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Full text of "Pädagogische Studien"

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EDUCATION DEF 





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Pädagogifde Studien. 


Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein. 





9, Heft. 





Herder als Pädagog. 


Dr. Eduard Worres. 


Wien und Leipzig. 
Verlag von U. Pichler’s Witwe & Sohn. 
Buchhandlung für pädagogiiche Literatur und Lehrmittel + Anftalt, 


& 


EDUCATION 


Drud von Fiſcher & Wittig in Leipzig. 
1876. 


Seinem verehrten Lehrer und Freunde 


dem 


em Andrens Tontfd 


Profeſſor am evangel.fähl. Seminar zu Kronftadt in Siebenbürgen 


aus Dankbarkeit zugeeignet. 


543301 


Inhaltsverzeichniß, 


Cinleitung : 





B. Serder’s Pädagogik. 
!) Aufgabe der Erziehun; 








5) Metbobijche Nachträge und Anjichten über bas — a 


6) Die Schulregierung und ihre Mahregeln im Unterricht . 2 2 2020... 
LE er ——F— 






Einleitung. 


Wie body Herder von jeher als Pädagog gefhägt werben, beweilt au 
dentlichften der Umſtand, daß er im biefer Beziehung fhon zu wiederholten 
Malen zum Gegenftand mehr oder weniger eingehender Unterfuhungen ges 
macht worben. Und zwar zunächſt von Raumer in feiner Geſchichte ver 
Paädagogik, IL Bd., ©. 267 ff.; ferner von Heiland in Schmid's Ency- 
flopädie, ILL Br, ©. 440 ff, dann von demfelben Berfaffer in der Abhaud— 
lung „Herder als Ephorus des Gymnaſiums zu Weimar“ in ber Schrift: 
„Die Aufgabe des evangelifhen Öymnafiums“, 1860, ©. 238 f.; ferner findet 
fih in 9. Sauppe’s „Weimarifhen Schulreden“ (1856) eine aud über 
Herder's Berdienfte um das Schulweſen. Endlich bat noch Dr. Renner 
„Das Verhältniß Herder's zur Schule” im Göttinger Gymnafialprogramm 
1871 dargeftellt. Bei einer fo großen Anzahl von Bearbeitungen follte man 
meinen, daß unfer Thema völlig erſchöpft fei und weitere Unterfuhungen 
als durchaus überflüffig erfcheinen müßten. Dem ift aber thatſächlich nicht 
alſo, wie eine kurze kritiſche Charakteriftif der genannten Schriften ergeben 
wird. — 

Raumer liefert ein äußerſt knappes Referat über die wichtigſten 
pädagogiihen Schriften Herder's und verweift am Schluffe feiner Darftellung 
ganz allgemein auf deſſen übrige Werke; dazu fügt er die Bemerkung, es 
fei nicht feine Abficht geweſen, „möglichit erfchöpfende Auszüge“ zu geben, 
er habe blos fo viel darbieten wollen, „als nöthig, um die Päragogen 
unferer Zeit zu reizen, welche bei Ueberfhägung der Gegenwart tieffinnige 
u. j. w. Gebanfen früherer großer Geiſter leicht bintanfegen“. Ganz ab- 
geſehen von den Schriftflüden, die Raumer gar nicht berüdfichtigt, find nun 
die vorliegenden „Ausziige” in der That fo unzulänglich, daß man fih an 
Herder felbft wenden muß, um feiner Bedeutung in der Pädagogik inne zu 
werden. Raumer verfchweigt mehr als billig if. So tbeilt er uns aus 
der — wie ſich zeigen wird — fehr inhalt» und beveutungsvollen, übrigens 
in vielen Lefebühern abgedrudten Rede von ver „Annehmlidhleit und Nüglich- 
keit des geographiihen Studiums“ blos fo viel mit, daß nad) derſelben vie 
Geographie in Verbindung mit der Naturgefhichte die Baſis der Völker— 
geihichte bilde. In ähnlicher Weile werben nody andere Neben ganz kurz 
abgefertigt, fo daß mitunter nicht einmal die Hauptgedanfen derjelben hervor— 
treten. Ein anderer Uebelftand ift der, daß Raumer, ftatt nah fachlichen 
Gefihtöpuntten den pädagogiſchen Stoff zufammen zu ftellen, ann 

Morres, Herder als Pädagog. 


2 


vergeht und — abgejehen von vereinzelten unbebeutenren Abmweihungen — 
in dronologifher Folge referirt, worurd die völlige Zerfplitterung ver 
Sache unvermeiblih geworben ift. 

In Heiland's Ariikel in der Schmid'ſchen Enchflopädie hingegen ift 
zunädft die jahgemäße Ordnung und Eintheilung wohlthuend ; nit minder 
finden wir bier eine vortrefflihe Darlegung der wichtigften Gedanken Her- 
der's über das Studium der Griechen und Römer, wie über die Pflege der 
Mutterſprache. Es wäre wünfchenswerth geweſen, wenn der Berfafler auch 
andere Seiten mit gleiher Ausführlichkeit dargelegt hätte, fo namentlich bie 
äußerſt werthuollen Bemerkungen über die Aufgabe und die Mittel der Er- 
ziehung, wie über die Gefhichte und Naturkunde, melde Herber in fein 
Keifejournal, zum Theil auch in die Humanitätsbriefe eingeftreut hat. 
Freilich hat der BVerfafler diefe Schriften von den genannten Gefihtspunften 
aus gar nicht zu Rathe gezogen und feiner Darftellung überhaupt faft aus- 
ſchließlich die Schulreden zu Grunde gelegt, die allerdings Herber’s päda— 
gogifhe Hauptleiftung find, aber nod recht wohl aus jenen andern Schriften 
ergänzt werben fönnen. Bei Heiland wie bei Raumer vermifjen wir endlich 
ein Eingehen auf die nicht geringen Berbienfte Herber’s um bie Gründung 
und Peitung des Weimarer Volksſchullehrerſeminars. Heiland berührt diefen 
Gegenftand ganz furz, und Raumer theilt und von den achtzehn Paragraphen 
des Entwurfes blos denjenigen mit, der fi auf den Zwed bezieht, weiter 
nichts. Selbft E. L. Schweiger giebt uns in feiner fonft dankenswerthen 
Jubiläumſchrift: „Geſchichtliche Nachrichten über das Großherzogliche Schul- 
lehrerfeminar zu Weimar“ (1838) über die erfte Periode deſſelben, in ber 
Herder die Hauptrolle jpielt, nur ungenügende, wenn auch fpeciellere Aus— 
funft, ja, es find ihm fogar die erften Anfänge des Seminars, bie ber 
eigentlihen Gründung im Jahre 1788 vorangehen, unbekannt geblieben, 
obwohl ihrer in den aus jener Zeit ftammenden Oberconfiftorialacten wieder: 
holt Erwähnung geſchieht; fie find in Herber’s Entwürfen felbft angedeutet. 

Im Eingang der genannten Abhandlung „Herder als Ephorus des 
Gymnaſiums zu Weimar“, entrollt uns Heiland ein treues Bild von den 
traurigen Schulzuftänden aus ber erften Hälfte des vorigen Jahrhunderts, 
aud mit befonvderer Nüdfiht auf das Weimarer Gymnafium, um nachher 
Herder’s Bedeutung mit um fo größerem Nachdruck in das rechte Licht ftellen 
zu können. Er wird zunächft in feinem perfönlihen und amtlichen Ber- 
hältniß zum Gymnaſium vorgeführt. Nah Erörterung des ſchönen Denk— 
mals, welches ©. H. v. Schubert feinem großen Meifter im erften Bande feiner 
Eelbftbiographie gejegt, lernen wir Herber als Eraminator, Hofpitant, als 
gewifienhaften Bertheiler von Stipendien u. f. w. fennen. Auch feine An- 
fihten über die Aufgaben des Gymnaſiums finden wir, ähnlich wie in ber 
Enchflopädie, in knappen Zügen bargeftelt. Mit Heiland müſſen wir eben- 
falls bedauern, daß die das Gymnaſium betreffenden Reformpläne Herder's 
verloren gegangen find. Leider haben fich viefelben bis auf den heutigen 
Tag nicht gefunden, und nur wenn fie wieder zum Vorſchein fommen, wird 
es möglich fein, eine zufammenhängende Gefhichte des Weimarer Gymnaſiums 
zu fchreiben, zu welcher die noch in großer Fülle vorhandenen Gymnaſial-⸗ 
acten aud ein fehr ergiebiges Material liefern würben. Im feinen Wei- 
mariſchen Schulreven entwirft ferner Sauppe mit furzen treffenden Worten 


eine Charafteriftif von Herder's Wirken und Anfichten in feinem ganzen 
Berufsleben, in Wiſſenſchaft, Kirhe und Schule, wobei auf feine pädagogische 
Bedeutung bejondere Rüdfiht genommen wird. Das Ganze wird nad) ein- 
zelnen Tugenden — wie Energie, Gemifienhaftigfeit und Treue in Amts- 
pflihten u. f. f. — dargeftelt. Doch ift die Rede blos eine furze Skizze 
und will größere Anſprüche auch gar nicht machen. 

Die geiftreic gefchriebene und große Belejenheit verrathende Programm 
arbeit von Dr. Renner: „Herder's Verhältniß zur Schule“, betrachtet deſſen 
pädagogifche Bedeutung, wie ſchon der Titel andentet, mehr von der äuferen Seite, 
ohne in die pädagogiſchen Grundfäge jelbft tiefer einzubringen; was Dr. Renner 
in Bezug auf den liefländiſchen Idealſchulplan ziemlih ausführlid vorbringt, 
fönnen wir nur als einen guten Anſatz dazu bezeichnen, da er die Schul- 
reden, das päbagogifhe Hauptwerk Herder's, nur gelegentlih heranzieht. 
Als einen befonteren Vorzug der Renner'ſchen Schrift möchten wir hervor— 
heben die Berüdfichtigung von Herder's Verhältnig zu einigen Vorgängern und 
Zeitgenoffen. Nach vem VBorgange Hettners fucht Renner namentlich Roufjeau’s 
Einfluß auf feine ganze Richtung und auf mande feiner pädagogifhen Grund: 
jäge nachzuweiſen; ebenjo werben bier einige wenige Andeutungen gegeben, 
wie Herder mit einigen grundlegenden Gedanken gleichgefinnt neben Peftalozzi 
und in Beziehung auf die ſchulmäßige Behandlung der altclaffiihen Sprachen 
von gleicher Ueberzeugung durhdrungen neben I. M. Gesner fteht; endlich 
wird flüchtig berührt, daf er von den „großen Realiſten“ Baco, Montaigne, 
Comenius u. a. angeregt worden. Wie bei den Frühern, fo wird auch hier 
das Seminar ganz furz berührt. Ob endlich, wie der Verfaſſer mit Heiland 
glaubt, Herder's Grundfäge ein Gemeingut unferer Schulen geworben, dürfte 
noch fraglih fein; wir erlauben uns zu behaupten und glauben es mit 
unferer Darftellung aud beweijen zu können, daß Herber’s Ideal ber öffent- 
lihen Schulerziehung in gar mander Beziehung noch unerreiht daſteht. 

Diefe Bemerkungen werden genügen, um den Beweis zu liefern, daß 
es an einer umfaflenden Beleuchtung von Herber’s Pädagogik und Wirken 
im Schulweſen no fehlt, indem zunächſt jene Verfaſſer einzelne mehr ober 
weniger wichtige päbagogifhe Schriften nicht benugt haben; namentlich 
möchten wir in biefer Beziehung nur zwei Bücher hervorheben, aus denen 
fie gar nicht geihöpft haben, nämlich das „Buchſtaben- und Leſebuch“ (1786) 
und „Luthers Katechismus mit einer Fatechetifchen Erklärung zum Gebraud 
der Schulen“ (1798), beide von Herder bearbeitet und mir Anweifungen für 
die Lehrer verjehen.*) Außerdem fanden fid auch in den das Echulmejen 
betreffenden alten Akten, die bisher nicht grüntlich genug ausgebeuter worben 
find, mande Beiträge zu vorliegender Arbeit, namentlidy zur Geſchichte bes 
Seminars. **) 

Aus der Charakteriftit jener Schriften geht ferner, wie ſchon angebeutet, 
hervor, daß diefelben ins eigentlihe pädagogiſche Detail nicht tief genug 


*) Diefe und noch andere Bücher find mir vom Großherzoglichen Bibliothefar 
zu Weimar, Herrn Dr. R. Köhler, mit der größten Bereitwilligfeit zur Verfügung 
geftellt worden, wofür ih ihm hiermit beſtens banfe. 

**) Für die Benügung biefer Acten jage ich dem Chef des Großberzoglih Säch— 
fiihen Gultus = Departements, Herrn Gcheimrath Dr. Stihling, einem Enkel Herder's, 
meinen tiefgefühlten Danf, 

1 * 


4 


eindringen, woburd das ganze Bild an veutlicher Ausprägung nothwendig 
verlieren muß. Die allgemeinere Haltung verfehlt ihren Zwed infofern 
nicht, als fie uns Klarheit über Herder's Stanbpunft verjhafft, aber wie 
nun die allgemeinen Grundſätze, bie leitenden Ideen, in concrete Formen 
fih verkörpert haben, tritt nur ungenügend hervor, und gerabe für bieje 
Seite gilt, was Heiland ganz treffend hervorhebt, daß pie Schulreden 
Herder’8 eine wahre Fundgrube pädagogiſcher Weisheit 
find. Unfererfeits wollen wir auf dieſen Punkt ein beſonderes Gewicht 
legen und bie eigentliche Pädagogik jpecieller darzuftellen uns bemühen, als 
bisher gefchehen ift. In diefer Abficht wollen wir foviel als möglich Herder 
ſelbſt ſprechen laſſen und unnöthige Neflerionen vermeiden ; das glauben wir 
ſchon Herdern jchuldig zu fein, da er ein Feind alles Paraphrafirens iſt. 
— Der Pädagogik Herder's haben wir die wichtigften Züge aus feinem 
Entwidelungsgang und feinem Wirken als Lehrer und Ephorus vorangeftellt, 
einerfeit8 um etwas relativ Ganzes zu bieten, andererſeits aber, um auch 
bier einige Lücken auszufülen. 


A. 


Herder's Entwickelungsgang und fein Wirken auf dem 
Gebiete des Schulwefens. 


In Mohrungen. 

Es ift eine weitverbreitete Anficht, daß ein wahres Talent ſich unter 
allen Umſtänden, trotz aller Hinverniffe, ven Weg bahne und fi empor 
arbeite, um die Miffion zu erfüllen, die ihm in irgend einem Berufsfreife 
angewiejen iſt. Diefe Meinung finden wir aud bei Herder beftätigt, wenn 
wir ung feine Yugendgefchichte wergegenwärtigen. In wie fern biefelbe fein 
Emporfteigen zur epochemachenden Stellung in ver deutſchen Viteratur zur 
Anſchauung bringt, wollen wir bier, uns ftreng an unfere Aufgabe haltend, 
unerörtert laffen, mithin blos zeigen, wie Herder fhon in feinen Knabenjahren 
auf diejenige Laufbahn gelenkt wurde, auf welder wir ihn begleiten wollen. 

Geboren am 25. Auguft 1744 zu Mohrungen in Oftpreußen, wuchs 
Herder unter ben bürftigften Verbältnifien auf. Bon entfcheidendem Ein- 
fluß auf feine Gemüthsbildung war der fromme, biedere Charakter feiner 
Eltern, von denen er frühzeitig auf das Kirchenlied wie auf die Bibel ge— 
wiefen worden, während vorzugsweife der Stand feines Vaters — er war 
Mädchenſchullehrer — ihm bleibende Zuneigung zum Lehrerberuf einflößte, 
um fo mehr, da er fhon in feinem 14. Jahre die erften Verſuche in dem— 
felben anzuftellen veranlaft wurde. Da er fih nämlih vor allen feinen 
Schulgenoſſen in hervorragender Weife auszeichnete, wozu ihm namentlich 
ein Schnelles Auffaffen, ftarfes Gedächtniß und ſcharfes Urtheil verhalfen *), 


24 J. G. von Herder’d Lebensbild von E. ©, v, Herber (1846), III. Bb., ©. 33 
und 99, 


5 

ſo wurde er bereits in dieſer Lebensperiode, als ſein Vater einſt verreiſt 
war, an deſſen Stelle zur Unterweiſung jüngerer Schüler herangezogen. 
Dieſe erſte Probe beſtand er ſo vortrefflich, daß er auch ſpäterhin vielfach 
als Supplent verwendet wurde. Dabei zeichnete er ſich durch zweckmäßige 
Fragen, Beſtimmtheit und Deutlichkeit in der Auseinanderſetzung der Begriffe 
ganz beſonders aus, wußte die Aufmerkſamkeit der Schüler in hohem Grade 
rege zu machen und erwarb ſich durch feine ganze Haltung unter den Mit- 
ihülern ein hohes Anfehen.*) So ſehen wir Herder in eine Sphäre ein- 
getaucht, die jedenfalls für die Richtung feiner folgenden Entwidelung von 
großer Bedentung war und ihm die Möglichkeit recht nahe rüdte, ſich für 
den Lehrerberuf eine (günftige) Befähigung zu erwerben, die ſchon nad) 
wenigen Jahren fegensreih wirkend ſich entfalten ſollte. Wie aber follte 
der arme Glödnersfohn, der überdies eine nur mangelhafte Schulbilpung 
genoffen hatte, ſich über die brüdende Enge feiner Verhältniſſe erheben ? 
woher die Mittel nehmen, um eine gelehrte Laufbahn einzufchlagen ? 
Der erfte Schritt zum höhern Ziel war fein Eintritt als Famulus in die 
Dienfte des Predigers Treſcho, bei dem er neben häuslihen Verrichtungen 
auch Aufjüge abzufchreiben hatte, die jener regelmäßig für eine in Königs» 
berg erſcheinende Zeitfchrift verfahte. Da der arme Famulus tiefes Geſchäft 
denkend vollzog, fo floß feinem wiffenspurftigen Geifte mande Anregung und 
Erweiterung feiner Senntnifje zu. Im weit höherem Maße förberte ihn 
Treſcho's Bibliothek, die er zum Theil ohne Willen feines Dienftherrn in 
ftillen Nächten ſehr fleißig benugte, um fich beſonders in die griechifche, 
römiſche und deutſche Literatur zu vertiefen. Uber auch auf andern Ge— 
bieten ſuchte er ſich zu orientiren, fo daß er allmälig aus eigener Kraft 
zu einer Öymnafialbildung gelangte, die ihn fpäter zum erfolgreihen Be— 
fud der Univerfität befähigt. Bei diefer glüdlihen Wendung des Schid- 
fals ift e8 nur zu bevauern, daß Trefcho feinem Famulus in feiner Weile 
wohlmwollend oder fürbernd entgegenfam — man fünnte nad einigen An 
deutungen in den Quellen zur Jugendgeſchichte Herber’s gerade das Gegen- 
theil behaupten. Ebenſo wenig fümmerte er fidy um deſſen poetifches Talent, 
auf das er aud vom Königsberger Buchhändler Kanter ausprüdlih auf: 
merffjam gemadht worden war. 9a, als ihm Herder’s Eltern um Rath 
fragten, ob ihr Sohn nicht vielleicht dem Gelehrienberuf zugeführt werben 
könnte, jo verhielt er fi mehr als zweidentig und rieth ihnen von dieſem 
Plane ab. Gegen folde Nüdfichtslofigkeiten wird im „Lebensbild“ wieder: 
holt Klage geführt.*) Unter dieſen Berhältniffen verlor Herder alles Selbit- 
gefühl, wurde ängftlih und zog ſich mit feinem ganzen Denken in das 
Innerfte feines Gemürhslebens zurüd. ine gleich niederdrüdende Ein- 
wirkung mochte er durch einen harten Schulzwang unter dem Rector Grimm, 
von dem er im die lateinische Sprade durch einen geiftlofen Unterricht ein- 
geführt worben, erfahren haben. Daher finden wir es begreiflih, wenn 
Herver jpäter aus Weimar am 2. December 17857 an Treſcho ſchreibt: 
„Die erften Bilder meiner Jugend find meiftens traurige Bilver, und mande 
Einprüde ver Sclaveret möchte ih, wenn ich mid, ihrer erinnere, mit theuern 





0.00, S. 146. 
*) Lebensbild I, S. 61 u. 37, 


6 


Blutstropfen abkaufen.“ Dennoh war der Aufenthalt bei Treſcho eine 
nothwendige Vorftufe zu einer höheren Beftimmung; venn bier lernte ihn 
jener menfchenfreundliche Regimentschirurgus fennen, der ihn vom qualvollen 
Drud erlöfen und in Königsberg Chirurgie ftubiren laſſen wollte. 


Bon Königsberg bis Zückeburg. 


Herber vernahm im diefer Aufforderung einen Ruf des Himmels und 
z0g mit feinem Wohlthäter 1762 zur alten preußiſchen Krönungsftabt. Doc 
waren feine „zarten Nerven“ zur Chirurgie wenig geeignet. Bei Gelegen- 
heit einer Section fanf er in Ohnmacht, fo daß er fid) genöthigt ſah, dieſe 
BDerufsbahn für immer zu verlaflen, um einer andern, auch feinen perjün- 
lihen Neigungen mebr zufagenvden fih zu widmen. Nah glüdlih über— 
ftandenem Eramen ließ er fih in die theologifhe Facultät aufnehmen. Aber 
auch philofophiihe Wiſſenſchaften beihäftigten ihn eingehend, und unter ben 
Profefforen empfing er von Kant, bei dem er Logik, Metaphyſik, Moral 
und phyſiſche Geographie hörte, und mit dem er aud im näberen perfünlichen 
Beziehungen ftand, die nahhaltigften Anregungen. *) Im Schmwunge ber 
Begeifterung, welhe die Ideen ver Kant'ſchen Philofopbie in feinem Gemüth 
hervorriefen, fingt er in einer Ode: 

Da fam Apoll, der Gott, 
Mein Erdenblid warb hoch, 
Er gab mir Kant. **) 

Ueber dieſe Eindrücke giebt er übrigens felbft, dreißig Jahre jpäter, 
im 79. Humanitätsbriefe einen ausführliheren Bericht, der bier aufgenommen 
zu werben verdient: „Ich babe das Glück genofien, einen Philofephen zu 
fennen, der mein Lehrer war. Er, in feinen blübendften Jahren, hatte die 
fröhlihe Munterfeit eines Jünglings, die, wie ich glaube, ihn auch in fein 
greifeftes Alter begleitet. Seine offene, zum Denken gebaute Stirn war 
ein Sitz unzerftörbarer Heiterkeit und Freude; bie gebanfenreichfte Rede 
flog von feinen Lippen; Scherz und Wig und Laune ftanden ihm zu Ge- 
bote, und fein lehrender Vortrag war der unterhaltendfte Umgang. Mit 
eben dem Geift, mit dem er Leibniz, Wolff, Baumgarten, Erufius, Hume 
prüfte und die Naturgefege Keppler's, Newton’s, der Phyſiker, verfolgte, 
nahm er aud die damals erſcheinenden Schriften Rouffeau’s, feinen ‚Emil‘ 
und feine ‚Heloife‘, ſowie jede ihm befannt geworbene Naturentdeckung auf, 
wiürbigte fie und fam immer zurüd auf unbefangene Kenntniß der Natur 
und auf moraliihen Werth des Menſchen. Menichen-, Böller-, Natur— 
geihichte, Naturlehre, Mathematif und Erfahrung waren die Quellen, aus 
denen er feinen Vortrag und Umgang belebte; nichts Wilfenswürdiges war 
ihm gleihgültig. Er munterte auf und zwang angenehm zum Gelbftventen ; 
Despotismus war feinem Gemüthe fremd. Diefer Mann, den id mit ber 
größten Dankbarkeit und Hohadhtung nenne, ift Immanuel Kant. “***) 
Aus dem Gefagten wollen wir vorläufig blos die Thatſache bervorbeben, 
daß Herder von Kant in Rouſſeau's Schriften eingeführt worden, wodurch 


9 Erinnerungen aus dem Leben J. G. von Herders, 3 Theile, 1830. 1. Theil, 
Seite 63, 
**, Vergleiche auch Lebensbild I, ©. 199 und 227. 
**) Nergleihe Erinnerungen, 1. Theil, ©. 67 f. 


7 


eine neue Welt voll ftürmender Gedanken in feiner empfänglihen Gecle 
emporftieg.*) „Komm, fei mein Führer, Rouſſeau!“ ruft er in einer Ode**) 
ans und vertieft fih mit großem Eifer in deſſen Werke. Wie fehr er 
namentlih vom „Emil“ in feinem innerften Streben beeinflußt und an— 
gejpornt worden, fann gerade in päbagogifcher Beziehung nicht hoch genug 
angefhlagen werben. Wir werden im Berlauf unferer Darftellung wieber- 
bolt Gelegenheit finden, darauf noch zurüd zu kommen. Solde Anregungen 
hatten zunächſt die wichtige Folge, daß Herder für immer dem Lehrerberuf 
gewonnen wurde. Damit ftimmt es überein, wenn er im Sommer 1767 
an Treſcho fchreibt, er habe fih immer eine Stelle gewünfcht, wo er in ber 
Erziehung der Jugend mit feinen Talenten und Senntniffen Nuten jtiften 
fönne.***) Aber fhon die Ungunft feiner Bermögensverhältniffe nöthigte ihn, 
bald nady feiner Ankunft in Königsberg um ein Lehramt fi zu bewerben. 
Durch Vermittelung feines Freundes Hamann, der ihn mit Shafespeare 
vertraut machte und ihm Sympathie und Verſtändniß für die einfache, 
rührende Naturſprache der Volkslieder eingeflößt, wurde er zu Dftern 1763 
— 19 Jahre alt — am Collegium Fridericianum anfangs in einer Elementar- 
claffe, bald in den oberften Claſſen angeftellt, wo er Latein, Frauzöſiſch 
und andere Fächer vortrug. Dafelbft hielt er an Sonntagen auch Katechi— 
jationen, in denen er wegen ber Herzlichfeit und Wärme, mit ber er bie 
Gegenftände behandelte, und wegen der Beftimmtheit feiner Fragen, durch 
die er die Begriffe zu entwideln wußte, der Anziehungspunft vieler Zuhörer 
war.}) Die Liebe feiner Schüler beſaß er in hohem Grade. So ftreng 
er auf ernfte Thätigkeit und Ordnung hielt, fo theilnehmend und liebevoll 
war er, baber ihm feine Schüler nod in fpäteren Jahren ihr dankbares 
Andenken bezeugten. 17) Da ihm aber der religiöfe Stanbpunft der Schule 
nicht gefiel, fo jehnte er ſich fhon nad achtzehnmonatlicher Wirkſamkeit weg. 
Hamann empfahl ihn nad Riga, und meint in dem betreffenden Briefe an 
den Rector Lindner vom 17. October 1764, Herder habe mehr als mittel» 
mäßige Erfahrung in Schularbeiten und ein fehr glüdlihes Talent, feine 
Gegenftände leicht zu behandeln. +7}) Das Zeugniß half. Am 7. December 


— — 


*) An Schäffner ſchreibt Herder am 4. October 1766: „Ah, ber von Kant in 
die Roujjeauiana und Humiana gleihfam eingeweiht bin, ber beibe Männer täglich 
Icfe u. ſ. w.” — und am 31. October 1767: „Mein (verloren gegangenes) philo— 
ſophiſches Lehrgebiht ‚Kant‘ war das Aufftoßen eines von Rouffeau’ihen Schriften 
überladenen Magens,‘ 

**) Lebensbild I, ©. 252. 

*##) a. a, O., 2. Abth., ©. 264. — Am 26. April 1784 ſchreibt er an Gleim: 
„Täglich komme ich mehr darauf zurüd, daß die Wiſſenſchaft und thätlihe Bildung 
Anderer, inſonderheit der Augend, das reellfte Gejhäft meines Standes fei, worin man, 
wenn man bas Glüd echter Unterftügung genießt, allein Befriedigung boffen und 
finden mag.“ 

) a. a. O. J, S. 161. 

fr) Erinnerungen, 1. Thl., ©. 60 f. 

+rFr) Hervorragend war auch feine Fäbigfeit, mit bem Kindern in ibrer Sprache 
zu fprechen und baburd im ber verftänblichften MWeife mit ihnen zu verkehren. Die 

rößte Meifterfchaft hierin tritt offen zu Tage in feinen 1788 aus Rom an feine 

Öhne gerichteten Briefen, wo er an den vierzehnjährigen Gottfried über die Wohn: 
ftätten bedeutender römifcher Schriftjteller und über wichtige biftoriihe Punkte berichtet, 
dem zwölfjährigen Auguft über Göttergeftalten des vaticanifhen Muſeums, dem noch 
jüngeren Wilhelm über merkwürdige Bauten, und dem jüngjten Abelbert über Dar: 





8 


befielben Jahres trat er feine Stelle als Collaborator an der Domfchule zu 
Riga an und unterridtete in der Geſchichte, Naturgeihichte, Mathematik, 
im Franzöfiihen und im Stil.*) Am 27. Juni 1765 hielt er bie für 
feine ganze Stellung zum Lehrerberuf höchſt charakteriftiiche Antrittsrede: 
xwie fern auch in ber Schule die Grazie herrſchen müſſe“.**) Diefelbe 
werden wir im Gapitel von der Schulregierung näher zu betrachten haben. 
Ueber feinen Unterriht mar aud hier, wie in Königsberg, nur eine Stimme 
des Beifalls und der Liebe; nad feinem Tode ſchreibt ein Paftor: „Auch 
ih war Herder’! Schüler. Seine Lehrmethode war fo vortrefflid, fein Um— 
gang mit feinen Schülern fo human, daß fie feiner Yection mit größerer 
Luft beimohnten, als derjenigen, die von ihm gegeben warb.” ***, Auch 
andere Zeugniffe find vol Yobes über fein liebenswürbiges Verhältniß zu 
feinen Schülern. Der Ruf von Herder's hervorragender Tüchtigfeit drang 
bis nad Petersburg, wohin er am 24. April 1767 als Director an eine 
große Erziehungsanftalt berufen wurde. Zwar war diefer Wirkungsfreis 
nad feinem Geſchmack, aber viel zu complicirt; er wollte lieber jelbft un- 
mittelbar erziehend eingreifen, als eine große Menge von Lehrern dirigiren. 7) 
Da der Nigaer Rath feinen Abgang befürchtete, fo übertrug er ihm, um 
ihn feſt zu halten, vie Stelle eines Paſtor adjunctus und befchränfte bie 
Zahl feiner Lehrftunden, die ihm der neue Rector verleiver hatte. Sein 
freies Auftreten in religiöfen Dingen zog ibm jevod bald den Haß mehrerer 
GSeiftlihen zu, und als er wegen der „Fragmente“ und ber „kritiſchen 
Wälder“, die er im dieſer Periode herausgab, von verſchiedenen Geiten heftig 
angegriffen wurde, erfchien ihm fein Zuſtand unerträglid. Aufs tiefite 
verlegt und herabgeftimmt, entſchloß er fih, ins Ausland zu reifen; und 
zwar wollte er in Frankreich, England, Holland und Deutſchland die beften 
Erziehungsanftalten und gelehrten Inftitute kennen lernen, und dann nad) 
Riga zurüdfehren, um ſelbſt ein Erziehungsinftitut zu gründen. In ſchwung— 
vol begeifterter Sprache legt der 2djährige Jüngling den Plan zu demfelben 
in dem Reifejournal nieder, welches er zum Theil auf der Geefahrt von 
Kiga nad) Nantes, zum Theil in Frankreich ſchrieb. Da mill er „ben 
menfhlih milden Emil des Rouſſeau zum Nationalfinde Lieflands machen“. 
Sodann ruft er aus: „O ihr Locke und Rouſſeau und Clarke ımb Franke 
und Heder’8 und Ehler's und Büfching’s, euch eifere ich nad, ich will euch 
leien, durchdenken, nationalijiren, und wenn Redlichkeit, Eifer und Teuer 
hilft, fo werbe ich euch nugen und ein Werk ftiften, das Ewigkeiten bauere 
und Jahrhunderte und eine Provinz bilte.“ +7) Und am Schluß jeines 
fühnen Entwurfes bricht er enthufiaftifh in die Worte aus: „D Zwech, 


ftellungen aus ber Thierwelt ſchreibt. Wie fih bier ber liebevolle Water mit feiner 
ganzen Screibart an bie verfchiedenen Altersftufen feiner Kinder anpaßt, auf ihre 
Interejfen, auf ihre individuellen Neigungen mit feinem Tacte fo innig eingeht, iſt 
ee — Die betreffenden Briefe jtehen in ben Erinnerungen, 3. Theil, 
. 287— 306, 
*) Ebenda S. 42—63; vergl. ©. 63— 7). 
**) Grinnerungen, 1. Theil, S. 9. 
**#), (Srinnerungen, 1. Theil, ©. 94, 
f) Lebenebild I, 2, Abtb., S. 264. 
71) a. a. O. II, S. 19. 


9 


großer Zweck, nimm alle meine Kräfte, Eifer, Begierden! Ich gehe durch 
vie Welt, was habe ich in ihr, wenn ich mich nicht unſterblich mache!“ *) 
Rouffenu hatte er zwar zu feinem Führer auserforen, fi aber ihm nicht 
blind anvertraut, ſondern geprüft und das Beſte behalten. Zeugniß davon 
giebt ſchon eine allgemeine Vergleihung der Pädagogik Beider. Wie jonder- 
bar beſchräukt und egoiftifch erſcheint Rouſſeau's Erziehungsmoral, wenn er 
fügt: „Die einzige fittlihe Unterweifung, die ſich fir Kinder eignet und 
für jedes Alter tie wichtigſte ift, heißt, nie Demand übles thun.“**) Welch 
ein unnatürliches Phantafiegefhöpf ift der Emil, den Rouſſeau von allem 
nähern gejellihaftlichen Verkehr ifolirt und dem er baburd jede Möglichkeit 
abſchneidet, fih in den erften chriftlihen Tugenten auszubilden und nad 
abgejchloffener Erziehung feiner Zeit und feinen Volke fich dienend hinzugeben ; 
denn ihm war Alles Unnatur, Narrenthum und Widerfprud in den menſch— 
lihen Einrihtungen. ***) Während Rouſſeau für den Naturzuſtand ſchwärmt 
und den Menjhen von Natur für gut hält, will Herver „mit ihm nicht 
Zeiten preifen, die nicht mehr find und nicht gewefen find; denn pas find 
atle Nomanbilder, die nur zu unſerm Mifvergnügen dienen“.}) Und 
jpäter betont er wiederholt, daß der Menſch feiner Natur nad) weder gut, 
nch böje jei, aber beides werben fünne. +) Endlich meint er, Rouſſeau 
jet zwar in Bezug auf anthropologifhe Kenntniffe ein großer Lehrer, aber 
im Katechismus der Pflichten könne er fein Lehrer fein. Trr) Bezeichnend ift 
es aud, wie ſich Herder über die Uebertreibungen Rouſſeau's äußert: „Bei 
Rouſſeau muß Alles die Wendung des Paradoren annehmen, die ihn ver- 
dirbt, die ihm verführt, die ihn gemeine Sachen neu, Heine groß, wahre 
unwahr, unmwahre wahr machen lehrt. Nichts wirb bei ihm fimple Be— 
hauptung ; Alles nei, frappant, wunderbar: jo wirb das an fih Schöne 
doeh übertrieben: das Wahre zu allgemein und hört auf, Wahrheit zu 
fein: e8 muß ihm feine falfhe Tour genommen, e8 muß in unfere Welt 
zurüdgeführt werben, wer aber fann das ?..... und wird nicht alio 
Rouſſeau dur feinen Geift unbrauhbar oder ſchädlich bei aller jeiner 
Größe?” 4*5) Ein Mann wie Bafevom konnte jehr wohl mande Berfehrt- 
heiten nahäffen, möglicher Weife auch noch bis zur Garricatur übertreiben, 
aber ein Geift wie Herder z0g aus dem Studium von Rouſſeau's Schriften 
den größten Nugen. Bon venfelben mädtig angeregt, wollte aud er bie 
Natur fuchen, aber nicht ifolirt von aller menjhlihen Gejelihaft, ſondern 
in den gegebenen BVerhältnifjen, vie er für das Refultat einer natürlich ab— 
gelaufenen ulturentwidelungsreihe anſah; aber auch in der Bildung des 
jugendlichen Gedankenkreiſes Iehrte er eine naturgemäße, den phyſiſchen Ges 





*) a. a. O., S. 241, 
**) Emil oder über A ra von 3. X. Rouſſeau. Deutſch von K. Große. 
9. Aufl. 1867, 1. Theil, S 
**) Ebenda ©. 70, 
+) Lebensbild II, ©, 185. 
+7) 123. Humtanitätsbrief. 
) Lebensbild II, ©. 191. 
7*) Ebenda S. 265. — Herder's fpäteres Urtheil = Rouffeau vergleiche in 
feinen Briefen über das Stubium der Theologie, 2, Aufl, ©. 350 f. 


10 


fegen entſprechende Erziehung, was wir in ber zweiten Abtheilung unferer 
Urbeit eingehend zur Sprade bringen werben. *) 

Unter folhen ftürmifhen Reformgedanken vollendete Herver die See— 
reife, langte im Spätſommer in Nantes an, das er jevod bald mir Paris 
vertaufhte, um ſich im geiftigen Verkehr mit hervorragenden Männern in 
die franzöfifhe Spradhe und Literatur hinein zu leben. Unerwartet über: 
rajchte ihn bier jchon nad wenigen Monaten eine Berufung an ven Hof 
zu Eutin, von wo aus er den Sohn des Fürftbifchofs als Inftructor und 
Keifeprebiger in das Ausland begleiten ſollte. Diejer Antrag fam ibm zur 
Berwirklihung feines eigenen Planes fehr gelegen. Ueber Hamburg, wo 
er Leſſing, Reimarus, Claudius u. a. kennen lernte, gelangte er nad Eutin. 
Die Abreife erfolgte im Sommer 1770. Während eines kurzen Aufenthaltes 
am Hof zu Darmftabt, mit weldhem der Prinz verwandt war, machte Herber 
bafelbft die erfte Bekanntſchaft mit feiner Braut.**) Allein die faum be— 
gonnene Reife jollte nicht lange dauern. Da Herder mit dem Hofmeifter 
bes Prinzen fi nicht recht vertragen konnte, jo trennte er fih in Straßburg 
von feinen Neijegefährten und nahm einen Ruf als Oberprebiger und 
Conſiſtorialrath nah Büdeburg an, verweilte aber nod einige Zeit im ber 
alten Reichsſtadt, um fih das Auge operiren zu laſſen. Hier traf er aud 
mit Goethe zufammen: für beide Theile ein Ereigniß von ver folgenreichften 
Bedeutung. ***) Im feinem neuen Wirkungsfreife zu Büdeburg richtete er fein 
Augenmerk bald auf die in tiefen Berfall gerarhenen Schulen und wendete 
ſich mit Reformvorfhlägen an den regierenden Grafen Wilhelm; dieſer hatte 
zwar den guten Willen zu helfen, aber e8 waren feine Mittel vorhanden ; 
übrigens wurde Herder auf den Tod des alten Rectors vertröftet, der jedoch 
während feines Dortfeins nicht erfolgte.) Auf einer anderen Seite fonnte 
er feinem inneren Drange, pädagogiſch thätig zu fein, Befriedigung ver- 
ihaffen, da er beauftragt wurde, den Pagen der Gräfin in allen Edul- 
wiffenfhaften zu unterrichten. Ueber feinen zu diefem Zwede ausgearbeiteten 
Lehrplanyt) äußerte der Graf: „So ift wohl nody Fein König unterrichtet 
worden!“ Die Briefe, die diefer Schüler fpäter als Major an feinen Lehrer 
richtete, find gefühlvolle Ergüffe eines von Danf erfüllten Herzens. Fr) Im 
Mai 1773 holte Herder feine Braut beim, blieb aber nur kurze Zeit bier, 
weil ihm fein Wirkungskreis zu beſchränkt und zu entlegen war. 


Herder in Weimar. 
Nachdem die Bemühungen feiner Freunde, ihn als Profeffor der Theo- 
logie nach Göttingen zu bringen, fehlgefhlagen, wurbe er durch Wieland's 


*) Ebenda wirb auch ber Tieflinbiihe Schulplan zur PVerwertbung gelangen, 
wie auch einige Grundjäge Roufjeau’s, bie in Herder's püdagogifhen Anfichten hervor— 
treten, angezogen werben. 

An ihrem beiberjeitigen Briefwechfel ift vielfah von Rouſſeau bie Rebe. 
Sie ftubirt den Emil mit dem größten Anterefje und will, daß alle ibre „Bübchen 
und Mädchen & la Roufjeau erzogen werben‘ (Herber's Nachlaß von Düntzer, ni. Bd., 
S. 84). — Ein Sohn Herder's hieß Emil! 

**) Vergl. das X. Bud in Goethe's Dichtung und Wahrheit. 

7) Erinnerungen, 1. Theil, ©. 186. 

jr) Er fieht in Herder’s jümmtliden Werfen: „Zur Pbilofopbie und Geſchichte“, 
XI. Theil, Sophron genannt, ©. 249—258, Ausg. 1810. 

fir) Erinnerungen, 1. Theil, ©. 200 f. 


11 

Anregung und Goethe's Bemühungen am 23. Januar 1776 als Oberbof- 
prediger und ©eneralfuperintendent nah Weimar berufen; aber erft am 
2. October hielt er feinen Einzug. In der Beftallung *) vom 11. Dctober 
intreffiren uns namentlih folgende Bedingungen: „Der Generalfuperin- 
tendent folle den großen und ben fleinen Katehismus Lutheri in einfältigem 
rechten Berftanve, ohne Einmifhung unnöthigen Wortgezänts, Weitläuftigkeit 
und gefährlihe Mißveutung ... in gebührender Beſcheidenheit Lehren.“ 
Dafelbft wurden ihm aud ſämmtliche Schulangelegenheiten des Landes, das 
Ephorat, die Bertheilung der Stipendien und die Abhaltung der Candidaten— 
eramina, amvertrant. Ferner wird er verpflichtet, bei dem alljährigen Gym— 
nafialeramen, fowie bei der Einführung neuer Lehrer und bei Todesfällen 
an berfelben Anftalt, Reden zu halten. Endlich fol er vie Lehrſtunden an 
dem Gymnafio zuweilen unvermuthet befuchen, zu prüfen, ob Docentes und 
Discentes ihrem Amte ein Gnügen leiften, und allenthalben, wo er Mängel 
finden follte, nöthige Erinnerungen thun. — Wir werden uns im Folgenden 
überzeugen, in wie großartiger Weije er diefe Bedingungen erfüllt hat. 


1) Herder’s Derhältnif zum Gpmnafium. 


Mit dem Auftreten Herver’s in Weimar begann für das gefammte 
Schulweſen in Stabt und Land eine neue Epoche. Zunächſt wendete er 
feine Sorgfalt dem Gymnaſium zu, das unerachtet der einfichtsoollen Be— 
mühungen ber Herzogin Anna Amalia und Heinze's trefjlicher Leitung fich 
aus dem früheren Berfall noch nidt erholt hatte. Erft als Herder bie 
Hand ans Werk legte, wurbe mit dem alten Schlendrian gänzlich gebrochen, 
und eine ganz neue Ordnung trat an Stelle veffelben. 1783 von Goethe 
aufgefordert **), verfaßte Herder feinen reformirenden Lehrplan für das Gym— 
nafium, nebft Anweifungen fir die Lehrer; zwei Jahre fpäter ertheilte ihm 
ver Herzog zur Ausführung deſſelben unbedingte Vollmacht. Daß die be- 
treffenden Schriftftiide verloren gegangen find, haben wir bereits erwähnt. 
Herder's Gattin heilt fiber biefelben nur fo viel mit, daß die untern Claſſen 
„Realichule für nüslihe Bürger, die obern ein wiſſenſchaftliches Gymnafium 
für Studirende“ werben follten.*** Auf biefe Reform bezügliche Berord- 
nungen und Berichte find unter den Acten zwar nod vorhanden, berühren 
fie aber blos äußerlich und bieten darum feinerlei beftimmten Aufihluf. 
Am wihtigften darunter find einige Rechnungen mit Liften von Büchern, 
Yanbfarten, geometrifhen und phyſikaliſchen Modellen und Apparaten, die für 
die einzelnen Clafjen des Gymnaſiums angefhafft wurden — ein ſchlagendes 
Zeugniß für Herder's durchgreifende Neformen. So forgte er auch für An- 
legung einer Schulbibliothef, zu der er die Mittel aus allen möglichen 
Quellen herbeizuſchaffen fuchte. Dadurch erwuchs reihe Nahrung für ven 
vrivatfleiß, zu welchem er die Schüler bei jeder Gelegenheit ermunterte. 
Wo es ſich um Vertheilung von Stipendien handelte, beſtellte er die Con— 


ic *) Enthalten in ben OberconfiftorialsNcten, bie Berufung Herder’s betrefjend, 
45. Blatt. 
Herder's Nachlaß I, ©. 73, 


***) Grinnerungen, III. Theil, ©. 36 f. 


\ 


12 


enrrenten zu ſich, prüfte fie, ließ fie fchriftliche Arbeiten, Ueberſetzungen an- 
fertigen, und nur den Würdigften fiel der Preis zu. — Aber aud über 
den innern Zuſtand des Gymnaſiums hatte er ſtets ein wachſames Auge, 
er hefpitirte, ertheilte den Lehrern methodiſche Winke, fungirte im Notbfall 
als Supplent, lobte die Fleifigen und zeichnete die Hervorragendften ganz 
bejonders aus; dagegen tadelte er die Trägen ganz unerbittlih. Namentlich 
waren es feine durh Inhalt und Wärme fo wirfungsvollen Schulreven, 
durch die er einen unmittelbar erzieherifhen Einfluß auszuüben ſuchte. Wie 
innig wird er die jugendblihen Gemüther ergriffen haben, wie wird die aus 
dem edeln Herzen fließende Rede wieder zum Herzen gegangen fein, wenn er 
über die „Nothwendigkeit der Schulzucht“, über ven „Genius der Schule“, 
über „Gymnaſien als Uebungsftätten“, als „Werkftätten des Geiftes Gottes”, 
iiber die „Heiligkeit der Schulen” fprah! Da wendete er ſich gegen bie 
Berberbnig der Sitten und fleht: „der Geift Gottes fehre zurüd in bie 
Schulen, um da einen guten Grund in den Gemüthern ber Jünglinge zu 
legen, um ihnen den feften reinen Charakter anzubilden, der fid) durch bie 
ausgelaffene Unfittlichkeit, die grobe Frechheit, die nafeweife Zupringlichkeit, 
die jest in fo vielen Schriften herrfcht, micht verführen laffe, ſondern ber 
auf einem reinen Selbft unwantelbar feftfteht und nicht wankt“. „O kehre, 
Geiſt Gottes, zurück! Geift Gottes der alten und älteften Zeiten, als bie 
Weisheit noch Uebung, als das Lernen nod Weisheit war." „Bon Jugend 
auf, von Innen wehe, Seift Wortes, ung an; denn von Außen leben wir 
zu unferer Zeit in einer böfen Zugluft, in der garftigen Dämonenwelt.“ *) 
Herder hatte Urjache, fo zu ſprechen, denn die Beziehungen vieler Schüler 
zum Theater und die Folgen berfelben waren feinem Echarfblid nit ent= 
gangen. Darum jpricht er in ber zehnten Rede warnend zu den Schülern: 
„Jeden Winter kommen Comödianten ber, und zwar größtentheils elende 
Comödianten, die ſchwerlich verdienen, von einem Menfhen, ver Geſchmack 
bat, jahraus, jahrein gejehen zu werben. Für euch ift diefe äußerſt mittel: 
mäßige Bande gar nicht; glaubt mir dies auf mein ehrlihes Wort. Ich 
haſſe das Theater nicht, aber ein ſchlechtes Theater ift das jämmerlichfte 
Ding, nit nur unter der Sonne, fondern aud bei Abendlichtern. Und 
fi mit diefer Bande einzulafjen, mit Comöbianten Umgang zu haben, 
Comödiantenweiber zu befuchen und fi durch Abjchreiben der Rollen auf 
dem Parterre einen Freiplag zu erwerben, ift für einen Gymnaſiaſten durch— 
aus unanftändig und abſcheulich.“ Dieje Zuftände geftalteren fi) fogar noch 
ſchlimmer, ſeitdem Goethe als Theaterbirector (von 1791 an) Gymnaſiaſten 
zur aushülfsweifen Mitwirkung am Schaufpiel und am Opernchor nicht nur 
beranzog, ſondern fogar verpflichtete. Herder bereitete e8 das größte Herze- 
leid, wenn er in den VBormittagsftunden hojpitirend mitunter eine große 
Anzahl der Schüler nicht in ven Claffen fand, da fie unterdeffen in ben 
Theaterproben beihäftigt wurden. So verfüumten fie viele Unterrichtsftunden 
und waren hinter den Couliffen ven größten Gefahren ausgejegt. Energiſch 
wendet ſich Herder in einigen Vorſtellungen an den Herzog gegen viefen 
argen Mißbrauch und erzielte auch bald mwenigitens den Erfolg, dag Schul- 
verfänmniffe nicht mehr vorkamen, indem tie Proben auf ſchulfreie Stunden 


*) Sophron, 19. Rebe. 


verlegt wurden.*) Da es im Uebrigen beim Alten blieb, jo ſcheute Herver 
feine Mühe, im Verein mit den Lehrern, denen er große Wachſamkeit empfahl, 
das Einreifen der Sittenverberbniß zu verhindern und zu befämpfen. Im 
dieſem Beftreben hören wir ihn in den genannten Reden als treuen Seelen- 
büter in wahrhaft väterliher Weife zu den Zöglingen ſprechen, bittend, er- 
mahnend, drohend. Er weift fie darauf bin, wie fehr der ganze Werth des 
Menſchen von feiner fittlihen Ausbildung abhängt und daß alle Wiffen- 
ihaften und Künfte nichts helfen, ja dem Böfen vienen fünnen, wenn fie 
nicht von einem moralifhen Willen getragen werben. **) Aud gute äußere 
Sitten und anftändiges Betragen empfahl er***), und nicht weniger wirfte 
er mit feinen Reden nad der intellcetuellen Seite hin, indem er die hohe 
Bedeutung und richtige Auffaffung der Wilfenfhaften den Schülern vor 
Augen legte und in ihnen für diefelben ein reges Intreffe zu erweden fuchte ; 
dabei zeigte er ihnen auch den Weg, wie tiefe Gegenftände am erfolgreichiten 
betrieben werden fünnen.}) Wie viel aber auch die Fehrer aus diefen Reden 
in Bezug auf die Auffafiung des ganzen Schulunterrihts und einzelner 
Unterrichtsfäher, wie in Bezug auf Methodik lernen fonnten, werten die 
in der zweiten Hälfte unferer Abhandlung dargelegten pädagogiſchen An— 
fihten Herber’3 zu beweijen haben. In dieſer Weife fuhr Herder bis an 
fein Ende fort, in Treue und Beharrlichfeit das feinem Schutze empfohlene 
Gymnaſium in jeder Beziehung zu heben. Dazu bedurfte er aber auch 
tüchtiger Mitarbeiter. Soweit e8 in feinen Kräften ftand, ſuchte er folde 
beranzuziehen und die Wirbigften dem Herzog zu Beförderungen und Aus— 
zeihnungen zu empfehlen. In feinen Borfchlägen für Anftellung von Lehrern 
war er ſehr gemwillenhaft und behutſam; nur auf Grund unzweifelhafter 
Borzüge, über die er fich beftimmt zu orientiren fuchte, gab er fein ent— 
ſcheidendes Botum für diefelben ab. Den fhönften Beleg hierfür bieten die 
Böttiger's Berufung zum Rector des Gymnaſiums betreffenten Actenftüde, 
denen aud Privatbriefe anderer Bewerber und Herber’s ausführlihes Gut- 
achten (vom 22, December 1790) über deren fchrififtellerifhe und anderen 
Leiftungen beigefügt find. Da legt er auch auf die Autorität bes Rectors 
ein großes Gewicht, indem er jagt: „Der Mangel an Autorität ift das ge— 
fährlichfte Ding bei einem Director, der nicht nur feiner Glaffe, ſondern dem 
ganzen Schulkörper vorftehen, Allem ein Leben geben, Alles in Gang ſetzen 
oder darin erhalten fol, und mehr fhon durd die Meinung, die man von 
ihm bat, wirten fol, als durh That und Disciplin.* Auch für die Ber: 
mebrung und beffere Befoldung der Lehrer trug er Sorgert). Im feiner 
„Borlage zur Ständeverfammlung” im Sommer 1777 rühmte er vom Bafe- 
dow'ſchen Yuftitut, daß es halb jo viel Lehrer habe als Schüler, während 


*) E. W. Weber, Zur Gedichte des Weimarer Theaters, 1865, ©. 227 ff. 
**), Im Sinne von Kants Grundlegung zur Metaphyſik ber Sitten, vergleiche 
den 1. Abjchnitt. 
**2) Sophron, 10. Rede. 
7) Ebenda, 2., 3., 4., 6., 9., 17., 20. und 23. Rebe. 
tr) 1787 ſtellte er 5. B. ben Antrag, die Garnifonpredigerftelle follte eingezogen 
und bie mit berfelben verbundenen Einkünfte zur bejjeren Befoldbung namentlich der 
Gpmnafiallebrer verwendet werden. „In weld’ armjeligen Umftänden die Geiftlichen 
und Schullebrer, zumal in der Hauptftabt, leben, ijt befannt. Ihre VBefoldungen find 
vor zwei Jahrhunderten gejtiftet; es ift aber Jedermann befannt, wie ungeheuer fid 


14 
das Weimarer Oymnafium blos über 7 Lehrer und über 7 unbefolvete 
Sollaboratoren verfüge. Solche Borftellungen hatten immer wenigftens theil— 
meilen Erfolg; denn Herder's Worte fielen ſchwer ins Gewicht. Geine 
Ueberlegenheit in allen Fragen der Schule und fein feiner pädagogiſcher Tact 
fand aud in ven höchſten Kreifen ungetheilte Anerfennung.*) Unter einer 
fo pflihttreuen Amtsführung gelangte das Weimarer Gymuafium bald zu 
einer Höhe, der mit Ausnahme der Fürftenfchulen von Pforte, Meißen und 
Grimma kaum ein Oymnafium im übrigen Deutſchland gleid fam. Das 
ihönfte Zeugniß dafür, das zugleih ein Beweis ift, wie Herder die Seele 
des Ganzen bildete, finden wir in ber Gelbftbiographie des Naturforſchers 
G. H. v. Schubert. Als diefer im Winter 1797/98 das Weimarer Gym— 
nafium als Primaner bezog, waren ihm feine Schulgenofjen bei Weitem über- 
legen, fo daß er bewundernd zu ihnen aufblidtee Im Greiz war er einer 
der Erften, in Weimar hingegen unter den Yegten, obwohl hier 60 Schüler 
in einer Clafje beifammen faßen. „Und wie erjtaunte ic) da, wie bewunberte 
ih es, wenn id von meinen Mitſchülern Antworten auf Fragen vernahm, 
welche über den Kreis meines beſchränkten Willens und Denkens weit hin— 
aus lagen, oder wenn idy in ihren mündlichen oder fhriftlichen Ueberfegungen 
ein Verſtändniß des claſſiſchen Alterthums und feiner Spraden bemerkte, 
zu deſſen Höhe ih wie nad einem für mich unerfteiglih bohen Thurme 
aufſah.“ Seine Mitfchüler wußten felbft im gefelligen Umgang über Dinge 
ganz verftändig zu ſprechen, von benen er niemals Etwas gefehen, noch ge— 
hört hatte.**) Schubert giebt uns zugleich ein ſchlagendes Beifpiel von dem 
Eifer, der das Gymnaſium unter Herber’s Wirken belebte, wenn er erzählt, 
daß er umerfättlich gewefen jet im Leſen und Berftehen der griecifchen 
Claſſiker. „Im Winter war id Shen 5 Uhr Morgens und des Abends 
bis gegen Mitternacht im dem geiftigen Verkehr mit den Heroengeftalten 
meines lieben Homer, durchwanderte mit Herobot die alten Herrfcherreiche 
der Erde, trug den Sophofles bei meinen einfamen Wanberungen nicht blos 
in der Taſche, fonvern faßte die Welt, in die derjelbe mid einführte, recht 
ernftlih ins Auge und ins Herz.“ ***) Während einer Ferienreiſe fragte 
ihn fein Oheim in Halle, wie ibm Schulpforte gefallen habe, voll jugend— 
liher Begeifterung erwiderte Schubert, daß er Schulpforte jeder andern 
Schule, die er fennen gelernt habe, vorziehen würde, nur Weimar wäre ihm 


ber Werth ber Dinge in biefer Zeit verändert hat... . Einige Lehrer bes biefigen 
Gymnaſii fichen jo ſchlecht, daß es ihnen, wenn jie gleich wie am Joche bis tief in 
die Nadıt arbeiten, dennoch jchwer ober beinahe unmöglich fällt, mit ben Ihrigen zu 
ubfiitiren.‘ 
*) Der Miniiter Goethe fchreibt an ihn am 29, Auguft 1783: „Ich bitte Dich, 
Deine Gedanken über unfer fümmtlihes Schulwefen zu jammeln. Ich will gern zu 
Allem, was Du für ausführbar hältſt, das Meinige beitragen”; und am 6, Januar 
1786: „Ah erfuhe Di, ben Plan auf bie Militärfhule zu erftreden, aber nach Be— 
lieben zu falten, Ich wünſche, Du birigirtejt mit einem Finger bie Erziehung ber 
M.... Erſt waren fie bi 9... wie Schweine, jebt find fie bei L. wie bie 
Schafe, und es will nichts Menjchliches aus ben Knaben werben. Dann empfehle ich 
Dir E, Stein und wollte, Du nähmeſt einmal auch rigen vor, damit man bie Zus 
funft einleitete und vorbereitete.“ (Nachlaß I, ©. 73 und 87.) Ebenſo erſucht er ihn 
(1792), den lateiniſchen Unterricht des Prinzen anzuordnen, 

**) Selbitbiographie, I. Bo., S. 251; vergl. S. 256 f. 

***) Ebenda, ©. 262, 


15 


lieber; denn „es lebt bort ein Mann, dem ich, wenn es fein müßte, zu Fuße 
und barfuß, in Hige und Froft, Hunger und Durft, mitten hinein nad 
Aften nachziehen möchte, um mid an feinem Anblide und Worte zu erfreuen 
und zu beleben, diefer Mann heißt Herder.“*) Und 38 Jahre fpäter 
fhreikt er aus Smyrna an einen Freund: „Was uns damals fobald be- 
frenndete, das war bie gemeinfame Liebe zu einem hohen edlen Geift, zu 
einem großen Berftorbenen, der Ihnen in feinen Schriften, mir aber über- 
dies auch durch Wort und That ein Führer auf der Bahn des Erfennens 
und Wirkens geweſen ift, die gemeinfame Liebe zu Herder. Das Un- 
venfen an dieſen theuern Mann ift mir auf meiner Reife, auf der Fahrt 
durch die Propontis und vorüber an den Küften von Troja, mit einer folhen 
Lebhaftigkeit nachgegangen, daß mir ganze Stellen aus feinen Werken vor 
die Seele traten, daß mir e8 war, als fei ich erft geftern in Weimar. ge 
weſen und habe die Stimme vernommen, welche längft für das Obr aus 
Staub, nicht aber für ein Herz voll dankbarer Liebe und Ehrfurcht ver- 
ſtummt ift.“ **) 


2) Herder’s Keziehungen zur Dolksfchule und zum Seminar. 


Wie am Gymnaſium, fo finden wir Herder aud in den Volksſchulen 
der Städte und Dörfer des Herzogthums thätig; überall hauchte er meues 
Leben ein. Zwar find aud bier die Neformpläne leider abhanden ge= 
fommen, nicht aber die erfrenlichften Zeugniffe für die wohlthätigen Folgen 
derselben. Unter den Acten aus diefer Periode finden fih von verſchiedenen 
Volksſchullehrern Berichte über die Ziele, die in ihren Claſſen erreicht 
worden, Schülerverzeihniffe mit Cenſuren; Alles das und noch mandes 
Andere ließ ſich Herder zuſenden. Wie ernft und grünbli er die Sache 
behantelte, zeigen beutlid einige Blätter, wo ein Paftor aufgefordert wird, 
ren gefunfenen Zuftand der Schule feiner Gemeinde zu rechtfertigen. Bald 
taranf erjcheint der Befragte mit einem ausführlihen Beriht und enthüllt 
uns bie traurigften Bilder aus der Landſchulmeiſterwelt. Unermüdlich fuchte 
Herder überall zu helfen, mo es vie Berbeflerung ter Schulen und bie 
Hebung des von ihm hochgeachteten Lehrerftandes betraf. Namentlich jammerte 
ihn vie Auferft bürftige Beſoldung der Landſchullehrer. Er regte bei ber 
Regierung Ueberlegungen an, wie die blutarmen Edulftellen des Landes an 
Einkünften verbeffert werden könnten. ***) „Der Staat*, fagt Herver in 
einer feiner Reden, „muß der Schule die Aufmerkſamkeit ſchenken, die ihr 
als der widhtigften Angelegenheit des Staates, durd welche feine künftigen 
Bürger und Diener in allen Ständen gebildet werden follen, gebührt. Die 
Lehrer müſſen zu leben haben, und nicht wie die Lafttragenden Efel nad) 
einer Reihe ermattender Stunden von Dornen und Difteln fih nähren.“ T) 
„Was hilft ihnen alle falomenifhe Weisheit, wenn fie bei Mißwachs oder 
einem theuern Jahr Gefahr laufen, mit Weib und Kindern zu ver- 
bungern ?* Tr) 


*) Ebenda, S, 777. 

**) Meimarifches Herberalbum, 1345, ©. 247, — Vergl. Renner, ©. 7. 
***) Zweiter Entwurf zur Organifation des Seminars, $ 18, 

7) Sophron, 10. Rebe, 

77) Entwurf, 8 18, 


16 


Herder ſah fofort ein, daß die großen Mifftände, befonders bie äußerſt 
mangelhafte Borbildung der Lehrer, nicht eher befeitigt werben fünnten, als 
bis durch eine zwedmäßige Vorbereitungsanftalt für gehörige Ausrüftung 
Sorge getragen würde. So fafte er das Uebel an der Wurzel und drang 
auf vie Gründung eines Schulmeifterfeminariums. 

Es darf aber nicht unerwähnt bleiben, daß ſchon vor dieſen Reformen 
Herders Einiges für die Vorbildung ver Landſchullehrer gefchehen war, 
woritber uns Schweiger feine Nachrichten mittheilt. Die Sache verhält fich 
alfo: die für vie Hebung des ganzen Schulwejens eifrig bemühte Herzogin 
Anna Amalia hatte 1771 eine Freifhule gegründet und im biefelbe einen 
tüchtigen Clementarlehrer eingejegt, der zugleih Bediente, entlafjene Sol— 
daten u. dgl. für den Unterricht an niedern Schulen in ber rechten Methode 
anweiſen follte; außerdem wurben dieſe „Schulbedienten“ vom Satecheten 
in einer Stunde wöhentlih im Katechismus unterwiejen und in der unter= 
richtlihen Behandlung vefjelben belehrt, vielleicht auch praftiich geübt. Doch 
bewährte ſich dieſe primitive Einrichtung nicht. Da tauchte im Ober— 
confiftorium 1775 ver Gedanke auf, zur Gründung eines ordentlihen Lehrer— 
feminars die nöthigen Schritte zu thun. Die günftige Gelegenheit bot fid) 
dar, als zum Sommer 1777 eine Ständeverfammlung ausgefchrieben wurde, 
zu welder tie Behörden ihre Bitten und Beſchwerden einjenden konnten. 
Der Dberconfiftorialratd Schneider entwarf nod vor Herders Berufung 
eine auf das Schulweien fid) beziehende Vorlage, in welder er mit Hinweis 
auf die Nachbarſtaaten befonders die Nothwendigkeit der Errihtung eines 
Landichullehrerjeminars hervorhob und den Herzog um Unterjtügung bat. 
Als Herder nad Weimar Fam, befräftigte er dieſe Vorſchläge aus voller 
Geele. Die Beihlüffe der Stände fielen fehr günftig aus. Am 24. November 
erfolgte die officiele Verordnung, im welder ver geforderte Beitrag zur 
Gründung des Seminars zugefagt wurde; nur follte zunächſt ein Organifa- 
tionsplan vorgelegt werden. Mit der Ausarbeitung befjelben wurde Herber 
betraut. Erft am 1. November 1780 reicht er ihn ein und bittet im 
Begleitfehreiben den Herzog wegen der langen Frift um Entihuldigung, 
denn er babe fih von jolhen Anftalten erft in andern Ländern Kenntniß 
verſchaffen müſſen. Der Plan war nun fertig, aber bis zur Verwirklichung 
deſſelben jollten noch mehrere Jahre vergehen. Die Stände konnten fi 
über die Ausführung viejes Entwurfes, der tief aud in die übrigen Schulen 
Weimars eingriff, nicht einigen. 1783 wird der Plan nochmals vorgelegt, 
und bald darauf ergeht der herzogliche Befehl, es jollten neben dem Seminar- 
plan auch Vorlagen über die Unterrichtögegenftände und deren Methobe, 
fowie über eine beſſere Einrichtung der Schulen, befonders auf dem Yande, 
eingereicht werden, damit aus der Sade ein Ganzes gemacht werben könnte. 
Die Verzögerung einer fo wichtigen Angelegenheit verdroß Herbern jehr. 
Natürlich follte er nun aud den Geſammtplan ausarbeiten. Am 17. Mai 
1786 reicht er den Entwurf zum Seminar in etwas abgeänberter Form 
ein — die übrigen Vorlagen ſcheint er nicht eingefenvet zu haben, ba in 
den Xcten feine Spur davon zu fehen ift —, und ein Yahr darauf endlich 
erfolgt von Seiten des Herzogs der Befehl, das Seminar folle nun ein- 
gerichtet werden. Im April 1788 melvet Herder an den Herzog, daß bie 
Anftalt am Montag nad Quaſimodogeniti, d. i. am 31. März, eröffnet 


17 


werben ſei und wünſcht der Sache einen fo guten Fortgang, als der Anfang 
zu verfprechen ſcheine. 

Wir wollen und nun die Einridtung des Seminars vergegenwärtigen, 
ſoweit fie fih aus Herbers beiden Entwürfen und anderen Actenjtüden zu— 
fammenftellen läßt. Wie fehr Herdern das Seminar am Herzen lag, läßt 
fih ſchon daraus ableiten, daß er felbft das Directorat übernahm, und zwar 
aus dem bejonderen Grunde, weil er als Öeneralfuperintendent zugleich die 
Dberauffiht über das Schulwefen des ganzen Yandes führte, und er fo einen 
unmittelbaren Einfluß auf die Heranbildung tüchtiger Lehrer ausüben wollte. 
In diefer Stellung ſtand er den Seminarlehrern rathend und belfend zur 
Seite, vollzog die Prüfungen ver in das Seminar Eintretenden, leitete das 
Jahreseramen — neben dem der Gymmafiaften —, über weldes er au den 
Herzog Bericht zu erjtatten hatte, und bejegte dann aud die Landſchul— 
ftellen. Im ter Wahl ver Lehrer bewies er auch hier große Sorgfalt. Der 
oben erwähnte Kath Schneider ſchlug die Anftelung jenes Freiſchullehrers 
zum Seminarlehrer vor; dagegen ſtemmte ſich Herder ganz entfhieden und 
brachte feine Gründe in eine Beilage zum erften Entwurf. Da bebt er 
hervor, daß jener als Elementarlehrer zwar tüchtig, aber fein Stubierter ſei; 
er könne feine Kinder nod fo gut inftruiren, daraus folge aber nicht, daß 
er Lehrer vorzubereiten fähig fei; er müſſe im Stande fein, feine Uebungen 
auch Andern deutlich zu machen und auf beftimmte Begriffe zu reduciren. 
Dann fet er aber auch zu alı. Zu einem neuen Inftitut gehöre ein junger, 
eifriger Lehrer, der eine Zeit lang fein Hauptwerk aus dieſer Sache made 
und dem zu wünjchen fei, daß er andere ähnliche Inftitute beſuche, um 
jeinen Fleiß und Eifer aufzumuntern. Ein bejahrter Lehrer bringe felten 
in eine junge Anftalt Feuer und Yeben; er habe das Seine auf ver Welt 
gerhan und thue es in der Stille fort; es ſei fo unbejheiden, als unnüg, 
ibm zuzumutben, daß er eine andere Denk» und Lehrart ergreife over fie 
mir dem Jugendeifer unterftüge und behandele als ein Anderer, der hierin 
uch Laufbahn und Berbienft fuche Wie gewöhnlich, jo fiegte Herder aud 
diesmal. Es wurde ein junger Candidat ald Seminarlehrer angeftellt, ver 
in der bibliſchen und Brofan- Gefhichte, im der Geographie und Naturs 
geihichte und in Auffagübungen zu unterridten und aud für Untermweifung 
in einer guten Methode des Buchftabirens Sorge zu tragen hatte. Endlich 
jollte er Über die lehrenden Seminariften genaue Auffiht führen und viertel- 
jährlich einen Bericht über den Zuſtand und die Yeiftungen der Anftalt an 
das Oberconfiftorium einliefern. Dieſe beiven legtern Yunctionen hatte er 
mit dem fogenannten Seminarinfpector gemein. Derſelbe unterweift bie 
Seminariften in dem Katehismus und im der unterrichtlihen Behandlung 
deſſelben, läßt fie bei feinen fonftigen Katehifationen hofpitiren, bofpitirt 
daun felbft bei den Lehrenden, auch in andern Fächern, ertheilt ihnen 
merhodifche Winke und macht fie auf ihre Fehler aufmerkjam; kann er nicht 
abbelfen, jo hat er fih an den Director zu wenden. Golde praftifche 
Uebungen hält Herber (im erften Entwurf) für hochnöthig. Nur „mit guten 
Zeugniffen ausgeſtattete Subjecte* und zwar secundae ober tertiae classis 
gymnasii im Alter von mindeftens 14 Jahren werden nad überjtandener 
Prüfung ins Seminar aufgenommen. Die Seminariften theilen fih in blos 
Vernende, die den Unterricht zum Theil am Gymnaſium genießen, und in 


Morres, Herder ald Pädagog. 2 


18 


joldye, die au regelmäßigen Unterriht an den Stadtſchulen ertheilen; und 
zwar werben jedesmal vom Director die ſechs Tüchtigſten zu Lehrenden 
ausermählt, die dann aud Gehalt beziehen. Auf dieſe innige Verbindung 
des Seminars mit allen übrigen Schulen der Stadt legte Herder großes 
Gewicht. In der genannten Beilage fchreibt er: „Abſichtlich wollte ich das 
Seminar mit den übrigen Anflalten verflehten, weil ich ütberzeugt bin, daß 
alle ifolirten Pläne nichts helfen; fie erreichen jelten ihre Wirkung oder 
verfallen in kurzer Zeit; dahingegen ein Inftitur, das feine Wurzeln in 
und um allerlei Inftitute fchlingt und ihnen nützlich wird, mit dieſen allen 
beftehen muß.“ Wir werben uns jofort überzeugen, wie jehr Herder in 
den damaligen Berbältniffen mit feinem Grundſatze recht hatte, wenn fi) 
verfelbe auch nicht fo allgemein anwenden läßt. Die Vereinigung gereidhte 
dem Seminar, wie den übrigen Anftalten, in der That zum größten Segen. 
In feinem Beriht über das erfte Seminareramen (vom 30. Juli 1788), 
welches mit günftigem Erfolge abgehalten worden, hebt Herder ausprüdlic 
hervor, daß die Mägpleinihule, am welder zwei Seminariften mitwirkten, 
den früheren Jahren gegenüber, fi) kaum mehr glei je. Es war be— 
greiflih; denn früher hatte der einzige Lehrer über hundert Schülerinen 
zu unterrichten (1788 waren 150). Noch deutlicher traten die mohlthätigen 
Folgen der Verbindung mir der Freifchule hervor, welcher ebenfalls zwei 
Seminariften als Mitarbeiter zugetheilt waren. Hier verſahen fie den 
Unterriht von 1798 an vier Jahre ganz jelbftändig, da der altersſchwache 
Lehrer nad langwieriger Krankheit geftorben war und feine Stelle nod 
zwei Jahre vacant blieb. Eine folhe Verfhmelzung des Seminars mit den 
übrigen Anftalten ift zugleich ein deutlicher Beweis, einen wie großen Werth 
Herder auf die praftifche Ausbildung der Seminariften legte. Darum be= 
ftimmt er den Zwed des Seminars dahin, jungen Leuten, die fih zu Land— 
ichulmeifterftellen vorbereiten wollen, „das Nothwendige und wahrhaft Nüß- 
liche ihres künftigen Berufs in einen zwedmäßigen Unterriht und durch 
eigene Uebung zu lernen; denn die befte Geſchicklichkeit eines Schul— 
fehrers wird nur durch Methode und Hebung erlangt.“ *) Die nod) 
engere Vereinigung mit dem Gymnaſium, gemäß welher vie untere Ab- 
theilung der Seminariften daſelbſt einen großen Theil des Unterrichts 
empfing, tft ebenfalls gerechtfertigt, wenn man bebenft, daß das Seminar 
nur über fehr geringe Mittel verfügen konnte; blos dur die Anlehnung 
ans Gymnaſium konnte auf fihere Forteriftenz deſſelben gerechnet werben. 
Speciellere zuverläffige Beftimmungen über die erfte Einrichtung des Seminars 
werden fih nad den vorhandenen fpärlihen Zeugniffen faum zuſammen— 
ftellen laſſen. Nady der erwähnten Eintheilung der Seminariften fünnen 
nicht mehr als zwei Abtheilungen gewejen fein. Eine eigentliche Klaffen- 
eintheilung war nicht vorhanden. An einem volftändigen Stundenplan 
fehlt es; im ven Berichten der Lehrer find blos die Stunden von 9—10 
und von 3—4 angemerkt. Der mufifalifhe Unterricht wurde von dem 
Ständen zu Jena einer bejonderen Pflege empfohlen. — 

Schon aus dem Geſagten leuchtet deutlich hervor, wie fehr Herder auch 
diefer Anftalt feine Sorgfalt zumwandte Aus dem Umftande, daß er jevesmat 


*) Entwurf, $ 3, 


19 


die für dem Unterricht beftimmten ſechs Seminariften auswählte, läßt fih recht 
wehl ſchließen, daß er mit dem innerften Getriebe des Seminars vertraut 
gemejen fein muß. Die Examreden, deren Charakter wir in Bezug auf bie 
Gnmnafiaften flüchtig berührt, galten aud den Seminariften. Auch von 
ihnen betheiligten fih Cinzelne am Theater, namentlih am Opernchor. 
dadurch wurde die ernfte Kirchenmuſik, deren Pflege Herver fi ſehr an- 
gelegen fein ließ, vor Allem auf dem Lande in hohem Grade gefährbet und 
nach einigen Zeugniffen auch thatſächlich geſchädigt. Dieſer Uebeljtand drohte 
vollends einzureißen, als der katholiſch-franzöſiſche Concertmeiſter am Theater 
turh Goethe's Bemühungen als Mufiklehrer am Gymnafium und Seminar 
angejtellt wurde, obwohl Herder dagegen mit der größten Energie anfümpfte. 
dech verhalten feine auf Abhilfe dringenden Gefuche, die er an deu Herzog 
einreichte, nicht vollſtändig. Goethe fand die Sache ſchließlich ſelbſt etwas 
bevenflih, fo dag er dem Rathe Herbers folgend, der das Geſchehene nicht 
ändern konnte und nachzugeben genöthigt war, auf ein Probejahr einwilligte, 
das zu Herder's Genugthuung ganz ungünftig ausfiel. Sofort wurde ber 
Goncertmeifter entlaffen und ein anderer, geeigneter Lehrer angeftellt.*) So 
war Herder aud hier bemüht, tüchtige Lehrkräfte an feine Seite zu bringen 
und alle ſchädlichen Einfliffe von der Anftalt fern zu halten. Zu bevauern 
ft nur, daß die Lehrer gerade in der erften Zeit ſehr häufig wechſelten, 
wodurch das Seminar in feiner Entwidelung zurüdgebalten wurde. **) 
Soviel ift aber gewiß, daß nun die Sculftellen im weit beſſerer Weife 
bejegt werden konnten, als es früher möglich war. Herder wußte feinen 
Lehrern auch das nörhige Werkzeug in die Hände zu geben. So jchrieb er 
zunächſt das „Buchſtaben- und Leſebuch“ 1786, welches 16 Seiten ftark ift, 
und eine „Anweijung für verftändige Scullehrer* enthält. Mit vemjelben 
half Herder einem jehr dringenden Bedürfniſſe ab, da die damaligen Bücher 
tiefer Art blos auf geiftlofen Mechanismus des Lejenlernens berechnet, und, 
wie fih Herder beflagt, ver Faflungskraft der Kinder gar nicht angemeſſen 
waren ; Ausführlicheres darüber im der zweiten Abtheilung. Aehnlich verhält 
es fih mit dem Katechismus, den Herder zwölf Jahre jpäter herausgab. ***) 
In einem Geſuch vom 16. September 1797 baten die Stände den Herzog, 
et möge den von Herder verfaßten Katehismus betätigen, denn der bisherige 
jet „außerft ſchlecht“. Schon nad) ſechs Tagen erfolgte die Bewilligung und 
1798 erjchien die erjte Ausgabe, der nod viele andere, gewöhnlich ohne 
Jahreszahl, folgten. Die erjte Abtheilung des Buches enthält zunächſt die 
Hauptſtücke ohne Lurhers Erklärung, ſodann mit verjelben. Die zweite 
Abrheilung bietet die katechetiſch geordnete Erklärung des Katechismus mit 





*) Zur Gejchichte des Weimarer Theaters von E. W. Weber, ©. 240 fi. 

