen muß als nabahmungswürdiges
Beifpiel den Schüler zu Gleihem reizen. Die Selbſtbeherrſchung joll
dem ftürmijchen Heer der Leidenſchaften Schweigen gebieten, die Trägheit zu
Fleiß und Anftrengung ftacheln, den fleiſchlichen Yüften und Gedanfen, Worten
und Werfen widerftehen, eigenes und fremdes Gut in Ordnung halten und
achten. Auch bier ift das Beifpiel des Pehrers das beite Disciplinarmittel.
Eine Hauptaufgabe der fittlihen Gewöhnung ift die Pflege ver Wahrhaftig-
feit, die fi nicht bloß im eigentlihen Worte, fondern im Meiden alles bloßen
Scheins beweift und es in Wort und That auf Weſen und Wahrheit anlegt.
Ein wahrhaftiger Sinn, ein wahrheitjebendes Gemüth ift wie der gejcliffene
Spiegel, ver jeden Einblid wahr ımd wirklich zurüdgibt, ift wie ein eherner
Schrein, dem man fein Bejtes anvertrauen kann. Wahrhaftigkeit und Redlich—
feit find die Eigenjchaften, die wie feine andern die Grundbedingungen zum
Gedeihen eines jeden Erziehungswerfes bilven, ohne die fein guter Einfluß auf
den Zögling möglich, feine Hoffnung auf Erfolg denkbar iſt. Der Wahrbaftig-
feit gegenüber fteht das große Yafter der Unaufrihtigfeit und Yüge/
Sie iſt die Nictübereinftimmung der Worte des Mundes mit den Gedanten
des Herzens, ein Verhüllen der Wahrheit zum Zweck der Täuſchung und eine
der am jchmwerften zu befiegenden Untugenden, namentlich in der Zeit des
Knabenalters. Cie äußert fih als Verftellung im Ausweichen gegenüber dem
nah Wahrheit forjchenden Blid oder Wort, im VBerbergen der Wahrheit und
im Behaupten der Unwahrbeit. Die pſychologiſche Urſache der Yüge kann in
der allzulebhaften Yantafie des Kindes, in Leichtſinn, Zerjtreutheit und Un:
überlegtheit, in Ehrgeiz, Eigennuß und Gewinnſucht, oder in Argliſt und Bos—
heit begründet liegen ; anderjeits können auch die Fehler der praftifchen Er-
ziehung die Schuld am der Yigenhaftigleit der Kinder tragen, wenn z. B. bie
Eltern es jelbit mit der Wahrheit nicht genau nehmen oder die Kinder mit
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Haus- und Nothlügen geradezu an das Lügen gewöhnen, wenn die Umgebung
dem lügenhaften Kinde ſtatt Abjchen gar eine Art Wohlgefallen bezeigt.
Ebenſo nachtheilig it eine zu große Veichtgläubigkeit, ein unnöthiges Fragen
und Mißtrauen, ſowie allzugroße Strenge und Härte gegenüber den Kindern,
Wie ift mm jenen in der Kindesnatur jich geltend machenden Neigungen und
Verſuchungen zur Lüge entgegen zu wirken? — Sprudeln aus allzulebhafter Fau—
taſie neben allerlei Bildern auch Spiel- und Scherzlügen hervor, ſo ſehe man
ruhig zu, ſo lange es beim Spielen und Scherzen bleibt. Tritt hingegen eine
böſe Abjicht irgendwie und wo an den Tag, fo mache man dem Spaß mit
ernjtem Ton ein Ende und fordere die Wahrheit. (Ueberhaupt feine Erhitzung
der Fautaſie) Kinder, die aus Leichtjinn und Serjtreutheit lügen, müſſen
zunächit an Ordnung und Ueberlegung in ihrem Denfen, Reden und Handeln
gewöhnt werden; auch laſſe man ihnen einmal die Folgen ihres unordentlichen
und zeritreuten Weſens fühlen. Bon dem Yügen aus Ehrgeiz wird das Kind
durch tete Gewöhnung an Bejcheidenheit, Arfpruchlofigkeit und Redlichkeit am
meijten zurückgehalten. Man lobe nicht zu viel und dulde fein heimliches Zu—
tragen und übles Nachreden. Auch gegen Yügen, die aus Gewinnfuht und
Eigennutz jtammen, hat fi die Disciplin meist worbeugend und bewahrend zu
verhalten. Darum vermeide man ein zu oftes Belohnen, lege den Kindern
nahe, daß das mit Fleiß und treuer Arbeit erworbene Gut einen höhern Werth
beißt, als das auf unvehten Wegen erlangte, man trete allen Keimen und
Spuren von Luft an betrügeriihen Mitteln zu gewinnfüchtigen Zwecken, allen
kleinen Schachergeſchäften, Geldſpielen zc. bejtimmt entgegen und ahnde derartige
Berirrungen aufs ftrengite. Dem Lügen aus Aralift und Bosheit gegenüber
it ein Anhalten zu freundjchaftlicher Liebenswürdigleit, Gefälligkeit, Nachgiebig—
keit, Eintracht und offenherzigem Sinn, ſowie eine vertrauens- und liebevolle
Behandlung am rechten Plage. Zänkiſches Gerede und ımverträgliches Neden
find ebenjowenig zu dulden, als häßliches Auflagen. Yegteres ift der Jugend
jelbft ein Gireuel. Soll ver Dieciplin nicht die Schuld der Lügenhaftigkeit der
Kinder zugemeffen werten, jo jtehe der Lehrer jelbjt zu jeder Zeit und an
jedem Ort in der Wahrheit, ja er nehme nicht bloß ſich, ſondern feine ganze
Umgebung, feine‘ Familie und die Schülergemeinihaft in ftrenge Zucht der
Wahrheit. Das Kind joll merken, daß „Wahrheit über Alles“ geht und feine
Berlegenbeit jo groß fein fünne und dürfe, um ſich durch dieſelbe in die noch
größere Schande der Ummahrbaftigfeit ftürzen zu laffen. Er heiße darum nie
eine Aeußerung gut, wenn jie nicht Strenge auf Wahrheit beruht, er jet nicht
leichtgläubig und laffe ſich nicht täuſchen. Beſonders hüte er ſich, durch Die
Art des Ausforſchens und Verhörens oder durch übermäßige Zumuthungen den
Schüler zur Lüge zu treiben. Wenn endlich das Kind Vergehen und Fehler
nicht verheimlicht, ſondern offen geſteht, ſo übe er Milde und bezeige freund—
liche Rüdjihtnahme, damit es den Muth gewinnt, auch im ſchwereren Fällen
die Wahrheit zu befennen. Sucht e8 aber feinen Fehltritt zu leugnen, jo jtrafe
er umerbittlih, damit es erfahre, daß das Vergehen durd die Lüge ſich nur
noch fteigere. Dede Strafe aber, fei jie Tavel, Ehrenſtrafe oder körperliche
Züchtigung, ſoll von den Ausdruck innerlihen Abſcheu's vor dem Lafter der Lüge
einem boshaften und freden Lügner gegenüber begleitet fein. — Zur Strafe muß
aber auch die Heilung fommen und um jo beharrlicher verfucht werben, je tiefer
die Sünde wurzelt. Das erjte Mittel hiezu ift, den ſittlich Kranken, denn ein
Böhm, Die Lehre v. d. Sculdisciplin, 3
34
folder ift der Lügner wenn auch nicht Jeder, der gelogen har, chen ein
Lügner genannt zu werben verdient), im‘ ernten ftillen Angenbliden auf fein
Unrecht mit furzen aber fräftigen, zur Selbitprüfung auffordernden Ermah-
nungen umd Warnungen binzuweifen und auf ven Werth eines quten Namens
aufmerffam zu machen. Sodann bedenke ver Yehrer immer, var Das Yafter
der Lüge nicht ausgerottet werden fann, ohne daß die Reinigung Des Herzens
erftrebt und erzielt wird. — Der fittlihen Gewöhnung liegt auch die Pflege
der Wohlanftändigfeit ob, melde der auf innerer Sittlichkeit beruhende
Ausdrud der Achtung und Ehrerbietung gegen die Mitmenſchen wie gegen ſich
jelbft if. Da nun bei Schülern ſich nicht vorausjegen läßt, daß ihr äußeres
Berhalten ſchon durch ihr Inneres requlirt wird, jo ift gleichzeitig auch von
Außen nad Innen zu wirken, wie das fchon bei der phyſiſchen und gejelligen
Gewöhnung beiproden wurde. Bei ver fittlihen Gewöhnung erwächſt dem
Lehrer die Aufgabe, über alles Wohlanftändige die Schitler zu belehren, ven Sinn
für alles, was ſchön iſt, lieblich und wohl lautet, anzuregen, jeinen tiefen Ab:
ſcheu wor der Rohheit zu äußern und fie zu ftrafen, vor allem aber in jeiner
Perſon und Haltung ein Mufter edler Wohlanftändiafeit zu neben. Im weiteren
Sinn gehört zur Wohlanftändigfeit aub die Schamhaftigkeit, dieſe zarte
Wächterin der Unſchuld, melde im der zarten Scheu vor allem, was ver
Keuſchheit entgegen ift, befteht. Sie ift zu weden umd zu nähren durch
Belebung der Gottesfurht, Schärfung des Gewiſſens (Reinhaltung und Ab:
bärtung des Körpers) und treue Wachſamkeit. Auch die Höflichkeit und
Beſcheidenheit gehören hieher. Beide Tugenden jollen befonders vie
Jugend zieren. Die Höflichkeit hat nur fittlihen Werth, wenn fie auf wahre
Achtung der Menfchenwürde und auf ungebeuceltes Wohlwollen gegründet it,
während vie Beſcheidenheit auf dem Bewußtſein der Unvollfommenbeit ent:
Ipringen muß. Zur Einübung diejer Tugenden bietet ſich dem Lehrer, ſowohl
was das Verhalten der Schiller ihm gegenüber, als ihr Verhalten unter fic, ſowie
gegen die Erwachſenen überhaupt anbetrifft, vielfache Gelegenheit. Ebenſo aibt das
täglihe Zuſammenleben genügenden Anlaß, die Tugenven der Danfbarfeit, Ge:
fälligfeit und Dienftfertigfeit, der Nächſtenliebe und Barmberzigfeit
zu üben oder ihre Uebung zu empfehlen, denn die liebende Rückſicht auf Andere
fordert, auch zu fuchen, was des Andern ift, ſich ſelbſt unartigen Mitſchülern gegen:
über verträglich, freundlich, verſöhnlich und zuvorfommend zu erweijen.
Enplid fordert vie Demuth, ſich nicht am Andern zu meflen, jondern an
der eigenen Aufgabe, ſich nicht am feinen Leitungen zu jptegeln, wie man es
ſchon jo herrlich weit gebracht, jondern an jeinem Ideale, nur ſich um jo ernſt—
licher „Streden nad dem, Das da vornen iſt“. (Strebel, Schmid, Encyelopä—
die VOIL) — Wollten wir alle die hier genannten und nicht genannten jüt-
lihen Tugenden, wie Sich vdiefelben unter der pflegenden Hand des Lehrers
herausgeftalten jollen, in’s Einzelne gehend bejprechen, jo würde uns Dies zu meit
führen. — Es genügt hen, nod einmal mit allem Nachdruck bervorzubeben,
daß die Schuldisciplin beftändig auf die Bildung, Veredlung, Stärkung umt
Bewahrung des ganzen fittlihen Menſchen Bedacht nehmen muß.
Da die fittlihe Gewöhnung den Schüler zum freien Gehorfam, zur inneren
Freiheit führen ſoll, fo erübrigt nur nod, die Schuldisciplin unter dem Geſichts—
punkte der Freiheit zu betrachten. Im Schulleben fteht der Schüler zumeiſt
unter der geſetzlichen Zucht. Soll viefelbe nicht zur Herrichaft des tonten
35°
Buchjtaben führen, jo muß auch das Clement der Freiheit belebend, veredelnd
und ergänzend hinzutreten. Nun glauben wir zwar, im Verlauf unjerer Dar-
legung genugjam hervorgehoben zu haben, daß das gejegliche Yeben felbit von
der Freiheit durchdrungen fein müſſe, daß der Zwang nicht tödten, nicht bar-
bariſch ſein dürfe und daß die Yiebe der Peitjtern der Disciplin zu fein und
zu bleiben babe, wenn anders eine fittlide Atmoſphäre in der Schule,
ein guter Gemeingetjt unter den Schülern entjtehen jol. Nicht weniger
haben wir verſchiedenen zwiſchen das gejeglihe Schulleben hineinfallenden
Momenten der freiheit, wie den Zwiſchenpauſen, patriotijchen Feſttagen ꝛc.
dad Wort gejproden. Und doch müfjen wir bier nod einiger Momente ge-
denken, melde dem gleihmäßig dDahinfließenden Schulleben neuen Zauber ver-
leihen, einen Born der freude und des frifchen fröhlihen Muthes öffnen und
das Band der Liebe zwijchen Lehrer und Schiller feiter fnüpfen. „Yiebe aber
it des Gefeges Erfüllung.“
Nennen wir das zuerit, was das Poetiſchſte im Schülerleben, das eigent-
liche Ideal von Schülerglüd it, die Ferien. Auf fie freuen jich auch die
bejten und fleigigiten Schüler. Das Freiheitsgefühl offenbart ſich bier in ber
unjchuldigiten Geftalt. Innerhalb ver Ferien kann jeder Schüler feinen Lieb—
lingsneigungen nachgehen, nad jeiner Art zeichnen, lejen, ſchreiben, kann Wald
und Feld durchſtreifen ꝛc. Schließlich wird dies der Schüler auch fatt, und
gerne fehrt er wieder zurüd zur ftrengen Arbeit und Disciplin der Schule.
Eben ſolche Lichtpunkte im Alltagsleben der Schule find die Schulfeſte, mit
denen die Schule des Mittelalters viel freigebiger war. Beifpielöweije nennen
wir von jenen mittelalterlihen Schulfeften das Gregoriusfeft, die Maigräfen-
fahrt oder das Maienfeft, das Ruthenfeſt. Wenn von den Velten, womit eine
längft begrabene Zeit das Moment der Freiheit und Porfie in das Schulleben
zu bringen wußte, wenig mehr übrig und das Verſchwundene nicht zu bedauern
it, jo ſollen doch auch unjern Schülern ſolche Lichtpunkte nicht fehlen, weldye
das Einerlei der geiftigen Arbeit und gejetglihen Zucht angenehm unterbrechen ;
die Sonne der Freude joll ein oder zweimal im Jahre auch recht hell in unfere
Schulen ſcheinen. Derfelbe Gedanke bejeelte Salzmann, als er in feinem Kartoffel-
feſt, Plünverfeft u. dgl. feinen Schülern ein Gaudium bereiten wollte, derfelbe Ge—
danke jegt ficb in neuer Weife fort in den localen Sculfeiten, die als Mai—
feſte ꝛc. noch vielfach üblich ſind. Beſonders aud) die patriotifchen Gedenltage,
der Tag von Sedan, des Landesherrn und des Kaiſers Geburtstag ſind
als ſolche Feſttage von der Schuldisciplin zu berückſichtigen. — Das Moment
der Freiheit muß ſich endlich auch in der Individualität des Lehrers
und Schülers geltend machen dürfen. Der Erſtere darf deshalb nicht ge—
hindert jein, ven Ton anzugeben, der ihm ſelbſt gegeben ift. Er muf auch mit
Humor, der natürlich auf fittlichem Boden zu fußen hat, und mit heiterem Scherz
die Stimmung auffriihen Dürfen, wodurch er nur den Schülern menjchlich näher
tritt. Letztere müfjen hingegen in der Arbeit, in freiwilliger Hilfeleiftung. ꝛc.
nach ihrer Art in gewiſſen Grenzen frei handeln dürfen Wo das ift, entjteht
ein guter, ein fittliber und freier Geift in der Schule.
Das wären die drei Stufen im Gange der Echuldisciplin, melde, won
Sinnlihen zum Geiftigen aufiteigend und fid) immer gegenjeitig ergänzend, mit
den bejprochenen Mitteln ven Schüler auf eine jolde Tugendhöhe erheben
ſollen, von welder aus er mit freiem Blid und feiten Willen nadı weiteren
3%
36
Zielen ſchauen fan. Diefe ſchwere Aufgabe weiſt nochmals auf Die große
Wichtigkeit ver Yehrerperjönlidkeit bin, welde Anfang und Ende einer
guten Schuldisciplin fein fol.
Stellt nämlid der Lehrer in jeinem ganzen Wefen einen ſittlichen Menſchen
mit feiten Charakter dar; ſorgt er ſtets mit vwäterlihem Sinn für das leib-
lihe Wohl feiner Echüler ; führt er fie mit Ernft und Milde zu geſetzlichem
und ordentlihem Verhalten ; lehrt und nährt er die Tugend, befämpft und
verwehrt er die Untugend mit der Strenge, welde der Sonnenblid ver Yiebe
mildert: fo wird die Schule eine glüdliche Heimftätte, ein Paradies für die
Kleinen, an welches fie fid) nod in fpäteren Zeiten mit Dank und Liebe er-
innen. Wo aber die Kinder im Lehrer fein Ideal finden, wo ver Yehrer
feine Geduld, feine Liebe, feinen Ernſt, feine Aufopferungsfähigfett für feine
Schüler beſitzt: da fehlt die ftarfe Eiche, an der die jungen Geifter zur Tugend:
höhe empor Flimmen fönnen.
„Epheu und ein zärtlihd Gemütb
Heftet ih an und grünt und blüht;
Kann es weder Stamm noch Mater finden,
Muß es verdorren und muß verichwinden,“
(Gorthe.)
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V. Nachtrag.
Hei allen Bölfern des Alterthbums finden fi Beftimmungen vor über
Zweck, Mittel und Weije der Kinderzucht. Diefelbe war dort allgemein auf Furcht
und Strafe gegründet. Auch im Mittelalter, in welchem das Princip ber
Weltentſagung herrſchte, war dies noch der Fall. Im den damaligen Schulen
regierte der Stod mit Allgewalt, Faften und Kaſteiungen gehörten zu ben
Schulftrafen. Mit der Reformation begann auch in ver Schulzudt fidy ein
humanerer Geiſt zu offenbaren. Yuther ſelbſt fpricht gegen die unmenjchlice
Zucht. Trogendorf, der praftiih die Ehre zum Princip der Zucht zu maden
fi betrebte, ward in diefer Richtung überboten durch die Jeſuiten, melde
diejes Feld im ungerechtfertigtem Maße anbauten. Das damit verbundene
Spionirſyſtem und die Forderung unbedingten Gehorfams führten zu einer
geiftigen Tyrannei, welche alle Jugendluſt umd jedes beifere Gefühl ertödtete
und das Recht der Imdividualität vernichtet. Auf eimen richtigeren Stant-
punft ftellte fid) der den Pietijten verwandte große Comenius, welder Bflan-
zung chriftliher Zucht als ein Werk der Liebe und Weisheit bezeichnet, das
nur allmählid eine Beflerung herbeiführen kann, den Schüler zur freiwilligen
Pflichterfüllung anleiten und Ruthe und Badel überflüſſig maden fol. Francke
hält das Gebet fir das wichtigfte Zuchtmittel. Da feine geiftlofen Nachtreter
aber die Kindesnatur völlig verfenmen und die Jugend durch das einfeitig
veligiöfe Princip zu einem freudelofen Dafein verurtheilen, jo drüdt ihnen die
durch die Regungen des kindlichen Eigenwillens bereitete Täuſchung Stod und
Ruthe zum zu häufigen Gebrauche wieder in die Hand. Da dedt Rouſſeau
die BVerfehrtheiten der unnatürlichen Erziehung auf, bringt das Recht der
Subjectivität gegenüber dem Objectiven und Hiftorifhen zur Geltung, fordert
und zeigt, daß bei der Zucht der Natur des Kindes entipredende Mittel in
naturgemäßer Weife zur Anwendung kommen müſſen. Seine Ideen fuchen die
Philanthropiften mit allem Ernte zu verwirflihen. Setzen fie der Einfeitig-
feit der förperlichen Zucht auch die einfeitige Anfenrerung des Chrgefühls gegen-
über, welche beflagenswerther Larheit in der Zucht die Wege bahnte, jo maden
fie im Streben nad menjchlicher Glüdjeligfeit doch die Schulen zu beiteren
Eiten der Gejundheit und des Frobfinns und werben liebevolle Väter umd
Freunde der Zöglinge. Ihre humanen Beitrebungen fpiegeln fih auch in ven
aus diefer Zeit ftammenven, meiſtens treffliben Vorſchriften über die Zucht,
welche einen wefentlihen Fortiehritt befunden. Aber erft am der Grenze des
18. und 19. Jahrhunderts, als PBeitalozzi den in der Menjchennatur liegenden
Trieb entwideln, von der Anſchauung zur Erkenntniß, zur Selbſtthätigkeit umd
durch diefe zur Selbitftändigfeit erheben wollte und als Hauptantriebe zum
Guten und Rechten weder die Furcht, noch die Strafe, fondern das Wohl-
wollen und die Liebe bezeichnete: erft da tritt eine große Veränderung zwiſchen
Unterrit und Schulzudt ein. Die bisherige Lernſchule joll zu einer Dehl-
ichule, der ganze Gedankenkreis des Schülers foll gebildet werden, der Unter:
richt anregend, erziehend wirken, d. b. die rechte Gefinmung ſchaffen, die Zucht
aber den Unterricht umterftiigen und in der Handlung, im Thun des Guten
üben. Beide, Zucht und Unterricht gehören zufammen, die Zucht wird Schul:
disciplin. Es ift der Mühe werth, einzelnen Ausjprücden hervorragender »
39
Pädagogen der Neuzeit nachzugehen, um die gegen früher veränderten An:
ſchauungen über Schuldisciplin zu conftatiren.
Ep jagt Schleiermacher: „Strenge Regelmäßigfeit, verbunden mit
einer gewiffen Milde in ver Handhabung der Zuchtmittel ift der mejentliche
Charakter, durch den die Schule Einfluß auf die Geſinnung baben muß. Es
muß bier als Canon aufgeitellt werden, daß alle rectificirende Thätigkeit ver-
mieden werden kann, wenn die unterſtützende Thätigkeit zur rechten Zeit ge:
übt ift. Die förperlihe Strafe muß and aus der Volksſchule verſchwinden;
man fan es als einen Maßſtab ihrer fittlihen Fortbildung anfehen, in wie—
weit fie die fürperlichen Strafen entbehren fann, ohne daß darunter die Ord—
nung leidet; nur infofern fi) in der Bolksjchule der Charakter des Gemein-
weſens als Gejetlichfeit abjpiegelt, gehören Gejege und Strafen zuſammen.“ —
(Sean Paul Richter jagt den Eltern: „Strafe falle nur auf das fchuldige
Bewußtſein und Kinder haben anfangs, wie Thiere, nur ein unſchuldiges.
Die Ruthe wenden wir jdrleht an, wenn wir fie hernach zum Stock ver-
dichten laffen. Jene follte diefen entbehrlich aemadıt haben. Sogar die Ruthe
jollte nur als Paradigma und Thema der Zuknnft aebraucht werden, wonach
die bloße Drohung predigt und zurücweilt,“)—- Stepbani: „Um den Menjcen
dahin zu bringen, daß er feinen Willen nach dem Sittengejege und den Negeln
der Klugheit zu leiten in den Stand gefegt wird, muß die Schulzucht dahin
reformirt werden: a) Man halte and das Kind für einen ganzen und nicht
für einen °/, oder 7/,; Menſchen umd behandle es mur als ein freies Weſen.
‚b) Die Sittlichfeit foll dem Menſchen weder eingeprügelt, noch durch Auf:
regung der Ehrliebe in ihm erzeugt werben, fondern fie joll Frucht der Frei—
beit und dev inmern Anerkenntniß ihres eigenen Werthes fein. e) Ein fitt-
licher Sinn kann der Jugend nicht fowohl aelehrt, als ihr vielmehr eingeübt
werden. d! Die Schule werde nicht bloß als eine Yehranftalt, ſondern auch
für ein fittlihes Gymnaſium, als eine Borſchule zum fittlihen Leben für Die
bürgerliche Welt angeſehen.“ — Sailer: „Wervdet felbit beſſer, bald wird's
auch mit der Jugend beſſer ſein. Der Yebhrer ſei Allen Alles, den Kindern
ein Kind, um fie zu Männern zu bilden, Er wiſſe ftrafender Ernft zu fein,
wo er Yüge, Diebjtabl, Bosheit entdeckt, und erbeiternde Liebe, wo ver Fleiß
feines andern Spornes und die Ordnung feines ftrafenden Zügels bevarf ;
regiere die Beſſeren durch Blide, die Schlechteren durch Verweiſe, die Schlunmiten
durd Strafe; dulde feine Unreinlichfeit an den Kindern und jehone die Scham:
baftigfeit, wede den Wetteifer und unterdrüde die lobhaſchende Eitelkeit... ..
er ftelle ihnen das Gute an dem Bilde feines Lebens dar und laffe fie nach
vollbrachtem Tagewerk ihrer munteren Jahre froh werden und nie auf den
Einfall gerathen, als wenn der Schulmeiſter — Zuchtmeiſter wäre.” — Her:
bart zerleat, wie ſchon früher geſagt, die erziehende Thätigfeit in Regierung,
Unterricht und Zucht. Die Negierung bat die Kinder in Schranken zu halten,
der Unterricht die Einficht zu vermitteln, die Zucht den fittlihen Charakter zu
bilden. — Harniſch nennt die Schulvisciplin Schulzucht und als Züchtigungs—
mittel: Beſchämung, Abjonderung, Entziehung von Rechten und Genüſſen,
mmittelbare Belenung mit unangenehmen Dingen, als Nacarbeiten, Ein:
jperren ꝛc. und förperlice Züchtigung, welde nur in mäßigen Streichen auf
den Rüden oder das Geſäß beitehen ſoll.“ — Diefterweg fchreibt in feiner
erſten pädagogijden, 18920 erjcienenen Schrift: Ueber Erziehung überhaupt
40
und über Schuldisciplin insbefondere: „Hauptmittel der Erziehung iſt ver
Unterricht, der ftrenge Unterricht, dann die That oder das Erempel und endlich die
Disciplin, ohne welche feine Gemeinde, fein Haus, fein Staatöwefen, keine Schule
gedeiht.“ Diefes treffende Wort des umvergeklihen Pädagogen haben wir als
Motto diefer Abhandlung mit vorgejegt. Im einem Auffage in den „Rheiniſchen
Blättern” von 1830 klagt Diefterweg über die Ausgelaſſenheit und Zuchtloſigkeit ver
Jugend; er hält eine angemeffene und conſequente Zucht zum Gedeihen der Schule
für nothwendig. „Doc müſſe“, fagt er, „unter den Kleinen Heiterkeit und Froh—
finn vorherrfchend jein. Das heitere Kind lerne doppelt, und nur dad gehe ins
Yeben über, was man fröhlich lerne. Durch körperliche Züchtigung ſei noch
nie ein Kind ein guter Menſch geworden. Deshalb miütje der Lehrer darnadı
jtreben, des Stodes ganz entbehren zu können. Körperliche Strafen ſeien ım
Hausregiment viel zuläffiger als in der Schule Wehe ver Schule, in welder
der Stod regieren muß, aber wehe aud derjenigen, in welder er nie und
nirgend die ultima ratio jein darf.“ — Gräfe beitimmt die Schulzudt als
diejenige Thätigfeit der Schulerziehung, durch welde die Schüler zur Frömmig—
feit, zum Gemeingeifte uud zu einem praftifhen Sinne gewöhnt werden jollen,
fo lange fie nicht im Stande find, fich ſelbſt mit Einfiht und Selbſtthätigkeit
dazu zu beftunmen. Die Mittel der Zucht find: Geſetze, Gebote, Erinnerung
und Ermahmmg, Drohung, Strafe und Belohnung. Durd die Schulzucht
joll die Freiheit des Schülers nicht umterbrücdt werden; nur die Willkür jell
fie überwältigen und die Selbftfucht beſchränken, den Willen aber im jeiner
Richtung zum Bernünftigen und Guten ftärken und die Freiheit in ihrer Ent:
-widlung befördern.
Aus den angeführten Citaten geht zur Genüge hervor, 1) daß die Schul-
pisciplin gegen früher aanz entſchiedene Fortfchritte zur Humanität machte, und
daft zweitens der Begriff derſelben ſich allmählich beitimmter herausgeftaltete.
Verſchiedene Pädagogen haben diefes Feld, das wir in vorliegenden Blättern
wohl in allen feinen einflußreichiten Momenten üiberblidt, theoretiſch weiter be:
arbeitet, in neuerer Zeit oft auch nur berührt. Neben Artikeln verſchiedener päda—
gogiſcher Fachblätter und verſchiedenen pädagogiſchen Werken lagen dem Ver—
faſſer bei Abfaſſung dieſer Schrift, ſowie bei der Bearbeitung ſeiner „Disciplin
der Volksſchule“ beſonders nachfolgende literariſche Hilfsmittel vor: Dieſterweg.
Rhein. Blätter. 1830. — Dittes, Erziehungslehre. — Dittes, Methodik ver
Volksſchule. — Dobſchall, Grundſätze der Schuldisciplin. — Fröhlich, Päda—
gogiſche Baufteine I und II. — Hennig, Die äſthetiſche Bildung in ver Volls—
ſchule. — Kahle, Grundzüge der evangeliichen Volksſchulerziehung. — Kebr,
Praris der Volksſchule. — Kellner, Aphorismen. — Kern, Grundriß der Päda—
gogik. — Kruſe, Schuloisciplin. — Yargadier, doltfhultune, — Dtte,
Geſammeltes und Eigenes. — Palmer, evangelifche Pädagogik. — Kein, Päda—
gogiſche Studien 1. und 2. Heft. — Rüegg, Pädagogik. — Schmidt, N,
Geſchichte der Pädagogik. — Schmid, Enchelopädie, VIIL Bd. — Schütze,
Schulkunde. — Schumann, Yehrbud der Pädagogik. — Zeller, Lehren ver
Erfahrung. — Zerrenner, Grundſätze der Schuldisciplin. — Ziller, Grund:
(egung zur Pehre vom erziebenden Unterricht. — Die Regierung der Kinder. —
Jahrbuch des Vereins für wiſſenſchaftliche Pädagogik. — Vorlefungen über
allgemeine Pädagogik. — Waitz, Allgemeine Päragogif, herausgegeben von
Profeſſeor Willmann. —
VNädagogiſche Hfudien.
Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein.
18, Seft.
Die
r
Erzichunasfdule.
Zugleih eine Einführung in die wiſſenſchaftliche Pädagogit.
Getrönte Vrelsſchrift.
Von
Dr. Guſtav Zroͤhlich.
Preuß. Schulinſpeetor und Rector der Simultanſchulen zu St. Johann a. d. Saar
und zu Jägersfreude.