**), Ausführliches darüber bei Schweiger, Gefhichtlihe Nachrichten, ©. 12 f. 

*) In ben Erinnerungen (III. Theil, ©. 64 f.) wird mitgetheilt, daß Herder 
dad Manufcript vor dem Drude an feine Gollegen zur Begutachtung geſchickt. Aus 
den Begleitworten wollen wir Folgendes hervorheben: „Bon den 20 oder 3U Katechismen, 
die ih vor mir gehabt habe, babe ich Manches benugt, aber feinen durchaus zu Grunde 
gelegt, weil in den meijten eine zu fünftlihe componirte, theologiſche Sprache, in ben 
andern die fhändlichite Schluderei herrſchet. Ein echter Katechismus muß viel, Alles 
aber auf die feichtefte, faßlichſte Weiſe leiften. Compendienweisheit und ein trodier 
Stammbaum von Lehren und Pflichten ijt ein todtes Ding, jo kurz man auch bamit 
dinfommt,” 

2* 


— 


20 
voranftehender Aumweifung für Lehrer. Diefer Katehismus fteht in feiner 
Zeit ohne Zweifel einzig da, und aud in unferen Tagen, wo über 
Schwankungen zwifhen den Exrtremen geklagt wird, fteht er wenigftens 
ebenbürtig neben den beften ähnlichen Büchern. Ein freier, edler hriftlicher 
Geift weht im demfelben, und aud in pädagogiſcher Beziehung ift er eine 
bemerfenswerthe Erfcheinung. Der Director Dr. Horn hat, die Vortrefflich- 
teit deffelben erfeunend, 1810 ein befonderes umfangreiches „Handbuch für 
Scullehrer zur Beförderung eines zwedmäßigen Gebrauhs des Herder'ſchen 
Karehismus“ herausgegeben. *) Im Vorwort zur erften Auflage hören wir 
von ihm folgendes treffende Urtheil: „Der Herber’ihe Katehismus enthält 
einen ſolchen Reichthum religiöfer und moralifher Gedanken, fo viel praftifche 
Andeutungen, fo viel ſchöne Anfihten; es herrſchet ein fo frommes Leben 
in ihm, daß man nicht aufhören kaun, fih mit ihm zu beihäftigen und daß 
er dem Nachdenkenden auch bei täglicher Beihäftigung mit ihm, immer neu, 
immer belehrend und ermunternd zum Öuten bleibt, fo daß man fi ven 
beiten Erfolg verfpregen muß, wenn er im Geifte Herder's behandelt wird.“ 
Horn har mit feinem Handbuch felbft den Beweis geliefert, daß er es viel- 
leiht am beften verftanden, das Werk im Geifte feines Meifters zu erfaflen 
und weiter auözubauen. Auch eine beilere Ausgabe des Gefangbudes 
bejorgte Herder, da im alten mande Texte entftellt oder ohne allen Werth 
waren. **) Eundlich hatte Herder noch die Abficht, zwei Leſebücher für bie 
unteren Schulen zufammenzuftelen. Das eine follte eine „Auswahl ber 
vorzüglicften Beifpiele zur Nahahmung, zur Vereblung des Herzens, zur 
Schärfung des Urtheils und des BVerftandes enthalten.“ Diefem jollte ein 
naturhiftorifches Leſebuch für die nieveren Schulen folgen, durch welches ben 
Kindern „richtige Begriffe von den ihnen zunächſt liegenden natärlihen und 
ölonomifhen Dingen, von niüglichen oder ſchädlichen Pflanzen und Thieren, 
vom Menfhen, von Naturerfheinungen, und etwas allgemein Berftändliches 
von der Naturlehre beigebradht werden.“ ***) Diefen und noch manden andern 
Plan, ver fih auf das Schulweſen bezog, hat er leider nicht ausführen 
fönnen. Er ftarb am 18. December 1803. 


*) Die 2. Auflage 1826, 3. Auflage 1837. 
**) Am 3. April 1793 reichte er feine fehr ausführlige Kritif des alten Ge— 
fangbucdes ein; das neue erſchien 1795, 
***) Gtinnerungen, III. Theil, ©. 21. 


B. 
Herder’s Pädagogik. 


1) Aufgabe der Erziehung.*) 


„Don Kindheit auf empfangen wir den beften Theil unjeres Wefens 
von Andern durch Erziehung, dur Unterricht und gleihjam durch mit- 
getheilte Erfahrung. Das Haus unferer Eltern, ja der Schooß und die 
Bruft der Mutter ift unfere erfte Schule. Aus heiler Haut können uns 
zwar Gefhmwüre, Kröpfe und Beulen wachen, niht aber Wiffenfhaften und 
Künſte.“ „Es fällt auch nirgend ein Meifter vom Himmel.” „Was wir 
wiffen, wiffen wir durch Antere, was wir gebrauden und zu gebrauchen 
felbit lernen mitffen, haben Andere erfunden. Das ganze Menſchengeſchlecht 
it gewiffermaßen eine durch Jahrhunderte fortgefegte Schule, und ein neu— 
gebornes Kind, das plöglich viefer Schule entnommen, das biefer Kette des 
Unterrichts entriffen, auf eine wüfte Infel gejegt würde, märe mit allem 
feinem angeborenen Genie ein armes Thier, ja in zehnfachem Betracht elender 
als die Thiere.* **) Mithin muß es innerhalb des Gefellichaftsfreifes erzogen 
werben, alfo im Gegenfat zu Rouffenu, der feinen Zögling von aller Cultur 
tolir. Während Rouſſeau außerdem in feinem „Emil“ den natürlichen 
Gang einfchlagend die größte Sorgfalt auf das phyſiſche Auferzieben wendet, 
fiehbt Herder von demfelben da, wo es ſich um Erziehung im eigentlichen 
Einne handelt, ab; denn diefe bezieht er auf das Geiftesleben und bezeichnet 
fie als eine Bildung des Innern. ***) Freilich bat ſich Herder aud zum 
Bewußtſein gebracht, daß der Geift Kraft und Leben nur in einem „ge 
funden, tüchtigen und fröhlihen Organ“ zeigen kann.}) In ver Seele 
des Kindes liegt, ehe es mit der Außenwelt in Wechfelmirkung getreten, 
nichts Fertiges vor. Bon Natur ift e8 werer gut, noch böfe, aber im fein 
weihes Gemüth kann fich beides eindrüden. FF) Da nun ver Menfch feiner 
phyſiſchen Natur nah ſchwach ift, fo verfällt er leicht dem Einnengenuß und 
läßt fih von Begierden beherrihen, fo daß dann das Böſe in ihm zur Macht 
gelangen kann. Hingegen müſſen von Seiten der Eltern und Lehrer gemein- 
fame Beranftaltungen getroffen werben, „fonft ift das Kind verloren“.+rr) Und 
die Gejellfhaft, in der es aufwächſt, hat im eigenen Intereſſe zu forgen, 
daß es nicht auf falfche Wege gelenkt, daß feine Erziehung nit ſchwer oder 
unmöglich gemacht werde. j*) 

Welche Aufgabe hat nun die Erziehung zu löfen? Oft glaubt man 
mit der Anhäufung von Kenntniffen, mit Erweiterung und Verfeinerung der 
Verftandesfräfte genug gethan zu haben. Die Vervollkommnung hängt aber 


*) Größtentbeils Herber’s eigene Worte. 
**) Sophron, 5, Rebe. 
*##) Ebenda, 19. Mebe. 
+) Ebenda. 
tr) 123. Sumanitätsbrief. 
rrr) Sopbron, 17, Rede und Lebensbilb I, 2, Abtheilung, ©. 56. 
7*) 25. Humanitätöbrief, $ 4. 


22 


nicht von der Vermehrung ver blofen Kenntniffe ab, denn aud den Dämonen 
fhreiben wir Berftand zu, und in den Händen des Böfewichts find ver- 
mehrte Mittel vermehrte Uebel.*) „Was helfen alle Wiffenfhaften obne 
Sitten? Was helfen alle erworbenen Kenntnifie ohne Gemüth? Wir wiffen 
Ale, daß unfern Zeiten mit Recht der Vorwurf gemacht wird, daß nicht, 
wie in den alten und älteften Zeiten, unfre Weisheit im Leben ausgebrüdt 
wird, und von Sitten ausgehend, auf Sitten zurüdfehret. Sie wohnet 
bei uns mehr im Kopf als im Herzen, und hat meiftens nur das Gedächtniß 
bereichert, als die Sinnesart gebilbet."” Darum ift die Sinnesart, ein ge: 
ftärkter, guter Wille, das weſentlichſte Erforderniß in der Bildung unjerer 
Jugend ; Hauptfahe in der Erziehung ift alfo die Heranbildung eines feiten 
moralifhen Charafters.**) Diefer muß über alle Kenntmiffe die Oberhand 
gewinnen und als eine im Innern wohnende Weisheit den ganzen Menſchen, 
die Einheit aller feiner Kräfte in allem feinem Wollen und Handeln bes 
ftimmen, fo daß er dadurd als eine firtliche Perfönlichkeit fih offenbart und 
al fein Thun und Laſſen als ein Ausfluß verfelben erfcheint. ***) „Was 
nie zerſtückt fein darf, das ift der menjchlihe Charakter.“ 7) Cine jolde 
moralifhe Bildung verleiht dem Menſchen den höchſten Werth, und bewirkt, 
daß er fich blos in den Dienft edler Zwecke ftellt. 

Herner bezeichnet diefe fittlihe Durchbildung des menfhlihen Charakters 
wohl als Humanität, obſchon der Begriff, den er mit diefem Ausprude ver- 
bindet, fi oft in ſchwimmenden, ſchwankenden Umriffen zu verlieren fcheint, 
und bald mehr auf die fpecifiih claffiihe Bildung beſchränkt, bald, und aller- 
dingft zumeift, über das gefammte Gebiet menfhlichen Geifteslebens erftredt, 
indem er „echte Menſchenvernunft, wahren Menfchenverftand, reine menjchliche 
Empfindung“ zugleich befaßt. „Betrachten wir die Menfchheit“, jagt Herder, 
wie wir fie fennen, nad ben Gefegen, die in ihr liegen, fo fennen wir 
nichts Höheres als Humanität im Menſchen.“ Fr) Dahin gehört die uneigen- 
nügige, wohlwollende Liebe zu unfern Mitmenfchen Frr), gehört Alles, was 
wahrbaftig, ehrbar, gerecht, feufch, lieb ift und wohllautet. Noch beftimmter 





*) 24. und 123. Humanitätsbrief. 
**) Sopbron, Rebe 19, 14, 1 und 123. Humanitätsbrief. 
**x*) Im Sinne Hamann's. 
7) Sopbron, 14. Rede. 

+r) Ideen zur Philoſophie der Geſchichte ber Menſchheit, XV. Band, 1. Gapitel. 

ir) 32. Humanitätsbrief. Hierüber jtellt Herber folgende Betrachtung an: „Das 
weiche Mitgefühl mit ben Schwächen unferes Gejchlehts, das wir gewöhnlicher Weife 
Menjchlichkeit nennen, macht die ganze Humanität nicht aus. Zu rechter Zeit, am 
rechten Ort, ziert e8 den Menfchen allerdings, da Sumpatbie in reinem Verjtande, d. i. 
eine lebhafte, ſchnelle Verfepung in ben Zuftand bes Fehlenden, Irrenden, Leidenden, 
Gequälten, der zartefte Kitt ber Vereinigung ähnlicher Geſchöpfe und unter Menſchen 
das lindeſte Band ihrer Verbindung iſt . . . . So notbwendig inbefen eine menichliche 
Lindigfeit und Milde gegen bie fehler und Leiden unferer Nebengejchöpfe bleibt, jo 
muß fie bob, wenn fie zu weich und ausſchließend wird, den Charakter erfchlaffen und 
kann eben dadurch die härteſte Graufamfeit werben, Obne Gerechtigkeit beſteht Billig= 
feit nicht; eine Nachſicht ohne Einſicht ber Schwächen und Fehler iſt eine Ber— 
zärtelung, die eiternde Wunden mit Roſen bebedt und eben dadurch Schmerzen und 
Gefahr mehrt.“ Damit bat Herber das reine Woblwollen ſcharf genug hervorgehoben. 
Der Woblwollende erbebt fid Über bie ſchwankenden Gefühle der Sympathie, welche 
bier mehr ein Mitleiven bedeuten, erfaßt mittelit feiner Ginficht den AZuftand des 
Leidenden als folden und fucht ihn durch die That zu lindern. 


23 


und noch weiter ausgreifend heit es dann an anderer Stelle: „Was zum 
Charakter unferes Gejchlehts gehört, jede mögliche Ausbildung und Vervoll— 
tommmung befjelben, dies ift das Object, das der humane Mann vor fi 
bat, wonach er ftrebt, wozu er wirkt.” „Humanität ift der Charafter unfers 
Geſchlechts; er ift uns aber nur in Anlagen angeboren und muß uns eigent- 
{ih angebilvet werben ; wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit, auf 
der Welt aber foll er das Ziel unferes Beftrebens, die Summe unjerer 
Uebungen, unjer Werth fein.“ Endlich mit fürzeftem und umfaſſendſten Aus- 
trud: „Humanität ift der Schag und die Ausbeute aller menfhlihen Be— 
mühungen, gleihjam die Kunft unfers Gejchledhts." *) Was nun die nähere 
Beftimmung und die VBerwirklihung dieſes Humanttätsbegriffes Betrifft, fo 
gebt uns Herder folgenden Auffhluß: „Zur Menſchheit und für die Menjch- 
beit gebilvet foll unfer Geift werben, und was uns dazu bildet, ift studium 
humanitatis.“ **) „Zu dieſem Zwed iſt unfere Natur organifirt; zu ihm 
find unfere feinern Sinne und Triebe, unfere Vernunft und Freiheit, unfere 
zarte und dauernde Geſundheit, unfere Sprade, Kunft und Religion uns 
gegeben.“ ***) „Dies ift das wahre studium humanitatis, in weldem uns 
Griechen und Römer vortrefflic vorgegangen find.*7) „Was in ven Schriften 
der Alten und Neuen zuv Bildung der Humanität eines Menſchen dienet, 
gehört zu den humanioribus, e8 möge foldyes Beredtſamkeit oder Poefie, Philo— 
fopbie oder Geſchichte heißen. Fr) Aber nicht nur diefe Wiffenfchaften, ſondern 
auch die Künfte fünnen, wenn fie von rechter Art find, feinen andern Zweck 
haben, als uns zu humanifiren.“ +r}) So ift „auch die griechifche Kunft eine 
Schule ver Humanität; unglüdlih ift wer fie anders betrachtet! Ohne bie 
Kunft der Griechen würden wir manche Gedanken ihrer Dichter und Weifen 
nicht verftehen ; als öde Worte ſchwebten fie vor uns vorüber. Nun bat 
fie die Kunſt ſichtbar gemacht und damit and) den ganzen Geift der Com- 
pofition ihrer Schriften, ven Zweck ihrer Eittenformung, und was fie ſonſt 
unterjcheidet, in anjehnlihen Bildern dem menschlichen Verſtande vorgeftelt, 
kurz, anfchauliche Categorien der Menſchheit gegründet.“ F*) 

Ebenſo find nad Herder aud alle Einrichtungen der menſchlichen Ges 
jelihaft und menfhlihen Natur auf Bildung zur Humanität berechnet. „In 
allen Zuftänden und Geſellſchaften hat ver Menſch durchaus nichts Anderes 
im Sinn haben, nichts Anderes anbauen künnen, als Humanität, wie er ſich 
biefelbe auch dachte. Ihr zu gut find die Anordnungen unferer Geſchlechter 
und Vebensalter von der Natur gemacht, daß unfere Kinpheit länger dauere 
und nur mit Hilfe der Erziehung eine Art Humanität lerne; ihr zu gut 
find auf der weiten Erde alle Yebensarten der Menſchen eingerichtet, alle 
Gattungen der Gefelfchaft eingeführt worten..... Was alſo in ver Ge— 
Ihichte je Gutes gethan ward, ift für die Humaniät gethan worden.“ +**) 


*) 27. Humanitätsbrief, 
) Sophron, 9. Rebe, 
**) Ebenda. 

+) 29. Humanitätsbrief, 


tr) Sopbron, 9. Rede; — 2. ” Humanität bei den Alten und in ber Ge: 
ſchichte, vergleiche Gapitel II und IV, 
trr) 32. Humanitätisbrief. 


1*) 63, Humanitätebrief. 
7**) Ioeen zur Philoſophie der Geſchichte der Menfchbeit, XV. Band, 1. Gapitel, 


24 

Endlich ift au die Religion ein hervorragendes Mittel zur Humani-— 
tätsbildung. „Dahin ging die Sorge der Geſetzgeber und Weijen, daß fie 
in Worten und Gebräuchen den Menfchen die unentbehrlihen und. heiligen 
Pflichten gegen ihre Mitmenfhen anempfahlen und dadurch das ältefte 
Menihen- und Völferreht gründeten. Religion wars, vom Morde fich 
zu enthalten, vem Schwachen heizufpringen, dem Irrenden ben rechten Weg 
zu zeigen, des Berwundeten zu pflegen, ven Todten zu begraben. In Religion 
wurden bie Pflichten des Ehebunds, der Eltern gegen die Kinder, der Kinder 
gegen die Eltern, des Einheimifhen gegen den Fremden eingehüllt und all» 
mählig dies Erbarmen auch auf die Feinde vorbereitet.**) Das Chriften- 
thum aber gebietet die reinfte Humanität auf dem reinften Wege: verzeihende 
Duldung, eine das Böfe mit dem Guten überwindende thätige Liebe. Es 
giebt Fichte und Leben der Menfchheit, durch Vorbild und liebende That. **) 
Was mithin die Moral gebietet, finden wir aud in der riftlihen Religion, 
aber in einem erhöhten, verflärten Olanz ; fie flößt uns die Zuverfiht ein, 
daß eine höhere Weisheit dem firtlih Guten den Sieg verleiht. Dieſe 
Religion ift die höchſte Humanität, die erhabenfte Blüthe der menfhlihen 
Seele.***) Darum foll man begründen und befeftigen, in den jungen Ge- 
müthern, was wahrhaft Religon ift. +) 

Demnach ift die Aufgabe der Erziehung nach Herder die Bildung zur 
Humanität, zum fittlichereligiöfen reinen Menſchenthum. Diefes Ziel ift ver 
Endpunkt aller erzieherifhen Thätigkeiten ; daffelbe muß aud der Echule 
vorſchweben, denn fie ift eine Erziehungsanftalt, die Volksſchule in gleichem 
Einne, wenn aud nicht im gleicher Weife wie das Gymnaſium. Der edle 
Charakter ver Menfchheit, die Humanität, muß an jedem Schüler ausgeprägt 
werben. Eine folhe Menfhenbildung geht aller Berufsbildung voraus. Der 
Zögling muß vor Allem Menſch werden, ehe an einen beftimmten Beruf 
gedaht werden kaun. Wehe ihm, wenn er in feinem zufünftigen Beruf 
vergißt, Menſch zu bleiben. Fr) 

Aus allen diefen Anführungen erhellt, wie richtig Herder die Aufgabe 
ter Erziehung erfaßt. Es erhellt aber auch, daß Herder feinen Humani- 
tätebegriff nicht aus Rouffeau’s „Emil“ gefhöpft haben wird. Für Rouſſeau's 
Bildungsideal ift der Sag mahgebend, daß der Menfh von Natur 
gut fei. Herder leugnet diefen Sag mit Recht. Iſt nun aber der Menſch 
von Natur gut, jo hat die Erziehung nah Rouſſeau nur zu „verhindern, 
daß eiwas geſchehe.“ Frr) „Die erfte Erziehung (bis zum 12. Jahre) darf alfo 
bloß rein negativ fein. Cie befteht nicht darin, daß man Tugend und Pater 
unterjheiden lehre, fondern daß man das Herz vor Fehlern, den Verſtand 


*) 28, Humanitätsbrief. 
**) 124. Humanitätsbrief. — 25. Humanitätsbrief, S. 29 und 30, 
***) Ideen zur Pbilojopbie der Gefchichte der Menſchheit, IV. Band, 6. Gapitel, 
+) Briefe über das Stubium ber Theologie, 21. Brief, 
tr) Sopbron, 7. Rebe. — Ebenda fagt Herder noch Folgendes: „Sobald man 
fih auf die fünftige Beitimmung jedes einzelnen Zöglings einläßt, fo müßten jtatt 
Einer, Sieben Schulen fein, aus denen Juriiten und Kuchenbäder, Gameraliften und 
Leinweber hervorgehen. Aber Menſchen find wir eher, als wir Profeffioniiten werden.“ 
ee all > Erziehungsſchulen von den Berufsihulen jcharf ab, 
) il, ©. 16. 


25 


ver Irrthümern bemahre —” *) eine Mafregel, die wir natürlich finden, 
wenn der Menſch ſchon von Natur aus gut fein fell; dann wäre jede Ver— 
evelung des Gemüthes durchaus überflüſſig. Nach dieſer Methode, „ohne 
Vorſchriften zu leiten und Alles durch Nichtsthun auszurichten“ **), glaubte 
Kouffean felbft ein „Wunder der Erziehung“ zu Stande zu bringen. ***) 
Selche Mafregeln können nah dem bisherigen blo8 darauf berechnet fein, 
im Zögling den Naturmenfhen zu erhalten und zu bilden. In ber That 
iſt Köouſſeau's Bildungsideal der Naturmenſch, deſſen Tugen- 
den zunächſt in der Selbſterhaltung, in einem naturgemäßen Leben beſtehen, 
deſſen Beſtrebungen auf ein glückliches Leben, auf die Zufriedenheit gerichtet 
find, die blos „darin beſteht, daß man das Ueberwuchern unſerer Wünſche 
über unſere Kräfte beſchneide und das Können mit dem Wollen in voll— 
fommene Einftimmung bringe*. „Und“, fagt Nouffeau weiter, „je mehr ver 
Menfh in feinem natürlihen Zuftande verblieben tft, deſto geringer ift ver 
Abftand feiner Kräfte von feinen Wünſchen, defto weniger ift er folglih von 
dem Glück entfernt.“ So feben wir, wie confequent Rouffeau das Bildungs- 
iveal des Naturmenfchen fefthält und zur Geltung bringen will. Und wenn 
er enblih an einem anderen Orte fagt: „Man nehme die Kraft, die Ge- 
fundheit, die Zufriedenheit von uns hinweg, fo find alle Gitter des Yebens 
nur Dinge der Einbildung“ +), fo können auch diefe Worte nur zur Be- 
fätigung dienen. Diefe Stellen mögen zur Charafteriftit des Rouſſeau'ſchen 
Erziehungszwedes im Allgemeinen genügen und zugleich beweifen, daß Herder, 
ter Priefter der Humanität, unmöglid aus biefer getrübten Quelle jhöpfen 
fonnte, fo fehr er fonft die Vorzüge des „menſchlich wilden Emil“ anerkannte. 
Nur da, wo Rouſſeau von feiner Glüdfeligfeitslehre und vom angeblichen 
Naturmenfchen abſehend ein Lobredner der Tugend wird, fittlihe Charafter- 
bildung fordert und die Menfchenbildung aller Berufsbildung voran geftellt 
baben will, nur da konnte ihm Herder beiftimmen. 


2) Erzießnngsmittel im Allgemeinen. 


Wenn Herder einen hriftlih-humanen, charakterfeſten Willen als Er— 
ziehungszweck hinftellte, jo war er ſich ebenfo deutlich aud der Mittel be- 
wußt, durch welche derfelbe geförbert und erreicht werden fünne. Der Wille 
des Einzelnen fann nur durh Einfiht in andere Willensver- 
bältniffe, die als Vorbilder dienen, feiner Beitimmung entgegengefübrt 
werden. Darum wird die Vorführung, Beiprehung und Beurtheilung folder 
Vorbilder dem Zweck der Erziehung am nächſten kommen. Diejelben finden 
fh vor Allem im wirklihen Leben, im Umgang, indem die Eltern und 
Lehrer zum Kinde in bie imnigfte Beziehung treten. Der Lehrer muß in 
feiner ganzen firtlihen Erſcheinung den Schülern als ein Mufter voran« 
leudhten; denn „wir wiffen Alle, daß der Knabe von jedem ihm öffentlich 
dargeftellten Vorbilde gewiß, auch ohne daß er es will, ein gutes oder böfes 


— 





*) Ebenda I, ©, 87. 
*) Ebenda I, ©. 124, 
») Ebenda I, ©. 87. 

7) Emil I, ©. 67 f. 


26 


Beifpiel nehme, da wir im jungen Jahren unausbleiblih die Sitten, Ge— 
berven und Reden annehmen, die wir täglich vor ung fehen, die fih ung 
im lauten Schalle eindrüden und vie fih durch das Anſehen eines Lehrers 
oder Vaters ganz befonders empfehlen.“* Jedoch find die Millensverbält- 
niffe der Vorbilver, die der Zögling durd eigene Erfahrung fennen lernt, 
auf einen viel zu engen Kreis beſchräukt; daher muß diefer im Unterricht 
erweitert werben, wie Herber fagt, „durch mitgetheilte Erfahrung“, d. h. durch 
einen gedachten Umgang, ver ven Zögling in vorbilplihe Willensverhält- 
niffe einführt, die in Darftellung aus dem Menſchenleben, in ber biblifchen 
und Profan-Gefhihte, in fagenhaften Stoffen und Erzählungen aus dem 
Leben angetroffen werben. Auf allen viefen Gebieten ift das erhabenite 
Mufterbild Chriftus. „Diefer Chriftus ift menſchlich“, fehreibt Herder, „er 
ift fein Bild in den Wolfen zum Anftaunen, fondern ein Borbild auf Erden 
zur Nahahmung und Lehre.“ **) Zu den biblifhen und profangefhichtlihen 
Stoffen, die wir „Geſinnungsſtoffe“ nennen fünnen, gebören aud) viele alt= 
claffiihe Schriften, die im Gymnaſium gerade nad dieſer Seite bejonvers 
ausgebeutet werden müſſen, weil fie die reinfte Humanität in der evelften 
MWeife zum Ausdruck bringen. „Die Alten ſchildern Charaktere, Grundjäge, 
Sitten und Meinungen, diefe barzuftellen und zu verknüpfen, war der Zwed 
ihrer erlefenften Werke. Ihre beiten Schriftfteller zeigen auf die Tugend 
als das Zinglein der Waage menfhliher Handlungen und ben eveliten 
Rampfpreis des menfhlichen Lebens. Licht und Schatten ftellen fie dar, fie 
contraftiren und gruppiren Geftalten, Sinnesarten und Meinungen, und 
flößen uns fo das moralifhe Gefühl des Schidlihen, des Großen, Schönen, 
Anmuthigen und Erlen ein. Diejes Gefühl duch Leſung der Alten in uns 
zu weden und zu erhalten, ift um fo nöthiger, da in der gegenwärtigen 
Welt eine Convenienz in niederträchtigen, frehen Meinungen, die für Grund 
füge gelten und in offenem Gebraud find, daſſelbe ganz zu erjtiden droht.“ 
„Wer aber in feiner Jugend nad der Humanität gebilvet wurde, ber kann 
fie nicht vergeffen; fie bat fich feinem Gemüthe eingevrüdt als das Herz 
jeines Herzens, als bie Seele feiner Seele.“ ***) 

Neben den genannten hiftorifhen Stoffen foll ferner Luthers Katechis- 
mus „recht innig auswendig gelernt werden“. „Was Baſedow aud über 
das Jüdiſche der zehn Gebote fage, mit rechten Erflärungen und leichten 
Einleitungen find fie eine ſchöne Moral für die Kinder. *+) Enplih follen 
ſchöne inhaltreihe Bibelfprüce, volksthümliche Sprüchwörter und Dichterworte, 
welhe Tugenden fhildern, der Jugend „Gedächtnißſprüche“ werben, 
da fie die Grundfeften aller moralifhen Wahrheiten enthalten. +7) Ale diefe 
Regeln der Eittenlehre ſollen mit Gründen und Beiipielen aus dem ge— 


*) Sophron, 18. Rede. 

**), Briefe über das Stubium der Theologie, 21. Brief. Von biefem Geſichts— 
punft aus ijt es vollfommen gerechtfertigt, wenn Frande u, U. im Grziehungsziel 
fordern, ber Zögling folle zu Chrijto geführt werben. 

**#) 94. Humanitätsbrief. 
7) Lebensbild II, ©. 200 f. 


Tr) 33. Humanitätsbrief; vergleiche dazu bie Anweifung zum Buchſtaben⸗ und 
Leſebuch, $ 7. 


27 


meinen Leben, ver biblifhen und Profan-Gefhichte unterftüst werben; denn 
das giebt einen lebendigern Einprud. *) 

Das Gefagte läßt leicht erkennen, wie entſchieden Herver bie gefinnungs- 
bildenden Stoffe in den Vordergrund ftellt. Und ſicherlich liefern fie zur 
fung der Erziehungsaufgabe den bedeutendſten Beitrag. Allein tie fittlidh- 
religiöje Erziehung des Zöglings, bie durch die genannten Stoffe in unmittel- 
barer Weiſe angeftrebt wird, tft nur eine Seite der geiftigen Ausbildung, 
wenn gleich die vornehmfte; auch die übrigen Anlagen des Menſchen dürfen 
nicht verfümmern; darum fordert Herder, die Erziehung jolle die Aus: 
bildung aller unferer Kräfte und Anlagen auf den mannigfachſten Gebieten 
des Willens anftreben, aber in der rechten Proportion.**) Daß diefe Viel- 
feitigfeit der Geiftesbildung auch durch befondere Gründe geboten wird, mag 
bier nur angedeutet fein. Sol nämlid die moralifhe Gefinnung zur Herr— 
ihaft gelangen und mit Erfolg wirkſam werben, jo fett das die Kenntniß 
ter Naturgefege, überhaupt berjenigen Bedingungen voraus, unter denen 
ein weitreihendes Wollen und Handeln erft möglich ift; mit andern Worten: 
ter Gedankenkreis, welher bie Grundlage aller Gefühle, Wallungen, Ges 
finnungen und Handlungen ift, muß im Unterricht erſt aufgebaut werben, 
und zwar durch Heranziehung anderer Fächer, als z. B. Naturwiſſenſchaften, 
Spradhen, Mathematik ꝛc. Zugleich mag die Bielfeitigfeit ver Tehritoffe dazu 
dienen, dem verſchiedenen Individualitäten der Zöglinge die ihnen entſprechen— 
den Gebiete näher zu bringen, die fie nad Ablauf der Erziehungspericde 
berufsmäßig betreten fünnen. In diefem Sinne, meint audy Herder, jolle 
man für's Leben lernen, aber thöricht fei es, bei jeder einzelnen Aufgabe 
des Unterrichts zu fragen: wozu kann id e8 anwenden? Man Fünne Das 
nicht vorherfehen. ***) Das non scholae, sed vitae discendum bezieht Herder 
übrigens noch ganz befonvders auf die Bildung des Herzens und Charafters, 
dem die Herrſchaft über alles Andere zufommen müjje. F) 


3) Semerkungen über das Berhältnik der Anterridtsfäder 
zu einander. 


Wenn in den theoretiichen Erörterungen über die Aufgabe der Erziehung 
die Forderung hingeftellt worden, daß der ganze Gedanfenfreis des Zöglings 
von der Einbeit des fittlihen Charafters beherrfht werde, fo müſſen aud) 
in der Erziehungspraris Vorkehrungen getroffen werben, welde eine ſolche 
Vereinigung aller feiner Vorftellungen um den gemeinfamen maßgebeuden 
Mittelpunkt möglich mahen. Es müſſen daher auch im Unterricht diejenigen 


*) Sophron, ©. 239. 
**) Sophron, 23. Rebe. 
Auch in biefer Beziehung erhebt ſich Herder weit Über Rouſſeau und Baſedow, 
die im Unterricht überhaupt das mittelbare Antereffe zu ſehr in den Borbergrund 
hellen. Sie fuchen die Aufmerkfamfeit und ben Eifer des Kindes, durch Hinweifung 
auf den Nutzen zu beleben, der aus den gelernten Dingen gezogen würde, Vergleiche 
beſonders „Emil“, II. Theil, ©. 24 ff. 
7) Sophron, 23. Rebe. 


28 


Fächer die berrfchenven fein, in denen fittlich-religiäfe Willensverhältniſſe als 
Borbilder angetroffen werden; das find nun, wie wir bereits willen, haupt- 
ſächlich vie biblifche und Profan-Geihichte und „Gedächtnißſprüche“. Mithin 
jollen zu diefen Gebieten die übrigen Unterrichtögegenftänte unmittelbar oder 
mittelbar in Beziehung gefegt werben, damit jene Einigung und die Herr- 
Schaft der fittlihen Perfönlichkeit über alles Wollen und Handeln zu Stande 
gebracht werben fünne. Ein derartiges Concentriren der Schulwiffenihaften 
hat Herder zwar nirgends planmäßig erörtert, aber in Wahrheit bat er es 
doch gelehrt, wie aus einigen Zeugniffen ganz unverkennbar hervorleuchtet. 
Er wies darauf hin und bat es auch durch Beifpiele erläutert, daß in 
jenen Öefinnungsftoffen verſchiedene VBerhältniffe und Dinge aus dem Natur: 
und Menfchenleben angetroffen werden, weldhe zum Ausgangspunft für andere 
Unterrihtsfächer gemacht werden fünnen.*) Darauf hielt er, wie ein Acten- 
ftitf verräth, auch in den Weimarer Schulen. Es meldet ihm daſelbſt ein 
Lehrer, den er in feiner Methore zweifellos beeinflußt, er habe im abge 
laufenen Bierteljahre neben heimathlichen Naturobjecten, die er aufzählt, aud) 
diejenigen Thiere behandelt, die im Buche Hiob ftehen. Die Concentration 
bezieht fih aber aud auf die Profangefhihte Darum fordert Herder, daß 
32. ®. die Geographie ſich ftets an jene anzufchliefen babe Und um bie 
Geographie zu verftehen, müſſe die Naturkunde unbedingt herangezogen 
werden ; denn zur Erdbeſchreibung gehören auch die Naturproducte ver be 
treffenden Länderſtriche; an die Naturlehre ſchließen fih endlich Mathematik 
und Zeihnen an. Nicht weniger ftehen die Sprachen im Dienft des Huma- 
nitätsideales; denn fie find „Schlüffel zu vielen Schatzkammern“; durch fie 
hört man jeden größten Geift mit feiner Zunge. **) Der Zwed ver latei- 
nifhen Sprache 3. B. ift hauptfächlih der, um durch fie Gefchichte zu lernen 
und in den Geift großer Männer zu bliden.***) Audy die griechiſche Sprade 
dient zunächſt als Mittel, den Zögling in die Humanität der Alten einzu- 
führen. Wie fehr Herder für eine derartige Vereinigung und Vertiefung 
der Kräfte eintritt, werben wir ſpäter bei Vorführung der einzelnen Fächer 
noch fehen; erwähnen wir nur noch, daß Herder fehr entſchieden auch auf 
die Schäden des entgegengejegten Verfahrens hinweiſt, wenn er 3. B. in 
Bezug auf Gefhmadsbildung jagt: „Dur PVielwifferei und PVielthueret 
wird der Gefhmad bunt; grelle Bilder und Farben treten zufammen und 
vernichten einander oder fie werben zu lächerlichem Quodlibet, zu verädt- 
lihem Sammelfurium und Furfur“; oder wenn er in derſelben Rede gegen 
jeve thörichte „Zertheilung ver Seele” eifernd ausruft: „Einheit ift ber 
Grund alles Zählens und aller Zahlen; ohne Mittelpunkt ift fein Zirkel. 
Wer ſich jelbft verliert, hat Alles verloren, wer aus ſich läuft, befigt ſich 
nidt mehr.“ }) 


*) Pebensbild II, S. 204. 

**) Lebensbild I, 2. Abtheilung, ©. 156. 

***) Fragmente, bie beutfche Literatur betreffend, 1767, II. Band, ©. 35. 
+) Sopbron, 25. Rebe. 


29 


4) Die Anterrihtsfäder als Erziefungsmittel im DBefonderen. 


a. Religionsunterridht. 


Herder preift die Bibel als die tiefite Quelle der Weisheit und bie 
verfelben entlehnten Geſchichten als ein hervorragendes Erziebungsmittel. 
Sie follen in einer zufammenhängenden Reihe vorgeführt darftellen die Er- 
ziehung des Volkes Iſrael durch Jehovah bis zur Gründung des Chrijten- 
thums, mit andern Worten : die allmälige Entwidelung ver fittlich-religiöfen 
Anfhauungen und Gultureinrihtungen der Juden bis zur Vollendung des 
ſutlichen Yebens, wie es und in der Perfon Chriftt verkörpert entgegentritt; 
und diefen Entwidelungsgang fol der Lehrer aub in ver Schule vor: 
fübren.*) Die Art, wie Gott die Menfchheit immer weiter zu böberer 
Erkenntniß der Wahrheit geführt hat, ift Herdern die ſchönſte Methode.**) 
Ja der Auswahl und Behandlung der biblifhen Erzählungen empfiehlt er 
große Sorgfalt. „Alles bios Jüdiſche und noch mehr Aergerlihe“ joll ver: 
mieden werden. ***) Ferner fordert er, die kernige Bibelfprahe Luthers folle 
auch in der Schule aufreht erhalten werben. „Unfere Zeit“, jchreibt er 
an Lavater, „hat fih aus einem fonverbaren Borurtbeil, ala wenn ein Find 
und Menfch das Alles nicht verftebe, was es nicht definiren kann, Dagegen 
als orientaliih Gefhwäg verfhworen und will Alles in laue Umſchreibung 
und kalte Definition auflöſen.“ Dadurch gebt aber das Urgepräge des 
Ueberlieferten verloren, und der echte Geiſt verfliegt; denn ber gewöhnliche 
Paraphraft fpriht aus feiner Zeit, mir feinen Anfchauungen,; man bört 
ihn und nit den urfprünglihen Autor. So verſchwindet die lebendige 
Friſche des Driginals, und die Möglichkeit liegt dann nicht mehr fo nabe, 
den Geift deflelben mit dem Zöglinge nadzuempfinden. 7) In den Er— 
zählungen tes alten Teftaments, bebt Herder hervor, finden wir ben 
urwüchfigen Ausdruck der religiöfen Gefühle, wie fie auf eine natürliche 
Weiſe aus dem Volksgeift entfprangen, und erft allmälig im Gewande ver 
hebräiſchen Poeſie zu feiten Glaubensfägen fih ausgebildet haben. Er tabelt 
es, daß dieſe aus Falter Bernunft durch Disputation entwidelt werben, und 
forvert, daß ftatt beffen Scenen aus ber Entwidelung der Menjchheit vor- 
geführt werden mögen, welde dem Gemüthe den Glauben an jene Wahr: 
beiten recht nahe rüden. Diefes Verfahren folle in allen Beweiſen für die 
görtlihe Weltorpuung angewendet werben. +f) Diefer Grundfag wird mus 
bald zu einer weiter gehenden Betrachtung führen. Wie wir bereits wiflen, 
legt Herder auf die Erlernung des Katehismus und auf „Gedächtnißſprüche“ 
(Bibel-Volksſprüche und Kirchenliever), in welchen fittlich - religtöfe Wahr- 
beiten und Lebensregeln ausgeſprochen find, einen großen Werth; gute 
Sprühe und Lieder find ihm der wahre Katechismus des Volkes, den man 


) Ein folder findet ſich ausführlih in ben Briefen über bad Stubium der 
Theologie, als Skizze auch in einem Briefe an Lavater (Herder's Nachlaß IL, ©. 46 ff.). 
**), Brief an Lavater. 
**) Lebensbild II, ©. 199 und Sophron, ©. 239. 
}) Briefe über das Studium der Theologie, ©. 239 f. 
j1) Brief an Lavater. 


30 


nit nur gern ins Gedächtniß faht, fondern aud im Herzen und Gemüthe 
trägt. *) Das Auswendiglernen hält er nur dann für zuläffig, wenn vorher 
für das nöthige Verſtändniß geforgt worden. Dazu follen namentlid Bei: 
ipiele aus der biblifhen und Profan- Geihichte und aus dem Leben, wie 
auch Zergliederungen und Fragen, zunächſt ohne Luthers Erklärungen **), 
das Ihrige beitragen. Im feinen Katechismus hat Herder, wohl der Kürze 
wegen, nur hie und da Beiſpiele eingeftreut; dafür hat aber Horn jenen 
Grundiag in feinem genannten Handbuh im Geifte Hervers confequent 
durchgeführt. 


b. Geſchichte. 


Neben dem Keligionsunterricht reip. der bibliihen Geſchichte fteht als 
Gefinnungsftoff gleichbedeutend die Profan-Geſchichte. „Wenn irgend mo 
menſchliche Gefinnungen herrſchen follen“, jagt Herder, „So iſt's im Felde 
der Geſchichte; denn fie erzählt menfchlihe Handlungen, die den Wertb des 
Menſchen entſcheiden.“ „Der Geift der Gedichte behandelt die Menſchen, 
als unter einem Sittengejeg ftehend, das in ihnen allen ſpricht, zuerft Linde 
warnt, dann härter ftraft umd jede gute Geſinnung durch ſich und ihre 
Folgen belohnt.” Im diefer Beziehung, meint Herder, fei Herodot mufter- 
haft, der unbefangen die Begebenheiten erzähle und bemerfe, wie allent- 
halben nur Mäfigung die Völker glüdlich mache und jeder Uebermuth feine 
Nemefis hinter fi habe. „Diefes Maß ver Nemefis ift der einzige und 
ewige Maßſtab aller Menfhengeihichte. Dede böfe That hat ihre Strafe 
hinter fih, ie ſpäter, deſto jchredliher. Die Schuld der Väter häuft fih 
mit zerfchmetterndem Gewicht auf die Kinder und Enfel; auf ver andern 
Seite wird aber auch jedes Gute belohnt und erhalten; jeder Seufzer des 
Unterdrüdten ftieg gen Himmel und fand zw feiner Zeit einen Helfer.“ 
„Wie milde, wie janft aufmunternd, aber aud wie ernft und zuſammen— 
haltend ift dieſer Geift ver Menſchengeſchichte! Er läßt jedes Bolt an Stelle 
und Ort; denn jeves bat feine Regel des Rechts, fein Maß der Glüd- 
feligfeit in fih. Er ſchont Alle und verzärtelt Keines. Sündigen vie Bölfer, 
fo büßen fie und büßen jo lange und ſchwer, bis fie nicht mehr ſündigen. 
Wollen fie nicht Kinder fein, fo erzieht die Natur fie als Sklanen.“ ***) 

Was die Unordnung des hifterifhen Stoffes betrifft, fo findet pas ſchon 
bei der bibliſchen Geſchichte hervorgerretene Princip feine durchgängige An— 
wendung. Die Gefchichtsreibe, fordert Herder, hat ſich nad dem Cultur— 
fortfchritt zu richten, und der Zögling ſoll mithin durch die einzelnen Stufen 
der Gulturentwidelung hindurch geführt werten. Den hierbei maßgebenden 
Geſichtspunkt weiß ung Herder treffend auseinander zu fegen, wenn er jagt: 
„Die Gefhichte ift nicht eine Geſchichte der Kriege und Könige, nicht ein 
Verzeihnig von Friedensſchlüſſen und Jahreszahlen, ſondern eine Geſchichte 
der allgemeinen menſchlichen ulturentwidelung. In der Geſchichte ſoll nad 
gewiefen werden, wie fid die einzelnen Zweige der Gultur, wie fi die 


*) Anweifung zum Katehismus, $ 5; vergl. bie Anweifung zum Quchfaben: 
und Leſebuch, $ 7. 
**) Anweilung zum Katehismus 1, 2, 3, 5. 
***) Das Ganze ift wörtlich aus dem 121. Humanitärsbriefe entlehnt. 


31 

Biffenfhaften, Künfte, Erfindungen, Sitten u. f. w. allmählig entwidelt 
haben. Durch eine ſolche Reihe ver Eulturentwidelung fällt alſo die ifolirte 
Geihihte von Fürften, Schlachten und Geſetzen weg; Alles vereinigt fih in 
ver Entwidelungsreihe der Menfchheit.*) Im der griehifhen Geſchichte 
„B. foll vorgeführt werden die Bildung der Griechen „zu Kleinen Bölfern 
und Staaten, zu Kiünften und Wilfenfhaften, und zur Tugend des Bürgers, 
der Piebe des Vaterlandes. Alle Begebenheiten, Perjonen, Facta, müffen in 
dies Yicht treten, weil ed das Nützlichſte, Wahre und Einzige ift, was ber 
Knabe begreift.“ Jeder Fortſchritt in der Entwidelung, „jede große Er- 
findung,, Unternehmung und That, jeder Schritt zur Abjhaffung von Miß— 
bräuhen kommt da auf feine Stelle, und fo wird der Berfolg der Geſchichte 
für den jungen Lehrling ein Anblid ver Karte der Menſchheit und des 
durch alle Lafter, Fehler und Zugenden zum Beten ringenden menſchlichen 
Geiſtes.“ **) 

Es fragt fih nun, wie die Öefhichte in Bezug auf den innerjten, fitt- 
lichen Gehalt aufgefaßt und behandelt werden fol! Herder weiß ung 
darüber Bieles zu jagen. Er fragt ſich zunächſt ſelbſt: „Wozu lernt man 
Geihihte? um einen faljhen Glanz anzuftaunen? um Mifjerhaten, vie — 
wer es aud fei — Griechen, Römer, Deutiche, Franken, Kalmuden, Hunnen 
und Tartaren als Menjhenwirger und Weltverwüfter begangen, gevanfenlos 
orer mit knechtiſcher Ehrfurcht hronologiih herzuerzählen? Die Zeiten find 
vorüber. Urtheil, menſchliches Urtheil fol durch die Geſchichte gebilver und 
geihärft werden, fonft bleibt fie ein verworrenes oder wird ein ſchädliches 
Bud. Auch Griechen und Römer follen wir mit diejem Urtheil Lejen. 
Xerander der Welteroberer, der Trunfenbold, der Graufame, der Eitle und 
Alexander der Beihüger der Künfte, der Förderer der Willenichaften, ber 
Erbauer ver Städte, der Yändervereiniger, find in derſelben Perfon nicht 
Eine Berfon, nicht zwei Perjonen von Einem Werth. So mehrere viel» 
fipfige und vielgefichtige Ungeheuer.“ ***) „Die Gejchichte ift ein Spiegel 
ver Menihen und Menfchenalter, ein Yicht der Zeiten, eine Fackel ver 
Wahrheit. Eben in ihr und durd fie, müfjen wir bewundern lernen, was 
zu bewundern ift, und lieben lernen, was zu lieben ift; aber au halfen, 
verachten, verabjchenen lernen, was abſcheulich, häßlich, verächtlich ift, fonft 
werden wir veruntreuende Mörvder der Menjchengejhichte.“ Darum joll 


' *) Pebensbild II, S. 206 fi. Sophron, ©. 241 und 20. Rede. Vergl. aud 
ie 4, Rebe. 

**) Sophron, ©. 243. — Sehr wertbvolle Züge für eine richtige Auffaffung 
der menjchlichen Gulturentwidelung bat Herder namentlidy in feinen „Ideen“ geliefert; 
jo im I. Buch 6. Gapitel, II. Buch 3. Gapitel, im VII. Bud 1. Gapitel, VIIL Bud) 
2. und 3. Gapitel, im IX. Bud 3. und 4. Gapitel (trefflihe Darftellung über die 
Gntwidelung der Regierungsformen), endblih im XV. Bud 3. Gapitel. — Außerdem 
bat er auch in feinem „Grundriß des Unterrichts für einen jungen Abeligen“ (im 
Sophron) die allgemeine Culturentwidelungsreihe einzuhalten geſucht. In ber ganzen 
Auffafjung der Gejchichte hat Montesquieu großen Einfluß auf Herder ausgeübt. 

***) Im 119. Humanitätsbrief macht Herder auch darauf aufmerfjam, daß bei 
der Beurtheilung ein Unterfchiedb zu machen jei, ob ber Ruhm, das Berbienit eines 
Mannes aus der Gunſt des Augenblids hervorgehe oder feit wurzelnd im einheitlichen 
Charakter feinen Urjprung babe, denn in jenem Falle babe man es gewöhnlich mit 
falſchem Schimmer zu thun. 


32 
man im Gefhichtsunterriht „raifonniren“, damit der Schüler „die Engel 
oder Dämonen der Menfhen mit reifem Urtheil kennen lerne”. *) 

Die Richtigkeit dieſer Gedanken, die wir wegen ihrer originellen Be- 
ftimmtheit wörtlich darzubieten für werth hielten, bezweifelt heute Niemand 
mehr. In denfelben fordert Herder entfchieven genug zur Beiprehung und 
Beurtheilung der vorkommenden Willensverhältuiffe auf, gerade fo, wie in 
der bibliſchen Geſchichte. Dean fol ſich alfo nit begnügen mit einem 
biofen Wirkenlaffen des Hiftorifhen und mit der gedächtnißmäßigen An- 
eignung beifelben, foubern fol mit dem Schüler raifonnirende, d. i. ver— 
nünftige Betrachtungen anftellen, damit fein firtliches Urtheil gebilvet werbe. 
Daraus ergeben fi dann, wie in der biblifhen Geſchichte, gewiſſe fittliche 
Örundanfhauungen, gleihfam ethiſche Kryftalle, die ihren wefentlihen Bei— 
trag zum Ausbau des „Katehismus der Menſchheit“ liefern, der fid) mit 
dem Luther'ſchen Katehismus zufammen ſchließen jol.**) 

Bei der Betrachtung der Erziehungsmittel haben wir unter Anderem 
den Gedanken berührt, dag die Gefinnungsftoffe darauf beredinet find, den 
an Wilensverhältniffen befhränkten wirklihen Umgang des Zöglings zu 
erweitern. Bon diefem Gefihtspunft aus betrachtet ift es völlig gerecht— 
fertigt, wenn Herder fordert, ver Schüler folle fo hinein verfegt werden im 
die mannigfahen, eutlegenen Gefinnungen, Handlungen und Begebenheiten, 
als ob er viefelben thatſächlich erlebe. Soll das erreicht werden, hören wir 
Herber weiter, fo genügt ein trodenes Erzählen nicht, ebenfo wenig wie ein 
jtelettartiger Yeitfaden. Lebenpig muß die Darftellung fein, wenn ber 
Lehrer Facta und Perfonen mit voller Klarheit vor das geiftige Auge der 
Schüler zaubern, wenn er mit ihnen hinein in fremde Länber und Völker 
wandeln will. Die Gefhichte muß alfo anfhaulid vorgeführt werben. ***) 
Den Schülern empfiehlt er, Tabellen über die Gefhichtsreihen zu entwerfen; 
ber Lehrer follte folhe von ihnen nah dem Lehrbuhe ausarbeiten laſſen, 
weil fie die Gefchichte mehr ins Gedächtniß prägen, als lange Dictate je 
thun würden. Außerdem fei das eine fehr angenehme Uebung, die ven Kopf 
der Schüler aud für andere Wifjenfhaften aufräume, weil fie gewöhne, Be 
griffe in Ordnung zu fegen und fie in folder zu denken. f) 

In Rouſſeau's „Emil“ finden fit) manche Anklänge an Herder's An- 
fihten über den Gefhichtsunterricht, wie wenn er z. B. beklagt, daß man 
in die Gefhichte blos große Umwälzungen bineinziehe und nur finnlih auf 
fallende und hervorſtechende Thaten aufzeichne, die man durch Namen, Orte 
und Jahreszahlen fefthalten fünne Man laffe die Völker erſt auftreten, 
wenn fie mit Nachbarſtaaten in Conflict gerathen, wenn fie im Fall begriffen 
find. Dagegen verfhiweige man das Emporfeimen unter der Ruhe einer 
friedlichen Regierung und die ftufenweis fortfchreitenden Urſachen der Ereig- 
niffe. Außerdem tavelt Rouffeau die Geſchichtsſchreiber, die ihr Urtheil in ihre 
Werke hineingeflohten und verlangt für den Zögling blos Thatſachen: 
„Beurtheilen joll er fie felbft. Nur dann kaun er Menſchenkenntniß fammeln. 


*) Sophron, 20. Rebe. 

**) Lebensbild IL, S. 202. 

*«**x) Pebensbild IL, ©. 202, 210 f. und Sophron, 1. Rebe. 
7) Sophron, ©. 242, 


33 


Wenn des Berfaflers Urtheil ihn unaufhörlich leitet, fo fieht er nur dur 
das Glas eines Anderen.” Dagegen lobt er die Alten, namentlich diejenigen, 
die am einfachften erzählen. Für einen folhen hält er Thukydides, der aber 
leider zu viel von Schlachten und Kriegen erzähle; dagegen „der gute Herodot, 
ver ohne Malereien, ohne untergelegte Marimen, aber fließend, naiv erzählt 
und in intereffante Einzelheiten eingeht, wäre vielleicht ber befte unter ven 
Sifterifern . . .” *) 


c. Geographie. 


Seine Gedanken über dieſelbe hat Herder in der berühmten Schulrede 
„von der Annehmlichkeit, Nüglichkeit und Nothmwendigfeit des Studiums ter 
Geographie” (1784) mit einem päbagogifhen Scharfblid und mit einer Tiefe 
tes wiſſenſchaftlichen Verftändniffes dargelegt, wie e8 bisher noch nicht ge- 
ihehen war. Im Eingang weift er bie von einem Ungenannten gemachte 
Bemerkung, daß die Geographie ein trödenes Studium fei, zurüd, und er- 
wiedert, daß fie nad feinem Begriffen ebenfo troden fei, wie die Ilm oder 
das Weltmeer, er kenne wenige Wilfenfchaften, die fo reih an nützlichen und 
angenehmen SKenntniffen jeien; jeder wohlerzogene Jüngling ſollte fi) die— 
felben aneignen. 

Um das zu beweifen, will er „ein Feines Gemälde der Materie und 
der Form entwerfen, in der er fie felbft in ven beiten Jahren feines Lebens 
mt dem äußerſten Bergnügen gelernt und mit ebenfo vielem Bergnügen 
Anderen gelehrt habe“. Auh hier wollen wir ihn felbft ſprechen laſſen, 
indem uns nur einige Umftellungen erlaubt fein mögen. 

Die Geographie dient zunächſt der Geſchichte; ohne jene ift dieſe ein 
Luftgebäude; man muß wiffen, wo etwas gefchehen. So wird die Geographie 
zu einer illuminirten Karte für die Einbildungsfraft, ja auch für die Be— 
urtheilungsfraft ; denn nur durch ihre Mitwirkung wird es deutlich, warum 
diefe und feine anderen Völker folde und feine andere Rolle auf dem Schau- 
plage unferer Erde fpielten; warum dies Neid lang, jenes kurz dauern 
mußte; warum dieſe Kegenten bier, jene dort berrfchen fonnten; warum bie 
Monardhien und Reiche fo und nicht anders auf einander folgen, fo und 
nicht anders zufammengrenzen, fi) befehden oder vereinigen konnten; woher 
die Wiffenfchaften und die Eultur, die Erfindungen und Künfte diefe und 
keine andere Laufbahn nahmen, und wie von der Höhe Aſiens durch Affyrer, 
Perfer, Aegypter, Griechen, Römer, Araber u. a. Bölfer enplih ver Ball 
der Weltbegebenheiten und Weltftreitigfeiten jegt hieher, dann dorthin ge— 
ſchoben worden. Kurz, die Geographie ift die Bafis der Gefchichte, und bie 
Geihichte ift nichts als eine in Bewegung gefegte Geographie der Zeiten 
und Völker. Wer eine ohne bie andere treibt, verfteht feine, und wer beide 
verachtet, follte wie der Maulwurf nicht auf, fondern unter der Erde wohnen. 
Die Gefhichte ift das Buch und die Geographie der Schauplag der Haus— 
haltung Gottes auf unferer Welt. Soll nun die Geographie den Schüler 
mit diefem Schauplag vertraut mahen, fo fann und darf fie nicht ein 





*) Emil II, ©. 108—113; vergl. I, ©. 111—114. 
Morres, Herder ald Vädagog. 


ee 


— 


trockenes Namensverzeichniß von Ländern, Städten, Grenzen und Flüſſen 
fein. Das wäre blos eine trodene, aber auch unwürdig behandelte und 
mißverftandene Wortfenntniß, die nicht nur nicht bildend, fondern in hohem 
Grade abjchredend, faft- und Fraftlos wäre. Alle jene Dinge find noth- 
wendige Materialien, aber das Gebäude muß davon erbaut werben, 
fonft find fie Steine und Kalk, d. i. Schutt, an dem ſich fein Menſch freut, 
in dem Feine lebendige Seele wohnt. Die Farben find dem’Maler noth- 
wendig, aber er braudt fie zum Gemälde, alsdaun erft erfreuen fie das 
Auge und unterrichten die Seele. Geographie ift das, was fhon der Name 
biefer Wilfenfhaft jagt: Erpbefhreibung Darum ift vor Allem 
phufiihe Geographie nothwendig. Die Erde, den wunderbaren Schauplag, 
auf den uns die fchaffende Weisheit und Güte zu fegen für gut befunden, 
muß der Schiller „von feiner fihtlihen Situation“ *) ausgehend kennen 
lernen nad) feiner Bodenbejhaffenheit, nad) Producten, Gattungen von Ge— 
ſchöpfen, verfchiedenen Gebräuden, Sitten, Religionen, Regierungsarten. 
Das Alles lebendig und anfhaulic erzählt und unterfudht, wie es in guten 
Neifebefhreibungen dargeftellt wird, erwedt in ver Geele des Schülers leb— 
bhafte Bilder von dem Schauplatz, auf welchem die Helden der Geſchichte 
gewandelt. Im viefer Weife foll die Geographie eine Bilderfammlung 
werben. **) 

Daß die Geographie von der Heimath ausgehen müffe, haben wir 
bereits erwähnt. Herder hat fich fihherlih auch die Schwierigfeiten in der 
methodifhen Behandlung einfacher geographifcher Grundbegriffe zum Be— 
wußtfein gebracht, deutet fie aber blos an und hat ihre Yöfung, zu ber 
Rouſſeau einen guten Anfag gemacht, leiver nicht nievergejchrieben. Er hält 
die Anfangsgründe der Geographie für das Schwerfte und fragt fih: wie 
ih von meiner fihtlihen Situation ausgehe? wie ich eine Inſel, Halbinfel 
u. f. w. in der Natur finde? wie das Alles auf eine Karte fomme? wie 
eine Karte der Welt werde? wie fih Meer und feftes Land im Ganzen 
verhalte? wie Flüſſe und Gebirge werden ? wie die Erbe rund fein fünne? 
wie fie fi) umfchiffen laſſe? wie fie im der Luft ſchwebe? wie Tag und 
Naht werde? Alles das find Probleme, die der Lehrer mit jeinen Schülern 
in ber phyſiſchen Geographie in den erften Schuljahren zu Löfen hat. ***) 

Zum erften geographiſchen Unterricht mögen nod folgende im Sophron 
als Fragment mitgetheilte Bemerkungen, die in mander Beziehung das bisher 
Geſagte beftätigen oder näher beleuchten, ihre Stelle finden. — „In der 
unterften Glaffe fol die Geographie blos naturhiftorifch gelehrt werben. 
Die Hauprftädte, die Namen der Könige und vergleichen bleiben dem Knaben 
noch völlig verborgen. Dafür lernt er blos phyfifhe Geographie, 
d. i. Länder, Berge, Flüffe, Meere, fonderbare Gewächſe und Thiere kennen, 
vorausgefegt die ganze Geftalt und den Bau der Erbe. Er lernt, wo Renn- 
thiere und Elephanten, wo Affen und Kameele find, wo Kaffee und Thee 
wählt, welche Nationen fie holen, wie vie Leute ausfehen, die dort und hier 
wohnen und dergleihen. Die vornehmften diefer Sahen müffen in Kupfern 


*) Lebensbilb II, ©. 204, 
**) Ebenda II, &. 205. 
***) Ebenda I, ©. 204 f. 


35 


gezeigt werben. Die politifhe Geographie wird aber für einmal nicht ge- 
trieben. Die angenehme, faßlihe und für die Kinder fehr lehrreiche Lection 
in der phyſiſchen Geographie wird in der folgenden Claſſe fortgefegt und 
algemah mit der politifhen Geographie verbunden, doch fo, daß 
alles Unverftändlihe und für den gemeinen Mann Unbrauchbare übergangen 
wird. Außer ven Merkwürdigkeiten der Natur in ben verfchiedenen Ländern 
und Welttheilen werden den Schülern von der verjchiedenen Lebensart und 
den Sitten der Bölfer, von ihren Religionen und NRegierungsarten vie 
Kenniniffe beigebradt, die ihnen, eine Zeitung zu verftehen ober einem Ge— 
Irräde von dem, was in ber Welt gefchieht, nicht ohne Schande beizumohnen, 
nöthig find." — 

Wie jehr Herder aud in Bezug auf den geographifhen Unterricht von 
Rouſſeau angeregt wurbe, zeigen vielleicht am dentlichften folgende Stellen 
aus dem Emil: „Bei jedem Studium, es fei auch, welches es wolle, find 
ohne den Begriff von den bezeichneten Gegenftänden die blofen Bezeich— 
nungen nichts. Gleihwohl jhränft man die Kinder immer auf diefe Zeichen 
ein, ohne ihnen jemals etwas von den egenftänden, die dieſe Zeichen 
repräfentiren, begreiflih zu machen. Man glaubt ihnen eine Beſchreibung 
der Erbe zu liefern, wenn man fie die Landkarte kennen lehrt; man lehrt 
fie Namen von Städten, Ländern, Flüffen, wovon fie glauben, daß fie 
nirgend mo anders eriftiren, als nur auf dem Papier. Ich erinnere mid), 
irgend wo eine Geographie geiehen zu haben, welde aljo anfing: ‚Was 
ift die Erbe? Gie ift eine Kugel von Pappe!‘ So ift gerade bie Erb- 
befhreibung der Kinder. Ich bin vollfommen überzeugt, daß Fein Kind von 
schn Jahren, und wenn es zwei Jahre Unterricht in der Sphärif und 
Kosmographie gehabt hat, nach den angegebenen Regeln, fih von Paris nad) 
St. Denis zu finden vermag. Ich behaupte, daß nicht ein einziges im 
Stande fei, nah dem gezeichneten Plane von feines Vaters Garten ben 
Gängen darin zu folgen, ohne ſich zu verirren. Da feht ihr die gelehrten 
Leutchen, die auf ein Haar genau wiſſen, wo Beling, Iſpahan, Merifo und 
alle die Länder der Erde liegen.“ *) Mehr pofitiver Natur ift folgende 
treffende Bemerfung: „Seine (des Kindes) beiden erften geographiſchen 
Hanptpunfte mögen die Stadt fein, woher das Rind ift, und das Yandhaus 
feines Vaters. Darauf folgen die Orte, die zwiſchen beiden liegen, darnach 
die Flüſſe der Nahbarfhaft, enplic die Beihauung der Sonne und das 
Verfahren ſich zu orientiren. Hier ift der Punkt der Wiedervereinigung. 
Es entwerfe fi felbft eine Karte, die anfänglih nur von den obigen zwei 
Orten gebildet wird, zu benen es nad und nad) die anderen hinzufegt...“ **) 
Zur Erweiterung der geograpbifchen u. a. Kenntniffe empfiehlt Rouſſeau auch 
das Reifen und Reifebefchreibungen. Auf diefe Vorſchläge macht auch Herber 
ausprüdlih aufmerkfam.***) 


*) Emil, I. Theil, ©. 110. 

**) Ebenda, II. Theil, ©. 12 f.; vergl. S. 27 f. — Schon Chr. Semler 
(1739) fordert, daß die Kenntniß der nächſten Umgebung, ber Heimath, des Vaterlandes 
vorangebe; „derjelben Kenntniß ift viel nöthiger, als daß man wiſſe, wo in ber Welt 
Dublin, Aftracan und Adrianopel liegt.” (Raumer, Gefhichte ber Pädagogik II, ©, 133). 

**) Debensbilb IL, ©. 206. 

3 


36 


d. Naturkunde und Mathematik. 


In der vorigen Betradhtung fahen wir, wie die Geographie die Grund 
lage der Gefhichte bilden fol. Es entging uns auch nicht, in wie nabe 
Beziehung Herder die Naturkunde zur Geographie fegte. Jeder Landſtrich, 
bebt er hervor, bat feine eigenthümlichen Producte, feine merfwürbigen Thiere, 
die in der Erpbeihreibung niemals fehlen dürfen, weil fie nützlicher und 
wichtiger find als politiihe Betradhtungen. „Das arabifhe Roß, das ägyp- 
tiihe Kameel, der indijhe Elephant u. f. w. find denkwürdigere Symbole 
und Wappenzüge einzelner Länder, als die wandelbaren Grenzen, bie irgend 
ein triglicher Friede zog und vielleidht der erfte neue Krieg verändert. “ *) 
Mit Rüdfiht auf diefe nahe Berührung der Geographie mit der Naturkunde 
ift es begreiflih, wenn Herder die erftere für die Bafis der legteren — 
wie der Geſchichte — erflärt; denn wo von Natur-Producten, -Erſcheinungen 
und -Kräften geſprochen wird, da muß nothwendig ein Schauplag voraus- 
gefegt werben, an ben ber naturfundliche Unterricht anzufnüpfen bat. So 
„erinnert der Berg an Metalle und Steine, an Quellen und Ströme“, ber 
ganze Landſtrich an die auf vemfelben vorfommenven Thiere und Pflanzen. 
„Alles das fügt fih im einander und entwirft in dem Geift des Zöglings 
ein unvergehliches Gemälde voll lehrreiher Züge. Durch die Naturgefchichte 
zeichnet ſich jedes Land, jedes Meer, jede Infel, jedes Klima, jedes Menſchen— 
geihleht, jeder Welttheil bei ihm mit unverlöfhbarem Charakter aus, um 
fo mebr, da dieſe Charaftere beftändig find und nicht mit dem Namen eines 
fterblihen Regenten wechſeln.“**) So hat die Naturkunde ihre Objecte aus 
der Geographie zu holen, freilich nicht ausschließlich; Ausgangspunfte fünnen 
aud die hiftorifchen Stoffe bieten. Natürlich ift Herder nach dem ſchon früher 
Bemerkten weit davon entfernt, gleich anfangs fremdländiihe Dinge heran 
ziehen zu laffen, wo bie Heimarh mit ihren Objecten fo nahe liegt. Er 
fordert ausdrüdlich, die Naturgefchichte des zunächſt Liegenden gehe voran***), 
und biefen Grundſatz brachte er auch im Seminar, wie ber genannte Be- 
richt jenes Lehrers beweiſen dürfte, zur Geltung. Für die erfte Zeit 
empfiehlt er zunädft „alle merkwürdigen Sachen, die man täglich braudıt 
und fieht und nicht Kennt, Kaffee, Thee, Zuder und Gewürze, Bier, Wein, 
Brot u. f. w.“, überhaupt die gemeinfamen Bebürfniffe des Yebens und die 
Thiere, die das Kind fo Tieb hat.}) In den naturfunblihen Unterricht 
follen ſich auch Künſte, Handwerkfe, Erfindungen u. f. w. einfchlingen, da fie 
mit der Natur in naher Beziehung ftehen. +) Daß dabei die Naturlehre 
eine reiche Ausbeute findet, braucht faum erinnert zu werben. 

Herder dringt bei allem naturkundlichen Unterricht mit allem Nachdruck 
auf Anjhauung. 


*) Sopbron, 6, Rede, 
**) Ebenda. 
***) Lebensbild II, ©. 197. 
+) Ebenda II, ©. 197. 
Tr) Ebenda II, ©. 19. 


37 


Es müfjen lebendige Sahen und Kupfer zu Hilfe genommen werden *), 
wie aud die Narturlehre durch Experimente, durch eigene Erfahrung vor— 
bereitet fein muß.*) Es miüflen die Werfftätten der Handwerfer und 
Künftler befucht werben. ***) Dabei fol ver Yehrer nicht mit Worten über 
die vorliegenden Dinge ſprechen, ſondern foll fie durch die Schüler anfhauen 
und erklären laſſen.x) „Welde Wetteiferungen! melde Revolutionen in 
der Seele des Knaben! welche Erregung von unten auf! Eifer, nicht blos 
academiſch todter Erklärungen, fondern lebendiger Kenntniſſe; das erwedet 
die Seele. Das giebt Luft zu lernen und zu leben: das hebt aus der 
Einfhläferung der Sprade; .. das läßt ſich anwenden, das bildet auf Zeit- 
lebens.“ +7) „Ein Schüler, der von Künften und Handwerken ohne lebendige 
Anſchauung jhwagt, ift noch Ärger, als der von Allem nichts weiß.“ 1) 
„Es wird Hauptzwed, dem Knaben von alle dem lebendige Begriffe zu 
geben, was er fieht, fpricht, genießt, um ihn in feine Welt zu fegen und 
ihm den Genuß auf feine ganze Lebenszeit einzuprägen. Mit einem folden 
Anfange wird er nie der Wiſſenſchaften, nody weniger des Lebens überdrüſſig 
werben, nie feine Schulzeit beflagen. Ein foldhes Verfahren verſchließt auf 
immer ven faulen moraftigen Weg, auf Wörter, Bücher und Urtheile Anderer 
ftolz Hinzutreten und ewig ein ſchwatzender Unwiffender zu bleiben. * F*) 

Auf feiner Seereife, wo Herder jo ganz den Einprüden der Natur 
bingegeben war, beflagt er, daß feine Jugenbbildung gerade in dieſer Be- 
ziehung große Mängel zeig. Er wünſcht fih mit reellen Wiſſenſchaften 
mehr bejhäftigt zu haben; jo wäre er nicht ein „Zintenfaß von gelehrter 
Schriftſtellerei“, nit ein „Repertorium vol Bücher und Hefte‘, nicht ein 
„Wörterbud von Künften und Wiffenihaften“ geworden, vie er nicht geſehen 
babe und die er gar nicht verftände. **) MUeberall wolle er vie Naturſachen 
und Inftrumentenfammlungen fennen lernen und dann nad feiner Rücklehr 
Alles aufbieten, um die Nutbarkeit und Unentbehrlichkeit folder Sachen des 
Anihauens zu zeigen; er will das Elende ver Worterzählungen beweifen 


*) Lebensbild II, S. 197.- 

**) Ebenda II, S. 203; vergl. S. 163. — Emil II, ©. 21 f. und 62 f. 

**) Ebenda II, ©. 214; nad Roufjeau fol auch Emil die Werkſtätten ber 
Künftler und Handwerker bejuhen und aud Hand an's Werk legen, ja ſogar ein 
Handwerk erlernen (II. Theil, S. 34 und 52), 

7) Ebenba II, ©. 163, 

yr) Ebenda II, ©. 198 f. und I, 1. Abtheilung, ©. 45. 

trf) Ebenda II, ©. 198. 

7*) Ebenba II, ©. 199 f. — Im ber Forderung und Würdigung des Studiums 
ber Natur war Herder mit Rouſſeau durchaus einverjtanden und juchte allen derartigen 
Unterricht mie diefer auf lebendige Anjhauung zu begründen. Ueberhaupt begegnen 
gerade hier wiederholt Anflänge an ben Emil. So jagt ſchon Rouſſeau: „Ich haſſe 
die Bücher, man lernt aus ihnen über Dinge jprechen, bie man nicht verſteht“ (II. Th., 
&. 32); ferner: „Ich ermübde nicht, e8 zu wiederholen, daß ihr der Jugend ben Unter: 
tiht mehr in Thaten als in Worten ertbeilen müßt. Was fie aus der Erfahrung 
lernen fönnen, jollen fie nicht aus Büchern lejen“ (II. Th., ©. 128 f.). „Saden! 
Sachen! ich kann es nicht oft genug wieberholen, daß wir den Worten zu viel Gewalt 
einräumen. Mit unferer ſchwatzhaften Erziebungsweife bilden wir nichts als Schwätzer!“ 
MI. Th., ©. 25 f.). BVergleihe dazu bie vielen (allerdings vielfach dem bloien Nütz— 
ligfeitsprincip fröhnenden) naturfundlichen Erperimente im Anfang des II. Theile. 

f**) Ebenda II, ©. 158. 


38 


und nicht ruhen, bis die Schule einen Schag von Inftrumenten und Natu- 
ralien befigt.*) Wiederholt empfiehlt er auch Bilder zur Benügung**), an 
einer Stelle jedoch mit der richtigen Bemerkung, daß fie nur ein bürftiger 
Norhbehelf find für Dinge, die man in der Wirklichkeit nicht betrachten 
fann. Wer blos das Bild der Sache bat, jagt er, kann aud und zwar 
fehr angenehm biscuriren; Bild aber ift einmal nicht Sade; vom Bilo 
biscuriren und genofjene Wahrheit anjhauen, ift nicht daffelbe.***) Ganz 
unerbittlic aber ift Herber gegen die Worterzählungen, gegen ben jogenannten 
Berbalrealismus und das Operiren mit abftracten, unverftandenen Begriffen. f) 
Bon biefem Standpunkt ausgehend hat er auch jenem idealen Schulplan des 
Jahres 1769 entworfen. In jeder der drei Claſſen unterfheidet er drei 
Stufen, die das allmählige Auffteigen vom Concreten zum Abftracten fenn- 
zeichnen: 1) die naturfundlih-mathematifche, 2) die hiſtoriſch-geographiſche, 
3) die religiös = philofophifche. +7) 

Ueber Mathematit bat Herder nur wenige fragmentarifche Bemerkungen 
niebergeichrieben, die wir hier in freier Zufammenftellung wiedergeben wollen. 
Herder will, daß die Mathematit mit der Naturfunde, namentlih mit der 
Phyſik in Verbindung gebracht werde, ebenjo mit der Geographie, da die 
Geometrie dem Verſtändniß der Karten nothwendig zu Hülfe fommen müfje.trr) 
Das Zeichnen empfiehlt Herder als ein hervorragendes Bildungsmittel zur 
Geometrie: „Durch daſſelbe befommt der Schüler Verhältniſſe in's Auge, 
Veftigkeit in die Hand, Proportion in die Seele, wenn er aud tie Schärfe 
der Demonftration noch nicht, oder nicht immer begriffen.“ „Ye mehr bie 
Knaben hübſche Zeichnungen machen, deſto mehr wird fi ihre Luft ver: 
mehren, deſto mehr befommen fie auch Augenmaß, Geſchicklichkeit in die Hand 
und lernen zugleich die praftifche Anwendung zu allerlei Dingen des Lebens.“ 
Nach folhen Vorübungen können die Schüler in der Geometrie, die an 
Körpern auſchaulich und begreiflich gemacht werben muß, zu Schwierigeren 
geführt werden. Die Geometrie bringt auf Beweisfraft in Verbindung und 
Folgerung folder und nicht anderer Site Man muß fih da alfo hüten, 
daß diefe Wiflenfchaft nicht blofes Gedächtnißwerk werde; die Schüler follen 
vielmehr angehalten werden, in den innern Zufammenhang der Sache ein: 
zubringen und foweit e8 möglich ift, ſelbſt zu erfinden. T*) Ein foldyes Ber: 
geben fhärft ven Verſtand und pflanzt in die Schüler das Streben ein, in 
allen Dingen fo gründlich zu verfahren +**), und feine Aufmerkjamteit auf 
abftracte Wahrheiten zu richten, wozu die Mathematik überhaupt mehr als 
irgend ein anderes Studium geeignet ift. T**”) 


*) Lebensbild II, S. 203 f. 
**) Ebenda II, ©. 197, 204 und Sophren, ©. 242. 

**x*) Sophron, 24. Mebe. 

Tr) a. a. O. und Lebensbild II, S. 318, 325 xc. 
+f) Lebensbild IL, ©. 218 f. 
rt) Ebenda II, ©. 206 und 199. 
+*) Sopbron, ©. 245 f. 
7**) Ebenda, 20. Rebe. 

***) Ebenda, 9. Rebe. — Ueber Arithmetif fcheint ſich Herder nirgends bejonbere 
ausgefproden zu baben. Im Buchitaben- und Leſebuch, das für das erite Schuljahr 
beſtimmt war, fleben auf der eriten Seite unten bie Zablen 1— 20, dann in Zehnern 
bis 100 und die Zahl 1000, auf ber legten Seite das Einmaleins, Dazu bemerkt 


39 


e. Deutſche Sprache. 


Mit pfychologiſchem Scharfblid weift Herder auf die Nothwenpigfeit 
einer forgfamen Pflege der Mutterfprahe; denn fie ift es, die fih uns 
zuerſt im Gemüth eindrückt und fi gleihjam mit den feinften Fugen 
unferer Empfindlichkeit” ausbildet. Alle Bilder, die in den erjten Jahren 
unferes Lebens in unferer Seele fi) ausprägen, ftehen im innigften Zu— 
ſammenhang mit den Worten, die ihnen zum erften Dale al Zeichen dienten; 
und dieſe urfprüngliche Verbindung ift darum auch bie innigfte, welche vie 
Grundlage für alle fpätern und fremden Eindritde darbietet. Für die fremden 
Sprachen zumal ift die Mutterfpradhe derjenige Leitfaden, der in bie große 
Mannigfaltigkeit derfelben Einheit bringt; „unfer Geift vergleicht insgeheim 
alle Mundarten mit unferer Sprache“. Mithin muß die Pflege der Mutter- 
Iprabe dem lateinifchen Unterriht voran gehen.*) Herder weift auch darauf 
bin, daß die Worte, die blofe Zeichen find, niemals für ſich, ſondern fters 
nur im Zufammenhang mit den Sachen gelehrt werben bürften, welde fie 
ausdrücken. Nie darf Eins vom Andern getrennt werden. Dadurch erfpart 
man fih Zeit und Mühe; beide fünnen auf Einem Wege erlernt werben ; 
der Unterricht in den Sachgebieten wird hiernach zugleih die Sprache bilden, 
und dem Spradunterricht follen ebenso ftets beitimmte Gevanfen und Sachen 
zu Orunde liegen. Dadurch ift dem Unterricht in der deutſchen Sprade 
unter den übrigen Schulwiffenfchaften eine ganz beftimmte Stellung zuge— 
wiefen ; er geht in denfelben nicht vollftändig anf, fleht aber auch nicht ifolirt 
da, fondern fließt fih an alle und zunächſt an die jahlichen Fächer an. 
Siftorifches, Geographifches ıc. wird in den Spracdhunterriht aufgenommen, 
bearbeitet und in furzen Zügen aufgefchrieben. Nur dadurch wirb geforgt 
für Reihthum der Gedanken, Wahrheit der Darftelung, Lebhaftigfeit und 
Evidenz in Gefhichten und Gemälden, für Stärke und natürlihe Empfindung 
in der Vorführung der aus der Natur und Menfchenwelt entlehnten Ver— 
bältmiffe. Darum follen in biefem Unterricht namentlid auch eigene Er- 
fahrungen und Erlebniffe ſprachlich bearbeitet werben. **) — Herder bringt 
bei allem Unterricht auch auf Deutlichkeit im Gebraud der Rede und Sprade; 
denn „die Rede ift ein treuer Ausdruck der Seele, ein barftellendes Bild 
unferer Gedanken und Empfindungen ; fie muß alfo Charafter haben und 
nicht Tönen gleich fein, die man hinter dem Stege hervorgeiget*. Der reine 
„Zon des Herzens und ber Weberzeugung“ muß in ber Rede zum Ausprud 
gelangen ; dazu gehört aber vielfache Uebung, die von frühefter Jugend auf 
angeftellt werben muß und zwar zunädft im Umgang mit andern Perfonen. 
Hier gielt es, auf correcte fehlerfreie Ausſprache zu achten, verftändig, artig 
und beftimmt zu reden und anmuthig, abgerundet zu erzählen; baran er— 
leunt man den Wohlgefitteten und Gebilveten. Ganz beſonders aber hat 


Herder in der Anweifung: Der Lehrer thut wohl, wenn er jene (1—1000) dem Kinde 
gleih nad den Buchitaben befannt macht und während bes Gebrauches dieſes Buches 
ihnen die drei erftien Species im Spiel beibringt, und mit bem Einmaleins bahnen 
fih die Schüler den Weg zum weitern Rechnen. 

*) Lebensbild I, 2, Abtheilung, S. 151—162. 