Der erziehende Lehrer findet in der Moral und
der Biyuchologie zwei fichere Xeitfterne; der eine
. beleuchtet das Biel, der andere den Weg.
Wien und Seipzig.
Berlag von U. Pichler’s Witwe & Sohn.
Buchhandlung für pädagogifhe Literatur und Lehrmittel + Anftalt.
Drud von Fiſcher & Wittig im Leipzig. 1877.
VDorrede,
— —
Eine langjährige Wirkſamkeit als Lehrer und Leiter verſchiedener
größerer Schulanſtalten, das eingehende Studium der wiſſenſchaftlichen
Pädagogik nach Herbart, Ziller, Stoy, Kern, Willmann, Strümpell u. A. und
eigenes längeres Nachdenken und Forjchen über das Endziel ver Schulen,
welche ſich nicht eine Fach- oder Berufsbildung zur befonderen Aufgabe
geftellt haben, führten mich dahin, die Schulen vom Stanbpunfte ver,
Erziehung aus, d. i. der abfichtlihen und planmäßigen Bildung
eines CHarakters, aufzufafjen, ven Unterricht als einen erziehenden zu
betrachten, alle Schuleinrichtungen und Tätigkeiten, die Veranſtaltungen
des Lehrers, ja, das ganze Schulleben als Mittel und Wege zur Bildung
eines auf das Wahre, Gute und Heilige gerichteten Charakters anzufehen,
und eine mehrjährige Erfahrung lehrte mich, daß die bezeichneten Ideen
fih mit Erfolg in die Praris überführen laſſen.
Meine erjte Arbeit nach diefer Richtung hin, „ver erziehende
Unterriht im Lichte der wiſſenſchaftlichen Pädagogik“, —
reichte ich zu der legten, von Herrn Morit Kleinert in Dresden aus-
gefchriebenen Preisbewerbung ein, und einer von den neun ausgejetten
Preifen wurde auch ihr zu Theil.
Genannte Abhandlung erjcheint nun Hier als bejondere Schrift und
zwar mit den zur Entwidelung meiner Ideen und Principien erforderlichen
Erweiterungen und AZufägen.
Cine umfangreichere Arbeit über .vie Erziehung im engeren
Sinne oder die unmittelbare Einwirkung auf die Charafterentwidelung
der Jugend, fowie iiber die den erziehenden Unterricht und die Schulzucht
vor Störungen fehügende Regierung der Finder (Disciplin), behalte ich
mir noch vor.
Die vorliegende Schrift kann gleichzeitig dazu dienen, den Lehrer auf
einem leichten nnd kurzen Wege in die Hallen der wiſſenſchaftlichen
Pädagogik einzuführen, da ich mich bemühte, deren wichtigfte Lehren ein-
fach, furz und fahlich, ohne doch der wiſſenſchaftlichen Strenge und Schärfe
etwas zu vergeben, darzulegen. Sch denke, ver Leſer wird mir dies
danken; denn wer einmal in ven erhabenen und fejten Dom ver philo-
ſophiſchen Erziehungslehre eingetreten ift umd fich in ihm orientirt und
IV Borrebe.
beimifch gemacht hat, der will in den fchwanfenden Bauten der Vulgär—
pädagogif fich nicht mehr vecht erbauen und fich nicht mehr an den ber
fündigten Lehren befriedigt fühlen. Bietet doch in der That die wiljen-
ichaftlihe Pädagogik ein feſtes Princip, auf das fie mit Hilfe der eracten
Piychologie ficher weiter baut, und gelangt fie fo zu jcharf bejtimmten
Lehren und fauberen Begriffen; hier hat alfo der Lehrer, der Erzieher
foliven Boden unter den Füßen. Das Princip iſt ferner ein ethiiches,
und der Unterricht wird fonfequent als Hauptfaftor zur Anlegung eines
edlen Charakters aufgefaßt‘ und bearbeitet. Die anzuwendenden Mittel:
Lehrpläne und Lehrgänge, Methoden und Lehrformen, die Mafregeln ver
Zucht und der Regierung, alle haben dieſes moralifche Endziel im Auge
“und fußen .vurchgehends auf den Lehren der Piychologie. Anders bei ver
gewöhnlichen Erziehungslehre. Faſt jever Pädagog oder jeder pädagogiſche
Schriftſteller verfolgt hier ein anderes Princip, wenn er überhaupt ein ſolches
jtreng durchführt. So wird aufgejtellt: Das Princip der vor wiegenden
Teibesfultur: „Mens sana in corpore sano“ (Montaigne); - das der
Naturgemäßheit: „Der Menjch iſt von Natur gut; alle Kultur it ver
derblich“ (Roufjeau); — ein eudämoniftifches Princip: „Beförderung des
Glücks und ver Brauchbarkeit fürs Leben“ (Philantropen: Baſedow,
Campe, Salzmann, Wolfe); — ein humaniſtiſches: „Wahre Menſchlich—
feit“ (Humanität, Humaniften: Herder, Niethammer, Lefjing u. AU); —
ein pietiftifhes: „Srömmigfeit und Gottfeligfeit“ (Spener,
Franke, Zinzendorf); — ein theologiſches: „Gottähnlichkeit“
(Schwarz) und „Divinität“ (Göttlichkeit) oder Erziehung zum Abbilde
des göttlichen Seins (Graſer); — ein realiſtiſches und fpecielle Berufs—
bildung fürs Leben; — ferner idealiftiihe: „Vollfommenheit und
harmonische Ausbildung“ (Niemeyer, Otto, Wiesner); Kraftbildung,
allgemeine Menjhenbilpung (Beitalozzi und feine Schule); Selbit-
thätigfeit im Dienfte des Wahren, Schönen und Guten
(Diefterweg); — ein formales: „Die Erziehung zur Selbit-
bildung“ (Denzel und Braubad); — ein rationaliftifches: „Ver—
nünftigfeit, Aufklärung, Verſtandesbildung“ (Krug, Johannſen); — ein
pofitio chrijtlihes: „Heritellung des durch die Sünde verloren gegangenen
Ebenbildes Gottes“ (Palmer). Andere Pädagogen ftellen noch andere,
meiſt unbejtimmte Begriffe al8 Enpziel der Erziehung hin.
Noch ſchwankender, als die Erziehungsziele find nun die Erziehungs-
mittel, weil jedes Lehrbuch fi auf eine andere Piychologie ftügt,
manches wohl auch ganz vdiefer Stüße entbehrt. Die meijten jegen in
der Piychologie noch die alte Lehre von ſelbſtändigen Seelenver-
mögen voraus, eine Theorie, welche für den Erzieher gänzlich unfruct-
bar iſt, da fie die Procefje des geiftigen Wachsthums nicht erflärt, Räthſel
ſchafft, wo feine find, natürlich Zufammenhängenves zerreißt, da, wo wir
Regeln verlangen, uns nur Regellofigkeit zeigt, ja, weil diefe Theorie
ganz auf einem alten piychologiihen Vorurtheile beruht, indem im ber
Seele nicht jelbjtändige Kräfte und Vermögen, ſondern nur Gewebe und
Geflehte von Vorjtellungen, Gefühlen und Begehrungen, ſowie Thätig-
feiten und Procejje unter dieſen Seelengebilven ſich finden umd die
jogenannten Seelenvermögen durch die Unterfuchungen ver eracten
Borrebe. v
Piychologie fih nur ald leere Allgemeinbegriffe erweilen. ever
Schriftiteller der Vulgärpädagogik hat fo faft feine eigenen Begriffe und
jeine eigene Terminologie, und, wenn man mehrere verjelben ſtudirt, jo hat
man ganz verjchievdene Gedankengebäude, vielfach mit unbewiefenen Be—
hauptungen vor fih; dadurch kann man nur vweriworren, nicht aber
Elarer im Geifte werden, man erhält nur Anfichten, feine Gewißheit.
Möge diefe Schrift zur weiteren Entwidelung des deutichen Schul:
weſens umd zur wahren Förderung der Jugendbildung mitwirken, ſowie
dazu beitragen, der wiljenjchaftlichen Päpagogif mehr und mehr Freunde
zu erwerben!
St. Johann a. d. Saar, im September 1877.
Dr. Guflav Fröhlich.
Inhalt.
Vorrede
I. Die — —— ie EHEN und — —
II. Der erziehende Anterricht .. .
1. Werth und Weſen des erziebenden sterne
2. Fehrftoff und Lehrform des erziebenden Unterrichts .
3, Thejen über den erziebenden Unterricht .
III. Rurze Belprehung der anderen Eartoren der Schulerziehung: — Zudt
und Schulleben
IV. Unterritsbeifpiele
J. Behandlung eines Marchen⸗
2. Behandlung einer bibliſchen Erzählung .
1.
Die Erziehungsfchule überhaupt, ihre Einrichtung und ihr Segen.
Diefe Schrift jucht einen Beitrag zum Aufbau und zur Geftaltung der
„Erziehungsſchule“ zu geben. Es entjteht mm zuvörderſt die Frage,
was unter einer jolden Schule zu verjteben jei. Eine Erziehungsichule oder
eine erziehende Schule ift, wie bereits in der Vorrede angedentet, eine ſolche
Anftalt, welche die religiös-fittlihe Charafterbildung der Jugend als das
Haupt- und Endziel verfolgt und in Hinfiht auf Organifation, Unterricht,
Zucht, Disciplin, Geift, Wirken und Veben jo beichaffen iſt, daß im dem
werdenden Menſchen vor Allem ein edles Gemüt) und ein jittlicher Wille
angelegt wird. Man wird aljo die Jugend durd die Pflege höherer Jutereſſen
und die dadurd bewirkte Hemmung der Begierden und Leidenſchaften ent-
wildern, den ganzen Oedanfenfreis jo bearbeiten, daß ihm reine Geſinnung
und edles Wollen entiproffen, Gotteserfenntnig und Gottesfurcht im Die
jugendlichen Seelen pflanzen, ſittliche Einſicht umd fittlihes Urtheil weden,
Mufterbilder der Tugend vorführen, die Zöglinge zur Befolgung göttlidyer
und menſchlicher Gebote anhalten, und jo Gottes Ebenbild im Menſchen
berauszubilden juchen, genug, die ganze Anftalt, um mit Herbart zu veben,
zu einer befeelten Gejellihaft oder zu einem moralijiden
Inſtitute erheben, ähnlich, wie feiner Zeit unjer Dichter Schiller vie
dentihe Schaubühne in eine moraliihe Anjtalt umwandeln wollte.
Eine meitere, ſich hier num aufdrängende Frage ift die: ob es micht
richtiger fei, oder ob es wenigſtens micht genüge, die Schule als eine bloße
Vehranftalt zu geftalten, als ein Imftitut, welches allen Wifjen und
Denten zu pflegen, alfo durch Unterricht im abjichtliher und planmäßiger
Weife nur den Gedankenkreis anzubauen und zu erweitern habe? —
Da wir dieſe Frage entjdieden vermeinen und vielmehr in der Erziehungs:
ihule Die als Ideal zu erftrebende wahre Schule ver Zufunft
erbfiden” müffen, jo tritt an uns Die Aufgabe heran, die Forderung,
Erziehbungsihulen einzurichten, zu rechtfertigen.
Wohl hat es ſchon nicht geringen Werth, wenn eine Schulanjtalt nur
Wiſſen, Kennen und Können pflegt, Schüler von Kenntnig und Intelligenz
heranbildet, wenn fie alfo eine bloße Unterridhtsanftalt it; denn dieſe
Rejultate dienen dem praktiſchen Leben, und Thorheit, Stumpfſinn, geiftige
Mindheit und Gedankenloſigleit drüden den Staubgebornen wieder zum
Staube nieder. Es dürfte gerade im umjerer Zeit, in welcher noch Maſſen
Fröhlich, Erziehungsichule. N
2
des Bolfes in blinden Aberglanben jeufzen und von ultramontaner Herrſchſucht
der bebauernswerthen geiftigen Armuth ziemlich ſtarke Dofen vernunfneidriger
Lehren zugemuthet werden, feineswegs als eine geringe Gabe der Schulen
anzufehen fein, wenn ſie Intelligenz und folgerichtiges Denken fördern, jo das
göttlihe Gejchenf der Vernunft zu Ehren bringen und dem ewig Blinden
des Lichtes Himmelsfadel leihen. Wir ftimmen darım Adam Smith mit
ganzem Herzen zu, wenn er jagt: „Die Unwiſſenheit ift die theuerſte Sache
im Lande“, und ebenjo Thomas Arnold, wenn er behauptet: „Wenn man
das Bolf in Unwiſſenheit erhält, jo braudt man ſich über jeine Brutalität
nicht zu wundern.“
Ebenjo pflichten wir unjerm verehrten Fürften Bismarck aus voller
Ueberzeugung bei, wenn er fi nody vor Kurzem folgendermaßen ausiprad:
„Der Staat hat jett der Kirche gegenüber feine verlorenen Pofitionen wieder
und kann weiterhin auf Grund der gegebenen Geſetze ji auf die Dereufive
beichränfen. Im diejen Kämpfen füllt insbejondere der Schule
eine wichtige Aufgabe zu; von ihr wird eine langjame
aber jihere Wirkung ausgehen“ „Gegen Marpingen und Lourdes
reichen wir mit anderen Mitteln wicht aus, mit den Gensdarmen gar nicht,
da fann nur von der Schule die Heilung ausgehen.“ *)
Allein wir meinen, dak die Schulen doch noch einen ungleich höheren
Werth erlangen, daß fie zu vollfommmeren Anftalten erhoben werden, wenn
fie nicht nur als Yehr-, fondern auch als Erziehungsanftalten wirken; fie
bilden dann nicht nur einfeitig die intellectuelle Seite des Menſchen, ſondern
den ganzen Menſchen.
Wir geben ferner zu, daß vor Allem die mangelhafte Ausbildung der
Eltern in den Schulwifjenicaften das Bedürfniß nah Schulen wedte und jie
ihuf. Da aber eines weifen Gejeßgebers Augenmerk jein muß, bei Aufftellung
verjchiedener, niederer und höherer, Ziele die höchften erreicht zu Teben, jo
wird er aud die Schule gern feinen höheren Plänen dienſtbar machen.
Erziehung iſt aber das höhere Ziel, weldes das wiedere, Die durch Unterricht
erftrebte Erkenntniß, mit einschließt, da Unterricht ein Mittel zur Erziehung it.
Die eigenthümliche Natur der wichtigiten Erziehungsfactoren, das Weſen
des Unterrichts ımd der Schule, die hohen Aufgaben, welde die Moral und
die Kultur unferer Zeit zur Löſung ftellen, jo wie unfere Lebensverhältiſſe
und manche nachtheilige Einflüſſe unſeres Zeitgeiftes auf die Jugendbildung
fordern mit gebieterifcher, Nothwendigkeit, daß alle Schulen, welche nicht
jpeciell zur Vorbereitung auf einen beſtimmten Beruf dienen, als Erziehungs:
ſchulen eingerichtet umd geftaltet werden. Richten wir unfer Nachdenken auf
jeden diefer angedeuteten Punkte nod einige Momente.
Wohl kann man die wichtigen Thätigfeiten oder Factoren der Erziehung:
Unterridt, Zudt und Regierung in thesi tremmen, jedoch ‚nicht in
praxi. Die Zucht muß ſich auf das wichtigſte Erziehungsmittel, den Unter:
richt, gründen, alfo mit ihm Hand in Hand gehen, und der Unterricht birgt
einen Reichthum von erziehlihen Elementen in fih, welche die Zucht weiter:
*) Worte aus einem Gejpräche, welches Fürft Bismard am 26. Juni 1877 in
Kiffingen mit ſechs würtembergiſchen Geiftliben des Kocerthales gepflogen. Bergl.
Nr. 44, Jahrg. 1877 des „Daheim“, ©, 717.
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führt. Der Unterricht dringt tief im die Werkftätte der Geſinnungen, be
jonders aber jede Religions- und jede Gefchichtsitunde übt Gewalt über die Herzen
der Jugend, und die Negterung tft die äußere Stüße und Hilfe des Unter:
richts. Die Natur des Unterrichts verbietet darum, ihn von der Zucht amd
‚der Regierung abzulöfen und ihn etwa allein dem Lehrer und legtere ben
Eltern zu übertragen ; eine derartige ftrenge Trennung könnte nicht ftattfinden,
ohne das Gelingen des wichtigen Erziehungswerfes gänzlich in Frage zu jtellen.
Sa, ein Unterricht ohne ihm begleitende Zucht und Disciplin ift bei Un-
miündigen kaum möglid. Cine Schaar von Kindern, ja jelbft nod von
Jünglingen kann man gar nicht unterrichten, ohne daß nicht reichlich und
täglih Fälle einträten, in denen der Lehrer Disciplin und Zucht üben muß,
wenn er nicht einer unmoraliſchen Lauheit besichtigt werden joll.
Wenn der Religionsunterrict dem Lehrer die Verpflichtung auferlegt, die
Schüler über die Wahrheitsliebe, die Gerechtigkeit, die Friedfertigkeit, das
Wohlwollen und die Dankbarkeit zu belehren, jo kann er dies nicht mit Erfolg
than, wenn er nicht ſelbſt als Vorbild diefe Tugenden üben, fie im Leben
feiner Schüler fürdern und Yüge, Ungerechtigkeit, Streitiuht, Haß und Un—
danfbarfeit befämpfen wollte. Der Lehrer fann nicht edle Männer und Frauen
vor den Geift der Schiller führen und ſie werherrlichen, ohne gleichzeitig die
legteren zur Nachahmung der Tugenden jener zu ermuntern; er kann nicht in
einem Wugenblide den Segen der Gejegmäßigfeit in der Natur und im
Staatsleben preijen und im anderen Momente das gejegwibrige Leben und
Treiben der Schüler gejtatten. Mit Recht erklärte darum die Konferenz der
Directoren höherer Schulen in der Provinz Sachſen i. 3. 1874 einftimmig,
daR es unmöglich jei, die erziehblihe Aufgabe der höheren Lehranftalten
(und wir jegen hinzu, „auch ver mittleren und niederen“) von ber
unterrichtlichen zu trennen.
Das ganze Schulleben enthält weiter, wenn es rechter Art ift, einen
Reichthum veredelnder, den Charakter ſtählender Momente Es
ift darum ficher etıte Berkennung der Natur der Schule, wenn man annimmt,
daß fie in erjter Linie Unterrihtsanftalt und als folde auch Er-
ziehungsanſtalt jein müſſe; umgekehrt ift der Sat ridtig: „Die Schule
it zuerſt Erziehungsanitalt und folglich auch Unterrichtsanftalt.“*) Denn die
Schule jol im Zufammenleben von Schülern und Lehrern eine bejeelte
Geſellſchaft, ein fittliches Gemeinwejen daritellen, welches den Uebergang
vom Familienleben zu dem jtaatlihen und gejellihaftliben Yeben der Erwachſenen
bildet. In der Familie gilt nämlich das Kind als ſolches, von allen Seiten
wird ihm ohne Weiteres Yiebe und Zutrauen entgegengebradht; in der Schule
dagegen, wo ftrenge Ordnung, Pflicht und Gejet walten, findet nad Hegel
nur das wirkliche Berbienjt der Ninder Anerkennung. „Die Schule ift eine
Sphäre“, jagt derjelbe, „die eine wejentliche Stufe in der ganzen fittlihen Aus-
bildung des Charakters ausmacht.“ **) Im diefem Gemeinleben, im Strome
der Schule muß feftitehen, wer nicht fallen will, jo feftigt ſich der Charakter,
*) „Es iſt eine Verkehrung des Princips, die Schule als Unterrichtsanſtalt müſſe
auch Grziehungsanftalt fein, jondern die Schule muß als Erziebungsanftalt auch Unter-
richtsanftalt fein.” Graſer, Dirinität. 3. Auflage, J. ©, 251,
**) Hegel in feiner dritten Gymnaſialrede.
1*
4
welcher ſich nad Goethe nicht, wie das Talent, in der Stille des Hauſes,
jondern im Strome der Welt vollendet; im Schüler wird Theilnahme für die
Geſellſchaft erwedt, und er lernt der fittlihen Aufgaben wichtigite und ſchwerſte
(öfen, jeine geſellſchafthichen Pflichten zu erfüllen. Dieje Seite ver
Erziehung fehlt entſchieden dem Wamilienleben, weldes vermöge jeines
engen Stilllebens nicht jo der Charakterbildung dient, als das Schulleben.
Die Erziehung in der Familie muß darım durd die Er-
ziehbung in der Schule ergänzt werden; die Schulen find dann
Gehilfen der Familien; folglid müflen fie Erziehungsan-
ftalten ſein.
Allerdings ift die Familie die natürliche Erziehungsftätte, fie it Die nad
einer dur Jahrtauſende alten Erfahrung geheiligte, göttliche Urerziebungs-
anftalt, und eine gebildete familie bleibt für alle andere Er-
ziehung im Schulen und Privatinftituten, Beflerungshäufern, Kinder-
gärten u. ſ. w, das ewige Muſter. Cie ruht auf ber Viebe, kann die
Individualität der Zöglinge kennen lernen und berüdjichtigen, und es ſtehen
ihr viele wirffame Erziehungsmittel zu Gebote; das Kind wird in der Familie
cioilifirt und zum Eintritt in eine größere Lebensgemeinſchaft vorbereitet u. ſ. w.
Demnad muß der Schwerpunkt der Erziehung allerdings den Familien
verbleiben, und es wäre zweifelsohne ein thörichtes Beginnen, ihm in die
Schulſtuben verlegen zu wollen, wie neuerdings von pädagogiſchen Schrift:
ftellern vorgejchlagen worden ift.
Eine gebildete Familie, welche nicht ganz verkehrte pädagogiſche Begriffe
hat und die Kindererziehung nicht vernachläffigt, legt ganz entichieden den
Grund zur Gemüths- und Charafterbildung des Zöglings, und der Schule
liegt die Pflicht ob, auf dem von den Eltern bereits gelegten
Tundamente weiter zu bauen, in dem Falle aber, wenn ein foldes
nicht vorhanden, oder gar die jugendlide Seele vom Unkraute des Böjen
überwuchert ift, die Lücken auszufüllen und die Saat des böſen Feindes zu
tilgen (wie in dieſer Schrift weiter unten näher erörtert ft).
Wie nun bei jeder Erziebung die Bildung der Einſicht, vie Er—
fenntniß der erfte und wichtiafte Factor ift, weil nad) den Yehren ver
eraften Piychologie das Vorftellen, die Erfenntniß das Primäre, das
Gefühl und der Wille aber erſt das Sekundäre und nicht, wie der Philoſoph
Arthur Schopenhauer fälſchlich behauptet, der Wille das Gentrale im Menſchen
it: — je muß alſo auch in der Sculerziebung die Bildung dee Ge—
danfenfreifes, d. i. der Unterricht, die erite und wichtigſte Funktion,
das Fundament der Willensbildung ſein. Mithin muß die Schule deshalb,
weil fie in erfter Yinie Erziehungsanftalt ift, auch Unterrichtsanftalt ſein.
Das Haus kaun alſo das Schulleben feiner erziehlihen Einwirkung
wegen gar nicht entbehren, aber aud der Klaſſenunterricht in der Schule
hat vor dem Einzelunterrichte in den Familien ganz beventende Vorzüge.
Eine Klaſſe mit 40 Schülern gewährt nicht jenem Schüler etwa nur 1/,, des
Unterrichts, mit Nichten! Bei einem guten Schulunterrichte wird nit ein
Schüler nad) dem andern, ſondern werden alle zugleich unterrichtet; ein
titchtiger Lehrer ertheilt nicht Einzel-, ſondern Klajjenunterridt. Die
Kaffe ift audy nicht eine Summe einzelner Yernender, jondern ein orgauiſches
Ganze jelbitthätiger ftrebender Geifter, won weldem jeder Schüler ein lebendiges
5
Glied ift. Alle betheiligen fi gemeinjam an Ciner Gevanfenarbeit; die
Geijter reiben ficd) aneinander; der gute Geift, der im ganzen Chore lebt,
reißt auch den unterften Schüler mit fort und wedt Wetteifer und Nach—
eiferung, und das Nejultat einer Schulftunde fommt der Gejammtheit zu
Gute, Kraft der Wahrheit, welde Dieftermweg irgendwo einmal ausge—
Iproden hat: „Das Denken tt weniger ein Produkt des Individuums, als
das der Gattung“ — Dieje Vereinigung zu Einem Zwecke, diefe Ge-
ſammtarbeit einer Klaſſe ift durchaus eine jittlich-ernfte Thätigkeit umd birgt
eine tief in die Seele greifende Kraft. Wie arm und todt erſcheint dagegen
der Einzelunterricht, in welchem der Schüler nur das gewinnt, was er allein
zu erwerben vermag! Wenn darum von Glücksgütern begünftigte Eltern
ihren Kindern den Schulunterricht durch Privatunterricht mehr als zu erjegen
alauben, jo irren fie. Die erziehlihen Momente im Schulleben, die An:
regung und den geiltigen Neichthum des Klaffenunterrichtes fünnen fie durd)
den Unterricht eines Hauslehrers nicht erjegen, wenn man auch zugeben muß,
daß der Einzelunterricht auf die Individualität eines Schülers mehr eingehen
und der Lehrer ſich «jcheinbar) dem Schiller mit ungetheilterer Hingabe
widmen kann.
Weiter gebieten auch die Moral und unſere ganze Kultur, die Schule
nicht als bloße Yehranftalt, jondern als Erziehungsanftalt aufzufaffen und zu
geitalten. Unſer Staatsleben, die ganze Gefellichaft ruht auf den ftarfen
Säulen der Religion und Moral; wer joll fie unter der Jugend aufrichten,
wenn es nicht die Anjtalten des Staates und der GSejellihaft, vie Schulen,
thun, welde nicht nur Gehülfen der Familie, jondern aud die Mandatare
des Staates und der bürgerlichen Gefellichaft find? — Stellen wir aber ven
Schulen die Aufgabe der Erziehung, jo ftellen wir ihnen ein höheres Ziel,
welches das nähere, das Willen und Können, mit einfchlieft, weil die Tugend
ohne einen gewiſſen Grab von Intelligenz jchlechterdings unmöglich ift, ja
geiftige Kraft und Regſamkeit das fichere Fundament der Tugend bilden. Die
Schulen verlieren mithin durch die ihmen geitellten pädagogiidhen Aufgaben
nicht, fondern gewinnen und tragen weit mehr zur Verbreitung wahrer Kultur
bei, als wenn fie nur Lernſchulen find. Bedenkt man ferner, daß der
werdende Menih 8, 10 bis 12 Jahre lang, aljo den größten Theil feiner
Jugendzeit, in den Schulzimmern vwerlebt, und daß die große Schaar aller
Lehrer ihre aanze Lebenszeit und Lebenskraft ibren Schülern weiht, jo wäre
es doch bevauerlih, wenn dieſe Schulzeit und die reichen Kräfte der Lehrer
nur zur Entwidelung des Talentes und eines reihen Willens, welche ebenjo
oft mit Charafterlofigfeit, Yieverlichfeit und Bosheit gepaart fein fünnen, und
wicht gleichzeitig and zur Bildung des Gemüthes und Willens verwendet, wenn
nicht zugleich auch im die kindliche Seele Ehrfurcht vor dem Heiligen, Yiebe
zu dem Wahren und Schönen und Begeifterung für das Gute gepflanzt würden!
Die Moralität verleiht den Adel der immeren Reinheit und geiftigen
Geſundheit, der geläuterten und im Gott gejtählten Gefinnung, und zwingt
meist der Welt mehr Achtung und Anerkennung ab, als bloße Genialität.
Nicht Das, was ein junger Menſch lernt, jondern Das, was er wird,
jeine ganze Perjönlichkeit, die moraliihe Würde, iſt das bejjere Theil, das
Eine, welches Noth thut. Die Geſchichte der Pädagogik lehrt auch, daß die
Schulen nur dann wirkſame Factoren des Lebens waren, wenn ſie ſich ein
6
ſittliches Urbild ſetzten und ernftlich daſſelbe zu realifiren ftrebten. Die
alljeitige Ausbildung des Zöglings kann nur gedeihen, wenn man nicht ein-
ſeitig auf ibn einwirkt; aber eine Yernichule gewährt nur eine eimfeitige Ein:
wirkung, höchſtens nur imtellectuelle und äftheriiche Bildung, alſo eine halbe
Bildung, während der Zögling der erziebenden Schule ein ganzer Menſch wirt.
Daß Die Forderung, Erziehungsichulen zu gründen, gerade in unjeren
Tagen ihre vollwuchtige Berechtigung bat, dies bezeugen erwähnter Maßen
auch mande Auswüchſe unjeres Jeitgeiftes. Wenn wir nun aud)
in die Klagelieder Mifvergnügter, welche unjere Zeit als die ſchlechteſte ver-
danımen, die Eittenverderbnii als das Produkt der Verbreitung der Willen:
ſchaften und Künſte anfehen, diejen ihr Diadem rauben und ihmen Umkehr
gebieten möchten, wicht mit einjtimmen können, weil man zu allen Zeiten über
Unmoralität geklagt, das goldene Zeitalter immer weit binter ſich, in
nebelbafter Ferne grauer Borzeit erblidt hat, und es ein thörichte® und ver-
gebliches Beginnen jein dürfte, die Kultur wieder zurididrauben zu wollen;
wenn wir ferner das viele Gute, welches in unjerer Nation ſich offenbart,
den Fleiß, den Forichungseifer, die Strebjamfeit, die Wohlthätigfeit und Barm-
berzigfeit, die Humanität namentlich auch gegen Verbrecher, den Patriotismus
und Anderes, keineswegs verfennen wollen: — beflenungeadhtet läßt ſich doch
angeſichts der Statiftit der Verbrechen und Vergehen, namentlich in unjeren
großen Städten und den Induſtriebezirken, die Mißachtung göttlicher und
menjchlicher Gebote nicht ableugnen. Die vielen Morde, Diebftähle und
Räubereien, die Mefieraffairen, vie Meineive, die Yiederlichkeit und Völlerei,
die allgemein verbreitete und in großartigem Maßſtabe betriebene Fälſchung
der Nahrungsmittel und andere abſcheuliche und ntederträchtige Betrügereien
im Gejchäftsleben bezeugen, var Yeben und Eigenthum des Nächiten, Wahrheit
und eigene Ehre nicht immer heilig gehalten werben, und es jcheint, ala ob
ein ehrbarer, jittliber Wandel gering geachtet werde, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit
und Biederfeit, einfache, alte löbliche Sitten und patriarchaliiche Zuftände all
mählich aus der jeßigen Generation ſchwänden. Bielfad iſt das Yeben unierer
Zeit mehr auf Schein, als auf wahres jittlihes Sein berechnet ; das Gründer-
thum, das ausichweifennde Yeben maucer Grofftädter, das überall zu Tage tretende
materielle Einnen und Treiben jollten uns warnen vor den Gefahren eines in
Eudämonismus verfintenden Genuflebens, weldes mit Tannhänſer dem Motto
huldigt: „Nur im Genuß erfenn’ ich Liebe!” — Die Unehrlichfeit, die Untrene
und Unzuverlüjfigfett, denen wir unter dem minnlichen und weiblichen Dienit-
perfonal und Geſinde begegnen, Die veftructiven Tendenzen des Socialismus
zeigen uns aud die umteren Stände in feinem erfreulicheren Yichte. Gott
wolle verhüten, daß allmählich auch bei uns, wie in Amerifa, wo jelbit Fabriken
für Diebeswerkzeuge eriftiren, das materielle Streben die Oberhand gewinnt,
das Streben, nur Geld zu erwerben, Reichthümer aufzufpeichern, einem Größen—
wahne nachzujagen und ven Götzen der Habjucht, der Ehrſucht Hekatomben zu
opferu, gleicyviei ob mit erlaubten oder unerlaubten Mitteln !