**) Ebenda IL, ©, 222 f. u. 320; Sophron, 17. Rede und Fragmente II, ©. 50, 





40 


die Schule e8 fi zur Aufgabe zu machen, diefe Kunft der Rede und Sprade 
auszubilden. Als ein fehr geeignetes Mittel dazu. empfiehlt Herder das 
„Leſen mit Berftand und Herz, den lauten und lebendigen Bortrag jeder 
Urt“. „Das, was wir in unferer Sprade fowohl in. eigenen Productionen 
als Ueberjegungen haben, follte in jeder wohl eingerichteten Schule laut ge— 
lefen und gelehrt werben. Kein Haffiiher Dichter und Profaift folte fein, 
an deſſen beften Stellen fih nicht das Obr, die Zunge, das Gedächtniß, die 
Einbildungstraft, der Verftand und Wig lernbegieriger Schüler geübt hätte. * 
Wie die Griechen den Homer auswendig gelernt, die Römer die beften griedi- 
ihen Schriften ſich angeeignet, die gebilveten Italiener Arioft und Taſſo, die 
Engländer ihren Milton und Shafespeare verehrt und zum Theil fi ein— 
geprägt, fo ſollen aud in Deutfhland Uz, Haller, Kleift, Klopftod, Leſſing 
und Winkelmann gelejen und ftudirt werben. „Kein edles Bild, Feine große 
Gefinnung, Aufmunterung und Warnung, wenn ed mufterhaft gedacht und 
gefagt ift, follte blos in unfern deutſchen Büchern und Bibeln ftehen, 
fondern in den Schulen follten, wie auf der Tenne das Korn von der Epreu 
gefichtet, jedes Edelfte und Befte laut gelefen, auswendig gelernt, von Yüng- 
lingen fidy zur Regel gemacht und in Herz und Seele befeftigt werben. Dies 
laute Leſen und auswendige Vortragen bildet niht nur die Schreibart, 
fondern es prägt auch Formen der Gedanken ein und weckt eigene Gedanlen; 
e8 giebt vem Gemüth Freude, der Phantafie Nahrung, dem Herzen einen 
Borgefhmad großer Gefühle und erwedt, wenn dies bei uns möglich ift, 
einen Natienaldarafter.” *) 

Zum guten Lefen, Memoriren und Vortragen kommen dann fchriftliche 
Uebungen, Auffäge aller Art, Auszüge aus den werthvollften Büchern und 
eigene Compofitionen. Die Feder ſchärft den Verſtand, berichtigt die Sprade, 


*) Welch folgenreihen Einfluß Herder's geniale Einfiht in das Weſen und ben 
Urfprung der Volkspoeſie auf den Entwidelungsgang ber deutfchen Literatur ausgeübt 
bat, ift befannt. Es mag bier blos angebeutet werben, daß aus ber reihen Fundgrube 
dieſer Errungenſchaft auch die Schule, namentlich feit der Herausgabe von „bes Knaben 
Wunberborn“, von Ubland’s volksthümlichen Liedern und Balladen und feit ben ver: 
bienftvollen Arbeiten der Brüder Grimm, vielfach geihöpft bat und auch fortan zu 
jenen ewig frifchen Quellen wahrer Empfindung zurüdfehren muß. Unb wenn es fich 
um Berwertbung und Behandlung der Volfspoefie im Unterricht handelt, fo giebt uns 
nr in wenigen, inhaltsfchweren Sägen bie ficherfte Belehrung: „Ihre (ber Völker) 

ejänge find das Archiv des Volks, der Schatz ihrer Wifjenfhaft und Religion, ibrer 
Theogonie und Kosmogonien, ber Thaten ihrer Väter und ber Begebenheiten ihrer 
Geſchichte, Abdrud ihres Herzens, Bild ihres häuslichen Lebens in Freude und Xeid, 
beim Brautbett und beim Grabe... . Da malen fi alle, ba erfcheinen alle, wie 
fie find, Die kriegeriſche Nation fingt Thaten, die zärtliche Liebe. Das fharffinnige 
Volk macht Näthjel, das Volk von Einbildung Allegorien, Gleihniffe, lebendige Ge— 
mälde. Das Volk von warmer Leidenfhaft fann nur Leidenſchaft, wie das Volf unter 
ſchrecklichen Gegenftänden ſich auch fchredliche Götter dichte.“ Dichtungen von foldem 
Anhalt können dem culturgefhichtlihen Unterricht (im weiteiten Sinne des Wortes) 
nicht genug empfohlen werden, zumal ba fie „von Allem einen anſchauenden Begriff“ 
geben, und auch Vilmar bebt in feinem trefilichen „Handbüchlein für Freunde bes 
deutſchen Volksliedes“ (S. 64) mit Recht hervor, daß beifpielsweije biftorifche Volks: 
lieder eine lebendigere Anfhauung von Greigniffen und Zuftänden gewähren, als bogen= 
lange Beſchreibungen zu thun vermögen. ine jolde Auffafjung der Volkspoefie führt 
dann von felbft auf die richtige Erklärung derfelben, welche vor Allem den individuellen 
Boden bloß legen wird, aus weldhem „die Blumen ber Eigenbeit“ und Gefchichte des 
Volkes emporgewachſen find. 


41 


entwidelt Ideen und macht die Seele auf eine wunderbar angenehme Weile 
thätig. Nulla dies sine linea jet darum der Wahlſpruch einer jeven Schule. *) 

Da bisher über Herders „Buchſtaben- und Leſebuch“ keinerlei Mit- 
theilungen gemacht worben find **), pas Büchlein überhaupt wenig befannt 
zu fein fcheint, jo wollen wir uns bier auf vaflelbe näher einlaffen, indem 
wir dadurd zugleich einen Kleinen Beitrag zur Geſchichte diefes Gegenftandes 
zu liefern glauben. 

Die Anweifung zu diefem Buchſtaben- und Leſebuch beginnt folgender- 
maßen: „Jeder verftändige Schullehrer wird duch eigene faure Mühe be- 
merkt haben, daß das gewöhnlihde ABE-Budh, das aus den Hauptftüden 
des Katechismus beitand, ganz und gar nicht für die erften Anfänge des 
Leſens ſei. Die fchwerften Worte: geheiliger, Benebeite und vergleichen 
lommen gleih auf ven erften Seiten vor: die Kinder verftehben nidhts von 
dem, was fie buchftabiren und leſen, fie lernen es alfo ohne Luft und Yiebe, 
ja mit einer täglihen Qual. Keine von allen den Wörtern, die im ge: 
meinen Leben und aud im Schreiben am meiften vorfommen, fteht in ihrem 
Buchftabirbud, und das Kind finder fi alfo bei jedem andern Bud) jo un— 
erfahren, als ob es noch gar nicht lefen gelernt hätte. Gegenwärtiges Bud: 
ftaben- und Leſebuch wird diefen Mängeln großentheils abhelfen und jowohl 
ven Lehrer, ald dem Schüler feine Arbeit erleichtern. * 

Auf Seite 1 läßt Herder die Reihe der Heinen Buchſtaben nicht unter- 
Ihiedslos auf einander. folgen, weil fie in diefem alle auf das ungeübte 
Auge des Neulings einen verſchwommenen Eindrud ausüben würde, fondern 
er trennt je drei oder vier Buchſtaben durch ftarfe Beiftriche von den übrigen. 
Auf derjelben Seite ſtehen noch für ſich abgefondert die einfachen, dann bie 
Toppelvocale und endlich das große ABE. Dazu giebt Herder $ 1 folgende 
Anweiſung: „Der Lehrer thut wohl, wenn er viefe Rubepunfte beobachtet 
und Anfangs das Kind nicht überhäuft. Es befommt mit diefen Abfügen 
ein gewiſſes Maß ins Ohr, und da die Buchſtaben allefammt willkürliche 
Zeihen find, fo wird damit dem Gedächtniß fehr geholfen. Sodann wird 
ter Lehrer Sorge tragen, daß der Schüler die Buditaben auch außerhalb 
der Ordnung erfennen, die Aehnlichkeiten, Unterjchiede und die Doppellauter 
aud tem Schall nah vernehmlih ausjprehen lerne. Denn nachdem fid) 
der Mund früher gewöhnt, nachdem bleibt die Ausſprache lebenslang.“ 
Von dieſem Geſichtspunkt ausgehend ftellt darum Herder aud auf Seite 2 
die einfachen Silben mit ähnlihen Confonanten zufammen, damit der Ver— 
wehelung derſelben vorgebeugt werde. Freilich kann dieſer Gefahr nur 
dann mit Erfolg vorgebeugt werden, wenn man an Stelle folder finnlofer 
Eilben ähnlich lautende, mit einer beftimmten Bedeutung verknüpfte Worte 
von verfchiedener Schreibart neben einander ftellt, damit gerade der Sinn 
u einem unterftügenden Beziehungspunft für die Drtbographie werde. 
Hievon macht Herder nur auf fpäteren Seiten Gebraud. In 8 9 der An— 
meilung fordert er, der Lehrer folle beim Syllabiren die Buchſtaben jelbft 
nennen, welde dann von den Schülern zufammengefegt werden. In ber 


— 





) Tas Ganze iſt aus ber höchſt lehrreichen Rede: Von ber Ausbildung der 
Rede und Sprache in Kindern und Zünglingen, 1796, entlehnt (Sophron, 17. Rebe). 
**), Ginzelne Gedanfen darüber im Sophron, S. 257 j. 


42 


Buchſtabirmethode wurde es fonft umgekehrt gehalten: der Schüler follte die 
Buchſtaben ausfpreben, die dann zunädft vom Lehrer vereinigt und vom 
Schüler nachgeleſen wurden. Jene Uebungen follten aud ohne Bud vor- 
genommen werden. Auf Seite 3 ftehen vie Declination des Artifeld, die 
vier Cafusfragen nebft Antwort mit dem Artikel, die Declination von Bater, 
Mutter, Kind, ich, du, er, woran fich eine furze Reihe von anderen Perfonen- 
bezeihnungen ſchließt. Seite 4 und 5 enthalten die Conjugation der Hülfs- 
und anderer Berben in ihren gemöhnlicheren Zeitformen. Darüber giebt 
8 3 folgende Winfe: „Die Nomina und Verba ftehen nicht dazu da, damit 
das Find die Grammatik lerne, vie für dafjelbe noch nicht gehört, ſondern 
weil fie die leichteften Silben und ven Grund der ganzen Sprache enthalten. 
Da einerlei Worte bier oft vorlommen, fo wird das Kind diefe Seiten im 
leichteften Spiel lernen und fih froh dünken, daß es ſchon fo viel kann. 
Und da das ABC-Buch infonderheit laut getrieben im Gedächtniß bleibe, 
fo hat es damit becliniren und conjugiren gelernt, ohne daß es weiß, was 
conjugiren und becliniren heißt. Der Lehrer kann nad den verjchiedenen 
Abſchnitten die Ordnungen feiner Claſſe jo abwechſeln lafien, daß fie gleichſam 
in ſtetigem Wetteifer find und die ganze Claſſe dieſe Lection mit Aufmerk— 
ſamkeit betreibt.“ Seite 6—8 ſtehen Hauptwörter unter beſtimmten Ueber— 
ſchriften und rhythmiſch geordnet; ſo z. B. Bäume des Waldes, Baumfrüchte 
u. a. naheliegende Dinge, ebenſo die Jahreszeiten, Monate, Tage, Welt: 
gegenven u. |. w. Diefe Uebungen begleitet Herder in $ 4 mit folgenden 
Worten: „Es folgen einige Seiten von Namen der Dinge, die im gemeinen 
Leben am meiften vorkommen und bei denen das Kind aud ſchwerere Wörter 
zufammenfegen lernt. Der Lehrer wird hier einen gewiffen Rhythmus be 
merken, der zum Lernen überhaupt und infonderheit, wenn Viele gemein: 
ihaftlih Eine Arbeit treiben, die Mühe fehr erleichtert. Auch hier möge 
der Lehrer abwechſelnd leſen laffen, damit er die ganze Claſſe gleichſam im 
Tact und in der Aufmerkjamkeit erhalte.“ Nah $ 6 fol das Schreiben 
mit dem Lejen jobald als möglich verbunden werben, weil Eins dem Anderen 
hilft, und das Kind wird fo nicht nur durch die Abwechfelung, ſondern noch 
mehr durd die Uebung, indem es fiehet, daß es aud etwas thun kann, 
angenehm aufgemuntert.*) Das a b ab, vie Berba und Nomina fchreibt 
der Lehrer auf die Wandtafel vor und läßt die Kinder nachſchreiben; oder, 
wenn fie foweit find, giebt er ihnen andere Verba vor, die fie auf bie 
Schiefertafel oder Papier ſelbſt fchreiben, und fo lernen fie abermals vecli- 
niren und conjugiren, ohne daß fie wiffen, was ein Cafus oder Tempus fei. 
Bei dem Nominibus müſſen fie auf die Fragen: Wer? Was? bei dem Verbis 
auf die Hilfswörter: ich bin, ich war, ich habe, ich hatte, merken, und fo 
muß ihnen almählig das eigene Schreiben ein Spiel werben.“ Auf Seite 9 
fiehen einfache Säge wit Thätigfeiten und Eigenfhaften von Thieren; auf 
Seite 10 und 11 ähnlih lautende Hauptwörter (Bär, Beere) und Zeit: 
wörter (ich leide, ich leite) im ihren Hauptformen untereinander, damit fie 
von ven Schülern in der verfhiedenen Schreibart unterſchieden werben. 
Auf derfelben Seite kommen zur Uebung befonders die Imperfecta in ein- 
fahen Sägen zur Anwendung. Die Seiten 12—14 enthalten Bibelfprüde, 


*) Sopbron, S. 237. 


43 


Kirhenlieder und volksthümliche Sprüche in kurzen Zeilen; dazu finden ſich 
in $ 7 folgende Begleitworte: „Die Sprüde find deshalb abgeſetzt, damit 
das verhaßte Singen aus den Schulen, das meiftens den Vorſtand zerreißt, 
verhindert werde.*) Hier find, fofern es der Raum erlaubte, die Abfäge 
nah dem Berftande bezeichnet, wonach fi der Lehrer und Schüler zu richten 
baben, im Lefen ſowohl, als aud im Schreiben. Zugleich hat ver Lehrling 
mit diefen Sprüchen die fhönften Gebote und Sittenlehren gefaßt, die ibm 
auf fein ganzes Leben lieb fein werden.* Zur Würdigung berjelben tft das 
Nöthige bereits geſagt. — Auf Seite 15 ftehen einfache, der kindlichen 
Faflungsfraft völlig angemeffene innige Gebete, diesmal ohne Trennung ber 
Silben, weil, wie Herder bemerkt, ein Kind auf biefer Stufe endlich jo weit 
fein muß, daß es das Abrheilen jelbft beforgen kann. Im dieſer Beziehung 
unterfcheivet fih das Buchftaben- und Leſebuch fehr vortheilhaft von Baſe— 
bow’s „Heinem Buch für Kinder aller Stände”, in weldem zwiſchen ven 
Eilben Beiftrihe und zwifchen den einzelnen Worten PBarallellinien angebracht 
find, die nicht nur gar feinen Zwed haben, fondern aud von ftörendem und 
verwirrendem Einfluß fein müffen. 

Bom heutigen Standpunkt der Fibellunde wäre es ein Leichtes, über 
Herder’ 8 Buchſtaben- und Lefebuh ven Stab zu breden. Das kann uns 
nit einfallen. Herder's Vorzüge find ihm eigen; die Fehler des Buches 
bat er mit feiner Zeit gemein; er gehört noch dem Buchftabenmerhodenzeit- 
alter an, erft 1804 beginnt mit Stephani das Lautiren (obwohl viejes 
ihon Balentin Idelfamer in feiner „Zeutfhen Grammatica“ (1531) 
und noch einige Yahre früher in feiner verloren gegangenen Schrift: „Bon 
der rechten weys leſen zu lernen“ gelehrt hatte)**), und Bogel verwirft 
fpäter ganz mit Recht den mit finnlofem Lautiren beginnenden Yejeunterricht 
und führt die Normalwörter ein, die noch heute in mannichfachen Motifica- 
tionen die Herrichaft behaupten. 


f. Alte Spraden. 


In feinen Studien war Herber von Jugend auf mit befonderer Vor— 
fiebe den claſſiſchen Völkern des Alterthbums, den Griehen und Nömern 
jugewendet, die er in ihrem Geifte und in ihrer Zeit zu erfennen und 
zu erflären unermüdlich beftrebt war. „Er fuchte Grieche zu fein mit den 
Griehen und Römer mit den Römern.” Mit der Gewalt ihrer Schönheit, 
Zarıheit und Wohlorbnung, mit ihrer verflärten Humanität hatten fie fein 
Herz an ſich gezogen, und fo waren fie ihm nah und nad eine Geſellſchaft 
von Freunden geworben, deren Umgang er über Alles Liebte.***) Unp in 
diefen verebelnden Umgang fuchte Herber aud die Schüler des Gymnafiums 
einzuführen, damit fie den Muftern alles Guten, Edeln und Schönen nad 
ftreben und dadurch das Gefühl der Humanität, die Wahrheit und das 


*) Herber meint natürlich das gebankenlofe erg in einem fingenden Ton. 

*) Raumer, Geſchichte der Pädagogik III, 3 f. — Ausführlihere Mit: 

theilungen über Ickelſamer's u enthält das „Allgemeine Schulblatt für Volks— 
und Mittelfhulen*. 1875, 6. Heft, ©. 330—332. 

”**) Danz, 3. G. von Herber’s Anfichten bes claffifhen Altertbums, 1805, Vorrebe. 


44 


Schöne im Sinne der ten mit hinüber nehmen möchten in alle ihre 
Wiffenihaft und Kunft.*) 

Wir fehen und haben uns aud ſchon früher überzeugt, wie Herber 
fein Hauptaugenmerk im Studium der Alten ganz im Geiſte des von ihm 
hochgeſchätzten 9. M. Gesners auf den würdigen Inhalt, auf die in den 
beften Schriftftelern enthaltenen Gedauken richtet. Darum fordert er auch, 
es jollten im Gymnaſium nicht Wortfrämer, fondern römische und griechiſche 
Sachgelehrte gebildet werben; nur jo könnten Yünglinge die Blume des 
Alterthums in Dichtkunſt, Geſchichte, Kunft und Weisheit erfühlen und 
fennen lernen. Schon in feiner Sturm und Drangzeit fümpft Herber 
energiſch an gegen die damals herrſchende, geiftlofe unterrichtlihe Behanplung 
der claffifhen Spraden; die bloße Form hatte zu ſehr das Uebergewicht 
über den Inhalt erlangt und wurde in einer Weiſe cultivirt, als ob fie ber 
Zwed und nicht vielmehr blofes Mittel zum idealen Zwed wäre Im dieſem 
Sinne jagt Herder: „Sobald man es zu einem legten Zwed macht, latein 
zu lernen und dieſe an fi) fo angenehme und nüglihe Sprache nicht bios 
als Mittel gebraudt, um durch fie Gefchichte zu lernen, in den Geift großer 
Männer zu bliden, fo wird den Mufen Latiums zu viel Raum im ben 
Schulen und zu viel Antheil an der Erziehung gelaſſen. .... Seufzen muß 
der Menfchenfreund, wenn er fieht, wie in ven Schulen, die mit dem Namen 
Iateinifher Schulen prangen, die erfte junge Luft ermüdet, die erfte friſche 
Kraft zurüdgehalten, das Talent im Staub vergrabeh wird, bis es wie eine 
zu lange zurüdgehaltene Fever feine Krafı verliert.“ **) Den öden Zuftand 
einer Grammatiſtenſchule und die traurigen Früchte derſelben ſchildernd, ruft 
Herder zu bderfelben Zeit aus: „Weg Grammatiken und Grammatiter ! 
Mein Kind fol jede Sprade lebendig und fo lernen, als ob es viefelbe 
felbft erfände.“ ***) Darum empfiehlt er für den erften lateinifhen Unter— 
richt leicht verftändliche Autoren, wie C. Nepos, in denen lebendige Sachen, 
Charaktere und Facta befprohen werben; mithin darf die Sprade nad) 
Herder nicht aus der Grammatik, fondern umgekehrt muß dieſe aus ben 
Autoren erft abftrahirt werden. Ebenfo foll e8 aud im Griechiſchen gehalten 
werden, wo glei mit Herodor, Homer oder Xenopbon begonnen werben 
faun.}) So kommt man bald auf den Kern der Sache und vergeuder nicht 
die fhönften Jugendjahre mit abgeriffenen Sägen und trodenen Sprach— 
formen. Wenn Herder im Reiſejournal ausruft: „Weg alfo pas Latein, 
um an ihm Grammatik zu lernen; hierzu fei feine andere in der Welt, 
als unfere Mutterſprache“, fo jheint ung viefer befremdliche Ausſpruch nur 
infofern richtig, al8 unter Grammatik, um mit Herder zu reben, Philoſophie 
und Logik der Sprache überhaupt verſtanden wird und als die Mutterſprache, 
wenn fie aud nit aus Lehrbüchern gelernt wird, den gemeinfamen, leben- 
digen Beziehungspunft für die Grammatif und das Verftänpnig aller fremden 
Spraden bilde. Wenn es fi aber darum handelt, ob aud fremdſprach⸗ 
liche Grammatik gepflegt werben ſolle, jo iſt Herder, während er fie in ſeiner 


*) Lebensbild I, 2. Abtheilung, S. 156; Sophron, 4. 9. und 11. Rebe. 
**) Tragmente II, ©. 35 f. 
#**) Gebensbild II, ©. 320 f. 

+) Ebenda, ©. 221-236, 


45 
erfter Periode, entrüftet über den geiftlofen Unfug der Grammatiften, zurück“ 
gedrängt wiſſen will, in den Weimarer Schulreden durchaus für dieſelbe 
und legt großes Gewicht auf ihre Kenntniß. „Nichts rächt fih fo ſehr als 
eine vernachläffigte Grammatik;“ „denn fie ift ein Modell für Ordnung, 
Genauigkeit und Klarheit der Begriffe im Kopfe“ und „das Leitſeil im 
groken Yabyrinthe der Worte und Sprachen“ *). 

Niht minder betont Herver auch die äſthetiſchen Verhältniffe in ven 
Sprahformen. Im 94. Humanitätsbrief hebt er hervor, daß in ver Com— 
pofitton der Alten Alles Zwed, Plan und Orbnung habe. „Nichts fteht am 
unrehten Ort, nichts ift müßig und unfhidlih dahin geworfen; und im 
Ganzen herrſcht eine lebendige Darftellung und Handlung. Die griechiſche 
Sprache z. B. ift von der Bildung der Worte an bis zum Bau der Silben- 
maße und Perioven ein Mufter des Wohlflanges, der Zufammenfügung, ver 
Bedeutfamkeit und Grazie des Ausdrucks; die lateinifhe Sprache eifert ihr 
nd. Wie in Statuen und Gebäuden die Kunft der Alten Einfalt und 
Würde, Bedeutung und Anmuth zu vereinigen wußte, jo vereinigen es bie 
Meifterwerfe ihrer Sprade. Wer in Homer und Pindar, in Herodot, Plato, 
Cicero, Yivius und Horaz diefe Schielichkeit und Congruenz der Theile zur 
Eurhythmie des Ganzen weder zu finden, noch anfhaulich zu machen weiß, 
der ıft des Geiftes, in dem fie arbeiteten und dachten, nicht inne geworben.... 
Einfalt alſo und Würde, Bebeutfamkeit und Wohlordnung haben wir von 
den Alten zu lernen, um unferer Denfart und Sprade im Kleinften und 
Größten eine ſolche Geftalt zu geben.“ So iſt denn die Kegel, die wir 
aus den Alten ziehen, eine „ethiſche, logifhe und poetiſche“**). 

Mit dem größten Nachdruck und wiederholt regt Herder in feinen 
Schulrevden die Gymnaſiaſten zum Studium der Alten an und fordert fie 
zu forgfältigen Weberjegungen auf, die mit der eveln Schreibart der ur— 
ſprünglichen Schriftfteller wetteifern, nicht aber erzmungenes Sculerercitien- 
werk bleiben follen. Großes Gewicht legt er auch auf das Leberfegen aus dem 
Deutſchen ins Lateinifche; denn das jei „ein Probirftein, der das falſche 
Gold unbeftimmter Gedanken, ausfchweifender Bilder, ungefüger Perioden, 
leerer Wiederholungen in feinem ganzen Betruge zeige****). Endlich em— 
pfiehlt er auch bier freie Auffäge mit dem Grundſatz: nulla dies sine linea. 

Die Bemühungen Herder's für die pädagogiſche Pflege und Verwerthung 
der claffiihen Autoren an den Gymnaſien blieben nicht fruchtlos; beſonders 
verdient hervor gehoben zu werben, daß er dem Griechiſchen, deſſen Ein- 
führung ſchon Gesner eifrig angeftrebt, aber nur in engen Kreifen hatte zur 
Geltung bringen können, eine ehrenvolle Stellung in den Schulplänen von 
Deutſchlands Gymnafien errang, nachdem er in Weimar mit einem mufter- 
haften Beifpiel vorangegangen war. f) 


*) Sopbron, 2. und 5. Rebe. 

**) 94, Humanitätsbrief; vergl. auch ben 91.—93. und Sophron, 9. Nebe. 
**) Sopbron, 9. Rebe. 

7) Außerdem ftehen Gesner und Herder aud im Kampf gegen bie geiftlofe Bes 
bandlung des Spradunterrichts gleihgefinnt neben einander. Gesner’s Grundſatz beim 
Eprahunterriht war: „verborum disciplina a rerum cognitione nunquam sepa- 
rande.“ Wenn biemit auch Rouffeau und Bafebow ———— ſind, ſo ſtehen ſie 
doch in ihrem ganzen Verhältniſſe zu den Alten tief unter Herder. 


46 


Fortſetzung Dazu: Ueber Das Fronzöfiide. 

Schließlich no einige Worte über Herder's Verhältniß zur franzö— 
ſiſchen Sprade. Herder hatte, wie fein Reifejournal zeigt, ſehr viele An- 
regungen den Tranzofen zu verdanken, beren Sprade und Literatur er da— 
rum aud im liefländifhen Schulplan befonders bevorzugt. Nach der Mutter- 
ſprache jollte die franzöfifche folgen, weil fie ihm „pie allgemeinfte und un— 
entbehrlihfte in Europa“ ſchien. „Sie ift“, meint Herver, „nad unjerer 
Denkart die gebilvetfte ; der fchöne Stil, ver Ausdruck des Geihmads iſt am 
meiften in ihr geformt und von ihr in andere übertragen: fie ift die leich- 
tefte und einförmigfte (vd. h. einfachfte und regelrechtefte), um an ihr einen 
praegustus ber philofophifhen Grammatik zu nehmen: fie ift die ordentlichfte 
zu Sachen der Erzählung, der Bernunft und bes Raifonnements. Sie muß 
aljo nah unferer Welt unmittelbar auf die Mutterfpradhe folgen, und vor 
jeder andern, felbft vor ber Lateinifchen voraus gehen. Id will, daß jelbft 
der Gelehrte beſſer Franzöftfh als Latein könne.” Nicht nur findet Herder 
für die Schule angemeffene Autoren in der von ihm jegt fo jehr gepriejenen 
Sprade, „jondern die franzöfifhe Grammatik ift aud die leichtefte unter 
allen Spradhen. Die Sprade ift einförmig, philoſophiſch an ſich ſchon, ver- 
nünftig; ungleich leichter als die deutſche und lateinifhe, alfo ſchon jehr 
bearbeitet“. Das Franzöſiſche ſoll zugleich für das Latein vorbereiten; bie 
italtenifhe Sprache wäre als VBermittlerin zwiichen biefen beiden empfehlens- 
werthb, könne aber unter den gegebenen Berhältniffen nicht herangezogen 
werben (Lebensbild Il, S. 228— 232). Bon diefer Ueberfhägung der fran- 
zöſiſchen Sprache fam Herder zum Theil ſchon während feines Aufenthaltes 
in Frankreich zurüd. Darum hören wir feit diefer Zeit fofort andere Ur— 
theile von ihm: die franzöfifhe Sprade, wie die Nation, habe wenig 
Tugend und innere Stärke. „Ein gewiffer Adel in Gedanken, eine gewifje 
Freiheit im Ausprud, eine Politeffe in der Manier der Worte und in ber 
Wendung, das ift das Gepräge der franzöfiichen Sprache, wie der franzö— 
fiihen Sitten.“ „Die Galanterie ift jo fein ausgebildet unter dieſem Bolf, 
als nirgends fonft. Immer bemüth, nicht Wahrheit der Empfindung und 
Zärtlichkeit zu ſchildern“, fondern fi artig und einnehmend auszudrüden — 
„it die Oalanterie der franzöfifhen Romane und die Coquetterie des fran- 
zöfifchen Stils entftanvden, der immer zeigen will, daß er zu leben und zu 
erobern weiß. Daher die Freiheit der Wendungen, wenn fie auch nichts 
find, damit man nur zeige, daß man fie machen fünne Daher die Com- 
plimente, wenn fie nur nicht niedrig find. .... Man will gefallen, dazu 
ift der große Ueberfluß der Sprache an Anftands-, Höflichkeit, Umgangs- 
auspritdungen, an Bezeihnungen fürs Gefälige* Dazu wollen bie Frau— 
zofen immer Veränderung; „man ift der Wahrheit müde: man will was 
Neues, und jo muß endlich der barodfte Gefhmad herhalten, um was Neues 
zu verfhaffen. Dies Neue, das Öefällige und Amilfante iſt Hauptton*. 
„Wer von diefer Seite die franzöfiihe Sprache inne har, kennt fie aus dem 
Grunde, kennt fie als eine Kunft zu brilliren und in unferer Welt zu ge: 
fallen, kennt fie als eine Logif der Pebensart. Infonderheit aber wollen bie 
Wendungen berfelben bier berechnet fein! Sie find immer gedreht, fie jagen 
nie, was fie wollen: fie machen immer eine Beziehung von dem, ver ba 


47 


fpricht, auf den, mit dem man fpricht: fie verfchieben alfo immer die Haupt- 
fahe zur Nebenſache, und die Relation wird Hauptfahe, und ift das nicht 
Etiquette des Umgangs! ... Die Alten kannten dies Ding galanter Ver— 
fhiebungen nicht” (Xebensbilver, ©. 278— 284). „Biel leichter können wir 
uns unter Griehen und Römer, unter Spanier, Italiener und Engländer 
verfegen, al® in ihren Kreis anmuthiger Frivolitäten und Wortjpiele. 
Geſchieht dies enblih, zwingen wir und von Jugend an biefe Formen auf, 
gelangen wir mit faurer Mühe zu der Bortrefflichkeit, wozu Wenige gelangen, 
franzöfifch zu denken, zu fherzen und zu amphibolifiren: was haben wir 
gewonnen? .... Schwerlich giebt es eine fchimpflichere Sclaverei als vie 
Dienftbarkeit unter franzöſiſchem Wig und Gefhmad, in franzöfiihen Wort- 
feſſeln“ (111. Humanitätsbrief). „Die Philoſophie der Franzojen, die in 
der Sprade liegt, ihr Reichthum an Abftractionen, tft gelernt; alſo nur 
dunkel beftimmt, über und unter angewandte, alfo feine Philofophie mehr ! 
Man ſchreibt alfo aud immer nur beinahe wahr, nie völlig wahr... . 
Die Philofophie der franzöfiihen Sprache hindert alſo die Philofophie der 
Gedanken.” Die franzöfifhe Sprade kann nur dann philofophifc fein, wenn 
fie nicht von Franzofen und nicht für Franzofen gejchrieben witrde (Lebens- 
bild IL, S.278— 284). Wenn Herber endlich den Franzofen noch den gerechten 
Vorwurf macht, daß fie das Alterthum verfälfcht, daß „galliiche Eitelkeit 
manchen hohen Begriff, mandes edle Wort auch der alten Römerſprache 
geſchmückt, entnervt, verderbt“, jo werben wir es begreiflich finden, wenn er 
während feiner Weimarer Periode das Franzöfifhe im den Hintergrund 
treten ließ. 


5) Methodifhe Aachträge und Anfihten über das Examen. 


Herber will den Unterricht nicht einem bloßen unzuverläffigen Tact 
überlaffen, fondern er fordert, die ganze Methodik des Lehrers, ver als 
Gedanken- und Sittenbildner zugleich Künftler fein fol, müſſe fi nad ver 
eigenthümlichen Beſchaffenheit des kindlichen Geiftes richten. *) Wiederholt 
wünſcht ſich Herber ein ſolches Bud, in welchem durd genaue Beobachtungen 
alle Vorgänge im Seelenleben bargeftellt würden, damit man barnadı be= 
. fimmen fünne, „welde und in welder Ordnung und Madt die Einprüde 
von Außen gegeben werden jollten“.**) Da es ihm an einem derartigen 
zwedmäßigen Buche fehlte, jo war er jelbjt unabläffig bemüth, Baufteine 
namentlich aus den empirischen Unterfuhungen der Engländer zufammen zu 
tragen ; biefelbe Gabe, vie ihn in fo wunderbarer Weife befühigte, bie 
Seele der Völker aud in ihren verborgeneren Zügen zu verftehen, ließ ihn 
auch in das Seelenleben des Einzelnen tiefe Blide thun. Seinen reichen 
pfychologiſchen Erfahrungen begegnen wir nicht blos auf Schritt und Tritt 
in feinen pädagogischen Anfichten, wo fo oft ein genialer Scharfblid hervor- 
leuchtet, ſondern aud in felbftänpiger Darlegung, zunächſt im Reiſejournal 
(U. Band vom Lebensbilvde, befonders Seite 318— 334), wo er fie gleich 
auf die Pädagogik anwendet, ferner in den „Ipeen“ (5. Band IV, 4. Band I 


—_ 


*) Vergl. Lebensbild II, ©. 318—334 und ben 63. Humanitätsbrief. 
**) Lebensbild II, S. 190 und 325 f. 





48 

u.a. D.) und endlid in der „Metafritif”, wo er bie an manchen tiefgreifen- 
den pſychologiſchen Gebrechen leidende „Kritif der reinen Vernunft” Kant’s 
zu befämpfen ſuchte. Es kann bier nicht unfere Abficht fein, Herder's Pſycho— 
logie zufammen zu ftellen, da dies zu weit führen würde; wohl aber dürfte 
es ſich mit unferer Aufgabe eher vereinbaren, wenn wir die auf den Unter: 
richt bezüglichen wichtigſten pfychologifch - pädagogifchen Grundſätze, fo weit 
fie von Herder dargeboten werben, vorzuführen verſuchen. 

Eine Bildung des Gedankenkreiſes beginnt nad Herder damit, daß in 
der Seele durch Bermittelung der Sinnesorgane Empfindungen, Senfationen 
entjtehen ; in ver erften Jugend nichts als Begriffe durch die Sinne; es 
muß überhaupt jede Wiſſenſchaft in allen Begriffen und jede Sprade in 
allen Worten auf die Sinne zuritd geführt werben, in denen fie entftanben 
find. *) Nur jo können fih VBorftelungen und Begriffe ausbilden, wenn fie 
eine erfahrungsmäßige Grundlage haben; erft dann liegen den Worten, die 
ſich mit jenen geiftigen Gebilden vereinigen, beftimmte Sachen zu Grunde: 
man muß ſich hüten, Worte zu lehren, wo feine Sachen dahinter fteden. 
„Nur mechanische Köpfe erfreuen fi) an bloßen Worten, mit denen fie, wie 
mit Nechenpfennigen den Cours des gemeinen Redeſpiels halten.“ **) Im ber 
Schule aber jollen „jachenreidye Köpfe” gebildet werden, denen Worte blos 
als Zeichen für beftimmte Sachen dienen. Das ift aber nur möglid, wenn 
blos über folhe Dinge geſprochen wird, welde von den Schülern gefehen, 
gehört, angetaftet ***), in ihr eigenes Selbft umgewandelt, erfiihlt worden 





*) Lebensbild II, ©. 321 u. 323. 
**) Sophron, 23. Rebe. 

***) Lebensbild IL, ©. 323 u. a. D.; vergleiche hierzu auch die vortrefflichen Be- 
merkungen in ben Abhandlungen zur Plaſtik; ebenda, ©. 361 f. Herder betont das 
Taſten, das er oft auch Gefuͤhl nennt, mit beſonderem Nachdruck; er nennt es ein 
vortreffliches Werk, zu unterſuchen, wie weit wir mit dem blofen Gefühl (Taften) 
fommen würben ; denn das ijt bie Tofidefte, profunbeite, erſte Hand der Seele. Das 
Auge iſt Trug und Oberfläche. Ein blos Fühlender iſt in ſich ſelbſt eingefchloffen ; 
jeine Empfindungen gehören ihm unmittelbar zu und find mit feinem Ich verbunden, 
Das Auge wirft und weit von und weg: bie Pas find das Gefühl, das uns noch 
am weitelten von uns entfernt“ (Lebensbildb Il, ©. 388). „Ein Fühlender ift am 
wenigiten Idealiſt. Alles ijt eben außer Ihm: in jeinem Gefühle wenigſtens: es reicht 
nur an bafjelbe, an fein Taſten“ (©. 393) — gewiß richtige Winke zur Ausbildung 


von Raumpvorftellungen, die auch von der heutigen Piychologie vor Allem auf die Mit: * 


wirfung des Tajtfinnes zurüd geführt wird, Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß 
ſchon Roufjeau in ähnlicher Weife wie Herder und noch beitimmter bie Bedeutung 
des Tajtens hervorhebt; Band I, ©. 144 im „Emil“ beißt es: „Wir find nicht 
auf gleiche Weije Meifter aller unferer Sinne, Wir befigen einen, das Gefühl (le 
toucher) nämlich, das ftets thätig ift, jo lange wir wachen. Es ijt über die ganze 
Oberfläche des Körpers verbreitet, um uns Alles zu melden, was ben Körper verlegen 
fann. Auch ift dies derjelbe Sinn, durch befjen immerwährenbe Uebung wir, mögen 
wir wollen oder nicht, bie frühejte Erfahrung ſammeln;“ unb S. 151 bemerft Roufieau, 
daß der Verſtand fajt jedesmal ohne den Tajtfinn urtbeilt, weil das Auge ben Gegen: 
ftand eber erreicht, als e8 die Hand kann. „Zur Ausgleihung bafür find eben bie 
Beurtheilungen des Tajtfinnes bie ſicherſten, gerade weil ſie die beſchränkteſten ſind; 
denn ſie erſtrecken ſich ſoweit, als unſere Hand zu reichen vermag, und verbeſſern ba- 
durch die Uebereilung ber übrigen Sinne, welde aus einer Entfernung auf die Gegen- 
ftände Jagd machen, aus der fie jie fauım gewahr werden, während das Gefühl bas, 
was e8 wahrnimmt, genau unterfudht . . .. Der Zaitfinn if daher unter allen Sinnen 
derjenige, welder uns am beiten von dem Einbrud unterrichtet, ben frembe Körper 
auf uns machen können, es ijt der Sinn, ben wir am häufigiten anwenben, und ber 


49 


find. — So fehen wir, wie Herber von ganz richtigen pfuchologifchen 
Gründen geleitet zu einem auf Anfhauung beruhenden Unterriht kommt. 
Die verfhiedenen Dinge müfjen wahrgenommen und angefchaut werden, wenn 
fie im Unterricht beſprochen werben follen, denn, jagt Herber treffend, „ber 
Lehrer kann mir feine eigenen Gedanken nicht eintrichtern ; durch jeine Worte 
wedt er blos meine Gedanken, die aber in meinem Geifte fhon vorhanden 
fein müſſen“. Diefen Anfichten gemäß nahm Herber, wie wir fhon wiffen, 
in feinen Schulplan für die Anfangsftiufen des Unterrichts in jeder Claſſe 
concrete Fächer auf, die von unmittelbaren Erfahrungen ausgehen follten. 
Dem Erzieher, meint Herder weiter, darf e8 aber nicht gleichgültig bleiben, 
welder Art die erften Eindrüde find. Sie follen zumal anfangs die beften 
und wahrften fein; das Häßlihe und Falſche dagegen halte man möglichft 
fern.*) Dabei miüffen aber die Senfationen aud ftark, lebhaft und getreu 
fein, denn nur fo entftehen ftarke, lebhafte und getreue Gedanken **), vie ſich 
tief in die Seele einprägen und ein bleibendes Beſitzthum derfelben bilden 
jellen ; darum ftellt Herber die Regel auf: „Mache deine Bilder der Ein- 
bildungskraft jo ewig, daß du fie nicht verlierft, wiederhole fie aber auch 
nicht zur Unzeit.“***) Diefe Einprüde bleiben aber nicht ifolirt und un— 
verändert, ſondern treten in der Seele zu einander in Beziehung, werben 
bei neuen Eindrüden reproducirt, bilden mannigfadhe Verbindungen, Phan- 
taftenorftellungen, in deren Ausbildung der Erfindungsgeift ver Schüler geübt 
werden muß; ebenfo gehen die abftracten Begriffe aus einem complicirten 
pfychiſchen Procef‘hervor, der im Unterricht weder überfprungen, noch abgekürzt 
werden barf. 

Wiederholt kommt Herder auf ein gründliches und freies Lernen zu 
ſprechen, auf ein Lernen, in welhem ver Unterrichtsftoff in Saft und Blut 
des Schülers umgewandelt wird. „Der befte Prüfftein, ob Jemand etwas 
gefaßt hat, ift, daß er es nachmachen, daß er es felbft vortragen kann, nad) 
feiner eigenen Art, mit feinen eigenen Worten.” —) „Merkt euch viefes, ihr 
Kateheten! Das ewige Wenden und Drehen vom Subject aufs Prädikat, 
vom Prädikat aufs Subject: wer hat di erfchaffen? ... wen hat er er- 
ihaffen ? ift noch fein Katechiſiren, fondern ein leibhaftes Wortgähnen“, wo 
die Fragen auf Antworten mit beftimmten Wortlaut berechnet find. „In 
eigenen Worten muß man fatechifiren, eigene Worte muß man dem Katechi- 
firten herauslocken, feine eigenften Worte; diefe, dieſe allein bezeichnen 
ieine Gedanfen. Ihnen muß man folgen, an fie feine eigenen Gedanken 


und die unmittelbarjte Kenntniß verichafft, die unfere Erhaltung verlangt.“ ©. 159: 
„Man muß bas Sehen lange Zeit hindurch mit dem Fühlen zufammen geitellt haben, 
um ben erjten biefer beiden Sinne zu gewöhnen, daß er und einen treuen Bericht von 
den Formen und Entfernungen liefert“ und a. O 
*) Lebensbild II, ©. 326. 
**) Ebenda IL, ©. 324. 
**) Ghenba Il, ©. 333. Er 
+) In diefem Sinne fagte Herber oft zu ben re „Ih verdanke bem 
Dociren die Entwidelung mancher Jdeen und ihre Mare Beſtimmtheit; wer fich dieſe 
in irgend einer Sache erwerben will, ber bocire fie!“ (Er. I, ©. 60.) Und an feinen 
Sohn Auguft fehreibt er am 24. II. 1797: „Das Referiven giebt deutlichen Begriff, 
bringt Ordnung in ben Vortrag und Zufammenbang in Grund und Folge von beiden 
Seiten.” (Herder's Nachlaß II, ©. 459.) 


Morres, Herder ale Pädagog. 4 


50 


knüpfen.“*) Die fihere und freie Aneignung läßt fih aber nur durch 
häufige Uebung erreihen. AU’ unfer Willen muß geübt werben, damit es 
zum Können erhoben werde. „Nur was wir üben, wiſſen wir; und wir 
fönnen nur foviel, als wir geübt haben.“ **) „Die Schulen jelbft feien 
Vebungsanftalten (Öymnafien) zur beften und nüglidhften Uebung.“ „Mit 
Anlagen kommen wir auf die Welt; ausgebildet werben dieſe Anlagen nur 
durch Uebung. Unſer ganzes Leben ift für uns Gymnaſium. Was aus ung 
werben fol, muß in uns durch Uebung werben“, die „die Mutter aller 
Vollkommenheiten“ (3. Rebe) if. „Vom erften Moment des Lebens an 
haben wir ung Alles, was wir fönnen und wiffen, Vieles ohne daß wir 
es gewahr wurden, durch Uebung erworben. Wie unfer Fuß gehen, jo hat 
unfer Auge jehen, unſer Ohr hören, unjre Zunge fpreden gelernt, durch 
Uebung gelernt. Auch das Buchſtabiren, Leſen, Schreiben und Rechnen 
enthalten die vielfachften Uebungen unferer Seelenkräfte.“ Beiſpielsweiſe 
führt Herder an, ein Philofoph habe berechnet, „daß unfere Seele einige 
vierzig Uebungen vornimmt, indem fie die große Kunft lernt zu buchſtabiren“. 

„So find alle unfere Kenntniffe, Gewohnheiten, Gefinnungen und Fertig. 
feiten Refultate unferer Uebungen.” Erſt vielfahe und ſchwere Uebung 
überwindet die Unbeholfenheit und macht bildſam und gewandt. Durd bie 
fleifige Hebung wird dann der Schüler auf die Bahn der gelingenten Thätig- 
feit gelenft, woraus ein unnennbares Vergnügen entfpringt, das auf allen 
Unterriht, auf alles Lernen fürberlih wirft; „die Hebung befeelt jeves 
Merk, indem es unfere Anlage zur felbftbemußten Kraft, Fähigkeit und 
Vertigfeit erhöht. Nur durch willige, frohe, unabläffig fortgefegte Uebung 
wird man feiner Kunft Meifter.“***) Co weit die allgemein methodischen 
Bemerkungen Herder's. — 


Es erübrigt uns, noch feine Anfihten über das Echuleramen vorzu- 
führen ***): pas Eramen fol dem Lehrer nicht Gelegenheit bieten, fi durch 
glänzente Lectionen hervor zu thun; er darf tarum in folhen Fällen nidt 
lange ſprechen, aud nicht erläutern oder lehren, ſondern bat durch Furze, 
gefhidte einleitende Fragen bie Kenntniffe der Zöglinge zu Tage zu fördern. 
Auf tiefed Eindringen in das Detail einer Sade kommt es hier gar nicht 
an, wenn auch in feiner Claffe ver Lehrer bis ins Kleinfte gründlich und 
genau fein muß; jeßt zeige er nur, daß er genau und gründlich gemejen. 
Die Wurzel bleibe in der Erbe; er zeige uns ihr Gewächs, deſſen Blumen 
und Früchte „Nur dann wird ein Examen für die Antwortenden und 
Hörer angenehm, wenn jede Fection fo lange feft gehalten wird, bis bie 
Profectus der Claſſe in derfelben wie ein Gemälde mit Licht und Schatten 
erfcheinen und man dadurch zum neuen Gemälde der folgenden Tection vor 
bereitet, geftärft und orientirt wird. Ein Lehrer, ver feine Claſſe fennet 
und liebt, wird alfo die Fragen fo einrichten, daß fie beantwortet werben 
fünnen und wird fie an ſolche richten, bie fie ihm etwa am beten beantworten 
fünnen ; daraus entfpringt Nadeiferung, die beſſer ift als Beſchämung.“ 
Fehlern des Antwortenden fomme er gejhidt zuvor und verbeffere fie in 


*) Scphron, 23. Rebe. 
**) Ebenda, 1. u. 5. Rebe, 
***) Ebenda, 16, Rebe; vergl. auch den Schluß ber 25. 


51 





leihter und gewanbter Weile. „Ungeachtet der kurzen Zeit zeigt ſich bei 
einem öffentlihen Eramen ver Lehrer vielleicht mehr als er es felbft meiner. 
Nicht nur feine Lehrart wird offenbar, fondern aud der Geift und das 
Gemüth, mit welchem er feine Claſſe betrachtet und behandelt.” — 

Einige Tage vor ber Prüfung ließ Herber, auf eine Anregung Heinze’s 
bin, als Ephorus den Lehrern Anweifungen zufommen über die Materie, die 
er vornehmen laffen wollte; denn das ganze Jahrespenſum fünne man gar 
nicht fordern. Dur jene Mafregel werde der Lehrer zugleih in Stand 
gelegt, fich die Lection anzufehen, damit er ruhig und gelaffen fragen könne. 
‚sa, er fann jelbft den Schülern einen Winf geben, worauf fie fih un- 
gefähr in den legten Stunden vorbereiten mögen, damit fie nicht eine unver- 
nünftige Furcht betäube oder fie gar im der legten Angft über Alles hin- 
weg fahren, fih zu Allem rüften wollen und wenns zum Treffen kommt, 
gar ungerüftet daftehen. Cine Wachtparade in ven Lectionen fol das Eramen 
nicht fein, fondern eine vernünftige väterliche Uebung.* In demjelben wird 
zugleich von den Bertretern ber Gefellihaft öffentlih unterſucht, wiefern bie 
vorgefchriebenen Gefege, jowohl die Yectionen als die Zucht und Ordnung 
berreffend, im Gange find oder nicht. Mängel follen verbeflert, Fehler und 
Unordnungen abgeftelt, Klagen gehört, Ungehorfam zurecht gewiefen, ver 
Fleiß gelobt, ver Unfleiß getadelt und über dies Alles umparteiticher Bericht 
abgeftattet werben. *) 


6) Die Schulregierung und ihre Maßregeln im Anterriht. 


Es ift dies eine Frage, bie Herder mit weitblidender Einfiht beant- 
wertet; merkwürdig nur, daß fie von den bisherigen Bearbeitern ber 
Herder'ſchen Pädagogik fo wenig, faft gar nicht beachtet worden. Offenbar 
haben dieſelben die gerade im biefer Beziehung fo wichtige Antrittsreve 
Herder's in Riga: „wie fern die Grazie in der Schule herrſchen müſſe“ 
niht gefannt. Aber auch die im „Sophron“ ftehenven Reden enthalten 
mande werthwolle Beiträge zur Beantwortung unjeres Themas. 

Wenn der Erzieher durch den Unterricht ven Gedankenkreis der Zög— 
linge dem Erziehungszweck entſprechend geftalten und in dieſem Gejchäft 
auf fiheren Erfolg rehnen will, jo müffen vor dem Unterricht und während 
deſſelben mande äufere Beringungen erfüllt fein. Der Erzieher fest 
mächft voraus, daß das Schulzimmer und feine ganze Einrichtung für den 
Unterricht zwedbienlih ift und nit etwa der Mangel an Borkehrungen, 
melde auf die phyſiſch nothwendigen Bedürfniſſe der Zöglinge berechnet jein 
jollen, Beranlafiung zu Störungen wird. Im dieſem Sinne fagt Herder: 
„Die Schule muß fein ftaubiger Kerker fein, in welchen wie in eine dunkle 
Höhle junges Vieh zufammen getrieben werde, damit es frohlodend hinten 
ausihlage, wenn es dem Kerker entfommt.“ **) 





a *) Vergl. über Herber’s Auftreten im Gramen: Schubert, Selbitbiograpbie I, 
€. 369 f, 

*) Sopbron, 10. Rede. — Mit Beitimmtheit liegt hierin die Forderung, minbeftens 
geräumige und Inftreine Schulzimmer zu jchaffen, damit nicht in Ermangelung berjelben 
den Kindern das Sitzen in der Schule zur Laſt werde. ft diefer letztere Fall ein- 
getreten, jo können die Schüler nimmermehr mit ungetbeilter Aufmerffamfeit und 
Empfänglicfeit den Worten des Lehrers entgegen fommen; denn es liegt eine Störung 


4* 


532 


Sind derartige äußere Hinberniffe befeitigt oder gar nicht vorhanden, 
fo muß zunächſt ein beftinmtes, georbnetes Verhältniß zwilchen Lehrer und 
Schüler hergeftellt werben, welches ebenfalls Störungen vorbeugen fell 
Kurz gefagt: der Erzieher muß, um das ibm vor der Geele ftehenve Er- 
ztehungsideal verwirklihen zu können, vollfländig freie Hand haben, und 
der Zögling muß ſich ber Einficht defielben unbedingt unterwerfen. Hierauf 
legt Herber großen Werth, Ohne Umftände hat fi der Schüler unter den 
Willen des Lehrers zu beugen, ber jenem felbft bei Fehlgriffen feine Ver— 
antwortung ſchuldig ift. Herder fordert, in der Schule müſſe pünktlicher 
Gehorſam und unbedingte Subordination berrfhen, in gleicher 
Weife wie im Kriegsheer und auf dem Schiff.*) Nur dur unumfchränfte 
Herrfhaft in der Schule hat ver Lehrer aub die Macht in den Händen, 
pie nöthigen Anoronungen zu treffen und ungeftört feine Pläne zu verwirk- 
lihen. Er wird zunächſt für gehörige Ordnung forgen. Im zahlreicher 
Berfammlung von Menihen, jagt Herber treffend, muß Ordnung herrſchen, 
wenn nit Alles zum Chaos werben ſoll; Ordnung aber fann nur ftatt: 
finden, wenn fie mit ernfter Strenge feftgehalten wird; eine Menge kann 
ohne Ordnung und ftrenge Einrihtung nicht beftehen; und in der 18. Rede 
des Sophron madht er die ausdrückliche Anwendung dieſer Worte auf das 
Schulleben, indem er die fefte Regelmäßigkeit in Arbeiten, Ge— 
wohnheiten und Sitten beſonders betont.**) Beiſpielsweiſe führt er 
an einer anderen Stelle an, die Ordnung der Arbeiten müfje fo feft fein, 
„daß jedes Kind wife, was e8 auf den folgenden Tag haben wird;* dadurch 
befomme es „einen Gefhäftsfalender in die Beine“, der ihm gewiß gut 
thue.**) Es muß aljo die ordnungsmäßige Eintihtung des Schulförpers 
zur Gewohnheit werben. Weiter muß der Lehrer varauf halten, daß vie 
Schüler den Unterriht mit Aufmerkſamkeit verfolgen und durch Fleiß 
ben ungeftörten Fortgang deſſelben unterftügen. „Ordnung und Fleiß in 
den Claſſen, Achtſamkeit gegen feinen Lehrer und ftiller Gehorjam find 
Ruder und Steuer des Schiffs; ohne fie ift Schule und Schiff verloren.“ 7) 
Das vornehmfte Mittel zu dieſer allgemeinen Ordnung ift aber wiederum 
die Beihäftigung, die lebhafte Beihäftigung ver Seele des Knaben 
durch den Unterricht. 7f) Sol diefelbe in den rechten Gang kommen, jo ift 
zunächſt erforderlich, daß der Schüler dem Vortrag des Lehrers die nöthige 
innere Ruhe und Empfänglichfeit entgegen bringe; denn „nicht im Sturm 
ſäet man edeln Samen.“ trf) Bon fremden Gedanken werde die Seele ge 
reinigt, fonft träumt fie fort, und ihre Kräfte werben nicht geübt. Ein guter 
Lehrer weiß auch bier abzuhelfen. Anfhaulicher Unterricht r*), Methode 


vor, beren Bejeitigung ber Erzieher anzuftreben hat, wenn ibm am Erfolg feiner Arbeit 
etwas gelegen iſt. — In der genannten Vorlage zur Ständeverfammlung 1777, alfo 
bald nad feinem Amtsantritt bittet Herder um einen Beitrag zur Anlegung eines 
Fonds für die Inſtandhaltung der Schulgebäude und Subjellien. 
*) Sophron, 18. u. 1, Rebe. 
**) Ghenda, 18, Rebe, 
“er, Ebenda, ©. 247. 
7) Ebenda, 1. Rebe. 
fr) Ebenda, 18. Rebe. 
rt) Ebenba, 25. Rebe. 
7*) Ebenda, 3. Rebe, 


53 





iſts, das bie Aufmerffamfeit feſſelt. „Wenn der Lehrer lebhaft ſpricht, Jedes 
auf ſeiner neueſten Seite zeigt, geſchickt combinirt, jeden Augenblick ganz die 
Seele des Zöglings anfüllt, jede Saite der Aufmerkſamkeit trifft, jedem 
Schlupfwinkel der Zerſtreuung zuvor kommt, wenn er nicht in einer fieber— 
haften Methode wallt, die bald fliegt, bald kriecht, ſondern ſtets mit gleichem 
Auge fortſchreitet und Alle bemerkt — fo läßt ſich Erfolg erzielen.” *) Aus 
der Seele des Lehrers theilt fi das Feuer mit und verbreitet fi auf bie 
Fleißigen und von biefen auf die Faulen.**) So muß ver Lehrer alle Maf- 
regeln treffen, um durch lebhafte Beihäftigung Aufmerkſamkeit und reges 
Intereffe zu erwecken und zu erhalten; „jo lange man feinen unmittelbaren 
Reiz an der Sache fieht, wählt man fie nicht; man treibt jie, um fie ge— 
trieben zu haben. Der Reiz, d. h. diefes unmittelbare Intereſſe ift das 
Leitband, das die Jugend feflelt.“ **) Aus dem Gefagten geht hervor, daß 
der Unterricht felbft eim höchſt bedeutendes Mittel ift für die allgemeine 
Ordnung, die von der Schulregierung gefordert wird. Die lebhafte Be- 
ihäftigung durch den Unterricht läht Störungen gar nicht auffommen ; ver 
Knabe gewinnt gar feine Zeit, müßig zu fein oder auszufchmeifen.***) Alle 
Schüler müſſen am Unterricht in gleicher Weife lebendigen Antheil nehmen. 
„Der Bortrag muß darum alfo beſchaffen fein, daß er die ganze auch zahl- 
reihe Claſſe befhäftige und nicht der eine Theil im Todesichlaf liege, während 
der andere erercirt." Wenn nod fo viele Schüler in der Claſſe find, fo 
folen fie dennoch Alle berüdfichtigt werden. Wird aber Einer zu biefer 
lebendigen Betheiligung nicht heran gezogen und „weiß er, daß er bies un— 
würdige Amt ganze Stunden ober gar halbe Yahre befleiven darf, dann 
wehe den ſtummen Pythagoräern“. Ihr Fleiß ermattet, und fie treiben böje 
Dinge. Der Lehrer muß es fi darum zu einem „Hauptgefeg feiner Me— 
thode machen, daß nie Jemand und der Schwähere am mwenigften müßig 
bleibe”. Die Beihäftigung beugt dann allen Störungen vor.T) Sie darf 
aber nicht einförmig fein, fonft erwächſt eine neue Duelle von Störungen. 
Es muß demnah für angemeffene Abwehfelung in den Unter- 
richtsfächern geforgt werben. tr) Sotann darf ein Unterrichtögegenftand 
in zufammenhängender Zeitreihe auch nicht zu lange Dauer in Anſpruch 
nehmen, fonft nützt fi die Spige der Aufmerkſamkeit ab, aud bei Er— 
wahjenen, und es tritt Erſchlaffung, ja Trägheit ein, vie fich leicht auf 
alle Gebiete übertragen fann.Trf) Es muß mithin für das rechte Ber- 
bhältniß zwiſchen Arbeit und Erholung Sorge getragen werben ; 
denn „die menjhlihe Natur erliegt unter einer raftlofen Anftrengung ; 
während der Ruhe, während des Spiels zwanglofer Uebungen gewinnt fie 
Munterkeit und friſche Kräfte”. F*) 

Treten während des Unterrichts trotz aller VBorforge Störungen ein, fo 
wird „ein Wort, ein Blick, ein leifer Wink vom Lehrer mehr ausrichten, 


— 





*) Lebensbild I, 2. Abth., S. 57; Ähnliche Gebanfen im Sophron, 3. Rebe, 
**) Ebenba, a, a, O., ©, 52. 
*##) Sophron, 18. Rebe, 
+) Sopbron, 10. Rebe. 
+f) Ebenda, ©. 247, 
) Ebenba. 
7*) 51. Humanitätsbrief. 


54 


als hundert Scheltworte und anfahrende Sittenprebigten, die nur müßig 
ums Ohr faufen“ *); ebenfo wenig liegt in den Körperftrafen eine Auf- 
munterung; „fie können Bosheiten betrafen, aber nicht Tugenden weden. 
Und Strafen durch Ehrbegierde (Herder meint an dem Ehrgefühl) find nur 
für feine Gemüther, nur im Anfange und felten zu gebrauden, wenn fie 
nicht den Werth verlieren follen.” **) 

Bei aller Schulregierung fällt endlihb die ganze Erſcheinung 
des Tehrers und fein perfönlihes Berhältniß zu pen Shü- 
lern entjheidend in die Wagſchale. Herder war im dieſer Beziehung jelbft 
höchſt glüdlich begabt, wie uns aus einem jeden feiner Wirkungskreiſe gleich- 
mäßig günftig berichtet wird; er konnte uns daher aus dem reichen Schage 
eigener Erziehertugenven dieſe legte wichtige Frage beantworten. Um ben 
Eindruck durch Contraft zu erhöhen, führt er in feiner Rede „wie fern bie 
Grazie in der Schule herrſchen müfje* **), ftatt jenes ibm vor der Geele 
ftehenden Lehrerideals zunächſt einen handwerksmäßigen, düſtern Schul» 
pedanten vor, „deſſen Weisheit vom Donat an bis zu verſchiedenen leeren 
Unterfuhungen über das ontologiſche Ding reiht”; „feine Methode iſt Pe— 
danterie, jeine guten Sitten offenbaren fih in einem knechtiſchen Schul— 
zwang.“ . Selten fiehbt man „Annehmlichkeit auf feinem Angeſicht.“ Ernit 
und finfter findet man ihn oft mit dem Schulfcepter in der Hand, pedantiſch 
abgeichloffen und fteif — und fo erjheinen den Knaben die Schulen als 
Gefängniſſe. Eines folhen Lehrers Unterrichtet empfindet der Schüler als 
Zwang; „er lernt, um aufzufagen und gieft nachher ven Becher der Ver— 
geffenheit darüber.“ ***) Inter folhen Berhältniffen fann an einen Erfolg 
des Unterrichts gar nicht gedacht werben. „Ein Uebel zieht das andere nad 
fih, und fo finft die ganze Schule in den tiefften Verfall.“ — Diejem 
häßlichen Bilde gegenüber zeichnet Herder dann um fo berebter das glänzende 
Gegenbild. — Damit das rechte Verhältnig zwiſchen Lehrer und Schüler zu 
Stande komme, muß diefer vor Allem Zutrauen zu jenem haben; es 
muß in ihm das Bewußtfein eutftehen, daß aller Unterricht und alle Maß— 
regeln jeines Lehrers zu feinem eigenen Wohle gereihen und fein Beftes 
befördern wollen. Diefes Zutrauen bat fi aber der Lehrer felbit erft zu 
erwerben, zunähft durch Einfiht und Treue in feinen Berufspflidten. 
„Sinfiht und Treue find die beiden Eovelgefteine, die den Amtsſchild eines 
Lehrers ſchmücken.“ Einfiht ift aber nit ein „Atlas von Gelehrſam— 
feit*; fie befteht vielmehr zunähft im päbagogifhen Talent und in einer 
naturgemäßen Methode. „Zalente muß ein Lehrer haben, um leiht und 
doch gründlih, ganz und fpielend feinen Lieblingen die Wiffenfhaften ein— 
zuzaubern.“}) Hierher gehört au, daß ber Lehrer als wahrer Seeljorger 
feine Zöglinge befonders durch unmittelbar erzieberifhe Einwirkung, durch 
die Zucht, mit heiligem Ernſt dem fittlihen Bildungsideal entgegen führen 


*) Sophron, 18. Rebe. 

**) Lebensbild I, 2. Abth., ©. 42—63. — Herber batte bie Abfiht, die dort 
ſtehende Rebe zum Gegenftand einer ausführlidern Abhandlung zu machen; doch Fam 
er über ben Anfang nicht hinaus; das vorhandene Fragment (S. 635—75) enthält 
feinen erwähnenswerthen nenen Gedanfen. 

***) Ebenda I, 2, Abth. S. 47—52, 
7) Ebenda I, 2, Abth. S. 50 f. 


55 

fönne.*) Dazu muß er aber felbft in allen feinen Sitten und Tugenden 
den Schülern als Mufter voran leuchten **), dagegen fid vor aller Erniedrigung, 
ver jedem Eingriff in die Rechte feiner geiftigen Pflegebefohlenen hüten, 
überhaupt Alles vermeiden, was fein Anfehen, feine Autorität beeinträchtigen 
könnte. Endlich hat er ihnen ftets mit Treue und wohlwollender 
Güte entgegenzulommen. Der Schüler „muß auf des Lehrers Stirne 
gleihfam die einfältige und erhabene Wahrheit eines Baters leſen können, 
der nichts Spricht, was er nicht denkt, er muß in ihm das liebenswürdige 
mitempfindende Herz eines Freundes fehen — und alsvann hat der Lehrer 
Alles gewonnen; die Schüler folgen ihm auch auf befchmwerlihem Wege; 
Ales, was er vorträgt, ift Schön, fie bangen an feinen Lippen; der Lehrer 
wandelt mit heiterer Stirn zwifchen Freunden, die ihre ganze Seele ihm 
geben.“ ***) „Glüdlic ift der Lehrer, der das Herz feiner Schüler fo in ber 
Hand bat und es lenken faun, wohin er will; glüdlich ift der, dem fie 
felgen, felbft wenn fie aud nod nicht wilfen, warum er fie dieſes Weges 
führe.” Im diefer Weiſe ſoll der Erzieher feinen Zöglingen „einen zu— 
trauenden und offenherzigen Umgang, ein väterlih freundſchaftliches, wohl: 
meinende8 Herz“ entgegenbringen; dann tft auch die Möglichkeit nahe, daß 
fih alle diefe Geſinnungen allmälig auf die Schüler felbft übertragen. F) 


Ueberblidt man Herder's pädagogiihes Streben und Wirken, fo darf 
man vielleiht jagen, daß in ihm zum erften Male die lange verfeindeten 
Rihtungen des Idealismus und Realismus fih einigten und in bie Er- 
iheinung einer wahrhaft großherzigen und alles menfhlihd Schöne umfaffen- 
den Humanität verſchmolzen. Herder war fein Humanift im Sinne des 
15. und 16. Jahrhunderts; aber er war noch weniger ein Nealift im Sinne 
von Comenius, und fo Vieles er von Rouffeau gelernt, fo mande Züge in 
feinem „Schulideal“ von 1769 felbit an Baſedow erinnern, fo bat er fi 
befanntlich beiden gegenüber die unabhängifte Stellung gewahrt und über 
Baſedow fogar in fpätern Jahren daß entfchiedenfte Berwerfungsurtheil 
auögefprodhen. Jedenfalls hat Herder in glänzender Weiſe geftrebt, eine ber 
beventenften Bilvungsaufgaben des vorigen Jahrhunderts, mit der fih aud 
Schiller in feinen philojophifhen Abhandlungen fo eifrig und gründlich be— 
ihäftigt: die Berehtigung und verfühnende Vereinigung von 
real und Natur, an einer andern Eeite angefaßt, auf die Schule an- 
gewendet umd and glüdlich gelöſt. Diefelbe Bahn, die Herver aufgefucht 
und betreten, hat im neuen Jahrhundert Herbart, unabhängig von jenem, 
wieder eingefchlagen. Was Herber mit gefunden Tact und oft im kühnſten 
Burf der Rede ausgefprohen, hat Herbart, wenn auch mit wenigen Ab— 
weichungen, auf Grundlage einer wifjenfchaftlihen Pſychologie felbftändig 
miammen getragen und meiter ausgeführt. — 





*) Sophron, 1. Rebe. 

*) Lebensbild I, 2, — ei 57; Sophron, 18, Rebe. 
”##) Ebenda I, 2. Abtb., 

T) Ebenda und — 18 Rebe. 


Anmerkungen. 


Zu Seite 28 unten. In der Gegenwart wird die Concentration im 
angebeuteten Sinne nur im ganz vereinzelten Kreifen gepflegt, im Allgemeinen 
aber nicht beachtet oder gar nicht verftanden. Um uns biefelbe noch beut- 
licher zu machen, ſei es uns geftattet, ein Beifpiel vorzuführen und nachher 
mande Einwendungen gegen die Concentration zu prüfen. 

Im Gefhichtsunterriht ift vom deutſchen König Heinrid die Rebe. 
Die betreffenden Stüde werben vom Lehrer vorerzählt oder mit den Schülern 
gelefen, von dieſen wieder erzählt, forann nah ihren culturgeſchichtlichen 
und ethiſchen Beziehungen durchgeſprochen und das Nefultat davon, reip. 
der fittlihe Kern, durch Gedächtnißſprüche feitgehalten. Die hiſtoriſchen 
BVerhältniffe find aber von der übrigen Welt nicht ifolirt ; fie bewegen ſich 
auf einem beftimmten Grund und Boden, ohne deſſen Erwähnung und Be 
trachtung die Geſchichte gar nicht denkbar if. So müſſen aud im vorliegenden 
Beifpiele die Länder und Städte, in denen fih Heinrich aufhielt, und aud 
ver Harz, an und auf mweldhem jene zum Theil liegen, genannt werben. 
Der geegrapifhe Unterricht hat bier reiche Ausbeute; er geht auf bie in 
fein Bereich fallenden Ortsbeftimmungen näher ein, die nad Umftänden auch 
erweitert werben fünnen ; dahin gehören aber aud die im Harz herrſchenden 
eigenthümlichen Culturzuftände, die mit der ganzen Bodenbeſchaffenheit In 
der engften Beziehung ftehen, wie Bergbau, Vogelzucht, Holzcultur u. |. Wr 
wie es die befchreibende Geographie fordert; alles dieſes nicht ohne Be 
ziehung auf die Vorzeit. Bei folder Behandlung der Geographie fann man 
der innigften Berührung mit der Naturkunde gar nicht entgehen. Metalle, 
Bäume und Singvögel wären das nächſte, was der naturfundliche Unterricht 
aufzunehmen und zu bearbeiten hätte. Die bisherige Beihäftigung wat 
durchgehends fahlih; nun kann auch ber deutſche Spradhunterricht hinzu 
treten, intem er einen Theil von den genannten Stoffen auch ſprachlich 
durchdenken und in kurzen Zügen oder auch im größerer freier Bearbeitung, 
je nad der Leiftungsfraft ver Schüler, aufſchreiben läßt. Im größern Leſe— 
bud von Curtmann 3. B. handelt ein Stüd vom Bergbau im Harz, wo 
unter Anderem auch die jährliche Ausbeute von Eifen, Blei, Kupfer und 
Silber in Zahlen angegeben if. Wie natürlih ift nun die Anknüpfung 
für den Nechenunterriht! Selbft wenn dieſes Leſeſtück nicht vorliegt, ergiebt 
fie fid) ganz ungezwungen, indem jene Zahlen ſchon von der Geographie 
dargeboten oder im Auſchluß am dieſelbe beftimmt werden, damit für ben 
Rechenunterricht auch ein Ausgangspunkt gewonnen werde. Wie mannigfade 
Operationen dabei möglih find, braucht nicht ‚noch gefagt zu werben. 
Geometrie und Zeichnen können ihre Stoffe von den beim Bergbau vor 
fommenden Geräthen und einfahen Mafchinen hernehmen, die aud für DIE 
Naturlehre manchen Anknüpfungspunkt darzubieten vermögen. Im Anſchluß 
an dieſe Stofffülle wird ſich für den Geſangunterricht gewiß auch ein Lied 
ausfindig machen laſſen, ſei es ein auf den Bergbau, auf die Natur oder 
auf das Hiſtoriſche bezügliches. 

Eine ſolche Einheit in der Ordnung der Fächer, nach welcher der 
Geſinnungsſtoff im Centrum ſteht und unmittelbar oder mittelbar der Aus— 
gangspunkt wird für andere Gebiete, wodurch von jenen Verbindungsfäden 


57 


zu diefen hinüber leiten, ift für die Erreihung der Erziehungsaufgabe die 
fiherfte, pſychologiſch gerechtfertigte Veranftaltung. Die gewöhnliche Schul- 
praxis fcheint fih um dieſe Frage wenig zu kümmern; fie lehrt ein Fach 
neben dem andern, ohne bie innern Beziehungen berfelben aufzudeden und 
zu verfolgen. Schon die herfümmlichen Lehrpläne find auf eine folde Ein- 
beit gar wenig angelegt, indem bie einzelnen Unterrichtögegeuftände tfolirt 
und im ſyſtematiſcher Folge angeordnet werden, als ob wir es nicht mit 
Erziehungsihulen, fondern mit wiſſenſchaftlichen Fachſchulen zu thun hätten. 

Die Eoncentration hat indeß auch ihre bevenflihen Seiten, und es 
find darum gegen biefelbe von jeher nicht zu unterfhägende Einwendungen 
erhoben worden, deren Vorführung und Beiprehung etwas mehr Licht in 
die ganze Frage bringen wird. — Man bat zunädft behauptet, nad dieſem 
Berfahren würden die einzelnen Fächer ihre Selbftftänpigfeit verlieren; fie 
würden zu blojen Dienern herabgewürdigt. Daran ift zunächſt nur foviel 
wahr, daß fie allerdings zu den Gefinnungsfähern zum Theil in ein 
gewiffes Abhängigkeitsverhältnig treten, aber das will nur foviel fagen, 
daß allem Willen und Können nur infofern ein ethifcher Werth beigelegt 
werden kann, als es unter der Führung eines guten Willens ftehend gedacht 
wird, worauf jene einheitlihe Anordnung der Unterrichtsgegenſtände doch 
berechnet if. Geographie, Naturkunde u. f. w. fnüpfen, wenn für fie 
etwas da ift, an, behalten aber im UWebrigen ihre volle Freiheit und 
werden darum felbftverftändlih in befondern Stunden, wie der gewöhnliche 
Fahunterriht, behandelt. — Der Selbitftändigfeit der Fächer droht aber 
uch von einer andern Seite her Gefahr. Bein concentrirenden Unterricht 
bat e8 den äußern Anjchein, als ob die untergeorbneten Fächer ihr Material 
aus den Gefinnungsftoffen in der größten Unordnung herausheben und be— 
arbeiten müßten; fo die Naturkunde 3. B. bald einen Vogel, bald ein 
Metall oder fogar eine einfache Maſchine — jedenfalls ein großer Verſtoß 
gegen das hergebradhte ſyſtematiſche Verfahren. Wahr ift, daß da leicht 
Zerjplitterung eintreten faun, wenn man fih um andere päbagogifche For— 
derungen nicht kümmert, da es in diefem Falle eigentlich nahe liegt, jebes 
Object vereinzelt für fi zu bearbeiten, wodurdh Hemmung und Vernichtung 
unter den Borftelungsmafien unausbleiblih wäre. Dem ift aber baburdı 
erfolgreich bereit8 vorgebeugt worden, daß man den Öruppenunterricht ein- 
geführt hat, wonad zum herausgehobenen einzelnen Object nody andere von 
ähnliher Natur, die im Gefinnungsftoff jelbft nicht ftehen, herangezogen 
werden. Durch die gleichzeitige oder in innigfter- Succeffion erfolgende Be: 
bandlung der Glieder einer folhen Gruppe werben die fahwiflenshaftlichen 
Intereffen gewahrt und die Gefahren eines einfeitigen Concentrirens ver: 
mieden, wobei man zugleich nod den großen Bortheil gewinnt, daß bie 
einzelnen Dbjecte der Gruppe durd ihre Aehnlichkeiten und Verfchievenheiten 
an Klarheit und Deutlichkeit viel bejtimmter aufgefaßt werden, als wenn 
fie ifolirt da ftünden. Die Gruppen nehmen mit den Jahren an Erweiterung 
ertenfiv und intenfio zu, bis ſchließlich das ganze Syſtem, ſoweit e8 in bie 
betreffende Schule gehört, ausgebaut ift. Nun bilden aber bie fo vollendeten 
Fäherfufteme, die den fahwiffenfhaftlihen Forderungen entfprehen müſſen, 
nicht für fich beftehenve ifolirte Complexe, jondern fie ftehen auch unter einander 
in den mannigfachften Verbindungen, da durch jene unmittelbaren und mittel» 
baren Anfnüpfungen an ven Gefinnungsftoff unter ven Fächergruppen Hinüber- 


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leitungen und Verbindungsweiſen ftattgefunden haben, die fi im Gebanfen- 
freis feftfegen und reproducirt werben fünnen. So wird das geiftige Innere 
des Zöglings zu Einem Guß, zu einem Webermeifterftüd, wie Mephifte den 
Schüler belehrt, wo Tauſende von Fäden aufs innigfte mit einander ver- 
flohten find; und die ethifchen Gefinnungen jollten darin den rothen Faden 
bilden, der das Ganze zufammen hält und beherrſcht, der mit Einem Tritt 
taufend Fäden regt. Damit ift zugleich in ber erfprieflidhften Weiſe für 
formale Bildung gejorgt, die niemals durch vereinzelte Fächer erreicht werben 
fann, jondern nur durch einen Zuſammenſchluß aller Fächergruppen. 