Wenn die Väter Herlinge eſſen, jo it es fein Wunder, wenn ben
Kindern die Zähne ftumpf werden. Auch unfere Jugend läßt in Bezug auf
ihr ſittliches Verhalten Mandyes zu münjcen übrig, So läßt ih eine
Stimme im Schulblatte für Heſſen jegt folgendermaßen vernehmen: „Es
geht ein Nothichrei durch die Yehrerwelt. Aus allen Theilen unjeres engeren
7
und meiteren Vaterlandes mehren ſich die Klagen über die zunehmende Zudt-
(ofigfeit unferer Schuljugend. Ungehorſam, Widerfeglichkeit, “Pietätlofigfeit
gegen die Pehrer nehmen in ſehr bedenklicher Weiſe zu. Däber macht ſich eine
Empfindlichkeit von Seiten der Kinder ſowohl, als auch der Eltern gegen jede
Strafe, jelbit gegen ben gerechteſten Tadel bemerkbar, wie man dies früher
nicht gefannt bat. Die meisten Eltern wollen von der Schule als Erziehungs:
anftalt nichts mehr willen und erbliden in jeder ernten Zurechtweiſung ihrer
Kinder einen Eingriff im ihre Elternrechte. Sie ſuchen den Zweck ver Schule
in bloßer Berftandesbildung, in der Aneignung von Keuntniſſen und mancherlei
Geſchicklichkeiten. Bon einer fittlichreligisjen Bildung ihrer Kinder, von einer
Gewöhnung zur Ordnung, Pünktlichkeit, Wohlanftändigfett und zum Gehorſam
haben ſie faum nod eine Ahnung. Daher auch die vielen Klagen der Eltern
über ſolche Yehrer, die es mit der Erziehung noch ernſt nehmen und jtreng
auf Zucht und Gehorſam halten. In Städten ift es bierin viel ſchlimmer,
als auf dem Yande u. j. wm.“ *)
o Der Magiftrat in Nürnberg bat jeßt (Juli 1877) folgende Bekannt—
machung erlaflen: „Da im neuerer Zeit die leider nicht ungerechtfertigten
Klagen über das jittenloje, rohe und unbotmäfßige Gebahren
der heranwachſenden Jugend und insbeiondere der Schul:
jugend fich mehren, jo jieht fid) die Bolizeibehörde, nachdem wegen der von
der Schule zu geichebeuden Einwirkungen auf die ihr amvertraute Tugend
durch Korrejpondenz mit den Schulbehörden das Geeignete geſchehen und aud)
wegen vorfommender roher Nusjhreitungen auf öffentlicher Straße
die Bolizeimannichaft zum energiichen Einjchreiten angewieſen ift, veranlaftt,
Eltern, Vormünder und fonftige der Erziehung der Jugend obliegenden
Perfonen recht dringend aufzufordern, auch ihrerfeits nach Nräften der
emporwudhernden Rohheit und Sittenlofigfeit der Jugend
entgegenzuarbeitenden und die Schule in diefer Richtung zu unterftügen. Nicht
minder ergeht an alle erwachienen Berjonen, welche für dag Heranwachſen
eines gejitteten, geiſtig und Förperlid gebildeten Geſchlechtes
Intereſſe fühlen, das Erjuden, gegen wahrgenommene grobe Unarten der
Schuljugend auf der Straße und namentlih gegen ältere Perſonen
mahnend und warnend einzujhreiten.“
Bor Allem it der Jugend eine ideale Richtung zu geben, daß ſie nicht
im materiellen Treiben untergehe. Wer joll dieſe Aufgabe löjen? Die bejjern
Familien und vie Schulen, und ganz bejonders die Schulen, weil
leiver auch unſer Samilienleben bin und wieder manche Schattenjeiten
zeigt oder wenigjtens ber Jittlichen Erziehung der Jugend nicht immer günftig ift.
Die große Ausdehnung des induſtriellen und merkautilen Yebens; Die
ausgevehnte Anwendung des Princips der Arbeitstheilung, verbunden mit
Fabrikleben, an dem leider bie und da auch die Frauen, jelbjt die Kinder
theilnehmen; der überhandnehmende Pauperismus u. U. beeintrüchtigem das
Familienleben bier in geringerem, dort in höherem Grade, genug, unjere
ganzen gejellichaftliben Zujtände find der Art, daß fie die jhönen Familien—
bande aufzulöfen drohen over jelbit das Schließen des Ehebundes nicht für
opportun erflären. „Die Ehe ift nicht mehr modern!“ jagt eine Soubrette in
— —
*) Bergl. Nr. 25 der Allg. d. Lehrerztg. von Sonntag, den 24. Juni 1877, S. 415,
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einem modernen Puftipiel. Im den beiferen Familien ailt es jetst wicht mehr für
anftändtg, das Gefinde und die Gehilfen am Familientiſche und Familienleben
theilnebmen zu Affen, und jo entbebren fie auch der fittlihen Auffiht une
Einwirkung der Familie. Unjere Zeit it zu geichäftsvoll, zu geräuſchvoll
und zu jorgenvoll, als daß die Jugenderziehung in ihr beſonders aebeiben
jollte. Mander Maun führt ein öffentliches Yeben oder verwendet alle jeine
Kräfte auf feinen Beruf, der ihn fern vom Haufe ruft, und mande frau
führt ein Leben in ven Geſellſchaften; häusliher Sinn, Sparjamfeit und
Mäßigkeit Fehren oft auch dem einfachen Handwerker den Rüden; manchen
Eltern fehlen auch vie richtinen pädagogiſchen Begriffe, anderen die Zeit und
Luſt, fih erfolgreich ihren Kindern zu widmen.
Wenn man nun alaubte, das verlorene Paradies, die entſchwundenen
patriarchaliſchen Zuftände durch Gejege und Gewaltmaßregeln, durch geiftine
Umkehr, Hemmung von Wilfenichaft, Kunſt, Induitrie, Handel u. j. w., genug,
der ganzen Kultur wieder zurüderobern zu fünnen, jo irrt man jehr; es
wire dies eine Siſyphusarbeit; and eine Nüdkehr zur blofen Natur, in pas
Dunfel des Urwaldes, zu den einfahen Zuftänden der Wilden oder unjerer
Urahnen, A laRouffeau, wäre weder räthlich noch möglid. Durch Vernichtung der
Kultur müßte die Menjchbeit auch ihrer Segnungen verluftig geben ; fein ver:
jtändiger Gärtner haut aber einen ganzen Baum um, wenn er deffen Dornen und
wilde Schoffen entfernen will, weil er dann auch gleichzeitig deflen Blüthen und
Früchte mit zerftörte. Auswüchie der Kultur fann man nur wieder
durch Kultur-Mittelund Kultur-Inftitutiomern heilen. Wenn
mande Familien Fiir die Augenderzichung Lücken und Mängel zeigen, jo muß
man legtere demnach durch Erziebungeinftitute, Kindergärten und Schulen zu
bejeitigen juchen, ohne dabei die Entwidelung der Intelligenz zu hemmen. Hierin
ltegt die kulturhiſtoriſche Bedeutung und Miffion ver Schulen.
So body die intellectwelle und äſthetiſche Bildung zu jchägen ift, jo wenig
it fie allein doch ſchon Die wahre Bildung und der alleinige Weg
zur höheren ivilifation einer Nation und der ganzen Menjchheit.
„Hab' ih des Menſchen Kern erft unterſucht,
Sp weiß ich auch fein Wollen und fein Sandeln“,
jagt Schiller im Wallenftein; diefer innere Kern des Menjchen, welchem alles
Wahre und Schöne, alles Gute und Pöblihe entſproßt, ift aber eine
vernünftige Religiöſität und echte Eittlihfeit. Nah dem
Zeugniffe der Gefhichte geht ein Volt mit dem beginnenden Sittenverfalle
jeinem Verderben entgegen. „Die menſchliche Berjönlichkeit *, heißt es in
einer vor Kurzem erjchienenen Schrift, „zum wahren Bilde Gottes, zum
Organe des göttlihen Willens und alle Kultur zum Mittel für das Höchſte,
das Neid Gottes, zu machen, — das ift das wahre Bildungsiveal.“ „Die
Aufmerkfamfeit unferer Zeit ift auf Yernen, Kennen, Wijjen und
Können gerichtet, und ſie vergißt, daß das Alles mur zu einer hohlen
Aeuferlichkeit führt, wenn die Ausgejtaltung eines cdaraftervollen Lebens mit
draſtiſchem, auf Entſcheidung dringenden Wahrbeits-Eindrud verjäumt wird.“ *
*) Niemann, Ueber wahre und faliche VBolfsbildung, Bielefeld und Yerpzia,
Velhagen und Klafina, 1877, ©. 24. 25,
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Unjere großen deutſchen Männer, wie die Philofophen Kant, Fichte,
Hegel und Herbart, Staatömänner wie der Freiherr von Stein,
Dichter wie Yejfing, Herder and Schiller u. v. A., haben die Tugend
oder das beharrliche Streben nad Sittlichkeit als des Menſchen erhabenſtes
und ſchönſtes Ziel hingeftellt und dadurch aller Menichenbildung das wahre
Ideal gezeichnet. „Das ganze Daſein“, jagt der Weiſe von Königsberg,
„it ein Neid ver Zwede.“ „Die in der Natur ſich vollziehenden Zmed-
gedanfen find Ideen, die der Menſchenwelt gejetten Zwede jind Ideale.“
Kant, Fichte und Herbart haben den EUudämonismus, d. h. die Yehre
oder Denkweiſe, welche vie eigene Glüdjeligfeit des Menſchen, jein Wohl:
bebagen zu jeinem Hanptzwede und zum höchſten Beweggrunde aller Pflichten
macht, eifrig befämpft und als höchſte Beſtimmung des Menſchen, ala
„höchſtes Gut“ das Gute oder die Reinheit der Gefinnung und Güte des
Willens, die Uebereinftimmung des Willens mit dem Sittengeſetz bezeichnet.
Leſſing ſtellte die Reinheit des Herzens, welde die Tugend um ihrer
jelbit willen zu lieben im Stande ift, als das Ziel bin, nad welden das
Menjchengeichleht zu ringen und zu ftreben habe. Herder ruft aus: „Was
helfen alle Wiffenihaften ohne Sitten! alle Kenntnifje ohne Gemüthsbildung!“
und unjerem Dichter Schiller iſt „das Leben der Güter höchſtes nicht, der
Uebel größtes ihm ſomit — die Schuld“. Das firtlihe Ideal darf mau
hiernach wohl ala ven Kern und Stern, das Centrum des Lebensziels
bezeichnen.
Allen Nicht - Fahichulen, gleichviel ob niedere, mittlere oder höhere,
ift darıım, weil alle Menſchen zu einem ethiſchen Ideale fähig und berufen
find, die erhabene Miffion geworden, ein ſolches zu realifiren. In dieſer
moraliihen Aufgabe find vie Schulen gleih, nur durch die engere oder
weitere Peripherie des Kennens und Könnens, weldes ſie gewähren, von
einander unterſchieden.
Bergleihen wir nun mit dem gezeichneten Ideale die Wirklichkeit,
d. b. die Beihaffenbeit und Wirkſamkeit aller Schulen, jo muß man allerdings
befennen, daß Diejelben noch gar Mandes zu wünſchen übrig laffen. Wir
beitreiten keineswegs, daß viele Schulen unjeres Vaterlandes aud auf das
anftändige und fittlihe Verhalten der Schiller mit achten; die in jeder Klaſſe
geführten Cenfurbücer legen ja davon Zeugniß ab, daß die Lehrer aud)
dieſe Seite menſchlicher Bildung nicht ignoriren. Aber fie ift ihnen doch
nicht das Höchfte, nicht das A und DO; bie fittlihe Charakterbildung iſt · der
Anstalt nicht als Prinzip geſetzt und wird nicht fonjequent durdhgeführt ; der
Unterricht ift nach Stoffauswahl, Anordnung und Durcharbeitung nicht ftreng
pädagogiſch angelegt, daR er ein erziehender genannt werben fünnte, ber
Verkehr der Schüler unter fih umd mit den Lehrern, das ganze Yeben und
Weben in der Anftalt, die Disciplin find nicht fo geitaltet, daß ein dauerndes
Streben nah Sittlichfeit fi ergäbe und nothwendig ſich ergeben müßte.
Gar viele Schulen betrachten eben ala die Hauptiahe die Mittheilung
alänzender Kenntniffe, das Einprägen einer beftimmten Summe von Willen,
die Vorbereitung zu einer gewiffen ‘Prüfung, heiße fie nun Abiturienten=, oder
Freimilligenprüfung, over ſonſt wie, genug, viele Schulen find nicht nad
pädagogifchen Grundſätzen eingerichtet.
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Was gerade diefe pädagogiſche Geftaltung ver Schulen betrifft, ſo fine
merbwürdiger Weite im Großen und Ganzen die niederen Schulen den höheren
um einen Schritt voraus, eben weil die legteren den höchſten Werth uf
Kenntniffe und Fertigkeiten legen, feien dies num ſolche der hiftoriichen und ſprach—
lihen, oder der mathematiich - naturwifienichaftlihen Seite, und weil ben
Yehrern der höheren Schulen eine ausreichende theoretiſche und praktiſch-päda—
aogiiche Bildung nur jelten zu Theil wirt. Gewichtvolle Stimmen haben ſich
darum in biefer Beziehung ſchon mahnend vernehmen laſſen. So jagt Ziller*):
„Das dentſche Bolfsjhulwefen bat jeit 1748 jeine Seminare.“ „Im
Allgemeinen verdanft das Volksſchulweſen den Seminaren, fowie den jeit
Peſtalozzi jich werbreitenden Beſtrebungen für die Methodik des Unterrichts ven
Aufihwung, den es jeitdem genommen bat, vorzüglich aud die Gewandtheit umd
Geſchicklichkeit, eine große Maffe zu beleben, und nicht blos denjenigen unter
den Schülern, mit dem man fich unmittelbar bejchäftigt, jondern alle ın das
Intereſſe des Unterrichtes hereinzuziehen.
Das böbere und bejonders das gelehrte Erziebungsidul:
wejen hat dagegen bis jeßt mit wenigen wirflicen Ausnahmen ver Bor:
bilduna feiner Yehrer durd pädagogiſche Seminare entbehrt.“ „Der Beruf ver
Yehrer an den höheren Erziehungsanftalten fordert gewiß nicht blos ein Unter:
weifen in einem biftorifch-grammmatiichen oder einem naturwilfenjchaftlich-matbe:
matiſchen Fache, ſondern zugleidh eine pädagogiſche Wirkung; denn er
nimmt während eines großen Theiles von der Erziehungszeit der für die
höheren Stände fi ausbildenden Jugend, bei der für vie gelehrten Stände
bejtinnnten Jugend ımgefähr 9 Jahre bindurd, den bedeutenditen Theil ihrer
Kraft und Zeit in Anſpruch. Nichtsdeſtoweniger verſchaffen ſich die Lehrer der
höheren Erziehungsanſtalten vor Antretung ihres pädagogiſchen Geſchäfts durch—
gängig keine theoretiſche Kenntniß von demſelben, und ſie übernehmen die Ver—
pflichtung, Unterricht zu ertheilen, ohne mit den Mitteln eines zweckmäßigen
Unterrichtes zureichend befammt zu ſein.“ „Bei ihnen ſchläfert Die faule Tra—
dition das Bedürfniß pädagogiſcher Vorbereitung ein“, „und ſie nehmen deshalb
in der Klaſſe der höher Gebildeten eine Ausnahmsſtellung ein, Die ſich um ſo
mehr befeftigt, weil es in ihrem Kreiſe oft fait als ein Ehren-
punkt gilt, fein pädagogiſches Imtereije zu zeigen und fid
um pädagogiide Fragen und Unterfubungen nicht zu
kümmern“ „Wie fie durchgängig ver pädagogiſch-theoretiſchen
Borbildung entbehren, jo erhalten fie auch Feine vegelmäßige Anleitung zur
praftiiden Borbereitung für ihren Beruf.“ „Und nidt anders tft
es bei den Inſpektoren aller Schulen. Denn fie treten durchgängig
gleichfalls in ihr Amt ein, obme ſich dafür ſpeziell geſchickt gemacht zu haben.
Höchſtens, daß fie ſchon vorber Yehrer waren, die ihr Geſchäft auch bejorgten,
ohne dafür genügend vorbereitet zu fen. So kommt es denn, daß kaum in
irgend einem anderen Stande die Zahl der Stümper, Piufcher und Quad—
jalber fo groß ift, ale in dem der höberen Erziehungslehrer und der Schul:
injpeftoren in Bezug auf pädagogiſch-didaktiſche Bildung, und eine Folge davon
iſt, daß die Kunſt ver Methode an den höheren Yehr- und Erziehungsanftalten
*) Ziller, Grundlegung zur Lehre vom erziebenden Unterricht. Leipzig, Pernitsich,
1865, S. 19% ff.
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nicht aleihen Schritt gehalten bat mit der fortichreitenden fachwiſſenſchaftlichen
Ausbildung der Yehrer, daß das höhere Schulmefen jonar binfichtlich des
pädagogifhben Werthes jeiner Yiteratur hinter dem Volksſchul—
wejen zurüditeht, daß namentlid die Lehrgegenſtände ꝛc. bis jetzt nur
wenig nad pädagogiſchen Gefichtspunften bearbeitet find u. ſ. w.“
Diefes ſcheinbar harte Urtheil, welches Ziller vor 12 Jahren über die Lehrer
an Öyinnafien und Nealichulen, jowie die Schulinfpeftoren in Bezug auf ibre
pädagogiſche Bildung nnd Wirkſamkeit füllte, dürfte noch heute vielleicht mehr
als ein Körnlein Wahrheit enthalten. Hielt es doch Profeffor Dr. Stop,
einer unſerer Hauptvertreter der wiſſenſchaftlichen Pädagogik und des erziehen:
den Unterrichts, nicht für überflüjfig, über venjelben Gegenftand eine Anzahl
Theſen aufzuftellen und fie in einer Konferenz von Profefjoren und Yehrern
an höheren Schulen zu Bonn, am 28. Mat 1876, zu vertheidigen. Diele
Ihejen lauten in ihrer zweiten Bearbeitung nah No. 26 ver „Allgemeinen
Schulzeitung vom Profeffor Dr. Stoy*, Jahrgang 1876, folgendermaßen :
Die pädagogische Bildung für das höhere Lehramt. Vierundzwanzig Chefen
von Dr. 8 B. Stoy. Zweite Bearbeitung.
Tbefe I: Die pädagogische Bildung der in das Yehramt an ben höheren Schulen
eintretenden jungen Lehrer — Kandidaten — ift anerlannter Maßen in manıiglacher
Hinficht mangelbaft. Schreiende Uebelftände fordern dringend auf, Mittel und Veran—
faltungen zur Abhülfe zu fuchen,
Theſe 2: Diefe Mangelbaftigkeit tritt
theils im Unterrichte,
theils in der perſönlichen Behandlung der Schüler in Disciplin und Er—
ziehung zu Tage.
Theſe 3: Die Mängel im Unterrichte Können
nicht ſowohl Die Durch Verordnung und Sitte feftgeftellte ſtuſenmäßige Gliederung,
als vielmebr die in die Hand der Eimzeinen gelegte Methode und Technik in
der Behandlung der Unterrichtsjtoffe betreffen.
Theſe d: Diefe Mängel in Metbode und Technik zeigen fich nicht minder beim
lateiniſchen und griecbiichen, als beim deutſchen, franzöfifchen und enalifchen, als beim
aefchichtlichen und geographiſchen, matbematbifchen und naturwiſſenſchaftlichen Unterrichte:
Diefelben find fammt und fonders Verſtöße gegen Die geiftige Natur
der beftimmten Mitersftufe der Klaſſen überbaupt oder gegen die der
einzelnen Schüler-Andividbualität insbefiondere,
Tbeſe dr Diele Berftöhe bängen nicht zufammen mit einem geringeren oder
aröferen Maaße von Fachwiſſen: Diefelben haben wielmebr ihre Quelle
tbeits in der Beichaffenbeit der unverarbeitet gebliebenen Gedankenſtoffe aus
den alademiſchen Borlefungen,
theils in emem Mangel an Verſtändniß und Einficht im die Zwecke und Mittel
des Ilnterrichts und in die Schülernatur,
theils im der Regelloſigleit einer nicht Durch pädagogiſche Selbſtbeobachtung
und Beurtheilung durchdrungenen und regierten Lehrpraxis.
Theſe 6: Auch Die Verftöße, in der dieciplinariichen und erzieblichen Behandlung
der Schüler entſtammen benjelben Duellen, vorzugsweiſe aber den beiden lettgenannten,
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nämlich einem Mangel an pädagogiicher Einficht eines — und an pädagogiſcher Selbit-
regierung anderentheile.
Theſe 7: Somit ergeben fih drei Arten won Beranftaltungen zur Abhülſe. Es
alt, den künftigen Lehrern an böberen Schulen Gelegenbeit zu bieten:
a) Im Allgemeinen zu einer gründticheren Berwertbung und Verarbeitung der
akademischen Vorlefungen,
b) im Befonderen zur Gewinnung pädagogiſcher Einficht,
ce) zur Aneignung einer von Selbftbeobachtung und Benrtbeilung durd-
drungenen Praris,
Thefe 8: Die Gelegenheit zu einer eingebenden wiffenichaftlichen, Leineameas
aber zu einer fogenannten ſchulmäßigen Verarbeitung der afademifchen Vorleſungen zn
bieten, ift eine dringende Aufgabe für die akademiſchen Fachſeminare.
Theſe 9: Pädagogiſche Einficht wird nicht durch Mittbeilung von einzelnen Ber
erdnungen, Inftruftionen und fpecielle Anweifungen, fondern nur dur Einführung in
ein geordnnetes Ganze wobl begrimndeter Sätze und ihre Folgerungen gewonnen,
Theſe 10: Zur Erzeugung einer pädagogischen Einficht find erforderlich:
a) Borlefungen über pädagogiibe Eneyklopädie und Metbodologie, Über allge
meine und biftoriiche, über Gymnaſial-Pädagogik,
b) Verarbeitung der Vorträge in Abhandlungen und Diskuffionen,
ec) Ergänzung und Erläuterung der pädagogischen Lehren durch einzelne Lehrverſuche.
Theſe 11: Die Mittheilung der pädagogiſchen Wiffenihaft ift Aufgabe der
Universität und erfordert eine ganze Lehrkraft innerbalb der philoſophiſchen Facnttät.
Thefe 12: Die Erläuterung und Unterftüßung der pädagonifchen Vorträge durch
Abhaltung und Beobahtung von einzelnen Lehrverſuchen ſchließt ſich als umentbebrlice
Ergänzung an den Vortrag und gehört fomit felbftverftändfih in die akademiſche
Studienzeit gerade fo, wie für tbeologifche und medieiniſche Studien derartige
Inftitutionen längft beftehen und ſich bewähren,
Thefe 13: Eine Bermweifung diefer einzelnen Lehrverſuche in alademiſche Kad-
feminare fiir Gefhichte, Philologie, Mathematik, Naturwiflenfchaft würde bie Wiffen
Icbaftlichteit ebenfowohl der pädagogischen als der fachwiſſenſchaftlichen Studien ſchädigen
und ift ſomit ein für allemal abzuweiien,
Tbefe 14: Zur Gewinnung einer von der päüdagogiſchen Einficht durchdrungenen
Rraris ift erforderlich:
a) Ertheilung eines zufammenbängenden Unterrichts in mehreren Lebrfäcern,
b) genaue auf bidaftifche Anweifung gegründete Borarkeit,
ec) Verarbeitung ber eigenen und fremden Praris in eingebender wiſſenſchaft
licher Beurtbeilung.
Anmerk.: Die Beichräntung ber Anleitung zur echten Lehrpraxis auf Ertbeilung
einzelner Brobelectionen und Hofpitiren bei Mufterlebrern oder wohl gar au
eine von Beiden ift für den Hanptzweck erfolglos, außerdem in mebrfacher Hinſicht
ſchädlich. Ein Gleiches gilt von dem fogenannten „PBrobejabre”.
Thefe 15: Die Nebungen in zufammenbängendem Unterrichte ſollen in der Kegel
erſt nah dem Schlufi der akademiſchen Studien nnd nad beftandenem Eramen
pro facultate eintreten,
13
Anmerkt.: Motive zu Ausnabmen Können liegen in einem allgemeinen oder
befonderen Notbftande, d. b. in ber Febrernotb, oder der Bebürftigkeit bes Einzelnen,
welche zu ber weit unglnftigeren Lehrpraxis in Privatftunden nötbigen würde,
Theſe 16: Als ein zwedentiprechendes Feld für die Uebungen in zuſammen—
bängendem Unterrichte kann nur Die im päbagogiichen Geiſte geleitete Lebungs-
Thule gelten,
Tbefe 17 : Die bobe Beftimmung der Uebungsſchule muß darin gefucht werben, daß
dieſelbe nicht jowobl der Zurichtung der Kandidaten für befondere Lehrfächer oder Lehr—
ftufen oder Yebrgänge dienen folle, als wielmebr ber Erzeugung eines pädagogiichen
Dentens, Füblens und Wollens, d. b, einer allgemeinen vädbagogiihen Bildung,
welche zum fpäteren Eintritt in jede fpecielle Schulpraris befäbigt.
Tbefe 18: Die günftigfte Bedingung für die Gewinnung einer allgemeinen
pädagogiichen Bildung bietet Die Uebungsſchule offenbar dann, wenn diejelbe
a) von einer beftimmten Schulkategorie nicht einzelne Klaffen, Sondern ein alle
Stufen einschliekendes Ganze barftellt,
b) in ibrem Yebrplan die allem erziebenden Unterrichte gemeinfamen Elemente
in einfachiter Geſtalt Darbietet,
ec) durch den geiftigen Standpunkt ihrer Schüler den Yebrer zur totalen Umge
jtaltung der eignen Dent- und Redeweiſe ernergiich nötbigt und doch
d) dur die Einfachbeit in Gedantenbau und Gemütbszuftänden diefer Schiller
den Erfolg des, Yebrens wie ber perfönlihen Behandlung erleichtert.
Theſe 19: Die genannten vier Bedingungen für eine normale Uebungsſchule
finden fib in volllommenftem Maße vereinigt in der Elementarſchule.
Theſe 20: Vom praftiichen Gefichtspuntte aus muß noch befonders geltend
gemacht werden, daß
a) die Herftellung eines pädagogiichen Uebungsfeldes im einer Elementarſchule
mit vielen Schwierigkeiten nicht zu fümpfen bat, weiche an andere Kormen
der Uebungsſchule ſich beten,
b) die Wirkſamkeit der angehenden Lehrer mit größerer Sicherbeit auf Achtung
und Dank der Schüler und ſomit auf wichtige Hülfen und Ginflüffe
rechnen kann, ß
e) für die anziebende und gemütberfüllende Macht der Elementarſchule in der
Yebensgeichichte vieler nambafter Pädagogen Beweiſe liegen,
d) in der Elementarſchule auch für Leitung der Yebrerfeminarien und die Schul
aufficht die zwedentiprechendfte VBorbildung zu finden ift,
Tbefe 21: Unter den veridiebenen Stätten, an denen die Einrichtung einer
ſolchen Webungsichule fih ermöglichen läßt, ift Die Univerſitätsſtadt die zweck—
mäßigite, fowohl um der pübagogiichen als um ber übrigen wiſſenſchaftlichen Fort—
bildung willen,
Theſe 22: Demnach ergeben ſich als die Anftalten, welche die verfchiedenen Anf-
gaben der böberen Schulbildung durch ein Syſtem von Mafregeln zu löſen baben, zwei
Seminarien, ein tbeoretiiches und ein praftiiches,
Theie 23: Aus der Natur der Sache ergiebt ſich eine Vereinigung beider An—
ftalten unter einer einzigen Direktion als die ziwedentfpredende Form, d. b- das päda—
gogische, in eine untere und obere Abtheilung ſich gliedernde, Gefammtieminar,
14
Theſe 24: Die umfangreide und tiefe Sorge für eine tbeoretifche und praktische
Bildung. der Fünftigen Yebrer an böberen Schulanftalten kann nur einem im bieler
einzigen Arbeit feine ganze Yebensaufgabe findenden Scminardirector, dem Profeſſor der
Pädagogik, übertragen werden.
Jena, 17. Juni 1876.
Führen wir noch ein Citat aus einer der neueften Reformſchriften an,
aus Clem. Nohl's „Ein nener Shulorganismus. Zugleich Kritik
des gejammten Schulwejens. Neuwied und Yeipzig, 1877. Heufer.“ — Wenn
auch diefe Schrift Nohl's — und, fo weit fie ums bekannt geworben find, aud
die ihr vorausgegangenen fünf andern von berjelben Tendenz — das Princiy
der fittlihen Erziehung als Maßſtab au die Schulanftalten nicht anlegt, ſondern
praftifch jein will und fi auf den Boden der Erfahrung ftellt, jo legt ver
Verfaſſer dod der Erziehung, wie fie die Schulen geben jollen, Wertb kei,
und im jeiner fünften Schrift macht er Vorſchläge für Univerfitätseinrichtungen,
durch welche die fünftigen Yehrer während ihrer Studienzeit jowohl im Lehren
als aud „im Erziehen für ihren [hwierigen und verantwortungs:
vollen Beruf auf das eingehendite und gewifjenhaftefte geprüft werden follen.“
Im neueſten Werte, „Ein neuer Schulorganismus“, jagt er Seite 6
und 7 bei Beſprechung des Unterrichtsgefetes wörtlihb: „Der Entwurf ves
Unterrichtögejeges wird, jo weit er die Elementarjchule und Das mit ihr in
Verbindung Stehende betrifft, bei der größeren Zahl der Elementarlehrer eine
verftändige Prüfung finden. Dieje wiſſen nämlich, was ihren Auftalten un
ihnen jelbjt Noth thut, weil jie dort auch in den Stand geſetzt worden jint,
aus der Praris für ihre Weiterbildung den rechten Gewinn zu ziehen.