Noch ein anderer Einwand ift gegen die Concentration gemacht worben ; 
man fagt: ihr concentrirt nad) enern Öefinnungsftoffen, bringt aud Gruppen 
zu Stande, aber das Terrain der Gefinnungsftoffe ift viel zu bejchränft, 
als daß ihr zu einem gewiſſen ſyſtematiſchen Abſchluß gelangen könntet ! 
Namentlich gilt diefer Einwurf der Geographie, da fih die biblifhe und 
Profan-Geſchichte, an welche ſich jene anfchliegen fol, verhältnifmäßig auf 
einem Heinen Gebiet bewegen. Wie follte man da 3. B. auf Sibirien, 
Auftralien u. f. w. zu fprehen fommen? Als Entgegnung wollen wir zu- 
nächſt nur darauf hinwetjen, daß es felbft für die entfernteften Erpftriche und 
andere Dinge an Anfnüpfungspunkten nicht fehlt, wenn fie auch nicht fo 
unmittelbar zu Tage treten, wie im früher vorgeführten Beifpiel. So z. B. 
fann die Entvefung Amerifa’s nicht blos zu Oſtindien und China, ſondern auch 
zur Entdedung von Auftralien und zu den Südſee- und andere Infeln leiten, 
ebenjo die Betrachtung europäifcher Tiefebenen zur norbafiatifchen, zu Sibirien 
u. ſ. w. Solche entlegene Gebiete fünnten aber auch durch Unterhaltungs- 
ſtunden einer Betrachtung unterworfen und erſt dann in den Organismus 
des Unterrichts einverleibt werden. Außerdem liegt aber ſchon in der Wahr- 
nehmung von Lüden die Weifung, diefelben auszufüllen. — Nod mehr 
wird der zulegt gemachte Einwand bei der folgenden Erörterung ſchwinden, 
die noch einen wichtigen Knoten löſen fol. Man darf nicht meinen, daß 
nad) dem concentrirenden Berfahren der Unterricht das zunächſt Liegende, 
die Heimath, ignoriren müßte, um auf fremdem Boden, unter fernen Völkern 
umberzuftreifen, von Dlivenbäumen, Cedern, Löwen u. ſ. w. zu ſprechen, 
während die heimathlihen Bäume und Thiere unberüdjichtigt bleiben, wenn 
fie nit in der Concentrationsreihe ftehen. So ift es aber nicht, jo darf 
e8 auch nicht fein; denn den fremdartigen, entlegenen Dingen, die man bem 
Schüler zur Anjhauung nit vorführen kann, vermag diefer gewiß nicht 
mit dem möthigen Berftännnig entgegen zu kommen, eine Borftellung von 
denſelben fann in feinem Geiſte nicht entftehen, wenn er nicht ſchon vorher 
ähnliche Dbjecte in der Heimath durch eigene Anſchauung, welder der Unter- 
richt noh zu Hülfe kommt, kennen gelernt bat. So z. B. fann in der 
Schule von einem Löwen nur dann die Rede fein, wenn die Knaben bie 
Hauskatze nad ihren charakteriſtiſchen Merkmalen bereits fennen, damit eine 
Bergleihung und Unterjheidung zwifchen beiden und eine annähernd richtige 
Auffaffung des erftern ftattfinden fünne Im diefer Weiſe bilden vie Vor— 
ftellungen von heimathlichen Objecten durchgängig feftftehende Apperceptions- 
maffen für alles Fremdartige. Bon dieſer pſychologiſchen Thatſache macht 
aud der Erwachſene ganz unwillfürlih Gebrauch, wenn er aus der Ferne 
zu den Seinigen zurüdgefehrt, von Dingen erzählt, die in der Heimath nicht 
vorfommen, ihnen alfo völlig fremd find; da hilft er ſich dadurch, daß er 


59 





dem Unbekannten Aehnliches, Bekanntes aus der nächften Umgebung fubftituirt, 
diefes erläutert, befchränft, erweitert oder in eigenthümlicher Weife combinirt, 
damit er feinen Zuhörern verftändlicd werden fünne. Diejes Berfahren 
wärde auch im Unterricht feinen Zwed nicht verfehlen. Wie follte z. 2. 
ein Veipziger Kind zur Vorftelung von Abrahams urjprünglicher Heimath 
gelangen, wenn es nicht vor dem Auftreten der betreffenden Erzählung mit 
der Grasebene zwiſchen der Elfter und Pleife vertraut gemadt wird? So 
geht es bei allem Lernen, auf allen Gebieten des Wiſſens; denn bie aus 
unzäblbaren Gliedern beſtehende Vorftellung des Heimathskreiſes bildet, wie 
gefagt, eine feftftehenne Apperceptionsmaffe, weldye unfer gefammtes geiftiges 
Befigthum durchzieht. Aus diefem Grunde ift darum von jeher, namentlid) 
fit Finger, in ven erften Schuljahren ver Pflege der Heimathskunde mit 
vollem Recht eine ganz befondere Sorgfalt zugewendet worden. Und aud) 
der concentrirende Unterricht wartet nicht erft auf frembartige Weifungen, 
ſondern beginnt die Ausbildung des kindlichen Geiftes auf dem zunächſt 
liegenden Boden der Heimath. Wenn das Kind mit den Dingen und Ver— 
hältniffen feiner Heimath auf gemeinfamen Spaziergängen und fonft in 
nähere Berührung fommt, fo Liegt ſchon darin eine Aufforderung an ben 
Unterricht, ven Zögling in erfter Linie mit feinem eigenen Umfreis vertraut 
zu machen, in welchen allerdings namentlih in den erften Schuljahren aud) 
die Gefinnungsftoffe hinein führen künnen, wie das in Profeffor Zillers 
Uebungsſchule thatſächlich der Fal if. Daß im der erften Schulzeit von ber 
Heimath ausgegangen werben folle, betont auch Herder, wenn er forbert: 
Dinge, die das Kind täglih braucht, fieht und nicht fennt und die ganze 
äußere Welt, in deren Mitte e8 fteht, jollen angefhaut und erflärt werben. 
Es wird auf dem Unterfchied, die Aehnlichkeiten und Befhaffenheiten der 
Thiere geführt, die es jo liebt. Die gemeinften Bebürfnifje des Lebens, 
Erfindungen und Fünfte werden ihm gezeigt, damit es fich felbft fennen, im 
feinem Umkreiſe fühlen und Alles brauchen Ierne.*) — Wenn man dieje 
richtige Forderung befolgt, fo wirb jene noch nicht völlig erledigte Ein- 
wendung vollftändig zurüdtreten, denn nun bietet uns die Heimarh felbft 
Ausgangspunkte zu allen möglichen Dingen; fo führt ver Kaffee, den wir 
tüglich genießen, zur Beiprehung der Heimath deſſelben, alfo nah Arabien 
und Indien, der Zuder nicht blos auf unfere Runkelrüben, fondern aud) 
auf das Zuderrohr und nah Weftindien, Porzellan, Seide und Thee nad) 
China, Japan und Rußland; zu letzterem Land aud das Pelzwerf, 
das auch aus Sibirien geholt wird u. f. w. Es wird alſo durch Ver— 
mittelung ter Heimath auch dasjenige Material herbeigeihafft, wozu 
in der Concentrationsreihe feine Weifung liegt. Aus den bisherigen Er- 
Örterungen geht nunmehr hervor, daß die Concentration nur in dem Falle 
pädagogiſch gerechtfertigt und fruchtbringend ift, wenn fie auf die ausſchließ— 
lie, einfeitige Herrfhaft Verzicht Leiftet und ven Heimathfreis mit feinen 
mannihfahen Objecten als Bundesgenoffen annimmt. Ginerfeits hat biejer 
jelbftftändige Berechtigung, andererfeits aber liefert er das nöthige An— 
hauungsmaterial, auf weldes die Gefinnungsftoffe weifen und bereitet bie 
Vorftellungen von folden Objecten vor, die aus der Concentrationsreibe 
berausgehoben werben und frembartig find; auferdem bietet er jelbft für 


*) Lebensbild II, S. 197. 





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das Entlegene Ausgangspunfte zur Erweiterung und zum Abſchluß unvoll- 
enbeter Gruppen und Reiben. 

Zu Seite 30, Zeile 9 von oben. Jedenfalls verdient dieſes Ber- 
fahren Anerkennung; es war das ein großer Fortfchritt gegen die alte 
mehanifhe Behandlungsweiſe, und im Allgemeinen haben fi auch unjere 
heutigen Schulen nicht höher ſchwingen fünnen, obwohl ein weiterer Fortſchritt 
von ber wifienfhaftlihen Pädagogik angebahnt worden iſt. Man hat fich zunächſt 
vergegenwärtigt, daß der Katehismus ideale, aljo für die unmittelbare Auf- 
faffung abftracte Wahrheiten und Belehrungen enthält, die in einem 
geordneten Spftem ftehen. Für die richtige Perception berjelben wird 
zwar durch Beifpiele Sorge getragen, aber vie logiſche Ordnung, bie ein 
erwachjener Denker auf Grund vielfaher Tebenserfahrungen zufammen ges 
ſtellt hat, follte nicht dem Kinde ſchon in den erften Schuljahren aufgemöthigt 
werben. Jedes Syſtem muß, wie wir gejeben, im Geift des Zöglings erft 
entftehen ; jo auch das foftematifche Material des Religionsunterrihts aus 
den nad den Culturfortſchritten geordneten Gefinnungsftoffen, die im ihrer 
Zufammenftellung eine naturgemäße Entwidelung repräfentiren. Und aus 
ber Beiprehung der in dem Gliedern dieſer Reihe vorkommenden fittlid- 
teligiöfen und culturgefhichtlihen Berhältniffe treten, wie von ſelbſt, bas 
Äyftematifche Material des Katechismus und bie ſich anſchließenden Gedächtniß— 
ſprüche gleihfam als Kryſtalle hervor, die in durchſichtigen und leicht überſchau— 
baren Formen almälig zum ganzen Syſtem heranwachſen. So wird die Ord— 
nung des Katehismus anfangs natürlich eine andere fein, als die hergebrachte, 
ebenfo gewiß, als die allgemeine Eulturentwidelung fid nit mach derfelben 
richten konnte; aber e8 macht im Grunde aud gar nichts aus, ob die Kinder 
das vierte Gebot zuerft lernen oder das erfte, und ob die von Luther feitge: 
ftellte Drbnung früher oder fpäter zu Stande fommt; genug, fie fommt zu Stande 
und bildet dann mit ganz bebentenden Erweiterungen, mit ben vielen hinein 
geflochtenen Gedächtnißſprüchen, die Quinteſſenz des ganzen Gefinnungsunter: 
richts. Wollte man dennoh die fyftematifhe Ordnung des Katechismus 
einhalten, jo würbe man in einen andern Fehler gerathen, indem man bie 
zur Erläuterung bienenden Beifpiele in der bunteften Folge beranziehen 
müßte, die fih aber, da fie eines gemeinfamen Leitfadens entbehren, gegen: 
feitig ftören und verbunfeln wirden. Außerdem gelangt man im biefer 
Weife erft dur einen mithevellen und zeitraubenden Ummweg zum Ziel, 
indem man fid genöthigt fieht, die Beiſpiele aus der chronologiſchen Reihe, 
die man ohnehin einmal vurhläuft, zu plündern. Solche Umwege erſpart 
man fi Hingegen, wenn man beide Thätigfeiten: das Durchlaufen ber 
Culturentwidelungsreibe und die Ausbildung des Katehismus in Eine 
Arbeit vereinigt. Bei diefer Behandlungsweife fallen die Erflirungen Luthers 
anfangs ganz von felbft weg, weil die an ben Gefinnungsftoff ſich an- 
jhließende gemeinfame Disputation fir die nöthigen Erklärungen ſchon a priori 
Sorge trägt. Auch abgefehen davon ift es nicht richtig, Erklärungen ohne 
Weiteres Iefen und lernen zu lafien, zumal wenn fie itber ihre abgegrenzte 
Beftimmung hinaus gehen. Herder hat Diefes, wie fein Katehismus zeigt, 
deutlih erkannt. Die Luther'ſche Erflärung läßt er darum anfangs ganz 
weg und fordert, der Lehrer fole die Schiller anleiten, daß fie felbft auf 
diefelben fommen und ſich über das Dargebotene frei erklären können. 


— — — 





Pädagogifhe Studien. 


Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein. 


10. Heft. 
Die 


Seminar-Vorbildung. 


Dr. Otto Boodflein, 


Seminardirector zu Hilchenbach. 


Nicht deine Arı ſollſt du dem Schüler fchenten ; 
Was feiner Art gemäß und was ihm frommt, 
Das mwolleft du bedenten! 


Wien und Leipzig. 
ER Berlag von A. Pichler’s Witwe & Cohn. 
handlung für pädagogifhe Literatur und Lehrmittel + Anftalt. 





Drud von Fiiher & Wittig in Leipzig. 
1876. 


Vorwort. 


Nachſlehende Studie erhebt keinen Anſpruch darauf, originell 
zu ſein. Sie will aber manche Mißſtände in Erwägung ziehen, 
unter denen die Arbeit des Seminars leidet. Daß Verfaſſer dabei 
vorzugsweiſe preußiſche Verhältniſſe im Auge gehabt hat, liegt in 
ſeiner Stellung; doch hat er ſeine Augen auch nicht geſchloſſen 
gegen das, was außerhalb Preußens Geltung gewonnen hat, und 
bat es empfohlen oder widerrathen, je nachdem es das Eine oder 
Andere zu verdienen jchien. Eine unfehlbare Entſcheidung zu geben, 
hat er nicht gewagt. Wenn manches herbeigezogen ift, was jcheinbar 
weit ablag, jo fcheint das doch nur jo: Verfaſſer bat fich bemrüht, 
fireng bei der Stange zu bleiben. Im Mebrigen kann er fagen: 

Mit meinem WBorte Hab’ ich nie gefpielt: 
Das ich gefagt, das Habe ich gefühlt. 


Hilchenbach, September 1876. 


Dr. Otto Boodſlein. 


Die Einrihtung befonderer Fachſchulen ift eine Errungenihaft ber 
neueren, faft fann man fagen: der meueften Zeit. Sie hängt ganz eng 
zufammen mit ber Erkenntniß, daß eine Theilung ber Arbeit bei der ge- 
waltigen Erweiterung des Wiffens und Könnens eine dringende Nothwendig- 
feit ſei, und ift nichts weiter als eine Folge diefer Erkenntniß. Zwar 
fönnte man die Nhetorenfhulen des Altertbums und die Klerikerihulen des 
Mittelalters allenfalls auch Fachſchulen nennen; doch waren fie e8 meift nur 
in ganz beſchränktem Sinne Denn wenn erftere vornehmlid von ſolchen 
befucht wurden, die zu politifhem Einfluß und Anfehen und zu ftaatlichen 
Ehrenftellen zu gelangen wünſchten und daher einer folhen allgemeinen Bil- 
dung bedurften, vermöge deren fie befähigt waren, öffentlich als Redner auf: 
zutreten; jo gingen letztere vorzugsweiſe darauf aus, den Geift innerhalb 
beftimmter Schranken zu entwideln, vor jeder Berührung mit freifinnigen 
Ideen zu bewahren und die Fünftigen Geiftlihen an Erelufivität und an 
die Abhängigkeit von den firdhlichen Oberen zu gewöhnen. Es waren alfe 
unleugbar ganz andere Motive als die einer Theilung der Arbeit und einer 
Bertiefung in ein beftimmtes Berufsfah. ALS fi indeß fpäter die Noth— 
wendigkeit einer Berüdfichtigung beider Momente ergab, da gab für bie 
Seftaltung der Fachſchulen zunähft mehr die Erzielung eines beftimmten 
Könnens als die eines auch das Können begründenden Wiffens den Aus- 
Ihlag, bis fih nah und nad die Ueberzeugung Bahn brach, daß eines ohne 
das andere nur fehr bedingten Wertb habe. Seit dieſer Zeit ftrebt man 
darnach, in den Fachſchulen ebenſowohl ein gründliches Wiffen ald auch ein 
gebeihlihes Können zu vermitteln und eine der Hauptaufgaben unferer Zeit, 
wie ſich dies ja aud faft überall erfeunen läßt an der eifrigen Arbeit auf 
biefem Gebiete, ift es, Ziele, Mittel und Wege feftzuftellen für eine erſprieß— 
lihe Bereinigung beider Factoren. 

Was im Allgemeinen gejagt ift von allen Fachſchulen überhaupt, das 
gilt auch im Befonveren von den Lehrerbilpdungsanftalten. Auch fie find 
eine Errungenfhaft der Neuzeit; auch fie haben zunächft mehr das Können 
als das Wiffen betont; auch betreffs ihrer ift man noch in rüftiger Arbeit 
begriffen und, wenn felbft einig über die Ziele, fo doch keineswegs über vie 
Mittel und Wege zur Vereinigung beider Factoren. Ein fummarifcher Blid 
auf die Gefchichte ihrer Entwidelung fann das darthun. Die erften Lehrer: 
bildungsanftalten datiren aus dem vorigen Jahrhundert. Will man Das 
seminarium praeceptorum und das seminarium selectum praeceptorum von 
Auguft Hermann Franfe und das von Heder mit feiner Realſchule ver- 
bundene Seminar ausnehmen, fo fällt die erfte Gründung von Lehrer: 
bildungs - Anftalten gar erft in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts. 
Und auch da gebt man nur fehr langfam und fehr fporadifh mit ber 


5 


Errihtung neuer Anftalten vorwärts. Wüßte man aber aud) fonft nichts über 
dieſe Anftalten, fo fünnte man doch ſchon aus der Dauer des ganzen Curſus 
auf die Art und ben Grad ber vermittelten Bildung Schließen: das Marimum 
der Bildungszeit betrug 1 Jahr. Da nun ver Grab der verlangten Bor: 
bildung auch fehr befheiden war — ein Würzburger biſchöfliches Decret 
som 30. September 1770 verlangt, daß bie aufzunehmenden Perfonen „be— 
reits im Leſen und Schreiben, aud in der Mufif einigermaßen erfahren 
feien“ vergl. Geſchichte des k. Schullehrer - Seminars zu Würzburg von 
IN. Huber, ©. 4 —, fo läft ſich erfennen, daß es im beften alle nur 
möglich war, eine auf den praktiſchen Schuldienft berechnete Abrichtung oder, 
wenn dies Wort zu hart Flingen follte, Beibringung von Lehrgeſchicklichkeit 
zu bewirken. Cine Curſusdauer von nit größerem Umfang hat fi bis 
zur Mitte der fechziger Jahre dieſes Jahrhunderts no in einer ganzen Reihe 
von beutihen Seminarien erhalten; die hannöverihen Bezirks - Seminare 
„ B. behielten bis in die legte Zeit ihre Zöglinge nur ein Jahr lang, und 
nch gar nicht fo lange ift es ber, daß für die jogenannten „wilden“ Schul- 
amts-Caudidaten, die dann die fogenannten „Commiffionsprüfungen“ ab- 
legten, nur halbjährige, bisweilen noch kürzere praftiihe Seminarcurfe ein- 
gerichtet waren, in benen mit aller Haft ein bischen praftifches Wiffen und 
Können eingeheimft wurde, vermittelft deifen dann weiter aus ber Hanb in 
ten Mund gelebt wurde. Die Norh kannte eben fein Gebot. Glüdlicher- 
weife waren die zulegt erwähnten Nothſtände in ben legten Jahrzehnten 
mehr Ausnahmen als Regeln und die Gründung von Seminarien mit 
längerer Curſusdauer oder die Erweiterung der beftehenden Anftalten zu 
längerer Dauer wurde allgemein üblih. Gegenwärtig faun man, abgefehen 
von geringfügigen Ausnahmen, die zubem meift nicht principieller Natur 
find, als Normalzeit für den Aufenthalt im Seminar bezeihnen: drei ober 
vier Jahre. Die nur zweijährigen Curſe in den königl. bayrifhen Se— 
minarien nämlich werben durch obligatorifche breijährige Präparanden- 
curfe im befonveren Anftalten derartig umterftügt, daß die zweicurfigen 
bayriihen Seminare im Wefentlihen dieſelben Lehrziele verfolgen lünnen 
wie die beiden oberen Curſe in breiclaffigen Seminaren. Befonders trifft 
das zu für folde Seminare, die für die Präparandenbildung nur zwei Jahre 
verwenden, jo daß auch für ihre Zöglinge die gefammte Bildungszeit nur 
fünf Jahre beträgt. Trog diefer, befonders im Vergleich mit den Anfängen, 
erheblihen Verlängerung ver Lehrzeit erfcheinen durch die Refultate gar oft 
weder die Lehrer jelbft, no die Seminare, noch enplih die Staatsbehörben 
und das intereffirte Publikum befriedigt. Wenigftens werden nod immer 
vielfahe Klagen laut: bald Magen die Staatsbehörven oder das Publikum 
über die Lehrer, bald diefe wieder über die Bildungsanftalten — und biefe 
legteren flagen wieder über die ihnen zugemuthete Ueberlaftung. So bewegt 
ih die Klage im Kreislauf oder wie eine Schraube ohne Ente Wo figt 
denn aber bei den Seminaren das Uebel? — Nun, id) glaube, es figt ſowohl 
vorn als hinten. Meift haben nämlih die Seminare in dem erften, oft, 
fogar noch in dem beiden erften Jahren noch fo viel elementaren Lernftoff 
mitzutheilen, daß fie eine tiefere Begründung und Durchdringung der Fächer 
gar nicht erft verſuchen fünnen, vielmehr zufrieden fein müſſen, wenn fie 
nur das rein Elementare einigermaßen einprägen. Man tritt alfo in dem 


6 


erften oder in dem beiden erften Jahren oft weber ſtofflich noch betreffs der 
Form in eine Behandlung der einzelnen Fächer, wie folhe dem Seminare 
zufüme. Was aber in dem erften oder in ben beiden erften Jahren ver- 
ſäumt ift, müßte nun, foweit foldes noch möglid wäre, in ben legten nad): 
geholt und eingebracht werben. Meiftentheils wird fi das aber gar nicht 
machen laſſen oder, wo e8 gefhähe, wieder nur auf Koften derjenigen 
Aufgaben, die fonft den legten Jahren eigenthiümlich und vorbehalten wären, 
nämlih der praftiihen und auf das Lehramt unmittelbar bezüglichen. 
Können nun derartige (zwar nicht angenehme, aber bei der gegenwärtigen 
Lage der Sache faft unvermeibliche) Defecte vorbergefeben werben, fo wird 
ihre Dedung gleih in bem Lehrplan und ven Yehrzielen in's Auge gefaßt: 
legtere werben möglichft niedrig geftedt, uud die fir die eigentliche Berufs— 
bildung anszufegenden Stunden werben foweit rebucirt, als fich ſolches 
irgendwie mit Anftand thun läßt. Daher erflärt fid) die auferorventlid be 
fhränfte Anzahl von Stunden fir die Pädagogik und ihre Hülfswiffenfhaften 
in vielen Seminaren und das BVorhandenfein einer Reihe von Stunden, bie 
reinen Lernftoff zu vermitteln haben, nody in der Oberclaffe — Wenn unter 
folden Berhältniffen die Seminare felbft von ihren Leiftungen nicht befriedigt 
find und nicht befriedigt fein fünnen, wenn fie über Ueberlaftung vorn und 
hinten, oben und unten Hagen, jo fann man biefem Mangel an Befrievigung 
die Berechtigung nicht abfprechen, und es ift unſchwer zu prophezeihen, daß bieje 
Klagen nicht eher aufhören werben, als bis man den Anftalten eine folde 
Drganifation giebt, vermöge deren fie im Stande find, fich lediglich ihren 
fpeciellen Aufgaben zu widmen. Erweiſt fid) aber eine Neorganifation als 
notbwendig, fo vollzieht fich felbe zwedmäßiger von unten auf als von oben 
an, zumal bie mangelhaften Zuftände oben jedenfalls mitverfhuldet find 
durch die mangelhaften Zuftände unten. Das ift zwar ſchon feit langem 
eingefehen worden und fchon feit langem denkt man den bezüglichen Mitteln 
nah, verfucht fie auch im Einzelnen, dod haben dieſe Mittel bisher die 
allgemeine Zuftimmung nod nicht gefunden, weil feines berjelben allfeitigen 
und vollftändigen Erfolg verbürgt. — Dabei foll indeß nidyt beftritten 
werben, daß in einzelnen Fällen jede der betretenen Richtungen erfreulice 
Erfolge zu verzeichnen hatte So habe ich beifpielsweife manche von ein— 
zelnen Lehrern vorbereitete Afpiranten kennen gelernt, vie ſich ſehr zu ihrem 
Bortheil vor anderen, die in befonderen Anftalten vorgebilvet waren, aus 
zeihneten. Auch fann ich mir fehr wohl denfen, daß es Lehrer geben könnt, 
die fo tüchtig im Wiffen und Können find, und zwar in allen in Betracht 
kommenden Fächern, daß fie allein ein ganzes Collegium von brei oder 
vier Lehrern zu erjegen vermöhten. Ich fann mir ferner fehr wohl denken, 
daß fie durch ihre ganze Perfönlichkeit im fittlicher und erziehlicher Beziehung 
viel vortheilhafter auf ihre Zöglinge einzumwirken im Stande wären ald ein 
Collegium von drei oder vier Lehrern, von denen jeder darnach ftrebte, fich 
und nur ſich zur Geltung zu bringen. Auch der ganze Unterrichtsgaug 
würde unzweifelhaft ein viel einheitlicher fein fünnen. Kurz und gut, ID 
thesi fann ich bergleihen recht wohl zugeben; aber ob einem ſolchen Lehrer, 
der ja die Präparanvenbildung nur als Nebenamt betreiben könnte, bei 
gewiffenbafter Berwaltung feines Hauptamtes foriel Zeit 
und Kraft übrig bliebe, daß er einen bis drei Zöglinge (vrei war } d. 


7 
in den preußifhen Regulativen als Marimum hingeftellt) in durchaus an- 
gemefjener Weije vorzubilvden im Stande wäre, fcheint mir zweifelhafter. 
Und felbft zugegeben, daß bei einzelnen Lehrern alle viefe Borausfegungen 
zuträfen, ich will nicht einmal hinzufügen: zeitweilig zuträfen, faun es 
denn ſolche Mufterlehrer in folder Anzahl geben, daß fie, wie bie Regula— 
tive annahmen und anorbneten, bem gejammten Bebürfniffe an Seminar: 
Apiranten zu genügen vermöhten? Wo e8 einzelne folder außerordentlich 
reih begabter Lehrer giebt, da möge man fie in Gottes Namen weiter im 
Dienjte der Seminarvorbildung mitwirken laffen, aber nur fo lange, als vie 
oben bezeichneten Borausfegungen und Bedingungen betreffs des Wiffens und 
Könnens, der Zeit und Kraft durchaus bei ihnen zuträfen. — Scheint mir 
demnach bie Präparandenbildung dur einzelne Lehrer (eventuell auch Geift- 
liche) nur in fehr jeltenen Ausnahmefällen ausreichend gefichert, fo kann id) 
einer freien Bereinigung mehrerer Lehrer zu gleihem Zwede aud nur 
unter beftimmten Borausjegungen Gedeihen und fihern Erfolg zugeftehen. 
Die Stärke einer ſolchen Vereinigung, die Freiheit des Zuſammenwirkens 
mehrerer von lebhaftem Intereffe für die Sache erfüllte Lehrer, birgt in 
vielen Fällen nämlich auch zugleih die Keime und Urſachen ihrer Schwäche. 
Die felbftlofe Hingabe an einen Zwed, der vor allen Dingen ein durchaus 
einheitliches Verfahren aller Mitwirkenden verlangt, bie freiwillige Unter- 
ordnung unter einen Collegen, der mit allen Befugniffen eines Dirigenten 
auszuftatten wäre, endlich aud die Uebernahme ver Berpflihtung zur Mit- 
wirfung auf längere Zeit, — alles das find Opfer, zu benen gerabe tüch— 
tige, aber auch felbftbewußte Männer, die am liebften ihren individuellen 
Eingebungen folgen, nur ſehr ſchwer fi) werben verftehen wollen. Und doch 
it von dieſen Forderungen durchaus nicht abzufehen, weil fonft der Keim 
des Zerfalld von vornherein in der Bereinigung läge. Rechne ich hierzu 
noch die Forderung erheblihen Aufwandes an Zeit und Kraft und die 
Forderung tüchtigen Wiffens und Könnens in den von jedem Einzelnen 
vertretenen Fächern — und das alles bei jpärlihem Yohn für verantwort- 
lihe Arbeit — fo ſcheint e8 mir nicht zu verwundern, daß nur wenige 
jelher freien Vereinigungen fi aufthaten. Noch weniger wunderbar aber 
Iheint e8 mir, daß die meiften ſich bald wieder ſchloſſen, nachdem fie faum 
ein oder zwei Jahre hindurch ihr Dafein gefriftet hatten. Im folder Zahl 
aber, daß fie bei den Behörden in Betracht kamen, haben die oben gefenn- 
zeichneten Anftalten nie beftanden, da fie, abgefehen von den geſchilderten 
inneren Schwierigkeiten und Eriftenzbedingungen, auch noch von Äußeren 
Zufälligkeiten mannigfaher Art abhingen. Sie waren faft nur möglih an 
Orten, in denen eine größere Anzahl von Lehrern, die die erforderliche Aus- 
wahl geftatteten, vorhanden waren; fte festen auch benahbarte Refrutirungs- 
bezirfe und folde örtlichen Verhältniffe voraus, daß eine bequeme und nicht 
zu foftipielige Unterbringung auswärtiger Zöglinge möglid war. Ein Zus 
jammentreffen aller viefer Umftände, das Erfennen dieſes Zufammentreffens 
und die Bereitwilligfeit der geeigneten Lehrkräfte mag — ich fchließe das 
lediglich aus der Seltenheit folder Anftalten — der Verwirflihung der an 
und für ſich Iebensfähigen Idee vielfah im Wege geſtanden haben; wo 
aber alles fi) gefunden hätte, fehlte es oft am der Initiative zur gehörigen 
Zeit, oft wohl aud an ber nöthigen Förderung der Idee durch die höheren 


8 


Inftanzgen. Daß aber an manden Orten nidt blos ber Gedanke jelbft 
auftrat, fondern daß auch bezügliche Verſuche gemacht wurden, die nicht fehl- 
ſchlugen, fondern Erfolg hatten, fann ich aus eigner Erfahrung bezeugen. 
Wenn die Berſuche fich nicht immer fortfegen ließen oder fortgefegt wurben, 
fo lag die Schuld an dem Aufhören ber einen oder anderen Griftenz- 
bebingung. 

Diefe beiden Arten von Seminar Vorbilpdungs-Anftalten berubten auf 
freiwilliger, jeves äußeren Zwanges und jeber äußeren Anregung ent» 
behrenten Thätigkeit einzelner oder mehrerer zu gemeinfamem Thun ver— 
einigter Lehrkräfte. Zu ihmen trat als dritte Art die Errichtung bejonderer 
Anftalten mit eigens dazu beftellten Lehrern. Diefe Anftalten, Präparandien, 
Proſeminare, Lehrervorbildungs - Anftalten oder fonftwie genannt, hatten vor 
den zuerft erwähnten zunächft dem Vortheil, daß ihre Lehrer ihnen nicht 
blos im Nebenamte, ſondern im Hauptamte dienten; daß ferner ihre 
Drganifation nicht anf freiwilligen, jederzeit zurüdziehbaren Leiftungen be— 
ruhte, fondern auf dauernden, hinfichtlich ihrer Befoldung, ihrer Befugniffe 
uud Pflichten gehörig georbneten, auch die äußere Tage fihernden Verhält- 
niffen; daß endlich durch mehr oder minder feſten Anſchluß an beftimmte 
Seminare Ziele, Mittel und Wege fih genauer feftftellen und die gewünſchten 
Erfolge beffer verbürgen ließen. Freilich ftehen mit diefen Vortheilen and 
gewiffe Nachtheile in Verbindung: die Zahl der Lehrer ift nothwendig eine 
beſchränktere; der einzelne bedarf einer größeren Vielfeitigfeit; die Aus— 
ſcheidung umngeeigneter Kräfte iſt viel fchwieriger zu bewerfftelligen ; bie 
Stellung des Lehrers zur Sahe gründet fi mehr auf amtliche Pflicht als 
anf lebendiges perfönliches Intereſſe; der individuellen Auffaffiung des 
Einzelnen find engere Schranfen gefegt; die gefammte Borbildung geftaltet 
fih Leicht zu fehr zu einer Bildung ad hoc; bie allgemeine Bildung bes 
Lehrers, die fhon um feiner geſellſchaftlichen Stellung willen ver des höheren 
Bürgerftandes gleichftehen müßte, erfcheint durch dieſe Anftalten gefährdet, 
— und was folder Bedenken noch mehr find. Indeß alle die genannten 
Schattenfeiten laffen fi umgehen oder wenigftens ſchwächen, fobald fie als 
wirflih vorhanden erfannt find. Zunächſt ſcheinen die Lichtfeiten zu über- 
wiegen und die Errichtung eigener Anftalten fir die Vorbildung (ſoweit 
ſolche nicht, wie 3. B. in dem Königreih Sachen, mit den Seminaren felbft 
verbunden find) ift von den meiften deutfchen oder deutſch redenden Staaten 
in Angriff genommen. Weil fie fomit volftändig der Gegenwart angehören, 
fo müſſen wir fpäter nod einmal mit ihnen rechnen; für diefe, zunächſt 
biftorifch gehaltene Ueberfiht, genügt ihre Erwähnung an gehöriger Stelle, 
Was ich aber fhon bier zu erwähnen hätte, wäre die große Verſchiedenheit 
ber bezüglihen Einrichtungen. Diefe Verſchiedenheit ift nicht geringer als 
die von Fehr in feinem befannten Bericht (Siebenter Jahresbericht über 
das Tehrer-Seminar zu Gotha. Schuljahr 1871/72. Gotha, E. F. Thiene- 
mann) gezeichnete der deutſchen Schullehrer-Seminarien. Weder Lehrpläne, 
Lehrziele und Methoden, neh die Disciplin und die inneren wie äußeren 
Einrihtungen ſtimmen überein; gleiches gilt von den Aufnahme-Beringungen, 
Curſusdauern, gewünfhten Refultaten und anderem mehr. Ueberaus ver- 
ſchieden ift auch bei diefen Anftalten der Koftenpunft: während einzelne 
Anftalten Tediglih auf fih angemwiefen find und feitens des Staates feine 


9 

oder nur geringfügige Subvention erhalten, beziehen andere Anftalten Sub— 
ventionen bis zu 12,000 Mark und darüber. Demgemäß find aud bie 
Leiſtungen der Zöglinge betrefjs des Unterrichtsgelves Aufßerft mannigfaltig: 
einige Anftalten verlangen keinerlei Unterrichtsgeld und gewähren ihren 
Zöglingen durhichnittlih 90 bis 120 Mark Unterftägung, andere Anftalten 
innen nur in Ausnahmefällen freien Unterricht und Unterftüsungen gewähren 
und erheben von der Mehrzahl bis zu 90 Markt Schulgeld. Erfcheinen 
diefe zuletzt erwähnten Differenzen aud für ven erſten Blick als unwefentlid, 
als Adiaphora, fo find fie doch bei genauer Betrachtung nicht ohne Bedeu— 
tung: Sie kennzeichnen nämlid oft das Nefrutirungsgebiet ber künftigen 
Lehrer, die Stände, aus denen biefe hervorgehen und — das Angebot und 
die Nachfrage in den einzelnen Bezirken. Wer nun barauf Werth legt, 
daß bie Lehrer nicht vorwiegend aus ben unteren, ganz mittellofen und 
deshalb abhängigen Ständen hervorgehen ; daß fie bei Wahl ihres Berufes 
mehr einem freien, inneren, auch zu Opfern bereiten Triebe folgen, als daß 
fie im Berufe nur den Broterwerb fehen, jederzeit bereit, venfelben mit 
einem beſſer lohnenden zu vertaufhen; ber wirb biefe Umftände nicht außer 
Acht laſſen Dürfen, weil von dem Meberwiegen bes einen ober anderen 
Elementes vie Zukunft der Schule abhängt. 

Die erwähnten drei Arten der VBorbildungs-Anftalten für das Seminar 
haben mit einander gemein die ansgefprohene Beziehung auf 
tas Seminar, und ed fann baher bei ihnen faum fehlen, daß fie bei 
ihrer Anlage mehr das Beftehen der Aufnahmeprüfung in die Fachfchule 
ald die Bermittelung einer wirkli abgerundeten allgemeinen Bildung ins 
Auge faſſen, ſoviel folhes auch von einzelnen Leitern und Lehrern behauptet 
werden mag. Die ſolchergeſtalt gebotene Erweiterung oder Beſchränkung 
der Unterrichtögebiete fann nicht ohne Folgen - fein. Die Aufnahme einer 
größeren Anzahl von Mufifftunden — (und für Violine-, Clavier-, unter 
Umftänden auch für Drgel=- Unterricht zufanmengenommen dürften doch pro 
Kopf und Woche 30 Minuten oder eine halbe Stunde nicht zuviel angefegt 
jein, da diefer Unterricht fi doch immer mehr oder weniger wird individuell 
geftalten müſſen und nicht als reiner Claffen- oder Abtheilungsunterricht) — 
wird die Zahl der Unterrichtöftunden für andere Fächer nothwendigerweiſe 
beihränfen. Nicht anders wird dies fein mit dem Religionsunterricht, der 
wegen der Forderung einer tüchtigen Portion von Memorirftoff und einer 
ziemlich umfafjenden Bekanntſchaft mit Bibel, Katechismus und Gefangbud) 
minteftend 4, unter Umftänvden gar 6 Stunden erfordern wird, während 
die mittleren und oberen Stufen anderer Anftalten fih mit 2 wöchentlichen 
Stunden begnügen können. Häufig fällt deshalb der nicht in unmittelbarer 
Beziehung zum Seminar ftehende fremdſprachliche Unterricht ganz weg ober 
muß fih mit einem folhen Brudtbeil von Stunden begnügen, daß das 
erzielte Rejultat nah keiner Seite hin andy nur annähernd befriebigt. Wo 
man aber ohne Rückſicht anf die Faſſungskraft einzelner Schitler feinem 
Fach etwas abbricht, dagegen die oben beichriebenen unabweislichen For— 
derungen berüdfichtigt, da macht man häufig die Rechnung ohne den Wirth: 
das allzugroße Bielerlei der Fächer und die allzugroße Anzahl von Stunden 
bindert Die volftändige und fihere Aneignung des gefammten Bildungs- 
ſtefſes, macht das Zurechtfinden in demſelben fat unmöglih, ftumpft dem 


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Geiſt ab, indem auf die vorgängige allzugroße Anſpannung nicht blos zeit— 
weilige Abjpannung und Erſchlaffung, ſondern oft dauernde Unfähigkeit zur 
Sammlung und Berhätigung der geiftigen Kräfte folgt. Die Vielſeitigkeit 
des Bildungsftoffes nennt ein tüchtiger Pädagoge geradezu ben ficherften 
Meg, das Auffommen genialer Naturen zu vereiteln, 

Aus diefen und ähnlichen Gründen haben ſich Pädagogen und 
Behörden bejtimmen Iafien, von befonderen Borbildungs = Anftalten für das 
Seminar ganz abzufehen und die Seminarbildung auf einer Vorbildung 
aufzubauen, welde durch Abjolvirung beftinnmter Curſe höherer Schulen 
erworben iſt. Daß bezüglid der geftellten Forderungen aud bier eine recht 
bunte Mannigfaltigfeit herrſche, kann faum befremden, da die gemachten 
Vorſchläge bisher mehr auf Gefühls- als auf Vernunftgründen berubten 
und ſicherlich feinerlei unmittelbare Erfahrung für fi hatten. So blieh 
denn der Phantafie ein ziemlich weiter Spielraum, und innerhalb vieles 
Spielraums gab es viele Stationen, die ſämmtlich zu Ausgangspunften 
gemacht werden konnten und wirflih gemadht wurden. Wollen wir inner 
balb dieſer verfhiedenen Meinungen eine Scheidung vornehmen, fo ergiebt 
ſich ſolche zunächſt aus dem Charakter der zu Grunde zu legenden Schule, 
ob Gymnaſium oder Realſchule. Für erfteres traten nur wenige ein, weil 
bie durch daſſelbe vermittelte Bildung, vermöge bes Uebergewichtes der alten 
Spraden, der Volfsfhulbildung minder homogen erfchien als die Realſchule 
mit ihren moderneren LUnterrichtsftoffen. Deunoch fehlte es nicht ganz an 
Stimmen, und wenn es aud meines Wiffens Niemandem beifam, das 
Oymnafialabiturienten » Eramen zu verlangen, fo wurben doch gerade bie 
oberen Claffen in Betracht gezogen. Dem entjprehend verlangten mande 
für das Seminar viefelbe Neife wie für ven einjährigen Dienft (Ober- 
fecunda); mande dagegen waren fhon mit ber abfolvirten Tertia oder ber 
Neife für die Unter- Secunda zufrieden (Gotha). $ 15 der Verordnung 
bes öfterreihifhen Gultusminifters vom 12. Juli 1869, betr. Bildungs: 
anftalten für Lehrer und Lehrerinnen, refervirt denjenigen „Aufuchnsbewerbern, 
weldhe mehrere Oberclaffen einer Mittelfhule (Gymnaſium oder Realſchule) 
beſucht haben, auf Antrag des Lehrförpers die Zulaffung gleich in einen 
höheren Jahrgang“. Galten diefe Beftimmungen nun meiſt auch gleichzeitig 
für die entiprechenden Nealclafien, fo zeigt doch der Umftand, daß fie das 
Gymnaſium nicht grundſätzlich ausſchloſſen, daß man glaubte, auch auf 
gymunaſialer Grundlage weiterbauen zu können. Bei ven unmittelbaren 
Fahmännern fanden indeß dieſe Vorfhläge nur fehr fühle Aufnahme. Die 
Gründe find fhon angedeutet und laſſen fid) etwa dahin zufammenfallen, 
dag man bie gewonnene Bildung weder für abgerundet noch für gebiegen 
genug zu halten vermochte, da fie eines regelmäßigen Abjchluffes entbehrte 
und auf Fundamenten aufgebaut war, bie fpäter unbenützt bleiben mußten. 
Wenn, was allerdings nicht geleugnet werden foll, einzelne aus dem Gym— 
nafium bervorgegangene Seminariften ſich ſchließlich doch noch gut entwidelten 
und bewährten, fo lag der Grund jevenfalls weniger an ihrem früheren 
Beſuche des Gymnaſiums als in ihrer natürlichen Begabung und geiftigen Reg” 
ſamleit. Beite mochten in der burd das Gymnaſium vermittelten formalen 
Schulung pafjende Anregung empfangen haben, und dieſe kam ihnen fpäter gut zu 
Statten. Solche Beijpiele geftatten aber höchſtens die Folgerung, daß auch das 


11 





Gymnafium eine Reihe von Bildungselementen mittheilt, die zu Gunften ver 
Lehrerbildung gut zu verwerthen wären. Aber was von einzelnen Bildungs- 
elementen gilt, das braucht noch nicht für alle zu gelten; überbies könnte ja bie 
erwähnte „Formale“ Schulung vielleicht auch mit Hülfe anderer Unterrichteftoffe 
bewerkftelligt werben. Endlich kann auch durch Urtbeile bewährter Seminar: 
lehrer (ich verweife nur auf eine Aeußerung des Geheimen Rathes Dr. Karl 
Schneider in Berlin in der zweiten Sigung der Seminarfection der Ham- 
burger Lehrerverfammlung im Mai 1872) feftgeftellt werben, baß die Mehr: 
zabl der bisher aus Gymnafien in Seminare übergehenden Zöglinge legteren 
wenig willkommen waren, da e8 erfahrungsgemäß faft nur foldhe waren, bie 
in den Gymnaſien nichts geleiftet hatten und deshalb auf eine Verfolgung 
der Gymnafiallaufbahn verzichten mußten. Ließe ſich alfo jelbft theoretifch 
nichts gegen den unvollftändigen Gymnaſialbeſuch anführen, fo wöge doch 
der Hinweis auf die gemachten Erfahrungen, die ich perſönlich beſtätigen 
fönnte, ſchwer genug, um die Mitbringung einer gymnaſialen Torſobildung 
ins Seminar als zweifelhaften Gewinn erfcheinen zu laffen. Beſſer wird 
fih aber die Sache kaum fielen hinfichtlich derer, die aus der Realſchule, 
ohne fie vollftändig abfolvirt zu haben, ins Geminar übergingen. Das 
geringe Plus von Kenntniffen in den Realien und neueren Sprachen dürfte 
kaum ven Ausſchlag geben, da es ja aud nicht abgerundet ift und nicht 
minder als Torſobildung zu bezeichnen wäre als die halbe oder zweibrittel 
Öymnafialbildung. Lettere hätte vor jener vielleicht fogar die Fähigkeit 
des rafcheren Affimilirens logifher und pſychologiſcher Bildungselemente 
voraus. Kurz und gut, diefe beiden Bildungsgänge möchten ſich hinſichtlich 
ihres Werthes als BVBorbildungen für das Seminar die Wage balten, vd. h. 
feine von beiden gewährte genügende Sicherheit ald Grundlage für ben 
Weiterbau. 

Wie aber ſtände es mit der Abſolvirung der Realſchule? 
Vorgeſchlagen wird dieſelbe in drei Schriften, welche ſich mit der Reform 
der Lehrerbildung beſchäftigen und von Männern herrühren, die als päda— 
gogiſche Schriftſteller Ruf oder wenigſtens bedeutenden Anhang haben. Karl 
Schmidt, der befannte gothaiſche Schulrath und Seminardirector, thut ſolches 
auf S. 24 ſeiner Schrift: „Zur Reform der Lehrerſeminare und der Volks— 
ſchule“ (Cöthen 1863, bei Schettler); Karl Richter, der Leipziger Schulmann 
und Herausgeber der pädagogifhen Bibliothek, auf ©. 135 feiner Schrift: 
„Die Reform der Lehrer -Seminare nad) den Forderungen unferer Zeit und 
der heutigen Pädagogik“ (Leipzig 1874, bei Branpdftetter), und Ernft Wunderlich, 
der Herausgeber einer vielgelefenen Schulzeitung, in feinen polemifhen Ab— 
bandlungen : „Die Seminarfrage*, ©. 49—59 (Leipzig 1874, bei Giegis- 
mund & Bolkening)., Während aber Karl Schmidt fi wicht weiter über 
die Organifation der Realſchule ausfpriht und felbe alfo jo acceptirt, wie 
fie ſich bis 1863 entwidelt hatte, fo festen Nichter und Wunderlich eine 
tbeilmeife Umgeftaltung der Nealfchule voraus. Richter denkt zunädhft an 
eine Realſchule zweiter Ordnung (Wegfall der oberften Claſſe, ©. 131), und 
wärbe dieſe noch eine Vereinfachung des Lehrplans, die Beſchränkung ein- 
jelner Umterrichtsftoffe, zwedmäßigere Vertheilung des legteren vornehmen, 
endlich bie inbuctive, entwidelnde Methode annehmen müflen. Wunpderlid 
will ähnliches, befonvers eine ausreichende VBerüdfihtigung des Elementaren 


12 





der Umnterrichtögegenftände, von bem der fpätere Lehrer ſtets auszugehen hat 
(S. 58). MUebrigens will er ftatt des Befuhs einer Realſchule auch ven 
einer allgemeinen Fortbildungsſchule geftatten. Diefe ſoll aber fehsjährigen 
Curſus haben und erft mit dem 18. ober 20. Jahre entlaffen. Seine 
Forderungen bezüglih ber inneren Einrichtung der letteren bürften auf 
Widerſpruch ftoßen: obligatorifches Latein, facultative Muſik und faculta- 
tives Englifh oder Franzöfifh, endlich ein Schulgeld, wie foldes in ver 
Realſchule gefordert werbe, und ähnliches müßte außerhalb und innerhalb 
der fachverftändigen Kreife doch einigermaßen befremven. Einmal dürfte 
das obligatorische Latein beanftandet werben, da fih mit feiner Ein- 
führung in die Fortbildungsihule und demgemäß auch ins Geminar 
fiherlih Beftrebungen zu feiner Einführung in die Volksſchule einstellen 
würben, über deren Zweckmäßigkeit jelbft folche, die den Bildungswerth bes 
Lateinifchen ſehr Hoch ftellen, wenig erbaut fein müßten. Sodann haben 
facultative Fächer, und zwar im größerer Anzahl, immer nur einen jehr 
bedingten Werth. Ich verweife hierbei auf die Erfahrungen, die die Gym— 
naften betreffs des Hebräifchen faft immer gemadht haben: die Leiftungen 
entfprachen meift entfernt nicht den Opfern an Mühe und Zeit, die gebracht 
werben mußten. Aber felbft angenonmen, daß die vis inertiae nicht viele 
veranlaßte, ſich von den facultativen Fächern zurüdzuhalten, was wäre mit 
denen anzufangen, die beifpielsweife alle brei facultativen Fächer mit be 
treiben wollten? Gäbe das nicht eine heillofe Ueberbürdung, die nur im 
den feltenften Fällen nit vom Uebel wäre? nur in den jeltenften Fällen 
die obligatorifhen Fächer nicht ſchädigte? 

Enplid die hohen Echulgelver! Während nämlich; Herr Richter volle und 
allgemeine Unentgeltlichfeit des Unterrichts verlangt (©. 335), erjcheint Herrn 
Wunderli „keine Borbildpung zu koftfpielig“ (©. 58). Beide ver- 
folgen mit diametral entgegengefegten Mitteln denſelben Zwed. Schon dieſer 
Umftand könnte gegen beide Auffafiungen mißtrauiſch machen ; indeß kommt ber 
foctalpolitifhe Gefihtspunft, auf den beide losfteuern, die leidige Geldfrage, 
für uns nicht fo fehr in Betradht. Das Zweckmäßige wirb wohl aud hier 
in ber Mitte liegen: alles, was fich zu Gunften der Erlegung eines mäßigen 
Unterrichtsgeldes anführen läßt, dürfte auch für jede Art von höherer Schule, 
zu beren Beſuch feinerlei Zwang verpflichtet, gelten; weshalb alfo nicht auch 
bier? Auf gelegentlihen Erlaß vefielben, ſowie auf Unterftügungen anderer 
Art brauchte ja damit noch Feineswegs verzichtet zu werden ; ſolche Benefizien 
hätten für arme, aber würdige Schüler boppelten Werth. Doc laſſen 
wir an biefer Stelle die mehr untergeorbnete Finanzfrage und ftellen wir 
vielmehr nur das Wefentlihe und Gemeinfame der zulegt erwähnten beiden 
Reformvorſchläge feft, fo ergiebt fi zunähft die Forderung des Be— 
juh8 einer Höheren Schule (Real- oder Fortbildungsſchule), ſodann 
die der vollftändigen Abfolvirung der Anſtalt, endlich aber bie 
Forderung einer theilweifen Umgeftaltung diefer Anftalten. 
Könnten wir aber vielleicht Forderung 1 und 2, wenigſtens in ihrer 
Allgemeinheit, acceptiren, jo müffen wir doch Forderung 3, als zunädft 
nidht vor unfer Forum gehörig, abweifen. Denn wenn ich auch wicht zu 
denen gehöre, die betreffs der Realſchulen das „sunt ut sint“ fefthielten und 
jedes Reorganifationsbebürfniß beftritten, jo glaube ich doch, daß die Schwächen 


13 
unjerer Realjhulen in anderen Urfahen liegen als in folden, um beren 
willen ihnen die Seminarvorbildung nur unter den oben angebenteten 
Richter'ſchen und Wunderlich'ſchen Borausfegungen und Bedingungen anver- 
traut werben dürfte Beide Herren verfennen die Natur biefer Anftalten, 
bie zudem in fo mannigfaltigen Geftaltungen, oft in fo ftarf verjüngtem 
Maßſtabe auftreten, daß es ſchwer hält, bei ihnen nur einigermaßen gleich- 
artige Yeiftungen vorauszufegen. Aber felbft wenn dem nicht jo wäre, wenn 
es nur eime Art von Realſchulen gäbe — und nicht ſolche erfter, zweiter, 
bis gar Feiner Ordnung, höhere Bürgerfhulen und wie fie fih fonft nennen 
mögen — find denn die Realſchulen, vie viefen Namen ftaatlih zuerkannt 
befamen, nicht ihrer ganzen Anlage nad vor allen Dingen Borbereitungs- 
ihulen für die fünftigen Angehörigen ver höheren gewerblidhen Stände, 
wie die Gymnaſien ſolche für die gelehrten Stände? Stehen fie nicht in der 
That, wie die Gymnaſien, außer aller Verbindung mit der Volksſchule? 
Hieße es nicht im der That fie ihrer urjprüngliden Beftimmung ent= 
fremden, wollte man fie zu einer größeren Beihränfung ihrer Unterridhts- 
ftoffe, zu einer bejonderen Berüdfihtigung des Elementaren, von dem ber 
ſpätere Volksſchullehrer ſtets auszugehen hat, zu einer Bereinfahung des 
ganzen Lehrplans, kurz und gut zu einer Berallgemeinerung und Herab— 
vrüdung ihres Lehrziels veranlaffen? Und, um aud einer anderen Seite 
der Betrachtung gerecht zu werben, was hälfe es den Seminarien, wenn fie 
Zöglinge befämen, die ihrem ganzen Bildungsgange nad der Volksſchule 
völlig fremd wären? Würden die alfo vorgebilveten fi aud im Bereiche 
der Volksſchule acclimatifiren können, fih in ihm wohl fühlen? Wenn bie 
Gymnaſien verlangen dürfen, daß ihre Lehrer das Gymnaſium vollftändig 
abfolvirt haben; wenn ferner die Real- und höheren Bürgerfhulen es für 
unerläßlih halten (ih verweife in Bezug hierauf auf das Bud von 
Sheibert: „Ueber das Weſen ver höheren Bürgerfchule”, vergl. bie 
Programmabhandlung von H. Kern, dem verbienten früheren Director einer 
Berliner Gewerbeſchule Realſchule ohne Latein]: „Zur Realſchulfrage“ [S.12ff.]; 
ferner auf den diesjährigen [26.] Iahresberiht der Realſchule in Reichen: 
ah im Boigtlande, S. S—20), daß die Fünftigen wiffenfhaftlihen Lehrer 
der Realſchule fih ihre Vorbildung auf diefen Anftalten gewinnen; wie 
bürften die künftigen Lehrer an Volksſchulen darauf verzichten, in Anftalten 
ausgebildet zu werden, die mit der Volksſchule in organifhen Zufanımen- 
bange ftehen und fih aus venfelben entwidelt haben? — Zu diefen Argu- 
menten kommt noch eim nicht minder wichtiges, welches Kehr in einem 
Bertrage tiber denfelben Gegenftand zum Ausdruck bradte: „wir würben 
wohl ein Seminar, aber feine Seminariften haben, weil ihre Borbildung zu 
toftipielig wäre”. Diefe Koftfpieligteit hängt mit ber relativen Geltenheit 
der Anftalten, mit der langen Curfusdauer, mit ihrem Vorkommen nur in 
größeren Städten und ähnlichem zufammen; fie wird beritdfidhtigt werden 
mäflen trog der Einwürfe von Wunderlich ; denn um eines Principes willen, 
welhes nicht entfernten Anſpruch auf allgemeine Gültigkeit und Anerkennung 
bat, die Lehrerbildungsanftalten lieber veröden zu laſſen, ſcheint mir doch 
eine bevenfliche Weisheit. Der VBolfsbildung wäre damit wenig gedient, und 
den Lehrern, wie ich glaube, aud nicht viel, da ein auf biefem Umwege 
Tünftlich erzeugter Lehrermangel allen Theilen ungefähr den gleihen Segen 


14 

bräcdte, wie ein glüdlih durchgeführter Arbeiterftrife, vd. 5. Einbuße an 
volfswirthichaftlihem, vor allem aber an fittlihem Capital. — Ziehen 
wir die Summe aus biefem Abjchnitte, jo werden wir aud die abjolvirte 
Realjchule nicht als die allgemein geeignete Borbildungs -Anftalt für das 
Seminar gelten laffen dürfen, wenigftens nicht in fomweit als vie ſoeben 
geltend gemachten Bedenken zutreffen. Daß trogdem auch einzelne Real— 
ſchul-Abiturienten fi) in Seminaren und im Schulamte ſchließlich recht gut 
bewähren fünnen und vielleicht auch jchon bewährt haben, ift ja bamit gar 
nicht ausgeichloffen. 

Um nun aber nicht bei ven bisherigen, mehr oder weniger negativen 
Refultaten ftehen zu bleiben, füme es darauf an, vor dem Formuliren 
pofitiver Vorjchläge für die Seminar-BVorbildung die Grenzen zu beftimmen, 
innerhalb veren dieſelbe fich zu bewegen hätte. Zu dieſem Zwede wären 
einerfeit8 die Aufgaben des Seminars, ambererjeitd die Aufgaben und 
Leiftungen der Volksſchule zu erörtern. Bezeichneten erftere den Zielpunfkt, 
fo legtere den Ausgangspunkt, und zwar find beide als etwas Praktiſch-Ge— 
gebenes, nicht erft als zu Konftruirendes anzufehen. Bei folder Betrachtung 
ift aber als Mafftab anzulegen nicht das unter allerlei ungünftigen Ver— 
bältniffen wirklich Erreichte, jondern das bei normaler Entwidelung Er— 
reihbare, weil man, lebiglic auf erfteres fich beichränfend, auf eine Erhöhung 
der Yeiftungsfähigkeit von vornherein verzichtete. Das darf aber unter allen 
Umftänden nicht der Fall jein; vielmehr wird bei dem innigen Zufammen- 
bange zwifchen Seminar und Volksſchule die Hebung des einen auch die Des 
anderen, der Stillftand oder Rüdgang des einen den Rüdgang des anderen 
zur Folge haben müfjen. Welchen Zwed hätte aber die Steigerung der 
Leiftungsfähigfeit des Seminars, wenn man nicht dadurch im letter Linie 
die Volksſchul- und die allgemeine Volksbildung zu heben trachtete? Anderer- 
feits bliebe aber auch der Verſuch, die Ziele des Seminars in die Höhe zu 
ſchrauben, ohne Erfolg, wenn man nicht zugleid die Volksſchule, aus welcher 
hauptſächlich und factifh das Seminar ſich refrutirt, zu ſtets gediegeneren 
Leiftungen befähigte. So treibt und jpornt naturgemäß das eine das andere; 
beide bleiben aber ſtets von einander abhängig. — Aber nicht blos bie 
Aufgaben beider wären zu erörtern, jondern, und zwar in viel eingehenderer 
Weiſe, die Mittel zur Löſung der Aufgaben. — Denn bezüglidh der lesteren 
ift viel eher ein Diffenfus möglich als bezüglicd ver erfteren, die man mit 
furzen Worten beftinnmen könnte und die in Schulgefegen und Abhandlungen 
oft genug ziemlich übereinftimmend beftimmt worden find, fo daß bie etwaigen 
Unterfchiede mehr die Norm, die größere oder geringere Ausführlichfeit oder 
Präcifion als den Inhalt der Definition betrafen. Faſſen wir die Seminare 
als Lehrer = Bildungsanftalten, jo ergiebt ſich zunächſt die Frage: wie muß 
der Lehrer beichaffen jein? Die Antwort darauf müßte die drei Gefichts- 
punkte des Willens, Könnens und Wollens beritdfichtigen und fünnte etwa 
lauten: 1) der Lehrer muß foviel wijfen, daß er die Perſonen, die er zu 
erziehen hat, nad) ihrem Entwidelungsgange, und die Dinge, die er zu lehren 
hat, in ihrem organifhen Zufammenhange begreift; 2) der Lehrer muß den 
rechten Unterrichtsftoff auszuwählen und in angemefjener Form, zur rechten 
Zeit und am rechten Orte zu übermitteln im Stande fein; 3) der Lehrer 
muß den feften Willen haben, fein ganzes Wiffen und Können, feine 


15 
innere und äußere Erfahrung im Dienfte der Liebe an der Jugend zu ver- 
wenden. Es beftände alfo die Aufgabe des Seminars darin, daß es die ihm 
anvertrauten Zöglinge dahin brächte, diefen Forderungen nicht nur entiprechen 
zu fönnen, fondern auch entfpredhen zu wollen. Daß das Seminar hierzu 
der Mitwirkung der Zöglinge felbft bedarf, brauche ich als felbftverftändlich 
niht erjt beſonders zu erwähnen. Diefe Mitwirkung jedoch vorausgefeßt, 
bat e8 in feinen Maßnahmen nichts zu unterlaffen, was die Erreihung des 
Zwedes fürdern könnte Daß es bisher fchon in biefer Richtung eifrig 
beftrebt gemwefen ift, darf nicht geleugnet werben ; jelbft eifrige Gegner unferer 
Seminarorganifation haben zugeftehen müſſen, daß die Seminarien unter 
allen höheren Schulen wohl das größte Stüd Arbeit in fürzefter Zeit fertig 
brächten. Trotzdem eriheint dies große Stüd Arbeit noch nicht groß genug. 
Es bliebe aljo nur übrig, entweber die Arbeit im Seminar noch inten= 
ſiver zu geftalten, oder aber die Zeit für die Arbeit zu verlängern. 
Eine Steigerung der Imtenfität der Arbeit dürfte ſich ſchon mit Riüdficht 
auf die Förperliche Entwidelung der künftigen Lehrer verbieten. Wer Ge- 
fegenheit hatte, die durchweg gewaltige körperliche Abſpannung unferer 
Sceminar- Abiturienten, und zwar gerade der tüchtigen, begabten und allfeitig 
frebfamen, zu beobachten, der wird nicht umhin können, einen Theil der 
Schuld an der ungünftigen Mortalitäts- Statiftif des Lehrerftandes vielleicht 
der förperlichen Ueberanftrengung im Seminar zuzufchreiben. Wären wie für 
den Eintritt ins Seminar, fo auch für den Eintritt ins Schulamt, alfo un- 
mittelbar nad) dem Austritt aus dem Seminar, genaue ärztliche Unterſuchungen 
vorgefchrieben, jo würde, wie ich zu glauben mandhen Grund babe, mander 
der jungen Schulamts-Candidaten nicht blos als zeitlich, fondern als dauernd 
unbrauchbar ausgemuftert werben müſſen. Iſt es denn Zufall, daß nur 
etwa der fünfte oder ſechſte Theil der aus den Seminaren entlafjenen Zög— 
linge für militärbienftfähig erachtet werben fann? Dabei kann man ben 
Militär - Erfagbehörvden durchaus nicht nachſagen, als verfahren fie zu 
wählerifh. Manche Werzte glauben geradewegs mit dem Verordnen ber 
ſechswöchentlichen Dienftzeit den jungen Lehrern eine Wohltbat zu erweifen 
und find nicht fparfam mit der Brauchbarkeits-Erflärung. Ich für meinen 
Theil bin auch weit entfernt davon, die Wohlthätigfeit diefer Mafregel in 
Abrede zu ftellen; aber ich führe die Thatjahe an, weil fie betreffs der 
gegenwärtigen Seminar - Organifation manderlei zu denken giebt. — Doch 
nicht blos Rückſichten auf die Gefundheitsverhältniffe der Seminarzöglinge 
dürften von einer Steigerung der Intenfität der Arbeit im Seminar ab» 
rathen ; auch Beobachtungen betreffs des Willens und Könnens, zum Theil 
auch des Wollens der Zöglinge möchten ein Gleiches thun. Ganz gleich— 
mäßig gute Leiftungen in allen den vielen Fächern gehören zu ben Gelten- 
beiten. Den erforderlihen Beweis vermöchten die Cenſurbücher, die Ab— 
gangszeugniffe zu liefern. Und felbft diefe tragen fehr oft mehr dem gezeigten 
guten Willen als den wirklichen Leiftungen Rehnung: man will dem armen 
Teufel, der ſtets viel guten Willen gehabt, fleifig und gehorfam gewefen ift, 
nicht das Zeugniß verderben und giebt deshalb jehr häufig höhere Leiftungs- 
präbicate als man bürfte, nur damit die gefammten Leiftungen im Einflang 
ftehen. Gleichwohl fehen die meiften Zeugniffe immer nod bunt genug aus. 
Daß dies aber mindeftens in der Hälfte aller Fälle nicht zufammenhängt 


16 


mit mangelnder oder nicht für alle Fächer gleihmäßiger Beanlagung, läßt 
fih erkennen aus der immer fi mindernden Berheiligung an den nidı 
obligatorifchen Fächern. Bon 11 refp. 13 Zöglingen deſſelben Aufnahme- 
Jahrgangs betheiligten fih jchlieglih nur je 5 bis zum Schluß ihrer 
Seminarlaufbahn am franzöfifhen Unterrichte; dabei war aber die Zulaffung 
zu biefem facultativen Fade von vornherein abhängig gemacht worden von 
dem Nachmweife beftinmter Kenntniſſe. Wo blieb die anfängliche Begeifterung, 
die die Aufnahme einer fremden Spradhe in den Seminarunterridht bervor- 
gerufen hatte? Sie wurde bald genug abgekühlt durch die Erkenntniß, daß 
das blos angenehme oder nügliche ver dem notbwendigen zurüdftehen müſſe. 
Gerade die tüchtigften jener, einen Dispens vom Franzöfifhen nachſuchenden 
Seminariften erklärten mir: fie hätten das Gefühl einer Zerjplitterung 
ihrer Kräfte und das Bedürfniß einer größeren Concentration und Be« 
ſchränkung. — Innerhalb ver facultativen Theile des Muſikunterrichts 
machen fih ähnliche Erſcheinungen geltend. — Reicht dem gegenüber bie 
Erklärung aus, daß man dann die betreffenden Fächer ausfheiden mülle? 
Im Interefie und auf Grund energifher Forderungen der Lehrerwelt find 
fie in den Seminarunterriht aufgenommen worden, und nun follte man fie 
ohne langes Befinnen raſch wieder über Bord werfen? Man thäte damit 
den Seminaren und ben Lehrern und ben anderen dabei intereffirten Kreijen 
nicht den geringften Gefallen. 

Ein weiterer Uebelftand ift die für eine ganze Anzahl von Fächern 
geradezu völlig unzureichende Anzahl von Stunden. Bor allem gehört bier- 
ber, wenn ich an die preußifhen und vie nad) preußiſchem Mufter eingerid)- 
teten Seminare denke, die Pädagogik. Diefe weifen für Pädagogik im 
Ganzen 6 Stunden, für jede der drei Claſſen 2 Stunden wöhentlih auf; 
nur im der Oberelaſſe dient noch eine dritte Stunde zur Beiprehung ber 
Wahrnehmungen, die in der Seminarfchule gelegentlich der Lehrübungen 
der Lehrfeminariften von den Uebungslehrern gemacht wurden. Die große 
Maſſe des durchzunehmenden Stoffs ergiebt fih aus den Wufgaben und 
Zielen, wie fie in $ 18 des betreffenden Abfchnitts der „Allgemeinen Be: 
ftimmungen vom 15. October 1872“ feftgeftellt find. „Claſſe III: Das 
Wefentlihfte aus der Geſchichte der Erziehung und des Unterrichts, und 
Einführung in die Hauptwerfe der pädagogiſchen Literatur mit obligater 
Lectüre derfelben.“ Die Lectüre „wird derart behandelt, daß die Seminariften 
den Inhalt eines längeren Schriftſtückes ſelbſtändig und verftändig auffaflen 
lernen“. „Claſſe I: Allgemeine Erziehungs- und Unterrichtslehre unter 
Hinzunahme des Nothwendigen aus der Logik und Pſychologie.“ „Claſſe I: 
Die fpecielle Unterrichtsichre (Methovit), Das Schulamt. Die Schul 
verwaltung. Der erweiterte Amtsfreis und die Wortbildung bes Lehrers. 
Defanntmahen mit den im Bezirke geltenden allgemeinen Beftimmungen 
über den Volksſchulunterricht.“ Ohne bier Bedenken erheben zu wollen gegen 
die Anordnung des Stoffs, die ja mannigfah von der anderwärts üblichen 
Anordnung abweicht, will ich doch nicht verfhweigen, daß zu einer felbft- 
ftändigen und verftändigen Auffaffung des gefammten Stoff durch bie 
Schüler, zu einer einigermaßen eingehenden, überall auf concreten Beifpielen 
fußenden Entwidelung des Stoffs durd den Lehrer die verwendbare Zeit 
durchweg als viel zu knapp bemeffen erfcheint. Diefe Meinung tbeile id 


17 


mit recht vielen preußiſchen Collegen. Unfere Meinung wird aber auch 
beitätigt dur außerpreußiſchen Gebrauch. Die königlih fühfifhe Lehr- 
ordnung fegt für Päragogif in Claſſe II 4, in Claſſe IT und I je 5, im 
Ganzen alfo 14 Stunden an; durch den Lehrplan des Hamburgifchen 
Lehrerfeminars wurden 5 und 4, zufammen 9 Stunden; durch den öfter- 
reihifchen Lehrplan für Lehrerbildungsanftalten wenigftens 7 Stunden theore- 
tiihen Unterrihts; im Gothaifhen Seminar (vergl. den 7. Jahresbericht, 
©. 58 und 59) 12 Stunden dafür beſtimmt. Alle dieſe Lehrpläne find 
hervorgegangen aus den Berathungen und Erfahrungen zum Theil ſehr nam— 
bafter Praktiker, von denen fehr viele durchaus erhaben find über den Vorwurf 
eines gefliffentlihen Breittretens ihres Stoffes. Wenn diefe alle nun erheb- 
ih mebr Zeit für den Gegenftand beanspruchen, jollten wir Preußen uns 
da mnterfangen, im der Hälfte oder in einem anderen Bruchtheil der Zeit 
daffelbe leiften zu wollen? Als ih die Univerfität befuchte, laſen einzelne 
Profefforen abwechſend, bald im Sommer-, bald im Winterfemefter, Logik. 
Da num erfteres oft mindeftens 1/, kürzer war, als letteres, fg kamen auf 
erfteres and; viel weniger Stunden. Die Folge war, daß die Sommer- 
Iogit durchweg in der Schätung ſehr viel niedriger ftand als die Logik 
vs Winterfemefterd. Sollten wir Preußen uns betreffs unjerer Päpagogif 
auch mit einer geringeren Schägung begnügen? Ich wiirde mir aber wenig 
aus einer geringeren Schägung machen, wenn ich nur wüßte, daß wir im 
unferer knapp bemeflenen Zeit wirflih das Erforderliche, das Nothwendige 
leiften könnten. Nach meinen Erfahrungen im Seminar indeß und nad 
ven Erfahrungen bei der zweiten Lehrerprüfung muß id) es bezweifeln. 
Bohl zeigt bier und da ber Eine oder Andere genügende Kenntniffe und 
eine befriedigende Einfiht; das Gros weift nur Fragmente auf: von einer 
ücheren Beherrfhung und Wiedergabe in einfacher, aber gewandter und 
logiſchdurchdachter Sprache ift meift wenig die Rebe; gelegentlihe Remini- 
keenzen aus dem Vortrage des Lehrers, der f. 3. mechaniſch-gedächtnißmäßig 
teproducirt wurde, find das Fett, von dem oft gezehrt wirt. Faſt erjchiene es 
beſſer, daß von dem hodtönenden Namen für das Fach wieder abgefehen 
und zurückgekehrt werde zu dem der bloßen „Schulkunde“. Dort ift ja ein 
wiffenfhaftliher Zufammenhang nicht weiter erforderlih, wenn nur bas- 
jenige vermittelt wird, was eine unmittelbare Verwendung in der Schul- 
praris geftatte. Wer wollte aber einen ſolchen Rüdjchritt winfhen? — 
Die Frage wäre nun: wo follten die erforderlihen Mebrftunden ohne , 
Schädigung anderweitiger Intereffen hergenommen, wohin follten fie gelegt 
werden? — Leider befinden fih aber aud andere Fächer in gleicher Ver— 
dammniß mie die Pädagogik: So reicht z. DB. die eine Stunde Kirchen— 
geihichte im legten Schuljahr nicht bin, nicht her; nicht beffer geht es mit 
der einen Stunde Bibelkunde, in der auch noch ein gut Theil der Bibel 
gelejen und die Methodik des Religionsunterrichts veranfhaulicht, auch An- 
leitung für die Fortbildung gegeben werben fol. Und ähnlich geht es im 
den andern Fächern; wenigftens erflärt felten einmal ein Lehrer, er ſei in 
feinem Fache ausreihend mit Stunden bedacht. Go hilfe fih nun ein 
Jeder durch möglicht kräftige Förderung des Privatftudiums, durch Anſetzung 
von Ertraftunden in der Freizeit und vergleihen. Die armen Seminariften, 
im Gefühl der Unzulänglichkeit ihres Wiſſens, thun nad — mit, bis 


Boodſtein, Seminar-Vorbildung. 


18 


diefe Kräfte zu Ende find. Der Erfolg diefer Ueberanftrengung ift aber 
häufig genug ein durchaus negativer: mit bem sanum corpus geht aud, 
häufig genug die sanitas mentis in bie Brüche. 

Aber nicht nur das Willen, aud das Können kann meiſt nicht nad) 
Gebühr gefördert werben. Die gegenwärtige Mittelclaffe oder der zweite 
Iahrgang hat wöchentlich 36 bis 38 Lernftunden, für deren jede doch mindeftens 
1/, Stunde Vorbereitung, Uebung und Wiererholung nothwendig fein bürfte. 
Das giebt für den Wochentag 9 bis 10 Stunden Hände- und Kopfarbeit. 
Bon diefer Arbeitäzeit erhebliches abzubrehen, gebt ſchon um der großen 
Fülle des zu bewältigenden Stoffes willen nit gut an. Nun follen aber 
diefelben Zöglinge, deren Unterricht nur zum Theil in die Schulzeit fällt, 
in der Uebungsſchule den Lectionen der Seminarlehrer zuhören, Helferbienfte 
leiften und ſich in eigenen Lehrproben verfuhen. Sollen fie hiervon wirt 
lihen Nugen haben und, wenn ihnen im legten Jahre fortlaufender Unter- 
richt in der Schule zuertheilt wird, mit einiger Sicherheit auftreten fünnen 
und über das ganze burdzunehmente Penfum genügend orientirt fein, fo 
müßten fie wenigftens an den Hauptgegenjtänden planmäßig durd Hofpitiren 
und Probiren die bedeutfamften Elemente der Unterrichtsfunft praktiſch 
fennen gelernt haben, über die Bertheilung des Lehrftoffs für die einzelnen 
Abſchnitte des Schuljahres und über die im einzelnen Falle anzuwendende 
Lehrform im Wefentlihen durch Hinweis und eigene Beobachtung ins Klare 
gebracht fein. Eine foldhe Vorbereitung erfordert aber auch wieder erheblide 
Zeit: mit der jet vielfach gebräuchlichen Praris ver Berwendung von 
3 bis 4 wöhentlihen Stunden in der zweiten Hälfte des zweiten Schul- 
jahres wird dem Bedürfniß jevenfalls nicht genügt, zumal die Behandlung 
der fpeciellen Methodik, die anderwärts das Penſum der Mittelclaffe bilvet 
und welde die mangelnde eigene Auſchauung zu ergänzen im Stande wäre, 
jegt in den preußifhen Seminarien zum Haupttheil des Penſums der Ober 
clafle geworben ift, fo daß die jungen Sehranfänger neben dem, was fie 
aus eigenem Talent oder Inftinft beizutragen vermögen, fat lediglich auf 
die Inftruction des Uebungslehrers angewiefen find. Daß diefer aber nicht 
ſehr fpecielle Weifungen zu geben im Stande ift, hängt ſchon damit zu— 
ſammen, daß er eventuell für 4 oder 5 Klaffen die Anweifungen zu geben 
und die Vorbereitungen zu controliten hat. Daher find die Lehranfänge 
der jungen Lehrjeminariften meift nicht befonders ermuthigender Art, und 
Cehrfeminariften, Uebungslehrer und auch die Uebungsſchüler befinden fh 
anfänglich meift nicht im bejonders bebaglihem Zuftande Es mag ihnen 
allen jo zu Muthe fein wie ven Pferden und Infaffen einer von einem 
Fahranfänger geleiteten Poſtkutſche: fie laboriren ale etwas am der Ger 
krankheit. 

Habe ich in dem Vorſtehenden weſentlich Zuſtände in dreijährigen 
Seminareurſen geſchildert und bin ich betreffs der inneren Einrichtung 
vorzugsweiſe dem gefolgt, was innerhalb Preußens angeordnet iſt, ſo ſo 
damit gar nicht bezweifelt werden, daß nicht im Einzelnen von Seminar— 
leitern und Lehrern gar manches geſchah, was geeignet war, ber Leber 
bürdung der Seminariften einigermaßen vorzubeugen und gleihwohl theoretiſch 
und praktiſch möglichſt gute Erfolge zu fichern. Uebrigens iſt die Frage 
wegen Meberbürbung ver Zöglinge mit Stunden im preußiſchen Miniſterium 


19 


des Unterrihts jhen gegen Ende des Jahres 1874 zur Erörterung ges 
fommen. Die Folge davon war eine Anfrage nah der in jevem Seminare 
ven Zöglingen zur Erholung freigegebenen Zeit. Wie die Antworten aus— 
fielen, weiß ich nicht; doch fchienen fie günftig genug gelautet zu haben; 
menigftens ift feine allgemeine Verfügung auf jene Antworten hin erfolgt. 
Andrerjeits bleibt freilich die Möglichkeit nicht ausgeſchloſſen, daß von all 
gemeinen Verfügungen deshalb abgefehen wurde, weil ohne tiefeinfchneidende 
Veränderungen eine Befferung doch nicht herbeizuführen gewejen wäre. Wie 
dem aber auch jei, eine Steigerung der Intenſität der Arbeit 
dürfte kaum möglich fein; eine Herabdrüdung der Ziele geht erft recht 
nicht an, denn eine foldhe würde alle bisher unter fchweren Kämpfen er- 
rungenen Fortſchritte in Frage ftellen; fo bleibt aljo nur übrig an eine 
Verlängerung der Arbeitszeit im Seminar zu benfen: ber 
treijähbrige Curſus müßte zu einem vierjährigen um— 
seftaltet werden. j 

Ueber die Schwierigkeiten einer ſolchen Umgeftaltung bin ich durchaus 
nicht im Unklaren, zumal wo es fich handelt um einen großen Staat, wie 
8 der preußiſche iſt. Enthält doch ſchon $ 3 der Lehrorbnung für bie 
vreufifchen Seminare (vom 15. October 1872) den bemerfenswerthen Wort- 
laut: „Der Unterridtscurjus im Seminar dauert drei Jahre An den— 
jmigen Anftalten, wo verjelbe bis jeßt eine kürzere Dauer hat, ift die 
Cinrihtung des dreijährigen Curſus anzuftreben” Das 
teiheidene Wörtlein „anzuftreben“ deutet ſchon verftedt die Schwierig- 
fetten an, die eimer folhen Umwandlung entgegenftehen dürften. Bei den 
bundert Seminaren der preußiſchen Monarchie hieße das eine Einrichtung 
von 100 neuen Seminarclaffen, die Anftellung von 150 bis 200 neuen 
Yehrern und was der anberweitigen materiellen Aufwendungen noch mehr 
wire Daß ſich dergleihen nicht im Handumdrehen machen laffen, ſondern 
ine hübfche Reihe von Jahren erfordern würde, ift mir wohlbewußt. Indeß, 
was von anderen Staaten jchen ohne Weiteres bewerfftelligt und aus— 
gehalten werden fonnte, das fcheint mir nicht unmöglich für den preußiſchen 
Staat. Defterreih bat einen vierjährigen Curſus für feine Lehrer- und 
Vehrerinnen = Bildungsanftalten eingeführt jeit dem 19. Yuli 1870; das 
Königreich) Sachſen hat fogar feit dem 14. Juli 1873 nur fechsclaffige 
Seminare, deren vier obere Claffen unferen Seminarclaffen entfprechen 
türften; im Großherzogthbum Sachſen (Weimar: Eifenah) find zwar nur 
‚wer Claſſen, doch hat jede derſelben einen zweijährigen Curjus, das ganze 
Zeminar deshalb einen vierjährigen Curſus. Sollte nun, um von anderen 
Beifpielen adzufehen, dem Großſtaate Preußen ein gleicher Aufwand un- 
möglih fein? — Wie id) mir diefe vierjährigen Curſe eingerichtet denke, 
kann ich bier nicht weitläufig entwideln, da es mid von meinem eigentlichen 
Thema, von welchem ich mid ſcheinbar jo wie jo ſchon fehr weit entfernt 
babe, noch weiter entfernen würde. Auch ift ja aus den Mifftänden, bie 
ih der gegenwärtigen, auf drei Jahre berechneten Seminar » Einridhtung 
nahgefagt habe, zu erfehen, worauf ich losſteuere. Indeß foll eine kurze 
beftimmte Andeutung nicht fehlen. Die letten beiden Seminarjahre müßten 
faſt ausſchließlich der eigentlichen Berufsbildung gewidmet fein: innerhalb 
ihrer müßte alfo jowohl die theoretifche als die praftifhe Unterweilung und 


7% 


20 


Ausbildung Liegen und alle hierhin gehörigen Stoffe (Pſychologie, Logik, 
allgemeine und fpecielle Pädagogik, Katechetik, Gefchichte der Erziehung und 
des Unterrihts, Schulfunde u. f. w.) müßten in dieſen beiden Claffen ver- 
mittelt werben, und zwar ber Geftalt, daß auf das vorlegte Jahr etwa 
7 reſp. 8, auf pas legte 5 refp. 4 wöchentliche, dem fpeciellen pädagogiſchen 
Unterrichte angehörige Stunden fielen. Die Stunden fürs Hofpitiren, für 
bie eigenen Lehrpreben der Tehranfänger und für bie fortlaufende Thätig— 
feit in der Uebungsſchule wären jelbftverftändlih in obige 12 Stunden nidt 
mit einbegriffen. Außer dieſen unmittelbar für bie Berufsarbeit vorberei- 
tenden Stunden wären in der zweiten Claffe noch etwa 14 bis 18, im ber 
erften Oberelaſſe 10 bis 14 Stunden für folhe Fächer oder Fachtheile an: 
zufegen, die einen gereifteren Verftand und felbftändiges Urtheil vorausfegten, 
beziehungsweife eine ununterbrodene, aber controlirte Uebung verlangten. 
Ueber vie in Betracht kommenden Stoffe fann fein großer Zweifel berr- 
fhen: es würden vorzugsweiſe die Materien zu berüdfichtigen fein, bie 
bisher in der Oberclaffe allein mit Nuten getrieben werden fonnten. Ich 
rehne bierbin: Kirchengeſchichte, Styliftif, die fchwierigeren Partien ber 
Geſchichte und Literaturgefhichte, der Naturwiſſenſchaften und eine, wie 
Kehr fih in einem Bortrage ausprüdt, „Speciell-beruflide* Ber- 
tiefung in den anderen Fächern. Der Hauptnahdrud läge in der Be— 
bandlung der einzelnen Fächer. Zwar wäre im ganzen Seminar 
das entwidelnde Verfahren foweit als irgend möglih zur Anwendung zu 
bringen, aber während in ven beiden eriten Jahren der Lehrer den Weg 
angäbe und in den hiftorifhen Fächern den Stoff fo mittheilte, daß es ber 
Schüler Aufgabe bliebe, ihn im angemeffener Weiſe zu reproduciren, fe 
hätten in ven zwei legten Jahren die Schüler felbft ven Weg zu fucen, 
den Stoff felbft dem Bedürfniſſe entfprehend zu finden und fo eine Thätig— 
feit zu entwideln, die auf ihre fpätere jelbftändige Thätigfeit in der Schule 
vorbereitete. Der Seminarlehrer wäre bier mehr eine Control = Injtanz 
und ein Regulator, eine Perfünlichkeit, die nur an geeigneter Stelle neue 
Impulje gäbe, nachdem er im den erften beiden Jahren ven Schülern ge 
zeigt hätte, wie er felbft zu probueiren im Stande fei. Denn das halt: 
ich allerdings mit Harnifh für nothwendig, daß ein Geminarlebrer zu 
probuciren (nicht blos zu reproduciren) im Stande fei. So präfentirt alfo 
die zweite Hälfte des ganzen Seminarcurfus ein Beifpiel, wie man lehren 
muß, während bie erfte Hälfte gezeigt baben follte, wie tüchtig gelernt werben 
fann. Damit ift ausgeiprohen, was die erften beiden GSeminarjahre zu 
leiften hätten. Ihre Aufgabe wäre, die für die Thätigfeit des Lehrers In 
der Schule und im Leben nothwendigen Kenntniffe zu ordnen, zu ergänzen 
und derartig zu begründen, daß er biefelben nicht nur felbftändig zu repro— 
buciren und fpäter lehrend mitzutheilen vermöchte, ſondern daß er aud im 
Stande wäre und gemeigt würde, fi innerhalb biefer Gebiete jelbftändtg 
weiter zu bilden. Wie folhes möglich fei, haben ja pädagogiſche Schrift: 
fteller oft genug ausgeführt und auch ich felbft bin bemüht gewefen im einer 
Heinen Abhandlung: „Wie wird ſich im Seminarunterriht Vorbildlichleit 
und Wiſſenſchaftlichkeit herſtellen laſſen?“ (Exfter Jahresbericht über das 
Lehrer - Seminar zu Hamburg. Hamburg 1873) meine Gedanken barüber 
vorzutragen. Ich verweife alfo darauf und bemerfe nur, daß ih betrefi? 