Sollen aber auch die Abſchnitte des Unterrichtsgejeges, welche die innere
Einrihtung höherer Yehranftalten betreffen, der Kritik der Sadverftändigen
unterbreitet werden, jo fann die weit überwiegende Mehrheit ver
wiſſenſchaftlichen Lehrer, wie wenig aud im Wilgemeinen an dem
beiten Wollen derjelben gezweifelt werden darf, auf den Namen „Sad:
verftändige* Leider feinen Anſpruch maden Es werden ja bie
auf der Univerfität ihre Ausbildung zum wiſſenſchaftlichen Lehramt juchenven
Studirenden hier weder in der Materie des Unterrichts, nod in der Yehr-
und Erziehungsfunft unterwiejen, auch die Praxis kann diefen Mangel nur
zum kleinſten Theil wieder gut madyen, und deshalb gehören Pehrer:
und Pädagogen in dem eigentlihen Sinne des Wortes auf
Gymnaſial- und Realanftalten niht zur Regel, fondern zu
den Ausnabmen Schulbalter und Etundengeber jind nod
lange feine Yehrer und Erzieher Ich babe viejen Uebelſtand in
meinen beiden Schriften „ Mängel und Mißſtände im höheren Schul—
weſen“ und „Pädagogiſche Seminare auf Univerſitäten“, ein—
gehend beſprochen und warte immer noch auf Widerlegung.“ Mebr be:
friedigt den Berfajjer in diejer Hinſicht das Elementar-
ihulmwejen. „Die Elementarſchule“, jagt er Seite 18, „ift, wenn
aud feine vollfommene Anftalt, jo doch unter den verfhierenen
Vehranjtalten eine der vollfommenjten.“
Die Mittheilung vorftehender Citate könnte den Yejer zu der Anficht
verführen, als ob wir die niederen und mittleren Schulen in Hinſicht der
Durchführung des Princips der jittlihen Charafterbildung bereits für voll
fommen bielten, dem jei ferne! Obwohl ihre Yehrer meiſt eine anerfennens-
werthe pädagogiſche Bildung genießen und in Folge dejjen dieſe Schulen meiit
pädagogiſcher angelegt und eingerichtet find, muß doch nod Vieles gefchehen,
bis jie das Ideal erreihen. As Schulen, in welchen das Princip der Er-
ziehung jtreng durchgeführt wird, nennen wir vor Allem die Yeipziger Semi—
narübungsichule des Herrn Prof. Dr. Ziller, die Dr. Barth'ſche Privatichule
in Yeipzig und die von Dr. Stop in Jena geleitete Lebungsichule des dortigen
pädagogiſchen Seminars; ferner die mehrklajlige Schule des Hauptlehrers
Dörpfeld zu Wupperfeld-Barmen.
Wodurch kann nun eine Schule zu einer Erziehungsſchule erhoben
werden? Wir antworten, durch Viererlei:
1) Durdy einen erzichenden Unterricht;
2) durd eine angemejjene Schulzudt, d. h. die unmittelbare Einwirkung
auf das Gemüth umd den Willen der Jugend, in der Abjicht, zu bilden;
3) durd ein von religiöſen umd fittlihen Ideen durchdrungenes, edlen
Sitten umd feinen Formen bulvigendes Schulleben, und
4) durch einheitlihes Zujammenwirfen von Haus und Schule und
Mitwirlen ver Namilienväter bei der Schulverwaltung.
In Nachfolgendem behandeln wir eingehend namentlich den eriten Punkt;
die anderen berühren wir nur kurz, indem wir uns ihre ausführliche Beſprechung
noch vorbehalten.
I.
Der erziehende Unterricht.
In pädagogiichen Kreiſen begegnen wir nicht jelten dem Begriffe: „Er-
ziehender Unterricht“; er liegt jozujagen auf dem YVebenspfade ver
Pädagogen und Schulmänner, jo daß namentlidy denkende Meifter der Schule
ibm durchaus nicht auszumeichen vermögen. Wenn ein Bewerber um eine
neue Stelle jeine Probelection vollendet bat, jo lehnt ihn der Yeiter der Schule
bisweilen deshalb ab, „weil der Candidat feinen pädagogiſchen Unterricht er:
theilen könne“; und führt ein Schulvorfteher einen Yehrer in fein neues Amt
ein, jo legt er ihm ans Herz, „fortwährend ven erziebenden Unterricht zum
Dbjekte jeines Denkens und Strebens zu erheben“. Kine Mutter, welde
hoben Werth auf die Kindererziehung legt, verlangt von ihrer Gonvernante,
„daß Nie ihrem einzigen Töchterchen doch einen erziehenden Unterricht ertheilen
möge, weil ihrem Ninde eine befonders gute Erziehung zu Theil werden jolle“.
Es erjcheinen ſchon während einer Reihe von Jahren „Blätter für erziebenvden
Unterricht“; ja, auf die Bearbeitung dieſes pädagogiſchen Thema werben
16
bereits Preife geſetzt. So lautet die jüngjte Preisfrage des evangeliſchen Con-
fiftortums ın Württemberg:
„Wie muß der Unterricht beichaffen jein, um erziehlih zu
wirfen? und fann die erziehlidhe Aufgabe der Volksſchule ſchon
durd einen guten Unterricht gelöjt werden?“
Eicher hat der erziehende Unterricht nicht nur im der Yehrerwelt, jonbern
auch in weiteren Kreifen bereits eine nicht geringe Schar von Anhängern;
freilich ein einfeitiger Kanfmanı oder Gewerbsmann verlangt von jeinem
Sohne nur Kenntniß und Uebung der Buchführung, des Geſchäftsſtils, des
kaufmänniſchen oder gewerblichen Rechnens und der Handelögeograpbie, er ver:
langt nur ein beftimmtes Maß von Wiffen und Können, indem er von
pädagogiſchen Unterrichte abjtrahirt.
Es ift gewiß fein Wunder, daß diefe Idee im der püdagogifchen Welt
endlich Wurzel faßt und die Herzen bewegt; denn ihr Vater, der Philoſoph
und Pädagog Johann Friedrih Herbart, führte fie ſchon vor 72 Jahren in
die Päragogif und die pädagogiſche Praris ein und beleuchtete fie näber. Ju
ver Einleitung zu feiner „Allgemeinen Pädagogik, aus tem Zwed der
Erziehung abgeleitet, Göttingen, Rower, 1806*, fagt er Seite 17 ff.: „Ich
geitehe gleich hier, feinen Begriff zu haben won Erziehung ohne Unterridt,;
jo wie ich rückwärts, in diefer Schrift wenigſtens, feinen Unterricht anerkenne,
der nicht erzieht.“ — „Um ven allgemeinen Gedanken: Erziehung durd
Unterricht mehr hervorzuheben, verweilen wir bei dem entgegengejegten:
Erziehung ohne Unterricht! Beifpiele davon fieht man häufig.“ — „Ti
Erziehung durch Unterricht betrachtet als Unterricht alles dasjenige, mas
irgend man dem Zögling zum Gegenftande der Betrachtung macht.“ ‚In
jenem „Umriß pädagogiſcher Vorlefungen“ jagt Herbart 8 57
weiter: „Bon ſolchem Unterrichte (der ein mütliches Willen oder eine ver:
langte Sefchidlichfeit beibringt) wird hier nicht geredet, fondern nur vom er-
ziehenden Unterricht.“
Wohl ift es gewiß ganz löblich, daß Diefe Idee in Die Pädagogik und
Schulkunde eingeführt worden ift und fie angewendet wird; aber das Schlimme
bei der Sache ift, daß man felten eine bündige und genügende Antwort erbilt,
wenn man fragt: „Was tft denn erziehender Unterriht? Worin bejtcht
jein Weſen? Wie ift er beihaffen? Welche Zwecke verfolgt er, melde Mittel
wendet er an, und im welcer Norm ift er zu ertbeilen?“ „Bei diefen Fragen
wird Alles ftumm im reife ringsum.“ — Nun gibt es zwar voluminöſe
gelehrte Bücher der philoſophiſchen Päragogif über unfern Gegenftand, aus
denen man fid Raths erholen könnte; allein es ift nur Schade, daß fie eben
zu umfangreib und gelehrt find, daß ihmen die edle Einfachheit und Faßlich—
feit abgeht und man fich dur die Vorhöfe der Gelehrjamteit erit mühſam
hindurcharbeiten muß, bevor man ins Allerheiligite dev Erfenntniß einzudringen
vermag.
Es dürfte darım wohl feine undankbare Aufgabe jein, einmal viefem
Thema näher ins Auge zu ſehen und den erziehenden Unterricht jorgfältig zu
betrachten ımb zu unterſuchen, worin jein Wejen und jein Werth bejteht, wo—
durch amd wie er ausgeführt wird? ımd zwar namentlid zu dem Bebnfe,
um die Kefnltate des Forſchens in einfadber, ſchlichter Weije dar:
zulegen und fie dadurch mehr zum Gemeingut aller Yehrer, befonders auch
SL
der jüngeren, zu erheben. Da ver in Rede ftehende Beariff von ver willen:
ſchaftlichen Pädagogik (d. h. von der Erziehungslehre, welche aus einem Syſtem
logiſch Turchgebilveter, aus ficheren Principien abgeleiteter und erfahrungs—
mäßig durchgeprüfter Begriffe über die Erziehung des Menſchen beſteht) zu
Tage gefördert worden it, jo müſſen wir ibn auch, jedoch unbeſchadet ver
Faßlichkeit der Darftellungsweife, mit dem Nichte dieſer Pädagogik näher
beleuchten.
1. Werth und Weſen des erziebenden Unterridte.
Die höchſte Aufgabe der Erziehung befteht nad der wiſſenſchaftlichen
Pädagogik darin, den Zögling zur Sittlichkeit oder zu dem bebarrliden
Streben nah Tugend zu führen; da nun die LSittlichfeit wejentlid im
Willen Liegt, jo können wir auch jagen, e8 joll dem Willen, d. b. dem Wollen
und Nichtwollen der ‘Berfon, ein ſolches feites Gepräge aufgedrückt werben, daß
es unter gleichen Berhältuiffen dasjelbe bleibt und das erfannte Rechte und
Gute, jelbjtthätig zu vollziehen ftrebt. Ein foldes Gepräge des Willens heift
ein jittliber Charakter, und im ihm liegt das Ideal der Perſönlich—
feit. Die Heranbilvung eines folhen, Charakters im Zöglinge iſt vie höchſte
Aufgabe des Erziehers, weil fie den Menſchen auf die erhabenfte Stufe der
Ausbildung und Beredlung führt und Intelligenz, Gemüth, Gejhmad, Reli:
gioſität, jelbft einen Fräftigen und gefunden Körper, als dienftwilliges Glied des
Geiſtes, genug, alle hohen und niederen Seiten der Menfdyenbildung voraus-
jet und einſchließt. Auf den Willen des Zöglings können wir im der ange:
denteten Richtung nun im zweifacher Weiſe einwirken, nämlid 1) unmittel-
bar, wie 3. B. durch Lohn, Tadel, Strafe, Vorbild, Liebe, Aufficht und
Autorität des Erziehers, durd Ermahnung und Warnung, den Umgang
mir guten Menſchen, durch Berhütung und Hemmung der Affefte und Yeiden-
ihaften, burd ein edles Familienleben und ein gefittetes Schulleben u. j. w. —
d. i. durch die Mafregeln der Zucht, als den Inbegriff der einheitlichen
Grundſätze, Ziele und Mittel, welche die eigentlihe oder unmittelbare Er—
ziehung betreffen. Da indeß der Wille aus dem Gedantenkreije des Zöglings
hervorgeht, jo kann man 2) auch dadurch mittelbar bilvend auf ihn ein—
wirfen, daß man den Gedankenkreis jo bearbeitet und gejtaltet, daß ein
fittlicher Wille aus ihm refultirt: — dies gejchieht eben durch den erziehen—
den oder pädagogifben Unterricht, ven Hauptfactor der Erziehung,
vie mittelbare Erziehung. Diejer Unterricht jteht gegenüber dem nicht
erziehenden oder nicht pädagogiihen. Wenn ein junger Mann zum
Fähndrich- oder Freiwilligeneramen, oder zum Eintritte in eine Handelsſchule
vorbereitet wird, jo handelt es ſich nur um Aneignung eines bejtimmten Maßes
von Willen und Können, höchſtens nod um einen gewiffen Grad von Denk—
fübigfeit; jomit haben wir einen Unterricht vor uns, der den Willen nicht ver-
edelt, d. i. einen nichtpädagogiihen, feinen Erziehungsunterrict. Ein nicht
pädagogiſcher Unterricht jteht nicht im Dienfte der fittlihen Charakterbilpdung ;
er pflegt Senntniffe und Wertigfeiten nur als Selbſtzweck oder zur Erreichung
eines außerhalb des Zöglings liegenden Zwedes, zum Cintritte im gewiſſe
Berufe und Gefellichaftstreije, alio des Erwerbs und Fortkommens wegen,
orer aud wohl aus Yiebhaberei. Solche Schulen, welche dieſe eimjeitige
Bildung vermitteln und in ein beftimmtes, abgearenztes Gebiet des Willens
Fröhlich, Erziehungsichnie. >
18
einführen, find Berufs- over Fachſchulen, wie 3. B. die Bergwerks- und
Forſtſchulen. Diejen jtehen gegenüber die Erziehungsſchulen, welden
die Gejtaltung des Gedanlkenkreiſes, die intellectuelle — nur als Mittel
oder Vorſtufe dient, einen ſittlichen Charakter anzulegen, Humanität, allgemeine
Menſchenbildung zu vermitteln. Die Fachſchulen verfolgen untergeordnete
Zwecke, welde nicht in dem Zöglinge liegen, fie beabfichtigen eine jpecielle
Bildung, eine Unterweifung in beftimmten Studien und Geſchiclichkeiten. Die
Erziehungsſchulen Dagegen wollen eine allgemeine, d. h. eine allen Menſchen
gemeinjame Bildung vermitteln, ihr Unterricht iſt auf den einen höchſten
Zwed beredinet, Tugend und Glauben, als die religiöie Form der Sittlichkeit,
zu pflegen.
Der erziehende Unterricht ift eine Konjequenz aus dem Bearifie der Er:
ziehung. Reine Wiſſenſchaftsanſtalten, Schulen für bloße Gelehrſamkeit Lienen
außerhalb diejes Begriffes, fie find ſomit feine Erziehungsichulen.
Eine Fachſchule befteht aus Yehrern md Yernern, aus Stunden:
baltern und Schülern, eine Erziehumgsjchule dagegen aus Erziebern
und Zöglingen —
Wir nannten oben den Unterriht den Hauptfactor der Erziehung.
Er iſt Das wichtigſte Erziehungsmittel ımd muß bei der Erziehung über:
wiegen, weil dur ihm namentlich der fittliche Charakter in dem Zöglinge au-
gelegt wird. Ein jittliher Charakter ift ein dauernder Gemüthszuſtand,
ein folder kanu aber nur durch einen herrſchenden Gedankenkreis geichaften
werben, und dieſer iſt eben vorwiegend nur ein Produft des Unterrichts.
„Man bat“, fagt Herbart, „nur dann die Erziehung in feiner Gr:
walt, wenn man einen großen und in feinen Theilen innigit
verfnüpften Gedankenkreis in die jugenblihe Seele zu bringen
weiß, der das Ungünjtige der Umgebung zu überwiegen, das
Günſtige derſelben in ſich aufzulöſen und mit ſich zu ver—
einigen Kraft befigt.“* — Erſt die Reformation ſchuf wahre Erziehungs—
ſchulen, ſelbſt die kirchlichen Schulen vor der Reformation waren mehr oder
weniger Fachſchulen. Erziehungsſchulen im beſten Sinne ſollen nun alle Volle-,
Stadt- und Bürgerſchulen, die Mittel-, höheren Töchter-, die Realſchulen und
Gymnaſien fein und werben. |
Jetzt entiteht die Frage: „Was it denn aber Tugend?" Dieje beant-
wortet die Moral oder Ethik, indem fie fagt: Gut und recht handelſt
du, wenn dein Handeln den jittliben Ideen oder Mufterbilvern, melde
in allen gejunden Geiſtern übereinftimmend find und in Allen mit unmittel—
barer Evidenz ein anerfennendes äfthetiiches Urtbeil erweden, entfpricht, nämlich
den Ideen 1) der Bolltommenbeit, 2) der innern Freiheit, 3) de
Wohlwollens, 4) des Rechts und 5) der Vergeltung. Nac der erften
Idee joll dein Wille ein jtarfer fein, dar er im Stande it, finnlihe Be
gierden, Affekte und Yeidenjchaften, jowie Berſuchungen von außen zu über-
winden; nach ber zweiten follft du ſtets mach deiner eigenen bejjern Ueber-
zeugung handeln, aljo fittlic frei fein; nad der dritten im unegoiſtiſcher
Hingabe das Wohl aller Menſchen fördern, oder, wie das Chriſtenthum lebrt,
alle Menſchen von ganzem Herzen lieben; nad der vierten Idee jollit bu
*) Allgemeine Padagogik, ©. 58.
19
Streit vermeiden, friedfertig fein und gejeglic handeln und Jedem geben und
laſſen was ibm gebührt, und nach der fünften Wohlthaten vergelten, Geredhtig-
feit itben und Unrecht zur Beitrafung bringen.
Dieje fünf urſprünglichen Ideen können als Yeitfterne der Sittlichkeit
and auf mehr als eine oder zwei Perſonen, auf eine Gejellihaft ange-
wendet werben, welcde auf einem Boden zujammen lebt, und dann entjtehen
die fünf abgeleiteten over geiellihaftlihen Ideen. 1) Aus ver
Idee des Rechts entteht die einer Nehtsgejellihaft; 2) aus ber Idee
der Vergeltung die eines Lohnſyſtems (Anftalten zur Beitrafung der Ver—
bredien x. umd zur Belohnung des Guten); 3) aus der Idee des Wohl—
wollens die des Berwaltungsiyftems (Beförderung des Wohlſeins durch
Berwahrung und Vermehrung ivdiiher und geiftiger Güter); 4) aus der Idee
ber Vollfommenheit die des Kulturſyſtems (Pflege der Kraftäußerungen
in Hinficht auf deren Energie, "Ausbreitung und Zujammenwirkung); uud
5) aus der Idee der inneren Freiheit die Ideen ver bejeelten Ge ell-
ſchaft (im ihr entjpriht der gemeinihaftlibe Wille einer gemein-
ihaftliden Einjiht). Zu einer folden bejeelten Geſellſchaft fih auszu-
bilden, joll das Ziel aller menſchlichen Bereinigqungen: der Familien, der
Gemeinde, des Staates, der Kirhe und der Schule jein, und die Ber-
bindung aller dieſer bejeelten Geſellſchaften bildet das Reich Gottes, das Ziel
der ganzen Menjchheit.*)
Habe ich aber in dieſer Weiſe das Rechte und Gute erfannt, oder eine
Einſicht von ihm gewonnen, jo ijt damit dasſelbe jedoch noch nicht in den
Willen übergegangen; es fragt ſich vielmehr weiter: Wie fünnen aus
dieſer Erkenntniß, diefer Einſicht, welche dod im Vorſtellen, Urtheilen
und Schließen, alſo aus Denkproceſſen beſteht Strebungen, Entſchlüſſe,
Vorſätze, alſo Willensacte oder ein Wollen entſtehen? Auf dieſe
rein philofophiihe Frage antwortet die Seelenlehre: Der Uebergang von der
Erfenutniß zum Willen wird durch jenen höheren Grad des Vorſtellens, bie
gemüthliche, alfo unegoiftifhe Hingabe an das Erfannte und Vorgeftellte bewirkt,
welhe Interefje heißt. Aus diefem erhabenen Gemüthszuſtande, einem
dauernden, mit Gefühl verbundenen Streben, geht das Wollen eben jo ficher
berver, wie die Pflanze aus dem im Keimen begriffenen Samenforne, wie bie
Frucht aus der aufgeblühten Knoſpe.
Bloße trodene Bearbeitung des Gedanfenfreijes giebt höchſtens In—
telligenz; der mit Imtereffe verbundene Gedankenkreis übt aber Einfluß
auf das Wollen aus. Das Intereſſe it für den Unterricht ein Seelenzuftand
von hervorragender Wichtigkeit; e8 zu erzeugen und zu ftärken, muß der An—
fang und das Ziel alles guten Unterrichts fein; denn ein vollftändig ausge:
bildetes Intereſſe jchließt auch inneres Bedürfniß, Luſt und Leichtigkeit
bei den geiftigen Thätigfeiten und Beichäftigungen mit ein.
Wir müfjen diefem Karbinalbegriffe ver wiſſenſchaftlichen Pädagogik, dem
Intereſſe, mithin jegt etwas näher in's Auge ſehen und ihn genauer
unterfuchen.
Man jollte meinen, dar zur Erzeugung eines ſittlichen Willens nur
das ſittliche Intereſſe, das Intereſſe für die ethifchen Ideen genüge; allein
*) Bergl. Herbart, Allgemeine praftiihe Philoſophie, Göttingen, Danckwerts.
7%
20
es gibt noch andere Intereſſen, welche auch unegeiftiich find, zum geiltigen Be:
ſitzthume eines gebildeten Menſchen gehören und feine Sittlichkeit bedingen,
indem fie ihn entwildern, d. b. vom Rohen, Niedrigen und Gemeinen ab:
lenken und zum Ideale binleiten, oder wenigftens ein reiches und wielfeitiges
Wollen fördern, deſſen jungfräulihen, fruchtbarem Boren die Tugend entjproßt :
— ſolche Intereffen find die für Religion, Wilfenfhaft und Kunſt. Das
Schöne ift ja die Vorhalle zum Tempel des Guten, da beides etwas Wohl:
gefälliges iſt; aus Dem Gebiete der religiöfen Geſinnungen feimt und jproft
die Tugend hervor, und die Intelligenz iſt die Vorbetingumg des jittlichen
Charakters. Die Pädagogik empfiehlt darım den Anbau und die Pflege
folgenter ſechs verſchiedenen Arten des Intereſſes, nämlich:
1) das empiriſche,
2) das ſpeculative,
3) das äſthetiſch-moraliſche,
4) das ſympathetiſche,
5) Das foctale, gutereſen der Theilnahme (bes Herzens).
6) das religiöſe,
Intereſſen der Erkenntniß (des Kopifes).
— —
Jetzt fragt es ſich: Was haben alle dieſe gelehrten Namen, dieſe termini
techniei, die wir dem Leſer ſchlechterdings nicht erſparen können, zu bedeuten?
Wenn ein Kind die mannigfaltigen Gegenſtände der Erfahrung, alſo
Sachen und Begebenheiten, aufzufaſſen und ſo ſeinen Beſitz an Keuntniß der
Thatſachen mit Eifer zu vermehren ſtrebt, jo iſt die Wißbegierde ober
dag empirifhe Intereſſe thätig; Dies ift 3. B. der Fall, wenn ver
Yehrer dem Kinde eime Erzählung oder ein Märchen, eine Fabel, ein Gerict
vorträgt, ihn eine Borftellung vom Schnee, vom Gewitter, von einer Rofe,
vom Schulhauſe, von einem Yama, von Abraham, Odyſſeus, Barbarofia, Ro:
binfon, von einer Familie oder einer Gemeinde beibringt, jo daß ‘der Zögling
diefe Gegenjtände als Bilder, als concrete Grundlage in ſich aufnimmt, ohne
jie aber einem eingehenden Denken zu unterwerfen.
Geſchieht dieſes Yegtere, frage ih nah dem Cauſalitätsverhältniß, dem
Bedingenden und Beringten (Grund und Folge, Urſache und Wirkung, Zwechk
und Mittel), frage ih: wodurch? moher? woraus? was entiteht aus dieſem
oder jenem? warum? was folgt daraus? wozu? womit? alfo 5. B. wodurch
entfteht der Schnee? wodurch das Gewitter? — wozu dient das Schulhaus?
— warum fing Robinfon Yama? — melde Mittel wendete Robinfon an,
um mac jeiner Heimath zurücdzugelangen? — aus welden Gründen unter
nahm Barbarofja mehrere Züge nady Italien? — — jo tritt eine denkende
Betrachtung der Objecte ein und ich juche fie im ihrer gegenjeitigen Ab-
hängigfeit und ihren Beziehungen zu einander fennen zu lernen: — es iſt
das jpeculative Interejje (das Denken) in Wirkjamteit. Betradte
ich die Natirrgegenftände mit dem Mafftabe des Schönen und die Menjcen
mit dem des Guten; umterjuche ich 3. B., wie die Farben und formen ber
Roje jo zuſammenpaſſen, daR fie in uns MWohlgefallen erregen; unterjcheide
ih in den Handlungen Abraham's oder Odyſſeus Das Rechte vom Unrechten,
das Gute vom Böen, fälle ih Urtbeile über den Werth ihrer Handlungen,
jo iſt das äſthetiſche und moraliſche Intereſſe (ver Geſchmack und
das ſittliche Urtheil) rege. Da nun eine ſittliche Handlung das höchſte Wobl-
—
gefallen in uns weckt, jo kann man beide Intereſſen auch kurz mit dem Aus—
drude äſthetiſches Interefje im weiteren Sinne bezeichnen.
Das empirifche, das jpeculative und das äſthetiſche Intereſſe vermehren
unfere Einſicht, wir dürfen fie darum zujammen Interejjen ver Er-
fenntniß nennen.
Wird in uns durch wirklichen oder idealen Umgang mit bejeelten (Menden)
oder bejeelt gedachten Wejen (Ihieren) Theilnahme für fie erwedt, hängt unfer
Herz an ihnen, z. B. an der Roſe, am Lama, an Robinjon, an Abraham, an
Odyſſeus, jo ift das ſympathetiſche Interefje in uns lebendig (Theil:
nahme oder Mitgefühl). Wird dasjelbe jo erweitert, daß es ſich auf eine
menſchliche Bereinigung, z. B. die Familie, die Gemeinde, die Schule,
ven Staat u. ſ. w. bezieht, jo entiteht Gemeinjinn, Biürgerjinn,
Patriotismus, oder das gejellihaftlihe (Jociale) Interefje Wenn
wir unjere Abhängigkeit von einem höchſten Weſen und unjere Ohn—
macht ihm gegenüber, ſowie die Sehnſucht nad der Verwirklichung unferer
Ideale durch höhere Hilfe empfinden, wie 5. B. Abraham, als er einen
Altar baute, jo ift das religiöſe Iuterejje (ver Glaube, die Liebe und das
Vertrauen der Menſchen zur Gottheit oder die Frömmigkeit) in Wirkjant-
feit. Das ſympathetiſche, jociale und religiöfe Intereſſe erweitern und ver-
tiefen unfer Herz, fie find darım Intereſſen des Herzens oder der Theil-
nahme. Die Interefjen der Theilnahme find für die Erziehung der Tugend
von bejonderer Wichtigkeit; denn von der Theilnahme eines guten Herzens ift
ed nur ein Kleiner Schritt zum Wollen des Guten.
In jedem körperlich und geiftig gefunden Menjchen find num alle dieje In-
terefien — wenigſtens in der Anlage — vorhanden, d. h. es liegt in Jeden
die Möglichkeit und Fähigkeit zu ihrer Erzeugung vor, fie bedürfen nur der
angemejjenen Entwidelung; und bei einem nicht einfeitig unterrichteten umd
verkehrt erzogenen Menjchen find alle dieſe Intereſſen zujammen und gleichmäßig
thätig, und zwar auf allen Bildungsitufen, auch ſchon bei dem jüngeren Kine.
Wer die Kinderwelt genau kennt und fie beobachtet, dem wird es nicht ent-
gehen, daß ſchon das jehsjährige Kind feine Urtheile fällt und Schlüſſe bilvet
und gern venft, d. i., daß es jpeculatives Intereſſe zeigt, und ebenjo vegen
ſich aud die anderen Intereſſen. Es ift nun die Aufgabe des Lehrers und
Erziehers, alle Interefjen im Gleichgewichte zu erhalten, oder in's Gleichgewicht
zu bringen. Alle die genannten Intereſſen jollen wie Strahlen von einem
Brennpunkte, dem Ich, ausgehen und in ihm ſich wieder fammeln. Sinv
alle diefe Iuterefjen gewedt, jo erhält ver Zögling aud) jene Selbjtthätigfeit,
welche zum jpäteren Selbjtunterridte, dem Ziele alles guten Unterrichts,
unbedingt nöthig it. Unterrichten heißt ja auch, einem Schüler den nächſten
Weg zu feinem Selbjtunterrichte zeigen.
In dieſer Mannigfaltigkeit der Intereffen bejteht mim die Vielſeitig—
feit des Intereſſes, und wir dürfen jett beftimmter jagen, daß der Unterricht
dann ein erziehbender ift, wenn er den Vorftellungsfreis des Zöglings fo
geftaltet, daß im ihm jene, der Vielfeitigkeit des Interefjes entjpringende Selbit-
thätigfeit erzeugt und durd fie die Berwirflibung ver fittlihen Ideen begründet
wird, ımd daß die Aufgabe des erziehenden Unterrichts darin befteht, den Ge—
dankenkreis des Zöglings jo anzubanen und zu erweitern, daß Dur vie Er-
22
wedung und Pflege des vielfeitigen Intereſſes die fittlihen Ideen verwirklicht
werten.
Daß ein folder Unterricht bedeutenden Werth bat, fpringt jest von
jelbft in die Augen. Wie ſchon angedeutet, fucht derſelbe die Geiſtesthätigkeit
des Zöglings nicht nur zu vermehren, jondern aud zu veredeln, nicht mur
geiftige Nräfte zu erzeugen und zu ftärfen, ſondern aud) auf das Edle umd
Mitrdige zu richten. Wir bilden mithin durch Erziehungs-Unterricht nicht erwa
kluge Bielwilfer, kalte Berftandesmenichen, jondern einfihtsvolle, wahrhaft gute,
für alles Pöblihe und alle Tugend empfängliche und begeifterte Zöglinge ;
Menſchen, welche Kopf und Herz auf dem rechten Flecke haben, und entzünden
in ihnen einen hohen Reichthum geiftigen Pebens: — darin befteht ver Werth
des pädagogiſchen Unterrichts. Ihn zu realifiren, tft die pädagogiſche Miſſion
des VYehrers.
Eine weitere wichtige Frage ıft nun die: Wodurch und wie wirb biefer
Unterricht herbeigeführt? Die Antwort führt ung befonders auf ven Stoff
und Die Form des Unterrichts.
2. Lehrſtoff und Yehrform des erziehenden Unterricht.
Die erziehenten Momente im Unterrichte können entweder in dem In—
halte des Unterrichts, oder in feiner Form, oder in beiden liegen. Eine
nähere Unterfuhung ergiebt, daß zum erziehenden Unterrichte ſowohl eine gute
Auswahl und eine pallende Verknüpfung des Vehritoffes, als auch eine
zwedmäßige Sliederung und Bearbeitung (Methode) und envlich eine
pafjende Art der Darbietung oder Mittheilung desſelben Lehrform
im engeren Sinne) gehört, Es wird dies näher in die Augen fallen, wenn
wir folgende vier Behauptungen begründen und näher erörtern.
a) Ein erzichender Unterricht flellt die fittliden Ideen in den
Mittelpunkt des Unterrichts; weil jedoch nadte Ideen, trodene, ab»
jtracte Sittenlehren, moralifirende Worte das Intereffe der Kinder nicht
zu erweden vermögen, jo muß der jittlihe Inhalt ihnen in Fonfreter
Grundlage, d. h. in Geſtalt von biftoriihen Dbjecten, wie fie bie
bibliiche und Profangeſchichte und die Dichtung enthalten, dargeboten werden.
Diejer geicichtlihe Stoff, alfo 3. B. für die zarte, nod von reger Fantaſie—
thätigfeit beherrſchte Jugend Die Fabeln, Märchen und Sagen, für reifere
Kinder hiſtoriſche, bibliſche und andere Erzäblimgen (3. B. Robinſon) ftellt
ethiſche Verhältniſſe in faßlicher Weiſe dar und iſt völlig geeignet, alle In—
tereſſen des Kopfes (empirifches, ſpeculatives und äſthetiſches) und des Herzens
(ſympathetiſches, jociales und religiöſes) anzubahnen (vergl. oben Abſchnitt Il, 1
diefer Schrift); darum ſoll diefer hiftorifche Yehrftoff al® Träger von mora=
liſchen Gefinnungen in das Centrum des Unterrichtes geftellt werden und eine
bommmirende Stellung einnehmen. Da das Sittliche nur duch die Hilfe eines
höchſteu Weſens realifirt werden fann und die Tugend ihre Stüge in der
Religion findet, die gejchichtlichen Stoffe aber, namentlich die biblifche Geſchichte,
reliatöje Ideen und Yehren enthalten, jo tritt jpäter die eigentliche Neligions-
lehre hinzu, ja der Yehrer kann fi aus ven, von bearbeiteten hiſtoriſchen
Penſen abgeleiteten religiöien Lehren feinen Katechismus jelber zufammenitellen.
23
Diefer fittlihe Unterricht, den man mit Nüdjiht auf jeinen Zweck,
Bildung der Gefinnungen, aud Gefinnungsunterricht nennen kann,
beginnt fofort beim Eintritte des Kindes- in die Schule, indem Fabeln, Märchen
und pafjende Erzählungen, dann biblifhe Gejchichten u. ſ. w. den Kindern ge—
geben und mit ihnen behandelt werden. Das Kind lernt aus ihnen z. B. die
Yiebe und Dankbarkeit gegen die Menjhen, den Gehorſam gegen Eltern und
Lehrer, die Verträglichkeit mit den Gejchwijtern und Gejpielen, es lernt
Wahrheitsliebe und Ehrlichkeit, genug, alle firtlihen Gebote und Berhältniffe
fennen, und Vorftellungen von Gott und Gefinnungen gegen ihn werden in
Das zarte Herz der Jugend gepflanit.
Damit nun aber dieje religiössfittliche Richtung wicht vereinzelt im Geijte
jtehe, Damit fie in demfelben die Herrichaft erlange, durd andere Borjtellungen
geftügt umd getragen werde und damit alle Borftellungen des Geiites eine
Einheit, ein organijbes Ganze bilden: — fo müſſen
b) die übrigen Lchrfloffe und Fächer des Unterrihts an den
Gejinnungsunterricht ſich möglichſt anſchließen, ihn ergänzen;
überhaupt müſſen alle Kenntniffe unter einander mögſtlichſt verfnüpft
werden. Wir entjcheiden und damit für die Goncentration, das Wort
nicht im pedantiichen, jondern im rechten Sinne genommen. Sie tft die Ver:
einigung des Meannigfaltigen zur Einheit in der Seele des Zöglings, um
durch die Einheit des Bewußtjeins eine volle Perjönlichkeit heranzubilden und
dem Gefinnungsunterrichte durch die Verbindung mit anderen Stoffen höheren
pädagogiſchen Werth und pſychiſche Kraft zu verleihen.
Sollen in der Seele der lernenden Jugend nit Zerſtreuung, Zweifel,
Zwiejpalt und Unruhe eintreten, jollen Denfen und Thun nicht ein Doppel:
leben führen; jollen ſich im werdenden Menjchen nicht mehrere geiftige Mittel-
punfte bilden, joll aljo der innere Dienih aus Einem Guſſe fein: — fo muß
Goncentration des Unterrichtes jtattfinden, weil die Einheit des Bewußtſeins
durch die Mannigfaltigfeit und Berjcdhiedenartigfeit dev Bildung ſtets bedroht wird.
Tiefe Einheit wird aber dadurd erzielt, daß das Manniafaltige in ver Perſon
Eine reibenförmige, wohlgeordnete Borjtellungsmajfe bilver,
in welder das Biele mit einander verſchmolzen und verwebt ift, Ein Syſtem
von Borftellungen, in dem das Ich feinen Ei bat. Ohnehin it alles
Einzelne und Bereinzelte in der Seele, alles vom Uebrigen abgetreunte Wiſſen
werth- und wirkungslos, frommt in feiner Hinficht, dient weder dem Yeben,
uch der Wiſſenſchaft, mod der Bildung des Gemüths und Willens. Nur
ein Ganzes tit frudbbar, aud im Unterrihtee Cs muß darum in den
verschiedenen Studien und Stadien des Willens ein Zuſammenhang ftattfinden ;
Das Einzelne muß als organijches Glied einen größeren Ganzen, einer längeren
Reihe von Bildungsmitteln angehören; dann ergiebt fid eine Gejammt-
wirkung Die einzelnen Kräfte müſſen fi zu einer vollfommenen Total-
fraft vermählen, welde dann als Produkt den höchſten Totaleffekt giebt.
Tiefe ÖOejammtwirfung, diejer Totaleffeft wird eben bewirft
durd die GConcentration.
Unjer Geiſt befteht nämlich aus BVorftellungen und befommt Zuwachs
nur durch Elare Borftellungen und ihre Vereinigungen zu Gruppen und
Reihen, die fid) weiter zu Vorftellungsfreijen und endlid durch Verbindung
der Borjtellungsfreife unter einander zu Borftellungsmajien erweitern. Aus
—
dem Vorſtellungsleben entſtehen ſodamm Gefühle, Streben, Gemüth, Sittlichkeit
und Charakter. Ein wahres geiſtiges, ein reiches inneres Leben erwächſt aber
nad den Lehren ber eracten Pſychologie dann nicht, wenn die Borjtellungen
einzeln neben eimander liegen, wie die Körner eined Weizenhaufes. Alle
Vorſtellungen müſſen vielmehr en organiſches Ganze, ein vielver-
flochtenes Gewebe bilden, und unjer Geift muß fie beberrihen, muß
im Stande fein, fie raſch anf einander zu beziehen und nach verjchiedenen
Richtungen zu durchlaufen, dann wird Bhantafie, Denken, geiitvolles Weſen,
Umficht, Geranfentiefe, genug, geiftige Kraft und geiltiges Peben entzündet.
Alſo nicht in der Maſſe der Borftellungen, fondern in ihrer paſſenden
Berfnüpfung, ihrer Beberrfhung liegt das wahre geiftige Yeben,
jenes Yeben, das auch die Grundlage der Eittlichfeit bilvet, da geiltiger Stumpf:
ſinn die Sittlichkeit befanntlich ausſchließt.
Erwähnt jomit 3. B. das Märden vom Rothkäppchen (in der Elementar:
Hafje) den Wald, jo wird bier im Anſchauungsunterrichte eine Borbeſprechung
des Walres vorauszuſchicken fein und im Schreiblefeunterricht kann dieſes Wort
auch zur Behanvdelung kommen. Die Erwähnung der Großmutter wird zur
Behandelung der Familie und die des Wolfes zur Befchreibung desfelben führen.
Auch der bereits behandelte und ver neue Stoff läßt fid vielfach auf einander
beziehen. Iſt in der Gefchichte von Arminius die Rede, fo wird eine Be—
ichreibung des alten Deutſchlands damit zu verbinden fein. Der geſchichtliche
Stoff iſt durch paſſende Gedichte zu beleben und umgekehrt, die Dichtungen
ſind Durch geſchichtliche Facta zu illuftriven.
In den Sprachſtunden ift der bereit® behandelte Stoff zu Auffägen zu
verarbeiten u. ſ. mw.
Ausprüdlich bemerkte ich bier aber, daß man die Comcentration aud) bis
zur Pebanterie treiben und übertreiben kann und daß es alſo auc eine falſche
Goneentration giebt. Man kann nämlicd einen Stoff jo lange peitichen {wie
Münchhauſen weiland einen Fuchs, bis diefer aus der Haut fuhr!), daß nur
der Pelz zuletzt noch übrig bleibt. Es iſt indeß unweiſe gehandelt, ein Princip zu
Tode zu reiten! Eine falſche Concentration iſt es, wenn man alle Lehrfächer irr
und wirr durch einander wirft und, um Jacotot’8 Orundfag: „Alles iſt in
Allem“ zu malträtiren, zur Carricatur zu entftellen, in einer Lehrſtunde vom
Sunderiken auf's Tauſendſte kommt, beim Tiſchtaſten anfängt und beim
Känguru aufhört.
Ergo: Nicht pädagogiſchen Pele-mele! Jedes Lehrfach bietet eine gewiſſe
Gattung, durch ihren Inhalt verwandter Vorſtellungen, die zuſammen ein
Gewebe bilden. Dieſes iſt in Sauberkeit für ſich zu halten und nicht mit
falſchen Fäden zu durchſchießen; aber von dieſem Gewebe aus dürfen und
ſollen Fäden zu anderen GSheweben gezogen werden, fo daß fi, wie Goethe im
Fauſt jagt, wenn man einen Faden bewegt, auf einmal taufend Fäden regen.
Somit find die Yehrftoffe und Fächer wohl unter einander zu verbinden; doch
joll jeder Yehrgegenftand auch feine Selbjtändigfeit wahren, eine gewiſſe Ge⸗
dankenprovinz anbauen, dergeſtalt, daß, wenn in der Rechenftunde Sperling:
und Tauben zufammengezählt werten, deshalb doc feine Naturgeſchichte
getrieben werde,
Was den Pehritoft jelbft betrifft, jo muß derſelbe natürlicher Weiſe immer
jo beſchaffen fein, daft er fr die fragliche Bildungsſtufe fih eignet und fübig
25
ift, irgend ein Imterefje im Kinde zu erweden. An leeren Trivialititen jollen
Zeit und Kraft der Jugend nicht vergeudet werben. Da aber das Intereſſe
vor Allem an ven Sachen, weniger an Formen ımd Zeichen hängt, ie
muß im erziehenden Unterrihte die Beihäftigung mit Sachen die über—
wiegende fein.
e) Ter erziehende Unterricht zerlegt die zu gebenden Borjtellungs-
maffen im Fleinere Ganze (methodiihe Einheiten) und bearbeitet
dieje eingehend, indem er.nad den Geſetzen der Perception und
Apperception das Neue auffafien läßt und in das Alte (vie bereits
erworbenen Borftellungen) einordnet [Ölieverung (Artieulation’ und
Bearbeitung des Vehrftoffes.]
Wenn die Kinder dem Lehrer zugeführt werben, je ift ihre zarte Seele
bereits feine tabula rasa, d. b. feine unbefchriebene Tafel mehr, fonvdern viele
Borftellungen find ſchon, wenn and nur flüchtig, unbeſtimmt und ungeordnet,
in dieſelbe eingezeichnet; und das Neue, welches wir dem Kinde bieten, birat
meiſt einige ſchon befannte Elemente .in fi, oder findet wenigſtens Anklänge
in der Eeele. Dem Yehrer liegt darum die Aufgabe ob, den bereits vor—
bandenen Borftellungsfreis zu erforſchen, zu zeraliedern, zu berichtigen und
zu orbnen und das Neue in demfelben an die gehörige Stelle einzufügen nnd
jo die alten Vorftellungen zu modificiren. Wollte ih den Kindern z. B. eine
Boritellung vom Yama geben, fo muß ich ihmen vie bereits befannte Vor—
jtellung Ziege ins Bewußtſein zuriidrufen und diefe jo bearbeiten, daß Die
Borftellung Yama gewonnen wird. Die Voritellung Baradies kann dem
Kinde nur dadurch zugänglich gemacht werden, daß es die einer befannten
ihönen Gegend in fich hervorruft und modificirt. Dieſer wichtige pinchiiche
Vorgang beift Apperception, d. h. die Bildung neuer Borftellungen aus
den bereits befannten und Umarbeitung der eriteren, während die Aufnahme
völlig neuer Vorftellimgen Perception genannt wird. , Beide Fuuectionen
geben bei allen Menſchen ganz nach denjelben Gejegen vor fid, und der Yebrer
bat diefe behufs Erzeugung klarer und richtiger Vorftellungen jorafültig
zu beachten. Da in der Seele das Neue immer ſchon befaunte Elemente oder
Anklänge vorfindet, fo ift ftrenggenommen jedes Yernen und Weiterlernen nur
ein Apperceptionsprocen, d. b. ein pfychologiiher Vorgang, durch melden
eine Aſſimiliriung des Aufzunehmenden an das Vorhandene bewirkt wird,
Außerdem ift noch zu berücdfichtigen, daß der finpliche Geijt nicht eine Vor—
ftellungsmaffe auf einmal aufnehmen und geiftig verbauen kann; jedes dar-
gebotene Ganze ift darum im feine Theile zu zerlegen und jeder iſt einzeln
genan und allfeitig zu betrachten,
Die Zergliederung der über einen gewilfen Gegenſtand bereit& vorhandenen
Vorftellungen können wir Analyſe, die Hinzufügung des Neun Syntbefe
nennen. Beide Functionen jollen fih nah dem Früheren noch auf concretem
Boden bewegen und eine richtige Kenntniß des Einzelnen vermitteln.
Diefer erfte Schritt bei Behandlung eines Mannigfaltigen giebt uns alfo eine
Menge Harer Einzelworftellungen (Klarbeitsftufe) Nun wächſt aber unfer
Geift beſonders dadurch, daß wir das Verwandte in den Borjtellungen zufammen:
fafien und Allgemeines, db. Begriffe, Geſetze, Regeln und Grund—
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ſätze daraus abftrahiren. Dafür jorgt der nächte Schritt im Unterrichte. Man
erinnert deshalb die Echüler an bereits befannte Fälle oder Beifpiele, welde
zu denjelben Begriffen oder Gejegen u. ſ. w. gehören, läßt dieſe ableiten
und die Schüler im Gebrauch diefer Begriffe üben. Dieſen zweiten Schritt
fönnen wir den der Vereinigung des Vielen (Ajfociation) nennen. Die
Etufe der Aſſociation it das Turnier der Fantaſie; es werben Com—
Ginationen gebilvet, Vergleiche angeftellt u. f. w. Nun -müffen die gewonnenen
Nefultate aber auch geſammelt, zufammengeftellt, georbnet und mit bereits Be-
fanntem in Reiben gebradht und mit Etifetten verjehen werben, wie vie
Büchſen eines Faches in einer Apotheke, und ähnlich, wie die Fachwiſſenſchaften
die Begriffe ordnen (Syftem — 3. Schritt); endlich ift 4) das Syſtem in
anderer Ordnung zu durchlaufen und durch Anwendung bdesfelben zu be
feſtigen Gebrauch).
In ſolche Stufen ſoll man alſo ein kleines Unterrichtsgaunze einen Ab—
ſchnitt zerlegen und es im etwa zwei bis drei Lehrſtunden durcharbeiten. Frei—
lich nicht jeder Stoff kann und joll jo ausführlich behandelt werden, ſondern
vor allem der Stoff, der ein Mannigfaltiges darbietet (alſo z. B. eine
gejchichtliche Erzählung, ein Gegenjtand der Geographie oder Naturkunde), aus
welhem der Zögling Begriffliches ableiten kann.
Jede diefer vier Stufen übt eine gewilfe Art der Gedankenbewegung
oder geiftigen Thätigkeit, z. B. die erfte Stufe das Vorſtellen, vie
zweite die WFantafiethätigfeit; das Syſtem übt das Abjtrahiren und Begriffe:
bilden u. ſ. w.
Verſuchen wir, ein Beiſpiel folder Bearbeitung zu geben! Angenommen,
einem etwa zehnjährigen. Knaben wäre in der Geometrie bereits der Begriff
„Körper“ bekannt, und ich wollte nun an einem vierjeitigen Prisma von
Holz die Begriffe: Fläche, ſenk- und wagerechte Fläche, Kante, ſenk- und
wagerecdhte Kante, Eckpunkt entwideln, jo wirde ſich diefe methodiſche Einheit
in folgende Stufen zerlegen laſſen:
A. Stufe der Klarheit. a) Analyſe. Erforichung deſſen, was die Schiller
bereits vom Priema im Bezug auf feine Form willen, 3. B. daß es trei
Ausdehnungen, jehs Seiten und zwölf Kanten hat u. ſ. m.
b) Syntheſe. Genaue Betradytung des Einzelnen, d. h. jeder einzelnen
Fläche und Kante des Prisma. Jede Fläche begrenzt den Körper und läft
ih nad zwei Zeiten bin meſſen. Die zwölf Kanten begrenzen die Flächen
und laſſen fi nur nad einer Seite meſſen. Die acht Eckpunkte begrenzen die
Kanten und haben feine Ausdehnung, Stellung der Flächen und Kanten
zu einander (wagerechte, ſenkrechte.
B. Affociation. Bejchreibung anderer Prismen, welche dem Zöglinge
bereit aus jeinem Yeben oder der Heimathskunde befumt find, z. B. eines
Balfens, einer Mauer, eines Badjteins; dann eines Würfels von Papier,
eined breifeitigen Prisma von Ölas. Hier muß ter Schüler vom Stoffe,
der Größe, der Farbe und anderen zufälligen Merkmalen abjehen, um ven
reinen Begriff der Form: Fläche, ſenkrechte Fläche, Yinie u. j. w. zu gewinnen.
C. Spflem. Ein Körper hat drei Ausdehnungen. Cine Fläche ift vie
Grenze der Körper, eine Yinie die Grenze ver Fläche und ein Punkt bie
Grenze der Yinien ine Fläche hat zwei Ausdehnungen, eine Yinie eine, ein
27
Bunt? feine. Eine ſenkrechte Fläche ift u. ſ. w. u. f. mw. Bildung der Begriffs-
reihe: Körper, Flächen, Yinien md Punkte. Bergleic des Syitems
mit dem gedrudten Lehrbuche oder Yeitfaben.
D. Beherrſchung und Gebrauch des Spflems. Durdjlanfen vesjelben
in anderer Ordnung, 3. B. vom Punkte aus bis zu den Körpern. Begriffs:
reihe: Punkt, Yinie, Fläche, Körper. — Entſtehenlaſſen der Yinien durch Be—
wegung der ‘Punkte, der. Flächen durch Bewegung der Linien, der Körper aus
Flächen. Beantwortung von Fragen. Befteht ein Körper aus Flächen? und
warum nicht? Beſteht eine Fläche aus Yinien, eine Linie aus Punkten? Nach—
weten der Beariffe an dem Schulzimmer. Zeichnen.
Da die Artikulation des Unterrichts, d. h. die Gliederung desſelben in
die bezeichneten vier Formalſtufen, für eine gründliche Bildung von hober
Wichtigkeit ift, jo geben wir nod ein zweites Beifpiel und zwar aus ber
teutichen Grammatik.
AS Biel wird aufgeltellt: ein meues Glied des erweiterten Satzes,
nämlid das Object, kennen zu lernen, nachdem die weientlihen Satztheile,
Subject und Prädifat, und außerdem noch das Attribut bereits bekaunt find.
A. Stufe der Rlarheit. a) Analyfe Betrachtet Die in dem Leſe—
ftüde „Die Pflanzen und das Licht“ vorgefommenen Sätze in Bezug anf ihre
Satztheile:
1) „Die Pflanze liebt das Licht.“
2) „Die Pflanzen genießen des Lichts.“
3 „Die Blumen find ihr (der Sonne) zugewendet.“
4) „Cie Frieden an der Mauer bin.“
5) „Sie freuen fid über das Licht.“
Ihr kennt bereits das Subject und das Prädikat, nennt fie! Im erjten
Sag iſt „Pflanze“ das Zubject und „liebt“ das Prädikat, im zweiten Pflanzen
u. ſ. w. Die heißen num die nadten einfachen Säge? Die Pflanze liebt. Die
Pflanzen genießen u. j. w. Betrachtet dieje Süße, was füllt Euch dabei auf?
(Seid Ihr befriedigt, wenn ich dieſe Furzen Züge ſpreche? Darf id fie
ichlieren?) Die Säge find noch nicht fertig, find noch nidt ganz Es fehlt
in Ihnen nody Etwas, was nothwendig da ſein muß. Welcher Sastheil giebt
noch feinen vollftändigen Einn? Das Prädifat. Zu welden Satztheilen ge-
hören alfo die Wörter, welche in den erweiterten Sätzen nody beigefügt find?
Zu den Prüdifaten. Was find es für Wörter? Hauptwörter und Fürwörter.
b) Syntheſe. Ihr feht, die Wörter „lieben“, „genießen“ u. |. w.
geben allein nod feinen vollſtändigen Sinn; es fehlt noch die Angabe des
Gegenſtandes, der geliebt, der genofjen wird. Diefer Gegenitand muß noth—
wendig noch beim Prädikate ftehen. Es tft dieſer „Licht“, „des Yichts“ u. ſ. m.
Da nun diefer zum Prädikate nothwendig gehörende Gegenftand, auf melden
das Prädikat ſich Hinrichtet oder bezieht, dasſelbe ergänzt, jo nennen wir
im Ergänzung oder Object. Die Objecte find: Yicht, Des Yichtes,
ihr (der Sonne), an der Mauer, über das Licht. — Sie ergänzen die Prädikate:
liebt, geniehen, find zugewenvet u. j. w. Fragt jest nach dem Dbjecte im
eriten Satze. Wen liebt die Pflanze? Im zweiten u. ſ. w. Weſſen ge
nießen die Pflanzen? Wem find die Blumen zugewendet? Da das Object
einen Gegenſtand bezeichnet, jo muß es was für ein Wort fen? Was iſt es
28
im dritten Sage für ein Wort? (ihr). Was im 4. und 5.? Hauptwolt mit
Verhältnißwort.
B. Affociation. Nun nennet bekannte verwandte Beiſpiele aus anderen
Leſeſtücken. Aus dem Yejejtüde: „Göttliche Fürſorge“ von Sartorius werben
genannt: „Die Leute heifen es (das Kraut) Reſeda.“ Nennt das Prädikat !
heißen. Welche fragen entiteben? Wen heift man Reſeda? Es (bass
Kraut); und melden Namen giebt man ihm? over wie heißt man es?
NRejeda Es und Reſeda find Ergänzungen, weil jie den Gegenjtand
nennen, auf welden das Heißen ſich bezieht und jo den Sinn desfelben ver-
vollftändigen. Es find zwei Ergänzungen auf die Fragen men? und was?
Weitere Säte des Yejeftäds find: „Der Geruch ver Blürhe übertrifft alle
Würze.“ „Diejes Kraut befucht ein Schmetterling.“ — Objecte und zwar mit
Beifügungen find: Würze und Kraut.
Nennet Beijpiele aus der Erinnerung: 1) Robinſon entfloh den Eltern.
2) Er war denjelben nicht gehorfam. 3) Der Kranke bedarf des Arztes.
4) Napoleon gab den tapferen Soldaten den Orden der Ehrenlegion. 5) Joſeph
war Benjamin ähnlich.
Dieſe Säge werden bejprocden. Auf welde Frage jtcht das Object im
eriten Sage? Auf die Frage wem? Was bezeichnet es? Eine Perjon.
Ebenſo im zweiten und vierten Sage. — Wie viele Ergänzungen hat der vierte
Sag? — Zwei; eine auf die Frage wen? bezeichnet die Perjon, und eine
auf die Frage wen? die Sache. — Was für ein Wort ift das Prädikat im
zweiten und fünften Sage? — Giaenfchaftswort (mit Hilfezeitwort). Im ven
übrigen Sägen? Thätigfeitswort.
C. Hpflem. Zuſammenſtellungen und Ordnungen der gewonnenen Unterrichts:
rejultate. Wir kennen bis jeßt vier Arten der Sabgliever des ermeiterten
Satzes: Subject, Prädikat, Attribut und Object. Die Prädikate bedürfen,
wenn fie Thätigkeits- oder Eigenfchaftswörter find, oft no der Objecte, vd. b.
folder Haupt oder Fürwörter, welde den Gegenftand bezeichnen, der zur Ber-
vollftindigung des Sinnes nothwendig nod zum Prädikat gehört, oder auf
welche dasſelbe ſich binvichtet. Das Object kann entweder ein Haupt« oder eu
Fürwort jein, oder ein Hauptwort mit einem Verhältnißworte; es kann fteben
im Wenfall (vierten Fall), oder im Wemfall (pritten Fall), oder im Weilenfall
(zweiten Fall. Ein Prädikat kann auch zwei Objecte haben, das eine im
dritten Tall, Das andere im vierten. Das Prädifat im Wemfall bezeichnet
die Perjon, das im vierten Fall die Sache. Nur wenn zwei vierte Fälle
jtehen, bezeichnet ein vierter Fall die Perſon. Ein Object kann wieder durch
eine Beifügung näber beſtimmt werben.
D. Anwendung und Einübung des gewonnenen begrifflihen Materials.
— Suchet alle Ergänzungen aus einem (pallend gewählten) Leſeſtücke! Welche
ftehen im zweiten Falle, welche im dritten alle? u. ſ. w. Bilder Sätze, in
denen Berfonergänzungen vorkommen; desgl. mit Sacdergänzungen. Bilder
Sätze, in denen das Brädifat ein Zeitwort mit Ergänzungen, ferner in denen
es ein Eigenſchaftswort mit Objecten ift! — Bildet Säte mit folgenden Zeit-
wörtern: tragen, geborchen, geben 2c.; ferner mit folgenden Eigenſchaftswörtern:
bedürftig, ergeben, ſtolz ꝛc. Macht in folgenden Sätzen die Ergänzung
zum Subject: Napoleon eroberte Italien (Italien wird von Napoleon
erobert) u. ſ. w.
*
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Wird in ähnlicher Weife der Lehrſtoff gegliedert und verarbeitet, erhalten
tie Kinder Flare, ftarfe, bleibende Einzelvorjtellungen und bejtummte Begriffe,
jo entſteht Yernfreudigfeit und Eifer und fomit ein reges und dauerndes In—
terefie für die Objecte, und der Unterricht erzeugt als Grundlage für ven
ſittlich-religiöſen Charakter den Reichthum des Geiſtes.
Sind die Schüler in einem folhen Gange und einer jolben Durcharbeitung
des Stoffes längere Zeit geübt, To laſſen ſich fpäter bei reiferer Auffaſſung
tiefe vier formalen Stufen raſcher durchlaufen und kürzer behandeln.
d) Ein erziehender Unterridt wendet endlidh ein piydo-
logifh richtiges äußeres Berfahren bei der Mittheilung des
Lehrſtoffes an.
Führte uns Punkt e) in das Reich der Methode, d. h. des ftreng
geſetzmäßigen und nothwendigen Ganges oder der feſt betimmten Richtung, den
der Unterricht zu gewiffen, klar gedachten Ztelen nimmt, jo führt uns Punkt
A) in das Gebiet der Yehrformen, als der äußeren Berfahrungsmetjen oder
der Geftaltung der Darbietung des Unterrichtsftoffes ; beite Gebiete, Methoden
und Yehrformen, find wilfenschaftlich ftreng zu trennen.
Methoden und Pehrformen find wichtige Producte der Pſychologie; über
fie giebt e8 darum fo gewiß ein allgemein giltiges Geſetzbuch, fo gewiß als
alle menfhlihen Seelen in ihrem Vorftellen, Denken, Fühlen und Wollen im
Allgemeinen von denjelben Geſetzen beherriht werden. Zur Behandlung eines
gewiſſen Stoffes giebt es eine beitimmte Methode und Pehrform, welche alle
Pädagogen fir zweckmäßig erfennen. Wie falſch ift es alfo, zu jagen:
„Der Pehrer ift die Methode; jever Lehrer bilde fich feine eigene Methode!“
Mit nichten! Jeder Yehrer hat mur ein Anrecht, feine eigene Manier zu
haben, im Webrigen ſteht er unter dem allgemeinen und ftrengen Code de la
methode, wie eimft alle Franzofen unter dem Code Napoléon. Methoden
giebt es eigentlich mr zwei: 1) die analytifche, welche den bereits vor—
handenen Gevanfenfreis des Zöglings zerlegt oder erläutert und ihn
dabei zugleich vervollſtändigt, berichtigt und ordnet ımd fo den geiftigen Boden
zur Aufnahme des Samens bereitet, und 2) die ſynthetiſche oder er=
meiternde, welde den Geift über feine gegebenen Grenzen hinausführt, alfo
neuen Samen jtreut.
Die fonthetifhe Methode kann nun wieder zerfallen: a) in die dar—
ftellende, welcde, wie 3. B. in Gefcichte und Geographie meiftens geſchehen
muß, neue Begebenheiten oder Einzelvorftellungen von Sachen vorführt, ober
b) in die entwidelnde, welche aus eimer vorliegenden Grundlage neue
Begriffe, Gefege und Negeln erzeugt und gewinnt (wie z. B. in der Geometrie).
Alle diefe Methoden find aut an dem Orte, wo fie bingehören, und
namentlich räumt der erziehende Unterricht dem entwidelnden Verfahren
die möglichjt größte Ausdehnung ein, weil es höhere Intereſſen, namentlich
das Speculative, anzuregen vermag.
Was nun die PYehrformen betrifft, fo unterjcheidet die willenjchaftliche
Pädagogik deren vier:
30
1) Die deiktiſche (vorzeigenve),
2) die akroamatiſche, welche in einem
ununterbrodenen Bortrage des Pehrers befteht,
3) die dialogiſche oder katechetiſche,
welche im freien Geſpräche zwiſchen Lehrern
und Schülern beſteht, Es findet ein geiſtiger Wechſel—
— verlkehr zwiſchen Lehrern und Yernen-
4) die heuriſtiſche, welche durch Stellen pen ftatt.
von Aufgaben und Zielpunften die Site
zum Selbſtſuchen auffordert.