21 } 


der Stoffe mich im Welentlihen dem anjchliefe, was in ven „Allgemeinen 
Beitimmungen vom 15. October 1872* für Claſſe III und II und in ben 
bezüglihen Lehrplänen anderer Staaten hierfür vorgefchrieben if. Daß ich 
bier und da eine veränderte Anordnung derjelben, eine Heine Erweiterung 
gern fühe, will ih nicht leugnen; doch find die Differenzen durchaus nicht 
weientliher Art und beftände der Hauptunterfhieb in der Mehrforderung 
von Bildungszeit, von welder ich nicht glaube abjehen zu können, da id) 
für den Mangel an innerer Befriedigung, ven Lehrer und Seminariften zu 
erfennen geben, einen anderen Grund nicht finden kann, als daß beide fich 
abhaften und doc nicht recht fertig werben, daß fie trog des Aufgebots aller 
Kräfte Doch fühlen, dag aller Eden und Enten nod etwas fehle. Da aber 
die Aufgabe, wie ſchon oben gezeigt worden ift, wirklich zu groß ift, als 
daß fie in 3 Jahren zur Genüge gelöft werben könnte, fo wird eine 
Berlängerung der Bildungszeit niht umgangen werben 
fönnen. 

Slüdlihermeife befinde ich mich mit diefer Mehrforverung an Zeit 
nicht blos im Einklang mit der bewährten Praris anderer Staaten, jondern 
auh mit den Anfichten bewährter und über Seminarleiftungen und Be- 
dürfniſſe wohlunterrichteter Schulmänner, z. B. Kehr's. Die Kleine Differenz 
ver Meinungen betrifft metit lediglich den Namen der Sache. Kehr*), will 
nur die beiden Oberclaffen als Seminar d. h. als pädagogiſche Fachſchule 
gelten laſſen, während ich alle vier Claffen fo bezeichnen möchte. Die Gründe 
für diefe Berfchiedenheit find auch weniger principieller, als, um mid) eines 
kriegstechniſchen Auspruds zu bedienen, taktifcher Ar. So ſehr nämlid 
Kehr die Scheidung von Berufs- und allgemein bilvdender Schule im Seminar 
anjtrebt, fo leicht läßt er es fih doch aud gefallen, daß aud im den eigent- 
lichen Fachclaſſen noch Elemente der allgemeinen Bildung übermittelt werben 
vergl. Thefe I am Schluffe des Vortrags). Bor allem ift es ihm barum 
zu ıhun, ber Weberfütterung der Seminariften vorzubeugen, denn „ihn 
jammert des Volkes“. Ich dagegen halte eine folhe ftrenge Scheibung 
nah rein beruflihen und allgemein = bildenden Elementen für minder ger 
beten, da gerade fir den Ffünftigen Lehrer und Erzieher nit bios eine 
Bermittelung der tehnifhen Seiten feines Berufs wird im Seminare 
eritrebt werden müfjen, ſondern, wie id) mich im der oben amgeführten Ab- 
handlung ausdrückte, zugleich eine unmittelbare Erziehung und Bil- 
dung für den Beruf. Im Folge einer folden Aufgabe muß das Seminar, 
unbefchadet feiner fonft unbeftreitbaren Eigenfchaft als Berufsfchule, eine ganz 
andere Stellung einnehmen, wie jede beliebige andere techniſche Schule. Man 
fann als Bergmann, als Kaufmann, als Techniker, als Architekt jehr tüchtig 
jein und braucht doch als Menſch nur berzlih wenig zu taugen; wer wollte 
aber einem zwar technifch gut ausgebildeten und rontinirten Lehrer gern 
jeine Kinder zum Unterricht und zur Erziehung anvertrauen, wenn berjelbe 
in fittlicher Beziehung erhebliche Defecte aufwiefe? Deshalb haben Yehrer- 
und Prediger Bildungsanftalten, wenn fie anders ihrem vollen Zweck genügen 
wollen, eine andere Aufgabe, die ſich durchaus nicht auf das rein techniſche 


— — 


*) Kehr's Referat über die Reform ber Seminarvorbildung in: Die 20. allgemeine 
beutiche Lehrerverſammlung zu Hamburg (Leipzig, Drud von Klinkharbt 1872). 





22 

Gebiet beſchränkt. Aber ich habe auch noch einen anderen Grund, den ih gegen bie 
zweiclaffigen Seminare und gegen blos zweijährige Curſe ins Feld zu führen 
hätte. In einem größeren Organismus läßt fi nicht blos ganz anderes in 
wiſſenſchaftlicher und berufstechnifcher Hinficht leiften, als in einem Heineren 
Organismus, fondern es läßt fi auch im ethifcher Beziehung ganz anders 
einwirken. Alles das haben Diejenigen, die gar fechsclaffige Seminare ein- 
richteten ober wenigftens für folde eintraten, jedenfalls in erfter Linie in Rech— 
nung gebracht und zwar mit vollem Fug und Recht. Die eingeftandenermaßen 
bedeutenderen Erfolge der königlich jähfifhen Seminare haben unleugbar darin 
ihren Grumd. Wir follten nur einmal, wie Kehr in jener erften Schlufthefe 
feines Vortrags vorfhlägt, die Aufnahme in das zweiclaffige Seminar ab- 
bängig madhen von einer Aufnahmeprüfung, die meinetwegen fo ftreng als 
möglich auf Erfüllung beftimmter Forderungen bielte, und wir würden troß 
alledem wahrjcheinlid das erfte Halbjahr, wenn nicht gar das ganze erfte 
Yahr, nöthig haben, um die Zöglinge zu gleihmäßiger Bildungs— 
und Leiftungsfähigfeit zu fürdern Wo bliebe dann ber Bortheil ? 
Uebrigens giebt Kehr, und das muß ich der Wahrheit gemäß bier anfügen, 
in feiner vierten Theſe die Möglichkeit und Berechtigung einer organifchen 
Berbindung feiner vierclaffigen Seminarvorbereitungsanftalt mit einer Tehrer- 
bildungsanftalt zu; will aber foldes von den örtlichen Berhältniffen abhängig 
machen. Betreffs feines Ausgangspunftes und des Refultats feiner Erörterung 
ftimmt er aber, und das möchte ich zu meiner eigenen Rechtfertigung aus— 
drücklich hervorheben, mit mir überein: beffere Borbildung und mehr 
Zeit zur berufstehnifhen Ausbildung. 

Alfo vierjährige Seminarcurfe! Mit weldhen Lebensjahre jollen 
aber diefe Seminarcurfe begonnen werben fünnen ? 

Die Abfolvirung der Abgangsprüfung weit über das zwanzigfte Jahr 
binausfhieben zu wollen, ginge ſchon um vieler Gründe willen nidht an. 
Einer der triftigften ift jevenfalls, daß das Entfernen des Zieles für bie 
Frequenz der Seminarien recht bedenkliche Folgen haben dürfte. Aber jelbft 
davon abgejehen, würde eine ſolche Hinausfchiebung des Ziels viele Aſpiranten, 
die ihre Vorbildung fhon etwa mit 16 Jahren abzufchliegen im Stande ge- 
wefen wären, wieder in den Fall bringen, fogenannte Afpirantenftellen, d. b. 
Lehrerftellen mit ungenügendem Gehalt, zu erftreben, und etwa ein Jahr, viel- 
leicht noh länger ſchon den Herrn Pehrer zu fpielen, ehe fie ins Seminar 
einträten.*) Wie bevenflih dergleichen Praris nad verſchiedenen Richtungen 
bin fei, habe ich nicht weiter nöthig auszuführen. Gleichwohl ift fie mander 
Orten nicht blos ftillfhweigend zugelaffen, jondern ſogar offictell gutgeheigen, 
wie 3. B. in Hamburg nod vor etwa zwei Jahren. Daß Sculinfpectoren, 
und manchmal jogar Schulräthe, auf vurchgefallene Seminar-Aipiranten Jagd 
machten, um fie in vacanten Lehrerftellen commifjarifch zu verwenden, ift eine 
nicht felten vorkommende, aber immer recht traurige Thatfahe. — Wird num 
als frühefter Abgangstermin aus dem Seminar das vollendete 20. Lebensjahr 
angenommen, jo ergiebt fid) als Aufnahmetermin das vollendete 16. Lebens: 





*) Daß ber all noch jest bäufig genug vorfommt, bafür brauche ih nur bie 
Erfahrungen der letzten biefigen Aufnahme: Prüfung anzurufen: von 44 zur Auf: 
nahme gemeldeten Aipiranten hatten nur 16 noch feine Lebreritelle verwaltet; der Reit, 
alfo circa %, der Geſammtſumme, fam aus Lebreritellen. 


23 


jahr. Daß diefer Termin nicht zu früh gegriffen fei, ergäbe ſich beiſpiels— 
mweife daraus, daß die Verorbnung des dfterreihifchen Minifters (vom 12. Juli 
1869, Zeile 6299) fih mit dem zurüdgelegten 15. Lebensjahre begnügt 
($ 12, 2.); daß zum Eintritt in pas Hamburgiſche Lehrerfeminar, welches 
doh nur drei Claſſen hatte, nur der Nachweis über das vollendete 16. Jahr 
erfordert wurde (vgl. Bekanntmachung der Oberfhulbehörde, Section für das 
Volksſchulweſen vom 8. November 1871); daß endlich in vie entfprechenve 
Claſſe der föniglich ſächſiſchen Seminare eventuell ſchon mit vollenvetem 15. Lebens- 
jahre eingetreten werden kann (vgl. Lehrorduung vom 14. Juli 1873, $ 1, 
Alinea 2). Wenn ferner für die Ublegung der Tehrerinnen- Prüfung 
(vgl. preußifche Prüfungsordnung vom 24. April 1874, 8. 8) das vollendete 
18. Lebensjahr ausreicht, fo follte ih meinen, daß Yünglinge von 16 Jahren 
die nöthige geiftige Reife zum Eintritt in ein vierclaffiges Pehrerfeminar, weldes 
fie alfo früheftens mit vollenvetem 20. Lebensjahre entliege, haben Fünnten. 
— Einen anderen Einwand dürften die den Schulamts-Ajpiranten durch einen 
vierjährigen Aufenthalt im Seminare (ftatt des bisherigen dreijährigen) 
erwachjenden Mebrkoften abgeben. Daß vier Jahre mehr foften würden als 
nur drei, dürfte allerdings nicht beftritten werben fünnen ; indeß bürften nur 
diejenigen Ajpiranten, vie etwa Sculftellen verwalteten (was wir oben als 
eine fehr traurige und gegen das Intereffe des Seminars, der Schulamts- 
Apiranten und der dieſen Ajpiranten anvertrauten Schulkinder verftoßende 
Thatſache bezeihnen mußten), eriftiren fünnen, ohne zu eigenen Mitteln zu 
greifen. Biele aber jelbft von diefen Schulverwaltern bedürfen, da die Stellen 
oft erbärmlich dotirt find, nod eines Zufhuffes von Haufe. Diejenigen da— 
gegen, welche in jener Zeit ihrer Vorbildung obliegen, haben bisweilen größere 
Koften (an Unterrichtsgelp, Koftgeld u. f. w.) aufzubringen, als fie im Semi— 
nare zu leiften hätten, wo der Unterſtützungsdurchſchnittsſatz per Kopf oft 
zwifhen 90 bis 150 Mark jährlich beträgt, wo fie Unterrichtsgeld nicht 
zu entrichten haben und zumal in den Internaten oft beifpiellos billig erhalten 
werden. In einzelnen Seminaren, die fih aus wohlhabenveren Kreifen recru= 
tiren, wo alfo der Unterftügungsfonds nur etwa von !/, bis 2/, der Zöglinge 
in Anfprudy genommen wird (wie 3. B. bier in Hilchenbach), kommt es vor, 
daß mehr als die Hälfte des jährlichen Aufwandes Einzelner durch Stipendien 
beftritten wird. Wenn dies aber auch nicht ver Fall wäre, wenn der Staat 
genöthigt würde, noch etwa 750 bis 900 Thaler jährlich zuzufchießen, fo würde 
ter Nuten, den ein vierjähriger Seminaraufenthalt brächte, auch dieſen Unter: 
ftügungsmehraufwand reichlich bezahlt machen. 

Wären demnach die Einwände, die gegen eine Verlängerung des Semi- 
narcurſus vorgebracht werben könnten, leicht zu wiberlegen ober wenigſtens 
auf das richtige Maß zurüdzuführen, jo handelte es ſich jegt nur noch um 
die Frage, ob bis zum 16. Jahre wirklih das nöthige Maß ver Kenntniffe 
und Fertigkeiten, von deſſen Nachweis die Aufnahme in das Seminar abhängig 
zu machen wäre, erworben werden fünhte und wie dies am zwedmäßigiten 
geihähe. | 

Das „ob“ glaube ich ohne Weiteres bejahen zu fünnen, da im Großen 
und Ganzen, und höchſtens abgejehen von ven Leiſtungen im Clavier- und 
Violinfpiel, nicht mehr verlangt wird, als was in guten mehrclafjigen Stadt— 
ſchulen ohne Weiteres bis zum vollendeten 14. Jahre geleiftet werden kann. 


24 
Für die Aufnahme in die königlich ſächſiſchen Seminare, (die freilich ſchon mit 
dem 13. bis 14. Lebensjahre aufnehmen), wird der Grad ber Vorbilpung be: 
ftimmt durch das Bildungsziel der mittleren Bollsfhule*). Vergleicht man 
aber in der Lehrorbnung der Seminare die Vertheilung tes Stoffes für 
Glafje IV und Elaffe V mir demjenigen, was in der „Allgemeinen Berfügung 
über Einrihtung, Aufgabe und Ziel der preußiſchen Volksſchule“ (vom 
15. October 1872) verlangt wird, fo kann man leicht finden, daß im jenen 
Seminarclaffen nur die legterwähnten Ziele erweitert, begründet, vertieft werben. 
Es handelte fih alfo, und das wäre die Aufgabe für die zwei 
Jahre, die zwiſchen Berlaffen ver Bolfsjhule und Aufnahme 
in das Eeminar lägen, nur darum, daß die betreffenpe An- 
eignung des verlangten Stoffes in felbftänpiger, bewußter 
und eine Elare Ueberſicht über die erworbenen Kenntnifje 
und Vertigfeiten verbürgender Weije gejhähe — Daß dem 
fo fei, lehren die Erfahrungen bei der Aufnahmeprüfung veihlid. Es find 
durchaus nicht immer die SKtenntnißreichften, welche die Prüfung am beften 
beftehen. Sehr häufig beftanden Realſchüler, jelbit der Oberclaſſen, die, wie 
ſich jpäter berausftellte, jehr hübſche und vieljeitige Kenntniffe aufzumeifen 
hatten, die Prüfung wenig gut, weil fie ihre Kenntniffe, die fie auf analytiſchem 
(deductivem) Wege erworben hatten, nicht zu verwerthen wußten, ſobald ber 
Sraminator ven Einzelnen ausging. Es fehlte ihnen eben die flare Ueber— 
fiht über das gefammte Gebiet und deshalb aud die Fähigkeit, ſich raſch über 
die Tragweite einer Aufgabe zu orientiren. Sie erjchienen bisweilen wie 
hülflofe Kinder, die nur mechaniſch ein beſtimmtes Wiffen in fih aufgenommen 
hatten, welches fie nur wiederzugeben vermochten, fobald ihnen die Frageformel 
in der gewohnten Form entgegentrat. Anders ftellte ſich oft fpäter die Sache, 
nachdem fie fih an die inductive Lehrform gewöhnt und gelernt hatten, in 
das Syftem, das fie von früher ber kannten, das durch ſelbſtändige Arbeit 
aufgenommene Einzelne einzufügen: war für fie bie erſte Zeit ihres Aufent- 
halts im Seminar oft eine Zeit unbehaglihen Umbertappens, fo befamen ſie 
nad und nad nicht blos ausreichende Fühlung mit den Yernobjecten, jondern 
auch Einfiht in dem ganzen Lernmodus und im Weiteren in das ganze Wejen 
des Unterrihtens. — Erfahrungen anderer Art mahte man dagegen bei bis» 
herigen Schulverwaltern. Trog ihres oft recht dürftigen Wiffens (zu deſſen 
felbftändiger und mehrfeitiger Begründung fie durch ihre Lehrthätigkeit ge- 
nöthigt wurden, da fie ſonſt überhaupt nit im Stande geweſen wären zu 
unterrichten), zeigten fie dody während des Examens eine gewiſſe geiftige Ge— 
wandtheit, die die Examinatoren bisweilen beftah, fo daß fie beſſer tarirı 
wurden, als fie eigentlich verdient hätten. Sie zeigten vornehmlich, daß mau 
trog eines fehr beſchränkten Wiffens, falls man nur innerhalb feines Gebietes 
fi verftländig und felbftändig umgefehen, eine genügende geiftige Schulung fid 
aneiguen Fünne, vermöge deren man ſelbſt im fremden Gebieten fi raſch zu 
orientiren vermöge, fo daß die Lücken im eigentlichen Willen als nicht recht 
von Belang erjchienen. Beide Arten von Examinanden hatten aber ein ge 
meinfames Moment, auf deſſen Betonung es mir hier ankommt: beide hatten 








*) Siehe $ 1 der Lehrordnung für die evangeliichen Bolksichulfehrer » Seminare im 
Königreihe Sachſen, Alinea 3. 


25 





nur einen Theil ihrer Zeit, und ſelbſt diefen nur in ſehr mittelbarer Weife 
zu ihrer Vorbereitung für Das Seminar verwendet; beide hatten ferner ihre 
geiftigen Kräfte in zum Theil jehr zeitranbender und anftrengender Weife fir 
Zwede zu verbrauchen gehabt, die fi mit den Aufgaben des Seminars nur 
ganz loſe berührten, — und waren doch mit fiebzehn Jahren aufnahmefähig 
geworben! Sollte deshalb die erforderliche Reife nicht in einem viel befrie- 
digenderen Grade erreicht werden fünnen in eimem Zeitraume von zwar nur 
wei Jahren, ver aber ausschließlich ver Erwerbung der nöthigen Kenntniffe 
und Fertigkeiten gewirmet würde? — Ummittelbare Erfahrungen zu jammeln, 
die das Augenommene beftätigen fünnten, war wenigftens bisher ven mit ber 
Abbaltung der Aufnahmeprüfung betrauten Lehrern verfagt, ta Jünglinge von 
erſt jehszehn Jahren in Preußen gar nicht zur Prüfung zugelaflen werden 
durften. MUebrigens hat, und das kann aud ned für eine nur zweijährige 
Vorbildungszeit angeführt werden, die Mehrzahl der preußifhen Präparanden- 
Anftalten einen nur zweijährigen Curſus. Wo verjelde ſich thatſächlich auf 
drei Jahre erweiterte, mußte ſolches geſchehen, weil die vorausgejegte, in (zum 
Theil einclaffigen) Volksſchulen erworbene Bildung hinter den ver Volksſchule 
geftedten Zielen oft jehr weit zurüdgeblieben war. Dft mag es außerdem 
geihehen jein, weil man die Züglinge nicht mit fehszehn Jahren in das 
Seminar eintreten laffen durfte. 

Wäre jo die Frage bezüglih des „Ob?“ mit „Ia* beantwortet, jo faun 
nah dem bisher Vorgeführten auch das „Wie?“ leicht beantwortet werben. 
Zunächſt iſt feitzuhalten, daß die Bolfsfhule überall die natur— 
gemäße Grundlage bilde für die jpecielle Vorbereitung für das Seminar. 
Es zu verlangen, heißt einmal den thatjächlichen VBerhältniffen Rechnung tragen, 
da notorifch mindeftens ?/,, unter allen Umftänden die überwiegende Mehrzahl 
aller Seminarajpiranten aus der Volksſchule hervorgeht. Diefe Mehrzahl 
nicht berücfichtigen zu wollen, hieße den Necrutirungsbezirf aufgeben, der bis— 
ber Zöglinge lieferte, eine gewiſſe Gleichmäßigkeit in ber Vorbildung ficherte 
und wenigſtens bie Bürgfchaft leiftete, daß ſich die fpäteren Lehrer nicht in 
der Bolfsjchule unglüdlih fühlen würben, weil fie in einem Kreife arbeiten 
müßten, der dem Stande, aus dem fie herworgegangen waren, nicht entiprädhe. 
Sodann bildet die Volksſchule betreff3 ver darin gehanphabten Disciplin, der 
ganzen Unterrichtsmweife und des Lehritoffes eime angemefjenere Grundlage für 
ten künftigen Boltsjchullehrer, als jede Art ver höheren Schulen, die doch 
wejentlich anderen Enpzweden dienen. Maucher Lehrer würde fehr ſchmerzlich die 
während ber eigenen Schulzeit in ver Bolfsfchule gefammelten Erfahrungen ver: 
miffen (wie ja befannt ift, daß jehr viele Gymnaſiallehrer ven Haupttheil der eigenen 
tidaktifchen Erfahrung aus der eigenen Öymmafialzeit herleiten), wenn er auf bie 
Erinnerungen aus jener Zeit verzichten follte oder ihrer überhaupt ganz entbehrte. 
Denn für alle möglihen Fälle kann das Seminar nicht allzeit präfente Recepte 
mitgeben, ſelbſt wenn es dies beabſichtigte. Schen ver Umftand, daß ver 
Vehrer ſelbſt früher bisweilen hinter dem Buſche geftedt hat und aljo weiß, 
wie es dahinter ausfieht, giebt ihm in ſehr wichtigen Fällen eine gewiſſe 
Ueberlegenheit über die Kinder, aber aud das Willen davon, wie foldhe Tale 
in angemefjener Weife behandelt werben. Endlich ift die Volksſchule die 
einzige Anftalt, die bis zur Confirmation (bi8 zum 14. Jahre) ihrer Bildung 
einen gewiffen Abſchluß und eine gewilfe Abrundung geben fanı. Der 


26 

Mangel an folhem Abſchluß ift ja von Pädagogen aller Schulfreife von je ber 
als ein großer Uebelftand empfunden worden ; nicht minder unangenehm emt- 
pfanden ihm aber auch diejenigen, die ohne ſolchen Abſchluß ihrer Bildung 
in einen Beruf eintreten mußten. Dürfte man ihn nun denjenigen gegenüber 
als entbehrlih hinftellen, die fpäter jelbft als Lehrer und Erzieher zu wirfen 
berufen wären? — Freilich übernimmt die Volksſchule und ihre Lehrerfchaft 
damit aud die ernftefte Verpflichtung, nad Kräften auf einen befrievigenven 
Abſchluß und eine wirkliche Abrundung hinzuarbeiten. Leider hat fie es nicht 
immer gethan, und leidet deshalb oft genug jelbft befonders unter ver Miß— 
achtung, mit welcher fie frühere Schüler, Behörden und höhere Schulen anſehen. 
Wo fie einen Abjhluß und eine Abrundung zu geben vermodht hat, da hat 
fie auch Anerkennung gefunden, wiverwillige bisweilen, aber deshalb auh um 
fo mehr ehrende Anerkennung. — Das Felthalten der Volksſchule als naturge- 
mäßer Grundlage für die Seminar-Borbildung macht felbftverftändlich nicht ungerecht 
gegen die Leiftungen anderer Schulen und unduldſam gegen Schüler aus ſolchen 
Anftalten. Es find deshalb folhe Schüler nicht auszuſchließen, wenn nichts anderes 
gegen fie fpriht, als daß fie die Grundlage ihrer Borbildung nicht in der 
Bolksihule empfangen haben. Aber im Großen und Ganzen muß das Seminar 
fo energifch wie möglich feinen organifhen Zuſammenhang mit der Volksſchule 
wahren, weil nur dann, wenn beide mit und für einander arbeiten, beiden 
eine erfprieflihe Thätigkeit, die ibre Befriedigung im ſich felbft hat und ihrer 
Anerkennung von außen auf die Dauer nicht entbehren wird, geſichert ift. 

Welche Anftalt aber foll nun auf dem in der Bolfsfhule 
gelegten Grunde weiterbauen? Daß ih Gymnaſium und Real— 
fchule von vornherein abmweife, wird niht Wunder nehmen. Führt das eine 
durch die claffifche Fiteratur und die Geſchichte der Zeiten und Völker zu dem 
Urfprung unferer Bildung, beleuchtet und erflärt es die Gegenwart aus ber 
Vergangenheit und ſucht es auf der fe ins richtige Licht geitellten Gegenwart 
die Zukunft aufzubauen, fo führt die andere durch die moderne Literatur, bie 
Mathematif und Naturwiffenfchaften. Sie begnügt fih mit ven legten Er- 
gebniffen ver Geihichte, mit den Spradhen und dem Leben der modernen 
Welt, wirft nur flüchtige Blide auf die Vergangenheit, führt aber zu ven 
Erfcheinungen der Natur, ihren Kräften und Gefegen und wendet legtere auf 
das menfchlihe Leben an. Beide vollziehen ihr Werk und Iöfen ihre Aufgabe 
aber nur, wenn fie vollftändig abfolvirt werden; nicht aber, wenn nur irgend 
welche einzelne Stufen erflommen find. Da aber die vollftändige Abfolvirung 
einer von beiden Anftalten innerhalb des in Anfprucd genommenen Zeitraumes 
von zwei Jahren undenkbar ift; ein anderweitiger nur zweijähriger Aufenthalt 
aber noch nicht einmal über vie Elemente des in ihnen vermittelten Wiſſens 
hinausführen würde, fo ift an eine Benutzung biefer Anftalten für ven Weiter: 
bau der Seminarvorbildung gar nicht zu denfen. — Es bleiben aljo, wenn 
id mich auf das befchränfe, was ich zu Anfang der Abhandlung als that- 
jählih vorhanden oder nur vorgefhlagen anführte, nur drei Möglichkeiten 
übrig: Der unmittelbare Anſchluß an ein Seminar, wie folder in den Semi- 
naren bes Königreichs Sachſen bewerfftelligt ift, oder gefonderte Präparanden- 
Anftalten, mögen felbe nun von einem Lehrer oder von mehreren in freier 
Bereinigung gehalten werben oder ftantlich angelegte und unterftügte fein; 
endlich befonvere Anftalten, die nur mittelbar auch für dieſe Vorbildung forgen. 


27 


— Der unmittelbare Anfhlug an ein Seminar bat zunächſt den Vortheil, 
daß er den umterrichtlichen Erfolg ziemlich ficher verbürgt, infofern es fich im 
einem großen fechsftufigen Organismus, der, einheitlich geleitet, die folgende Stufe 
immer auf die VBorftufen Nüdficht nehmen läßt, viel eindringender und frucht- 
barer, viel mehr ohne Ummege arbeiten läßt, al8 in mehreren fleineren Orga- 
nismen, die ohne einheitliche Leitung nur gelegentlid einmal mit einander 
Fühlung nehmen fünnen. Kann fi der gefammte Stoff auf vier (beziehungs- 
weife fech8) Jahre vertheilen, jo wird weder ein Ueberhaſten no ein Zufammen- 
drängen erforberlich, beides für ſchwache und langſame Schüler eine große Gefahr. 
Nicht minder läßt fich im Betreff der unmittelbaren Erziehung für ven Lehrer: 
beruf ein quantitativ gimftiges Nefultat erwarten, da eine einheitliche Ge— 
wöhnung und Disciplin durch ſechs Jahre hindurd, und zwar in einem Alter 
beginnend, wo felbftändige Meinungen ſich nod weniger bemerflich zu machen 
pflegen, ſich dauernder einprägen und eher zur zweiten Natur werden wird, 
als eine von zwei verſchiedenen Lehrercollegien ausgehende, die einerfeits 
zur Bergleihung herausfordert, amdererfeitS mit dem unmittelbaren Hinweis 
auf den Lehrerberuf ſpäter beginnt. Endlich kann idy mir denfen, daß ein 
Lehrercollegium, welches jeine Zöglinge volle ſechs Jahre zu behalten alle 
Ausfiht hat, dieſe Zöglinge forgfältiger nah allen Richtungen hin prüfen 
wird, als eins, welches viefelben nur etwa zwei Jahre zu unterrichten hätte. 
Aber neben diefen Vorzügen machen ſich auch Schattenfeiten und Gefahren 
bemerflih. Der längere Zeit dauernde Unterrichtscurfus, der ſich immer 
nur in berfelben Richtung bewegt und alle Mittel vemjelben Ziele unterorpnet, 
bewirkt bisweilen eine gewiſſe Einfeitigfeit und Pebanterie, die zumal den 
Lehrern und Pädagogen (welchen das legtgenannte Wort ſowieſo feine Ent- 
ſtehung verdankt) nicht zum Vortheil gereicht und ebenfowohl in ver Schule 
als auferhalb derſelben den Einfluß des Lehrers zu hemmen ganz geeignet 
ft. Schwerer nod wiegt, daß ber unmittelbare Eintritt in’® Seminar in 
ein Alter fällt, in welchem vie jelbftändige Entfheidung für einen Beruf 
noch kaum möglich ift, wo vielmehr allerlei äußere Einflüffe maßgebend find 
und wo der Mangel an Gelbiterfenntnig und an Einfiht in die wirflichen 
Berhältniffe den Schritt leicht zu einem für das ganze Lebensglüd des jungen 
Menſchen verhängnißvollen geftalten fanı. Denn wenn es irgendwo erwinfcht 
ift, daß nur ein reiferer Entfhluß und ein beftimmter Berufsprang die Wahl 
bes Berufs veranlaft haben möge, fo ift das gewiß bei dem Pehrerberufe und 
beim Eintritt in’8 Seminar der Fall. Die vielfad, graffirende Unzufrieden— 
beit und Berbifjenheit in der Pehrerwelt möchte zu einem nicht geringen Theile 
aus der Erkenntniß herrühren, daß man feinen Beruf verfehlt habe. Daß 
man ſich außerdem noch jehr fümmerlich durchs Leben ſchlagen muß, mag den 
Keft bewirken. Weshalb alſo den Eintritt in’s Seminar ohne Noth verfrüben ? 
— Ferner halte ih es für nicht vortheilhaft, daß der Schulamtsbefliffene 
fih jo ungemein früh ver Berührung mit dem Nachwuchs des gebildeten 
Mittelftandes, dem er doch fpäter jelbit anzugehören hätte, entzogen jehen fol, 
um in einer ganz erclufiven Sphäre lediglich mit Fünftigen Standesgencfjen 
zu verkehren. Yetteres führt jchließlich zu einer mindeſtens einfeitigen Schätzung 
jowohl des eigenen Werthes als der Stellung im Leben und erhöht durchaus 
nicht den Einfluß, den der Lehrer ausüben fünnte. Den Schaden davon hat meiit 
nicht nur der Lehrer, ſondern aud die Schule zu tragen. Dod genug davon: 


28 


alles Gefagte zufammengefaßt würbe etwa lauten: Der fehsjährige Semi- 
narcurjus hat neben unleugbaren Vortheilen doch leiht zugleich 
den Nachtheil, daß feine Zöglinge dem Leben mehr entfremdet 
werden, als der Schule und dem Lehrer felbft gut tft. 

Manches von dem bier Gefagten gilt zugleich für und gegen die Präpa— 
ranven- Anftalten. Zunächſt die lebendige Beziehung auf das Eeminar ; dann 
das Beitreben, den Bedürfniſſen deſſelben betreffs der Bilpungsitoffe jeiner 
fünftigen Zöglinge zu entjprehen ; das Borbereiten einer gewiſſen Gleich— 
artigfeit der Aufzunehmenden und was id ſchon oben (S Yfl.) zur Beur- 
theilung der Auftalten beibrachte. Daneben aud als dunkle Punkte: das 
frühzeitige Drängen zur Entſcheidung fir einen beftimmten Beruf; das Ent- 
ziehen der Zöglinge aus der Berührung mit Altersgenoffen, die auch für 
andere Stände eine weitergehende allgemeine Bildung erftreben, als vie Bolts- 
ihule gewähren kann; das PVorwegnehmen von Manchem, was exit in's 
Seminar felbft gehört; das leidige Vorbereiten für das Eramen jelbft, was 
viele Anftalten geradeswegs zu bloßen Preſſen erniedrigt; das fait unbejehene 
Aufnehmen von vielen durchaus ungeeigneten Elementen, blos damit das Haus 
vol werde und damit man ſich der Regierung empfehle u. j. w. u. ſ. m. 
Diefe dunklen Punkte will ich nicht allen Anftalten nachſagen; jedenfalls aber 
treffen fie bei jehr vielen zu. Leider find die Regierungen nicht überall ohne 
Schuld. Sie juhten den Notbftand des Lehrermangeld zu heben und be 
zahlten geradeswegs Prämien für jeden durch die Präparanden - Anjtalten und 
einzelne Bilduer für die Seminarien Angeworbenen. Und nit nur bie — 
parandenbildner bekamen ſolche, ſondern auch die Präparanden ſelbſt: 
manchen Staatsanſtalten beträgt die Unterſtützungsquote pro Kopf oft — 
als diejenige für Seminariſten. Zwar verpflichtet man die jungen Leute 
nicht durch Reverſe zum Eintritt in die Seminarien; indeß ſichert man ſich 
doch unter der Hand den wirklichen Eintritt. Freilich werden auf dieſe Weiſe 
die Seminarien ſchließlich doch gefüllt und dem Lehrermangel wird etwas 
abgeholfen — und ſo mag vom Standpunkte der Staatsverwaltung damit 
der Zweck der Präparanden-Anſtalten erfüllt fein. Wenn man feruer zugiebt, 
daß durchſchnittlich Die durch ſolche Präparanden-Anſtalten gebildeten jungen 
Leute mehr Kenntniſſe und Fertigkeiten aufzuweiſen haben, als die meiſten 
früher von einzelnen Lehrern gebildeten, ſo könnten ſich ja auch die Seminarien 
zufrieden geben, ſich ſogar über den Fortſchritt freuen, und nur dazu helfen, 
daß noch mancher der gerügten Uebelſtände beſeitigt werde. Indeß damit 
wäre noch nicht genug gethan. Gewiſſe Uebelſtände hängen eng mit der 
Natur der die Vorbildung verſchaffenden Einrichtungen zuſammen, und ſind 
nur zu beſeitigen, wenn man dieſe Einrichtungen ſelbſt beſeitigt. Solches 
ſchon jetzt zu fordern hieße aber das Kind mit dem Bade ausſchütten und 
würde zuvörderſt die Exiſtenz der Seminare ſelbſt auf's Spiel ſetzen. Das 
ſei ferne! 

Es käme alſo darauf an, nad) Mitteln zw ſuchen, die die Vortheile der 
beftehenden Einrihtungen bewahrten und dabei ihre Nachtheile vermieden. Solche 
Mittel ſcheinen mir gegeben zu ſein in den an vielen Orten neuerrichteten 
Mittelſchulen. An dieſe Anſtalten würde ich folgende Forderungen ſtellen: 

1) fie müßten Auſchluß an bie Vollksſchule haben, aber eine höhere Bil— 

bung als dieſe gewähren, indem die im ihnen vermittelten Kenntnifle 


29 
und Fertigkeiten an Umfang, Tiefe und Schwierigkeit gewinnen und 
dem Erziehungs- und Unterrichtsbebürfniffe des gebildeten Mittelftandes 
entjprechen ; 

2) fie müßten mit dem vollendeten 16. Jahre entlaſſen, aljo einſchließlich 
des Volksſchuleurſus zehn Jahre umfaffen, und eine fo abgerundete 
Bildung gewähren, daß fie weder als bloße Fortfegungen der Volks— 
ihulen nod als Vorſchulen für Gymnaſien und Realſchulen, fondern 
zwifchen beiden jelbftändig eriftirten ; 

3) fie müßten eime fremde Sprade in ihren Lehrplan aufnehmen und 
mindeftens deren Elemente ihren Schülern ſicher einprägen ; 

4) ihre Hauptfächer wären: Religion, Deutſch, Necdnen ; auferbem ver: 
tieften umd erweiterten fie die in guten Volksſchulen vertretenen Fächer 
und gewährten die Möglichkeit zur elementaren Ausbildung in 
der Mufit (Gefang und Geige); 

5) in jedem Kreife der Monarchie müßte wenigftens eine folde 
Schule fein, und wäre deren weitere Aufgabe, die Volksſchule des 
Kreifes mit Anregung zu verfehen und in ihren Leiftungen zu con= 
troliren. Sie felbft ftände in lebendiger Wechſelwirkung mit dem 
Seminare des Bezirks, empfinge von dort aus Anregung und be- 
richtete dahin ihre Erfahrungen betrefjs der in demjelben gebildeten 
Volksſchullehrer. Die fonftigen KRefjortverbältniffe würden durch 
diefe Wechfelwirfung nicht berührt. 

Ueber diefe Forberungen habe ich nicht viel zu fagen, da fie fih aus 
dem PVorangeführten und aus fich felber erflären. Die reine Bildung ad hoc, 
wie fie im fechsclaffigen Seminaren gar zu leicht auftritt, entfpricht ebenfo 
wenig den dauernden Intereffen der Schule und der Lehrer, wie bie gefonderte 
PFräparandenbildung. Denn wenn felbft letztere fich freihielte von den oben 
gerügten Mißbräuchen — und wie fünnte fie das, ohne das Aufgeben ihrer 
Eriftenzbedingungen ? — fo entzöge fie doch immer ihre Zöglinge zu früh 
der Gemeinfhaft mit Wltersgenofjen ans andern Ständen und verhinderte 
das Gewinnen zahlreicher Berührungspunfte, das gegenfeitige Abfchleifen und 
Aneinandergewöhnen ; kurz und gut, fie beförverte eine Gewöhnung und Ge- 
ſinnung, die ven Schulmeifter als ſolchen kenntlich und oft nichts weniger als 
beliebt madht. Daß fie auch die Entfcheidung für den Beruf in einem zu 
frühen Alter nothwendig macht und den Uebergang in einen anderen Beruf 
erfchwert, dient der guten Sache durchaus nicht. Unzufrievene, im Amte nur 
die Äußere Verſorgung fehende, eigenfinnige, egeiftifche, lieblofe, ungeduldige 
Elemente fünnen wir im Lehrerftande nicht gebraudhen; dagegen aber aud) 
nicht foldhe, die ftets ihren eigenen Willen drangeben und allzubereit find, 
auf höhere Weifung das sacrificio del intelletto zu Leiften, d. h. feine Charaktere 
find. Bildet fih aber ver Charakter im Strom der Welt und in ber aus- 
gleihennen Erwägung der eignen und fremben Intereſſen, jo erfcheint es 
geboten, gerade denjenigen möglichft lange in folder Berührung mit der Welt 
zu erhalten, ver mit helfen fol, Charaktere für die Welt zu erziehen. Kann 
man aber mit ver Berufsbildung “nicht jo lange warten, bis fich die 
ChHarafterbildung vollzogen bat, fo ſoll man wenigftens fo lange wie irgend 
möglich warten und bas ivealere Intereffe einer geiftigen Gefammtbildung auf- 
recht erhalten gegenüber dem Vordrängen einer ausſchießlich beruflihen Aus- 


bildung, zu welcher legteren die Gegenwart fowiefo übermäßig neigt. Herbart 
fagt an irgend einer Stelle jehr treffend: „Im höheren Reiche der Menjd- 
heit dürfen die Arbeiten nicht bis zur gegemfeitigen Unkunde vereinzelt werben. 
Alle müflen Liebhaber für Alles, Jeder muß PVirtuoje in einem Fache jein. 
Die einzelne Virtuofität ift Sache der Willfür; hingegen die mannigfaltige 
Empfänglichfeit, welde nur aus mannigfaltigen Anfängen des eigenen Strebens 
entftehen fann, iſt Sache der Erziehung.“ Solche mannigfaltige Empfäng- 
(ichfeit dem Lehrer zu erhalten und zu verſchaffen, ift von großer Wichtigfeit ; 
pa jeine fpätere Berufsbildung aber einen jo großen Theil feiner geiftigen 
und fittlihen Kräfte in Anfpruh nimmt, daß er für anvere Gebiete faum 
noch viel übrig bat, fo ericheint es bedenklich, auch ned, dies Wenige ihm 
vorzuenthalten. — Aber auch nod andere Momente ſprechen für die Berück— 
fichtigung der Mittelfhulen für die Seminarvorbildung. Die durch fie ver- 
mittelte Bildung braucht nicht um einen Grad ſchlechter zu fein als bie durch 
Präparanden-Anftalten verſchaffte, da ihre Lehrer ganz gleihe Qualification 
baben müſſen. Eher läßt fih nod annehmen, daß in den Mittelfchulen vie 
einzelnen Fächer beijer vertreten fein werden, da das Lehrercollegium zahl- 
reicher fein wird und dem einzelnen eine minder große Bieljeitigfeit zuge: 
muthet zu werben braucht, fo daß er feine Fächer deſto intenfiver vertreten 
fann. Für die Vertretung fogenannter ethifher Fächer wird vielleicht ein 
Literat vorhanden fein. Der weiterführende Mufitunterriht wird nur au 
die mufifalifch begabten, nicht an alle zu ertheilen fein und deshalb deſto 
wirfungsvoller fein fünnen. — Daburd, daß die Anftalt einem viel weiteren 
Kreife von Intereffenten dient, wird fie auch ein viel weitergehendes Intereſſe 
und einen regeren Metteifer wacrufen, weldhe beide auf ihre Leiſtungen 
heilſamen Einfluß ausüben fünnen. Kurz und gut: quantitativ und quali- 
tativ braucht die Vorbildung der Mittelfchule gegen die ver ftaatlihen Prä- 
paranden=-Anftelten nicht zurüdzuftehen. Es ift aber aud nicht zu fürchten, 
daß fie weniger Zöglinge an das Seminar werde abliefern können, jowie 
nur erjt befannt iſt, daß die Eeminare diefelben gern aunehmen. Sind bie 
Mittelihulen, deren Bedeutung und Bedürfniß gegenwärtig ziemlich allgemein 
anerfannt ift, erft im größerer Anzahl vorhanden, wie ih in Forderung 5 
ausführte, etwa im jedem Kreiſe eine, fo werben felbe, auch ohne bejonvere 
militärische Berechtigungen, ſtark bejucht fein. Zeigen ſich ihre Lehrer recht 
eifrig und vermögen fie zu begeiftern, jo wird es auch wicht fehlen, daß fich 
ungeſucht bei vielen ihrer Schüler die Neigung zur Wahl des Yehrerberufs 
einftellen wird. Diefe Begeifterung bei Lehrern und Schülern zu nähren, 
bat der Staat ja reihlihe Mittel und — thäte er nichts weiter, als daß 
er die jehr erheblihen Summen, die er im einzelnen Bezirken ven Präpa— 
randen-Anſtalten und einzelnen Bildnern zuwendet, auch für die Mittelfhulen 
je nach ihren Leiſtungen flüffig machte, fo wäre mir nicht bange um reichlichen 
Zuzug aud von diefen Anftalten. — Im Weiteren fönnten dann vie Mittel: 
ſchulen aud eine fir vie Entwidelung der Schule und der Lehrerbildung jehr 
heiljame Miſſion ausführen. Sie fünnten eine lebendigere Beziehung zwifchen 
Seminar- und Bezirkslehrerſchaft herftellen, indem fie ala Mittelglieder zwifchen 
beiven fungirten. Daß es daran noch jehr fehlt, ift außerordentlich zu be— 
Hagen: von ihren früheren Zöglingen hören und jehen die Seminare höchſtens 
dann etwas, wenn jene die zweite Prüfung ablegen ; jpäter bleiben vie früheren 


3l 


Schüler für das Seminar faft verfchollen. Die früheren jährlihen Schul- 
bereifungen der einzelnen Bezirke durch die Seminarbirectoren haben faft 
volftändig aufgehört und fo haben die Seminare gar feine Öelegenheit, bie 
Früchte ihrer Arbeit ſich auch einmal in anderer Beleuchtung anzufehen. Das 
it traurig genug, denn fie entbehren dadurch der Gelegenheit, entweder ſelbſt 
über die Seminarzeit hinaus Anregung zu geben oder ſolche zu empfangen, 
weil fie ja nicht zu fehen und zu hören befommen, was Lehrern ihres Be- 
zirls north thut und was Überflüffig erjcheint. Hier könnten die Mittelfchulen 
helfen. Sie haben einen Heineren Raum zu überfehen und bleiben vermöge 
ter Schüler, die ihnen aus den verfchiedenen Schulen des Kreiſes überwiejen 
werden, in fortwährender Beziehung zu dieſen Schulen; fie fünnten fih zu 
Mittelpunften ver Kreisconferenzen und Freislehrervereine machen und An— 
regung mannigfacher Art geben und empfangen. Daß letztere feine offizielle jet 
und nicht auf Grund höherer amtlicher Autorität erfolge oder entgegenge- 
nommen werbe, wird ihrer Wirkſamkeit nicht ſchaden, möglicherweife zu recht 
wiligem Entgegenfonmen veranlaffen. — In demſelben Verhältniſſe nun wie 
tie Mittelfchulen zu den Volksſchulen ihres Kreifes, ftänden die Seminare zu 
ten Mittelichulen. Regelmäßige Conferenzen am Seminarort gäben Gelegen- 
beit zu Meinungs und Erfahrungsaustaufch und zu wechjelfeitigen Anregungen 
erfprielichfter Art. Die Seminare hätten beifpieläweife von Zeit zu Zeit 
au die einzelnen Anftalten Mittheilungen zu machen über die früheren Zög— 
Inge und deren Entwidelung während ihres Bildungsganges, während fie 
ihrerfeits Aufjchlüffe über frühere Entwidelungs- Perioden erhielten. Daß 
unter ſolchen Umftänden die gerechtfertigte Berückſichtigung der einzelnen In— 
dividualitäten aufhörte Phraſe zu jein, und daß damit die Lehrerbildung einen 
Schritt weiter vorzurüden im Stande wäre, will id hier nur andeuten. 

Soll ih zum Schluß in gerrängtefter Weife das Ergebniß meiner Er- 
örterung zufammenfaffen, jo wäre es folgendes: 

Dem Seminarmußdurd Gewährung einerlängeren Bil- 
dungszeit die Möglichkeit gegeben werden, feine in jelbit- 
ſfändigen, aber aus der Bolfsjhule entwidelten, Anftalten 
vorgebildeten Zöglinge zu Lehrern beranzubilden, die nit 
blos in intellectueller und berufstehnifher Hinſicht, 
jondern aud durch ihre fittlihen Eigenſchaften völlig ge— 
eignet find zur Vollziehung des Dienfted der Liebe an der 
Jugent. Das PBildungsziel der VBorbildungs-Anftalten wird 
beſtimmt durh vie Anfnahme-Bedpingungen in's Seminar; 
doch ift nicht das Beſtehen der Prüfung ein Beweis derguten 
Borbildung, jondern die Bewährung im Seminar und im Amt. 


1) 


2) 
3) 


4) 


5) 


6) 


7) 


8) 


Theſen, 


die zur Discuſſion geſtellt werden können. 


Das Seminar als pädagogiſche Fachſchule bedarf eines wenigſtens vier— 
jährigen Curſus, deſſen erſte Hälfte der Ordnung, Ergänzung und 
Vertiefung ber gewonnenen allgemeinen und für das Lehren unentbehr— 
lihen Bildungselemente dienen müßte, während bie zweite Hälfte bie 
jpeciell=- berufliche Ausbildung der künftigen Lehrer übernähme. 

Die Aufnahme ins Seminar gefchieht nicht vor vollendetem 16. Lebensjahr. 
Seine naturgemäße Grundlage bildet die Volfsfhule; doch find Zög— 
linge anderer Anftalten, fofern fie fih in einer Aufnahmepritfung als 
genügend vorgebilvet erweifen, nicht principiell abzuweiſen. 

Die Zwiſchenzeit zwiichen dem Verlaſſen ver Volksſchule und dem Ein- 
tritt ind Seminar wird benüßt zur Ergänzung und Abrundung ber 
bisher gewonnenen Bildung in einer Fortbildungs- oder Mittelfchule, 
die auch Gelegenheit zur mufifalifhen Ausbildung zu bieten hätte. Die 
Aneignung des verlangten Wilfensftoffes muß bie felbftändige, bewußte 
und eine Klare lleberfiht über das Gebiet befundende Verwendung 
eſſelben verbürgen. 

Da, wo gute Mittel» und Fortbildungsfhulen fehlen, fönnen im An: 
ſchluß an beftehende Seminarien oder felbftändig befondere Vorbildungs- 
Anftalten errichtet werben; doch wirb ausdrücklich dafür zu forgen fein, 
daß dieſe Anftalten als Lehrziel die im Lehrplane ver Mittelſchule 
geforderte allgemeine Bildung annehmen und nicht daſſelbe nur ben 
zufälligen Eigenthümlichkeiten beftimmter Seminare anpaflen. 

Weder ver Befuh der Mittelihule noch der einer Präparanden-Anftalt 
entbindet ohne Weiteres von der Verpflichtung zur Ablegung einer be 
fonderen Aufnahme» Prüfung; doch kann bewährten Anftalten, die gehörig 
controlirte Abgangsprüfungen haben, das Recht zur unmittelbaren Ent: 
lajfung ins Seminar als Vergünftigung zuerkannt werben. 

Die Anftalten, aus denen Seminarzöglinge hervorgehen, erhalten von 
Zeit zu Zeit niht nur Mittheilungen über ihre früheren Zöglinge, 
jondern aud über die Bilbungserfahrungen, die an diefen gemacht worben 
find. Dadurch werben Beziehungen angefnüpft, die durch gemeinfchaftliche 
Eonferenzen und Befprehungen noch fruchtbarer ſich geftalten können. 
Für die Unterftügung beſonders tüchtiger und würdiger Seminar: 
Alpiranten während ihrer Lehrzeit gewährt ver Staat angemefjene Mittel; 
Anftalten, welche ftet8 gut vorgebildete Zöglinge an die Seminarien ab- 
lieferten, erhalten beſondere BVergünftigungen für Lehrer und Schüler. 


— 8N— 


Pädagogildhe Studien. 


Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein. 


16. Seft. 


Welcher Antheil gebührt Staat, Schule und Haus 


an dem Werke der Iugenderziehung? 


Fin Beitrag 
sur 
Verftändigung über Prinzipien der Erziehung 
mit Rüdjicht 


auf das demnänft zur Beralhung kommende preußiſche Unterrihtsgefeh. 


Non 


Dr. Guflav Radtke, 


Prorector an der Fürſtenſchule zu Pleß. 


„Daf die Jugenderziehung die Hauptiorge für 
den Geſetzgeber jein müſſe, darüber ift gar kein 
Zweifel; und die Staaten empfinden die Vernach— 
läſſigung derfelben zu ihrem Schaden.“ 

Aristot. Polit VIII, 1. 







en Wien und Leipzig. 
Verlag von U. Pichler's Witwe & Sohn. 
ung für pädagogiſche Literatur und Lehrmittel » Anftalt. 


Druck von Fiſcher & Wittig in Leipzig. 


Seinem treuen Freunde 


und 


einigen Obergefelen am Gymnaſium zu Krotofchin, 


Herrn Franz Wieländer, 


Mberlehrer am Königl, Gymnaſium zu Schneidemähl, 


widmet diefe Blätter in danfbarer Gefinnuna 


der Berfaffer. 


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Sieber Freund! 


Als ich vor einem Decennium das Glück des perjönlichen Verkehrs 
mit Div genoß, und Du ven braven Walter Berger, auf deſſen Hügel 
jest Schon zum jiebenten Male vie treue Schweiterliebe friihe Blumen 
planzte, und mich, uns Anfänger in der Lehrkunjt, Deiner Freundichaft 
würdigteſt, erfuhren wir Jüngeren durch Dich gar manche werthuolle Förde- 
rung jowohl in unferen wiljenjchaftlichen Studien als auch namentlich im der 
Klärung und Feitigung unjerer pädagogifchen Grundfäge Wenn wir am 
Nachmittage des legten Wochentages den traurig einförmigen Fluren Bojens 
zu entkommen jtrebten und dem erften Grenzort im Lieben deutichen Bater- 
lande, dem traulichen Freihan mit feinem verlafienen Schloß im Zopfitil 
und feinen wenig gepflegten Parkanlagen, zuwanderten, da redeten wir 
am liebjten von der Schule. Wie oft haft Du auf diefen Spaziergängen 
in Deiner verföhnenden Art die Strenge und Herbheit meiner übereilten 
Urteile gemilvert, wie oft meiner jugendluftigen doctrinären Neuerungs- 
fuht ven Zügel Deiner Ueberlegtheit und der aus einer reichen praftijchen 
Erfahrung gewonmenen Bejonnenheit angelegt ! 

Seitdem bin auch ich ruhiger geworden. Ob Du bei ver Lectüre 
der nachfolgenden Abhandlung, die Dir meine herzlichiten Grüße vom 
Fuße der Div wohlbefannten Beskiden überbringen joll, gleichfalls dieſen 
Eindruck von mir gewinnen wirft? Du ſiehſt, daß die Materie, die vor 
Jahren unferen Unterhaltungen jo oft zu Grunde lag, mich noch immer 
beichäftigt. Der Schmerz, jehen zu müſſen, wie viele Kinderſeelen theils 
durh faliche Behandlung im häuslichen reife, theils durch Directe 
Vernachläffigung feitens der Eltern wenn nicht geradezu fittlich zu Grunde 
geben, jo doch ven Adel der Seele einbüßen, jo daß fie ver Wilfenjchaft, 
dem Baterlande und ven Idealen verloren. gehen, hat durch die Yänge 
der Yahre, in denen ich jolche Erfahrungen mache, noch Nichts von feiner 
Schärfe verloren. Und als vor jechs Jahren jene Briefe über Berliner 
Erziehung erichienen, welche wir feiner Zeit in brieflichem Gedankenaus— 
tauich bejprachen, wurde mir immer flarer, daß bier in ver That eine 
wunde Stelle in unferem Volfsthum liege, daß aber eine Heilung nur zu 
finden jei, wenn der Staat jelbit nicht nur den Unterricht, ſondern auch 
die Erziehung des heranwachſenden Gejchlechtes unter feine Aufficht nehme. 

„Zur Abwehr gegen Frankreich“ jchrieb unſer Berliner College jeine 
Briefe. Zwar nicht um die Abwehr eines mit den Waffen in der Hand 


vI 


geführten Angriffs handelt es fich, wohl aber darum, dag der won Franf- 
reich nach Deutjchland mehr und mehr übergreifenden Vergnügungsjuct 
bei Zeiten entgegen getreten werde. Wer das Volk bei feinen National- 
fejten, twer die Jugend bei ihren Beluftigungen ftill beobachtet, dem kann 
e8 nicht entgehen, daß die Unbefangenbeit eines kindlichen Lebensgenuſſes 
verſchwunden ift, daß dagegen in erfchredendem Make die Zahl derer 
wächft, venen das Vergnügen, und zwar gerade das grobfinnliche, das be- 
wußte Endziel alles Strebens daritelft. 

In diefer Erfeheinung tritt uns nicht eine Krankheit, wohl aber das 
Symptom einer ſolchen, und zwar einer bevdenflichen entgegen. „Nach Ver- 
gnügungen jagt der Menſch“, jagt irgendwo E. M. Arndt, „ber feine 
Freude hat.“ Wir, denen ſich die Eehnfucht vieler Generationen unſeres 
Volkes jo wunderbar erfüllt hat, die e8 erleben durften, daß unfer jo 
lange von den Nachbarn verfpottetes Vaterland fich zur eriten Macht ver 
Welt erhob, jollten feine Freude haben? Und doch iſt e8 im Wahrheit 
jo. Wohl ward unmittelbar unter dem wuchtigen und überwältigenven 
Eindruck der großen Creigniffe fo Mandem das Wort Hutten’s auf die 
Lippen gelegt: „OD Jahrhundert, e8 ift eine Luft, in dir zu leben!“ Und 
wie von Plato Yactantius berichtet, daß er den Göttern dankte, in Athen 
geboren zu fein, nicht unter den Barbaren, fodann dafür, gerade zur Zeit 
des Socrates zu leben, jo mag damals wohl Mancher von zwiefachem 
Danke gegen die Vorfehung erfüllt gewejen ſein, daß feine Wiege in 
deutſchen Landen gejtanden hat, und dann, daß er den Aufichwung des 
deutjchen Geiftes erleben durfte. „Aber jene Töne“, jagt W. Baum— 
garten in feinen „Kirchliche Zeitfragen“ (Roſtock 1874), „welche den 
Grund der Seele erfaffen und himmelan heben, wie die deutjche Nation 
fie in den Zeiten der fFreiheitfriege vernommen“, die find dies Mal 
ſchnell verflungen ; man hört fie längft nicht mehr. Und woher dieſes 
raſche Herabinfen von der Höhe einer großen und jo berechtigten Be— 
geifterung? Liegt der Grund wirklich nur, wie man fich jo gern jelbit 
iiberreden möchte, in der wirthichaftlihen Calamität der legten Jahre? 
Aber was bat doch die jtudirende Jugend mit der Gefchäftsitille und dem 
Rückgang ver induftrielfen Unternehmungen zu thun? Trotz ver jtatt- 
gehabten Erhebung des deutjchen Volksbewußtſeins zeigt dieſe, im welcher 
fih ja wohl vie Blüthe des nationalen Lebens und der Volkskraft, wie 
einft nach den Freiheitsfriegen in der frommen und von idealen Strebungen 
getragenen Burſchenſchaft, abjpiegeln jollte, gar wenige Ausnahmen ab- 
gerechnet, einen nur zu bezeichnenden Mangel an Begeifterungsfähigfeit. 
„Es ijt die allgemeine Klage ver Schulmänner, — ich brauche die Worte 
Baumgarten’8 — daß die Knaben an Zertreutheit und Schläfrigfeit 
leiden, und an drei Hochſchulen haben drei hervorragende Lehrer im bei 
letzten Jahren öffentlich fich beſchwert über Schlaffheit der academifchen 
Jugend." Nach Vergnügungen eilen fie alle, aber jo raffinirt viefelben 
fein mögen, fie fchaffen ihnen feine Freude, feine Erholung. Die über 
jättigten Knaben amnticipiven die Genüffe der Jünglinge, dieſe im ihrer 
Blafirtheit die der Männer, — und doch die Herzensfreude bieibt fern 
von Beiden. Bald werden fie gleich jenem Perferfönig eine Belohnung 
dem ausfegen wollen, ver ihnen ein neues Vergnügen erfände. 


vo 


Diefe Signatur der heutigen Zeit darf der Patriot, darf der rechte Lehrer 
des Volkes nicht aus dem Auge verlieren. Sind wir nicht im Stande, dieſem 
ſaft- und fraftraubenden Mehlthau der Vergnügungsſucht entgegenzuwirfen, 
jo wird bald die allgemeine Stimmung flügellahm und dem Staube zuge: 
wendet erjcheinen. Ja mehr noch! Die Vergnügungsfucht birgt die 
ernfteften Gefahren für ven Beftand ver Nation. ALS der Römer Fabricius 
von Cineas, dem Höfling des Königs Pyrrhus, vernommen hatte, e8 lebe 
in Athen ein Mann, der als Weifer gelten wolle und der die Lehre auf: 
itelle, man müjje alles, was man thue, des VBergnügens halber thun, da 
je! er dem Wunjche Ausdruck gegeben haben, daß doch die Sammiten 
und Pyrrhus ſelbſt dies als Wahrheit annehmen möchten, denn dann würde 
der Sieg über fie um jo leichter zu erfämpfen jein. 

Aber wie it zu helfen? Wo iſt die Wurzel diejes Uebels? Baum: 
garten jagt richtig: „Der legte Grund liegt darin, daß der Verkehr der 
Volfsjeele mit ihrem Gott, dem ewigen und einigen Urquell aller unferer 
Freude, jeit lange gehemmt ift. Die ftaatsfirchliche und die Firchenftaatliche 
Anftalt, diefe beiden verweltlichten Prieiterinnen, anjtatt das heilige Zwie— 
geipräch zwilchen Gott und dem Volk zu vermitteln und zu pflegen, 
bemmen dajjelbe durch ihr unendliches Formel- nnd Geremonienwefen. Fort 
mit dieſem falſchen Priefterthum, und es wird in den Seelen wieder an— 
gefaht die Glut der wahren Andacht, und vom Himmel ber wird wiederum 
in den Grund der Herzen die Fülle der Freude fih ergiegen. Erſt in 
der Volkskirche, welche Luther's tieffinniges Wort: „Gott und Wolf find 
Correlate“ wahr machen wird, wird die wahre chrijtliche Freubigfeit geboren, 
welhe die Bolfsjeele mit einer jchöpferifchen Kraft der Begeifterung 
ausrüjtet“. 

Die evangelifche Kirche in Preußen hat nun eine Berfaffung, die uns, 
jo Gott will, diefem Ziele immer näher und näher zu kommen gejtatten 
wird, Aber joll deshalb der Lehrer, der die Verantwortung für die rechte 
Erziehung des heranwachjenden Geſchlechts trägt, diefe Zeit unthätig er- 
warten, in der die Väter ihre Söhne wieder auf den Grund hinweijen 
werden, auf dem wahre und unvergängliche Freude erblüht? Ach, dieſe 
Zeit Scheint zudem noch fern. Denn | 


Was einft Trojt und Heil den Maffen, 
Ward zur Sabung dumpf und ſchwer; 
Diefer Kirche Formen faſſen 
Dein Geheimniß, Herr, nicht mebr, 
Taufenden, die fromm dich rufen, 

Weigert fie den Gnadenſchooß: 
Wandle denn, was Menſchen jchufen, 
Denn nur du bift wandellos, 


Aus den dunkeln Schriftbuchſtaben, 

Aus der Lehr' eritarrter Haft, 

Drin der beil’ge Geift begraben, 

Yaß ibn auferftebn in Kraft! 

Yaß ibn übers Rund der Erde 
Wieder flutben frob und frei, 

Daß der Glauben Yeben werde 

Und die That Belenntniß fei! 


vIni 


Flammend zeug’ er, was vereinigt 
Einſt der Boten Mund getönt, 
Wie's vom Zeitlihen gereinigt, 
Sich dem Menſchengeiſt verſöhnt; 
Zeug’ er, bis vor folder Kunde 
Jede Zweifelftimme ſchweigt, 
Und empor vom alten Grunde 
Frei die neue Kirche ſteigt. 


Wir Lehrer wollen dem vorſichtigen Arzte gleich auch Prophylaxe 
treiben. Es gilt, ven Knaben und Züngling zu hüten, damit er nicht 
auf jene abſchüſſige Bahn gerathe, die jählings abftürzt, auf ver es feinen 
Halt mehr gibt; e8 gilt, den Menfchen glei) von Jugend auf dazu 
anzuleiten, daß feine Freude und fein Echmerz fih an ven rechten Gegen- 
jtänden erweiſe; denn das ift nach Plato und Ariftoteles die wahre Jugend— 
erziehung (Plat. leg. II p. 653, Steph. p. 232, Bekk. Aristot. Nie. 
Eth. U, 3, 2); es gilt, in unjerm Volfe, das ji von der grauen Vor— 
zeit ber des Rufes eines warmen Herzens erfreut, die ‚Flamme der Be- 
geifterung für alles Hohe, Schöne und Heilige lebendig zu erhalten. Dazu 
ift freilich nöthig, das die Schule ein erweitertes Feld und umfaſſendere 
Rechte für ihre Wirkjamfeit erhalte. Daß ich hierbei auf Widerſpruch 
jtoßen werde, weiß ich. Der liberale Diefterweg (Päd. Wollen und 
Sollen, 2 Aufl. 1875, S. 233) und der orthodore Palmer (Ev. Schulpäd., 
Stuttg. 1853, II, p. 57) find darin einig, daß die Erziehung der Rinder 
ein Haußsrecht jei, in das der Staat nicht dreinreden dürfe Aber das 
fann mich in meinem Borjchlage nicht irre machen. Denn eimerjeits 
haben jene beiden Pädagogen eine Auffaffung vom Staate, welde die 
unjrige nicht mehr jein kann, andrerjeits gebietet die Selbfterhaltung, Das 
väterliche Necht injoweit zu beichränfen, daß der aufwachſende Eohn in 
ven Stand gejegt werde, die Aufgaben zu löfen, die der Staat ihm ſtellen 
muß. Schleiermacher wenigitens, deſſen patriotifches Herz von hoher Be- 
geifterung für das Ideal des Staates erfüllt war, fennt einen Fall, in 
dem der Letztere fih um die Erziehung zu kümmern bat. Er jagt in 
jeiner Grziehungslehre, S. 528: „Der Staat kann einen thätigen Antheil 
an der Erziehung des Bolfes nehmen, wenn e8 darauf anfommt, eine 
höhere Potenz der Gemeinjchaft und des Bewußtjeins derjelben zu jtiften. 
Iſt das gejchehen, jo gibt er fie in die Hände des Volfes, d. h. an Die 
Gemeinden, an die Communalverfafjung zurüd, die durch ihre Gemein- 
ihaft mit der Kirche und den wiljenjchaftlihen Verein, deſſen Glieder 
durch ſie zerjtreut find, auch intellectuell belebt wird.“ Siehe zu, lieber 
Freund, ob e8 mir, dem Du einft zum Studium Schleiermacher’8 energijch 
zuredeteit, gelungen ift, in den folgenden Ausführungen diefen Standpunft 
Deines Philofophen feitzubalten! In treuer Liebe 


Pleh, im Wonnemonat 1877. 
Dein 


Radtke. 


Inhaltsangabe. 


I} Die Wandelung in der Auffaffung der Rechte des Staates —— dem — 
Einzelnen in unſerem Jahrbundert . . .. Er tr > 
!) Die Entwidelung der deutſchen Schule zur Staatsfchule EEE 4 

y Yoderung des Bandes der Familie in dem ſich vervollfommmenden Stantswefen. 
Familien und Staatserziebung -. -. » = 2 > 2 2 en nn nee. DB 

4) Die heutige Familienerziebung . . . u 
) Die Nothwendigkeit einer ftaatlichen Benuffictigung ber Binberm; —— re: 

h Die Organe des Staates bei dem Wert der Erziebung . . . . — —— 


‘) Bon den Mitteln der Erziehung, beſonders in den höheren Sehranftalten, Die 
— 
>) Zufammenftellung der Srundfäge der Sriiebimg, die in — —— 
Unterrichtsgeſetz Aufnahme zu finden verdienen. » 2 2 2 2 nenn. 


29 


Radtte, Welcher Antheil x. 1 


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1 


Die Wandelung in der Auffafung der Rechte des Stantes 
gegenüber dem Einzelnen in unferem Jahrhundert. 


Ber Sturm» und Drangperiode, die ſich im vorigen Jahrhundert auf 
dem Gebiete unjerer Yitteratur abjpielte, folgte in unferem Zeitalter eine Sturm— 
und Drangperiode auf dem Gebiete des üffentliben Yebens. Wie Die evftere 
gerade dadurch, Daß fie mit der Tradition des Zopfes bredend die Feſſeln 
jener erjtarrten Gejege, die bis dahin gegolten, abftreifte und für das Subject 
eine jchranfenloje Freiheit in Anſpruch nahm, aus ihrem Schooße Die zweite 
Blüthe unjerer Yitteratur gebar, weldye bei aller Wahrung der der Genialität 
und der Originalität zufommenden Freiheit doch die Geijter wieder in die 
Bahn der Regeln lenkte, freilich der auf geläutertem Geſchmack gegründeten 
und aus dem Studium der alten Klaſſiker gefchöpften und zu klarem Bewußt— 
jein gebrachten Regeln, jo haben vor ven Augen der Zeitgenofjen die revolu— 
tionären Beitrebungen in der Politif einen ähnlichen Prozeß durchlaufen und 
ein ähnliches Reſultat in unſeren Tagen gezeitigt. 

Wenn hierbei nun auch ımleugbar die Heldenthaten unferes Volkes in 
ven legten Kriegen, die Befreiung dejielben von den das Recht ver Selbit- 
beitimmung beſchränkenden Einflüſſen der Nachbarn und vor Allen die Wieder— 
aufrichtung des deutſchen Reiches als die greifbarften Zeichen ver neuen Zeit 
in die Augen jpringen, ſo find dieſe Thatſachen doch für den tiefer im die 
Betrachtung der zeitgenöjfiichen Geſchichte eindringenden Forfcher eben nur Die 
nothwendigen Folgen der inzwiſchen erfolgten Veränderung Des geſammten 
Voltsgeiftes. Dieje Umgeftaltung hebt mit dem Befreiungskampfe im zweiten 
Decennium unjeres Jahrhunderts an; ihre Spuren verfolgt man dann im Der 
anfänglich noch wirren Oejtaltung des nationalen und freiheitlichen Gedanfens 
in der Burjchenjchaft, bis dann der neue Geiſt in der Mitte unferes Säeu— 
ums in wilder Leidenschaft ausbricht, in der Folge aber durd heilſame ſtaat— 
lie Einrichtungen auf ein berechtigtes Gebiet gelenkt wirt, um ſich bier zum 
Frommen der Nation thätig zu erweilen. Denn wahrlid, der Segen ber 
— Gott Yob! — überjtandeneit politiihen Sturm: und Drangperiode zeigt 
ſich nur mittelbar in den Waffenthaten und im der jegigen achtunggebietenden 
Stellung unjered Volles nah aufen bin; er liegt vielmehr darin, daß ſich— 
ans ihr heraus der einft verpönte Gedanke der Stantegewalt, oder, wie 
die Gegner der heutigen Entwidelung fingen, der Omnipotenz des Staates, 

s 1* 


2 
philoſophiſch geſprochen, des Vorrechtes ver Allgemeinheit vor den Sonderinter— 
eſſen der Einzelnen geftaltet bat. 

Denn wenn nad Hegel jedes Kulturvolf, bevor es zur Yöjung feiner 
eigenthümlichen Aufgabe fommt, die Stadien der früheren Kulturvölfer zu 
durchlaufen hat, jo iſt es feine Bhraje, wenn wir behaupten, daR die Deutfchen 
int Yaufe des gegenwärtigen Jahrhunderts aus Hellenen zu Römern geworden 
find, d. h. daß wir ums aus dem politifchen Nihilismus, dem Kosmopolitismus, 
zu dem pofitivften Patriotismus und aus einem weſentlich fpeculativer Arbeit 
zugewenveten Bolf zu einem energijchen und praftijchen herausgearbeitet haben. 
Diefe Umwandlung im Einzelnen zu verfolgen, bietet hohes Interefje, Liegt 
aber doch zu jehr außerhalb des Rahmens unferer gegenwärtigen Betrachtung. 
Dennoch iſt das Factum jelbit für die Grundauffaſſung der hier zu behandeln- 
den Frage nad den Umfange, in dem ver Schule, d. bh. dem vom Staat 
beauftragten Inftitut, die Aufficht über die Sitten des heranwachſenden Ge— 
ſchlechts und deren Erziehung obliegt, jo wichtig, daft Ausgange- und Entpunft 
jener Entwidelung einer kurzen Charafterifirung wohl werth erjcheinen. 

Nod vor zwei Menjcenaltern nannte ein tiefjinniger Kenner des Alter- 
thbums, der alte Jacobs, Deutſchland das moderne Griechenland. Und mit 
Recht. Auf allen Gebieten des geiftigen Lebens und Strebend trug unfer 
Bolf die Signatur des griechiſchen Charakters mit allen feinen VBorzügen, 
namentlich aber auch mit allen feinen Schwächen Ich will nicht erjt von Der 
damaligen politiichen Zerriffenheit in unzählige Staaten und Staatchen, won 
ver Zerflüftung im faftenartig gejchiedene Stände und Barteien reden, jo ſehr 
aud gerade dieſe Züge an das Hellenenthum erinnern. Jene ſchamloſen Ber— 
räthereten innerhalb der Bürgerichaften von Speyer, Worms und Frankfurt a / M. 
und jener offene Abfall der Stadt Mainz zu den Franzofen gegen Ende Des 
vorigen Jahrhunderts, Die Sympathien jo vieler Teutjher für die franzöfifche 
Revolution und jpäter fir Napoleon I. find getrene Abbilder der ſchändlichſten 
Ausſchweifungen des griechiſchen Particnlarismus, haben aber in der Gejdichte 
feines andern Volkes ein Analogen. Ferner „entgegen der Erfahrung, Daß 
entjcheidende Ereignifje der Weltgejchichte Der überwiegenden Mehrheit des 
zunächit betroffenen Volkes dieſelbe Richtung verleihen, jah man vordem bei 
den Deutſchen wie einft bei den Griechen über die Hauptmwendepunfte ihrer 
Geſchichte die tieffte Meinungsverjchtedenheit. Soll ich fie aufzählen? es iſt 
eine Lange Reihe! Ueber den Urfpruug des deutſchen Reiches, über vie 
Natur der Kaifergewalt, über die deutſchen Kämpfe in Italien, fiber den Segen 
oder Unjegen der Hausmächte, über die Neformatien, über den dreißigjährigen 
Krieg, Über Friedrih den Großen und den fiebenjährigen Krieg, über Oeſter— 
reihs Reformverſuche im 18. Jahrhundert, über jeine Rejtaurationspolitif 
im 19., über Preußens Beruf in Deutſchland, über Defterreihs Stellung zu 
beiven waren die Deutjchen völlig getheilter Meinung. Dafür gelten wir 
jreilih, wie ebenfalls die Griehen, als das Denfer- und Dichterwolf xeer’ 
2Eoyyr. Cine Nation von Denfern und Dichtern — dem Auslande unge: 
führlidy, zufrieden mit dem Looſe des Poeten in Echillers Gedicht.“ *) Dieje 


*) Morte Trauttwein’s von Belle aus deffen Abhandlung „Deutiche Einheit und 
deutſche Uneinigfeit. Eine zeitgenöſſiſche Studie“ in der deutſchen Bierteljabrszeitichrift 
1869, Heft 1,p. I. Daß ich jedoch die weiteren Ausführungen diejes Auffages mir 
nicht zu eigen mache, darf ich wohl nicht erſt verjichern. 


3 

doctrinäre Beanlagung, diefe Ideologie unferer Nation erfüllte fie durch alle 
Stände hindurch mit tieffter Verachtung gegen Praris und Politif, Nur zu 
wahr bezeichnete Yichtenberg jeine Yandsleute mit dem bekannten Ausfprud : 
„Der Charakter des Deutſchen liegt in zwei Worten: patriam fugimus,“ 
Aus Luſt am imtellectueller Thätigfeit trieben wir Kunſt und Wiffenjchaft, 
aber jede Art praftifcher Berwertbung, auch im Dienjte des VBaterlandes, hätte 
ald Entweihung ver Würde „ver ſchönen Künjte und Wiſſenſchaften“ gegolten. - 
Tiefe letzteren und das öffentliche Yeben wandelten auf ganz getrennten Bahnen, 
Wohl conftruirten unjere Bhilofopben auch Stantöverfaffungen, aber wenn man 
dieje hätte im Ernft in die Praris irgendwo übertragen wollen, jo würden fie 
wohl wie Plato in dem gleichen Falle von einem ſolchen Unternehmen ſelbſt 
in aller Harmlofigfeit abgerathen haben. Die Goethes und die Schillers, 
die Humboldt's und die Hegel’s, die Winfelmann’s und die Wolf’s, von den 
Epigonen gar nicht zu reden, fühlten fich als Gelehrte hoch über die fejleln- 
den Grenzen der Nationalität erhaben. Sie wollten viel mehr Menſchen und 
Veltbürger als Deutjche jein. Und in folhen Auffaffungen wurde nun aud) 
die Jugend groß gezogen. Noch in den vierziger Jahren ftellte ein jehr ge: 
tebrter Philolog jeinen Secundanern als Thema zur Bearbeitung: Preis des 
Kosmopolitisinus; die Schitler waren angewiefen, das befannte Wort des So- 
frates, mundanum se esse, zu verherrlichen. Dafür begehrte nun freilich Jeder fo 
viel perfönliche Freiheit fir fich, als kaum mit dem Weſen eines Staates verträg- 
lih war. Das Jade Auwoas galt jedem Familienvater, befonders aber den 
doctores umbratici, die Manche heute jehr zur Unzeit in ven höheren Schulen 
gern wieder erwedten, ald wirkffame Beihwörungsformel gegen die Störungen 
des öffentlichen Yebens und als die wahre Grundlage zu jeder Glückſeligkeit, 
ter epicureifchen wie der ſtoiſchen. 