Melde dieſer vier Lehrformen empfiehlt der erziehende Unterricht? Cinen
Mafftab zum Meffen ihrer Qualität haben wir an der Erregung der Selbit-
tbätigfeit, weil diefe die Beringung ift, ımter welcher erft die Yernthätigfeit
in Gemüth und Willen übergeben kann. Offenbar muß von dieſem Geſichts—
punkte aus auf allen — niederen, mittleren und höheren — Stufen des
Unterrihts die heuriſtiſche Yehrform, und nächſtdem die dialogiſche,
eine Ddominirende Stellung einnehmen. Pſychologiſch richtig verführt man bei
ihrer Anwendung, wenn man Die Zöglinge zur Erringung einer Erkenntniß
denſelben Weg - führt, den der menſchliche Geiſt früher einſchlug, als er die
Wahrbeit zum erjten Male entvedte, d. i. wenn man genetijch verfährt.
„Heuriſtiſch“ und „genetijch“ find ſchwerwiegende Worte, die mit
goldenen Yettern über jede Schulthür zu jegen find! Nicht abitracte Refultate
einer Wiſſenſchaft find als fertige Wahrheit au die Jugend beranzubringen,
jondern diejelben find von den Schülern, und jcheinbar auch von den Yehrern,
zu juchen. Nach Diefterweg wird man ja nur ftarf im Geifte durch Wahr:
heiten, welche man ſelbſt gefunden, geſchaut und gedacht bat; nad feiner Anlicht
ftärft nicht die angeerbte, traditionelle Wahrheit, ſondern nur die jelbit
erworbene; und nach Ziller*) erwärmt aud Das, was man fidh jelbit er:
worben und zur bejtimmten Ueberzeugung burdgebilvet bat, das Gefühl
Demnach joll der Schüler die edle Freude des eigenen Suchens und Arbeitens
genießen lernen.
Auch die anderen Pehrformen haben ihren relativen Werth, d. b. jie jind
löblib am paſſenden Orte. So iſt bei dem barftellenden Unterrichte im ber
Gejhichte und beim Zufammenfafien einer längeren Gedankenreihe, beim Zu—
fanımenjtellen eines Syitems behufs Gewinnung der Ueberfiht der akroamatiſche
Unterricht geboten.
Daß man zuvörderſt immer den inpuctiven Weg, d. b. vom Concreten
zum Abftraften gebt, dabei möglichſt anſchaulich, alfo veiftifch (worzeigend,
verführt und die Einzelvorftellungen fo durdbildet, daß daraus Die
höheren Begriffe hervorgquellen, daß man ferner erſt ſpäter — nad der Ge—
winnung eines Hleineren oder größeren Syſtens — aud vom Olymp der All:
gemeinheit wieder zum Befonderen herniederfteigt, bedarf wohl Feiner beſonderen
Erörterung mehr. Man laffe fih durch die befannte Regel ver Wulgär-
pädagogif: „Bom Einfahen zum Zufammengejegten“, eine Regel von
jehr zweifelhaften Werthe, nit zur Berwechfelung der Anfangsgründe
mit den Elementen des Unterrichts verleiten! Das Concrete (die Anfangs—
| In beiden ift der Lehrer allein
| thätig.
*) Borlefungen Über allgemeine Pädagogik. Yeipzig, Matthes (Schilde), 1876, 827.
31
gründe) ift immer ein Zufanmengefegtes; erſt durch Analyſe und Abftraction
gelangt man zu den Elementen, dem Einfachen; aljo von der Erfceinung zu
einfachen Procefien, vom Körper zur Fläche, von der Figur zu Pinien, von
diefer zum Punkte, vom Sage zum Worte und deſſen Formen, vom Worte zu
den Yauten u. j. w., das tft der pſychologiſch richtige Gang des Unterrichts.
Ein ferner ſehr wichtiger Punkt bei der Behandlung des Unterrichtsitoffes
iſt die Uebung. Sol nämlid aus dem Interefje das Wollen hervorgehen, jo
muß das Wiſſen des Zöglings ſich in das Können verwandeln, und dies
geſchieht nur durch ein wahres, aljo ein der Biychologie entjprechendes Ueben,
d. h. durch die öftere Wiederholung einer Thätigfeit mit dem Zwecke des Er-
lernens; zur Uebung gehören unter Anderem auch die jogenannten Repetitionen
und das Memoriren. Durch tichtige Uebung lernt der Schiller die technifchen
Ecmierigfeiten überwinden und fommt zum freien Gebrauch der Kraft. Abge—
ſehen Davon, daß die Uebung den ſchnellen und fiheren Gebrauch einer Fertigkeit,
3. B. des Leſens, Schreibens, Rechnens, Zeichnens, für das fpätere Peben
werthvoll macht, jo ift auch eine wahre Uebung in der Reihe der Hilfen für
den erziehenden Unterricht ein beacdhtenswerthes Glied. Sie darf weder ein
bloßes Mecdanijiren, noch ein todtes Abrichten, fondern muß ein geiitwolles
und geiftbilvendes Thun fein, weldes auf dem Intereſſe und der Freude am
Lernen ruhen ſoll.
Faſſen wir jetzt die Erörterung über unſer Thema in Theſen zuſammen.
3. Theſen über den erziehenden Unterricht.
N) Der nicht erzichende Unterricht ik cin ſolcher, welcher nur das Wiſſen
und Können des Ichülers als Selbſtzwech, oder ad hoc befördert, ohne auf die Bildung
des Willens Rückſicht zu nehmen.
2) Der erzichende oder pädagogifdhe Unterricht dagegen if der Anban und
die Geſtaltung des Gedankenkreifes des Döglings, um durch die Pflege des vielſeitigen
Interelfes einen filllich religiöfen Charakter heranzubilden.
3) Ibm zur Ichte muß die Zucht gehen oder die Erziehung im engeren Sinne, als
die unmittelbare Einwirkung auf den Willen des Böglings zur heranbildung eines
fitlic -religiöfen Charakters (durch Beifpiel, Strafe, Umgang 1c.).
4) Die Vorbedingung und Stütze des erziehenden Unterrichts und der Bucht if die
Regierung oder die Pflege der mittelbaren Tugenden (— bewußtlofer Gewöhnungen),
wie der Ordnung, der Reinlihkeit, der Pünktlichkeit, des Fleißes, des Auf-
merkens, des Btillfihens, des äußeren Gehborfams, wodurch Störungen von
Unterricht und Bucht ferngehalten werden (Disciplin).
5) Ein erziebender Unterricht kann und fol anf allen Unterridhisfinfen, aud
fdyon in der Elementarklaffe, Rattfinden.
6) Demfelben find die religiöfen und filtlihen Ideen das Eentrum feiner
Thätigkeit.
T) Er führt der Jugend die fittli = religiöfen Lehren durch wertbovolle ge-
ſchihtliche und poctifhe Stoffe, welde im engen Anſchluſſe an die kindlide Ent-
wickelung fortfdjreiten, in concreier Geflalt vor,
32
8) Dirfer werthwolle, klaſſiſche Erzählungsſtoff (Fabeln, Märden, Legenden, Parabein,
Gedichte, biblifhe Geſchichten, Menſchen- und Feitbilder aus der Weltgeſchichtt), deßen Kr-
handlung den Gefinnungsunterridht bildet, il durd geographiſchen, naturkundlichen
und mathematifhen Unterricht, fo wie dur die ſprachlichen Fächer und die Fertigkeiten zu
ergänzen, zu Rüben und zu Iragen (Ergänzungsunterridt).
9 Es finde eine Eoncentration des Unterridts, d. h. cine Verbindung der nicht
gefhichtlihen Fühler unter einander und mit dem Gefinnungsunterridte behufs Vereinigung
des Mlannigfaltligen zur Einheit im Bewnßtfein des Zöglings fatt. Es giebt aud cine
falſche onceutration, weldye das Princip übertreibt, ale Fächer chaotiſch ducdeinander-
wirft und die relative Selbländigkeit der Lehrfächer ganz anfhebt.
10) In formaler hinſicht muß auf jeder Unterrichtstufe dem ſynthetiſchen
Gange ein analytiſcher vorausgehen. Der analytiſche Unterridt bearbeitet den
geiligen Boden zur Aufnahme des Menen, d. b. er zergliedert, berichtigt und ordnet die
über das neue Unterrihtsobject bereits bekannten Vorfelungen; der ſyuthetiſche
füet fodanı den neuen geifligen Samen In deu fo bearbeiteten und zubereiteten Boden ein.
Sehr zu empfehlen ih die genetifhe Methode, welche daranf beruht, daß die Ent-
wickelung einer Jade durch die Entwirkelung des Begriffs reproducirt wird, daß die Darftellung
zeigt, wie die Sacht bervorgebradt wird.
11) Der erzichende Unterricht freitet bei jedem meuen kleinen Abfdnitte (jeder
methodifhen Einheit) im folgenden vier formalen Stufen fort: a) Stufe der
Klarheit (d. h. genaue Vorflelung des vorliegenden Einzelnen); b) der Affociation
(Anführen bereits bekannter, verwandter Fülle und Beifpiele); c) des Inkems (Bu-
fammenfcllung des gefundenen Begriffliden und Allgemeinen und Ordnen desfelben in Reihen),
und d) der Alcihode (Ergänzung, Anwendung und Einibung der Unterrichtsrefnitate ;
Durdjlaufen der Reihen im verfhiedeuer Ordnung 1c.).
19) Für den erziehenden Unterricht find die wichtigen Lchrformen, d. h. die
äußeren Geflaltungen der Darbietung des Unterrictsfoffes: die Deiktifche (vorzeigende),
die dDialogifhe, vor Allem aber die heuriflifhe. Aud die acroamatifde £ehr-
form hat am gehörigen Orte ihren Werth (relativer Werth der Lehrformen).
13) Widtig für einen erzichenden Unterricht if ein den Lehren der Pſychologle ent-
ſprechendes, vom felbfihätigen Intereffe des Zöglings getragenes Heben.
III.
Kurze Beſprechung der anderen Factoren der Schulerziehung:
Regierung, Zucht und Schulleben.
Aus unſerer Darlegung dürfte wohl erhellen, daß der erziehende Unter:
richt auch kenntnißreiche und in den Wertigfeiten woblgeübte
Schüler bildet, aljo nad ven gewöhnlicden Anforderungen des Yebens ein
„guter“, ja, daß er das Ideal des Unterrichts üt, daR ferner ber
erziehende Yehrer der Meifter der Schulmänner ift, der, um dieſes Namens
würdig zu fein, auch feinen, ven Wiſſenſchaften entlehnten Unterrichtsftoff völlig
33
beherrſchen muß und gewiß mit feiner Yehre aud eine wäterliche Zucht und
Disciplin verbinden wird.
So beantworten wir die oben in Abjchnitt IT viefer Schrift ſchon er-
wähnte Preisfrage des mwürttembergifhen evangelifhen Confiftoriums in ihrer
zweiten Hälfte („ob durch den Unterricht die erziehlice Aufgabe der Volks—
ſchule ganz gelöft werden könne?“) ſchließlich nod dahin, daß dieſe Yöjung der
Unterricht allein nicht zu bewirfen vermag, fondern die Schulzucht, das
geeignete Schulleben und die Regierung (Disciplin) noch hinzutreten
müſſen. Wir wollen in legterer Hinfiht nur Einiges andeuten.
Die Regierung der Zöglinge ift wohl von der Zucht zu unter
ſcheiden. Die erftere ‚ift nicht eigentliche Erziehung, da fie nur mittelbar und
propädeutiſch dem Erziehungszwede dient, indem fie den Zögling jo lange dem
Willen des Erzieherd unterwirft, als erjterer nod feinen moraliſchen Willen
haben kann. Die im Zöglinge auftretenden Begierden, durch welche der Unter:
richt, die Schulzucht und das Schulleben in ihrer Wirkfamkfeit gehindert werben
könnten, jollen ferngehalten oder überwunden, der für die Wirkſamkeit der ge-
nannten Crziehungsfactoren günftige Geifteszuftand bereitet und bewußtloſe
Gewöhnungen, als mittelbare Tugenden, nmamentlihd aber Gehorjam
gejchaffen werden. Die Regierung tritt ſchon vor der eigentlihen Erziehung
ein und begleitet fie jo lange als Nothbehelf, bis die vernünftige Erkenntniß
und der moralifhe Wille des Zöglings fie als überflüſſig erjcheinen laſſen.
Ihre Mafregeln beftehen vor Allem in Beſchäftigung (Spiel und Arbeit),
ferner in Aufſicht, Einführung einer genauen Ordnung und feiter Sitten,
in Befehl und Strafen; fie wird durch Autorität und Yiebe unterftügt.
Die Zucht dagegen ift eine das Innere des Zöglings direft gejtaltende
und umgejtaltende Thätigfeit des Erziehers. Ihre Mittel und Hilfsmittel
find: Das Vorbild der Schüler, die Piebe, Autorität und zeitweife eintretende
Aufficht der Lehrer, der Verkehr der Zöglinge unter einander, die Schule ale
fittlihes Gemeinwefen, Hemmung der Affecte und Peidenihaften durch ablentende
Beichäftigungen und Spiele der Schüler, Schulfeite, Spaziergänge und Reiſen,
ob, pädagogiſche Beitrafungen und Belohnungen, Ermahnung, Lektüre, Schul:
andachten und der Beſuch des Gottesvienftes, genug, fie beftehen in Allem,
was zur Anlegung und Pflege eines fittlic) = religiöfen Charakters unmittelbar
dient. Das Schulleben muß diefe Mafregeln dadurch fürdern, daß in ihm
Frohſinn und Heiterkeit, die treuen Begleiter der Tugend, einfehren, und der
Geift der Gottesfurcht, der Yiebe, des Friedens und der Sittlichfeit Die ganze
Anftalt durchwehe und ein feines, anftändiges Verhalten fie ziere und ſchmücke.
Gewiß, es iſt eine herrliche Aufgabe, dem Wejen des pädagogiſchen Unter:
richts nachzuforſchen und eine Erziehungsjchule zu ſchaffen und zu leiten, und,
wenn eine Nation ſolcher Schulen fähig und werth ift, jo ift es die deutſche;
jie darf auch im diefer Hinficht hoffuungsvoll der Zukunft entgegenjeben.
Wir fonnten in unferer Erörterung des jchwierigen und umfangreichen
Thema freilih nur auf die wichtigften Punkte hinmeifen, keineswegs basjelbe
erſchöpfen. Wir find zufrieden, wenn wir dem Leſer einige Fingerzeige ertheilt,
die Gefichtspunfte, welche maßgebend jein dürften, bezeichnet und jein päda—
gogiſches Nachdenken angeregt haben.
Die gegebenen Gefihtspunfte und Fingerzeige werben aber von der
Moral und Piyhologie gelehrt. So gelangen wir alfo alien wieder
Fröhlich, Etziehungsſchule.
34
zu unferem Motto: „Der erziehende Fehrer findet in der Moral
und in der Pſychologie zwei fihere Leitfierne; der eine be-
leuchtet das Ziel, der andere den Weg.“
IV.
Unterrihtsbeifpiele.
Wir geben zur Berbeutlihung unjerer Borfchläge über ben erziehenden
Unterricht noch einige Beifpiele, und zwar über einen wichtigen Theil desfelben,
die Behandlung des geihichtlihen Materials als Concentrationsftoffes.
1) Behandlung eines Märchens.
Nachfolgendes Märden, „die fieben Geislein“, wird fi unferes
Eradtens für Kinder von 6 bis 8 Jahren, aljo für die Elementarklaſſe, zur
Erzählung und weiteren Betraditung gut eignen.
Die fieben Geislein.
(&. ©. 38 ff. in Soeflmann.)
A. Es ift einmal eine alte Geis gewefen, bie hatte fieben junge Zidlein, und
wie fie einmal fort in den Wald wollte, bat fie gefagt: „Ihr lieben Zidlein, nehmt
euch in Acht vor dem Wolfe und laßt ihm nicht herein, fonft ſeid ihr alle werloren.“
Darnach ift fie forigegangen,
B. In einer Weile rappelt Etwas an der Hausthüre und ruft: „Macht auf,
macht auf, liebe Kinder! Euer Mütterlein ift aus dem Walde gelommen!“ Aber bie
fieben Geislein erfannten’8 gleih am der groben Stimme, daß das ihr Mütterlein nicht
war und haben gerufen: „Unfer Mütterlein hat feine fo grobe Stimme!” und haben
nicht aufgemacht. i
Nah einer Weile rappelt's wieder an ber Thüre und ruft ganz fein und leije:
„Macht auf, macht auf, ihr lieben Kinder! Euer Mütterlein ift aus dem Walde
gelommen!*
Aber die jungen Geislein gudten durch die Thärfpalte, ſahen ein Paar ſchwarze
nn * riefen: „Unſer Mütierchen hat keine ſo ſchwarzen Füße!“ Und haben nicht
aufgemacht.
Wie das ber Wolf, denn er war es, gehört bat, iſt er geſchwind hin in die Mühle
gelaufen und bat die Füße ins Mehl geftedt, daß fie ganz weiß geworden find, Danadı
{ft er wieder vor bie Thüre gekommen, hat die Füße zur Spalte hinein geftedt und
wieber ganz leife gerufen: „Macht auf, macht auf, ihr lieben Kinder! Euer Mütterlein
ift aus dem Walde gefommen!“
Und wie die Geislein bie weißen Fühe gefehen haben und bie leife Stimme
ebört, ba baben fie gemeint, ihr Miütterlein —8* und haben geſchwind aufgemacht.
Aber kaum haben fie aufgemacht gehabt, fo iſt der Wolf hereingeſprungen. Ad, wie
find ba die armen Geislein erſchrocken und haben ſich verſtecken wollen! Eins iſt unters
Bett, eins unter ben Tifch, eins hinter ben Ofen, eins binter einen Stuhl, eins binter
bie Thür, eins im einen großen Milchtopf und eins in ben Ubrlaften geſprungen.
Aber der Wolf hat fie alle gefunden und zufammengebradt. Hernach ift er fortgegangen,
bat fich in den Garten unter einen Baum gelegt und hat angefangen zu jchlafen.
C. Wie hernach bie alte Geis aus dem Walde zurückgekommen ift, bat fie das
Haus offen gefunden und die Stube leer; da bat fie gleich gedacht, jet ſei's nicht
geheuer, unb hat angefangen, ihre lieben Zicklein zu juchen, fie bat fie aber nicht finden
35
fönnen, wo fie auch gefucht und fo laut fie auch gerufen bat, es bat keins Antwort
gegeben. Endlich ift fie in den Garten gegangen; ba bat der Wolf noch gelegen unter'm
Baum und bat geichlafen und geſchnarcht, daß alle Aefte gezittert haben; und wie fie
näber zu ibm gekommen iſt, bat fie gefeben, daß etwas in feinem Bauche gezappelt hat.
Da batte fie eine Freude und dachte, ihre Geislein eben wohl noch. Jetzt ift fie
geihwind hinein ins Häuslein geiprungen, bat eine Scheere geholt und bat dem Wolfe
ben Bauch aufgeihnitten, ba And ihre Geislein eins nah dem andern alle beraus-
geiprungen und baben alle noch gelebt. Darnach hat die Alte gefhwind fieben Wadel-
fteine gebolt, bat fie in des Wolfs Bauch geſteckt und biefen wieder zugenäbt.
D. Als der Wolf munter wurde, hatte er Durft und ift an den Brunnen gegangen,
um zu trinlen; aber als er einen Schritt gegangen ift, da haben die Wadelfteine in
feinem Bauch angefangen zufammenzufchlagen, und ba bat er gelagt:
„Ras rumpelt,
Was pumpelt
In meinem Baud?
Ih bab gemeint, ich hab’ junge Geislein drein,
Und jetst find’s nichts als Wackelſtein'!“
Und wie nun ber Wolf an ben Brunnen gelommen ift und hat trinfen wollen,
fo haben ihn die Wadelfteine bineingezogen, und er ift ertrunfen, Und die alte Geis
ift mit ihren Zidlein vor Freude um ben Brunnen berumgetangt.
Damit die Kinder das Märchen verftehen und fih von allen in denſelben
“ vorkommenden Gegenftänden die rechten Borftellungen bilden; damit der aus
demjelben gezogene fittlihe Gehalt von anderen Kenntniffen ergänzt, geſtützt
und getragen werbe, muß eine Beiprehung der Dbjecte vorgenommen werben,
von welden die Kinder feine Hare und fichere Borftellung haben, und bamit
bei der Erzählung der geſchichtliche Faden durch Erläuterungen nicht zerrifien
und baburd die Spannung und das Intereffe nicht beeinträchtigt werden, muß
diefer Ergänzungsunterriht vor der Mittheilung der Erzählung
ftattfinden, alfo eine Borbejprehung fein. Da viefelbe an den vorhan-
denen Borftellungsfreis der Kinder anfnüpft, diefen zergliedert, berichtigt und
ordnet, alfo im Wefentlihen in einer Analyſe befteht, jo nennen wir ihn
analytifhen Unterridt. Das Märchen jelbit ift das Neue, der Same,
welcher in den bereits bearbeiteten Boden ver kindlichen Seele eingeftreut wird;
e8 giebt aljo der Bildung einen Zuwachs und eine Erweiterung — Syntheje;
wir dürfen aljo die Mittheilung desjelben ſynthetiſchen Unterricht nennen.
Analpfe. Diefer analytische Unterricht findet in den für Naturkunde (An-
Ihanungsunterriht) angefegten Stunden ftatt. Der VYehrer jagt etwa zu den
Kindern: „Ich will Euch, Liebe Kinder, ein Märchen, vie fieben Geislein,
erzählen. Damit Ihr dasjelbe verfteht, will ich die Dinge, welche in demſelben
vorfommen und Euch noch nicht genau befannt find, jett erſt mit Euch be-
Iprehen.” — Es find zu befprehen: Die Ziege, der Wolf, das Mehl und
die Mühle, die Thür und die Stubengeräthe (Bett, Tiſch, Dfen,
Stuhl, Milchtopf, Uhrkaften), der Garten, der Baum, die Wader-
fteine und der Brunnen.
Die Beiprehung erfolgt nun im ähnlicher Weife, wie das in den meijten
Schulen im Anfhauungsunterrichte geſchieht; nur ift zu beachten, daß be-
3*
36
ſonders lebendige, charakteriftiihe Züge der Naturgegenftände, welde im
betreffenden Märchen vorkommen, auch als Ausgangspunkte fir die Betradhtung
dienen und befonders hervorzuheben find. Solde Züge find z. B. vom
Wolfe: Er hat eine grobe Stimme, heult, gebt, wenn er Hunger bat
in die Ställe u. dgl. — Bon der Ziege ift hervorzuheben: fie medert, frift
gern das Yaub und Gras des Waldes. Die Fleinen Ziegen: fHlettern gern
auf alle Gegenjtände, hüpfen in bie Gefäße (ven Milchtopf) u. |. w. — Kommen
die Gegenftände in verjchiebenen Märchen vor, fo treten fie meijt in anderer
MWeife auf, und fo findet ein Fortſchritt im ihrer Befchreibung ſtatt. Im
vorliegenden Märchen erjcheint z. B. der Baum befonders als Schatten gebende
Pflanze; in einem andern kommt die Frucht mehr zur Betrachtung. — Hier
erfcheint uns der Wald als Weideplag, in einem anderen Märchen (Sternthaler)
als Schuß gegen Wind und Wetter. Dies giebt Beranlaflung, die Beſchreibung
der Naturgegenftände allmählich zu erweitern. — Gegenftände, welche bereits
in früheren Unterrichtöftunden beſchrieben worden find, werden nur furz wieder:
holt. So find z. B. die Stubengeräthe unferes Märchens bei Bejchreibung
der Schul» und Wohnftube gewiß ſchon im Anſchauungsunterrichte in den
eriten Schulwochen vorgekommen; man braucht alfo nur kurz auf das Dage-
wejene binzuweifen. Ebenſo find die Thür, das Mehl und die Mühle, der
Garten und der Wald in früheren Märden bereits näher betrachtet worden.
Es bleiben alfo hier befonders zur Betradhtung noch übrig: die Ziege, ber
Wolf, der Baum, der Brunnen und die Waderfteine.
Befhreidbung der Hansziege.
Die Ziegen gehen gern in den Wald, um Paub und Gras zu freſſen;
dort Hettern fie an den Bergen umber ꝛc. Sie rupfen das Futter mit den
Schneidezähnen ab und zermalmen es mit den Badenzähnen. Betrachtung ihrer
Theile nah der Orbnung: Kopf, Hals, Rumpf oder Leib und Gliedmaßen.
Am Kopfe befinden fich zwei Augen, zwei Heine Ohren, Ober- und Unterfiefer,
meist zwei Hörner. Unten am Sinne ift ein Bart. Statt der Arme bat die
Ziege zwei VBorderbeine ꝛc. An den Füßen bat fie zwei Zehen, die mit Schuhen
verjehen find ꝛc. An der Hausziege bemerkt man noch ein großes Euter, in welchem
die Milh enthalten ift. Die Beine find dünn; der Schwanz ift Hein. Gie
hat ein Kleid von langen zottigen Haaren. Zu erwähnen find noch: ihre
Nahrung, ihre Jungen, ihr Nugen, ihre Farbe ſchwarz, weiß), ihre Stimme
(Medern), ihre Eigenfchaften (ſpringen, hüpfen und Klettern gut mit den dünnen
Beinen, find munter und muthig).
Der Wolf. Der Wolf, ein Thier fo groß wie ein Fleiſcherhund, wohnt
im Walde, kommt aber, wenn er fehr hungrig ift, im die Wohnmtgen ber
Menſchen und in die Ställe. Er frift Menſchen und Thiere, bejonderd gern
verzehrt er Schafe und Ziegen. Er beißt fie mit feinen fräftigen Zähnen todt.
‚In feinem Maule hat er oben zwei und unten zwei lange Reifzähne, dann
noch Yüden- und Höderzähne. Weitere Beichreibung der Theile des Wolfes
nach dem befannten Schema: Kopf, Hals, Yeib und Gliedmaßen. Er hat eine
fegelförmig vorftehende Schnauze, einen grauen, ſchwarzgefleckten, unten weiß
ausjehenden Pelz, einen langen, zottigen Schwanz und ftruppige Haare. An
37
feinen Vorderfüßen find fünf, an den Hinterfüßen vier Zehen. Seine Stimme
ift ein Heulen. Nahrung, Junge ꝛc.
Der Baum. Ein Baum, den die Kinder gefehen haben, ift nah Wurzeln,
Stamm, Aeften, Zweigen und Nebenzweigen, Blättern, Blüthen und Früchten
zu befchreiben.
Wackerfteine over Wackelfteine find rundliche Bafaltfteine (worzuzeigen).
Sehen ſchwarz aus, find feft ac.
Die bejchriebenen Gegenftände müfjen die Kinder vorher in natura (auf
Spaziergängen), oder wenigftens in guten Abbildungen angefchaut und, wenn
möglich, beobachtet haben.
Der Brunnen. Bejchreibung eines Schöpfbrunnens, der bier gemeint ift.
Syntheſe. Weil die Kinder das Märden nicht auf einmal faſſen und
merfen können, wird basjelbe in Abjchnitte zerlegt; die Erzählung in Abſchnitten
regt Erwartungen an und befördert jo die Spannung. Man fann
unſer Märden in die mit A, B, C, D bezeichneten vier Abjchnitte theilen.
Jeder derjelben bildet eine methodiſche Einheit, .‚d. h. ein für fich nad
den befannten Formalftufen zu behandelndes kleineres Ganzes. In ven für den
Gejinnungsunterricht beftimmten Stunden ift das Märchen zu erzählen, und ver
fittliche Gehalt desjelben hervorzuheben. Hierbei werden natürlich die Thiere
des Märchens als Perſonen angefehen.
Wir geben hier in Bezug auf den Geſinnungsunterricht nur einige Winke,
da dieſelben für denkende Lehrer genügen werden.
Die Lehren dieſes Märchens dürften ſein:
a) Eine liebevolle Mutter warnt ihre Kinder vor Ge—
fahren, belehrt und ermahnt ſie zur Vorſicht. Die alte Ziege war eine
ſolche gute Mutter, Beiſpiele aus andern Märchen werten geſucht (Affociation).
Eine ſolche war die Mutter der Spinnerin. Beijpiele aus dem Yeben bes
Kindes.
b) Jedes Kind joll feinen Eltern geborden Dies thaten
die jieben Geislein. Das faule Mädchen in den drei Spinnerinnen gehorchte
der Mutter nicht u. ſ. w.
e) Die Kinder jollen vorfidhtig ſein. Dies waren die fieben
Geislein; fie wurden aber durch die größere Klugheit des Wolfes bezwungen.
d) Du barfjt und ſollſt vi, wenn du angegriffen wirft,
vertheidigen.
Nothwehr. Die Geislein befanden fih dem Wolfe gegenüber in
Nothwehr.
e) Du ſollſt niht lügen und betrügen (wie der Wolf).
f) Wer (wie der Wolf) Unſchuldige (die Geislein) tödtet, ift
ein Böſewicht. Das Böſe wird beitraft. Fünftes Gebot.
Diefe Pehren find an Beifpielen zu verdeutlichen. Einfache Bibelſprüche
find anzuſchließen.
2) Behandlung einer biblijden Erzählung.
Auch bereits das alte Teftament enthält vortrefflihe Elemente zur Jugend—
bildung. Es handelt fih nur darum, die herrlihen Schäge der Bibel in bas
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Leben der Jugend überzuführen, d. i. die Gefhichten zwedmäßig zu wählen
und in geeigneter Weije zu behandeln. Wir wählen zur Behandlung die in
ſittlicher Hinficht lehrreihe Erzählung von: „Abraham und Fort“, welde
ſich, wie alle Geſchichten aus der Patriarchenzeit, für Kinder von O— 11 Jahren
eignen bürfte.
Abraham und Lot.
(Koblraujid, Die Geſchichten und Lehren der heiligen Schrift, Ar. 7.)
A. Abrabam war ſehr reih an Bieh aller Art, an Knechten und Mägpen, und
an Silber und Gold. Auch Lot, der mit ibm zog, hatte viele Schafe und Rinder unb
Knechte und Geelte. So wohnten auch zu der Zeit bie Kananiter und Pberefiter im
Fande. Und das Land fonnte fie beide zufammen nicht ertragen; denn ihre Herden
waren zu groß, als daß fie hätten bei einander bleiben und dieſelbe Weideftraße zieben
tönnen, Und es war immer Zank zwifchen den Hirten über Abrabam’s Bieb und
zwifchen den Hirten über Lot's Bieb,
Da ſprach Abraham zu Lot: „Lieber, laß nicht Streit fein zwiſchen mir und bir
und zwifchen meinen unb beinen Hirten, benn wir find Gebrüder. Stehet dir nicht
das ganze Land offen? Lieber, fcheide dih von mir. Willſt du zur Linken, jo will ic
zur Rechten; ober willft bu zur Rechten, fo will ich zur Linken.“
Da bob Lot feine Augen auf und befab die ganze Gegend am Jordan; fie
aber war, ebe denn Sodom und Gomorra zerftört wurden, ſehr waflerreih, wie ein
Garten Gottes, gleih dem Lande Egypten. Alfo ermwäblte fih Lot bie ganze
Gegend am Jordan und z0g gegen Morgen, und fie fchieben Einer von dem Anbern.