Und nım in der aus ſolcher Schulweisheit und ſolcher Kamilien-Erziehung 
berausgewachjenen Generation weld’ völlig andere Geiftesrihtung! An die 
Stelle der Hinneigung zur Speculation und zur Geſtaltung leerer Phantaſie— 
gebilde ift auf jedem Gebiete des deutſchen Volksthums nüchterne, praktiſche, 
energiiche Arbeit getreten. Neben hervorragender Intelligenz findet der eijerne 
Bille berechtigte Anerkennung. ° Die kosmopolitiſchen Träumereien find einem 
entbufiaftifhen Patrtotismus gewichen. Das in beichränftem und egoiſtiſchem 
Selbitfinn erfaltete Einzelftreben ift in warme Begeifterung für das Allgemeine, 
in Luſt am Schaffen und in opferfrendiges Wirken für die weiteren und 
böheren Intereflen des deutjchen Vaterlanves übergegangen. Auch bei ung er: 
fennt man jeßt wieder nach den Morten des genialen Hiſtorikers Treitjchfe 
an, daß es außerhalb der Nationalität weder Kımft noch Wiſſenſchaft noc 
irgend welches geiftige Yeben gebe. Dieſe letzteren find ſich jest durchweg 
ihrer Verpflichtung, für das Volkswohl zu forgen, bemußt, und ihre Träger 
wollen fich nicht mehr, wie ehedem, in ein einfeitiges und unfruchtbares Studium 
verlieren, fie betrachten es vielmebr als ihre erſte Aufgabe, an der Förderung 
des Volksthumes nah Maßgabe ihres Vermögens mitzuwirken. Welche Kräfte 
nım thätig geweſen find, um viefe Umwandlung zu Wege zu bringen, läßt 
fi nicht in wenig Worten darthun. Aber den einen Hinweis vermögen wir 
nicht zu unterdrücken, nämlich den, daß es der preufiiche Geiſt gewejen tit, 
der jo Großes gewirkt hat. Durch Friedrich Wilhelm den Erjten, den ftrengen 
Zuhtmeifter der Preußen, der nah Droyjens ebenjo gründlichen wie -geijt- 


4 


vollen Unterfuhungen jetst endlich neben jeinem großen Sohne und Nachfolger 
geblihrend gewürdigt wird, iſt dieſem Volk jenes Pflicht: und Ehrgefühl bis 
ins Marf eingepflanzt worden, das dann der tiefe Denfer von Königsberg im 
ein philoſophiſches Syſtem brachte. Hier find die Wurzeln der Neugeftaltung 
des deutſchen Lebens. Die Thaten des großen Friedrich, dann die Nieder- 
lagen bei Jena und Auerftädt, die Stein'ſche Geſetzgebung thaten das Ihrige 
zu deſſen Erjtarfung. Und als nun aud in der Fitteratur mit Klopftod und 
Yeifing, mit den Sängern der Freiheitöfriege und mit den ſchwäbiſchen Dichtern, 
in der Philoſophie mit Fichte und Schleiermader eine nationale Richtung 
durchbrach, da war die Grundlage für das neue deutſche Volksthum geihaffen. 


2) 


Die Entwickelung der deutſchen Schule zur Staatsſchule. 


So wird denn auch unfere Pädagogik mehr und mehr eme nationale, 
Nichte hatte die Schule in dieſe Bahn zu bringen getracdhtet, indem er als 
oberfte Aufaabe aller Erziehung die binftellte, in allen Herzen die wahre und 
allmächtine Baterlandsliebe, den Enthuſiasmus für das Allgemeine zu entzinden. 
Als nah dem Freiheitsfriene Das Bedürfniß gefühlt wurde, an die Stelle Der 
vielen verfchiedenen und zum Theil unter fich entgegengeſetzten Beſtimmungen 
über den Bolfsunterricht, Die in den einzelnen Theilen der preußifchen Monarchte 
in Geltung waren, eine allgemeine Schulordnung zu ſetzen und dadurd Die 
nationale Einheit bauen zu belfen, wurde von dem Minifter von Altenftein der 
Staatörath Süvern mit der Ausarbeitung eines Promemortas betraut. In dieſem 
finden wir die Nationab- Iugenverziehung bereits feiter ins Auge aefaht. Es 
beißt dort: „Jeder Staat wirft durd feine ganze Berfaffung, Geſetzgebung 
und Berwaltung erziebend auf die Bürger ein, ift aewiffermaßen eine Erziehungs— 
Anftalt im Grofen.... Geſetzgeber und Lenker der Staaten, welde Dies 
erkannt, ſahen zugleich ein, daR zu einer folden Nationalerziehuma im Großen 
die National= Jugenderziehung vorbereiten und des ganzen Werfes Grund legen 
müſſe.“ Der nationale Aufſchwung der Freiheitskriege Mingt bier noch mächtig 
wieder. In den fpäteren Zeiten ward jenes Ziel mehr und mehr aufaeneben. 
Erft ſeit dem Wiedererftehen des deutſchen Neiches ertönt der Ruf nadı nationaler 
Erziehung, der jo lange verſtummt war, wieder lauter und lauter und it jeßt ein 
allgemeiner geworden. Aber wenn dies jo berechtigte Streben fein Ziel gewinnen 
joll, jo muß auch die Schule felbit, die höhere wie Die niedere, eine nationale 
Anftalt werden. Das Eine iſt in meinen Augen ein nothwendiges Complement 
zum Anderen, die Staatsſchule die anders nicht zu erfegende Grundlage für 
eine gedeihliche Thätigfeit der Lehrer im nationalen Sinne. Die Schule Darf 
nicht mehr gang oder auch nur theilweiſe im Auftrage der Familie wirken, mie 
Hegel will, auch nicht communales Inſtitut, wie vielfach heut zu Tage der Raul 
ift, nod weniger kirchliches fein, fie muſt durch Staatsgeſetze organifirt, Die 
Lehrer müſſen ftaatlih autorifirt, eine gewiſſe Mitwirkung aber ver Namilie, 
der Gemeinde, der Kirche unter ftaatliher Aufſicht gefeglich gemährleiftet fein. 

In Preußen ift die Schule, eigentlich von jeher eine ſtaatliche Einrichtung, 
wenn auch Die facttichen Berbältniffe diefen Charafter derjelben vielfab und in 
den verjdiedenen Zeiten bald mehr, bald weniger verbuntelten. 


> 





Schon Karl der Große, der bei der Gründung feines Reiches überall mit 
jo glücklichem Tacte und mit jo Elarem Verſtändniß für das, was einem Staate 
Noth thut, werfuhr, machte die von ihm geitiftete Schule zur Stantsanftalt. 
Durch Einführung eines gewiſſen Schulzwanges gab er dieſem Inftitut eine 
gejeglihe Grundlage. Dem Geifte dieſes vortrefflihen Fürſten ſchwebte eine 
allgemeine Bolksbildung vor. Denn er begriff wie Kemer vor ihm, Wenige 
nach ihm, welche Schätze in dem beutichen Volksgeiſt ruhten. Da er aber, wie 
noch mehr jeine Nachfolger, ſich genöthigt ſah, als Lehrer Geiftliche anzuſtellen, 
jo geichab, was aud in der Folge immer wieder eintreten mußte, jo oft auch 
energiſche Staatsmänner die Schule als Staatsinſtitut in Anſpruch nahmen, 
daß nämlich bei dem Mangel eines eigenen Yehrerftandes jich die Kirche der 
Erziehung der Jugend bemächtigte.*) Die Klofter- und Domjchulen des Mittel: 
alters trugen fo gut wie Nichts von ftaatlihen Charakter. Ihre Aufgabe 
beitand ja auch hauptſächlich fur darin, für den geiftliben Beruf vorzubilven, 
wiewohl ja auch einzelne adlige Kinder im ihnen Bildung juchten, die nicht 
tem geiftlichen Amt ſich widmen wollten. **) Yuther ***) war ver Erſte, der 
die Schulen ausprüdlich als nicht blos kirchliche, jondern zugleih auch ſtaat— 
lihe Einrichtung aufgefaßt wilfen wollte. „Man fann die Schulen“, jagt er 
ein Mal, „nicht entbebren. Wenn die Fürjten die Unterthanen zwingen können 
auf die Mauer zu fteigen und zu ftreiten, um wie viel mehr jollen die Obrig- 
teiten nicht die Schulpflicht einführen?“ Unbewußt gebt er damit auf den 
Standpunft Karl’s des Großen zurüd. Doch jtrebt er injofern weiter denn 
diefer, als er den Schulzwang auf die Mädchen ausgedehnt wiffen wil. Die 


*) Habn, Geſch. Des Unterrichtsw,. in Frantreidh I, S. 13. „Nachdem aber die 
Schwäche der Nachfolger Karl’s des Gr. die letsten Ueberreſte feiner koloſſalen Röntas- 
macht batte dabinichwinden laffen, nachdem die öffentliche Gewalt geſchwächt und ae 
theilt aus den Händen des Königs in Die der Yebensritter berabgefallen war, blieb 
die Geiftlichkeit Sange Zeit in faſt unumſchränktem Befite des Bffentlichen Unterrichts, 
deffen Pilege ibr Karl der Gr. nur unter ferner Oberbobeit anvertraut batte, Seit 
tem 10, Rabrb. fam das Recht der Staatsgewalt über den Unterricht in VBeraeflenbeit, 
um während mebr als dreier Jahrhunderte der ausſchließlichen Gefeßgebung der Biſchöfe 
und Päpite Blat zu machen. “ 

**) Vergl. u A. Juſt, Zur Pädagog. des Mittelalters, Heft 6 dieſer Pädag. 
Studien. 4. 

wu a auch ſchon lange wor Putber’s Mahnung einzelne deutiche Städte, wie 
Heidelberg, Pübel, Hamburg, Breslau, Yeipzig, Braunſchweig, Lüneburg, Roftod, 
Greifswalte, Stettin, ja auch Fleinere wie Goldberg 1/Scht., um dem in allen Ständen 
Mmals erwacten Bildungsbedürfnik zu entiprechen, Schufen ins Yeben riefen, tt be 
kannt. Ja in Nürnberg bildeten die Schullchrer ſchon eine Zunft. In biefen Grün— 
dungen iſt allerdings die Wiege der Vollsſchule zu ſuchen. Aber vor Luther waren 
dieſe Yebranftalten, wenn gleich Die Magiftrate mit Schulmeiftern Contracte abſchloſſen, 
bob nur Unternebmungen privaten Charakters. Wie der Krämer, jo lud aud ber 
Lehrmeiſter“ Durch ein Aushängeſchild (ſiebe Fechter, Geſchichte des Squweſen⸗ in 
Baſel bis zum Jahre 15809, S. 26) zum Beſuch ein. Erſt mit dem von Luther auf 
geſtellten Prinzip der Schulpflicht ward ber eigentliche Grund der Volksſchule gelegt. 
Wenn Palmer (ev. Pädag., Stuttg. 1853, Il, ©. 27) berichtet, daß die Lehrer an diejen 
Schnien ftets Kleriker waren. und nur einen Ausnabmefall kennt, wo ein Mediciner 
als S Schulmeiſter berufen wurde, fo iſt zu bemerken, daß dieſe Ausnabıne doch nicht ſo 
ſelten geweſen zu fein ſcheint. Wenigſtens weiſt Die Reihe der Nectoren ber jüngſt auf— 
aelöiten, ebemals fo beriibmten lat. Schule in Goldbera innerbalb des 1. Jabrhunderts 
ibres Beftebens zwei Mediciner auf. Vergl. meinen Aufſatz über dieſe Schule in ber 
Zeitſchrift von Fledeifen-Maftus, Jahrg, 1877, September- Heft. 


6 

proteftantiichen Firften und Städte folaten befanntlich mit einer bemunderungs- 
würdigen Opferfreudigfeit vem Mahnruf des Reformators, überall Schulen zu 
gründen. Die furfächfifche Kirchenordnung vom Jahre 1580 ordnet an, daß 
wo in den Dörfern nod feine Schulen fir die Kinder „ver arbeitenden Yeute“ 
errichtet wären, mit deren Eröffnung alsbald vorgegangen werben folle „mach 
Kath der Erb- und Gerichtöherren“. Die Idee der deutſchen Bolksihule wird 
dann von Comenius weiter ausgeführt. Alle Knaben, ohne Ausnahme, auch 
die, welche das Studium ergreifen follen, will er durch die ’allgemeine Bolts- 
ihule hindurchgehen laſſen, für die er jie vom vollendeten fechiten bis zum 
zwölften Yebensjahre in Anſpruch nimmt. Und in praftifber Durchführung 
zeigt fich diefe Idee von der Mitte des 17. Jahrhunderts ab in dem Herzog: 
thum Gotha, wo nad einem damaligen Sprichwort die Bauern nelehrter waren 
als anderswo die Städter und Evelleute. Nach dem Schulmethodus des Herzogs 
Ernft L, Gotha 1642, gehören alle Kinder, Knaben und Mädchen, in Dörfern 
und Städten, jobald fie das fünfte Jahr zurücdgelegt haben, Sommer und 
Winter der Schule, in der tüglib 3 Stunden Bor: und 3 Stunden Nach— 
mittags unterrichtet werden ſoll; nur Mittwoh und Sonnabend find die Nach- 
mittage frei. Den armen Schulfindern hat die Gutsherrichaft umſonſt Das 
„Syllaben- und Yejebüchlein“ zu geben. Schulverſäumniſſe aber werden Seitens 
der Eltern durd Geldſtrafen gebüßt. 

Aber vor Allen haben die Hohenzollern von Anfang an aud auf Dem 
Gebiete der Schule fih als die eigentlichen Erben des Staatsgedankens Des 
großen Karl und als die Träger der proteitantifchen Geiftesfreiheit, die ohne 
die Volksſchule nicht beftehen kann, gezeigt. Denn die preufifchen Regenten 
begnügten ſich jo wenig wie jener Herzog von Gotha, für die ſtudirende Jugend 
Gelehrtenfchulen ins Leben zu rufen und dadurd Vorſorge zu treffen, damit 
fein Mangel an geeigneten Kräften zur Bejegung der Beamtenpoften eintrete *), 
fondern fie richteten ihr Augenmerk noch vielmehr auf die Elementarjchule und 
damit auf die Erziehung des ganzen Volkes. Schon in der brandenburgiichen 
Kircheuordnung vom Jahre 1572 erhalten die Pfarrer und Küſter den Auftrag, 
auf eine entjpredyende Belehrung des Volkes durd Katecbefationen Bedacht zu 
nehmen. Den eigentliben Grund zur Volksſchule in Brandenburg- Preußen 
legte der große Kurfürft, ver im Jahre 1662 die Verordnung erliek, daß Die 
Gemeinden allen Fleiß aufwenden jollten, in den Dörfern wie in den Fleden 
und Städten wohlbejtellte Schulen ing Leben zu rufen. In feine Fußtapfen 
tritt Kriedrih Wilhelm I. mit dem mwohlbefannten Generalihulplan. Diefer 
große Disciplinator des preufifchen Volkes organifirte trog mannigfacher 
Schwierigkeiten und unter erheblihen Koften die Landſchule als ftaatliche 
Ordnung und beſtimmte als jchulpflichtiges Alter die Zeit vom fünften bis 
zum zwölften Lebensjahr. „Zum Oberdirectorio muß ein Weltlicher fein“, 
jo lautet eines der einenhändig vom König gejchriebenen Principia. Wenn nun 


*) Solhen Mangel empfand Kater Marimilian I, wie aus folgender Stelle in 
Yutber’8 Predigt: „daß man Kinder zur Schulen balten solle“ 1530 (Aenaer Ausg. V, 181) 
bervorgebt: „Ich hab von dem löblichen theuren Kaiſer Marimilian bören jagen, wenn 
Die großen Haufen drumb murreten, das er der Schreiber fo viel brauchte zu Bot- 
ſchaften und fonft, das er foll aelagt baben: ‚Wie foll ih thun? Sie wöllen fih nicht 
brauchen laſſen; ſo mus ich Schreiber darzu nemen‘, Und weiter: ‚Ritter fan ich machen, 
aber Doctor fan ich nicht machen‘. 


7 


auch die Schulmeifter in eriter Inftanz unter die Prediger geftellt wurden, jo 
waren dieſe doch unter der Regierung dieſes kräftigen Königs jelbjt recht 
eigentlih Staatsbeamte. Die arofe Bedeutung der Schule fir den Staat 
fonnte am wenigiten Friedrich dem Großen entgehen.*) Was er für die Hebung 
des Unterrichtöwefens und der Volkserziehung getban willen wollte, finden wir 
am klarſten im Eingange jeines Briefe über die Erziehung ausgefprocen. 
„Ih liebe es“, jagt er dort, „diefe Jugend zu betrachten, die unter unferen 
Augen heranwächſt. Sie ift die Finftige Oeneration, die der Aufficht der 
jegigen anvertraut iſt, ein neues Menfchengejchleht, das heranreift, um das 
gegenwärtige zu erjegen; es ift die Hoffnung und die Kraft des Staates, Die 
aut erzogen, feinen Glanz umd feinen Ruhm fortvauern machen jol. Darum 
muß ein weifer Fürft allen jeinen Fleiß darauf verwenden, in jeinen Staaten 
nüglihe und tugendhafte Bürger zu erziehen.“ **) Friedrich's Unterrichtsminifter, 
der Freiherr v. Zedliß, unterftügte feinen König in den auf dies Ziel gerichteten 
Beitrebungen auf das Treuefte.***) Sofort mit Beendigung des fiebenjährigen 
Krieges beginnen Friedrich des Großen Sorgen für Wiederaufrichtung des 
durch den Krieg ara verwüfteten Volksſchulweſens feiner Provinzen. Bereits 
jieben Tage vor dem Abjchluß des Hubertusburger Friedens, den 8. Februar 
1763, erläßt er an die Kurmärfiiche Kammer den gemefjenen Befehl, nur 
examinirte umd tüchtig befundene Schulmeifter anzuftellen, und drei Tage vor 
dem Abjchluffe diefes Friedens, am 12. Februar 1763, fchreibt er aus Leipzig 
feinem damaligen Eultusminijter, v. Dandelmann, er babe adt Schulhalter in 
Sachſen angenommen, wovon vier in der Kurmarf, vier in Öinterponmern auf 
Aemtern angeftellt werden follten, und befahl für ihr Unterfommen zwedmäßig 
zu ſorgen und fie gegen alle Berfolgung des Neides zu ſchützen, damit fie zum 
Berjpiel dienen und fogar die Schulmeiſter lehren fünnten, die Jugend beſſer 
zu ımterrichten. Einen Monat fpäter, am 20. März, ordnete er im einem 
Schreiben an das aeiftlihe Departement in Schlefien und an den Weihbiſchof 
v. Stradiwig in Breslau für die Schulen beiver Confefjionen regelmäßige 
Kevifionen von Staatswegen an.) Den Schlufften endlich der Organifation 
des Volksſchulweſens jette der arofe König am 12. Auauft dejjelben Jahres 
mit dem Erlaß des von dem Oberconfiftorialrathb Hecker verfaßten General: 
Yand-Schulreglements, das in gleiher Weiſe für alle Provinzen wie für alle 


*) Deſſen Berdienfte um die Volksbildung beleuchtet in Harer und aniprechender 
Darftellung Dr. Fischer, Friedr. d. Gr. umd die Volkserziebung. Berlin 1877. 

**) Qeuvr.t. IX, p. 115, ich babe dies, wie die folgenden Citate aus Friedrich's 
Werken der eben genannten Schrift von Fiſcher entnommen. 

***) Siehe Trendelenburg, Friedrich der Große und fein Staatsminifter Freiherr 
von Zedlit. Eine Skizze aus dem preuß. Unterrichtswefen. Monatsberichte ber Aka— 
demie der Wiffenjchaften zu Berlin 1859. ” 

F) Der latholiſche Abt Ignaz von Felbiger, der in diefer Provinz ganz befonders 
die woblgemeinten Abfichten des Königs in Ausführung brachte, erließ i. I. 1772 eine 
Inftruction für Die Pebrer, in der er als erften Zwed der Schule binftellte, die Kinder 
tüchtin zu machen, mütsliche Glieder des Staates zu werben. Wie wenig damals bie 
Confeſſion die Schulen voneinander trennte, mag man daraus entnehmen, daß ber ge- 
nannte Reoraanifator der katholiſchen Schulen Echlefiens felbft das Schullebrer-Seminar 
des enanaeliichen Oberconfiftorialvatbes Heder in Berlin bejuchte und demnächſt auch 
obne den geringften Anftand zwei feiner Präparanden dorthin fandte, damit fie bie 
it Unterrichtsmetbode erlernten und nad ibrer Zurückkunft in Schleften bekannt 
wacdten, 


8 

Confeſſionen Geltung erhielt. Dies Geſetz gründet ſich wie ſchon der General— 
Schulplan auf die allgemeine Schulpflicht, die alle Kinder wenn nicht früher 
ſo doch vom fünften bis dreizehnten oder vierzehnten Jahre umfaßt. Wenn in 
demſelben dem Lehrer u. A. die Aufſicht über das Betragen der Kinder auf 
dem Schulwege zur Pflicht gemacht wird, jo erkennen wir bier ſchon eine Spur 
der Intention, Die in der Bolfsichule liegt, nämlich vom öffentlichen Volks— 
Unterricht zur öffentlichen Volks-Erziehung überzugeben. Auch das ift bezeichnend, 
daß dies Reglement verorbnet, die Kinder jollten fichb zum Kirchgang vor Der 
Schule verfammeln, von wo fie geordnet in das Gotteshaus zu führen feien. 
Hier habe der Lehrer auf Wohlverhalten und Stille derjelben zu halten, „wie 
dieſe denn bei aller Gelegenheit ſittſam, beicheiden, höflich und freundlich im 
Seberden, Worten und Werfen ſich erzeigen müſſen“. Im wie hohem Grave 
aber Friedrib dem Großen die Bolfsichule als Staatsanftalt aalt, erkennt 
man aus ver Schlurbeftimmung jenes Geſetzes, Die befagt, daß die Super— 
intendenten und Erzpriefter jährlich die aefammten Schulen ihrer Infpection 
zu bereifen und über den Befund an das Ober-Confiftorium zu berichten 
haben. „Winkelfchulen, fie mögen von Manns: oder Weibsperfonen gehalten 
werden, follen bierdurd bei Strafe gänzlich verboten fein.“ Cine Mafrenel 
vorziiglich, die Friedrich ara verdacht worden tft, bat ficherlicd nicht am wenigſten 
dazu beigetragen, die Schule zum Staatsinititut zu machen. Als nämlich ver 
König 1779 auf einer Imfpectionsreife durch Schlefien ſich bitter darüber 
beflagte, daß er für Oberjchlefien Feine neeigneten Schulmeijter finden könne — 
denn bier jaßen nirgends auf den Gütern Männer wie Rochow —, jo wurde 
ihm gerathen, mit invaliven Soldaten einen Verfuh zu mahen. Mit aröftter 
Bereitwilligfeit ging Friedrid auf diefen Gedanken ein, und troß des Wider- 
ſpruchs des Herrn v. Zedli gelangte er zur Ausführung. Daß die ponunerfchen 
und märkifchen Jungen bei dieſen alten Schnanzbärten nicht viel in litteris 
et artibus gelernt haben mögen, glaube ich wohl; daß ihnen aber dafür Die 
eiferne preufiiche Disciplin durch diefe alten Soldaten von Kindesbeinen auf 
anerzogen wurde, war ein Gewinn, der den Nacdtbeil der geringeren 
intellectuellen Ausbildung im volliten Maße ausglich. Nicht weniger als auf 
die Vollsſchule richtete der aroße König fein Augenmerf auf die böberen 
Schulen. Sogar die Vehrpläne derjelben waren ein Gegenftand feiner Für— 
jorge. „Vom Griechiſchen und Yateiniichen gehe ich durchaus nicht ab bei Dem 

Unterricht in den Schulen“ **), ichreibt er an den Cultusminifter von Zedlig. 
In der Inſtruction für die Ritter-Akademie hebt er bejonders die Nothwendia- 
feit der Befanntfchaft mit der neueren Geichichte hervor. „Die Ereigniffe feit 
Karl V. wirken bis auf unfere Zeit fort; feinem jungen Mann, der in Die 
Welt eintreten will, ift es geftattet, über Thatſachen umunterrichtet zu fein, 
welche mit der Kette der laufenden Welthändel Europas zujanmenhängen und 
auf fie eimmwirfen.**) Der nationale Charakter ver Schule joll feinen Ausdruck 
bejonders in der Pflege der vaterländiſchen Gejchichte finden. „Mag ein Eng- 
Linder Nichts von dem Leben der perſiſchen Könige willen, oder die unzählige 


*) Oeuvr. t. XXVII, troisicme partie, p. 255. Diefe Willensäußerung des 
Königs Sollte uns viel zu denken neben, Denn fie fommt von dem Regenten, der 
wiederholt an die Spite ber Unterrichtsziele das Ziel geſetzt bat, den Knaben felbit- 
ftändia denken zu lehren. Vergl. Fiſcher 1. J. S. J. 

**) Oeuvr. t. IX, p. 79, und äbnlich t. VII, p. 115. 


9 


Menge von Päpſten, welche die Kirche beherrſcht haben, mit einander verwechſeln, 
man wird es ihm verzeihen; aber man wird nicht gleiche Nachſicht mit ihm 
haben, wenn er von dem Urſprung ſeines Parlaments, von den Gebräuchen 
feiner Infel und von den verjchievenen Geſchlechtern der Könige, die in Eng: 
(and regiert haben, Nichts weiß.“*) Was die Aufficht über die höheren 
Schulen betrifft, ſo wurde fie von Zeblig den Geiftlichen als jolden genommen 
und Fachmännern übertragen, welche der Provinzial Regierung beigegeben 
wurden. Das war alfo der Grundftein zur Bildung der Provinzial: Schul: 
Sollegien, in denen die Möglichkeit für die Einigung der Schule gegeben iſt. 
Auch dürfen wir hier nicht übergehen, daß Friedrich ſich ſogar für die Ver— 
beſſerung der Erziehung des weiblichen Geſchlechtes auf das Lebhafteſte inter— 
eſſirte. Auf der weiblichen Jugend, ſo ſagt er, beruhe nicht minder die 
Hoffnung des Staates als auf den jungen Männern, und daher dürfe der 
Unterricht der Mädchen nicht vernachläſſigt werben. **) "Am Marten aber 
ſprechen fich einerfeits die Beftrebungen, welche Friedrich und fein Miniſter 
dem Unterrichtsweſen und ver Bollserziehung zumendeten, andererſeits vie 
Grundſätze, nach denen Beide die Schule verwalteten, in den gejeßlichen Be- 
ſtimmungen des großen preußiichen Gejegbuches, des Allgemeinen Yandrectes, 
aus, das zwar erjt unter Friedrich's Nachfolger die gejetlihe Sanction erlangte, 
aber durchaus von dem großen König veranlaßt und im feinem Geifte ent: 
worfen if. Der zwöffte Titel im zweiten Theile des Allgemeinen Landrechts, 
welher von den niederen und höheren Schulen handelt, bildet bis auf den 
bentigen Tag Die Magna Charta umjeres geſammten Unterrichtöwefene. 
„Schulen und Univerjitäten find Beranjtaltungen des Staates!” Diefer Sag, 
mit welchem der Titel des Landrechts iiber das Schulweſen anbebt, ſpricht 
jowohl das Necht als die Pflicht des Staates, den Unterricht der Jugend 
als eine feiner wichtiaften Aufgaben zu behandeln, völlig Mar und unzwei— 
dentig aus. Darum follen „vergleichen Anjtalten nur mit Vorwiſſen und 
Genehmigung des Staates errichtet werden“ ; auch Privat- Schul» und Er- 
ziehungsanſtalten find der Aufiicht des Staates unterworfen; ihm liegt es 
ob, die wilfenichaftliche Befähigung Derjenigen, welche an öffentliben, au 
Privatichulen oder in den Häufern Unterricht ertheilen wollen, zu prüfen 
und feitzuftellen.***) Wo vie Beftellung der Lehrer nicht etwa gewilfen Perſonen 
oder Corporationen, vermöge der Stiftung oder eines befonderen Privilegti, 
zufommt, da gebührt diefelbe dem Staat. Die Lehrer bei den Gymnaſien 
und andern höheren Schulen werden als Beamte des Staates angejehen. 
Sonach „begegnen wir bei Friedrich der conſequenten Durchführung der Anficht 
von der Schule als Staatsanftalt und der Anwendung politifcher Grundjäte 
auf ihre Behandlung“.7) Jene Fundamentalſätze der landrechtlichen Schul— 
geſetzgebung hält im Weſentlichen auch die Verfaſſungsurkunde vom 31. Januar 
1850 feſt, welche den öffentlichen Lehrern die Rechte und Pflichten der Staats— 
diener verleiht. Auch künftig, ſo ſcheint es, werden die Grundſätze des großen 
Friedrich die Pfeiler bleiben müſſen, auf die ſich die preußiſchen und deutſchen 





Oeuvr. t. I, p. * 
**) Qeuvr. t. ix 125. 
em) Aus Fiſcher, Friedrich der Gr. und die Volkserziehung, &. 36, 
+) Martin Ser, Friedrich des Gr. Beziebungen zur Univerfität. Nectorats- 
rede. Im neuen Reich 1876, U, ©. 761, 


10 

Unterrichtsgejege zu jtügen haben werden. In der modernen Zeit iſt Die 
Intention, ven Umfang des staatlichen Einflufjes anf den Unterricht zu er- 
weitern und aud jchon auf die Erziehung auszudehnen, in einzelnen Ver— 
fügungen der Sculbehörven zu Tage getreten. So iſt 3. B., und zwar mit 
vollem Recht, verordnet, daß die Venfionen der auswärtigen Schüler nur mit 
Genehmigung des betreffenden Schuldirectord gewählt werben dürfen. In 
legter Zeit endlich bat der Conflict mit der Fatholifchen Geiftlichfeit Dazu 
Anlaß gegeben, nochmals durch ein beſonderes Geſetz die Schule als Staats- 
anftalt zu bezeichnen. Den nothwendig gewordenen weiteren Ausbau der 
Staatsjchule erhofft vie Nation von dem in der Berfaffungs- Urkunde ver- 
heißenen Unterrichtsaejet. Wenn vafjelbe dem in der Gedichte Preußens *) 
deutlih vorliegenden Entwidelungsgange folgt, jo wird es die gejamunte 
zrendsie in die Hand nehmen und fomit nicht ſowohl ein Unterrichts— ale 

vielmehr ein Erziehungsgeſetz jein. 
Daß nämlich jenen Beitrebungen und Verordnungen Seitens hervorragender 
Staatsmänner nur der Wunſch zu Grunde gelegen haben fjollte, durch Die 
- Schule einen beitimmten Grad von Willen, einen rein intellectuellen Schat 
zum Gemeingut des Volkes zu machen, ift eine im fich völlig unhaltbare An- 
nahme. Im Gegentheil, wie der Wille fort und fort feine Anreaung und 
Direction durch die Intelligenz erhält, fo hat die Staatsfhule durch Das 
Medium der allgemeinen VBolksbildung auf die Bolfspisciplin eimwirfen wollen. 
Schon aus Luthers Schriften geht diefe Abficht unzweideutig hervor. Durch 
die Katecheſe jollte dem Bolfe eine beftinnmte Richtung nicht nur für das Denken, 
jondern damit auch für das Handeln gegeben werden. Ja wir finden in Den 
Schulertnungen ſchon ganz beftimmte Hinweifungen darauf, daß der Yehrer 
auch das Betragen jeiner Schüler, und zwar nicht blos das in der Schul— 
ftube, in den Kreis feiner Beobachtung und Aufficht ziehen fol.**) Das General: 
Schul-Reglement des großen Königs legt, wie wir oben geſehen haben, Dem 
Schulmeiſter die Pflicht auf, „ven Kindern nadhzufehen, wie fie fib auf Dem 
Wege betragen“. Auf diefe Weije foll der Bolfslehrer zu einem Volkserzieher 
werden. Die höheren Unterrichtsanftalten, und zwar nicht etwa blos die ſo— 
genannten aefchlofienen, haben es ftets als ihre Aufgabe betrachtet, nicht nur 
zu lehren, fondern vielmehr zu erziehen, und e8 galt hier von jeher der Grund- 
jaß, daft qui profieit in litteris nee in moribus, is plus defieit quam pro- 
fieit. Für die innige Verbindung, in der nad deutſcher Auffaſſungsweiſe 
Unterriht und Erziehung ftehen, ift wohl der ſprecheudſte Beweis, daß unfere 
großen Sculmänner ſich nie darauf bejchränften, die Didactik zu verbeflern, 
fondern ſtets aucd in der Pädagogik neue Bahnen wiefen und betraten. Die 
Bolksjchule trägt unzweifelhaft in ſich die Intention zur Herbeiführung einer 
allgemeinen Jugenddisciplin, die unter ftaatliher Autorität und Controle gehand— 
habt wird. Dafür zeugen z. B. die Polizei-Berordnungen, welde dem Lehrer 
ein Züchtigungsrecht für VBergehungen der Schulkinder aud außer der Schule 
zujprechen, jo 3. B. bei Fällen von Thierguälerei, Ausnehmen von Neftern u. ſ. w. 


*) Auch auferbaib Preußens tritt uns bier und da im deutihen Staaten das 
gleiche Beitreben, nur weniger confequent — entgegen. Vergl. J. Klaiber, Die 
Hohe Karlsſchule. Im neuen Reich 1876, II, S. 663. 

**) So verbieten ſchon die Schnlordnungen des 16. Jahrhunderts, auch Die Gold— 
berger des Rector Trotzendorf, das öffentliche Baden, ja das Schlittſchuhlaufen. 


11 

Auch im Volksbewußtſein lebt die Vorſtellung von einer Sittenaufſicht, welche 
der Yehrer über feine Kinder ganz allgemein führt. Iſt doch der Fall nicht 
jelten, daß Privatleute das Einjchreiten dejjelben gegen Ungezogenheiten von 
Schullindern in Anfpruc nehmen, ferner daß man das Verhalten der Jugend 
in der Deffentlichfeit zum Mafitab der Cchulbisciplin nimmt, ja daß Eltern 
in beſonders ſchweren Fällen den Lehrer um Beftrafung der eigenen Kinder 
angeben. 

Freilich ift das Yuftitut der Etaatsjchule keineswegs ohne Widerſpruch 
geblieben. Es ift befammt, daß dem Princip der Schulpflicht gegenüber von 
den ertremen Parteien die Parole der Unterrichtsfreiheit ausgegeben wurde. 
Welche Gefahren aber lettere für das Volksthum in ſich birgt, dafür ift Frank— 
reich ein unwiderlegliches Beijpiel, in neuerer Zeit fait noch mehr Belgien. 
Nicht blos daß es der größeren Zahl. der weniger gebildeten und bemittelten 
Eltern an dem rechten Berftändnik für die große Bedeutung eines geregelten 
Schulumterricht® ihrer Kinder gebricht, nicht blos daß leider vielen Eltern auch 
das nöthige Interefje für die fittliche Förderung ihrer Kinder fehlt, jo bemäch— 
tigen fi auch gar zu leicht in Schulconventikeln ftaatsfeindlihe Parteien des 
empfänglichen heranwachſenden Geſchlechts zu ihren bejonderen, dem allgemeinen 
Beſten feinpfeligen Zweden. Noch entjchiedener aber wird von manchen Seiten 
gegen die Verbindung von Unterricht umd Erziehung Verwahrung eingelegt 
md insbejondere dem Staate das Recht abgefproden, die Yugenddisciplin in 
feine Hand zu nehmen. Diefe jeltfame Auffafjungsweife gehört zunächſt der 
im Eingang charakteriſirten Periode des Subjectiwismus an. Die Sitten: 
aufjicht follte num infoweit dem Lehrer eingeräumt fein, als fie fih aus dem 
Geſichtspunkt des Unterrichts-Interefjes mit Nothwendigteit ergab, Nur: den 
Studienbetrieb ftörende Einflüffe fern zu halten, lag ihm ob. Neuerdings ift 
dieje Aftertheorie, nachdem fie in Deutſchland fat ausgeftorben, wiederum über 
dad Meer zu uns importirt worden*) und hat, allerdings nur vereinzelt, jogar 
in den Kreifen von Pädagogen Eingang gefunden. Es ijt jedenfalls der Be- 
achtung werth, daß auf der vor zwei Jahren abgehaltenen Konferenz der Direc- 
toren der pommerſchen höheren Yehranjtalten won den Vertretern einer Anftalt 
ten höheren Schulen die erziehliche Aufgabe völlig abgeſprochen und die Anficht 
aufgeftellt wurde, „es ſei ohne Frage ganz und gar Sache ver Eltern, für die 
ftlihe Ueberwachung ihrer Kinder außerhalb ver Schule entweder unmittelbar, 
wenn fie am Schulort leben, oder durch angemefjene Penſionen zu forgen; die 
Schule habe ihre Zucht auf den Unterricht und die zu demjelben geforberten 
häuslichen Leiftungen zu befchränfen und ihre Rathſchläge und Hilfe in der 
Erziehung zurädzubalten, bis die Eltern jolhe begehrten“. Doch haben folde 
Stimmen glücklicherweiſe keinen Anklang gefunden, Nicht blos ift jenes Yehrer- 
Collegium in Pommern mit feiner Auffafjung allein geblieben, ſondern es hat 
auch die Directoren-Conferenz der Provinz Sachſen im Jahre 1574 einftimmig 
die Unmöglichkeit ausgeiprochen, die erziehliche Aufgabe der höheren Yehranftalten 
don der umterrichtlichen zu tremmen. Und mas nody mehr werth ift, es ift 
die Anſicht, daß dem Lehrer auch die Erziehung der Schüler anvertraut ſein 
müſſe, nicht etwa nur in den Kreiſen der Fachmänner nahezu allgemein feſt— 


n Bay Verhandlungen der erften Directoren - Verfammlung in Sadfen, Halle 
1874, 


12 
jtehend, ſondern jie ift gewiſſermaßen in Fleiſch und Blut des deutſchen Vollkes 
übergegangen. 

Wenn nun aber auch dem Zuge umferer gejammten geſchichtlichen Ent: 
widlung gemäß bei uns in Preußen die Aufgabe von Erziehung und Unter- 
richt als eine nothwendig einheitliche anerkannt wird, wenn dann zweitens, 
da die Schule ſchon jetzt Staatsanftalt ift, auch die Erziehung zu einer Sache 
des Staates thatfächlich wird, jo gehen doch im Einzelnen, namentlich über 
die Grenzen der Befugnifje des Staates, die Anfichten nocd jo weit ausein- 
ander, daß ein feites Ziel, nad dem wir bewußt zu jtreben hätten, noch gar 
nicht ins Auge gefaßt ift, demnady die Gewinnung eines pofitiven Nefultates 
no in meitem Felde zu liegen fcheint. Wenn daher über dieſe jo wichtige 
Materie, die offenbar eine fundamentale Stellung bei der Conftruction bed 
Unterrichtsgejeges inne bat, namentlidy gelegentlid der Directoren-Gonferenzen 
die Debatte eröffnet wird, jo ift das eine umabweisbare Nothwendigfeit. Cine 
Nothwendigkeit — auch im Hinblid auf die nicht zu leugnende Vernachläſſigung 
der Erziehung Seitens ihrer bisherigen Hauptfactoren, der Familie und ber 
Kirde. Iſt nun aber aud durch das Geſetz die Schule zur Staatsanftalt 
gemacht, alfo der erſte Schritt geſchehen, auch die Erziehung, die ja won Unter: 
richt nicht getrennt werden kann, als Sadye des Staates in Anspruch zu nehmen, 
jo find doch die Gonfequenzen noch nicht gezogen, ja es gewinnt oft den An 
jhein, als ſcheue der Staat jelbjt vor denfelben noch zurüd, wenigſtens 
beſchränkt er jelbft feinen Einfluß auf die Erziehung des heranwachſenden Ge— 
jchlechtes in einer Weife, welde, wie wir im Weiteren nachzuweifen gedenten, 
dem öffentliben Wohle nicht fürvderlib it. Der Staat und der ausiübende 
Beamte, d. i. der Pehrer, müfjen fib ein feit begründetes und bewußtes Urtbeil 
über die große Aufgabe, die fie nach dem Geje bereits übernommen haben, 
bilden, wenn fie anders ſich derſelben gewachſen zeigen wollen. Mit den wei: 
teren Rechten hat der Staat auch jchwerere Pflichten auf fich genommen. Und 
noch ein anderer Gefichtspunft ijt bier feftzuhalten. „Wie die Kirche im Mittel: 
alter gerade dadurch ihre Machtjtellung gejchaffen, daß jeder ihrer Diener, ver 
oberjte Kirchenfürft jo gut wie der jüngjte Yehrer an der Domſchule, von der 
Intention derjelben durddrungen war, jo müſſen auch wir heute, um das 
Stantsidenl zu verwirklichen, auf Grund eingehender culturhiftorifcher Studien 
den Zug der Gejchichte verftehen lernen und im Einklang mit deren Kejultaten 
uns eine feſt begründete Anficht über die Aufgabe des Staates und das zu 
erftrebende Ziel verjcaffen. Ehe unfere Staatsmänner nicht das ſchwierige 
Problem, die Schule in das Gefüge des modernen Staates zwedmäßig ein- 
zugliedern, ebenjo gut zu löſen wiſſen, wie die mittelalterliche Kirche es ver: 
jtanden hat, Univerfititen, Dom- und Kloſterſchulen in ihren Dienft zu nehmen, 
werden wir den jegigen Zwitterzuftand im Staatsleben, der je länger deſto 
drückender wird, nicht überwinden.“ *) 

Nad Maßgabe unferer Kräfte einen fleinen Beitrag zur Erreichung des 
Berjtändniffes für das, was die deutſche Schule als Staatsinftitut auch auf 
dem Gebiete der Erziehung zu leiften bat, zu liefern, ift unjere Abficht geweſen. 
Denn mit Rückſicht auf die demnächſt in der Yandesvertretung bevorſtehenden 


...*) Sp ungefähr fchrieb mir vor zwei Jahren Herr Prof, Yaas in Straßburg fiber 
dieſe Frage. 


13 


Berathungen über das preußiſche Unterrichtögejeg, das nicht ohne den ein= 
ſchneidendſten Einfluß auf die Verhältniſſe von ganz Deutſchland bleiben fann, 
dürfen derartige öffentlibe Beipredungen wenigitens den Anjprud erheben, 
einer patriotifchen Geſinnung zu entjtanmten. 


3. 


Lockerung des Bandes der Familie in dem fid) vervoll- 
kommmenden Staniswelen, Familien- und Stants- Erziehung. 


Denn auch die Entwidelung des einzelnen Menſchen im Diesjeits ihren 
Abſchluß nicht findet, wie wir gläubig vertrauen, fo ift ihm doc unlengbar 
die größte Sorge dafür eingepflanzt, daß die irdiſche Arbeit, wenn er dieſe, 
durch den Tod abgerufen, verläßt, in feinem Sinne fortgefet wird. Dies ijt 
jo jehr der Fall, daß ven menſchlichen Geift noch im Augenblid feines Ab— 
jheidens neben dem Gedanken an jeine bevorftebende Vereinigung mit Gott 
der am meisten zu beichäftigen pflegt, welchen Händen er die Weiterfiihrung 
jeines Werkes anvertrauen ſolle. Noch mehr! Die Erreichung irdifcher Ziele 
kann ihm jo wichtig erfcheinen, daß er am diefelbe fogar das Leben freudig 
dranſetzt, in der tröjtlichen Gewißbeit : 

Wo immer müde Fechter 
Sinten im blutigen Strauß, 
Es fommen andre Gefchlechter 
Und fechten es muthig aus. 

Hier iſt alfo die Quelle der moraliſchen Seite des Fortpflanzungstriebes. 
Allein die bloße Eriftenz der Nachkommenſchaft gibt noch Feine Gewähr für 
den weiteren Bejtand oder Ausbau unſerer Schöpfungen. Dazu gehört viel- 
mehr, daß das heranmwachjende Geſchlecht in eine ſolche Verfaſſung geſetzt werde, 
daß es uns im ımferer Wirkſamkeit dort ablöjen könne, wo wir durd den Ein— 
tritt des Todes oder durd die allmählich ſchwindende Körperfraft und Geiftes- 
friſce zum Abtreten vom Schauplatz der Thätigfeit genöthigt werden. Bis 
dahın aber wollen wir in ımferer Jugend ſchon Gehülfen der Arbeit ſehen. — 
Kun finden wir im Alterthum überall, daß anfänglich die Familie die Form 
iſt, welche dem einzelnen Menſchen feine eigenthümliche Yebensaufgabe anweiſt 
und eine eigen geſtaltete Lebensidee eingibt. Erſt in zweiter Linie wirkt der 
Staat, der den Beſtand der Familie vorausſetzt, beſtimmend auf den Einzelnen 
ein. Was iſt daher natürlicher, als daß in der Familie mit ihren beſonderen 
Traditionen, ihrer beſonderen Lebensauffaſſung, ihrer beſonderen Ehre, ihren 
beſonderen Kulten die Kindererziehung beſchloſſen liegt, alſo eben in der In— 
ſtitution, die ja auch phyſiſch den Fortbeſtand des Menſchengeſchlechts vermittelt? 
Daher galt es bei den Juden wie bei den Griechen und Römern — ich ſehe 
hier von den beſonderen Verhältniſſen der Kaiſerzeit ab — nicht ſowohl für 
den Staat als vielmehr für die Familie als ein- Unglück, wenn der Kinder— 
ſegen ausblieb. Dieſes wurde, je weiter wir in die Vorzeit mit Hülfe der 
erhaltenen Denkmäler zurückgehen, deſto tiefer empfunden. Allerdings trat der 
Staat mit ſeinen Geſetzen da ein, wo durch das Ausbleiben des Nachwuchſes 
der Beſtand der Familie gefährdet war, nicht aber in ſeinem Jutereſſe, ſondern 


14 

in dem der familie, für deren Forteriftenz er zu jorgen hatte. Adoption und 
Levirats-Ehe waren derartige Einrichtungen, um die in dem einzelnen Geſchlecht 
überfonmenen Weihen, Gottesdienjte und Opferverpflichtungen auf die Nach— 
welt fortzupflanzen. Denn die Familie ftellt fih in allen Beziehungen als 
die eigentliche Yebensform dar. An fie ergehen die göttlihen Verheißungen, 
fie haben die Verwaltung dar Götterculte, ftellen alſo die Verbindung zwiſchen 
der Gottheit und dem Menſchen ber, in ihnen vererben ſich nicht nur politifche 
Rechte und materielle Beſitzthümer fondern aud amtliche und priefterlice Ver— 
richtungen, Kenntniffe und Fertigkeiten. So gingen, um von dem ägyptiſchen 
und indifchen SKaftenzwang bier abzufehen, die priejterlicen Vorrechte vom 
Vater auf den Sohn über in den Geſchlechtern ver Yeviten, der Gephyräer 
und der Potitier, jo pflanzte fi in den Dichter- und Künftlerfamilien Griechen: 
lands die Pflege von Kunft und Wiffenfhaft fort. An die Mitgliedſchaft in 
einer Familie knüpfte ſich das ftnatlihe Bürgerrecht, und in dem pater familias 
fand fi) jedes Yamilienglied in der Gemeindeverjammlung vertreten. Das 
war die Zeit, wo die Familie das verjüngte Abbild eines Staates und Diejer 
das vergrößerte Bild einer Familie zeigte. Wie der “exwr über den Staat, 
jo herrſchte ver pater familias über die Frau, die Kinder und die Sclaven, 
über die Erftere mehr rodırızas, d. b. unter VBorausjegung gleicher Rechte, 
über die Kinder Aacıkırag, über die Sclaven dsorrorıxws.*) Bei Diejer 
Eigenartigkeit und Abgefchlofienheit der Familien aljo ift es fein Wunder, 
wenn ſich die Erziehung der Kinder völlig in ihrem Schooß vollzieht. 

Allmählich aber: wuchſen die jtaatlich verbundenen Familien mehr und 
mehr zu einer Einheit unter fi zufammen. Während die Kamilienverbände 
in dem Staatöverbande immer merflicher aufgingen, ward dem Staat ein 
eigenthümlicher einheitlicher Charakter in vemjelben Grade aufgenrüdt, in 
welchem die Familien den ihrigen verloren. Das wachſende Staatsbewußtjein 
fand feinen Ausdruck aud in der gejeglihen Feltitellung einer ftaatlichen 
Beauffichtigung der heranwachſeuden Jugend. So in der Soloniſchen Öejeß- 
gebung, in welcher fi jowohl Beitimmungen über das fdhulpflidtige Alter 
und die Gegenjtände des für jeden Bürgerjohn obligatoriiden Elementarunter- 
vichts finden, als aud eine Sittenaufficht über die Jugend dem Areopag zu— 
geſprochen wird.**) Die Anfüte zu einer Staatserziehung find biernady bei 
ben Athenern unzweideutig vorhanden. Im Yaufe der weiteren politifchen Ent— 
widelung blieb zwar die äußere Form der Familie bejteben, ihres eigenthüm— 
lien Inhaltes aber und ihres Geiftes wurde fie mehr und mehr beraubt. 
Das Familienleben ging immer mehr in ein öffentliches über, das Familien— 
gefühl erſtarb. Dabei litt die Kindererziehung in der Familie Schaden. Es 
hätte, jo jcheint es, nun zwei Wege gegeben, auch für die Folgezeit ein jtarfes 
Geſchlecht heranzubilden; entweder mußte die Familie als fjolde von Neuem 
gefräftigt werden, oder mit Benutzung der ſchon vorhandenen Anfige Das 
Prinzip der Staatserziehung zur vollfommenen Durdbführung gelangen. Au 
den erjteren Weg hat damals Niemand mehr gedacht, und ed war wohl auch 
unmöglich, der Familie eine neue Grundlage zu jchaffen, noch weniger möglich, 
die alten, morſch gewordenen Stügen verjelben neu zu fejtigen. Einem Leichnam 


*) Bergl. Aristol. Nie. Eth. VIII, 10, 4 und 5. (cap. 12 bei Better). 
**) Vergl. E Curtius, Griechiſche Geſch. I, ©. 275, 


15 


fan man eben nicht neues Leben einhauchen. Das andere Heilmittel empfahlen 
Philofophen und Staatsmänner. Allein die Annahme deſſelben jcheiterte an 
dem im Diefer Zeit herrſchenden Subjectivismus, der ſelbſt an den ftantlichen 
Grundlagen ſchon rüttelte. Wie die Einigung der Griechen zu einer Nation, 
welhe ver Keim für eine neue, höhere Entwidelingsphafe des Hellenenthums 
hätte werden fünnen, dur die Unfähigkeit dieſes Volkes, das Ich in der Liebe 
md Hingebung an das Ganze aufzubeben, vereitelt wurde, fo lag es ihrer 
Sinnesart noch ferner, die ftarre Autorität des Staatsaefeßes den Kindern 
zeaenüber zur Geltung zu bringen. So blieben denn zwar die aefetlichen 
Beitimmungen, durd die dem Staat ein Auffichtsreht itber Die Sitten der 
Jugend eingeräumt war, formell beftehen, aber zu einer Fraftvollen und heil: 
ſamen Ausübung dieſes Nechtes und zu einer Werterentwidelung jenes Prinzips 
lieh es Die allgemeine Ungebundenheit des ariechifchen Yebens nicht mehr kommen, 
jo nothwendig dieſelbe auch fir den Beſtand des Staates aewefen wäre Die 
bädagogen und Grammatifer wirkten nach wie vor im privaten Auftraa, aber 
ee mußte ihmen natürlich von dent Augenblide an die rechte Autorität fehlen, 
da der Familienvater jelbit feine Theinahme an der Kindererziehung mehr 
bewies. Und wenn wich wenigitens die Turnſchulen durch den Gymnaſiarch 
eine ftaatlihe Beaufſichtigung erfuhren, jo war doc die hier gebotene Bildung 
nur eine äußerliche und konnte einer Jugend nicht geung bieten, Die zu der 
Löſung der Aufgabe eines pericleifhen Staates berufen war. Dazu kam, daß 
die Staantsaufficht je länger je mehr beveutungslos wurde, Den letten Reſt 
von Autorität büßte fie ein, als fie nicht mehr vom Areopag fendern von den 
lährlih vom Volk gewählten Sophroniften geiibt wurde.“) Wie hätte wohl 
dies Collegium mit Erfolg in einem Bolfe wirken follen, das durd das 
Sophiſtenunweſen der fchranfenlofeften Zitaellofigfeit anheimgefallen war, und 
tem der Sat als Ariom galt: dsıwor slvaı, sl um rıc daası tor dnjuov 
zgarrsır, DO dv Pobknreı.*) 

Während nun das eben noch hoffnungsreiche Athen aus dem Zuftande 
ver höchſten Blüthe, faſt ohne jedes Zwifchenftadium, an den Rand des Ber- 
derbens gerieth, und feine berühmten Mauern unter Flötenſchall von den Pelo- 
pennefiern eingeriffen wurden, richteten fi die Augen der :zadol xayadol 
in allen griechiſchen Landen, auch in Athen felbft, auf einen Staat, zu deſſen 
Gunſten foeben das Kriegsglück entjchieven hatte, und deſſen PVerfaffung auf 
meientlihb anderen Grundſätzen beruhte als die der anderen helleniſchen 
Staaten. Sparta ſchien feine Probe beftanten zu haben. Hier war jeit Lycurg 
Ne Staatserziehung in ihrer fchärfiten Ausprägung in Geltung. Die Familie 
batte ja auch nach der Verfaffung des aenannten Geſetzgebers bei der völligen 
Gleichberechtigung der Spartiaten feinen eigenen Gedanken zum Inhalt, und 
folgerichtig war die Erziehung der Jugend dem Staat übergeben, der eme 
Idee verförperte, nämlich die der unbedingten Staatshoheit. Schon im Alter: 
thum hat es nicht an Gegnern der fpartaniichen Berfaffung gefehlt. Der 
Erjte, der über fie unmuthigen Tadel ergoß, war wohl Pythagoras, der es 


*) Bergl. E, Curtius, Griechiſche Geſch. II, S. 137. 

*) Hen. Hell, 1, 7, 12. Das Boll von Athen wollte in dem Prozeß gegen bie 
zehn Feldherren der Arginufen- Schladt feine fonweräne Gewalt nit einmal durch 
die beftebenden Geſetze beſchränkt willen, 

Radtke, Welcher Antheil zc. 2 


16 


für das größte Unrecht erflärte, Kinder und Eltern auseinander zu reifen, 
Heut zu Tage hat man fi fogar gewöhnt, den Verfall des ſpartaniſchen 
Staates gerade aus dem Mangel der Familie, des häuslichen Yebens, der häus: 
lichen Anregungen und gemüthlihen Eindrüde auf dem Gebiete der Kinder: 
erziehung berzuleiten. Aber man überfieht, daR die Auflöfung Sparta® viele 
Jahrhunderte nah Einführung der Staatserziehung erfolgte, ſodann daR einer: 
ſeits die Eriftenz der Familie, andrerfeits der Einfluß der Eltern, namentlich 
der Mutter, auf die Kinder troß der Staatserziehung hiſtoriſch nachweisbar 
ift. Iſt doch das Alterthum voll von Berichten über das Anſehen, das bie 
ſpartaniſchen Matronen gleich jehr bei den Männern wie bet den Kindern 
genoffen, und mehr als eine Anefoote ift aufbewahrt, aus der hervorgeht, daß 
der Frau in Yacedämon mit viel größerer Ehrerbietung begegnet wurde ale 
fonft in griechifchen Landen. Der Berfall diefes Staates ıft auf ganz andere 
Gründe zurüdzuführen, vor allem auf den, daß feine Verfaſſung zu confer: 
vativ gegründet war, als daß fie, wie es die Erweiterung der politifchen Be: 
ziehungen zu den Nachbarftaaten erbeifchte, zeitgemäß hätte verbeſſert werden 
können. Im der fpartanifchen Staatserziehung aber befenne ich eine, wenn 
auch nicht materiell in allen Theilen, fo doch formal und prinzipiell Für uns, 
wie ein Mal heute die Verhältniſſe ſich geftaltet haben, vorbildliche Inſtitution 
zu erbliden. Die Theilnahme der Mädchen an verjelben und die energiſche 
Ausprägung des Staatögedanfens find Züge, durch welche die fpartanifche Er- 
ziehung in Griechenland einzig daſtand, und die unfer Staat bei der fell: 
ftellung des Unterrichtsgefeges nicht ungeftraft außer Acht jegen dürfte Doch 
wir dürfen die biftorifche Weberficht über den Sana, den die Jugenderziehung 
bei ven Eulturvölfern genommen bat, nicht unterbreben und ebenfowenig ber 
Darlegung unferer erziehliden Bedürfniſſe bier vorgreifen. 

Bei der Confequenz, mit der fih der Staatsaedanfe in Rom Bahn ge 
broden und in allen Pebenskreifen geltend gemacht bat, ſtand wohl zu erwarten, 
daß dort aud die Erziehung jehr bald unter ftaatlibe Aufficht und jtaatlicen 
Einfluß treten wide, wenigftens von der Zeit ab, da das Haus feinen eigen- 
thiimlichen Geift verloren hatte und das Volk in feiner Gefammtheit zum 
Träger der die Geifter beherrfchenden Iree geworden war. Dem war befanntlid 
nicht jo. Nicht als ob die Familie eiferjüchtig das Necht der Jugenderziehung 
fid) gewahrt willen wollte, — die Familie entbehrte im Gegentheil in den 
legten Zeiten der Republik fat durchweg eines inneren Zufammenjchluffes *), 
wie denn ein Mann, der zu den fittlidh ernfteren und würdigeren Charakteren 
jeiner Zeit zählt, Cicero, fein Bedenken hatte, fid) ohne triftige Gründe nad 
einem mehr als 30jährigen ehelihen Yeben von feiner Jugendgemahlin zu 
ſcheiden, — nur der Stimm für Unterordnung zum Beften bes Staates war 
gänzlich erftorben. Die Kaifer bejchränften zwar die patria potestas**), aber 
die Nechte und Pflichten der Kindererziebung verblieben unverfürzt dem Haufe. 

So haben wir nun gejehen, daR es im Alterthum — abgejehen von 
Sparta — zu einer Staatserziehung auf dem Wege der politiſchen Entwidelung 


*) Bezeichnend bierfür ift 3. B. Cie. de officiis III, 23, 90, 

**) Das römiſche Hausrecht, nach dem fein Beamter des Staates ohne Einwilli- 
gung des pater familias deilen Haus betreten durfte, fiel ebenfalls erft im ber 
Raiferzeit. 


17 


niht fam, weil 1) zu der Zeit, wo die Familie die Erziehung an ben 
Staat hätte abgeben müſſen, die Geifter zu einer Unterordnung unter das 
Allgemeine nicht mehr befähigt waren, 2) weil es den damals wirfenden 
Staatsmännern an dem Geſchick zu jchöpferifhen und organifivenden Ihaten 
gebrach, welches nadı einem Geſetz der Weltgejchichte nur in Zeiten nationaler 
Kraft gefunden wird. 

Das Chriſtenthum durdgeiftigte die Kultur der alten Welt, namentlich 
die griechiſche Vbilofophie, ımd das Germanenthum trat als Erbe der Römer 
in die MWeltherrichaft ein. Dieſe beiden neuen VPebenselemente begritndeten 
durch ihre gegenfeitige Durchdringung ein neues Zeitalter. Für die Gefchichte 
der Erziehung it das Chriftenthum im vielfaher Hinficht von höchſter Bedeu— 
tung geworden. Wir betrachten hier nur die Seite der hriftlichen Erziehung, 
Nie für die gegenwärtige Betrachtung Intereffe hat. Das Chriſtenthum ſtellte 
ale Menſchen in noch höherem Grade und confequenter, ald es der Stoicis— 
mus Schon gethan, als Erafgor hin, die unter fi völlig aleichberechtigt find. 
die Familie wird feineswegs aufgehoben, vielmehr ihre fittlihe Seite mehr 
berporgefehrt und babei der Fran die gebührende Stellung zugewielen ; allein 
ın der Gemeinſamkeit des Glaubens und Lebens ver erjten Chriften liegt es 
nothwendig, daß die Abgeichloffenheit der Familie nach Außen füllt. Da nun 
alle Menſchen Kinder Gottes find und demnach in gleihbem Grave Anſpruch 
af Erziehung haben, fo ift damit die Grundlage zu dem neuen Prinzip der 
allgemeinen Bolksbildung gegeben. Und da jett nicht mehr, wie bei ben 
Örteben und Römern, die Familie ihre befonvdere ſchützende Gottheit beſitzt 
und verehrt, ſondern alle Menſchen ohne Rückſicht auf ihre Abſtammung den— 
ſelben einigen Gott anbeten, ſo iſt auch der Grund gefallen, die Unterweiſung 
und Erziehung der Kinder im Schooße der Familien ſich vollziehen zu laſſen. 
So iſt es denn Karl der Große, wie wir oben ſchon nachwieſen, der zuerſt 
dieſen Gedanken einer allgemeinen Erziehung des Volles durch ſtaatliche Ver— 
anſtaltung zur Ausführung zu bringen ſuchte. Nach langer dunkler Zeit iſt 
es dann wieder Luther, der das Verſtändniß für dieſe jo wichtige Aufgabe 
des Staates bei Fürſten und Städten weckt, und die Hohenzollern haben 
gerade in ihren hervorragendſten Vertretern dieſe Sorge mit dem vollen Bewußt— 
ſein ihrer Wichtigkeit in ihrer Eigenſchaft als Regenten fir fid in Anſpruch 
nommen. Wohl uns nun, daß wir heute alle Beringumgen erfüllt und 
überall den Boden vorbereitet finden, um die Erziehung der Jugend auf den 
Staat Übertragen zu können, da die Familie in ihrer heutigen Geſtalt Die 
ihwere Verantwortung für viefelbe allein auf ihren Schultern zu tragen fi) 
keineswegs durchweg mehr fühig zeigt. 

Das öffentliche Leben unferer Nation nimmt jegt derartig alle Kräfte 
für ſich in Auſpruch, daß alle anderen Intereffen zurüdtreten, alle Gemein- 
Ihaften nnd Verbände, die nicht politifher Natur find, an Bedeutung und 
Zuſammenſchluß mehr und mehr verlieren. Ich erinnere an die Zünfte, an 
die wiffenfchaftlihen Vereinigungen, am die Verbindungen unter den Berufs- 
genoffen, jelbft an die Ständeunterfchiede, ja jogar an die Gliederungen nad) 
firhlibem Belenntnif, — deren Stüten und trennende Schranken fallen mehr 
und mehr. Hat doch jelbit der Stand viel von jeiner Abgeſchloſſenheit ein: 
gebüßt, ver als ein Staat im Staate mit befonderer Berfaffung, mit eigenen 
Geſetzen, Gerichten und Lebensauffaſſungen bejteht, der Stand der Berufs- 

2* 


18 


ſoldaten. Hat doch felbft fo feite Bande wie die des Freimaurerordens, die 
Berfolgungen aller Art nicht zu löfen vermochten, der nivellirende Geijt der 
Neuzeit gelodert. 

Und die Familie? Auch fie trägt feinen eigenthümlichen, nad außen 
abaefchloffenen Charakter mehr. Ihre Bejonderheiten und ihre Privilegien 
find der Reihe nach durch den weiteren Berband des Staates abforbirt morben, 
von der Blutrache und dem alten jus talionis an, das emft 3. 3. ber 
Gründung des Staates jo ſchwer fi einfchränfen ließ, bis auf die legten 
politifhen Vorrechte, die bis im unfere Tage hinein fich einzelne Familien 
von hohem Adel dem Staat gegenüber zu erhalten gewußt haben. Daher ift es 
fein Wunder, daß auch das Gefühl fir Familienehre heute lange nicht mehr fe 
rege wie in früheren Zeiten ift, wo die ımfittlibe Handlungsweije des Mit: 
alieves einer Familie dieſer im Ganzen einen untilgbaren Makel zufüate 
Die Familie gilt überhaupt nicht mehr als vie Lebensform, in welder ber 
Menſch feine nächſte Beſtimmung findet. Es tft ein nicht abzuweiſendes Zeichen 
der veränderten Yebensauffaffung, daß von Jahr zu Jahr, und zwar in allen 
Ständen, der Procentfag derer fteigt, die eine Che aar nicht mehr eingeben. 
Und wenn man beute, umd zwar mit Recht, Elagt über den Mangel an Häus— 
lichkeit bei Männern und Frauen, fo liegt der Grund zum Theil allerdings 
in der fteigenden Genußſucht unſerer Generation, aber mehr nod im dem 
nicht mehr einzudämmenden Drange in das öffentliche VYeben. Für die Ver: 
äußerlichung des Familienlebens gibt es feinen jchlagenveren Beweis als die 
Einrichtung ber heutigen Familienwohnungen, die in den einentlihen Familien: 
zimmern eine ungebührliche Bernahläjfigung, in den Gejellihaftsränmen eine 
maßloſe Berfchwendung erfennen laſſen.“) Soll id num noch auf die im unſerer 
Zeit auf der Tagesordnung der focialen Umwälzung ftebende Frage der Franen- 
arbeit hinmeifen ? Jene Worte, die vor vier Jahren der General = Boftmeiiter 
Stephan im Neichstage bezüglich der Zulaffung der Frauen zu Aemtern ver 
Staatöverwaltung ſprach, welchen erniteren Charafter, welchem um das Wohl 
des Vaterlandes forgenden Mann wären fie nicht aus der Seele gejprocen 
gemejen? Und doch kann ich mich dem Gedanken nicht verſchließen, daß alle 
retardirenden Maßnahmen der Regierung, die etwa in dem Sinne ergriffen 
werden möchten, die Frau auf den Kreis der häuslichen Arbeiten einzufchränfen, 
doch im Grunde wenig helfen werden. Cie werden es unjerer Meinung nad 
um jo weniger, als auf gewifjen Gebieten der Staat felbft jenen Grundſätzen 
zuwider handelt. Denn was heikt es anderes, als die Frauenarbeit außer dem 
Haufe begünftigen, wenn das Cultusminiſterium die Anstellung von Yehrerinnen 
in immer weiterem Umfange zuläßt? Im wie weit Diefe Concurrenz dem 
Intereffe der Schule dient, ift bier nicht Der Ort zu unterfuden. Wie dem 
aber auch fei, iſt denn nicht die Frauenarbeit in gar vielen Familien geradezu 
eine Lebensfrage geworden? Nicht mehr bloß in den großen Städten arbeitet 
jo mande Hausfrau ftatt für ihre Häuslichfeit für den Laden. Da wird die 
Familienküche aufgehoben und jomit der Familtentifh, auf daß die Frau Zeit 
gewinne, gleih dem Mann fir ven Unterhalt, öfter aber zur Beſtreitung von 
Purusausgaben zu arbeiten; da forgt für die großen und aud ſchon für die 


*) Hierauf macht mit vollem Recht der Berfafler der Briefe. über Berliner Er- 
ziebung aufmerkſam. S. 14 und ff, 


19 

Kleinen Bedürfniffe an Wäſche und Kleidung nicht mehr die in allen Künften 
ver häuslichen Arbeit wohl unterwiefene Hausfrau, jondern der „billige Paden“. 
Ber da glaubt, daß dies beveutungslofe Kleinigkeiten find, der fennt den ge— 
beimmgvollen Zauber nicht, der für Mann und Kinder gerade darin liegt, 
daß die Handarbeit der Hausfrau unmittelbar den Familiengliedern zu Gute 
fommt. Und wie anders müſſen auch Mutter und Töchter am Haufe hängen, 
an deſſen Mobiliar jie mit jtiller Freude ihre eigene Thätigfeit nachweijen 
fimmen! Aber freilih billiger jtellt ji) das im Laden gefaufte Hemd, wenn 
dafür die Zeit der Mutter und der Töchter für die bejjer bezahlte Handarbeit 
or für die Ertheilung von Unterricht frei wird. Wo gibt es da 
dieſer Thatſache gegenüber eine Beredſamkeit, und hätte ſie Engelszungen, 
welbe die Frauen vermöchte, zu der Sitte ihrer Mütter zurücdzufehren und 
ber jelbft die Wäfche für ven Mann und die Kinderanzüge zu fertigen, auf 
ven baaren Verdienſt aber zu verzichten? Wer, wie der Verfaſſer, das Glück 
habt hat, im einer altväteriſchen Familie aufzumachien, der mag es wohl 
ef beflagen, daß die heutige Zeit fich diefes gemüthvollen Zuſammenſchluſſes 
am Familienherde mehr und mehr entjchlagen zu fönnen glaubt, aber dem 
Staatsmann geziemt es, auf die Zeichen der Zeit zu achten und neue wirk— 
ſame Injtitute zu jchaffen, wenn die alten ihre Kraft zu verlieren beginnen und 
ihren Verpflichtungen nicht mehr gerecht werden. 


4. 
Die heutige Familienerziehung. 


Wem entginge ed wohl, daß die Familienerziehung längft das nicht mehr 
late, was fie zum Wohle des Ganzen zu leiften verpflichtet it? Alle päda— 
ggiihen Schriften der Jeßtzeit find voll von Schilderungen der entweder ganz 
mangelnden oder doc verkehrten Zucht im häuslichen reife. Schon im Jahre 
1845 klagte ein um das BVolkswohl ernftlic beforgter Mann:*) „Wo ift die 
zattiarchaliſche Form unferer Hausväter, wo die Zeit, da ihr Wort noch Geſetz 
wur? Fuimus Troes! Wo ift das Verharren unferer Hausfrauen in ver- 
!orgener Zurüdgezogenheit? Aus Frauenzimmern find Frauengafjen geworden, 
wie Abraham a Sancta Clara jagt.“ Und an einer andern Stelle derjelben 
Schrift: „ES fehlt an Müttern. Die befjere Zukunft kommt nur von den 
Müttern.“ Auch Raumer bricht in feiner Geſchichte der Päpagogik**) in 
dieſelben Klagen aus und führt die Vernachläſſigung der Erziehung des 
beranwachfenden Geſchlechts theils auf die mangelnde Befähigung der heutigen 
Familie für dieſe Aufgabe, theils auf das ihr mehr und mehr abhanden 
fommente Imtereffe für eine gute Kinderzuct zurüd. Selbſt die Schmid'ſche 
Encyelopädie erkennt in einer Reihe einfchlägiger Artikel die Unvolltommenheit 
der modernen Privaterziehbung offen an. Und welcher Yehrer wüßte nicht über 
tes Gapitel aus feiner eigenen Praris gar Trauriges zu berichten? Die 
Einen ſuchen die Verantwortung fiir das körperliche und geiftige Gedeihen 





) Scheinert, Erziebung des Vollkes, 1845, 
**) 30. III, ©. 42. 


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ihrer Kinder fo zeitig als möglid auf andere Schultern zu wälzen. Nicht 
erwarten können fie es, bis das fchulpflichtige Alter die Uebergabe ihrer Kinder 
in die Pflege und Aufficht der Schule möglich macht und damit in ihren 
Augen die Befreiung von der läftigen Verantwortlichfeit für das Verhalten 
derjelben herbeiführt. Die große Beliebtheit, deren fih die Kleinfinderbewahr- 
anftalten, die Spielfchulen und die Kindergärten, Schöpfungen unjerer Zeit, 
zu erfreuen haben, iſt charafteriftifch für den Begriff, ven fich heute die große 
Mehrheit der Eltern von ihren Pflichten gegen die Kinder macht.“) Andere 
Väter und Mütter haben eine fo verkehrte Liebe zu ihren Kindern, daß ſie, 
befeelt von dem Wunſch, diefe nicht zu betrüben, eine jo weitgehende Nachſicht 
gegen fie im Anwendung bringen, daR fie eimerjeits feinerlei Genüſſe ihnen 
verjagen, andrerſeits jelbit bei groben Unarten Strafen zu verhängen oder 
auch nur ernftlihe Mifbilligung zu äußern ſich nur ſchwer oder gar nicht 
entjchliegen können. Wachſen ihnen dann, wie ja unvermeidlich tft, die Kinder 
über den Kopf, dann bitten fie wohl den Pehrer um feine Mithilfe, erfolgt 
fie aber mit der nöthigen Energie, jo macht ſich ſofort wieder bei ihnen eine 
Regung der Shwachheit geltend und fie nehmen nun das Kind gegen benjelben 
Lehrer in Schuß, deſſen jtrafendes Eintreten fie eben noch ſelbſt begehrten. 
Sole Imconfequenz ift uns in unjerer Pehrerpraris nicht nur ein Mal ent- 
gegengetreten. Die Verkehrtheiten jo mander häuslichen Erziehung, welde 
für bloße Ungejchidlicheiten des Kindes, z. B. wenn es eine Taſſe zerjchlagen 
hat, die Strafe ftrenger bemißt als für ſchwere fittlihe Vergeben, z. B. für 
Lüge, welche aus Untenntniß der Folgen Ungehorfam ftraflos ausgehen läft, 
— dieſe und ähnliche Verfehrtheiten, die doch das Kind ſchwer fchädigen, hier 
erihöpfend aufzuführen ift unmöglid; es muß genügen, bier nur darauf bin 
zuweifen. Dazu fommt nun, was die die höheren Yehranftalten bejuchende 
Jugend anlangt, daß eim erheblicher Theil derjelben jeine private Erziehung 
in Penſionswirthſchaften erhält. Daß diefe in verhältnißmäßig jeltenen Fällen 
ihre Aufgabe richtig auffaffen und mit Ernft zu löfen ſuchen, iſt eine all- 
befannte Thatſache. Die Schule begegnet bier im der Negel theils in Folge 
mangelnden Verſtändniſſes für ihre wohlgemeinten und wohlerwogenen An- 
ordnungen, theils in Folge tadelnswerther Nachgiebigkeit gegen den einen 


*) Sehr ſcharf gebt ber Berfaffer der Briefe über Berliner Erziebung mit ben 
Kindergärten ins Gericht. „Diefe Anftalten (nämlich die Kindergärten) find noch nicht 
alt genug, um die Größe des Vortheils oder Nachtbeils, den ſie den Kindern gemwäbren, 
ganz ermeſſen zu können, nach meinen bisherigen Erfabrungen ift der letztere größer als 
der erftere: ich babe wiederholt wahrnehmen müffen, daf Knaben, welde in der Methode 
der Kindergärten Jahre lang erzogen worden waren, noch von neun und zehn Jabren 
eine Art Traumleben führten, aus dem fie faum aufzumeden waren; das Anſchauungs— 
vermögen war fo einfeitig auf Koften der Übrigen Kräfte, namentli des Berftandes, 
ausgebildet, daß fie zu munterer Aufmerkſamkeit und leichter jcharfer Auffaffung ganz 
unfäbig waren. — — — Der NAusdrud, den man zuweilen bört, in ben gebildeten 
Kreifen feien bie Kindergärten nur für Stiefmütter und faule Mütter da, mag bart 
klingen, trifft aber vollfommen die Sache, nur würde ih noch binzufligen: und für 
jene eitlen, flachen Gejchöpfe, die Mütter zu beißen überhaupt nicht verdienen. — — — 
Sch wäre wohl begierig bie Antwort zu hören, wollte man ſolche Mütter einmal fragen: 
„In welcher Zeit erziebt Ahr denn nun Eure Kinder?““ Die Notbwendigkeit dieſes 
Inftituts wird ſich troß alledem für unfere Zeit nicht mebr beftveiten laffen, im ber 
nun einmal viele Mütter die Regierung im bäuslichen Kreife nicht mebr für ihre erfte 
und liebfte Aufgabe halten. 


21 


materiellen Gewinn bringenden Benfionär einer heimlichen Oppofition, die um 
jo gefährlicher wirkt, je mehr jie zugleih dem Schüler die Offenheit und 
Anfrihtigfeit gegen den Yehrer abgemwöhnt und Damit das Vertrauen zu ihm 
mtergräbt. Endlich ift nicht zu überjehen, daß die höheren Schulen viele 
ihrer Zöglinge aus den ıumteren Ständen erhalten, die mit ihrem Eintritt in 
vie oberen Klaſſen ſich gewiffermaken über das geiftige Niveau ihrer Eltern 
erheben und daher Yegteren in dem meijten Füllen eine Achtung einflößen, 
die jie unfähig macht, das Erziehungswerf fortzujegen. So hört denn gerade 
bei diefer Klaffe von Jünglingen der bejtimmende Einfluß der Erwachſenen in 
einer Periode nahezu auf, wo er am nöthigften it. Wo wir bei afademijch 
gebildeten Männern auf umnleidlihen Hochmuth umd auf rückſichtsloſe Herzens: 
birtigkeit ftoßen, da werben wir meijt den Grund diejer Fehler darin ent: 
veden können, daß Jene, hervorgegangen aus Familien der unteren 
Stände, in den Jahren des Weberganges zum Diünglingsalter ihre Eltern 
überſahen. 

Das düſterſte Bild von der Art, wie heute die Familie ihre Pflicht, die 
Kinder zu erziehen, auffaßt, entwirft ‚ver Verfaſſer der Briefe über Berliner 
Erziehung, eines Buches, Das mit Recht "alljeitig die größte Aufmerkſamkeit 
erregt und bei den praftifhen Schulmännern Zuftimmung gefunden bat. Und 
wenn man vielleicht einzumerfen geneigt wäre, daß dort ein mihvergnügter 
Tiragoge die Dinge zu ſchwarz anficht und zeidmet, fo lefe man, wie ein 
Laie über dieſen felbigen Gegenftand urtheilt, ein Laie, dem man jchwerlich 
den Vorwurf wird machen wollen, daß er zu den grämlicen laudatores 
temporis acti zühle. Gerade Lasker's Ausführungen über diefen Punkt ver- 
dienen die vollſte Berüdjichtigung.*) Er, wie der Berliner Pädagoge, kommt 
zu dem Schluß, daß es mit der Zukunft unjeres Bolfes übel bejtellt fein 
würde, wenn nicht baldige Abhilfe gegen diefen von Jahr zu Bahr mehr um 
fih freffenden Schaden eintrete. Beide erwarten einen Umſchwung nur dann, 
wenn wir durch die öffentlihe Erziehung die Fünftigen Bäter ımd Mütter 
felbjt erft in eine beſſere Richtung gebracht haben werden. 


Bir hören als Dritten nod einen Nationalöfononen. Felix jagt in 
ſeinem Werke „Die Arbeiter und die Gejellfchaft“ **) hierüber Folgendes: „Die 
ten höheren Ständen angehörenven Perjonen vermögen es zuweilen gar nicht 
zu jaffen, daß arme Handwerker, welde mehr als irgend Jemand das Ihrige 
zu Rathe ziehen jollten, die ſorgſame Sparfamfeit und die Mäßigleit vermifjen 
laſſen, melde fie jelbit an den Tag legen. Die einfade Erklärung jo jelt- 
ſamer Erſcheinungen liegt in dem Umftande, daß dieſe Perſonen nicht zur 
Sparfamkeit, fondern zum Genuß erzogen find. Das arme Kind eines Ar- 
beiters, deffen Eltern fid häufig unmäßig und unreinlich zeigen, miteinander 
hadern, die Zeit vergeuden nnd gar oft obne Scheu vor feiner Anweſenheit 
unanjtändige Reden führen, fann, wenn überhaupt, nur erjt in der erniten 
Schule des Lebens nad herben Erfahrungen, meift zu ſpät, die Eigenſchaften 
würdigen lernen, melde es an feinen Eltern vermißte. Darum foll, jo führt 
der Verfaffer fort, der Volkslehrer zugleih der Erzieher der ihm anverträuten 


— 


“ 


*) Siebe deffen Aufſatz über Erziehung und Anlagen in ber deutichen Rundicau I. 
**) Erſchienen bei Otto Wigand in Yeipzig, 1874. 


22 


Kinder fein, der ſich die Aufgabe zu ftellen hat, ihnen, neben den nothmendigen 
Disciplinen, durch Lehre und Uebung all vie fittlihen Eigenfchaften einzuflögen, 
deren fie zu ihrem Lebensglüd nicht entbehren fünnen.“ Nicht blos zu ihrem 
?ebensglüd, füge ich hinzu, jondern vor Allem zum Heile der Gejellichaft, des 
Staated. Und mm bedenfe man, einen wie großen Procentfag unter dem 
heranwachſenden Geſchlecht gerade die Arbeiterfinder bilden, fie, vie unzweifel- 
haft in Folge der nicht mehr aus der Welt zu jchaffenden Franenarbeit und 
der unleugbaren Yüfternheit der Eltern die jchlechtefte Erziehung geniehen. 
Den Erwachſenen wird die ftaatlihe Zucht ſelbſt durch die ftrengiten Geſetze 
nicht zur Gefeglichfeit zwingen, höchſtens zu eimer äußerlichen, die doch im 
Grumde feine ift, auch feine Stüße des Staates fein fann, das Sind aber 
vermag die Disciplin eines treuen und geſchulten Lehrers jo zu leiten, daß 
es dereinſt als Staatsbürger zum Heile des Ganzen die Gejege aus Ueber— 
zeugung vejpectirt. 