Abraham wohnte im eigentlichen Lande Kanaan, welches der Herr feinen Nachkommen
zu geben verfproden hatte; er durchzog e8 in bie Länge und Breite und fchlug zuletzt
fein Gezelt im Eichenhaine Mamre auf, ber bei Hebron ift, und baute dem Herrn
daſelbſt einen Altar.
Lot aber wohnte in dem Thale des Jordan und in feinen Städten, und feine
Gezelte erftredten fih bis gen Sodom, Die Leute von Sodom aber waren böfe und
fündigten fehr wider ben Herrn,
B. Nach dieſen Gefhichten begab ſich's, daf vier fremde Könige (Babylonierkönige,
denen die Bewohner von Kanaan tributpflichtig waren) einfielen in bas and, zu
plündern und Beute zu macen, und famen in das Thal Siddim. Da zogen aus ber
König von Sodom und vier verblindete Könige mit ibm, und rüfteten fich, zu ftreiten
wiber jene im Thale Siddim; und das Thal Siddim hatte viele Quellen von
Erpbarz. Aber die Könige von Sodom und Gomorra wurden bafelbft gefchlagen und
fielen in die Napbtba-Gruben, und was überblieb, flob auf das Gebirge. Da nabmen
die Keinde alle Habe zu Sodom und Gomorra und alle Speife und nahmen auch mit
fih Lot und feine Habe, denn er wohnte zu Sodom, und zogen bavon.
C. Da kam Einer, der entronnen war, und ſagte e8 Abraham an, berba wohnte
im Haine Mamre des Amoriterd, des Brubers von Eslol und Aner; dieſe waren mit
Abrabam im Bunde. Als nun Abraham hörte, daß feines Bruders Sobn gefangen
war, waffnete er feine Anechte, dreibundert und achtzehn, in feinem Haufe geboren, und
jante den Keinden nach bis gen Dan, und theilte fih, fiel des Nachts über fie mit
feinen Knechten und ſchlug fie, und jagte fie bis gen Hoba, im Norden von Damaskus,
und bradte alle Güter zurück, dazu auch Lot, feinen Bruder, mit feiner Habe, und auch
die Weiber und das Bolt.
Als er nun wieberfam von der Schlacht der vier Könige, ging ihm entgegen ber
Könia von Sodom in das Königstbal. Und Melchiſedek, König von Salem, trug Brot
und Wein bervorz und er war eim Priefter Gottes, bes Höchften, und fegnete ibn und
ſprach: „Geſegnet feift du, Abraham, dem höchften Gott, der Himmel und Erbe be
fißet; und gelobt ſei Gott, ber Höchfte, der deine Feinde in beine Han‘ gegeben bat.“
Da ſprach der König von Sodom zu Abrabam: „Sieb mir die Leute zurüd, die
Güter behalte dir.“
Aber Abrabam antwortete: „Ich bebe meine Hände auf zu Iebova, dem höchſten
Gott, dem Herrn bes Himmels und der Erde, daß ih von Allem, was bein ift, nicht
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einen Faden, noch einen Schubriemen nehmen will, daß bu nicht fageft, du babeft
Abraham reich gemacht, ausgenommen, was bie Knechte verzehrt haben; und bie Männer
Aner, Estol und Mamre, die mit mir gezogen find, bie laß ihr Theil nehmen,“
Wenn unfer Geift nur durch Aufnahme klarer, deutlicher BVorftellungen
einen Zuwachs von Bildung erlangt, fo muß in allen Unterrichtsfähern, auch
in der biblischen Geſchichte, auf die Klarheit und Deutlichleit der Vorftellungen
bingearbeitet werben.
Unfere biblifche Gefchichte führt den Geift der Kinder an einen fernen
Drt und in eine ferne Zeit, alfo im umbefannte geographifhe und Fultur-
hiftorifche Verhältniffe; damit nun der Unterricht von Erfolg begleitet fei, muß
vor der Mittheilung der Erzählung, als Borbereitung, den Kindern ein
Bild der genannten Berhältniffe gegeben werben, auf welchem das Verſtändniß
der Gefchichte ruht; wenn nicht in anderen vorausgehenden Erzählungen das
Erforderliche bereits gegeben wurde.
Diefer Ergänzungsunterricht würde etwa Bejchreibungen ent=
halten: 1) der Gegend (bes Schauplakes der Geſchichte), 2) des No-
madenlebens, 3) der Brunnen ımd 4) der Waffen und ver Kampfes—
weife der damaligen Zeit.
Wir geben über jeden diefer Punkte einige Andeutungen.
a) Das Pand Kanaan. Wollt Ihr, liebe Kinder, die lehrreichen Ge—
ſchichten, welche ich Euch jeßt (von Abraham und Pot) erzählen werde, verftehen, fo
müßt Ihr Euch mit mir in ein weit, weit von uns nach Morgen zu gelegenes Land,
nah Ranaan, im Geilte verjegen. Che Abraham zu demjelben gelangen
konnte, mußte er über einen großen Fluß und durch eine Wüſte reifen. Im
Norden enthält das Pand Kanaan himmelhohe Gebirge, im DOften und Süden
vesjelben liegen weite, öde Santmwäüften. Bon Norben nad Süden ziehen ſich
durch das Pand ebenfalls viele Gebirge, aber von geringerer Höhe, melde nad)
Weften hin zu einer großen Ebene fi abdachen, welde dann von einem großen
Meere begrenzt wird. Die ganzen Gebirge enthalten viele herrliche geſegnete
Thäler,; von Norden nah Süden durchzieht aber dasjelbe ein ſchönes, nach
Süden zu immer breiter werbendes Thal, in welchem ein Fluß, der Yordan,
fließt, der von den nördlichen Bergen fommt. Diefes Land ift ein fehr
warmes Land, ift ſehr fruchtbar und fhön, war früher noch weit fruchtbarer und"
ſchöner, als jett. Im den reichen, lieblichen Thälern gab es prächtige Weiden
mit fußlangem Grafe, blumige Wiefen und geſegnete Felder. Dort wuchjen
an ben Flüſſen berrlihe Sträucher von Dleander; e8 gab lieblihe Haine von
ſchönen Datteln und ftarfen Eichen; die Hügel waren mit blühenden Rofen-
gebüſch bevedt; an den Bergen wuchs ber Delbaum, und der Weinftod rankte
fich, mit armlangen Trauben behangen, an anderen Bäumen empor. Das Land
war nur zum Theil angebaut, ein großer Theil beftand noch in unbenugten
großen Weideplägen. Bewohnt war ed von verfciedenen heidniſchen Bölfer-
ſtämmen, 3. B. von den Kananitern, Pherefitern und Amoritern. Die Ober-
häupter oder Fürften einer oder einiger Städte werben in der Bibel Könige
genannt. Südlich vom Jordan, da, wo früher Sodom und Gomorra, jetzt
aber ver Salzjee (das todte Meer) liegt, war die Gegend bejonders ſchön,
wafferreih ıumd fruchtbar. In derfelben (im Thale Siddim) ſprudelten Quellen
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von einem harzigen Dele Naphta), ähnlich unferem Petroleum. Menjchen
und Thiere konnten in diefem warmen Pande den größten Theil des Jahres
bei Tag und bei Nacht im freien leben ; fie bedurften nur leichter Wohnungen.
b) Das Nomadenleben. In dem ſoeben geſchilderten Yande nährten
fih im alter, grauer Zeit, als umfere Geſchichte ſich zutrug, viele Yeute nur
von Biehzucht; fie wohnten nicht mehr, wie es in noch früherer Zeit von
manchen Menjhen geſchah, unter freiem Himmel, oder in aus Zweigen ge
flochtenen Hütten, fondern in Zelten und führten ein Wanderleben. Nod
heute giebt es im fernen Morgenlande, wie auch in anderen Erbtheilen, viele
folder Hirten» und Wandervölfer — Nomaden. Es wird euch freude be-
reiten, wenn id) euch etwas von dieſen Zelten und dem Hirtenleben
erzäble.
Die Zelte waren oben nicht jpig und mit Schnüren ausgejpannt, wie
unjere Soldatenzelte, ſondern vieredig, glatt oder leicht newölbt. Sie wurden
von Pfählen, die in die Erde gefchlagen waren, getragen; auf biefen befanden
fi) quer liegende Stangen, welde oben an die Pfühle befeftigt wurden. Das
Dad beitand aus Thierhäuten, oder dichtem Tuche. Dieje Teppiche wurden
aus Baum- oder Thierwolle, aus Haaren der Kameele und Ziegen, jpäter erit
aus Hanf, Flachs oder Seide gewebt oder neflodhten. Die Zelte veicherer Peute
zerfielen in mehrere Theile; im dem einen derjelben hielten jid) die Bedienten
auf (oft wohl auch das Vieh), im zweiten der Hausherr und bie Kinder, im
dritten die Frauen. Im den Zelten befanden fih nicht Stühle, Tiſche und
Betten, wie in unſeren Stuben und Kammern, jondern große Deden aus Yeder
oder Stroh; ſchöne wollene Teppiche bei den Reicheren. Diefe Deden wurden
auf den bloßen Rafen gelegt, und man feßte ſich auf fie mit untergejchlagenen
Beinen. In dem Zelte befanden ſich nur wenige Geräthe: lederne Schläuche,
Keffel, Töpfe zur Aufbewahrung von Waſſer, Milb u. ſ. w., Körbe, Kaften
oder haarene Säcke zur Aufbewahrung trodener Waaren; eine Handmühle,
Waffen u. f.w. Die Speifen und Getränfe waren: Kuchen, Mil, Butter,
Käfe, Früchte, Wein ꝛc.
Die Thiere, welche die Hirtenfürften Kanaans zogen, waren Schafe und
Ziegen, Rinder, Ejel und Kameele (das Kameel ift furz zu befchreiben, wenn
es zum erjten Mal in der Erzählung auftritt); Pferde befaßen fie nicht. Damit
diefe Thiere immer im Freien leben fonnten, zog man im heißen Sommer auf
‚bie fühleren Gebirge, in der fühleren Regenzeit in die wärmeren Thäler. —
Abraham, Yot, Iſaak, Jakob waren Befiter vieler Taujende von Thieren, fie
befaßen mehrere hundert Knechte und Mägde, waren Hirtenfürften Ein
Lagerplatz derjelben enthielt viele Zelte, die den Anblid eines Heimen Dorfes
gewährten. (Abbildungen vorzuzeigen.)
Fortzug der Karawanen. Abbruch des Zeltes. Die meiſten Gegenjtände
werben auf die Kameele und Eſel gepadt. — Das dringendfte Bedürfniß für
die Nomaden und ihre Heerden iſt bei der Hige des Klima das Waller.
Darum find wichtig:
e) Die Srunnen. Ste waren gegraben, theil® um lebendiges Waſſer
zu erhalten, theil® um Regen- oder Scneewafjer zu ſammeln. Letztere,
Cifternen genannt, liefen, um fie vor der Sonnengluth zu ſchützen, oben
trichterförmig zu und waren mit einem Steine bevedt. Oft hatten vie Brunnen
die Geſtalt eines Bergſchachtes; man flieg entweder auf Stufen hinunter ober
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zog das Waffer mit Gefühen herauf. Wegen der Brunnen entftand oft Streit
zwijchen ben Hirten.
d) Die Waffen der Nomaden waren meift andere, als fie jegt unjere
Soldaten haben ıfeine Fenerwaffen), ſie beftanden namentlih in Hirtenftäben,
die iiber die Schultern gelegt getragen wurden, und Reulen; ferner in hölzernen
Bogen und Pfeilen, Spießen und Schwerter. Man kämpfte mehr einzeln,
Mann gegen Mann ꝛc.
Srfinnungsunterricht. In befonderen, dem Gefinnungeunterrichte ges
widmeten Stunden wird, nachdem das bibliſche Yebensbild in angedeuteter
Weiſe vorbereitet ift, dasjelbe den Kindern etwa in drei Abſchnitten (A, B, ©)
vorgeführt. Die Erzählung muß in einfacher, verſtändlicher Form erfolgen.
Die Kinder erzählen jeden Abjchnitt möglichſt jelbftändig mit ihren eigenen
Worten wieder. Nur Sprüche von ausgeprägter Yehrbedentung (wie z. B.
bier: „Yieber, laß nicht Zank jein zwiſchen dir und mir; willjt du zur
Rechten“ u. ſ. w.), jo namentlich auch die Ausſprüche Chrifti, find genau in
bibliſcher Form einzuprägen und wiederzugeben. Nachdem die Erzählung
richtig aufgefaßt tt, wird der fittlihe Inhalt derjelben dargelegt.
Wir geben bier wieder nur einige Fingerzeige, welche der Lehrer leicht
weiter ausführen kann.
Sittlihe Lehren aus Abſchnitt A.
a) Meide den Streit. Befolge den Wahlſpruch Abraham's:
„Lieber, laß niht Streit fein zwiſchen mir und bir.“
Der Streit mißfällt Anderen unter allen Umftänden; Gott und unfer
Gewiffen gebieten, Frieden mit Allen, namentlid mit Freunden und Ber:
wandten, zu halten (fittlihe Ioee des Rechts. — Abraham ift fittliches Vor—
bild. Andere Beifpiele aus der bibliihen Gejhichte und dem Veben des Kindes.
Aſſociation.)
b) Sei nicht eigennüßig. Die Liebe ſuchet nicht das Ihre.
— Wer nur auf ſeinen Vortheil denkt und nicht auch den des Anderen im
Auge hat, iſt eigennützig, wie Lot. Der Eigennutz mißfällt Allen und iſt
ſittlich verwerflich. Andere Beiſpiele von Eigennutz. Dem ſtehen gegenüber
die Liebe, das Wohlwollen, welche dem Nächſten geben, was ihm nützlich
und gut iſt. (Sittlihe Idee des Wohlwollens.)
Aus Abſchnitt B,
a) Du folljt nicht ftehlen, d. b. dir nicht wiberrechtlich fremdes
Eigenthum aneignen. Das Bentemahen, Plündern der Babylonierfönige ift
Diebjtahl. Andere Beijpiele aus der biblifchen Geſchichte oder dem Peben.
b) Du ſollſt nit tödten, d. h. Anderen das Leben nicht wifjentlid,
und umrechtmäßiger Weile nehmen. — Der Krieg ift Streit im Großen; er
ift, wenn er ohne Beranlaffung, ohne Ankündigung geſchieht, ſittlich verwerflich.
Nur der Bertheidigungsfrieg ift als Nothwehr erlaubt.
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Aus Abſchnitt C.
a) Du darfft und follft dich, wenn bu angegriffen wirft,
vertheidigen. Die Nothwehr Lot's) und bie Bertheidigung deiner Freunde
(wie Abraham that) find fittlich erlaubt, bezitglich geboten.
b) Du follft deinen Nädften lieben, wie did felbft.
Abraham war nicht eigennüßig, fondern liebevoll, ja edelmüthig gegen Pot.
Seine Hilfsleiftung befundete das Wohlwollen gegen Lot und gefüllt darum
allgemein.
e) Sei dankbar! — Meldijevek bringt ald Ausorud jeines Dankes
den ermatteten Sriegern Speife und Trank zur Erquidung. Diefe Dant-
barkeit gefällt unbedingt und ift darum fittlihe Forderung. (Sittliche Idee
der Vergeltung.)
di Sei jo ehrlich, wie Abraham, der von Melchiſedeck's Eigenthum
nicht einen Faden noch Schuhriemen behielt, obwohl er dur feine Zurück—
eroberung bes Eigenthums Anfpruh auf dasſelbe gehabt hätte (ee
des Rechts.)
Belehrungen über die Bildung des Staates könnten bier noch an—
gereiht werben. Abraham hatte ein Gemeinweſen, eine Art Meinen Staates,
in bem er das Amt bes Fürften, Gefeßgebers und Richters übte. — Staaten
ſchließen Bündniffe mit einander, wie der König von Sodom mit den
vier anderen Königen.
Für den Lehrer ift noh zu beahten: Abraham handelte nad
jeiner inneren Meberzeugung (Idee der innern Freiheit); fein Handeln war
kräftiger als das Pot’, er Fümpfte fogar des Nachts (Idee der Vollkommenheit);
er bradte das Unrecht zur Beitrafung, indem er die vier Babylonierfünige
befämpfte und jchlug (dee der Vergeltung). Aljo ift er ein Mufter nad
allen fünf ſittlichen Ideen (der innern Freiheit, ver Vollkommenheit, des Wohl:
wollens, des Rechts und der Bergeltung; ſiehe oben Abjchnitt IL, 1) und
fomit ein vollfommenes ethifches dent.
Berlag von 3. Barmeifter in Eifenad.
1
Deutſche Sprachlehre für höhere Lehranſtalten, ſowie zum Selbſtſtudium verfaßt
von Dr. Theodor Gelbe, Realſchuldirektor in Stollberg i S. Preis 3.4 60 Pf.
Deutfhe Shufzeitung: Hier liegt wirflich etwas Neues vor, — und wir verfidern — dies Neue
ift gut! Der Berfaffer jagt: ‚Namentlich bat mir am Herzen nelegen, für die Böalinge der Lehrer:
feminare, welde ja in Zukunft die berufenen — und Pfleger der deutſchen Sprache fein ſollen, ein
Buch au Ihaffen, welches unter ber Leitung eines tüchtigen Lehrers ihnen jelbft bei Mangel fremd-
ſprachlichen Unterrichts jene arammatiiche Bildung ermögliche, deren fie für ihren zukünftigen Beruf
bebürfen, die ein nötbiger Schmud jedes Gebilbeten ift.”“ Das Werf enthält nur die Wortlehre, ein
2. Theil, die Saplebre, foll folgen. Auf bem Grunde der Geſchichte ift diefe Spradlehre aufgebaut,
Mar, licht, verftändlich, auch dem, ber des Alt: und Mittelhochdeutichen nicht Herr ift. Mit einem Worte:
es ift ein vortrefflihes Buch, das fiherlih gar bald in ben böberen Lebranftalten, namentlih in
er Seminarien, Eingang finden wird. Die Orthographie ift die von der Berliner Conferenz vor—
geichlagene.
Die EHemniger Zeitung: Eine ausführlichere „Deutihe Sprachlehre“, auf die wir unfere
Lefer aufmerffam zu machen nicht verfeblen wollen. Verfaſſer niebt bier ein reiches Material und giebt
es in einer Maren, leicht fahlihen Weile. Zurückgehend auf frübere Spradftufen, insbefondere das
Alt- und Mittelbochdeutiche, wie andere verwandte Spraden, 4. B. das Engliſche, und in fortwährender
Berüdfihtigung der jo wichtigen Volksdialekte erflärt er auch das jetzt nicht oder faum mehr Verftänd-
liche und bietet jo nad allen Seiten hin Belehrung und Anregung. Wenn wir nun weiter noch hinaus
fügen, daß das Wert durhaus nicht im trodenen Lebrtone, fondern faft ımterbaltend, weil überall
Interefjantes bringend, geſchrieben ift, jo möchte wohl unfere warme Empfehlung des Buches gerechtfertigt
fein. Gewiß jeder ®ebildete, der ſich für unfere berrlihe Mutterſprache ernftlich intereffirt, wird mit
Nugen und Bergnügen bas Buch gebrauchen, insbefondere aber wirb e8 Lehrern, bie, ohne ſelber eigent-
lihe aermaniftiihe Studien gemacht zu baben bez. in Ermangelung fremdſprachlichen Unterrichts ſich
—— — dem Gebiete der deutſchen Sprache weiter orientiren möchten, die erſprießlichſten Dienſte
ten können.
Beitung f: d. 856. Anterridtswefen Deutfdlands: Obſchon Fein Mangel an „deutſchen Sprad-
Iehren‘’, fo baben wir bod die vorlienende mit Freuden begrüßt, weil fie fir jeden, der nicht Beruf
oder Mufe hat, ſpezielle germaniftiihe Studien zu machen, von bedbeutendem Werthe ift und jelbft dem
Germaniften von Fach manchen Dienft leiften wird. Der Hauptvorzug ber Arbeit beftebt nämlich darin,
daß fie durchaus auf dem Boden der heutigen Sprade ftebt, den gegenwärtigen Stand berfelben bar»
ſlellt und denfelben nicht von einem früberen Zeit oder beſchränkten fubjeltiven Standpunkte aus kon⸗
ftruirt. Nicht daß Rüdhlide in die Bergangenbeit unferer Sprade fehlten, im Gegentheil bie früberen
Lautftufen find in ausgiebigſter Weiſe berüdfihtigt; aber indem Berfafier überall neben bas beite
Schriſtdeutſch unferer Periode die von feiner „wiſſenſchaftlichen““ Regel angefränfelten Vollsdialekte
ftellt, zeiat er vor allem das lebendige Walten des lebendigen Epracgeiftes und bie Hinfällinfeit mancher
fogenannten Regel, die jenen Geift in „ſpaniſche Stiefeln‘‘ jchnüren möchte, im Grunde ſich aber nur
ohnmädtig zeigt, das organlid Gewordene zu erflären, oder wohl gar mwirfliche Auswüchſe patronifirt.
Daß die Arbeit bei aller Öründlichkeit des ‚‚trodnen Tons“ fich begeben, wird ihren Werth nur erhöhen.
Deutfhe Säule: An auten deutichen Spradlehren haben wir feinen Mangel, aber fo anziehend,
durchſichtig, Mar und dabei grünblich wie das vorliegende, find ſehr wenine geichrieben. ze Berf. dem
Bude eine ſprachgeſchichtliche Grundlage gibt, gewinnt man in das Wachlen und Entwideln der heutigen
Sprade Einfiht, lernt das Veftehende ald Gemworbenes würdigen und erhält über vieles Aufſchluß,
worüber die gewöhnlichen, fchematifirenden Spradlehren fein Wort verlieren. Beſonders werthvoll ift
bie genaue Angabe des Geſchlechts und der Dellination der Eigennamen, bie Ken ug Das heutigen
Konjugation und Deklination u. ſ. w. Betreff der Wortichreibung folgt ber Verfaffer der Berliner Kon-
ſerenz, da er jeinerjeits mitwirten will, eine gleichmäßige, wenn auch nicht immer er. e Wort⸗
Ichreibung einzubürgern. Diele Schreibung ift .. in der That der durchaus ungeihidhtlihen Lautſchrift
vorzuziehen, denn auch die Schreibung if nicht Willkür, ſondern hat ihr Geſetz der aeihichtlihen Ent:
widlung. Borliegendes Buch möchten wir allen Lehrern als anregendes, aufflärendes und geiftig
erfriihendes Studium beſtens empfehlen. Es ermüdet nicht, fonbern reizt zum Weiterleien, ba es ſtets
nur da& weſentliche hervorhebt, und dieſes Har und fahlich ausipricht. Mehr jolher Bücher! Das bringt
uns weiter, denn es ftellt ein deal auf, wie Grammatif zu fchreiben und zu lefen ift.
Elderfelder Zeitung: Der Dilbumgegang unjrer höheren Stände hat bisher die Grammatik ber
Mutterſprache über Gebühr vernadhläffigt. Wir iprechen und ichreiben Deutih, ohne uns der Gründe
bewußt zu fein, warum wir gerade fo iprechen und jchreiben. Die Folge war, daß bis in die 20er Jahre
dieſes erleuchteten Jahrhunderts eine wiffenichaftlihe Grammatit, eine Grammatik, welche aud die Ent»
widelung der Sprache berüdjichtigte, umbefannt war. Germaniftiihe Studien begannen erit damals.
Die Beichäftigung mit alten deutihen Dichtungen, vorzugsweiie mit Mittelbochdeutih, drang in weitere
Kreife, auch im die Schule ein. Die Germaniften verwarfen die deutſche Schrift, die hergebrachte Ortho-
rapbie, und fo wurben auch andere aufmerfjam auf der Mutteriprade Werth und Reihthum. Noch
ute aber fehlt viel daran, daß alle, die zu den Gebildeten ſich rechnen, einige Kenntniß von der Gram—
matif der Mutterſprache haben, Verſtändniß beſitzen für die Beſtrebungen zur Reform ber ag re
und deraleihen. Während andere Nationen Grammatik und Wörterbuch als unentbehrlihe Stüde jeder
Bibliothek auch des Privatmannes mit Recht betrachten, dürfte der Fall ziemlich felten fein, da beide
in dem Bücherihag eines deutichen Mannes ober einer deutihen Frau eine hervorragende Stelle haben.
Das wird ſich mit der Zeit ändern, denn zur deutfchen Einheit gehört auch Einheit der Sprade und bes
Sprachgebrauchs. Die Dialecte haben ihren hoben Werth, aber die Sprache der gebildeten Stände muß
mehr und mehr eine werben. Ich will mid für diesmal darauf beihränten, eine neue Grammatik zu
empfehlen, bie vermöge ihrer Haren, einfachen Sprache geeignet iſt, auch weiteite Kreiſe in uniere Mutter»
ſprache gründlich einzuführen, die bewußt von dem Berfaiier für dieſen Ywed geichrieben und beftimmt
ift. Dr. Theodor Gelbe, ein befannter Germaniſt, hat die Formenlehre in einem Bande von 220 Seiten
für dieſe Bwede und für die Vebürfnifie der Lehrerbildungsanftalten und der Schüler in den oberen
Klaflen höherer Schulen erichöpfend behandelt, und wird eine Saplehre folgen laſſen. Das Bud wird
bierburh warm empfohlen.
)
Praktiſches Rehenwert
von
A. Corey, " €. Dorfchel,
Director ber Realſchule I. ©. in Gera. * Lehrer ber I. Bürgerihule in Eiſenach.
Eintheilung und Inhalt.
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unterricht. Vierte Auflage.
I. Heft. Allſeitige Betrachtung u. Anwendung ber Zahlen von 1—20 Preis 40 Bf,
1. Heft. Allfeitige Betrachtung u. Anwendung der Zahlen v.21—100 Breis 40 Bi.
11. Heft. Allſeitige Betrachtung und Anwendung ber Zablen über 100 Preis 25 Pf.
IV. Heft. Die Grundrechnungsarten und bie Regeldetri mit ganzen
Bablen . . Preis 40 Bi.
V. Heft. Glemente der Bruchrechnung ſowohl der zewöbalihen,
als auch der Decimalbrüche . . Preis 25 Pf,
VI. Heft. Die Grundrehnungsarten und bie Negeldetri mit "ge:
gewöhnlichen und Decimalbrühen . . Preis 35 Pf.
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für ben Elementarunterridt . - . 0. Preis1.420 Bf.
II. Abtheilung.« Aufgaben für das hraktiſche — Die
höheren Rechnungsarten des bürgerlichen Lebens. ,
J. Heft. Deeimalbrüche; Verhältniſſe und Porportionen; einfache
und zuſammengeſetzte Regeldetri; Kette; Repartitions—
und Miſchungsrechnung. . . > 2. Kreis 60 Pf.
11, Heft. Aufgaben zur Procent- und Promillerechnung und zu
ben angewandten procentiſchen Rechnungen (Zins:
rehnung, Disfontrehnung, Rabattrehnung, Termin—
rehnung, Münzrechnung, Kurs- und VWecielrehnung) Preis 45 Pf,
Ill. Heft. Das NAuszieben der Quadrat- und Kubikwurzel; bie
arithmetifchen und geometrifhen Progreffionen ; doga
rithmen; Gleichungen; Zinſeszins- und Renten—
vehnung; Kettenbrühe . . . Breis 60 Pf.
IV. Heft. Berechnung ber Raumgrößen ; "Pinien, Wintel, "gerab-
linige Figuren; Kreis, Ellipſe, Parabel, Würfel,
Prisma; Pyramide; chinder Regel, am *
mäßige Körper . . Preis 60 Bf.
Auflöfungen zu ben vier Heften ber II. Aötheitung: ———
für das praktiſche Rechnen.
Zu Heft I mM W
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III. Abtgeilung. Handbuch des praftiichen Rechnens. Pr. 4.4
Das Zehnerzahlſyſtem. — Die vier Species, Grundrechnungsarten oder Grundoperationen
mit ganzen unbenannten Zahlen. — Primzablen, zuſammengeſetzte Zahlen, Maaß
der Zahlen, Faktoren, größtes gemeinſchaftliches Maaß und kleinſtes Vielfaches. —
Die gemeinen Brüche und die vier Species in denſelben. — Die Deeimalbrüche und
die vier Species in benjelben. — Die benannten Zablen, Refolviren und Rebuciren
und bie vier Species mit benannten Zablen; chronologiſche Addition und Suptraction ;
Zerfällungsmetbode oder wälſche Praktik. — Berbältniffe und Proportionen, — Ein-
fache Regeldetri. — Zuſammengeſetzte Regeldetri. — Kette. — Geſellſchaftsrechnung
ober Repartitionsregeln. — Miſchungerechnung. — Procentrechnung. — Einfache und
zuſammengeſetzte Zinsrechnung. — Diskontrechnung. — Rabattrechnung. — Termin—
rechnung. — Münzrechnung. — Wechfel-, Kurs-, und Aktienrechnung. — Potenziren
und Radiciren; Ausziehen der Quadrat- und Kubitwurgel — Die Brogreifionen. —
Die gemeinen oder Briggsihen Logarithmen. — Gleichungen vom erften und
zweiten Grade mit einer und mehreren Unbefannten ; diopbantifche oder unbeftimmte
Gleichungen. — Gleichungen, bei denen vorzugsweife die Logarithmen zur Anwendung
fommen. — Die, Zinfeszinsrehnung oder zufammengejeßte Zinsrehnung unter An-
wendung ber Gleihungen und Logarithmen. — Rentenrehnung unter Anwendung
von Logaritbmen. — Berehnung der Raumgrößen (Linien, Winkel, gerad» und
frummlinige Figuren, eben- und frummfläcig begrenzte Körper). — Kettenbrüche. —
Tafeln zur Zintessine- und Nentenrehnung.