Aber bei der jo tief einjchneidenden Wichtigfeit dieſer Aufgabe für die 
Gefundheit unferes Volksthums — denn es handelt fi eben darum, ob unjere 
Nation in derjelben Entwidelungsphafe ihren Lebensproceß abſchließen jolle wie 
die Völker des Alterthbums, oder ob fie im Stande ift, durch Gründung neuer 
Inftitutionen, die einen Erfag für die im Yaufe der geſchichtlichen Entwidelung 
gleichſam abgenugten verjpreden, einen höheren Aufſchwung zu nehmen, — Id 
jage: im diefer Frage um Sein oder Nichtfein darf es uns nicht genügen, wie 
der Verfaſſer der Berliner Briefe thut, Die Erwartung auszujprehen, daß es 
ver öffentlichen Erziehung gelingen werde, das drohende Verderben zu beſchwören. 
Es gilt vielmehr, pofitive Vorſchläge zu machen und auf eine gejeglihe Rege— 
(ung der jetzt übel vernadhläffigten Yugendrisciplin in Wort und Schrift hits 
zuwirken. Man vergeffe doch ja nicht, daß gerade hier ein Zuwarten, ein 
Aufſchub der dringlihen Reform ſchwere Schädigungen des Boltsthumes herbei- 
führen muß. Oper wird etwa das heranwachſende Geſchlecht, das nad über: 
einftimmender Schilderung bejonders in den großen Städten und in induftriellen 
Bezirken nicht mit der nothwendigen Sorgfalt und pädagogiſchen Einjicht 
im Haufe erzogen wird, nad menjclider Berechnung mehr Geſchick ent: 
falten, feinerfeits feine Kinder zu erziehen, wenn dazu an dafjelbe die Reihe 
kommt? Man ehe ji doch ja vor, daß nicht auch auf unfer Voll einſt 
paſſe, was der römische Dichter von dem jeinigen mit wehmüthiger Trauer 
berichtet: 

Aetas parentum, pejor avis, tulit 


Nos nequiores, mox daturos 
Progeniem vitiosiorem,*) 


Die Enten, die durh Hühner ausgebritet werden, verftehen das Brüten 
jelbjt nicht mehr. 


*) Hor. carm. III, 6, 46. 


Die Nothwendigkeit einer ſtaatlichen Beaufſichtigung der 
Kindererziehung. 


Dit halben Mafregeln ift hier nichts zu gewinnen, wohl aber mehr noch 
ju verlieren. Den Rath, den der Verfaſſer der Berliner Briefe den Eltern 
ertheilt, bei den Seelenkranfheiten ihrer Kinder ven Pädagogen von Fach als 
Hausarzt zu Nathe zu ziehen, — hat er wirklich auch nur einige Ausficht auf 
Beberzigung und Befolgung bei der großen Menge, ja jelbjt bei ven gebildeten 
Vätern? Es bleibt eben nur übrig, dag der Staat, allerdings mit Benugung 
der Familie und anderer Injtitutionen, die im Weiteren zur Beſprechung 
foumen jollen, die Erziehung injofern übernimmt, als er gejeglich gewiſſe Prin— 
cipien fejtjtellt, nad) denen dieſelbe geleitet werden ſoll. Gemeindeorgane wer- 
ten die Befolgung derjelben zu beauffichtigen haben. Zu diefem Schluß bringt 
mic nicht nur die Wahrnehmung, wie das Haus vielfach die ihm bisher fait 
ohne Einſchränkung zugefallene Erziehung der Kinder vernachläſſigt, jenbern 
auch die Erwägung, daß heut zu Tage bei der Vielgefhäftigfeit unjerer Gene- 
ration Die Theilung der Arbeit fi mehr und mehr vollzieht. Wohl weiß ich, 
daß gerade dieje großen Gefahren für die Yebensfraft der Nation in fich birgt 
md dag man ſich daher eher gegen eine weitere Durchführung derjelben ſtemmen 
müßte. Allein ein Correctiv für diefelbe hat die Geſellſchaft im der Juſtiz, in 
der Verwaltung des Staates, des Kreijes, der Commume, im Militärwefen, in 
ver Kirche und auf jo vielen anderen Gebieten glüdlih gefunden, da in. den 
genannten Sphären überall jegt neben Fachleuten berufene Yaien mit Rath und 
That mitwirkend eintreten. Und wenn ich nun empfehle, die Erziehung einem 
Stande, den Pehrern der Staatsjhule nämlich, von Staatswegen anzuvertrauen, 
jo ift es meine Abficht durchaus nicht, diefem eine Domäne zu ſchaffen, in der 
er für ſich abgeſchloſſen und ohne geiſtige Befruchtung durch die andern Be— 
ſtandtheile der Nation arbeitet. Wenn aber ſchon Plato im Laches“) die Be— 
merkung macht, daß die Männer ſeiner Zeit zu ſehr den Geſchäften des öffent- 
liben Yebens angehörten, als daß fie nod) Interefje für die häuslichen Aufgaben, 
infonderheit für die Kindererziehung hätten, jo gewinnt einerjeits durch dieſe 
Worte die oben des Weiteren geſchilderte ähnliche Erſcheinung unſerer Tage 
eine Erklärung, andererſeits wird uns das Mittel nahe gelegt, von Neuem 
das Intereſſe für die Jugenderziehung zu erwecken. Man mache dieſelbe zu 
einer öffentlichen Sache, und ſofort werden auch wieder alle geiſtigen Kräfte ſich 
ihr zuzuwenden Antrieb finden. 

Endlich beſtimmt mid zu meiner Auffaſſung von der unumgänglichen 
Rothwendigfeit der Staatserziehung aud folgende Rückſicht. Bisher gehörte 
das mit 14 Jahren aus der Schule entlafjene Kind, wenn es fein Brot in 


*) Gleich im Eingange des Dialogs gedenkt Plato der Erfahrung, die er aud in 
anderen Schriften in Erwägung gezogen bat, daß nämlich viele ausgezeichnete Männer 
ihre Söhne nicht zu gleicher Züchtigleit erzogen bätten, Im 3. Capitel beißt es dann 
mit Bezug hierauf: vowo 1« Wr Tokswr NOUTEOUCEN, avrois oytdor u raure 
SUußeivei, ovrog Mytt, zei nepi neides xui ralda idıe, olıywpeisdei re xwi 
euros duerideod. 


24 

eirem fremdem Haufe ſich erwerben mußte, der Familie an, in die e8 ale 
dienendes Glied eintrat. Das Dienſtmädchen, der Pferdejunge, der Yehrling, 
der Gejelle und der Knecht fogar afen am Tiſche ihres Brotherrn mit und 
genoffen alle die erziehlihen Anregungen und vor Allem auch die fittlihe Hut 
und Beauffichtigung, welche die Familie den eigenen Kindern zu Theil werben 
lief. Das iſt inzwiſchen jelbjt in ven Keinen Städten und auf dem platten 
Yande durchaus anders geworden. Das Gefinde und die Gehülfen aus ver 
Merkftätte find außer der Arbeitszeit faft völlig ſich felbit überlaffen. Die 
Pflicht, aufer für den leiblichen Unterhalt auch für die fittliche Förderung dieſer 
jungen Leute zu forgen, ift faft vergeffen. Höchſtens wird noch auf eine Art 
von Disciplin im Haufe jelbit und bei der Arbeit gefehen, aber bei den Dienit- 
mädchen vielfach auch dies nicht mehr. Was außer der Wohnung der Dienſt— 
berrfchaft geichieht, das fällt nad faft allgemeiner Auffafjung nicht mehr 
in das Bereich der Aufficht derfelben. Daß daher Kuaben von kaum 
15 Jahren in unziemliher Art und außerdem zum Schaden ihrer Gejunpheit 
rauhen und unmäßig Spirituofen genießen, die Straße verftellen, lärmend und 
tobend die öffentlihen Plätze durdjftreifen, das Publikum beläftigen, die Mädchen 
mit unanftändigen Scherzen anrufen und verfolgen, — mer fieht es nidt, 
ohne ſich über die Ohnmacht der Polizeiorgane zu wundern? Aber das find 
nicht ſowohl die Folgen der neueren, allerdings ja viel zu humanen Straf 
und Polizeigejege, fondern vielmehr die der heutigen Gefindeordnung. Mit 
dem Zunftzwang ift auch die Disciplin der Pehrlinge gefallen. ever Meiiter 
wird und das jagen. Mocten immerhin die den Erwachjenen durch die Zünfte 
gezogenen Schranken in dieſen Tagen überflüffig, ja ſchädlich geworden jein, — 
für die noch unerwacjene Handwerfer-Jugend mußten neue Formen gefunden 
werben, um die diefem Alter jo nothiwendige Bevormundung zu fihern umd zu 
regeln. Darf nun der Staat auch fernerhin diefen fo bedeutenden Procenſatz 
des heranwachſenden Geſchlechts, ver fidh mit 14 Jahren, alfo gerade in ver 
für phyfifches und ſittliches Gedeihen jo entſcheidungsvollen Periode des Leber: 
ganges vom Knaben zum Yüngling, jedem evziehlichen Einfluß entzieht, feinem 
Schidjal überlafen? Darf er auch in Zukunft die ſchon jo grell herwortre- 
tenden Mängel diejes ungejunden Zuſtandes überjehen? Iſt es nad ven bie- 
herigen Erfahrungen gerechtfertigt, Die fernere Erziehung diefer großen Maſſe 
der Kirche allein zu überlaffen? Oder hat lettere den Beweis gegeben, daR 
fie die Fürforge*) für diefen Theil der jungen Bevölkerung in der rechten Art 
wahrnimmt? Darf überhaupt die Kirche von Staatswegen zu einer Art von 
polizeiliher Mithilfe zugezogen werden! 

Keine dieſer Fragen wird man bejahen wollen. Obſchon man damit noth⸗ 
wendig zur Annahme meiner Propofitionen gedrängt wird, jo babe ich dod 
noch mannigfadhen Widerſpruch zu erwarten, dem ich von vornherein zu begegnen 
verfuchen will. 


*) Die Geiftlichkeit bat für Die jungen Handwerker in den fogenannten Gefellen- 
und Fünglings- Vereinen unzweifelbaft viel getban, Wir kennen Beifpiele, daß ſich 
namentlich jüngere Geiftliche mit einer böchft achtungswerthen Selbſtoerlaͤnguung und 
mit unberechenbaren Opfern an Zeit, Mühe und Geld die Rortbildung dieſer Jüng— 
linge angelegen fein tiefen. Allein die Lehrlinge find fib völlig allein überfaffen 
geblieben, 


— 


Zunächſt kann es nicht auffallen, in einer Zeit, da Alles zu unbedingtem 
Gehorſam und zur Unterwürfigkeit unter den Staat hindrängt, auch das andere 
Ertrem vertreten zu finden: ven ſchraukenloſeſten Subjectivismus. Er wurzelt 
nod) in den Ideen und Beitrebungen des Anfangs unferes Jahrhunderts. Diejer 
begehrt die Erziehung al® ein unveräußerlihes Recht der Familie. 

Wilhelm von Humboldt conftruirte gegen Ende des vorigen Jahrhunderts 
in feiner Schrift: „Bon den wahren Grenzen der Wirkjamfeit des Staates“ 
eine Politie, in welder die Staatsmacht auf ein Minimum rebucirt it: eim 
treues Abbild von den damald umter den Gebilveten ver Nation berr- 
Ihenden Auffafjungen von dem fogenannten Nothſtaat. Selbjt der beite Staat 
galt im jener Zeit eben nur für ein nothwendiges Uebel. Bon diefem Stand» 
punkte aus erklärte auch Hegel in feiner zweiten Gymnaſialrede die Zucht der 
Sitten als eine nicht öffentliche Sache, jondern als ein Geſchäft und eine Pflicht 
der Eltern. Im der dritten Rede führt verjelbe Philofoph aus, daß die Dis- 
ciplin und moraliſche Wirkſamkeit der Schule fib nicht auf den ganzen Um: 
fang der Eriftenz des Schülers erftrede, der nur mit einem Fuß in derjelben 
ftehe. Dieje felbit ift ihm nichts weniger als Staatsanftalt, ſie ſteht ihm 
zwiichen ber Familie und der wirfliden Welt umd wirft im Yuftrage der 
Familie und auf Grund des ihr von legterer geſchenkten Vertrauens. 

Diefer Standpunkt mochte jo lange feine Berechtigung haben, als die 
Familie ihrer Verpflichtung, auch für das fittlibe Wohl der Kinder zu jorgen, 
ih bewußt blieb. Heute aber, wo die Pflichten nicht mehr von Allen geübt 
werden, fünnen auch die entſprechenden Rechte nicht ungefchmälert belaſſen werben. 
Das höhere Imterefie der Gejammtheit erfordert diefe Einſchränkung auf das 
Entjhiedenfte. Wenn man heute übereinftimmend berechtigte Klagen vernimmt, 
daft die Jugend theils in Genußſucht erſchlaffe, theils — was mehr von dem 
die höheren Schulen nicht bejuchenden Theile gilt, — ſittlich verwildere, jo 
möchte man freilih bei der Gleichgültigkeit, mit der bislang der Staat ſolche 
Schäden hinnahm, meinen, daß derſelbe in der That ein innigeres Intereſſe 
daran nicht zu nehmen brauche. Aber iſt denn der Staat nicht eine ſittliche 
Anſtalt, die ohne die Sittlichkeit ihrer Angehörigen gar nicht beſtehen kann? 
Und mehr noch! Der freieſte Staat braucht ohne Zweifel auch die ſittlichſten 
Perſonen. In der abſoluten Monarchie iſt der Menſch nur Maſchine, nur 
thätig in der Hand eines höheren Willens und bedarf daher nur inſoweit der 
Erziehung, daß er gehorchen lernt. Anders im conſtitutionellen Staat. An 
die Stelle des knechtiſchen Gehorſams muß bier der freie treten und eine edle 
Vereitwilligkeit, dem Staat alle Opfer an Gut und Blut, an Arbeit und 
Mamnesfraft zu bringen. Wie mag man hoffen, bei den jegigen Zuftinden 
der Erziehung ein jo hohes Ziel zu erreihen? Mit Recht madt der Philo- 
joph Ariftoteles in dieſer Beziehung darauf aufmerkjam, daß das väterliche 
Gebot nicht jo zwingend ift wie das Stantögebot, und daß der Staat Alle 
ohne Ausnahme über einen Peiften ſchlagen fkünne.*) Wo das Intereſſe des 





*) Aristot. Nie. Eth. X, 9, 11 und ff. überjegt von Ab. Stabr: „Wenn ber 
Menſch, um gut zu werben, ſinich erzogen und gewöhnt werden, und demnächſt das 
ganze Thun und Treiben feines Lebens eim fittlich gutes fein und er weber mit noch 
obne feinen Willen das Schlechte tbun muß, und wenn alles dies nur geicheben fanı, 
wenn der Menſch nach einem gewijjen Vernunftgeſetz und nach richtigen Inftitutionen 


26 


Staates mitjpricdt, haben wir uns Alle zu fügen. Auf diefem Grundſatz 
beruhen jchon jo viele Gejege, die das Recht des Individuums einſchränken, 
wie das der Schulpflicht und des Impfzwanges, das der allgemeinen Wehr- 
pflidyt, Das des Jeugenzwanges- u. j. w. Um mie viel mehr Recht hat ver 
Staat dazu, die Feltjegung gewiſſer Erziehungsgrundfäge für fih in Anjprud) 
zu nehmen, da ihn hierzu die Pflicht der Selbjterhaltung recht eigentlid, nöthigt ! 
Scheinbar ſchwerer wiegt es, wenn mein Vorſchlag den Borwurf erfährt, Daß 
nad) ihm die Erziehung eimem Inſtitut iiberantwortet wird, das nur auf Dem 
Utilitätsprincip erbaut je. Wo jei die erwärmende, adelnde Idee, in der Die 
Jugend an der Hand eines Staatsbeamten heranwachſe? Auch hier tritt ung 
wieder die Borftellung vom Staate entgegen, die wir oben ſchon zurüdwiejen. 
Wo ift denn eine idealere Grumdlage für die Erziehung der Jugend zu finden 
als in der Platoniſchen dexwocurn, auf welder der Staat beruht? Auch 
in dem chriftlichen Staate weht ein anderer Geift nicht. Oper haben etwa 
jene „chriſtlichen“ Jeſuitenſchulen, in denen das Trachten nad Ehre zum Hebel 
jeder geiftigen Anjpannung und Yeiftung gemacht wurde, in einem chriſtlicheren 
Geiſte die Jugend erzogen? Der chriſtliche Geift ijt ja übrigens, Gott ſei 
Dank! heute nicht mehr blos bier oder da; er iſt jegt ein untrennbarer Be— 
jtandtheil unjerer Cultur, ein Gemeingut des deutſchen Bolfes geworden, jo 
zwar, daß gar viele Männer, die jid) äußerlich gar nicht zur Kirche halten, 
mehr von ihm, wenn aud ganz unbewußt, in fih haben als jo mancher 
zelotijche Bekenntnißchriſt. Darum ift e8 entweder eine Phraſe oder es verjteht 
ji von jelbit, daß die Erziehung unjerer Jugend im chriſtlichen Geifte geſchehen 
muß. In feinem Falle darf die von mir vorgejchlagene Staatserziehung als 
in einem Gegenſatz zur chriſtlichen ſtehend aufgefaßt werben. 

Endlich höre ich meine Gegner einwerfen, daß ich die Bedeutung Der 
Familie in einer Weife verfenne und herabjege, die den Beſtand des Staates 
jelbft in Frage ſtelle. Daſſelbe jagte man Yuther nad, als er jein Send— 
ihreiben an die Städte erließ, daß fie riftlihe Schulen aufrichten jollten. 
„Ein Jeglicher mag jeine Söhne und Töchter wohl jelber lehren und fie ziehen 
mit Zucht.“ Ich antworte mit Luther: „Ja, man jiehet wohl, wie ſich's 
lehret und zeucht!“ Sodann weiß ich jehr wohl, daß die Staaten ſich jtets 
auf die Familie gründeten. Aber ich erfenne in ver Entwidelung der Menjch- 


lebt, welche Kraft haben, ſich Geltung zu verfchaffen: jo hat zunächſt das wäterliche Ge— 
bot nicht die dazu erforderlicde Stärle und zwingende Kraft, ebenjowenig wie überhaupt 
das Gebot eines einzelnen Mannes, wenn berjelbe nicht König oder font eine mit ab- 
foluter Macht bekleidete PBerfon if. Das Geſetz dagegen bat zwingende Kraft, denn es 
ift eine Vorjchrift, die jo zu jagen aus der praftifchen Klugbeit und Vernunft bervor- 
gegangen ift. Dazu fommt no eins: wenn e8 Weenſchen find, die unjeren Neigungen 
entgegentreten, fo haſſen wir fie, auch wenn ihr Widerftand gerecht ift, das Gejeß bin- 
gegen, weil e8 Überhaupt nur die Norm für das Rechte und Gute aufjtellt, erregt im 
uns fein Gefühl des Widerwillens. In dem einzigen lacedämonifchen Staate, wenn 
man ein paar andere ausnimmt, fcheint der Gejeßgeber fih um bie Auferziebung und 
die Unterrichts- und Bildungsgegenftände der Individuen befümmert zu baben, während 
dagegen in den meiften übrigen dieſe Dinge völlig verwahrloft find, und Jeder lebt, 
wie er Yuft bat, auf gut kyklopiſch richtend über Weib und Kinder.“ Die legten Worte 
enthalten eine Anfpielung auf Dom. Odyſſ. 9. 114. Dieje Worte paffen genau auf 
unfere Berbältniffe. Die Notbwendigkeit aejetslicher Verordnungen gegenitber der elter- 
lichen Nacficht, welchen ſich Alle in gleicher Weiſe zu unterwerfen haben, läßt ſich nicht 
ſchärfer darthun. 


27 


beit die Intention, da8 Inor rrodırızor mehr und mehr darzuftellen. Und 
wenn bisher die Gulturftaaten aerade in dem Zeitpunkt zufanmenfielen, wo fie 
die Familie abjorbirt hatten, jo ahne ich hier dennod den Anfat zur Erflim- 
mung einer höheren Stufe der Bervollfommmung, die allerdings nicht aleich bei 
dem eriten Verſuch gelingt, wohl aber dann gelingen könnte, wenn die nöthigen 
Zwiſchenglieder und helfenden Momente dur den Gang der Entwidelung vorber 
geſchaffen ſind. Diefe mit bewußter Ueberlegung allmählich zu Schaffen, betrachte 
ih als die Aufaabe unferer Zeit. Hier mögen wir von dem praftifchen und 
faatsflugen Volke der Römer lernen, die zwar nie von der Vorzeit über— 
fommene Inftitntionen durch Geſetze aufhoben, aber doch rechtzeitig fiir deren 
Erjag durch zeitgemäßere Bedacht nahmen, wenn erftere jich überlebt zu haben 
ſchienen. 


6. 
Die Organe des Staates bei dem Werk der Erziehung. 


Es entſteht nun die Frage, durch welche Organe der Staat die Erziehung 
zu leiten habe. Als ſolches gilt mir in erſter Linie die Familie. Erſt in 
dieſem Sinne gefaßt, erhält ſie heute ihre rechte Bedeutung. Da die Eltern— 
und die Kindesliebe die erſte Baſis für die Sittlichkeit iſt, ſo wird ſich in ihrem 
Schooße auch die Erziehung in dem erſten Stadium am alüdlichiten vollziehen. 
Bis zum fiebenten Jahre mögen die Kinder beiderlei Geſchlechts aanz dem 
elterlihen Haufe überlaffen bleiben. Hier follen fie ſich zunächſt körperlich ent: 
wideln und aud die erften geiftigen Einvrüde von der Mutter empfangen. 
Die Eigenart ver Eltern mag Gelegenheit haben, ſich bei den Kindern Geltung 
zu verjchaffen, damit der Charakter der Staatsbürger vor Einförmigfeit be— 
wahrt bleibe. 

Wo die Erziehung von Eltern unverftändig betrieben oder ganz vernad)- 
füfiat wird, bat der Waiſenrath unter dem Vorſitz des Gemeindehauptes und 
unter Zuziehung des Geiftlihen des bezüglichen Bekenntniſſes über die einzu: 
Ihlagenden Schritte zu berathen umd zu beichließen. Wenn Nat) und Zuſpruch 
fruchtlos bleiben, jo iſt es dem pflichtmäßigen Ermefjen des genannten Colle- 
giums anhbeimgeftellt, das Kind anderweitig geeignet unterzubringen. Im den 
aröperen Städten wird durch Einrichtung von Kindergärten denjenigen Eltern, 
welche durch die Art ihrer Beihäftigung außer dem Haufe von ver Benuf- 
ſichtiging der Kinder abgezogen werden, Gelegenheit zu bieten jein, dieſelben 
für die Zeit ihrer Abweſenheit von Haufe fremder Obhut anzuvertrauen. 

Erft mit fieben Jahren tritt das Kind in die Volksſchule ein. Wenn 
Solon, Plato und Ariftoteles dies Pebensjahr für den Beginn des Unterrichtes 
anjesten, jo haben wir, die wir nördlicher wohnen, e& wohl zu überlegen, ob 
das fünf» und jehsjährige Kind, das bei uns gefeglich ſchon zum Schulbeſuch 
verpflichtet ift, nicht befier nody von den Anftrengungen des Denkens verjchont 
bleibt.*) Bon dem Eintritt in die Schule ab joll das Kind feineswegs dem 


*) Menn Friedrich ber Große und ſchon deſſen Vater die Kinder wenn nicht 
jrüber, fo doch wenigſtens mit dem 5. Febensjahre für die Schulen in Anſpruch nebmen, 
fo möchte ich bierim den Berfuch ſehen, ſchon in möglichft frühem Alter dem Lehrer 


28 


elterliben Einfluß entzogen werten, wohl aber in ver Echulanftalt eine ftaat- 
fihe Einrichtung rejpectiren lernen. Die Verantwortung für die Erziehung 
des Kindes dem Staate gegenüber rubt auf dem Yehrer, der Fraft jeines Amtes 
üiberall einzuwirfen bat, wo er das Geelenheil feines Zöglinges gefährdet ſieht. 
Dabei verſteht es ſich aber von ſelbſt, daß Seitens der Schule eine tactvolle 
Berückſichtigung der häuslichen Verhältniſſe ſtattfinden und eine ängſtliche Scho— 
nung der Pietät genen die Eltern geübt werden muß. Je älter das Kind 
wird, defto mehr rüdt der Schwerpunkt der Erziehung in die Schule. Diele 
aber darf nicht durd den Lehrer allein vertreten fein. Den Unterricht zwar 
leitet er allein, die Disciplin aber, foweit fie nicht unmittelbar mit dem Unter- 
richt verwachſen tt, gehört einem Collegium, das unter dem Vorſitz des Rectors 
oder Directors aus den Yehrern der betreffenden Anftalt und aus gewählten 
Bertretern der Gemeinde befteht. Im Cinflang mit den ſtaatlich gegebenen 
Sculgefegen und den erläuternden Anordnungen der berufenen Behörden bat 
dieſes nicht nur die jpeciellen Schulordnungen feitzujegen, ſondern auch über 
die Beachtung verjelben von Ceiten ver Familien, der Lehrer und der Schul: 
jugend zu wachen und überhaupt die Schulzudt zu üben. Die Cenſuren und 
BVerfetungen, die Beftimmung und Abmeffung der Strafen für gröbere Vers 
gehungen, die Anoronungen bezüglich der Schulfefte u. a. gehören vor fein Forum. 
Mit feiner Genehmigung erfolgt mit 14 Jahren der Austritt des Kindes aus 
der Volksſchule. Dieſe Genehmigung iſt zu verfagen, wenn die intellectuelle 
und fittlibe Neife bezweifelt werden muß. Der aus der Schule entlaflene 
Knabe bleibt, ebenjo wie das in dem gleichen alle befindliche Mädchen, zum 
regelmäßigen Beſuch der überall, namentlih auch auf dem platten Lande ein— 
zuführenden Fortbildungsſchulen verpflichtet und beide treten unter den erzieh- 
lihen Einfluß ımd die Disciplin des Collegiums der Fortbildungsſchule, in 
welhem dem Paienelement eine entipredhend ftärfere Vertretung wegen der hinein- 
ſpielenden Intereſſen der gewerblichen Stände einzuräumen iſt. Cine Stunde, 
für die von diefer Behörde die Zeit feftzujeten ift, muß täglich mit Ausnahme 
des Sonntags diefem Unterricht gewidmet werben. Derſelbe hat vie Kenntniß 
ber Organtjation des, Staates, der Rechte und Pflichten der Staatsbürger und 
der wichtigeren Gefege zu vermitteln*), die der vaterländiichen Geſchichte zu ver- 
tiefen, auferdem in den Städten den Bedürfniſſen der Gewerbe zu dienen, auf 
dem Pande aber die Disciplinen der Ackerbauſchulen joweit als möglich auf- 


einen Einfluß auf die Erziehung des Kindes zu fihern. Denn daß em Kind in jo 
zarter Jugend dem Unterricht mit Erfolg und, wenn dies, obne Schaden an feiner 
ie und körperlichen Sefundbeit folgen könne, bezweifle ich nad meinen Erfabrungen. 
a, ih bin ſehr geneigt, die Eriheinung, daß es unferer Zeit an berworragenden 
geiftigen Capacitäten fo ſehr fehlt, auf Rechnung des zu früben Schuibefuches zu feten. 
Was Ariftoteles von den Gefahren zu frübzeitiger Anftrengung Des lindlichen Körpers 
durch die gymnaſtiſchen Uebungen ſagt, (P ol, VII, 4 & yag rois Okvu movixaus 
dio rs arn rotis EvgoL tous aurovg vevinnxoras ‚ürdgas re zei neides, die ro veous 
KoxoUrrus dparpeige ryv divauır Uno Twr avayxalor yuurasior.) findet ganz 
entiprechende Anwendung auf zu früb dem Findlichen Geift zugemutbete Anſpannung. 
*) Als ein ganz vorzügliches Lehrbuch für diefen Theil des Unterrichts wäre zu 
enpfeblen: Deimling, Die Segnungen der menſchlichen Gejellichaft. Populäre Be- 
trachtungen aus bem Gebiete des fittlihen Pebens. Ein Büchlein für das Volk und 
die Jugend. Strafbura, W. Schauenbura, 1873. Dies belebrende und noch mehr an- 
vegende Bud follte auch in feiner Schüler -Yejebibliothet fehlen, 


29 


zunehmen. Der Clementarlehrer wird auf dem Seminar diejenige Vorbildung 
erhalten müffen, die ihn für die Ertheilung dieſes Fortbildungsunterridts be- 
fähigt.”) Am Sonntag Nachmittag verfammelt fi) die geſammte männliche 
Jugend in Stadt und Yand auf dem Turnplatze, um fi mit Spielen zu 
beluftigen. Daß diefer bald der Sammelplag auch der Eltern werden und 
auf diefe Weife eine wilrdigere Begehung der Sonn- und Felttage im Bolt 
ih anbahnen wird, ift zu hoffen. Für die Mädchen wird ein Induftrieunter: 
richt eingerichtet, der diejelben befähigt, die in der Familie vorfommenden weib- 
liben Handarbeiten ohne fremde Unterftügung zu fertigen. 

Den Schlufitein ver Erziehung der männlichen Jugend bildet Dann ähnlich wie 
einft in Athen die militäriiche Ausbildung zur Vertheidigung des Thrones und 
Vaterlandes. Erſt mit der Entlaffung von der Fahne, alfo in der Regel mit 
23 Jahren, gewinnt der junge Mann das Recht der freien Selbitbeitimmung, 
das Recht, einen eigenen Hausſtand zu begründen, überhaupt die Rechte eines 
Staatsbürgers.**) 


‚7 


Von den Mitteln der Erziehung, befonders in den höheren 
Lehranftalten. 


Nachdem wir im großen Zügen die Inftitution der Volkserziehung ent: 
worfen haben, wenden wir uns fpecieller zur Beſprechung der Erziehung, 
welche die höheren Yehranftalten geben ſollen. Es fpringt jofort in die 
Augen, daß den Gymnaſien, infofern fie für die Univerfititen ‚vorbereiten, 
die Aufgabe zufällt, die künftigen Führer des Volkes zu bilden. Daran 
folgt, daR es nicht darauf ankommen kann, die das Gymnaſium befuchende 
Jugend nach der Schablone nur zum Gehorfam zu erziehen. Schen Ariftoteles, 
der doch die Staatserziehung eingeführt wiffen wollte, verkennt nicht, daß die 
Familienerziehung in einem Punkte einen Vorzug enthalte, nämlich infofern 
fie imdividneller jei, denn jene. Der Pehrer hat alfo, um dieſen Nachtheil 
Möglichft gering zu machen, ſtets zu bevenfen, daß der Menſch zu einer Berfon 
gebildet werden fol. Die Intentionen der einzelnen Naturen müſſen infoweit 
berüdjichtigt werden, als ihre Anlage nicht fehlerhaft it. Demnad wird man 
ih zwar beifpielsweife auf das Aengftlichite zu bitten haben, einem ſich ſchon 
früh entwidelnden Ehrgeiz Nahrung zu geben, amdererfeit aber wird man 
Anftand nehmen, einen träumerifchen Knaben zu einen willensfräftigen machen 





*) Das verlangt auch Felix, Die Arbeiter und die Gefellichaft, Leipzig 1874, S. 206. 
Vergleihe auch Dr. Jürgen Borna Mever, Die Fortbildungsichule im unferer Zeit, 
Berlin 1873. Muſtergültig ift das Geſetz über den Fortbildungsunterricht im Herzog 
tbum Gotba vom 3. Juni 1872. Vergleiche endlich auch Dr. Viet. Böhmert, Arbeiter- 
verhältniffe und Fabrifeinrichtungen der Schweiz. Bo. I. Zürich 1873, 

*) Friedrich ber Große betont in jeiner Schrift de l’&ducation (Veyv. t. XXIII), 
daß es ſehr Schädlich wirfe, den jungen Mann zu zeitig zu emancipiven, Er will daber 
den Sobn bis zum 26, Jahre in der väterliben Vormundſchaft belaffen wiſſen. Unſere 
Zeit bat, wir meinen nicht mit Recht, die Entlaffung der Mündel aus der Vormund- 
Ihaft auf ein weit früberes Lebensjahr zurüdgelegt. 


30 


— 





zu wollen, vielmehr ſich bemühen, jene Träumereien in die rechte Bahn behufs 
Erhebung zu intellectueller Klarheit zu lenken. Ne quid invita Ninerva! 
Damit. wollen wir aber keineswegs einem Glauben an blinden Fatalismus 
das Wort reden. Wo in der Pädagogik diefer berriht, da ift die Wirkung 
des Erziehers bedeutungslos und nur, wie ſich der hochverdiente Trendelenburg 
in feinen Borlefingen über Päragogif und Didactik jo treffend äußerte, der 
Reſultante in dem Barallelogramm der Kräfte zu vergleihen. Alſo unter 
möglichfter Berückſichtigung der individuellen Anlagen lenke man den Knaben 
und Jüngling zur willigen Fügſamkeit in den vernünftigen Willen des Andern ; 
zeitig lerne er feinen Eonderwillen unter den des Allgemeinen, des Geſetzes 
beugen. Der rechte Weg zur Erlernung der Kunft des Befehlens, die ja 


gerade die Gymnaſialjugend ſich aneignen foll, fiihrt — das wußte ſchon 
das Altertbum — nur durd die Aneignung der Kunſt des Gehorchens. 


Den jungen Mann zu befähigen, fi) als dienendes Glied dem großen Ganzen, 
dem er durch Geburt angehört, anzuſchließen, das ſei Ziel der Erziehung. 
Aber wenn auch der Eigenmwille itberall zu unterdrücken ift, jo tod gewiß 
nicht der eigene Wille. Müſſen wir doch gerade Charaftere zu bilden fuchen, 
zumal in biefer Zeit, die au ſolchen, wie Die landläufige Klage beißt, in dem— 
jelben Grade vor andern Zeiten bittern Mangel leidet, wie fie dieſelben 
gerade vor andern Zeiten braucht. 

Unter den Mitteln mm, die Aufgabe der Erziehung zu Löfen, unter: 
ſcheiden wir directe und indirecte. Unter den erfteren fteht obenan der Unter: 
riht. Diefer muß jo gewiß feine etbifche Seite haben, wie die Erziehung 
unterrichtend fein muß. Abgeſehen auch von der Förderung der Intelligenz 
und der Gewöhnung an ein confequentes Denken, welche beide den Willen 
nothwendig beeinfluffen, bat aud die Disciplin und tie Methode des Uuter- 
richte für den Schüler ungefähr diefelbe Bereutung wie der ſogenannte Drill 
des Exercirplatzes fiir die militärifche Ausbildung. Der Zwang zur Auf: 
merkſamkeit und gneiftigen Thätigkeit verleiht in dem Make fittliche Kraft, als 
er nicht mehr blos äußerlich geübt wird. Und nicht die Put am Pernen, 
Willen und Können als an folhen darf allein gepfleat werden, viel mehr 
noch die Freudigkeit des Bewußtſeins erfüllter Pflicht. Namentlih von dieſer 
Seite gewinnt in meinen Augen das fogenannte Exrtemporale eine pädagogiſche 
Bedeutung. Bei deſſen Anfertigung arbeitet der Jüngling mit volliter An- 
ſpannung aller feiner geiftigen Kräfte und hat nicht nur darzuthun, daß er 
fih einen beitimmten Chat von Kenntniffen erworben hat, fondern vor Allem 
daß er jein Pfund, eben dies fein Wilfen, mit Beſonnenheit und Geiſtes— 
gegenwart anzuwenden und jo feine Schuldigfeit zu thun vermag. Er mu 
das Gefühl haben, mur dann ein nüßliches Glied des Schulkörpers zu fein, 
wenn er von feinem Willen an der rechten Stelle auch Gebraudy zu machen 
verfteht. Daher gilt ed mir auch als eine umabmweisliche Pflicht jedes Lehrers, 
eben damit er dieſe Gelegenheit, erziehlich auf den Schiller einzuwirfen, nicht 
verliere, daß er jeine Ertemporalien ſelbſt zufammenftelle, jo zwar, daß er 
im höchſten Mafe die Concentration des geſammten geiftigen Vermögens ge- 
legentlich diefer Uebung bei feinen Zöglingen herbeiführe.*) Gedantenlofigfeit, 


*) Diefe Rorderung ift von jeher von ben Gymnafialpädagogifern anfgeftellt 
worden, jo 3. B. von Nägelsbach. Vergl. Autenrietb, Carl Friedrih von Nägelsbach's 


31 


diefer Mehlthau auf dem friichen Geifte des Jünglings, wird durd Nichts To 
gepflegt, wie durd) Uebungsſtücke, in denen entweder Feine rechte Beziehung zu 
dem zeitigen Claſſenpenſum Statt bat, oder überhaupt zu wenig Kraft umd 
Aufmerkjamkeit in Anfprud genommen wird. Je älter der Knabe wird, deſto 
böbere Anforderungen darf und muß das Ertemporale an ſein Leiſtungs— 
vermögen jtellen. . 

Demnächſt übt der Stoff des Unterrichts durch das Medium des Er- 
kenntniß⸗ und Gefühlsvermögens ımzweifelhaft Einfluß auf das Willens- 
vermögen. In dieſer Beziehung ift jeit Anfang diefes Jahrhunderts, bejonders 
aber im den legten Jahren, immer dringender eine Reorganiſation des höheren 
Shulwejens in Deutihland von Männern begehrt worden, deren Patriotismus 
ihren Borjchlägen ein befonderes Gewicht verleihen dürfte. Und es iſt wahr: 
baben Mir unjere Kinder wirklich zur Bollfommenheit des deutſchen Weſens 
zu erziehen, jo wird fid) Das Gymnaſium einer Berückſichtigung dieſes Zieles 
auch im ver Wahl ver Unterrichtsfäcder und demgemäß einer theilweifen 
Aenderung feiner Anforderungen in wiſſenſchaftlicher Hinſicht nicht wohl ent- 
sieben fönnen. Denn die gelehrte Schule gönnt bis jegt dem deutjchen Geiſte 
immer noch wenig Spielraum. Die alten Trapitionen, welche ja freilid aus 
einer großen Zeit ftammen, erweilen ſich mächtiger als ter heut ſich erhebende 
Kuf nach nationaler Erziehung. Hat man vordem mit Unrecht dem Gymnaſium 
den jchweren Borwurf gemadt, daß es durch feine eimfeitige und jtarre Be— 
tonung des antiken Claſſicismus jene unfelige Zerriffenheit der deutſchen Nation 
in Gelehrte und Ungelehrte verſchuldet habe, — ich jage mit Unrecht, denn 
an welche andere Quelle hätte e8 wohl die wiſſensdurſtige Jugend führen 
jollen? — jo wird man dod heut zu Tage über den Clafjifern des Alter- 
thums die nationalen nicht vernachläjligen dürfen. Ja mehr noh! Wenn 
der Senat der Berliner Univerfität in jeinem befannten Gutachten über Die 
Möglichkeit ver Zulaffung ter Realichul- Abiturienten zu ven Univerfitäte- 
Studien dem Knaben eine ideale Richtung eingeflöht wiſſen will, damit er 
niht jpäter „im materiellen Treiben“ umtergehe, jo müfjen wir winfcen, daß 
diefe Ideale in erjter Yinie aus dem deutjchen Geifte geichöpft werden. Das 
Ztudium der deutſchen Geſchichte, Sprade und Pitteratur muß in weiteren 
Grenzen betrieben, ver deutſche Aufjag der Gradmeſſer der Reife des Abiturienten, 
der lateiniſche Aufjaß gänzlich abgejchafft werden. Die Sprade ift der Menſch, 
und unzweifelhaft jaugt der Knabe und der Jüngling durch ven jelbitändigen 
Gebrauch der lateinifchen Spradye in den Aufjägen etwas von jenem römiſchen 
Seift im fi auf, der dem deutſchen Feineswegs homogen ift. „Zwei Dichter 
haben mein Baterland im Liede einfach und groß charafterifirt: der eine be- 
jang es als das Vaterland der Treue, der andere ald das Yand voll Pieb’ 
und Yeben. Bat jemals ein Volk, ſeitdem die Menſchheit nach Vervollkommnung 
ringt, durch edlere Erjceinungen herworgeleuchtet? Liebe, Treue, Yeben — 
das jind die drei wunderfräftigen, gewaltigen, unzerjtörbaren Wurzeln des 
urdeutihen Niejenbaumes.“*) Diefer Geift der Yiebe und Treue weht in 


— 





Gymnafialpädagogik, Erlangen 1862, S. 110 und ff. Aber die Bedeutung des Er- 
temporale bat am treffendften der verftorbene Director von Ilefeld, Sceibel, im den 
Verhandlungen der Schlefiichen Divectoren - Conferenz won 1867 charalteriſirt. 
*), Kaffner, Die deutſche Nationaferziebung. Berlin 1873, ©, 171. 
Radite, Welder Antheil xc. 3 


der lateiniſchen Sprache und Pitteratur nit. So mag denn das Herz des 
deutichen Jünglings feine ven Willen beeinfluffende Begeifterung and ber 
Pitteratur und Geſchichte ſeines eigenen Volkes fchöpfen. Gewiſſermaßen ein 
Complement dazu bilde das Studium der Alten, durd welches eine für die 
Ausbildung eines vernünftigen Willens heilfame Klarheit der Gedanken und 
befonnene Intelligenz gewonnen wird. Denn an eine Cinjchränfung ober 
gar Abſchaffung der altelaſſiſchen Studien kann fein Berftändiger denfen. St 
doch der aeiftige Gehalt der beiden Culturvölker des Alterthums zu emem 
Beitandtheil des modernen Germanenthums geworden. 
„Das Leben aller Weltgeichlechter ſchloſſen 

In unfres wir; wir haben fübngemutb 

Den fremden Geift in deutih Gefäß gegoffen, 

Die fremde Form durchſtrömt mit deutihem Blut, 

Da ward, im Ringen tiefer nur genofien, 

Zum Eigentbum uns das entlebnte Gut, 


Und feine Blume, die mit frobem Ganze 
Der Menichbeit aufging, feblt in unſrem Kranze.“*) 


Wollten wir die alten Spraden aus den Gymnaſien weifen, fo würden 
wir bald uns jelbft verlieren, jo untrennbar ift ihre Kenntniß mit dem 
deutſchen Weſen verknüpft. VBergeblih hätten dann die großen Philologen 
unjeres Volkes, Fr. A. Wolf und das Diosfurenpaar, Böckh und G. Her- 
manı, die Kenntniß des Altertbums ung erſchloſſen, vergeblihd Schiller und 
Goethe uns eine clafjijche Litteratur gejchaffen. 

Im dritter Linie wirft auf den Menſchen auch em fubitantielles Element, 
wie es Hegel nennt, erziehlich ein. Es ift dies in der Ordnung begründet, 
in der er lebt und nad der er feine geiftige Organifation bequemt umb richtet, 
inwiefern die Grundſätze mehr als Sitte an ihn fommen und allmählich eigene 
Sewohnheiten werden. In diefer Hinfiht iſt nun die Schule ein ſittlicher 
Zuftand. „Sie iſt eine Sphäre, die ihren eigenen Stoff und Gegenſtand, 
ihr eigenes Geſetz und Recht, ihre Strafen und Belohnungen hat, und zwar 
eine Sphäre, die eine wefentlihe Stufe in der Ausbildung des ganzen fitt- 
lihen Charakters ausmacht. Die Schule fteht nämlich zwifchen der Familie 
und der wirklichen Welt und macht das verbindende Mittelglied von jener in 
dDiefe aus. Das Leben in der Familie ift ein perfünlices Verhältniß, ein 
Verhältniß der Empfindung, der Yiebe, des natürlihen Glaubens und Zu: 
trauens, es ift nicht das Band einer Sade, jondern das- natürliche Band des 
Blutes, Das Kind gilt hier darum, weil es das Kind ift; es erfährt obne 
Berdienft die Liebe feiner Eltern, ſowie e8 ihren Zorn, ohne ein Recht da— 
gegen zu haben, zu ertragen hat. In der Welt dagegen gilt der Menſch nur 
das, was er leitet, er hat den Werth nur, infofern er ihn verdient. Die 
Schule nun führt den Menjhen aus dem Naturverhältniß der Empfindung 
und Neigung in das Element der Sache. In der Familie herricht perfünlicher 
Gehorſam und Yiebe, in der Schule Pflicht und Geſetz. Der formellen Orb: 
nung halber hat das Kind dies zu thun, das Andre zu laffen, was jonft 
wohl dem Einzelnen geftattet werben könnte. Nach Andern ſich richten, Zus 


*) Seibel, Deutſch und Fremd, in „Gedichte und Gedenkblätter, 5. Auflage. 
Stuttgart 1868. 


33 
trauen zu fich gewinnen, kurz die focialen Tugenden erwacjen in ihren 
Räumen.“ *) 

Schon der Geift der Schule muß den Zögling in den Schranfen ber 
Beſcheidenheit und Sittfamkeit, ver Ordnung und Pflichttreue, des Gehorſams 
und der Fügſamkeit erhalten. Plato jagt jehr richtig, daß für alle Erziehung 
gewiffermaßen vie Grundpfeiler die Beſcheidenheit und der Gehorſam jeien. 
In diefer Beziehung wird darauf Die Schule ihr, Augenmerk zu richten haben, 
die Unerwachſenen prinzipiell von der Theilnahme an denjenigen Genüſſen und 
Vergnügungen Erwachſener fern zu halten, die an ſich unbedenklich auch der 
Jugend zu gejtatten wären, die aber, weil im Berein mit Erwachſenen ge- 
währt, ihr das unberechtigte Gefühl, dieſen aleichzuftehen, mitzutheilen geeignet 
find. Im Kreiſe der Familie find derartige Beluftigungen unverwehrt, un— 
tatthaft aber, jobald ſich mehrere Familien zu einer gewifjermaßen öffentlichen 
Feier zujammen vereinigen, wie dies beijpieldweife bei den Tanzluftbarkeiten 
geihieht. Die Zuziehung von Schülern, und gehörten fie auch der oberjten 
Claffe an, zu Reſſourcen-Ergötzlichkeiten halte ich nad den Erfahrungen, die 
ih darüber gemacht, für durchaus ſchädlich. Wie will man bei derartigen 
verfrühten Mafregeln nod hoffen, die Jugend vor der Blafirtheit zu be- 
wahren, welche heute allerdings in Folge der durch die übel augebradte, un— 
verantwortliche und geradezu grenzenloje Nacgiebigfeit gewiſſer Eltern um 
jogar einzelner Lehrer verſchuldeten Anticipation der VBergnügungen Erwadhjener 
in erjchredendem Maße eingerifjen ift und nicht nur die Unbefangenheit des 
findlihen Herzens, den koſtbarſten chat des Knaben, jondern aud die Fähig— 
fit der VBegeifterung, der Weihe des Jünglings, zu rauben droht? Mit 
Recht hielten die Römer die sera juvenum aetas für das eigentliche Ziel 
der Erziehung. Aber auch die alte gute Sitte in der deutſchen Familie ſchloß 
ten Sohn, jo lange er Schüler war, von Bällen und Schmaufereien, ja jogar 
vom häuslichen Tiſch aus, ſobald Gäſte geladen waren. Was thut die moderne 
Sitte dagegen? Als ob die Söhne und Töchter noch nicht genug Unterhaltung 
hätten, wenn fie an den Bergnügungen der Erwachſenen ſich betheiligen, 
arrangiren bier und da Familien „von gutem Ton“ noch bejondere Kinder— 
bälle.. So werden Zierpuppen erzogen, jo wird die natürliche Unbefangenheit 
und Wahrheit zeitig in den jugendlichen Herzen ertödtet, und an deren Stelle 
der Schein und die Phraje groß gezogen. Man bevenfe doch ja, daß „Dies 
die Jahre find, in denen, wie Schiller jagt, der Knabe ſich ftolz vom Mädchen 
reißt, d. h. mad der Ordnung der Natur die Geſchlechter Nichts von ein- 
ander wiljen wollen“. „Dieſe Ordnung der Natur zu vejpectiren, wäre 
were, jehr weiſe.“ ) Mer halb Knabe, halb Yüngling bereits feine Kinder— 





*) Worte Hegel’s, feiner dritten Gymnaſialrede entnommen. 

**) Briefe über Berliner Erziebung. Berlin 1872, S. 72. Ueber die Kormali- 
täten bei der Einladung zu diefen Feſten beißt es S. 73: „Man erwartet eine offi- 
zielle Einladung von Seiten der Eltern, und zwar, wo ein foicher vorhanden ift, durch 
den galonirten Bedienten mit weißer Halsbinde, da eine Botſchaft durch das Dienit- 
mädchen in ſolchem falle ſchon als ein arger Formfebler von den Eltern und natür- 
Ih aud von ben Kindern — übel genommen würde; damit nicht genug: iſt Die Im 
Ausfiht fiebende Gejellihaft von der entiprechenden Größe, fo ift auch jene Form nicht 
mebr brauchbar, man ſchickt durch den Bedienten die litbograpbirte Einladungsfarte!“ 
— „Iſt die Einladung erfolgt, jo werden Die Vorbereitungen mit der entiprechenden 
Wichtigleit und Gründlichkeit betrieben, denn in einem fo glänzenden Haufe können bie 


3* 


bälle mitgemaht hat, ber tit für den Zauber der deutſchen Minne verloren. 
Ihr Eltern, bevenft es wohl, daß ihr eure Kinder für das höchſte Glüd 
unempfänglid) macht, welches das Herz eines deutſchen Jünglings oder einer 
deutichen Jungfrau erheben kann! Daß ihr die jchöniten Jahre aus ihrem 
Yeben jtreiht, im denen das ftille Sehnen der Yiebe zum Yied begeijtert und 
erröthend den Spuren der Geliebten zu folgen zwingt! Auch um ven Genuf 
der herrlichſten Yitteraturichäte und um die durch deren Yectüre vermittelte 
jugendliche Begeilterung bringt ihr eure Yieben! Oder jollte Siegfrieds und 
Chrimbildens Yiebe und Kudruns Treue verfteben, der ſchon im Knabenröch— 
hen jeine Pflichttänze zu machen gewiejen wurde ? 

Noch unzmweifelhafter ift es mir, daß der Beſuch der Schanflofale, auch 
in Begleitung Erwachſener, jchlechterdings zu verbieten ift. Nur wo die Noth 
zwingt, aljo 5. B auf Reifen, mag man Ausnahmen ſtatuiren. Wenn nämlich 
Plato es dem Erzieher einschärft, namentlih zu verhüten, daß ein Mal ein 
Jüngling einen Alten etwas thun jehe oder reven höre, was mit der Sittlich— 
lichfeitt und Schamhaftigkeit collivirt, jo wird dieſe Vorſchrift gerade ein unbe: 
Dingtes Verbot des Bejuches der Neftaurationen nothwendig machen. Denn 
daß am Biertifch die reverentia pueris debita beachtet werden würde, wird 
Niemand zu behaupten wagen. In Gegenwart feines Sohnes, jo wird berichtet, 
ſprach der ältere Cato mit ſolcher Vorſicht, als ob Beitalinnen zugegen wären. 
Und Ariftoteles warnt eindringlich davor, die Kinder zu lange den Sklaven 
zu überlaſſen, deren Einfluß leicht ein eniſcheivender werden könnte. In unſerem 
Volksbewußtſein lebte einſt ein ähnliches Zartgefühl, das den Verkehr der 
Kinder mit den Dienftboten mit Argwohn beobachtete. Heute überläßt die 
Mutter ihren theuerſten Schatz gern dieſen Händen, um inzwiſchen ihrem Ver— 
gnügen nachzugehen oder ſogenannten geſellſchaftlichen Verpflichtungen zu genügen. 
Doch wir ſprachen von demBeſuch der Reſtaurationslokale! Alle übrigen Gründe, 
die man für das Verbot deſſelben anführt, nämlich daß die Jugend vor Zer— 
ſtreuungen bewahrt werden müſſe, ferner, daß fie nicht das Recht auf einen 
durd Geld zu beichaffenden Genuß habe, da fie joldes nod nicht verdiene, 
gelten nur erjt im zweiter Reihe. Kür mic iſt entſcheidend, daß die Be— 
ſcheidenheit und Schamhaftigkeit der Jugend in den Gaſthäuſern yes 
ausgelegt iſt. 


Kinder aus einen fo glänzenden Hauſe doch nicht anders als glänzend erſcheinen. Iſt 
der Tag des Feſtes da, ſo beginnen einige Stunden vor der „befohlenen“ Zeit Die 
Toiletten: der Friſeur Tommt und fräufelt den Mädchen Die Loden um ben platten 
Schädel, brennt den Anaben das Saar und zieht den Attapöjcheitel über den jüb 
abſtürzenden Hinterkopf. Daß die Mädchen nicht obne Blumen im Haar erſcheinen 
dürfen, namentlich wenn ein Tanz in Ausſicht ſteht oder geradezu zum ® Ball geladen iſt, 
verftebt ſich von ſelbſt.“ — „Natürlich erſcheinen die Knaben ganz in Schwarz, die 
Weſte tief ausgeſchnitten, das Jabot friſch getollt und mit den goldenen Knöpfchen ge 
ziert (das faire jabot, ich verſpreche es Ahnen, wird nicht ausbleiben), darunter Das 
glatt geipannte Hoſenbein und der zierliche Fadftiefet. “ — „Halten Sie e8 für möglich, 
pſychologiſch möglich, daß die Kinder, welde jo zufammenfonmen, nun barmlos mit 
einander wie Kinder jpielen? ft 08 micht nothwendig, daß die Gedanken in der Rid- 
tung, in welder man fie zwei Stunden zu Hauſe beſchäftigt bat, forttreiben und io, 
zumal im Anfang, das Hauptaeichäft ſein wird, fich gegenſeitig zu muftern u. ſ. m.“ 
Wabrlich, wer ein Herz für Die Jugend und für das Vaterland bat, wird nothwendig 
darauf aeflibrt werden, daß bier ein vernünftigerer Wille die vom Pfade der Natur 
abirrende Sitte gewaltiam zurechtweiſen müſſe. 


35 

Mit ficherem Tacte verboten die Griechen den jungen Leuten and Das 
mäßige Verweilen auf dem Markte. Die fittlihen Zuftände der heutigen 
Zeit machen es durdaus nöthig, wenigitens für die Abendſtunden das gleiche 
Verbot zu erlaffen. Was den Bejud des Theaters anlangt, jo empfiehlt es 
jih, der Jugend mur zu den großen Theatern den Zutritt zu geſtatten. Bor 
wenigen Jahren hat der Kronprinz des deutjchen Reiches ein jehr beberzigens: 
werthes Urtheil über die Berliner Lokalbühne geſprochen. Auch die Poſſen, 
die in den kleinen und mittleren Provinzialſtädten aufgeführt zu werden pflegen, 
jündigen derartig genen Moral und Geſchmack, daß fie eigentlich polizeilic) 
verboten werden müßten. Wenn Bäter und Mütter diefelben in Begleitung 
ihrer Söhne und Töchter anjtandslos bejuchen und bis zum Schluß ohne 
Erröthen ansharren können, fo ift damit ein neuer Beweis erbracht, daß der 
Staat ohne Schaden für das Volksthum die Jugenderziehung nicht länger den 
Eltern allein überlaflen darf. *) 

Die Benugung der Yeihbibliothefen jeitens der Zönlinge ift mit Rückſicht 
auf die lascive Romanlitteratur, die in denjelben hauptjächlich vertreten zu fein 
pfleat, gänzlich zu unterjagen. 

Der Beſcheidenheit und Züchtiafeit wideripricht auch jedes renommiſtiſche 
Auftreten in der Deffentlichkeit. Bier wird jedoch der perfönlihe Einfluß 
des Pehrers ohne directes Verbot wohl am weiteſten wirfiam fein. Schüler: 
verbindungen, die ihren Grund nicht in wiflenichaftlihen Studien finden, find 
ftreng zu unterbrüden. Dagegen ift ein vernünftiger Gorpsgeift innerhalb 
ver Clafienverkände ſorgſam zu pflegen. Eine publicijtiiche Thätigkeit darf 
dem Schitler jelbit dann nicht weftattet werden, wenn ſich Yehrer finden follten, 
welche die Redaction und Verantwortung für Schitlerzeitichriften zu Übernehmen 
Willens wären. Ein derartiges Öeraustreten in die Deffentlichfeit widerſpricht 
allen gefunden pädagogiſchen Grundſätzen. 

Endlich fann es ſich noch fragen, ob die Einführung einer Tagesordnung 
für die ganze Schule oder für die Schiller einzelner Glaffen wünſchenswerth 
eriheine. Dies verneine ich, ſelbſt für die unteren Claſſen, und zwar eritens, 
weil die Schule nicht ohne zwingende Noth das häusliche Yeben zum Gegen: 
ſtand reglementariſcher Beſtimmungen machen joll, ſodann weil wir — und 
das ift die Hauptſache — einen freien Gehorfam und eine Erziehung zu 
jelbftändiger Arbeit anzuftreben haben. Cine derartige Anordnung dürfte nur 
ausnahmsweise in ven‘ unteren Glaffen auf Zeit, über Schüler ter oberen 
Glaffen aber nur in ganz befonders qualifieirten Fällen als Strafe bei fort: 
geſetzter Pflichtvernachläffigung verhängt werden, und zwar ebenfalls nur auf 
eine fürzere Frift, um immer wieder die Möglichkeit zu freier Ihätigfeit zu 
eröffnen. 

Eine unmittelbare Einwirkung auf die Sittenzudt haben die moraliice 
Belehrung und die Ahndung ver Webertretungen, von denen nun die Rede 
jein wird, 

„Man könnte die eriteren für überflüffig halten, weil bei jolhem Reden 
und Willen häufig alle übeln Leidenſchaften, Feine Empfindungen und vor- 


*, „Ferner foll das Geſetz jüngere Leute weder bei Spottipielen nod bei Komödien 
als Zuſchauer zulaffen, bevor fie das Alter erreicht haben, in welchem ihnen geftattet 
it, bei dem gemeinjchaftlichen Mahl ihren ordentlichen Pla einzunebmen und unge 
miſchten Wein mitzutrinten,“ Aristol, Polit, VII, 15, 


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nehmlich moraliſcher Eigendünfel Pla areifen, können. Es bleibt aber dennoch 
nicht weniger wichtig, nicht lediglih auf die natürliche Entwidelung des Guten 
aus dem Herzen und auf die Angewöhnung dur das Beiſpiel ohne Reflexion 
fih zu verlaffen, jondern das Bewußtſein mit den jittlichen Beftimmungen 
befannt zu machen, die moraliſchen Neflerionen in ihm zu befeftigen und es 
zum Nachdenken darin anzuleiten. Denn an-diefen Begriffen haben wir die 
Gründe und Gefichtspunfte, aus denen wir und und Anderen Recyenjchaft 
über unjere Handlungen geben, die Richtungslinien, die uns dur die Mannich— 
faltigfeit der Erſcheinung und das unfichere Spiel der Empfindungen hindurch 
leiten. Es ift der Borzug des Selbſtbewußtſeins, daß es ftatt der Feſtigkeit 
des thieriichen Inſtinets einerjeits willfürlich ift und andrerjeits dieſer Willkür 
and ſich felbft vdurd den Willen Schranken jegt. Das Feſte und Bindende 
gegen das Unſtäte und die Widerſprüche jener Seite find die fittlihen und 
dann noch mehr die reliniöfen Beftimmungen.“ *) 

Deshalb fcheint es mir höchſt mothwendig, daß der Ordinarius auch ftets 
der Religionslehrer jeiner Claffe it. Wenn aud oft der Fall eintreten mag, 
daß der Ordinarius die Religionsfacultas entweder gar nicht oder doch nicht 
für feine Clafje hat, jo wird doc ‚meines Dafürhaltens in feinem Fade fo 
leicht von der Unterrichtsberechtigung, die doch nur auf Grund einer bejtimmten 
Summe von Kenntniffen erworben it, abzufehen fein, wie gerade in ber 
Religionswiſſenſchaft. Mir will es ſogar jcheinen, als ob es mit diejer Dis: 
ciplin nicht jo fjchleht auf dem Gymnaſium bejtellt fein würde, wenn ber 
Pehrer auf Einzelheiten der Dogmatif weniger einzugehen in der Lage ift.**) 
Daß im Allgemeinen gerade der Ordinarius diefen Unterricht mit dem größten 
Segen für das Herz und die Kräftigung des vernünftigen Willens feiner 
Zöalinge geben wird, tft mir unzweifelhaft. 

Der Altmeifter der Pädagogik, Duintilian, giebt befanntlih die höchſt 
beherzigenswertbe Mahnung***), man möge die Zöglinge durch treue Be— 
auffihtigung anleiten, zu thun, was recht ift, damit man nicht hinterher gezwungen 
werde, diejelben zu ftrafen, wenn fie Unrecht thäten. Daß das Ziel Des 
Lehrers in der That darauf gerichtet jein muß, dur feine geſammte Wirk: 
jamfeit die Strafen unnöthig zu machen, ift unzweifelhaft. Aber ſelbſt ver 
bejte Yehrer und ſelbſt die bejte Echule vermag ganz ohne Strafen wicht durch— 
zufommen. Und wenn ich jchon geneigt bin, aus dem Umftande, daß ein Yehrer 
häufig zu Strafen jchreiten muß, mir ein ungünftiges Urtheil über jeine päda— 


. *) Aus Hegels dritter Gymnafialrede, 

**) Mie weit fich der Pebrer bei ſolchen dogmatiſchen Klaubereien von den wirklich 
nußbringenden Betrachtungen verlieren kann, dafür ein Beifpiel. Hollenberg, Hülfsbuch 
für den ewangel. NReligionsunterridt in Gymnaſien, Berlin bei Wiegand und Griechen, 
aibt zu $ 51 einen Ercurs über die Engel, indem e8 von ihnen unter Anderem wört- 
lich beißt: „eine geichlechtliche Fortpflanzung findet nicht Statt." Gerade dieſe Materie 
muß wobl einen befonderen Reiz zu weiteren Specnlationen bieten. So ift mir zu: 
fällig bekannt, daß eim anderer Religionslehrer die Arten der Engel feine Schüler 
forgfältig unterfcheiden lehrt. 

**x) Quintil, inst. orat. I. 3, 14. Caedi vero discipulos — — minime velim. 
Primum quia = — — postremo quod ne opus erit quidem hac castigatione, 
si assiduus studiorum exactor astiterit. Nunc fere neglegentia paedagogorum 
sic emendari videtur, ut pueri non facere, quae recta sunt, cogantur, sed, cum 
non fecerint, puniantur. 


gogiſche Gejchielichfeit und feine Treue im Amt zu bilden, jo erregt in mir 
doch die Brahlerei ftrebjamer Collegen, daß fie ganz der jtrafenden Einwirkung 
zu entrathen vermöcten, nod größere Bedenken über deren erziehliche 
Wirkſamkeit. 

Die Strafe charakteriſirt ſich als ein gewaltſamer Eingriff in die mora— 
liſche Entwidelung des Zöglings.) Ihre Anwendung beruht auf dem Satz, 
daß Vitia fugere est virtus et sapientia prima. Aus der Luſt über Die 
Beſiegung des Fehlers entjpringt dann die höhere Luſt zur Tugend. 

Die Schuljtrafen werden nicht jowohl auf die Abjchredungstheorie als 
vielmehr auf die Beſſerungs- und Siühntheorie zuräüdzuführen jein. Der 
Pehrer muß durch die Strafe beffern wollen, der Schiller in ihr eine Sühne 
für jeine Verſchuldung um der verlegten Gerechtigkeit willen erbliden. Aus 
dem erjten Sat folgt, daß die Strafen, die auf einer Reizung des Chrgefühls 
beruben, mit großer Borfiht angewendet werden müſſen. Man bat zwar ges 
meint, daß man die niedere Neigung zunächit nur durch Erregung einer velativ 
höheren Neigung vertreiben müſſe, um jo allmählich den Zögling der fittlichen 
Bolltommendeit, joweit Überhaupt dem Menſchen möglich, näher zu führen. 
Die Trägheit z. B. ift Neigung der vegetabilifhen Welt, und jo jolle man 
diefe durd Erregung der Najchhaftigfeit, der Neigung der thieriichen Natur, 
bezwingen, dieſe demnächſt durd Erregung des Chrgeizes u. ſ. w. Allein 
dagegen macht mit Hecht der verftorbene Irendelenburg die Anſicht geltend, 
daß wo das Böſe gedämpft werden folle, eg nur durch das Gute geichehen 
fünne. Der beberrihende Wille muß von vornherein in eine vernünftige 
Richtung geleitet werden. Aus dem zweiten Sat, daß der Schüler in der 
Strafe gewiſſermaßen eine Reaction des von ihm verlegten Rechts erfennen 
joll, ergiebt jich, daß Strafen in der Kegel nicht erlafjen werden dürfen. Es 
wärde in dieſem alle die jtrafende Thätigkeit in die Gefahr gebracht, in den 
Augen des Zöglings als willfürlid zu erjcheinen und damit die Wirkung 
aufgehoben werden, welde gerade in der Objectivität derjelben Liegt. 

Eine dritte Kegel jei, daß der Erzieher beim Strafen fortiter in re, 
suaviter in modo verfahre. Daß nur die Milde auf dem Grunde einer 
vernünftigen Strenge Einprud macht, ift eine alte pädagogische Erfahrung. 
In diefer Beziehung ift zu verichiedenen Zeiten in verſchiedener Weiſe ſchwer 
gefehlt worden. Bald paarte ſich die Strenge mit Grauſamkeit und Roheit, 
Vitterfeit und höhnijcher Freude iiber den Schmerz des Gezlichtigten, bald die 
Milde mit Schwächlichkeit und mit einem jhimpflihen Bubhlen um die Gunft 
der Schüler. 

Wie die Strafen für öffentliche Vergehen und Verbrechen mit dem Fort: 
Ihritt der menſchlichen Entwidelung gelinder werden, jo zwar, daß die Arten 
der Strafen ein getreuer Gradmeſſer für die Cultur des geſammten Volfes 
fund, jo ähnlich auch im Schulleben. Gegen die Prügeliucht eines Chryfippus 
und der Orbilier legte Quinrilian Verwahrung ein, gegen" die wahrhaft grau— 
jamen Strafen der Scholaftifer, welche in diefen Studien von Juſt „Zur 
Pädagogik des Mittelalters" Abſchnitt V des Weiteren behandelt find, Eras- 


*) Worte Trendefenburg’s in feinen Borlefungen Über Pädagogik und Didactil. 
Aus dem Colleg dieſes hochverehrten Meiſters — auch ich durfte einſt zu ſeinen Füßen 
ſitzen — ſtammt mehr als ein Gedanke, den ich bier vorgetragen habe. 


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mus,” Por ihm hatte ſchon Walther von der Vogelweide geſungen: „nieman 
fan mit gerten finderzuht beherten: den man z'éêren bringen mac, dem iſt 
ein wort als ein jlac.“ Auch Luther mahnte befanntlih von Grauſamkeit in 
der Wahl der Erziehungsmittel ab, er verwarf Strafen, die eine ſervile Ge: 
finnung in den Beftraften erzeugen möchten, und wenn er aud ausdrücklich 
die Prügelitrafe als nothwendig bezeichiret, jo jchärft er e& doch den Rectoren 
eindringlich ein, die Kinder „höviſch“ zu behandeln. Trotzendorf danegen, 
deffen Schulvisciplin etwas von dem römischen Geifte in ſich trug, firafte oft 
iehr bart in der Art der Klofterfchulen, nur daß er Fein Anjehn der Berjon 
gelten ließ und daher Gelvitrafen ausſchloß, weil durch diefe die Eltern und 
nicht die Kinder betroffen wirden.**) Auch daß man fi) in jeiner Schule 
durch eine mohlgefegte lateiniſche Rede von der Strafe gänzlich frei machen 
fonnte, iſt eine Erbichaft, die der ſonſt jo eifrige Yutheraner aus der Kloſter— 
bisciplin angetreten hatte. In den evangeliichen Schulorbuungen des 16. Jahr— 
hunderts Spielt die Ruthe eine große Rolle. Prügelſtrafe tritt ein für Wider: 
jetslichkeiten, Noheiten, aber auch für Trägheit und fogar für Unwiſſenheit. 
Ganz beſonderes Intereſſe bietet die Nordhäuſer Schulordnung vom Jahre 
1583 ***) nicht bloß wegen der entjeßlichen Roheiten ver Schiller, die in ver: 
jelben mir Strafen bedroht werden, jondern nod mehr wegen der brutalen 
Meife, in welder die dortigen Lehrer zu ftrafen Anweifung erhalten. Wo 
von den Mebungen im Disputiren und Declamiren in Prima und Secunda 
die Rede tft, heit es wörtlih alfo: „Der Lehrer fol Dem, welcher etwas 
Falſches fagt, einen Schmit mit der Ruthe auf die Hand geben.“ Werner: 
„Ein jeder Lehrer ſoll Diejenigen, welche ihre Pection nicht können, alsbald 
ftäupen. Bei der Gorrectur der Arbeiten werden die Fehler gezählt, auf drei 
gehört ein Schilling (d. i. Obrfeige), auf vier zwei.“ Geradezu depravirend 
mußte aber das in dieſer Schulordnung befohlene Spionierſyſtem wirken. 
Und nach all dieſen wahrhaft rigoroſen Beſtimmungen werben ſchließlich, die 
Lehrer doch noch ermahnt, ja nicht tyranniſch (I) zu handeln, die Knaben 
nicht bis aufs Blut zu ſtäupen, mit Füßen zu treten, bei den Ohren und 
Haaren aufzuheben oder mit dem Stock ins Geſicht zu ſchlagen: Strafarten, 
die damals doch vorgekommen ſein müſſen, da die Schulordnung es für nöthig 
findet, ſie namentlich zu verbieten. Die Strafen der Schulen im 17. Jahr— 
hundert entſprechen noch weniger dem Ideal des Erasmus, daß die pueri 
liberaliter educandi ſeien. Die Scala derſelben iſt: Geld-, Ruthen-, Prügel-, 
Carcerſtrafe und Relegation. Geldſtrafe trat für grammatikaliſche Fehler ſowie 
für unentſchuldigtes Ausbleiben aus der Schule und für verſpätete Ablieferung 
der fchriftlihen Arbeiten ein. Auf Rebellion ſtand Prigelitrafe, die, zu ihrer 
Charafterifirung fei es gefagt, unter Zuziehung „kräftiger Männer aus dem 
Volfe* zur Execution gelangte. +) Auch die Jeſuitenſchulen, melde ihr Er: 
ziehungsſyſtem befanntlich auf die umlantern Triebe und Regungen der Menjchen, 
anf Ehrgeiz, Selbftiucht und Eigendünfel, gründeten und daher über die Zög— 


*) Vergl. Durand de Laur, Erasme, III, p. 6. Paris 1872, 
**) Sonſt büßten Freie in Geld, was Unfreie mit ihrer Haut bezahlten, 
FRE, Abgedruckt bei Bormbaum, ew. Schulordnungen, 1. 
7) Siche die Schulordnung von Herford, mitgetbeilt von Hölfcher im Programm 
des Gymnaſiums dajelbft 1874. ©. 13, 


39 

linge mit großer Sicherheit herrichten, konnten doch der Prünelftrafe nicht 
entbehren. Aber durch die Art ihrer Ausführung nabmen fie ibr ven letten 
Reſt jittliher Einwirkung. Nicht der dieſelbe verhängende VYehrer, jondern 
ein zu diefem Behuf bejonders angeftellter Profos vollzog ſie. Da ift es 
denn Natichius, von dem hinfichtlic einer liberaleren Behandlung der Schüler 
die neuere Pädagogik ihren Anfang nimmt Cr verlangt, daß der Yehrer 
alle Grauſamkeit in der Beltrafung auf das Aengitlichite vermeide. Weiter 
und zwar zu weit geht Yode, der ſich überhaupt gegen die Anwendung ber 
Ruthe erklärt und ſchon die Kinder wie verjtindige Männer behandelt wiſſen 
will. Aehulich, freilich von einem ganz andern Standpunkt aus, weilt Aug. 
Herm. Frande die Prügeljtrafe ab, wenigjtens joll fie um geringer Dinge 
nicht angewendet werden. Mit chriftlicher Gelindigfeit und janftmithiger 
Zuſprache gedenft er viel mehr auszurichten als mit Strafen. Ebenſo jah 
das Philanthropin von der Nuthe ab und führte nur folgende Strafen em: 
I Verminderung ter Meritenpunfte, 2) Verwandlung einer Studienftunde 
in eine Handarbeitsſtunde, 3) Einſchließung in ein einfames, kahles Zimmer, 
während die Genoſſen, dem Beftraften wahrnehmbar, in einem Nachbarzimmer 
geiftigen Arbeiten oblagen. 

Unter dem Einfluß diefer Anftalt, der gar nicht unterſchätzt werben darf, 
bat jih im Sculregiment, wenn auch im Ganzen weniger unter ben praf: 
tiihen Yehrern, eine bisweilen ins Krankhafte Überjpielende humane Richtung 
ausgebildet, die auch in unfern Tagen gegen jeden Gebraud der Ruthe in 
der Schulſtube anfümpft. Cine befondere Stärfung erführt fie einerjeits durch 
die noch immer in lebhafter Erinnerung ftehenden Porinjer’ihen Klagen, dann 
aber noch mehr durch den Zeitgeift. Diejer zeigt faft auf allen Gebieten der 
Staatsverwaltung eine Franfhafte Schwachherzigfeit und eine überaus milde 
Beurtheilung von Bergehungen. Schon ift der Schaden dieſer weichmüthigen 
Veitrebungen fir das Volksthum deutlich genug fenntlicd geworden. Ich erinnere 
nur an die Erfahrungen, die unjere Zeit mit dem neuen Strafgeſetzbuch, mit 
der jo rüdjichtswollen Behandlung der Etrafgefangenen, mit der milden Auf- 
faſſung des jogenannten Nctienjchwindels, mit der Aufhebung der Zünfte u. ſ. w. 
gemacht hat. Ein gewilfer Doctrinarismus macht jich breit, der, weil er auf 
die wahren Bedürfniſſe des Volks, wie ich meine, zu wenig Rückſicht nimmt, 
notbwendig jhädlic wirft. Co jtreifen denn wirklich Regierungsverordnungen 
an die Grenze des Möglichen, wenn fie die fürperliche Züchtigung ganz aus 
der Schule, ſogar aus der Dorfichule, entfernt wiffen wollen. In den höheren 
Yehranftalten, die ſich der nichtsnutzigen Knaben im äußerſten Wall durch 
Relegation entledigen können, mag die Prügelſtrafe nody entbehrt werben 
finnen, nicht aber in ver Volksſchule, we eine ultima ratio für unbändige 
Robeiten eine Nothwendigkeit ift. 

Eine Disciplinar- Ordnung für die preußiſchen Schulen fehlt noch. 
Das in Ausfiht ftehende Unterrichtsgejet wird hoffentlich auch auf diejem 
Gebiet regelnd eintreten und der Willfür der einzelnen Lehrer und Schul: 
Iufpectoren durch Aufftellung allgemeiner Normen iiber die Schulzuht Grenzen 
jegen. Jedoch da die Strafen gemäß ihrer eigenthümlichen Natur ihre wahre 
Bedeutung erſt durch den fie vwollziehenden Lehrer erhalten und, wenn fie 
von Erfolg jein follen, mit Rückſicht auf die individuellen Eigenjchafen des 
Zöglings in jedem einzelnen Falle gewählt werden müſſen, jo wird man jich 


40 
gerade bier zu büten haben, durch Ertheilung zu ſpecieller Vorſchriften vie 
Wirkſamkeit des Strafmittels von vornherein aufzuheben. Der Berjönlichkeit 
nnd dem Gewiljen des Lehrers und des VYehrer - Collegiums muß ein gewiſſer 
Spielraum gelafjen werden. Aber die allgemeinen Grundjäge wird das Geſetz 
allerdings aufjtellen müfen. Diefe wären wohl folgende. 

Zunächſt verfteht ſich von jelbit, daß jede Strafe von Grauſamkeit frei 
bleiben muß, und ihre Berbüßung in feiner Weile Gefahren für die geiftige 
oder fürperliche Gejunpheit des Schülers herbeiführen dürfe. Hinſichtlich des 
Strafmaßes gelte der Grundſatz weiſer Sparjamfeit, hinfihtlih der Methode, 
daß die Etrafe der Natur des Vergehens nad) Möglichkeit anzupaflen ſei. 
Die Strafarten alle anzuführen, ift unmöglih, da die Individualität des 
Lehrers dieſe jehr verichieven gejtalten, ihnen jehr verſchiedenen Werth geben 
kaun. Schon mit dem ftrafenden Blid wird ein guter Yehrer jeine Strafen: 
Skala beginnen. Wir reden im Folgenden nur nody von ven fünf allgemein 
in den höheren Schulen recipirten Strafmitteln. 

1) Die Strafarbeiten. Bon den meiften Pädagogen unferer Tage 
werden diejelben beanjtandet. Dieſen ſchwebt dabei wohl jener in früherer 
Zeit weit verbreitete Mißbrauch derjelben vor, der darin beftand, möglichſt 
geiftloje und langweilige, dazu auch vecht zeitraubende Penjen zur Strafe für 
jedes beliebige Vergehen, namentlich auch für Ungezogenheiten, aufzugeben. 
Aber abusus non tollit usum. Die Strafarbeiten ſind meines Erachtens 
da am Plage, wo ein Schüler ſich eine Saumfeligfeit over Nachläſſigkeit in 
der Erfüllung feiner Pflichten hat zu Schulden kommen laffen. Die Theorie, 
für jedes Vergehen eine adäquate Strafe feitzufeßen, vechtfertigt ihre An— 
wendung in dem angegebenen Kalle ſicherlich. Auch wohl für unentſchuld— 
bares Zuſpätkommen mag diefe Strafe ertheilt werden. Audere wollen die 
Sache gelten lafjen, nehmen aber an dem Namen Anſtoß, weil es unpafjeud 
jei, irgend eine Arbeit, die doch dem Schüler ftets eine Quelle der Luft fein 
jolle, als Strafe zu bezeichnen. Wie man indefjen auch eine jolche Leiſtung 
nennen mag, die durch den Unfleig des Schülers nöthig geworden, fie wirt, 
wie Director Kramer in der Directoren - Berfammlung zu Magdeburg richtig 
bemerfte,*) immer als eine Strafe empfunden werden, und indem der Schüler 
durdy fie genöthigt wird, jeine Pflicht voll zu erfüllen, trägt fie auch in der 
That den Charakter einer ſolchen. Die Strafarbeit ift nichts Anderes ale 
die mildeſte Form der sFreiheitsentziehung, wie Bormann **) in derfelben 
Verſammlung jagt. Und da bei jeder Freiheitsentziehung gleichzeitig für 
eine Bejhäftigung des Schülers in diejer Zeit nothwendig zu forgen ill, 
dieje Beſchäftigung doch aber nicht wohl anderer als geijtiger Art fein Fanı, 
jo würde mit der Strafarbeit als folder auch jede andere Freiheitsſtrafe 
fallen müſſen. So wird man denn wohl in derielben das gelindeſte Mittel 
erbliden dürfen, den nadläffigen Schüler zur Pünktlichkeit und zu ftrengerer 
Plichterfüllung zu zwingen. Cautelen allerdings macht diefe Strafart nöthig- 
Nämlich erjtens ift von ihr alles Mechaniſche und Geifttödtende fernzuhalten, 


*) Berbandlungen ber eriten Verſammlung der Directoren der Prov. Sachſen zu 
Maadebura, Halle, Warenhaus 1874. ©. 87, 
**), Ebenda ©. 104. 