— Dr. Fröhlich in St. Johann ſchreibt am 7. Juli d. J.: „Bei diefer Gelegen-
beit will ih Ihnen auch noch meinen Dank ausiprechen, daß Sie mich auf das „Lorey—
Dorſchel'ſche Rechenwerk“ ſ. 3. aufmerffam gemacht haben. Nachdem basjelbe von dem
biefigen Yebrertollegio und mir eingehend geprüft worden war, wurbe e8, wie Ihnen
betannt, vor ca. 2 Jahren in die hiefige, von mir eingerichtete und geleitete, aus
21 Klaffen beftebende Simultanſchule, ſowie in die aus 3 Klaffen beftehende Simultan-
ſchule zu Jägersfreude eingeführt, und darf ich nach den either gemadten Erfabrungen
wobl behaupten, daß fragliches Wert dem gefammten Rechenunterrichte mit großem
Erfolge als Grundlage dient. Wie ein Blid auf den behandelten Stoff lehrt, tft der—
jelbe nach methodiſchen Grundſätzen auf die einzelnen Stufen vertheilt; auch bafirt
fonft die ganze Anlage und Durcharbeitung des Materials durchaus auf rationelleu
Principien. Ein mechaniſches, geiftlofes Verfahren kann nah dem Rechenwerke von
Lorey-Dorſchel fjchlechterdings nicht Plab greifen. Bevor die einzelnen Operationen
vorgeführt werben, fucht dasſelbe worerft auf anſchauliche Weife den Schülern einen
Begriff der Zahlen des fraglichen Gebiets zu vermitteln, geht dann in genetifher Ent-
widelung weiter, jo Daß das Folgende mit Notbwendigleit aus dem Borbergebenden
fi ergiebt, und buldigt überall der beuriftiichen Lehrform. Miündliches und jchriftliches
Rechnen find mit Recht jo verbunden, daß das erftere, ald Bafis, dem leßterem immer
vorausgebt. Das Handbuch, welches eine vollftändige Theorie der gefammten praktiſchen
Arithmetik enthält, giebt dem Lehrer eine inftructive Belehrung für den Unterricht, wie
zur eigenen Fortbildung, und, da dasjelbe auch die Buchftabenrehnung, Algebra, jowie
die Yogarithmen 2. in den Kreis feiner Betrachtung zieht, jo wird das Werk fiher aud
in Mittel:, Gewerbe- und Realfchulen, ferner in Gymnaften und bejonders in Lehrer—
bildungsanftalten mit Erfolg eingeführt werden können.
Eine weitere Verbreitung des Wertes wird fonach zweifelsohne der Sugendbildung
nur zur Förderung gereihen, und wünfche ih nur, daß Ihr Verlag uns Pädagogen
noch mebr derartige, wirklich gediegene und praktiſche Hülfsmittel bieten möge. Ich
empfehle das Buch wo und wie ih nur kann, und glaube damit der Schule einen
Dienft zu erweifen.“
= Die erfte und zweite Abtheilung vorliegenden Rechenwerkes enthält die Hufgaben, welche ſich
in den Händen der finder befinden follen, Die beiden erjten Abtheilungen müſſen in Realicyulen, höhern
Bürgerjhulen und Mittelſchulen durchgearbeitet werden, während die » Heite der eriten Abtheilung und
bie beiden erften Hefte der zweiten Abtheilung Material für die einfache Bolls- und Bürgerichule liefern.
Die Aufgaben geben vom Einfahen zum Zuſammengeſehten, jo dan der Elementarſchüler den Stoff
überjehen und mit Leichtigkeit bewältigen kann, Sie verleiten nit zum Medanısmus, jondern fordern
überall dad Nachdenken heraus, jo daß die formale Bildung zwar ihren ihr zufommenden PBlag ein-
nimmt, aber der praftiihen Rechenfertigkeit nicht hindernd in den Weg tritt, fondern vielmehe durch
das erzielte Verſtändnig dieſelbe im jeder Weile jörberr.
Die Aufgaben aus der zweiten Wbtheilung find aus dem bürgerlichen, induftriellen und kauf—
männifchen Leben, aus der Geometrie, Geographie, Phufit und Chemie entnommen. Sie wollen den
Schüler fürs praftiihe Leben vorbereiten und führen ihn ein in die mannigfachſten Berhältmiffe. Kopf—
und Bifferrehnen ıft nicht getrennt, doc ift auf ‚beide Rechnungsarten ſiets Rüdjicht genommen. Es
liegen ſich noch viele Vorzüge diejer Aufgabenfammlung anfubren, doc) fol nur noch eins erwähnt werden:
Das Rechenwert jest das gewöhnlihe Rechnen mit ber Algebra in die engfte
Verbindung, jo daß eins das andere unterftügt; wodurd erftdem Schüler der JZwed
und ®erth der Algebra zum ridhtigen Berftändniä lommt.
Dad Handbuch, mweldes die 3. Abtheilung des Rechenwerkes enthält, giebt Aufſchluß über alle
le des Rechnens in eben ſowohl praftifcher ald auch in willenihaftiicher Weile. ever Cm wird
n bemjelben einen treuen Führer bei feinem Rechenunterrichte finden und beionders dürfte es folchen zu
empfehlen fein, die in diefem Face weitergehende Studien machen wollen.
Magazin für Lehr - und Lernmiltel.
= Bir können dies vorliegende Wert nicht nur —— Prüfung, ſondern auch nach der
gemachten und geſammelten Erfahrung bei dem praktiſchen Gebrauch in den verſchiedenſten Schulklaſſen,
bon ber einfachſten Volksſchule bis zur erſten (gehobenen) Bü für Stadt und Land nur jehr
warm empfehlen. Man merkt ed dem Buche bei Dar geitellten Aufgabe an, daß nicht nur jehr tüchtige
und erfabrene Schulmänner dies Wert gearbeitet haben, fondern daß fie uns auch eine Arbeit, auf reiche
und — Erfahrung im Schulleben geſtützt, mit großem Fleiße und Geſchick bearbeitet, darbieten.
s iſt theils die vierte, theils die dritte Auflage, der Aufgaben für das praktiſche Rechnen ꝛc.“
Es ſchien aber richtig, eine vollftändige Umarbeitung des ganzen Wertes vorzunehmen, die jet in dem
st und der Aufgabeniammlung vorliegt. Einige Jahre angeftrengten Fleißes waren erforderlich,
um ben fortgelegten Plan in jeinem vollen Umfange durdyzuführen.
Die erfte und zweite Abtheilung bes Rechenwerkes enthält die Aufgaben, melde fi in der Hanb
des Schülers befinden jollen. Die ſechs Heite der erften und die nadfolgenden vier Hefte der zweiten
re ug Bari und müffen in einer Realichuie oder höheren Bürgerichule, ſowie in ftädtiihen Bürger-
ihulen Mittelſchulen) vollſtändig durchgearbeitet werden. Uber aud für die einfache Bollsſchule und
für Burgerichulen find vie ſechs Heite der erften und die eriten ge Hefte der zweiten Abtherlung mit
großem ugen zu gebrauchen. Sämmtlihe Aufgaben follen den Schüler durch Denkrechnen, Kopfrechnen
und Anſatz alle Blasien des Rechnens willenihaftlid und praktiſch zu löjen befähigen. Die Aufgaben
find jo ausgewählt, daß fie in erjter Linie die formale Bildung, in zweiter den Wugen fördern. Reben
der formalen Bildung, die der Rechenunterricht den Schülern gewähren joll und muß, verjäumt das Bud
aber auch nicht, für die praftiihe Rechenfertigteit zu jorgen, ohne wieder hierbei nur nad gewiſſen
Schablonen zu verfahren, umd gerade hierdurch zeichnet fi das Wert jo vortheilhaft vor vielen hundert
andern Nechenwerten aus. Das Handbuh ift fur alle Lehrer beredinet, welche jih wiſſenſchaftlich und
araktiich befähigen wollen, dieſen jo ihwierigen Unterrihtsgegenftand nicht im mechaniſchen, jonbern in
entwidelnder und geiitbildender Weiſe ertheilen zu können. Weionders empfehle ich dies Werft den Semi-
nariften der O:berllafien, ſowie dem jungen Lehrer im Amte, der fi für das zweite Eramen oder für
das Eramen für ing oe vorbereiten will, zum eingehenbiten Studium. erade in dieſem Fade
halten jo viele jüngere Lehrer eine weitere Fortbildung nicht für nöthig, daher iſt e# denn auch ge-
fommen, dab im verflofienen Jahre eine fo ar Zahl von den Eraminanden beim Staatsegamen
—— Examen) in Preußen und andern deutſchen Staaten eo werden mußten, ba jie im
echnen nur jehr mangelhafte Kenntniffe und Fertigkeiten beſahen. Den Schülern der Sekunda und ber
Prima der Realihulen und Gymnafien wird Died Bud für die Weiterbildung und Wieberbolung ein
fiherer Führer fein. Da fich viele Aufgaben, welche fi auf das praftiiche Leben beziehen, 3. B. auf
Phyfik, Geometrie ꝛc. — nicht ohne einige Ktenntniffe und Uebungen in den Gleichungen auflöien lafien,
jo hat der Berfafier die Gleihungen vom eriten und zweiten Grade mit einer und mehreren Unbefannten,
die unbeftimmten oder diophantiſchen Gleichungen, bie Erponential= und logarithmiſchen Gleichungen in
Kürze, aber klar und fahlih entwidelt und —— Für die Zinſeszins- und | find
beiondere Tafeln bis zu drei Decimalftellen den betreffenden Aufgabenheften und dem Handbuche beige:
geben. Die Auflöjungen zu allen Heften find für den Lehrer vorhanden, aber es ilt Fürſorge getroffen,
dag fein Schüler im Beſitz biefer Hefte buch die Buchhandlung fommen kann. Die Auflöfımgen find bei
leichteren Aufgaben ganz kurz und ohne Entwidelung gegeben, bei jchwereren aber mit vollftändiger
Entwidelung. Die mr der Aufgaben ift eine fehr große und mannigialtige, fie ift nicht allein aus ben
Berufdarten und praltiihen Berbältniffen des Lebens, jondern auch aus Geometrie, Geographie, Phnfit,
Chemie ꝛc. gewählt. Die Reihenfolge der einzelnen Aufgaben ift mit großer päda —* isheit jo
feftgeiegt, dag der Schüler ſich nie dem Mechanismus hingeben kann; jede neue Aufgabe erfordert neues
Nacdenten. Das Denkrechnen und jofern es die dabei vorlommenden Zahlen erlauben, tritt das Kopf⸗
rechnen überall in den Vordergrund. Die Äußere Ausftattung des Buches gereicht bem Herrn Verleger
r größten Ehre. Möge denn bie Wert, das fofort nach dem Erſcheinen in vielen Schulen ——
and, ſich noch viele neue Freunde erwerben. Die Herren Kollegen an höheren, wie an Bürger:
Boltsihulen made ic; nochmals auf dieje fleibige und tücdhtige Arbeit aufmerkſam. Thuring. Ihulztg.
= „Beiten Dant für freundliche Ueberjenbung bes Lorey’ichen Buches, in welchem ich mit großem
Interefie eine gute Anzahl Kapitel bereit? durchgelejen habe. Soweit alö ih die Sache zu beurtheilen
im Stanbe bin, enthält das Wert eine vorzügliche Arbeit, die einer weiten Verbreitung werth ift. Das
83 iſt nicht, wie ich vermuthete, eine methodiſche —— zur Unterrichtsertheilung, ausſchließlich
r den Lehrer beftimmt; es giebt vielmehr eine vollftändige Theorie der gelammten praftiihen Arith—
metit, es ift im eigentlichen Sinne ein vollftändiges, auf wiffenidhaftliher Grundlage auferbautes Lehrbuch
des praltiihen Rechnens, in jeinem ganzen Umfange für Xehrer und Schüler glei brauchbar und werth—
voll. Es ijt daher meiner Anficht nach zur Einführung im mittlere und obere Klaſſen höherer Schulen,
in welder dergleichen Unterrichtämittel jtets ein Bedürfniß find, vorzüglich geeignet. Insbeſondere
dürfte es für Gumnafien, Realihulen, Gewerbeſchulen, Lehrerbildungsanftalten eine willtommene Gabe
fein. Es wird für biefe Anftalten um jo brauchbarer, als es bei aller wiſſenſchaftlichen Grünblichteit
doch wiederum einfach gehalten und für die betreffenden Schülerabtheilungen leicht fahbar ift. Der
Ausdrud ift knapp, und anbererjeit# doch auch wieder jo ausführlich, da das Buch jelbit auch zum
Selbftftudium geeignet ift. Und was dem Werke noch eine befondere Friſche verleiht, das ift der prafttiche
Gejihtspuntt, von dem aus dad Ganze behandelt ift. Nirgends macht fich die todte Formel breit. Wo
fie auftritt, da gewinnt fie jojort Leben, Bedeutung, Intereſſe durch die Anwendung, die von ihr ge-
madt wird. Sie eriheint überhaupt nur da, wo fie zur Löſung intereflanter praftiich-wichtiger Probleme
ein geeignetes Mittel ift. Ich denfe,, wenn in einer höheren Lehranftalt das Buch mit den Schülern
tũchtig durdhgearbeitet wird, jo werben biejelben durch dieje Arbeit zu einer jo gründlichen prattiſch⸗
mathematiihen Durchbildung gelangen, wie jie befier nicht gewünſcht werden fanın.
Das Handbuch ift namentlih auch für Seminariften und Volksſchullehrer berechnet und denſelben
zu empfehlen, damit dieje ſich nicht nur immer in den erften Elementen bewegen. x. Piel.
S Hier liegt endlich, die erften Hefte fchon in neuen Auflagen, ein Rechenwerk vor, welches nad
richtigen methodiſchen Grundjägen, nad einheitlihem Plane, von zwei tüchtigen Schulmännern bearbeitet,
das ganze weite und große Gebiet des Rechnens von den elementarften Anfängen bis zu den höheren
Rehinungsarten des bürgerlisen Bebens, wie aud die Flächen» und Sörperrehnung umfaßt, und jo
van wir, dab ſchon in dieſer Beziehung mir dieiem Werke dem MHaflenreihen Schulanftalten, ganz
eſonders aber denen, bie in ſich Elementar» und Mittelichule vereinen, wie auch den Seminarien ein
ei Dienft erwiejen ift. Diejer Dienft würde aber illujoriih fein, wenn das Wert nicht alle den
nforderungen entipräde, die in Bezug auf Inhalt und Methode geftellt werben müſſen. Aber auch
dies iſt der Fall. Die Aufgaben find kurz, prägnant, dem Leben entnommen, ohne trivial zu fein, be
rüdfichtigen die verſchiedenen Disziplinen des Unterrichts, wie Geographie, Geſchichte, beionders aber
bie Geometrie, mathematiſche Geographie, Witronomie, Phyſit, Ehemie ꝛc. Haben wir uns auch bei
dieſer oder jener Aufgabe gefragt: warum + der Hr. Verf. wohl gerade dieje gewählt und nicht eine
andere, und wie wir glaubten, paflendere? jo wiſſen wir noch recht qut — Ref. bat 17 Jahre lang den
geiammten Unterricht im Rechnen und in ber Mathematif an einem preuß. Seminare ertheilt — daß
um Gubtilitäten nit zu rechten ift. Im Uebrigen zollen wir dem Werfe unjeren beionderen Beifall;
es ift eine —— Arbeit, die wir warm empfehlen, namentlich aber auch zum Studium und
jur Hebung denjenigen Lehrern, welde das Examen für Mittelihulen machen wollen.
Deutfche Schulzeitung.
— Das ganze Wert ift urfprüngtid eine neue Auflage bes früheren: „WUufgaben für das praktiſche
Rechnen nebft kurzer Anleitung zur Aufldfung berjelben, vom Standpuntte der Sloncentration aus“, nur
mit der Umänberung ber alten ın die neuen Münzen, Maaße und Gewichte des deutichen Reiches und
mit der Abänderung, baf die kurze, früher vor den Aufgaben enthaltene Auseinanderjegung zu einem
Handbuche erweitert worden ift.
Die erften ſechs Hefte ber erften und die nachfolgenden vier Hefte ber zweiten Abtheilung, können
für eine Realſchule I. umd II. O., für höhere Bürgerfchuten, ®ymnafien, Seminarien und ähnliche Ans
ftalten vollftändig ee werden. Aber auch für die Elementar- und Bollsichulen find die ſechs
Hefte ber erften und bie erften zwei Hefte ber zweiten Abtheilung berechnet ; ja ich glaube, dab aud) das
dritte und das vierte Heft mit Muswahl für gehobene Bürgerſchulen gebraudt werden können. In ber
erften Mbtheilung fchreitet der Rechenunterricht in anihaulicher Weile vom Einfachſten, der Eins, be-
gen: von ı bi8 20, von 21 bis 100 u. ſ. w. nad Grube’icher Methode ſowie nad) pädagogiſchen
rundjägen zum Bujammengejegten aufwärts; der Elementarihüler überfiehbt und bemeiftert den Stoff
und arbeitet mit Luſt und Liebe; die Einheit ded Erkennens unb des Willens wird erzielt und
dadurch in dem Schüler bie Kraft entwidelt, fich jelbitändig weiter zu bilden. Mit der Wuie
faiiung und der Veränderung ber reinen Zahl ift ſtets die angewandte Zahl — Beiſpiele aus dem
—— — Leben, in ſo weit dieſelben in den Geſichtskreis dieſes Kindesalters fallen und dieſem
bon Intereſſe jein dürften, verbunden. Die Aufgaben der zweiten Abtheilung find aus dem bürgerlichen,
induftriellen und faufmänniichen Leben, aus der Geometrie, Geographie, Bhofit und Chemie genommen
und in vier Heften geordnet. Der Stoff ift ein jehr zwedmäniger und führt den Schüler durch bie
mannigfaltigiien Berbältniffe, tbeil® ıhm zur Wiederholung nöthigend, theils ihm für einen neuen Gegen—
ftand vorbereitend. Die Aufgaben bieten ein reiches Material und huldigen dem Grundjage: Der
Rechenunterricht jei vor Allem praktiih und mache tüchtig fürs Leben. ie Rechenfertigkeit ift für jeden
Gebildeten, welchem Berufe derjelbe auch angeböre, ein dringlides Erforberniß. Der große „Bhilofoph
bes Unbewußten“ hat in einer Schrift für das höhere Schulweien, zu deſſen Abfaflung „er fi berufen
efühlt“ Hat, gelagt, dab der Rechenunterricht feine bildende Kraft Habe. Nur ihm ıft dieſelbe unbewußt;
achverjtändige Schulmänner fegen bie formal bildende Seraft defielben in die erite Linie, den NRugen und
bie Unentbehrlichkeit für jesen Beruf in die zweite. Sämmtliche eingefleidete Aufgaben find vom Stand»
puntte der Koncentration aus gewählt und find ſicher geeignet, mannichfaches Wiſſen zu verbreiten und
zu befeftigen. ®Diejelben find nicht, wie in den meıften Rechenbüdern, in jolde für Kopf- und Ziffer—
ai getrennt, obgleih auf beide Rechnungsarten Rüdjiht genommen worden ift. Man fiebt aus allen
Aufgaben, dab das Rechnen immer Denkrechnen fein fol; das Mechnen nah Anſatz und Regel iſt
nicht ausgeihloffen worden. Die Zahl der Aufgaben ift jehr groß, doch ift die Reihenfolge derjelben in
beiden Abtheilungen eine jolhe, daß der Schüler fih nie dem Mechanismus bingeben kann; jede neue
Aufgabe erfordert neues Nachdenken. Zu allen Heften find Auflöjungen für den Lehrer vorhanden.
Diejelben find bei leihhteren Aufgaben ganz fur; und ohne Entwidelung angegeben, bei ſchwereren aber
mit vollftändiger Darlegung. inigen Aufgaben, bejonders den Gleichungen, find die Auflöſungen gleich
beigefügt; ob das richtig, darüber find die Meinungen verihieden. Heis gibt dieſelben/ Barde
nicht. — hat es wohl einen Sinn, die Bedingungen der Aufgabe und die Uuflöſung einmal falf
anzugeben.
Das Handbud, bie dritte Abtheilung des Rechenwerles, ift jebem Lehrer zu empfehlen. Es
fann ſich Jedermann an demielben über alle mwejentlihen fälle des Nechnens in ebenjo praftiiher wie
wiſſenſchaftlicher Weile unterridten. * den Schülern der Prima und Secunda höherer Schulen, ſowie
ben Böglingen des Seminars, wird dieſes Buch für die Weiterbildung und Wiederholung ein ſicherer
übrer jein. Bor Allem ift die einfache, Mare, kurze und bündige eg year welche in entwidelnder
ethode die Grundlage des praktiſchen Rechnens darlegt, wu rühmen. Das Handbuch giebt eine voll»
ftändige Anleitung zum praltiihen Rechnen und gebt von den erften Elementen, wenn auch in mehr
wifienichaftliher Weile, aus. Die Art den Generalnenner zu finden iſt allein richtig, wie ſchon ber
berühmte Mathematiker Unger unb in neuerer Beit Dr. Kober in Meißen in der Zeitihrift für Mathe—
matit und Naturwiffenihaften von Hoffmann nachgewieſen hat. Die Decimalbrüche find jo ausführlich
und interefiant behandelt, wie faum in einem andern praftiihen Rechenwerke Ebenſo richtig ift der
Bweitep in der einfachen und zufammengeiegten NRegelbetri, die Kette, die Kepartitionsrehnung und
efonders die Miſchungsrechnung, welche durch Ratjonnement und mit Hülfe der Gleichungen, auch der
diophantiihen, erledigt wird. Das neue Maß⸗, Münz- und Gewichtsſyſtem ift vollftändig durchgeführt.
Bei der Miihungsrehnung find einzelne Aufgaben nad dem Pfund a 50 With. gerechnet; allein in Haupt-
ſache ift das stilogramm mit feinen Unterabtheilungen zu Grunde gelegt und ift der Miſchungs-, "Bold:
und Silberberehnung bemgemäß ein beionderer Abichnitt mit lehrreichen Beilpielen gewidmet worden.
Sehr Mar und einfach ift die Lehre von den Gleihungen. Diejelbe ift in einem praßtäihen Redenwerte
nothwendig, weil fi ne. und praftiihes Rechnen gegenjeitig unterftügen jollen. Die ———
Aufgaben und ihre Aufloſung werden in elementarer umd überzeugender Weile durch einige Säge aus
der Bableniehre eingeleitet, 9. daß dieſelben in einfacher und leichter Weiſe zu löſen ſind. Auch die
Umwandlung ber einen Zahlform in eine andere, die Grenzen der Zahlen ꝛc. werden in ben Aufgaben
und WUuflöfungen ſehr faßlich angedeutet. Es folgt dann eine ebenfo wiſſenſchaftliche wie praftiihe und
deutliche YAuseinanberfegung der — und Rentenrechnung; die beigefügten Tabellen ſind für den
prattiſchen Rechner von großem Vortheil. Ebenſo deutlich und einfach iſt die Darſtellung über die Be—
—— der Raumgrößen. Da die Stereometrie ohne Berechnung von Aufgaben und ohne Fertigkeit
in derjelben nicht vortheilhaft getrieben werden kann, jo find die über die — Raumgrößen gegebenen
Beiipiele und Aufgaben als ein Borzug bes Wertes zu bezeichnen. Ebenſo richtig iſt es, daß von den
Kettenbrüdhen zur Darjtellung von Räherungswerthen in Heinen Bahlen Gebrauch gemadt wird. Bon
großem Interejje für jeden Rechner ift endlich die Darftellung ber geihichtlihen Entwidelung des
praltiichen Rechnens, wenn auch eine vollftändige Geſchichte beffelben nicht erwartet werden konnte.
So möge denn biejes Wert, in weldem Wiſſenſchaftlichlkeit mit praftiiher Methode auf's beite
vereinigt ift, allen Lehren beftens empfohlen jein und ſich viele neue Freunde erwerben! Drud, Papier,
Preis jind jo beihaffen, dad fie dem Verleger zur Ehre gereichen und die Einfüh des Rechenwertes
auch in diefer Hinficht vorzüglich empfehlen. (Eentral- Organ für die Intereffen des Üealfdulmelens.)
= Durd) bedeutende Reichhaltigkeit zeichnet fich das Lorey-Dorſchel'ſche Wert aus. Die I. Abtheil.,
von Dorſchel bearbeitet, umfaßt die Rechenauſgaben für den Elementarunterridt. Dem gejammten —18
unterricht in höheren Schulanftalten ſoll die 11. Abtheilung. von Lorey bearbeitet, dienen. Die Iil. Ub-
theilung endlich, ebenfalld von Lorey, erläutert in wifjenihaftliher und praftiicher Weije die Grundlagen
bed geſammten Rechenunterrichts und ift ben Rechenlehrern und Soldhen, welche aus bem Rechnen ein
rivatitubium maden wollen, beftimmt. 3 ift eine werthvolle Gabe, welde die als tüchtig in ihrem
che längſt befannten Berfaffer allen Rechenlehren dargebracht haben; wir wünfchen ihr die tefte
erbreitung. (Allg. dentfhe Eehrerzeitung. )
— Der Kecenlehrer einer fünfclaffigen gegliederten Volksſchule jchreibt der Er —
—* der Einführung der ſechs Hefte der J. hie, unb der erjten Heite der II. Abtbeilung:
„Wenn ich auch nicht gerade Aniprühe auf irgend welche Tragweite ıneines Urtheild bezüglid; der
Rechenbuchfrage machen fann, mic auch nicht auf öffentlihe Mecenfionen in —* Brauche einlaſſen will,
jo kann ich doch ehrlich jagen, bie —— des Lorey-Dorſchel'ſchen und die Vergleichung mit anderen
Rechenwerken haben mid) bewogen, bier für L-D. einzutreten, und wünſche ich im Intereſſe der Päda—
gogik, daſſelbe möge fi rajch einen recht großen Streis Anhänger gewinnen.“
Seit dem Erſcheinen des fertigen Werkes, Anfang 1876, bereits eingeführt in:
Apolda, Dubweiler, Eiſenach, Gera, Giehen, Gotha, Großobringen, Hörbe, Jena, St. Johann,
Lobenitein, Ludwigshafen, Mühlhaufen ijTh., Oldisleben, Bösned, Reudnitz, Rieſa, Ruhla, Saars
brüden, Saarlouis, Straßburg VE., Turin, Wien, Weimar, und zwar in Realihulen, Töchterſchulen,
Seminarien, Bräparanden>Anftalten, höheren Bürgerihulen, Kortbildungsihulen und Vollsſchulen,
mwodurd die alljeitige Güte und Vrauchbarkeit bes Wertes wohl am beften gelennzeichnet ift.
Die Geometrie der Volksſchule. Anleitung zur Ertbeilung des geometriichen
Unterrihts in Stadt» und Landichulen, durchweg auf das Princip der Anſchauung
gegründet. Bearbeitet von A. Pikel, Seminarlebrer in Eiſenach. Mit in den Tert
u. Figuren — Dritte Auflage, Ausgabe I. Für Lehrer und zum Gebraud in
eminarien. Preis 1 .M 35 Pf. — Ausgabe 11. Ein Merk: und Wiederholungsbud für
die Hand der Schüler. cart. 45 Pf. — Anhang. Geometrifhe Rechen: Aufgaben. Erſte
Auflage. Preis cart. 30 Pf.
Für die Befiger der 1. u. 2. Auflage von Ausgabe I ber Geometrie, ſowie für Diejenigen, welde
die Geometrifhen Hechen= Aufgaben allein gebrauchen:
Auflöfungen zu ben Geometrijhen Rechen - Aufgaben. Preis 15 Pf.
Die Gediegenheit dieſes Wertes, die es in Beit zu einem der beliebteften Lehrmittel machte,
fennzeichnet fih am beften durch die große Anzahl Orte, in denen bereits Einführung erfolgte, jo daß
wir und jeder weiteren Empfehlung enthalten können. Bereits eingeführt in:
Alfeld, Alsfeld, Altenburg, Wltenefien, Altona, Anclam, Annaberg, Apolda, Aſchaffenburg,
Aurich, Barby, Baugen, Belzig, Bensheim, Berent, Berlin, Bernitabt, Bielefeld, Biihofswerda i. ©.
Biihofswerder, Blantenhain, Vleicherode, Bonn, Borbed, Borna, Bradwede, Braunſchweig, Bremen,
Breslau, Caſſel, Ehemnig, Ehur, Eolberg, Eöln, Eöthen, Erimmitihau, Danzig, Darmftabt, Döbeln,
Dramburg, Dresden, Dudweiler, Duisburg, Eiſenach, Erfurt, Efien, Frankfurt a. M., Hrauenitein,
Freiberg, Friedberg, Geiſa, Glauchau, Gleiwig, Glücksburg, Gohlis, Böppersborf, Goslar, Gotha,
Greifswald, Gr. Debeleben, Großenhein, Grün, Habelſchwerdt, Hamburg, Hanau, Hannover, Heiligenftabt,
Hildburghaufen, Hildesheim, Hohenftein, Homberg, Hoerde, Ilmenau, St. Johann, Ihzehoe, Kiel, Kirchberg,
Klagenfurt, Klingenthal, Köien, Leipzig, Lichtenfels, Limbach, Lindenfels, Löbau, Lüneburg, Buzern,
Magdeburg, Meiningen, Meißen, Mettmann, Mitau, Mittweida, Mühlhaufen i. E., Mühlhauſen i. Th.,
Neuftadbt im Odenwald, Norden, Oldenburg, Dihas, Osnabrück, Ottweiler, Paſſau, Plauen, Brag,
Prenzlau, Radegaft, Raftatt, Raftenburg, Riga, Rochlitz, Ronneburg, Saarbrüden, Saargemünd, Saar-
louis, Salzungen, Schmallalden, Schneeberg, Schwarzenberg, Schweinfurt, Siegen, Siegburg, Soeft,
Stargard, Stettin, Sulzbach, Tauberbiſchosheim, Trarbach, Tetihen, Weimar, Wien, Witten, Wolien-
büttel, Worbis, Würzburg, Zittau, Bihoppau, Bülz, Zürich, Zwidau, Zwönitz.
Anweiſung zum elementaren Lefe und Shreibunterricht für Yebrer und
Yebrerinnen, jowie zum Gebraude an Seminarien, Bon A. Pidel. 1.4 20 Bi.
Diejes Schriften will kurzer Hand auf dem Gebiete des elementaren Lejeunterrichts orientiren
und einfad; und ficher in die Lehrpraris einführen. Es enthält daher in einem allgemeinen 1. Theile
eine furze, überfichtlihe Darftellung der einzelnen Lejelehrarten, wie fie nad und nad im Unterrichte
zur Geltung gelangt find , und fovann in einem bejondern II. Theile die Vorführung eines jpeciellen
Unterrichtöverfabrens bis in die Heinften Details, das fih in der Schule feit Jahren bereits bemährt
bat. Der angebende Lehrer gelangt auf dem Wege der Anihauung am fiherften, kürzeſten und gefahr
lofeften zur — Selbſtändigteit und Sicherheit im unterrichtlichen Thun. Er macht Erfahrungen
an * Hand eines Führers und bleibt fo vor den Nachtheilen des bloßen Probirens und Experimeutirent
bewahrt.
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