41 


und ein mehrmaliges Abjchreiben deſſelben Penjums durchaus unftatthaft. 
Zweitens it bei der Auswahl des Penſums darauf zu achten, daß Feine 
Materie verwendet werde, die dem Schüler ein Gegenftand ehrerbietiger Scheu 
oder adtungsvoller Liebe bleiben joll. Drittens darf die Strafarbeit unter 
teinen Umftänden jo groß bemefjen werben, daß dem Schüler die Möglichkeit 
genommen wird, die laufenden täglichen Arbeiten mit der gehörigen Sorg— 
falt anzufertigen. Endlich überjehe man nit, daR, wenn jchen die übrigen 
Strafen ſich durch zu häufigen Gebraud abnutzen, dies ganz bejonders von 
ver Strafarbeit gilt. 

2) Die Strafe des Nachſitzens wird zunächſt angewendet werden, 
um den Schüler, wenn er eine Arbeit verſäumt oder im wicht zufriedenjtellen- 
der Weiſe gemacht hat, zum nachträglichen, beziehungsweife zum jorgfältigeren 
Anfertigen derjelben anzuhalten. Im ven leichteren Fällen diejer Art, z. B.- 
bet mangelhafter Präparation auf den Schriftiteller, ungenügender Nachüber— 
ſetzung u. ſ. w. wird es wohl genügen, dem Sciiler die Arbeit noch ein 
Mal aufzutragen und ihm eine Zeit außerhalb der Schulſtunden feitzufeten, 
u er fih dem Lehrer gegenüber in deſſen Behauſung darüber auszumeijen 
bat, wie er feine Aufgabe nachgeholt habe. 

Die Strafe des Nachſitzens tritt zweitens paffend für leichtjinnige Ueber- 
tretungen der Schulgejete ein. Denn da die Gejegesverlegung einen Miß— 
trau der Freiheit involvirt, jo it als Genenmittel eine Freiheitsentziehung 
angezeigt. Ueber den Modus der Abbüßung diefer Strafe dürften noch 
folgende Bemerkungen am Plage fein. 1) Ohne Aufficht eines Yehrers darf 
diefe Strafe niemals verbüßt werden. Es tft ja bekannt, zu welchen ſchmutzigen 
Jugendjünden, in einzelnen Fällen auch zu wie verzweifelten Entſchlüſſen Die 
Einſamkeit Schüler währen des Nachſitzens ſchon veranlaft bat. Da num 
dem vielbejchäftigten Yehrer nicht zugemuthet werden darf, behufs der Infpection 
eines Arrejtanten ſich noch über die Schulzeit hinaus in der Claſſe aufzuhalten, 
io ericheint es gerechtfertigt, daß das Nachfigen in der Wohnung des Yebrers 
erfolgt. Dabei ift aber jedenfalls Borjorge zu treffen, daß hierbei das Ehr— 
aefühl des Schülers nicht dadurch Schaden nehme, daß er als Delinguent 
ten Mitgliedern der Familie des Yebhrers begegnet. Wenn man gegen dieſen 
Modus des Arrefts eingewendet hat, daß dem Schüler dur denſelben leicht 
das Gefühl abhanden kommen werde, daß es für ihn eine Auszeichnung ift, 
wenn er mit dem Vehrer außerhalb ver Schule, namentlich aber in deſſen 
Haufe, zuſammenkommen dürfe, jo liegt e8 doch wohl auf der Hand, daß der 
Schüler eine Einladung in das Haus des Pehrers immer noch jehr gut von 
einer Beftellung dahin behufs Erduldung einer Strafe zu unterſcheiden wiſſen 
wird. 2) Ein gleichzeitiges Nachfigen mehrerer Schüler iſt möglichft zu ver- 
meiden. Jedenfalls dürfen nicht Schiller aus mehreren Claſſen, wie dies au 
einigen Anjtalten allerdings üblich geworden ift, umter der Aufficht eines dazu 
beſonders beftimmten Pehrers dieſe Strafe verbüßen. Denn das Gefühl der 
Gemeinſchaft vermindert ohne Zweifel erbeblid den Eindruck der Strafe und 
ſtumpft zugleih das Ehrgefühl ab. 3) Eine entjprechende Arbeit ift ben 
nahjigenden Schülern ftets aufzugeben und zu vermeiden, daß fie in biejer 
Zeit einem gefährlichen Hinbrüten anheimfallen. 4) Diefe Strafe muß nad) 
oben bin immer feltener, aljo in Secunda nur in ganz befonderen Fällen, 
in Prima aber gar nicht mehr verhängt werben birfen. 


42 

3) Die Förperlide Zühtiaung Wie fi zu dieſer Strafe ber 
moderne Zeitgeiſt ftellt, ift oben bemerkt worden. Allein fo gewiß der mittel: 
hochdeutſche Dichter Net bat: Niemand kann mit Gerten Nindes Zucht be 
bärten, jo gewiß ift es auch, daß allein durch das Wort noch nie ein Menſchen— 
Find gut erzogen worden ift, es and) nicht werben wird, jo fange die menſch— 
liche Natur viejelbe bleibt. 

Man könnt’ erzonene Kinder gebären, 
Wenn die Eltern erzogen wären, 

Wenn freilid die Schulordnungen proteftantiicher Gymnaſien vordem die 
Prügelſtrafe noch bei Unfleir und Unwiſſenheit ſogar bis im die oberften 
Claſſen in Anwendung bradıten, jo werden wir fie nur für Roheit und 
grobe Widerfeglichkeit, und auch nur in den beiden unteren Claſſen, in Anſpruch 
nehmen. Der Sted in der Hand des umterrichtenden Lehrers iſt Schon in 
Serta höchſt verwerflih und nur ein testimonium paupertatis für ben 
Docenten. Auch kann es nicht gebilliat werden, wenn beim Unterricht kleine 
körperliche Züchtigungen mit der Hand für mangelhafte Antworten, bewiejene 
Unaufmerkſamkeit und PVernachläffiaung im der Körperhaltung angemende 
werden. Gin derartiges Verfahren verdirbt den Geift der Elaffe und ſtumpft 
auf Iahre bin das Gefühl der Kinder ab. Was Wieſe in feinen Briefen 
über enaliiche Erziehung bimlichtlich der Anwendung der Prügelftrafe bie in 
die oberiten Claffen ver Schule zu Eton erzäblt,*) darf ung in Feinem Kalle 
zu der Meinung verleiten, als brauchten auch wir nicht jo ängſtlich Die Förper- 
liche Züchtigung auf Die unterften Claffen einzuschränken Denn in England 
ift jene Strafe eben Sitte, und Schleiermacher macht mit Recht darauf auf 
merfiam, dan für die Arten der Strafe arade die Sitte von entjcheidender 
Bedeutung fein müſſe. Einem Erzieher, der bei uns noch im dem oberen 
Claſſen durch Schläge für das Gute zu gewinnen fuchen wollte, müßten wir 
zurufen: Men das Wort nicht züchtiat, den ſchlägt auch der Stod nicht. 
Schließlich iſt noch die Beſtimmung ſelbſtverſtändlich, daß die Strafe der körper— 
lichen Züchtigung nicht von dem Schuldiener, ſondern allein von dem Lehrer 
zur Ausführung zu bringen iſt. 

4) Auch gegen die Carcerſtrafe wird neuerdings, namentlich in den 
Kreiſen der Lehrer, Maucherlei, das der Beachtung werth iſt, geltend gemacht. 
Das ſchwerwiegendſte Moment gegen dieſes Strafmittel ſcheinen Die anzuführen, 
welche demſelben den Charakter einer Gefängnißhaft zuſprechen, die für Zög— 
linge nicht angemeſſen ſein könne. Dennoch meine ich, daß ſie für Schüler 
der oberen Claſſen thatſächlich nicht entbehrt werden könne. Jenes Bedenken 
ſchwindet, wenn wir berückſichtigen, daß ja die Schüler der oberen Claſſen 
in der That ſchon in einer gewiſſen Periode des Ueberganges in das öffent— 
- liche Leben ſtehen. Der Charakter der Schulſtrafe muß aber dadurch feſt— 
gehalten werden, daß die Dauer derſelben zwei Stunden nicht überſteigen darf. 


*) Miefe, Briefe über enal. Erziehung ©. 33. „An Eton find jelbft die Zöglinge 
der oberften Claſſen noch nicht davon erimirt, mit Schlänen beftraft zu werden. Der 
Widerſpruch zwiichen dem Ertragen dieſer Bebandlung und dem reizbaren Selbſigefühl 
des jungen Engländers bat darin feine Löſung: die genannte Strafe ift eine altber- 
fünmliche und geſetzliche; nur der head-master in feinem vollen Amtstleide vollziebt 
fie und fie bat im der allgemeinen Meinung nichts Beſchimpfendes.“ 


Nur als ultima ratio gegenüber jhwereren Berletungen der Schulgejete komme 
fie in Anwendung. Nicht im einem verjchloffenen Glaffenzimmer werde fie 
verbüßt, jondern in einem bejonders zu dieſem Zweck bejtinnmten hellen und 
gefunden Raume, der zwar jeder Ausſchmückung entbehrt, aber mit Tiſch und 
Stuhl verjehen it. Der Ordinarius bat dem Schüler eine Aufgabe zur Aus— 
arbeitung zu stellen, venjelben bei der Arbeit im Garcer zu controliren und 
ihn nach Ablauf der beſtimmten Frift zu entlaffen. Bei dieſer wie überhaupt 
bet allen Strafen wird diefer Yehrer es nicht unterlafien, nachdem jie verbüßt 
iſt, in geeigneter Weife durch eindringliche Zuſprache den beſſernden Eindruck 
terjelben zu erhöhen. 

5) Das consilium abeundi ſchließt ſich erforderlichenfalls an die 
Garcerftrafe an, wenn die Wiederholung des Bergehens einen bevenklihen Ein- 
fluß auf die Mitſchüler befürchten läßt. Ungehörig dürfte es jein, ein joldyes 
consilium von dem Betroffenen noch umnterjcreiben zu laſſen; es erinnert 
tiefe Form am ftudentiiche Sitten und harmonirt durchaus nicht mit den Ge— 
wohnbeiten der väterlichen Zucht, welche die Schule ftets nad Möglichkeit 
nachzuahmen bat. Dagegen find die Eltern ſtets von der Mafregel durch 
ten Ordinarius in Kenntniß zu jeen. 

Die Entfernung von der Anftalt it im Grunde feine Strafe mehr. 
Zie tritt ein, wo die Schule nad gewiljenhafter Anwendimg aller ihr zu 
Gebote ſtehenden Befjerungsverfuche ihre Aufgabe als unlösbar erfenut, jodann 
wo jeitens eines Schillers ein verderbliher Einfluß auf die Mitſchüler zu 
Lage tritt, endli wo ein Schüler fi durch eine unmoraliſche Haudlungs— 
weife in den Augen feiner Kameraden jo vergangen bat, daß zu erwarten 
ſteht, diefelben wirden ihn ihres Umganges ferner nicht würdigen. In diefen 
Fällen ift es befjer, daß ein Einzelner leide, als daß Viele an diefem Einzelnen 
ein Aergerniß nehmen. Man erweift ja wahrlid nicht ein Mal dem Schüler 
jelbft, der die Sittengeſetze in einer ihn entehrenden Weiſe übertreten bat, 
einen wahrbaften Gefallen, wenn man ihn nod länger auf der Anftalt läßt. 
Denn iſt der Geift der Anftalt ein guter, jo iſt e8 ganz unvermeidlich, daß 
ih die Mitſchüler von ihm mit Verachtung abwenden, und daß er jomit 
mem Zuftand der Vereinſamung anheimfüllt, der das Ehrgefühl vollends 
untergräbt und nichts weniger als ein Hebel zur Beljerung werden kann. 
Tiefe kann nur eintreten, wo man mit Vertrauen dem Gefallenen entgegen- 
!ommt. Dies aber ift nur an einer andern Anftalt möglich, wo derjelbe als 
ein homo novus für feine Mitjchitler auftritt. Ich wünſchte, daß er auch 
jenen neuen Pehrern als ein durchaus Unbekannter entgegentreten dürfte. 
Darım meine ich, daß jede Entfernung im Stillen und ohne Mittheilung an 
die benachbarten Anftalten erfolgen ſolle. Ich finde es hart, eine Exeluſion 
dadurch zu verschärfen, daß gleichzeitig ausgeſprochen wird, der Gntfernte 
dirfe auf feiner Anftalt je wieder Aufnahme finden. Die Möglichkeit, ſich 
zu beilern, jollte man Niemandem, am wenigiten einem jungen Menjchen 


An fester Stelle hätten wir nod von Dem Forum zu reden, vor das die 
einzelnen Bergehungen der Schüler gehören, ſowie im Zuſammenhang damit 
von dem Umfange ver Disciplinar-Strafgewalt der Yehrer. 

Jeder ordentliche Yehrer wird die Disciplin während jeines Unterrichtes 
voll und ganz in Anſpruch zu nehmen haben. Nur bei fortgejegtem Unfleiß 


44 

und hartnädiger Unaufmerkſamkeit wird er es für feine Pflicht halten, mit dem 
Ordinarius Rückſprache zu nehmen, um ein gemeinfames Einwirfen der Clajjen- 
lehrer zu erzielen. Schitler, die in offenbar muthwilliger Art den Unterricht 
jtören, wird er aus der Claſſe herausweiſen dürfen. Nah der Stunde aber 
wird er davon aus dem Grunde Mittheilung an den Ordinarius und an den 
Director zu machen haben, weil ein derartiger Borfall für die gefammte Beur: 
theilung und Erziehung des Schülers höchſt wichtig. ıft. 

Die eigentliche Erziehung des Schülers liegt dem Ordinarius ob. Diejer 
wird, was zum Schaden der Sache heute oft nicht der Fall ift, immer nur 
ein definitiv angeftellter, alſo ein bereits erprobter Yehrer jein. Steht dies 
gejeglich feit, jo werden auch ſchon die Kräfte für die Ordinariate fich finden 
lafien. Warum z. DB. ver Mathematifus nach dem jegigen Brauch nur aus: 
nahmsweiſe ein Ordinariat verwaltet, iſt nicht einzufehen. Und ein älterer 
Symmafial- Elementarlehrer dürfte in der Regel eine geeignetere Perjünlichkeit 
für das Ordinariat von Certa oder Quinta jein als ein eben examinirter 
Probe - Sandidat. Auch dafiir, daß bier und da der Director fi von ver 
Führung eines Ordinariates entbindet, läßt ſich ein triftiger Grund nicht finden. 
Es muß — das verlangt der Ernit der erziehlichen Aufgabe ver Schule, — 
Grundſatz jein, daß gerade die älteften Pehrer des Collegiums die Ordinariate 
haben. Wie heute wohl ein Streberthum hinfichtlichtlih der Stunden in ven 
oberen Claſſen ſich in umerfreulicher Weife an manchen Anftalten breit macht, je 
mag es lieber ala eine begehrenswerthe Ehre gelten, Ordinarius einer Claſſe 
zu jein, gleich viel, welche es jei. 

Der Ordinarius hat das ganze Betragen der Schüler feiner Klaſſe, ſowohl 
vor den Stunden als aud in denjelben, ſowohl im Haufe als auch auf ver 
Strafe, im Auge zu behalten. Ihm liegt die Aufficht über die Penfionen und 
die Vermittelung zwiſchen Schule und Elternhaus ob. Wie er feine Schüler 
amt beften fernen ſoll, jo wird ihm auch die ftrafende Wirkſamkeit anzuwertrauen 
jein, wo es fih um Bergehungen gegen die allgemeine Schulordnung handelt. 
Dennody werden feiner Strafgewalt Grenzen zu ziehen fen, und zwar am 
natürlichften in der Weiſe, daß 

der Ordinarius für Unfleiß und Unaufmerkſamkeit, fowie für Unarten Straf: 

arbeiten und einftündiges Nachſitzen verhängen fann. 

Die Disciplinargewalt der übrigen Yehrer und der Conferenz dürfte jo 
zu regeln jein, daß 

1) jeder Yehrer diejelbe Strafbefugniß gegenüber den in jeinen Unterrichts— 
jtunden zu Tage tretenden Vergehungen bat; 

2) die engere Gonferenz, zu der die definitiv angeftellten Anftaltslehrer ge- 
hören, nad) Anhörung des Ordinarius bejchließt, wo es fi um Die 
Beitrafung eines jchwereren, innerhalb der Schulräume verübten Ber- 
gehens handelt ; 

3) der weiteren Conferenz, der, wie oben $ 6 ausgeführt worden, aufer 
den Yehrern der Schule auch gewählte Vertreter der Familien und der 
politifhen Gemeinde angehören, die Ahndung der außerhalb der Schul: 
räume vorgekommenen Bergehungen zufteht. 

Ein Conferenzbeſchluß iſt nothwendig, wo eine körperliche Züchtigung (nur 
in den beiden unteren Claſſen, bet Knaben bis zu 12 Jahren), eine mehr als 
einjtündige Arreftitrafe (in den Mlittelelafjen) oder eine Garcerjtrafe (mur in 


45 


den beiden oberen Glafjen) eintreten joll; das consilium abeundi und 
die Berweifung von der Anſtalt kann immer nur die weitere Conferenz 
ausjprechen. 


8. 


Iufammenftellung der Grundfäße der Erziehung, welche in dem 
bevorſtehenden Unterrichts - Gefeh Aufnahme zu finden verdienen, 


Ob nun die im Vorhergehenden niedergelegten Grundſätze der Erziehung, 
namentlich injofern fie beftimmend auf die Pebensweife des Zöglings eimwirfen, 
in einem fogenannten Echulgejeg, das dem Knaben bei feiner Aufnahme in vie 
Hand gegeben wird, niederzulegen feien oder nicht, darüber herrſcht unter den 
Pädagogen getheilte Anſicht. Bis in die Mitte der fünfziger Jahre haben 
wohl alle Gymnaſien ihren Schülern gedrudte Eremplare der Schulgejete ein- . 
gehändigt. Seitdem hat dieſer Brauch mehr und mehr aufgehört. Man jagte,. 
daß die Folge eines gejchriebenen Geſetzes nur die jein fünne, daß zwiſchen 
dem Pehrer und dem Schitler ein Nechten eintrete, ein Verhältniß, das fich als 
fitelich nicht erkennen laffe. Dazu komme, daß alle Geſetze beftimmte Zwecke 
ing Arge faßten. Sie jeien daher im Staate notbwendig, da fidh bier die 
Zwede vielfach Freuzten. Anders in der Schule, wo nur ein Zweck walte. 
Tem Knaben künne durd das Gejeg der Schule Nichts gejagt werden, was 
er nicht Schon ſelbſt wüßte. 

Dem jei num, wie ihm wolle; aber eins ift unzweifelhaft: Das Interefje 
des Staates erheiicht, daß in dem Unterrichtögejeg nicht nur die Auferen Ber: 
bältmifje der Schulen und des Lehrerſtandes eine geſetzliche Regelung erfahren, 
de Berechtigungen der verſchiedenen Echulgattungen feitgeftellt, die Unterrichts- 
gegenftinde umd die Unterrichtöziele für jede Schulcategorie bejtimmt, jondern 
daß vor Allem aud gegenüber der in deutſchen Landen einreißenden Sitten— 
verwilderung, Püfternheit und Vergnügungsjucht der Jugend Erziehungs-Grund— 
füge ausgeſprochen werden, die für Eltern und Pehrer, jowie für das heran— 
wahjende Gejchledht unbedingt und überall maßgebend find.*) Im diefem Sinne 
begehren wir, daß in dent Geſetze 

I) der Staat fih nicht nur die Aufficht über die Schulen und den Unter: 
richt, jondern über die Jugenderziehung im Ganzen zufprede ; 

2) angeorbnet werde, daß die Jugend im Geifte der Züchtigkeit, Beſcheiden— 
heit und Ordnung erzogen werden jolle, und daß ihr jomit 

a. der Beſuch von Neftaurationen und Schankſtätten, 

b. die Theilnahme an öffentlichen Tanzbeluſtigungen, 

e. der Zutritt zu den Borftellungen von Poſſen, 

d. die Benugung von Yeihbibliothefen 

verjagt bleibe ; 


*, Daß mit joldben generellen, für den ganzen Staat geltenden Beſtimmungen 
ein ſchwerer Schlag gegen die Selbſtändigkeit der einzelnen Unterrichtsanſtalten geführt 
wird, entgeht mir nicht. Allein da eine Regelung der Diseciplinar-Verhältniſſe den 
eingelnen Gemeinden und Schulen nicht überlaffen bleiben kann, obne die Jugend— 
ergiehung und damit das Interefie des Staates zu gefübrden, jo ift Dies Vorgehen 
erechtigt. ; 


46 


3) nähere Beitimmungen getroffen werden, um in den Schulgemeinden Be- 
hörden ins Leben zu rufen, welche die Erziehung beauffichtigen, fo zwar, 
daß Die Zahl ter von den Famtlienvätern gewählten Mitglieder wenigitens 
gleich ver Zahl der mitberathenden und mitſtimmenden Lehrer it; 

4) diefen Behörden zugleid die Entſcheidung über Aufnahme in die Schule 

und Entlaffung aus derfelben, Die Sorge für die äußeren Angelegenheiten 

der Anftalt, die Anordnung von Schulfeften, ſowie namentlid die Straf: 
gewalt über die Zöglinge, foweit fie nicht unmittelbar dem unterrichten- 
den Lehrer oder dem Ordinarius zufommt, eingeriumt werde; 

5) von den bisherigen Schulftrafen Die förperlihe Züchtigung ala Aus— 
nahme: Mafregel bezeichnet werde, deren Anwendung in der Bolksſchule 
möglichſt einzujchränken, in ven böheren Schulen aber nur in den beiden 
unterjten Claſſen ſtatthaft jei. 


— — — - — 


VBädagogiſche Studien. 


Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein. 


12. Heft. 


Gymnaſium und Kunſt. 


Ein Verſuch 


die äfthetiſche Erziehung zu fördern durch Berückſichtigung der Bildenden Künſte 
im Anterrichte der höheren Schulen. 


Dr. Rudolf Menge, 


Gymnaſiallehrer in Eiſenach. 


Wien und Leipzig. 
* Verlag von A. Pichler's Witwe & Sohn. 
Buchhandlung für pädagogifhe Literatar und Lehrmittel » Anitalt. 





Drud von Fiſcher & Wittig in Leipzig. 
1877. 


Vorwort. 


Hachfolgende Blätter geben größtentheil3 eine Rede wieder, welche 
am Geburtstag Sr. Königl. Hoheit des Großherzog von Sacdjen am 
24. Juni 1876 in der Aula des Gymmafiums zu Weimar gehalten 
wurde. Der Verfafjer hat das Beitreben mitzuwirken an einer der größten 
Aufgaben unferer Zeit: den Geſchmack unferes Volkes zu veredeln und 
die Gefammtbildung deſſelben zu heben durch Entwidelung de Schön- 
heitsgefühlse. Wie er mit diefer Abficht nicht vereinzelt dafteht, jo wohl 
auch nicht mit feinen Anfichten über den Weg, auf dem das Biel zu 
erreichen ift. Vielen wird er daher nichts Neues bringen, Manchen aber 
doc vielleicht anregen, jei es auf diejelbe Weile, ſei e8 auf eine andere, 
Aehnliches zu erjtreben. Der Zweck dieſes Schriftchens ift den Lehrern, 
bejonder8 den Geſchichtslehrern, die ſelbſt nicht Kunfthiftorifer find, aber 
den Werth und die Nothwendigfeit der äfthetichen Erziehung anerkennen, 
einestheils eine Anleitung zn geben, wie fie den Schülern das Berftändnif 
für die Werke der jchönen Künfte eröffnen können, anderntheils durch 
Nachweis der zugänglichen Abbildungen ihnen diejes zu erleichtern. Die 
Vorichläge des DVerfafjers beruhen größtentheil3 auf Erfahrung. War 
die Zeit, jeitdem er jeine Verſuche machte, die Schüler in das Reich der 
bildenden Kunft einzuführen, auch zu furz, um die letzten Früchte zu 
zeitigen, jo glaubt er doch einen merflichen Erfolg bereit3 wahrgenommen 
zu haben, nämlich ein gejteigerte3 Vermögen richtig zu jehen und ein 
erhöhtes nterefje für die Werke der Kunft. 

Möge man diejen bejcheidenen Beitrag zur Löſung einer großen 
Aufgabe in weiteren Kreijen mit demjelben Wohlmwollen beurtheilen, mit 
welchem er im engeren Kreije aufgenommen wurde. 


Eifenad, im Februar 1877. 


Dr. Rud. Menge. 


Inhalt. 


Einleitung j ; 
Ueber bie Neoihwendigkeit der "äftgerifen — auf der Equle 
Ueber die Wahl der Methode des äſthetiſchen Unterrichts 
Darftellung ber Methode bes äjtbetijchen Unterrichts . 
1) Die Kunft der orientalifhen Völker . 
2) Die Kunft der Griechen bis zu Alerander des Geben zeln 
a. Homeriſches Zeitalter . N 
b. Die biftorifche Zeit bis nach ben Vecichen 
c. Das perikleiſche Zeitalter. 
d. Das Zeitalter Alerander des Großen . ; 
3) Die Behandlung ber fpäteren Epoden und —— ARTEN 
über Kunil . i 
Nachweiſe ber Abbildungen und ——— 


Einleitung. 


Die Höhe des ulturftandpunktes eines Volks wird zumeift gefchätt 
nad) den umvergänglichen Werken ver jhönen Kunft, bie es hervorgebracht 
bat. Iſt auch die momentane Bedeutung einer Nation für die gefchichtliche 
Entwidelung der Weltbegebenheiten von diefen Kunfterzeugniffen unabhängig: 
eine ewige Geltung, ein ftets fich erneuerndes Einwirken auf die Cultur- 
verhältniffe fpäterer Völker wird nur biejenige Nation als Preis ihres 
Strebens und Schaffens erlangen, die ſich durch Fünftlerifche Leiftungen mit 
Auszeihnung hervorgethan hat. Daher kommt es, daß unter gleichzeitigen 
fogenannten Gulturvölfern, die ſich ihrer Miffton bewußt geworben find, 
teger Wetteifer entfteht um die höchſte Stelle auf dem Gebiete der ſchönen 
Künfte, ein Wetteifer, der vielleicht nie ernftlihere Formen angenommen hat 
ale in der Jetztzeit. 

Nicht alle Völker find für diefen friedlichen geiftigen Kampf von Natur 
gleich günftig ausgerüftet, felbft wenn fie fih auch am äußerer Macht gleich 
find. Klima, Bodenverhältniffe und dadurch bedingter Volkswohlftend, Be— 
Ihaffenheit der natürlichen Grenzen, politiihe und kirchliche Zuftände, Bor- 
geihihte und Vollscharakter ſchaffen einen gar verfchierenen Boden für 
ideale Beftrebungen. Je ungünftiger fich aber diefe Bedingungen in einem 
Lande geftalter haben, vefto Flarer müſſen die Leiter ſich des zu erftrebenven 
Zieles bewußt fein, deſto unermüblicher müſſen fie die Geſammtheit bes 
Volles auf daffelbe hinzuweiſen und hinzuführen fuchen. 

Unfer deutſches Volk fann mit Stolz auf Zeiten zurädbliden, wo feine 
Stammesangehörigen das Höchſte geleiftet haben in allen Zweigen ver fhönen 
Künfte; Dürfen wir aber von uns jest behaupten, daß die Mehrzahl auch 
nur in dem fogenannten gebildeten Ständen von Begeifterung und Ber- 
fändnig durchdrungen, eines richtigen Urtheils fähig ſei auf dem Gebiete 
des Schönen? dürfen wir behaupten in dem Wettkampf der Nationen obzu- 
fiegen ? Unfere geographiiche Lage verlangt von und mehr als andere Völker 
zu verwenden auf ftarfe Sicherung unferer Grenzen, unjer verhältnigmäßig 
geringer Bollswohlftand nöthigt uns zu größerem Kraftaufwand bei Be— 
Ihaffung der dringendſten Bepürfniffe des Lebens; und jo ift es denn nicht 
ju verwunbern, daß das Streben ver Meiften ſich auf äußere Zwede richtet 
und höhere Ziele aus dem Auge verliert. Wir haben, ehrlich geftanben, 
noch viel zu thun, ehe wir uns den größten Eulturvölfern ebenbürtig an 
die Seite ftellen können. 

Menge, Gymnaſium und Kunft. 1 


2 


Wenn je etwas berechtigt war, fo war es ber laute Jubel über die 
Wiederbegründung unferer ftaatlihen Selbftändigkeit, über die Aufrichtung 
unjeres neuen Reiches: aber dieſe Erfolge dürfen uns nicht über ung felbit 
täufhen; neben biefer ftolzen Freude muß fi wieder die Erkenntniß gel 
tend machen, daß wir nod vieles zu erringen, vieles gerade von unferen 
überwundenen Feinden zu lernen haben. Bor allen Dingen ift dies aber 
der Fall auf dem Gebiete der Kunft, oder fage ich richtiger: des Gefchmades. 

Diefe Erkenntniß ift feine neue. Daß der Sinn für die Schönheit 
der Form — als körperliche Linie fowohl wie ald Gewand unferer Ge 
danken — bei unferem Nachbarvolk ein feinerer ift als bei uns, ift längft 
ſchon unbeftritten, und man hat beit uns ſchon Mandes verfuht und mande 
Anregung gegeben, um unfer Bolt aud bier zu gleicher Höhe zu heben. !) 
Da diefe Mittel den gewünſchten Erfolg nody nicht gehabt haben, fo hat 
man endlich den Auf erhoben, daß in den Schulen, befonders in ben 
höheren Schulen, für die Ausbildung eines geläuterten Geſchmackes geforgt 
werben müſſe.?) 


Yeber die Hothwendigkeit der äſthetiſchen Erziehung auf der Schule. 


Treten wir biefem Gedanken näher und juhen wir uns Mar zu machen, 
in wie weit man beredtigt ift, von ver Schule fold eine bewußte Erziehung 
zum Geſchmacke, alfo eine äfthetifhe Erziehung zu verlangen. Die richtige 
Antwort dürften wir finden, wenn wir erft erörtern, ob man überhaupt zu 
folder Forderung befugt ift, und dann, bis zu weldem Grave die Schule 
im Stande ift, folgen Anforderungen nachzukommen. 

Es find im Laufe der Jahrhunderte den Schulen gar verfchiedene Ziel- 
punkte geftedt worden. Die verſchiedenen Unterrichtögegenftände der Lehr 
pläne geben uns ein treues Abbild der jeweiligen Zeitrihtungen, fie beweijen 
uns aber aud, daß die Organifation des Schulwefens nicht immer blos eine 
Sache der Einficht, fondern aud eine Frage der Macht geweſen ift. Unſerem 
modernen deutfhen Staate ift es endlich gelungen, die Schule ſicher zu 
ftellen gegen alle Eingriffe einer anderen Macht, er hat die Möglichkeit, den 
Schulunterricht zu einem beften zu geftalten, folglih hat er auch die Pflicht. 
Muß er nun bei Aufftellung feines Lehrplanes befondere Rüdfiht nehmen 
auf die äfthetifche Erziehung? Diefe Frage recht ernft zu prüfen, ift um 
jo nothwendiger, da von allen Seiten jest an die Schule neue Zumuthungen 
geftellt werden, die an und für ſich ganz berechtigt Klingen, deren Befrie- 
digung aber fold eine Zerfplitterung des Schulunterrichtes herbeiführen 
müßte, daß die Jugend, ja das ganze Volk dadurch erheblihen Schaden 
leiden würde. Niemand wird leugnen, daß z. B. eine größere Vertrautheit 
mit Mathematik und Narurwiffenfhaften, daß eine fichere Kenntuiß verſchie— 
dener neuerer Sprachen und der Stenographie etwas Angenehmes, ja 
unter Umſtänden etwas recht Vortheilhaftes iſt; aber das genügt nit, um 
diefen Fächern fofort in der gewünſchten Weife Eintritt in unfere Schulen 
zu verfchaffen, die im Gegentheil, foweit thunlich, von allem, was fi nicht 
als nothwendig ausweiit, befreit werden müſſen. Welches aber ift bad 


3 


Kriterium, an dem wir das wirklich Nothwenbige als ſolches erfennen können ? 
Dies füllt faft genau zufammen mit der Frage: Welches ift der Zwed des 
höheren Schulunterrichtes ? 

Soviel fteht feft: Wie einerfeits die Schule — die Volksſchule fowohl 
wie die höhere — ihren Zweck nicht darin fehen kann, für gewiffe einzelne 
Fächer vorzubereiten, jondern dies den Fachſchulen zu überlaffen hat, jo muß 
fie e8 andererjeits fi) zur Aufgabe mahen, alle Kräfte, mit denen Gott 
die Menjhen begabt hat, je nah Vermögen fomweit auszubilden, daß bie 
Zöglinge fpäter fi dem Fachunterrichte widmen fünnen, ohne den Zufammen- 
bang mit den gemeinfamen Beftrebungen des Menfchengefhlehts nad) Weiter: 
bildung zu verlieren. Zu früh eintretende Einjeitigfeit oder gänzliche Ver— 
nachläſſigung irgend einer Seite wirb fih an dem Einzelweſen rächen, wird 
aber auch die Gefundheit des ganzen Volkes gefährben, die ja beruht auf 
einer gewiffen Gleichmäßigkeit der Bildung und der Intereffen, aber 
auch auf einer gehörigen Berüdfihtigung aller Intereffen. 

Schiller in feinen neuerdings wieder oft beſprochenen Briefen über die 
äfthetifhe Erziehung der Menjhen?) fagt: „Es giebt eine Erziehung zur 
Geſundheit, eine Erziehung zur Einfiht, eine Erziehung zur Sittlichkeit, 
eine Erziehung zur Schönheit, zum Gefhmad.* Man wird ohne weiteren 
Nachweis zugeben, daß hier die vier Geſichtspunkte bezeichnet find, vie bei 
der Erziehung gebührend ins Auge zu faffen find. Wie weit ift dies ge— 
fhehen ? Die Erziehung zur Gefundheit gehört, wenn wir blos auf rift- 
lihegermanifhe Cultur Rüdfiht nehmen, erft der jüngften Zeit an; denn 
im Gegenfag zu dem claffifhen Heidenthum trat die Kirche diefer Richtung 
der Erziehung fchroff entgegen dur die Forderung der Askeſe, welche, indem 
fie die Triebe des finnlichen Leibes erftiden wollte, zugleih aud den Leib 
verftümmelte. Erſt neuerdings, feitdem auch die allzuängftliden Bedenken 
des Staated gegen den frohen turnerifhen Jugendmuth zerftreut find, hat 
die Meberzeugung Platz gegriffen, daß die Pflege der Geſundheit, des Körpers 
auch von der Schule nicht vernachläffigt werben darf, wenn fie ihren Beruf 
erfüllen ſoll. 

Die Erziehung zur Einſicht ift die, welche feit ver Reformation in den 
proteftantifchen Yanden, ſeitdem man den Berftand nit mehr als ein 
thörichtes, vorlautes Ding betrachtet), in den Vordergrund getreten, wenn 
auh hie und da Einfihr und VBielwijferei noch mißverſtändlich ver- 
wechfelt werben. Diefer Richtung dienen die meiften Unterrichtsfächer unferer 
Öymnafien, ja e8 dürfte faum eins zugelaffen worben fein, von dem man 
nicht Erziehung zur Einfiht glaubte mit Sicherheit erwarten zu dürfen. 

Wie fteht e8 mit der Erziehung zur Sittlichkeit? Es ift anerkannt, 
daß hier Beifpiele mehr wirken als Lehren. Diefer Theil ver Aufgabe fällt 
aljo mehr dem Leben außerhalb der Schule, vor allem dem elterlichen Haufe 
zu; doch bemüht fi die Schule, ſoweit fie durd Lehre es vermag, vorzüg- 
lich im Religionsunterricht, fördernd beizuftehen: ift doch das Willen, was 
recht ift, die erfte Vorftufe zur Uebung der Tugend! Der Gefchichtsunter- 
tigt dann, welcher große Ideale den jugendlihen Gemüthern vorhält, bie 
Einführung in das claffifhe Alterthum, weldes fo gewaltige, begeifternde 
Seftalten aufzuweifen hat, entzündet bie Herzen zur Nacdeiferung. Tritt 
dazu noh das nahahmungswerthe Beifpiel des fittlichreinen Lehrers, der 

1* 


4 
unabläjfig bemüht ift, in felbftlofer Weife feine hohe Pflicht ald Erzieher 
zu erfüllen, fo thut die Schule für fittlihe Erziehung fo viel, als billiger 
Weife von ihr verlangt werden fann. Sie legt vie Grundlagen mit, auf 
denen ein waderer Charakter fih aufbauen fann. 

Und was gefhah und gefchieht für die äſthetiſche Erziehung? Da 
die Kunft allgemein und nicht erft feit jüngfter Zeit als die höchſte Blüte 
des Culturlebens angefehen wird, fo follte man erwarten, daß die Heran- 
bildung zum Kunſtverſtändniß ftets als eine Hauptaufgabe des höheren Unter- 
richts betrachtet worden ſei. Doch mas ift bis jest gefhehen? „Nichts“ 
wäre ungerecht zu erwidern ; denn Manches, ja Vieles hat man nad diefer 
Seite bin theils bewußt, theils unbewußt gethan. Theils unbewuft! denn 
fürwahr, wenn man lange Zeit das Studium unferer deutſchen Claffiker 
felbft in den höheren Klaſſen unjerer Lateinfhulen verpönte, dagegen Den 
größten Ruhm darin fuchte, daß die Schüler möglihft in Ciceronianifchem 
Latein fhreiben und fprehen Fonnten, jo beweift dieſes, daß man e8 auf 
Bildung des Gefhmades nicht abgelegt hatte, während man ihn doch eben 
dur die Nahahmung eines lateiniſchen Stiles, der unbeftritten als mufter- 
giltig angefehen wird, nicht unerheblih, wenn aud einfeitig förderte. Auch 
bier ift glüdlih ein Umfhwung eingetreten. Die Beihäftigung mit Den 
Hauptwerken unferer jo reihen jchönen Literatur wird nicht nur geduldet, 
fondern dringend empfohlen ; und, indem zugleich der Unterriht im Griedifchen 
mit mehr Nahdrud betrieben wird, find den Schülern Gebiete erſchloſſen 
worden, deren Belanntihaft von felbft eine Förderung des Schönheitsfinnes 
mit ſich bringt. Deun wenn das Wefen der clajfiihen Schönheit darin 
befteht, daß ein gedanfenreiher Inhalt in denkbar fhönfter Form gefaßt ift, 
fo bietet und deutſche und griechiſche Literatur des clafffh Schönen vie 
reichfte Fülle. 

Nun gut! möchte man uns einwerfen, vertieft Euch no mehr in die 
Beihäftigung mit diefen Klaffifern, um den Gefhmad zu bilden, verfchont 
aber die Schule mit weiteren Anforderungen! Gewiß wollen wir dieſes thun, 
und hoffentlih gefchieht e8 bald in noch umfänglicherer Weiſe als bisher, 
aber das genügt nody nicht, e8 wäre eine zu einfeitige Bildung, während 
gerade der Geſchmack einer vielfeitigen bedarf. Oder, frage ih, würde es 
3. B. auch nur einem milden Richter genügen, wenn er eine Rede hörte, wie 
paffende Gebanfen in jehöner Form enthielte, aber eintönig und ausdruckslos 
zum Vortrag gebracht würde? Um aber gut jpredhen zu fönnen, muß man 
erft orventlich hören gelernt haben, und dieſes Verſtändniß für die Schönheit 
bes Tones ebenjo wie das für die Schönheit der Linie ift es, was und noch 
allzufehr fehlt. Hier alfo gilt e8 zu beſſern. Sollte es aber unmöglid fein, 
auf der Schule zugleih Auge und Ohr für das Schöne empfänglih zu 
machen, fo dürfte die Wahl, wonah wir vor allem zu ftreben haben, nicht 
gerade jchwer fein. Denn, meine id, wenn der Sinn, welder von beiden 
am leichteften auszubilden ift, zugleich auch derjenige ift, dur den wir bie 
meiften und Harften Begriffe erhalten fünnen, fo ift die Frage entihieben : 
es ift das Auge, der Sinn für die Linie und die Form. Und für diejes 
ift bis jett in den höheren Schulen zu wenig gejhehen, während man für 
die muſikaliſche Borbildung doch wenigftens durch Oefangunterricht forgt. 


Ueber die Wahl der Methode des üfhetifchen Unterrichts. 


Iſt nun zugeftanden, daß die Schule allgemeine harmoniſche Ausbildung 
füämmtliher Anlagen des Menfhen zu erftreben habe, muß dann eingeräumt 
werben, daß für die Ausbildung des Gefhmades oder die äfthetifche Erziehung 
jedenfalls noch nicht genug gefchieht, jo wäre ein Widerſtand gegen jeve Mehr 
ferderung unerflärlih, wenn nicht irgendwo ein ſtarkes Hinderniß vorläge. 
Bir fommen hierdurch auf die Erörterung unferer zweiten Frage: Wie weit 
ift die Schule im Stande, folder Forderung Gehör zu geben? Beſchränken 
mir und mit ber Antwort auf die bildenden Künſte. Zuerſt ift die VBorfrage 
zu erledigen: Im welcher Weife könnte man fidy überhaupt folhen äfthetifchen 
Unterricht gegeben denken? Zwei Wege bieten fih dar: der fuftematifche 
und der hiftorifche. Der fyftematifche fcheint auf den erften Blid für höhere 
Säulen der vortheilhaftere zu fein, da er nit nur in fürzefter Weife 
befannt macht mit den einfhlägigen Begriffen, ſondern aud dafür bürgt, 
daß die Principien in ihren richtigen Beziehungen zu einander bargeftellt 
werben (mie 3. B. bei ber Lehre von der Symmetrie und der vom Gleich— 
gewicht der Theile), daß ferner die durch alle Zweige der bildenden Fünfte 
durchgehenden Grundſätze gleich auch überall fofort nachgewieſen werben 
lönnen, mährend bie Hiftorifhe Methode eine große Zerftüdelung des zu— 
fammengebörigen Allgemeinen mit fi bringt. Doc fpricht gegen die fyftema- 
tiſche Behandlung ein fehr wichtiger Umftand: biefelbe fegt ſchon eine gewiſſe, 
wenigftens oberflähliche Bekanntſchaft mit den Erzeugnifien der Kunft voraus, 
auf die wir bei unferen Schülern felbftverftändlih nicht zählen können. 

Demnach würden wir auf den Weg der Kunſtgeſchichte angewiefen 
fein, eine Behandlungsmeife, die auch noch mancherlei Vortheile vor jener 
woraus hat. Sie bringt zuerft das Einfache, was dem noch nicht entwidelten 
Verſtändniß am leichteften zu begreifen ift, fie zeigt itberall den Werbeprocek, 
fie bringt die Kunftleiftungen einzelner Völker abgefchloffen zum Anfchauen 
und unterftütt fo das Verſtändniß für Völkergeſchichte. 

In der That, hätten wir Freiheit, mit der Zahl der Schulftunven 
nah Belieben zu fohalten und zu walten, fo würben wir faum ber Ber- 
fuhung widerſtehen Können, etwa für vie beiden Primen wöchentlich je zwei 
Stunden anzufegen 5), in welchen die Geſchichte der einzelnen bildenden Künfte 
oder bie Kunftgefchichte der einzelnen Völker behandelt würde. Diefer Bor- 
ſchlag würde aber auf entſchiedenen Widerſpruch ftoßen. Dies können wir 
mit Sicherheit daraus fchließen, daß troß ber Unzahl der Reformpläne, bie 
gegenwärtig emporfchießen, mögen fie auch noch fo verſchieden fein, fi doch 
nirgends die Kunftgefhichte berädfichtigt findet. in anderes Fach ift es, 
das ungeftüm auftritt mit Mehrforberungen: es find die Naturwiſſenſchaften. 
Man wird fie nicht zuridweifen können, da es fi nicht in Abrede ftellen 
Täßt, daß es ein großer Mangel einer Schule ift, wenn ihre Zöglinge hinaus- 
fhreiten ins Leben faft unbelannt mit den ewig waltenden Geſetzen ber fie 
umgebenden Natur. Geben wir ihnen Raum, fo weit e8 ber Rahmen bes 
Lehrplanes geftattet, ja heißen wir fie willkommen als Bundesgenofjen, da 
durch biefen Unterricht beſonders die Schüler ihre Sinne zu üben, fehen und 
bören lernen. Aber genügen kann uns das für unfre Zwecke nod nit; 


6 
und fo werben wir denn durch die Lage der Dinge zu folgendem Bor- 
ſchlage gebrängt: 

Da befondere Stunden in den Oberflaffen für Kunftgefhichte nicht 
zuläffig find, der höhere Schulunterricht aber auf die äfthetifche Erziehung 
der Schüler nicht verzichten kann, jo ſuche man durch den Unterricht auch 
in anderen Klaſſen und durch Berüdfihtigung der Kunft in anderen Lehr- 
fächern dies Ziel zu erreichen. 

Wenn ich auf die unteren und mittleren Klaſſen binweife, fo fann das 
wunderbar erſcheinen, aber nur für den erften Blid. Dort kann allerdings, 
und muß fogar eine gewiffe Vorbildung erreicht werben, nämlich theils, 
indem beit ber üblichen Erzählung der Helvengefhichten angemefjene Ab— 
bildungen zugezogen werben, theils und vorzitglic durch den Zeichenunterridt. 
Iſt doch die erfte Vorbedingung für jede äſthetiſche Erziehung die Fähigkeit 
feben zu können! Diefe aber wird durch nichts mehr entwidelt, al8 indem 
man das Angefhaute nachzuahmen fucht®); es ſchärft fih das Auge hierbei 
viel mehr als beim bloßen Anfhauen. 

Die Forderung des obligatorifhen Zeichenunterrichtes hat um fo mehr 
Ausfiht auf Gewährung, als felbft vie Männer, die bei der Neugeftaltung 
des Schulunterrichtes eine durchaus praftifhe Richtung verfolgen, unabläffig 
fie erheben. Nur muß diefer Unterricht unferem Zweck noch befonders dienſtbar 
gemacht werben, indem man erftens mehr wirklich bedeutende Kunftwerfe zu 
Borlagen benutzt als es vielfach gefchieht, und zweitens fie mit furzen Notizen 
verfieht, welchem Bolt und welder Zeit das Original angehört. Halten wir 
es doch Ähnlich mit ver Vorbereitung für den literaturgefhichtlichen Unterricht 
in den mittleren und unteren Klafien, und nicht ohne erheblihen Bortheil, 
da fo Bieles ohne Mühe ſich einprägt, was fpäter die Aufnahme des Neuen 
bebeutend erleichtert. Im den oberen Klaffen ſodann, wo meift der Zeichen- 
unterricht zuridtritt, witrbe ber Unterricht in der Gefchichte, im Deutichen, 
theilweife aber auch in den alten Sprachen berjenige fein, wo die Kunft- 
geſchichte und die Aefthetit pafiend berüdfichtigt würde. Geſchieht dies in 
richtiger Weife, fo Tann Bieles erreicht werden, nur barf man nicht zu viel 
erreihen wollen, fondern muß fi von vorn herein Mar machen, was in 
einer öffentlihen Schule überhaupt zu erzielen ift. 

Drei Beihränfungen find uns auferlegt, die wir wohl zu beachten 
haben: daß der Lehrmittel nur wenige find; daß vor einer größeren Gemein- 
ſchaft gelehrt wird; daß der Gegenftand blos nebenfählich betrieben merben 
fol. Die beften Lehrmittel würden natürlih die Driginale felbft fein. 
Diefe find den Schulen meift nicht zugänglid. Ein Erſatz für fie würden 
jein treffende Abbildungen und Nahahmungen der größten Kunftwerfe; aber 
auch auf fie müfjen wir großen Theils verzichten, d. h. foweit es die Malerei 
betrifft, deren Wefen nur an koftbaren Copieen erkannt werben könnte, die 
auch die Farben des Driginald wiedergeben. Denn die Farbe ift ja bas 
Hauptharakteriftitum der Malerei ihren Schwefterfünften gegenüber Iſt man 
fo glüdlih, dur die Fürforge eines Fkunftfinnigen Fürften oder reichen 
Privaten in einem Mufeum Originalbilvder ober wenigftens eine Anzahl 
guter Gopieen berühmter Bilder zu befigen, fo fann man die Malerei ein- 
gehender beritdfichtigen, fonft aber wird man ſich begnügen müffen, auf 
minder koſtbaren Nahbildungen die Entwidelung der Perfpective, mit der ber 


7 

Zeihenunterricht befannt gemacht haben muß, und der Compofitionsfunft zu 
verfolgen). Einen reiheren Borrath von Anſchauungsmitteln giebt es auf 
dem Gebiete der Architektur und Skulptur, deren Behandlung deßhalb aus- 
führliber und grümblicher fein muß. Aber auch hier dürfte ein allzutiefes 
Eingehen in äfthetifhe Betrachtungen doch bevenklich fein. Denn es muß, 
wie bei jeder größeren Vereinigung von Zuhörern, Rüdficht genommen werben 
auf die große Zahl von minder Befähigten, bet denen, fo bald einmal das 
Verſtändniß aufgehört hat, Leicht aud die Luft an dem für fie Faßbaren 
Ihwindet. Außerdem hat es Schwierigkeit, einer größeren Anzahl gleichzeitig 
vaffelbe zur Anfhanung zu bringen, wenn man nicht befonders große Ab- 
bildungen hat?). Um aber der Verwirrung vorzubeugen, bie leicht entftebt, 
wenn die Bilder erft nachträglich dem Einzelnen zu Geſicht kommen, ift es 
rätblih, nur wenig auf einmal zu lehren, das Bild aber lange Allen zu— 
gänglih zu machen. Iſt folh eine Behandlung des Gegenftandes aber 
geboten, fo werben wir bie britte Beſchränkung, daß er nur nebenfädhlich 
betrieben werben kann, nicht mehr als folde empfinden. 


Darfellung der Methode des üfthetifchen Unterrichts. 


Sehen wir nun näher die Methode an, nah der etwa zu ver» 
fahren wäre. 

Aus dem Auge darf man nicht verlieren, daß wir nicht das Ziel 
verfolgen, gelehrte Archäologen auf der Schule zu erziehen, fondern pas 
ſcheinbar bejcheidenere, in der That aber höhere: vie Fähigkeit dae 
Shöne zu fehen bei unferen Schülern auszubilden. Diefe Aufgabe 
zerfällt in zwei Theile: erftens überhaupt fehen zu lehren, zweitens Ge— 
Ihmaf am Schönen einzuflößen. Beides wird erreicht, indem wir theils 
harakteriftiiche, theils ſchlechthin fchöne Denkmäler ihnen vorführen, und 
zwar, ſoweit e8 thunlich ift, im biftorifcher Reihenfolge. Hieraus ergiebt fich, 
daß wir einem beftimmten Lehrer befonders vie Pflicht zumeifen, die Kunft- 
gefhichte im einer Art Ueberſicht nad einem feften Plane varzuftellen, während 
von den Lehrern der übrigen Fächer ohne Nüdfiht auf hiſtoriſche Entwide- 
lung gelegentlich die Erzeugniffe der ſchönen Kunſt vorgefithrt werden. Und 
zwar fällt jene größere Aufgabe naturgemäß dem Gefchichtslehrer zu, ohne 
daß biefer aber den Zuwachs als Laft empfinden dürfte. Iſt man heute 
darin einig, daß die Gefhichte eines Volkes nicht im der Aufzählung ber 
Kriege befteht, die es glücklich oder unglüdlich geführt hat; nicht in der 
Darftellung des Wirkens einzelner Männer, die über den Durchſchnitt her— 
vorgeragt haben, fondern daß diefelbe das Volk in feinem ganzen Sein und 
Weſen wiederfpiegeln fol, jo daß die Ereigniffe als natürliche Folge ber 
Zuftände begriffen werben können: tritt mit einem Worte die ultur- 
geihihte mit Recht aus dem früheren Halbdunkel hervor ins Licht, fo darf 
vor allen Dingen die Kunſt der einzelnen Völker beanfpruchen, gebührend 
gewärbigt zu werben. Nicht jedes Bolf hat diefe herrliche Blüte zu zeitigen 
vermocht, welche nur gebeiht bei almählih wachſendem Wohlftand, dem ftet# 


8 


um feine Eriftenz ringenden Bolfe aber ebenfo verfagt ift, wie dem plötzlich 
zu Reichthum gelangenden. Wo fie aber bervorgeiproffen ift, da find bie 
einzelnen Kunftepohen mit der fogenannten politifhen Geſchichte je imnig 
verfuüpft, daß die eine ohne die andere zu vollem Verſtändniß nicht gebracht 
werben kann. Bejonders gilt dies von ber Ardhiteftur und ber Plaſtik, 
deren Werke dem Stoffe nad fo koftbar find, daß nur größere Gefammt: 
beiten oder große Männer, die viefe beberrfchen und ihnen ihren Stempel 
aufprüden, die einzelnen Erzeugnifje hervorrufen können; fo dag wir alfe 
in diefen Denkmälern einen Ausdruck des Volkswillens oder der Geſchmacks— 
rihtung und Denkweife einer ganzen Zeit befigen. Ich erinnere nur an 
die Pyramiden von Negypten, die Tempel der Griechen, die Paläfte der 
Römer, die Kirchen des früheren, die Profanbauten des fpäteren Mittel: 
alter8 und Aehnliches. 

Indem ih dazu übergehe, an einzelnen Beifpielen darzuthun, wie ih 
mir beim Unterriht das äfthetifhe Moment behandelt denke, bemerke id, 
daß ih mich zunächſt befchränfen werde auf die Kunfterzeugniffe einiger 
Bölker des Alterthums, unter beionderer Hervorhebung der Griechen, ein 
Gebiet der Gefhichte, auf dem ich felbft Berfuhe und Erfahrungen zu 
mahen in ber Lage gewefen bin. Wir haben uns ftets, befonvers aber 
bei der Behandlung der griechiſchen Gefchichte, zwei Fragen vorzulegen: an 
welher Stelle ift es angemejfen, eimen Excurs über Kunftgefchichte einzu- 
flehten? und: welche Denkmäler find hauptfählich geeignet fehen zu lehren, 
ven Geſchmack zu bilden und die gefchichtliche Entwidelung der Kunft wahr: 
nehmen zu laflen? dafür, vie einzelnen Fünfte ftreng gefonvert zu behanbeln, 
ſcheint ein triftiger Grund nicht vorzuliegen; treten fie doch fo oft ver- 
bunden auf! 


1) Die Kunſt der orientalifhen Völker. 


Die Gefhihte der orientalifhen Völker, beſonders bie politifche, ift als 
ziemlich unfruchtbar für die Zwecke der Schule mit Recht aus derſelben 
verbannt worden; die Gulturverhältniffe aber viefer Völker dürfen nict 
ganz unbeachtet gelaffen werben, da fie Erfheinungen zeigen, weldye für bie 
Entwidelung der Geſchichte des Menfhengefchlehtes von zu großer Beben: 
tung find. So wird man nicht umhin innen, einen Blid auf bie Zu 
ftände des alten Aegyptens zu werfen. Wer aber wollte leugnen, daß gerade 
bie Kunftvenfmäler dieſes Volkes uns über feine ganze Art und Sinne 
weife die wichtigften Aufjchliffe geben? An Abbildungen fehlt e8 ums bier 
nicht; aber haben wir einerfeits nur wenig Zeit für die Beſprechung vieles 
Volkes zur Verfügung, fo gilt e8 andererſeits auch bei diefem methodiſchen 
Theile des Unterrichtes Maß zu halten, denn das Uebermaß des Vorgelegten 
würde nur Oberflächlichleit herbeiführen, während wir es auf ernftlidee 
Anfhauen, Beobachten, Vergleichen, Abftrahiren abgelegt haben; nur infe- 
weit dieſes erreicht werben fol, ift es dienlich Mehreres beizuziehen. 

Das erfte Blatt fei eine Abbildung der Pyramiden von Gizeh?) 
Es gilt, nachdem Einiges über Grundriß, Material, Zweck des Baues vor- 
ausgeſchickt ift, fürmlihe Uebungen im Sehen vorzunehmen. Bei geſchidter 
Leitung kann der Schüler Mancherlei von felbft bemerken: das Maſſenhafte 


9 


des Werkes, die mathematifhe Genauigkeit, die gleihmäßig überall wieder- 
tehrende Form: das eine weift hin auf den vefpotifchen Drud, unter dem das 
Bolt arbeitete, daB andere, auf bie hohe mathematifhe Ausbildung, durch 
bie die freigeftaltende Phantafie in enge Banden gefhlagen war. Das 
Gleiche gilt von den in der Regel als Dentkpfeiler einer Weihung dienenden 
Dbelisten, die fogleih mit erwähnt werden künnen. 

Die bei jenen Pyramiden befindliche Rieſenſphinx, die in einer Höhe 
von 65 Fuß umd einer Yänge von über 140 Fuß aus natitrlihem Felſen ber- 
ausgearbeitet worden ift, giebt ein bewundernswerthes Zeugniß, was genaue 
Berechnung und technifche Fertigkeit bei einem deſpotiſch regierten Volke leiften 
kann. Iſt aber auch bei der Erdichtung diefer fonderbaren Geftalt eine gewiſſe 
Phantafie nicht zu verfennen, fo werden wir doch zur richtigen Schätung 
viefer Kraft fogleih geführt, wenn wir als zweites Blatt eine Anfiht der 
Tempelanlagen von Edfu vorlegen. 10) Hier fehen wir eine ganze 
Alee von Sphinren — wie vor anderen Tempeln auch wohl Widderalleen 
— in denen umveränbert genau Lage, Geftalt, Geſichtsausdruck wieder— 
kehrt: das ifl Feine Kunft mehr, das ift mechaniſches Handwerk, welches es zu 
großer technifcher Fertigkeit gebraht hat! Die Allee führt zu dem eigent- 
lihen Tempel, deſſen Eingang von Pylonen gebildet if. Davor figen zwei 
Herrfcherfiguren von riefiger Größe, deren Ehbenbilver in allen ähnlichen An- 
lagen wieberfehren, mit gemau benfelben Berhältniffen der einzelnen Körper- 
theile. Man lernt darans, wie die Kunft auf ihren Borftufen blos durchs 
Rieſenmaß der Leiber das Erhabene auszuprüden ſich vergeblih bemüht, man 
lernt, wie der Geift des GStillftandes nach Schablonen gut zu arbeiten be— 
fühigt,, freie Geftaltungen aber unmöglich macht. 

Im Innern fällt die enge Stellung 1!) der Säulen auf, deren Kapitel 
meift 12) eine gefchloffene oder geöffnete Lotosblume darftellt. Wir fehen bie 
Kunft unter dem Einfluß des Material® und der umgebenden Natur. Die enge 
Stellung der Säulen ift nöthig, weil die Deden ganz aus Stein beftanden, der 
ohne die zahlreihen Stüten unter feiner eigenen Schwere gebrochen wäre, bie 
Lotosblume aber ift das heimifhe Gewähs Aegypten. Die genauere Be- 
Iprehung der Säulen, auf deren Haupttheile hier ſchon bingewiejen werben 
mag, würde ich für die griechifche Geſchichte auffparen. Der ägyptifche Tempel 
beftehbt aus einer größeren Anzahl unüberfihtlich zufammengefügter Theile, 
bie nach Bebürfniß aneinander gebaut find. 13) Es ift der ägyptiſchen Archi— 
teftur nicht gelungen, ein organiſch gegliedertes Ganze zu erfinden, in dem 
eine einheitliche Ipee ihren entſprechenden Ausdruck erhalten hätte, wie das 
beim griehifhen Tempel der Fall ift. 

Bon den Werken der plaftifhden Kunſt giebt e8 wohl nur wenige 
der Schule zugängliche Abbildungen ; fie ift faft ausfchlieglih im Dienfte der 
Architeltur geblieben, ohne aber mit ihr zu verwachſen. Pfeilerfiguren find 
gewiffermaßen nur angelehnt, ftatt wie bei den Griechen etwa als Träger ver- 
wenbet zu werben. Um wenigftens eine Anſchauung zu geben, könnte man 
als drittes Blatt den Felfentempel von Ibſambal vorlegen, der eine 
Reihe figender Figuren zeigt 1%): die Füße find noch nit von einander gelöft, 
der Oberleib bat eine faft militärifche Haltung, purd die wohl Würbe aus- 
gevrüdt werben fol, Arme und Hände find feft an ven Leib angeſchloſſen, aus 
den aufgerichteten Gefichtern ftarrt der gleiche, nichtsfagende Blid entgegen. 


10 

Enplid bringen wir nod ein Relief zur Betradtung, befonders um 
einen Vergleich zu ermöglichen, wenn fpäter die griechiſchen Reliefs befproden 
werben. 15) Die Aegypter haben in biefer ver Malerei näherftehenden Dar- 
ftellungsweife Vieles geleiftet, aber nicht eben Großes: eigentliche Compofition 
zu Gruppen findet fid) faum, ja nicht einmal eigentliche Individuen treten uns 
unter den Figuren entgegen: oft ift nicht Alter noch Geſchlecht zu erkennen, 
fondern wir fehen eine ewig gleihmäßige Wiederholung deſſelben Menfchen- 
bildes mit ftarrem Lächeln, nur die Könige find durch gemiffe Abzeichen 
fenntlic gemacht. 

Eigentbümlich find den Aegyptern vie zahlreihen Verſchmelzungen von 
verſchiedenen Thierformen, ſowie von Thierformen mit Menfchenformen. Auf: 
fällig ift, daß, während vie Griehen vom Menfchen meift ven Kopf feft- 
hielten, die Aegypter meift Thierköpfe den Figuren anfegten. Was aber das 
Stehenbleiben auf früh erftiegener Stufe befonders bekundet: Wenngleid 
Leib und Kopf der Figuren fih in Borberanfiht bietet, fo find Hände und 
Füße, wie wir e8 wohl bei den Fünftlerifchen Verſuchen unferer Kleinen and 
manchmal fehen, in Profil dargeftelt. Das Kaftenwefen, vie Priefterberr- 
haft, die jede Neuerung hinderten, traten auch ber Entwidelung der Kunft 
feindlich entgegen. 

Ein glüdlicheres Aufblühen der Reliefbildnerei würden wir zu be 
ſprechen haben in ber aſſyriſchen Geſchichte, wenn dieſe niht vom Schul 
unterrichte ganz ausgejchloffen wäre; auf die Architektur dieſes Volkes da- 
gegen läßt fih, um das beiläufig zu erwähnen, bei ver Lektüre bes britten 
Buches von Xenophons Anabafis hinweiſen. Die Rieſenbauwerke aus 
Lehmſtein zeigen, wie man von der Natur nicht begünftigt, ſich zu helfen 
gefucht hat; Tas benugte Material löſt audy zugleich das Räthſel, warum 
von den gewaltigen Werken dieſes bauluftigen Volles faft keine Reſte ſich 
erhalten haben. 


2) Die Kunſt der Grieden bis zu Alexander des Großen Beit. 


Größere Berüdfihtigung erheifcht natürlich die Kunft bei den Griechen; 
denn, ſagt Windelmann im Beginn des vierten Kapitels feiner Ge 
ſchichte der Kunſt des Altertbums: „Die Abhandlung von der Kunft ber 
Aegypter, der Etrurier und anderer Völker kann unſere Begriffe erweitern 
und zur Richtigkeit im Urtheil führen; bie von den Griechen aber fol 
fuchen, viefelben auf Eins und auf das Wahre zu beftimmen, zur Regel im 
Urtheil und im Wirken“. 

Indem wir und dem Griehenthum zuwenden, kann ich nicht unter 
laffen, noch einmal zu betonen, daß es fih für uns nit handelt um eine 
vollftändige Kunftgefhichte, noch meniger um eine Gefchichte der Künftler, 
fondern daß wir nur das zu erwähnen haben, was hiftorifh oder äſthetiſch 
von befonderer Bedeutung ift, während das Mittelmäßige und Untergeorbnete 
unberüdfihtigt zu bleiben hat. Unvollftändigfeit dürfte alfo der in folgenven 
Dlättern zu Grunde gelegten Auswahl am wenigften vorgeworfen werben. 


11 


a. Homeriſches Zeitalter. 


Selbſtverſtändlich ift, daß der Lehrer der alten Spraden dem Gefchichts- 
lehrer möglichft in die Hand arbeitet. So dürfte den erften Anlaß, über 
griechiſche Kunft zu ſprechen, wohl die Lektüre der Odyſſee bieten. Eine Be- 
Iprehung des bomerifhen Hauſes 16), fowie der oft gerühmten Leiftungen 
auf dem Gebiete des Kunftgewerbes ift für das volle PVerftänpni des 
Dichters und des von ihm gefchilverten Zeitalter8 unumgänglich nöthig. Die 
Paläfte des Antinoos, des Odyſſeus, des Menelaos veranlaffen einen Blid 
zu werfen auf die damalige Architektur, von der wir durch glüdliche Fiügung 
in den ehrwürbigen Ruinen der fogenannten pelasgifhen Königsburgen 17) 
noch belehrende Reſte überfommen haben. Steinbau und Holzbau ringen 
damald noch miteinander. Während man ſchon gemwölbeartige Hallen herzu- 
ftelen weiß durd Anwendung der Ueberkragung, ſcheint der eigentliche Palaft 
jelbft, natürlih mit Ausnahme der Umfaffungsmauern, größtentheils aus 
Holz gebaut zu fein. Das Material, Holz wie Stein, wirb theilmeife mit 
blinfenden Erzplatten verfleivet, um den Glanz des Anblide zu mehren, 
während an ven Deden die Holzconftruction frei zu Tage tritt. Der Palaft 
mit dem Löwenthore zu Mylenae zeigt die fefte, aber noch rohe 
Art des Mauerbaues, die indeß doch gegenüber ven früheren yfloptfhen Mauern 
ein bedeutender Fortſchritt iſt; zeigt, wie man finnreic den fteinernen Sturz- 
balten über dem Eingang durch Freilaſſung eines Dreiedes zu entlaften 
wußte und zugleich diefen ausgefparten Raum benugte, um bie Plaftit zum 
Shmude des Palaftes zu verwenden. Auffällig fcheint es, daß Tempelbauten 
von Homer nicht gefchilvdert werben. Es ift nachzuweiſen, wie das nicht zu= 
fällig, Sondern im Hiftorifhen Zufammenhange natürlih if. Denn eines- 
theil8 pflegt in den von Königen beherrſchten Staaten die Architektur fich 
mehr in Paläften als in Tempeln zu bethätigen, andererfeits hat der fchlichte 
Naturcultus der Pelasger das Bedürfniß nah Tempeln noch weniger auf: 
lommen laffen. 18) 

Gehört letztere Betrachtung vielleicht ſchon mehr dem gefchichtlichen 
Unterrihte an, fo wird der Erflärer der Odyſſee jedenfalls die Pflicht 
haben, eingehender hinzumeifen auf die hohe Stufe des damaligen Kunft- 
gewerbes, wie fie bezeugt wird buch die oft erwähnte Pracht und 
Schönheit des Schmudes und der Waffen. Was wir von den wunderbaren 
Eriheinungen vor und in dem Palaft des Antinous halten follen, von den 
goldenen und filbernen Hunden zur Bewahung der Schwelle und ven 
goldenen Jünglingen, welde die glänzenven Fadeln halten, um in ver Nacht 
den Schmaufenden zu leuchten (Od. VII, 91— 102), ift ſchwer zu fagen. 
Overbeck in feiner Kunftgefhichte (S. 43) meint, folde Werke, fowie aud 
die Wunbergeftalten von Dienerinnen bei Hephaiftos (Ilias XVII, 418; 
ſ. auch 373) habe man feinen triftigen Grund der Kunft in Homer’s Zeit- 
alter abzufprehen, wenn aud die dichteriſche Ausihmüdung an der Schilve- 
tung ihren Theil habe. Mag dem fein, wie ihm wolle, jedenfalls bleiben 
noch andere pradtvolle Werke in Metall, wie Miſchkrüge, Keſſel, Kelce, 
Spangen, Wehrgehänge, Rüſtungen, Schilde, vor allen ver Il. XVIII be- 
Ihriebene Schild des Achill 19), die uns einen hohen Begriff von der damaligen 
Kunftfertigkeit erzeugen müſſen. 


12 


b. Die hiſtoriſche Zeit bis nad den Perferkriegen. 
Bauftile. — Ornamente, — Die Aegineten. 


Der ungleich größere Theil der Aufgabe fält dem Geſchichtslehrer zu, 
der die homerifche Zeit zwar berühren, die größere Aufmerkfamfeit aber 
natürlich auf die eigentlich biftorifchen Zeiten zu lenken ſuchen wirt. 

Einleitend bat er zu bemerken, daß ſicherlich, wenn es auch unflar ift, 
in wie weit, bie griechiſche Kunft mit der orientalifhen zufammenhängt, und 
hat zu erörtern, warum gerabe die Griechen das Unerreihbare auf dem 
Gebiete der Kunft haben ſchaffen fönnen. Er kann hier der Führung Windel- 
manns folgen, ber bie Gründe hierfür im vierten Kapitel feiner Gejchichte 
der Kunft des Alterthbums weitläufig beſpricht. Es ift 1) der Einfluß Des 
Himmels: dieſer ſchafft eine heitere Witterung und bildet ſchönere Menfchen, 
die obendrein der Künftler täglih nadt vor Augen fehen fonntee 2) Der 
Einfluß der Verfaffung und der Regierung. Griechenland ift meift Sig ber 
Freiheit geweſen, daher ruhte niht auf einer Perfon allein das Recht groß 
in feinem Bolfe zu fein und fih mit Ausihliefung Anderer verewigen zu 
fönnen, fontern die Kunft wurde beanfprudt, um jedwedem Trefflihen, be= 
fonders aber den Siegern in den feierlihen Spielen Denkmäler zu fegen. 
Da diefe Denkmäler öffentlich gefett wurben, fo war dies ein um fo größerer 
Antrieb für den Künfiler, durch feine Leiftung ſich hervorzuthun. Durd 
die Freiheit bob fi) aber aud die Denkweiſe des ganzen Volkes, „vie 
Griechen waren in ihrer beften Zeit denkende Wefen, welche zwanzig und mehr 
Jahre ſchon gedacht hatten, ehe wir indgemein aus uns felbft zu denfen 
anfangen“. 3) Die Achtung der Künftler. Im bürgerlichen Leben wurden 
fie oft der höchſten Ehren theilhaftig; die Schöpfer hervorragender Kunſt-— 
werfe wurden wohl felbft einer Statue gewürbigt. Das Urtheil über ihre 
Leiftungen hing nit vom Eigenfinn unwiffenden Stolzes ab, fondern bie 
Meifeften des ganzen Volkes beurtheilten und belohnten fi. Sie wußten, 
daß fie für die Ewigkeit fhufen, wenn fie etwas Treffliches leifteten. 4) Die 
Anwendung der Kunft. Da fie den Göttern geweiht und fürs Heiligfte und 
Nützlichſte im Vaterland beftimmt war, und in den Häufern ber Bürger 
Mäßigkeit und Einfalt wohnte, fo erhielt fie fih in ihrer Grofheit. Der 
Künftler wurde nicht auf Kleinigkeiten oder auf Spielwerke durch Beſchränkung 
des Drtes oder dur die Laune eines Privatmannes beruntergefegt. 

Der Lehrftoff wird durch ſolche Erörterungen kaum vermehrt, denn 
die Erwähnung der alten wichtigen Beziehungen zwifhen Orient und 
Deeident, die Befprehung der Bedingungen, durd deren Vorhandenfein bie 
herrliche Blüte des Griechenthums gezeitigt werben konnte, gehören fo ſchon 
in den Kreis der Betrachtungen, wenn dem Schüler die glanzvolle Erfchei- 
nung dieſes Volfes verftändlicd werben fol. Auch daß die Athener befonders 
in den Vordergrund zu treten haben, ift eine Yorberung, bie wir nicht erft 
wegen der Berüdfihtigung der Kunft zu erheben brauden. — 

Beim Ueberfhauen der griehifhen Geſchichte wird es zunächſt als 
natürlich erſcheinen, bei der Schilderung der Akropolis im perifleifhen Zeit- 
alter unferen Anforderungen Genüge zu thun. Aber der Stoff wäre dann 
zu reih, als daß er in kurzer Zeit, wie wir fie doch blos beanſpruchen 
dürfen, mit Erfolg behandelt werben könnte. Dem plögliden Uebermaß 


13 


würde auch das Verſtändniß ſich verſchließen, und wir müffen deshalb ſchon 
früher eine Gelegenheit ſuchen, einen Theil des Stoffes auzubringen. Dieſe 
fheint fi mir pafjend zu bieten nad Beendigung der Perferkriege. 20%) Der 
für Athen jo wichtige Thefeustempel?!) etwa, der ja auch in der politischen 
Geihihte erwähnt werden muß, bietet einen paſſenden Anlaß. Unter Zus 
jiehung einer Abbildung des ebenſo herrlihen Neptuntempelg von 
Paeftum??), der ziemlich verfelben Zeit angehört, wird vorerft die doriſche 
Säulenorbnung erläutert ; und um die jonifche Säule gleich mit zur Anfhauung 
zu bringen, werbe eine Abbildung des Tempels ver Nike apteros?), 
der etwa auch aus jener Zeit ftamımt, zuvor Betrachtung vorgelegt. An beiden 
wird die Bedeutung der einzelnen Säulentheile nachgewiefen 24), die zufammen 
einen völligen Organismus bilden, und dann die Beiprehung angefnüpft über 
bie einfacheren Tempelformen 25) mit ihrer durchſichtigen harmonifchen Glie- 
derung und die Entwidelung derſelben zu dem großartigen Kunſtbau ver 
fpüteren Tempel; mit dem Namen und Zwed von Entafis, Architrav, 
Metopen, Triglyphen, Tymponon, ebenjo aber aud mit ven Heineren Zier- 
raten muß bekannt gemacht werben. 

Die Kenntnif der einfaheren Ornamente und ihre ſymboliſche Bedeu— 
tung ift für das Verſtändniß der griechiſchen Architektur jo nothwendig, wie bie 
Kenntniß der griehifchen Formenlehre für das richtige Verſtändniß einer 
Periode. Hervorzuheben ift bei Beiprehung verjelben, daß fie in ven beſſeren 
Zeiten der Kunft nie blos die Abſicht haben zu ſchmücken, fondern ſtets die— 
jenige anzubeuten, welches der Zwed eines Bautheiles innerhalb der ganzen 
Conſtruction if. Die griechiſchen Ornamente 2%) find theild dem Pflanzen- 
oder Thierreih entnommen, aber ftilifirt, d. h. nach Abftreifung alles Defjen, 
was am Individuum zufällig oder unregelmäßig ift; theils find fie Nach— 
ahmungen von Producten gewerblicher Thätigkeit, als Bänder, Seile, Schnüre. 
Sie find entweder gemalt oder in erhabener Arbeit angebradt. Die wid 
tigften Ornamente find: 1) sima oder Bekrönung, welche andentet, daß 
ein Bautheil frei endigt, oder nicht weiter belaftet ift. Hierzu werben meift 
leihte Palmetten und Kelche abwechſelnd verwendet, denen ſich zuweilen 
filifirte Blüten zugejellen, aber auch Akroterien und Stirnziegeln gehören 
hierher. Im Gegenfag hierzu drüdt 2) das kyma ein Belaftetfein und 
Stügen aus. Es find Pflanzenelemente, kräftige Blätter, die an der Spige, 
wie von einer Laft gebrüdt, ſich nach vorn überneigen; zuweilen find fie jo 
fonderbar ftilifirt, daß man fpäterhin theilmeife ganz vergeflen zu haben 
Iheint, welhe Idee urfprünglid zu Grunde lag. 3) Die Canellirung. 
Indem dieje an die Rinnen der Pflanzenftengel erinnert, welde, wie 3. B. 
der Schierling, eine ausgebreitete Blüte zu tragen haben, fol fie ben 
Charakter unbeugfamer Stärke verleihen. 4) Heftbänder und Heftichnüre. 
Sie ftellen eine Verknüpfung einzelner Theile dar und erjheinen demnach 
immer in horizontaler Richtung. Man unterfcheidet den torus oder Gurt 
in einfaher Geftalt oder als Geflechte, die taenia oder das Band, bie 
bejonders häufig in ber Form des vielgeftaltigen Maeander vorlommt, und 
die Schnur, theild mit aufgereihten astragali, theild gedreht. — Auf die 
Bedeutung der einzelnen Ornamente wird man öfters zurüdtommen müſſen, 
damit dies Kapitel recht geläufig wird. Am Tempel kommen alle viefe Orna— 
mente in mehrfachen Wiederholungen vor. 


14 


Ihrer Conftruction nah find die griehiihen Tempel hervorgegangen 
aus Holzbauten, durch die Art ihres Schmudes kennzeichnen fie fih als 
Außenbauten im Oegenfag zu unferen Kirchen; daher fommt es, daß fie 
mit wenigen Ausnahmen auf koloſſale Verhältniſſe verzichten, ſondern ihren 
Ruhm ſuchen im leicht überfihtliher Harmonie. 

Die Metopen des Thefeustempels veranlaffen eine vorläufige Erwäh— 
nung ber Verbindung von eigentliher Plaftit und Arhiteftur und leiten 
über zur Berradhtung bes etwa gleichzeitigen Athenetempeld von Ae— 
gina?), an dem uns die Giebelfelver, das werthuollfte Denkmal ber 
Skulptur jener Zeit, befonders intereffiren. Wir müffen uns auf den beffer 
erhaltenen Wefigiebel befhränfen. 23) Wer von Natur gut befähigt ift zu 
jehen, wird ſelbſt ſchon manderlei wahrnehmen; die gefhidte Ausnutzung 
bes Raumes etwa, die ein Vorbild gewefen ift für bie fpäteren Zeiten, ober 
die Strenge der Symmetrie, die im peinlichfter Weife befolgt if. Trotzdem 
ift übrigens Feine Steifheit vorhanden, fondern, abgejehen von ven fonder- 
barer Weife Inieenden Bogenfhügen, durchaus naturgemäße Haltung ber 
einzelnen Figuren. Fällt auch das gleihmäßige, faft verlegene Lächeln 
ver einzelnen Perfonen auf, fo darf dagegen mit Recht gerühmt werben, 
wie Körperlinien und Muskelſpiel vortrefflihd zum Ausprud gebradt worden 
find. Bielleiht darf man bier die allgemeinere Bemerkung anfügen, daß 
bie griehifhe Kunft bis zu ihrer höchſten Glanzperiode nicht ſowohl 
Schilderung von Geelenzuftänden — wie bie riftlihe Kunft — als viel- 
mehr die Darftellung äußeren Handelns und Lebens beabfichtigt hat. End» 
ih bietet dieſes Bild auh noh Anlaß auf die allgemein übliche fymbo- 
liſche Sprache der Kunft hinzuweiſen: Indem der Künftler rechts und Links 
von der mittelften Geſtalt liegende, faft horizontale Figuren anbrachte, hob 
er jene über die gewöhnliche irdiſche Größe hinaus: es ift eine Göttin; 
fie ift gewappnet, ja mit der Aegis verfehen: es ift Athene; zwei Parteien 
ftreiten fih um einen Leihnam; wer find fie? Die Kopfbevelung des 
einen Bogenfhürzen giebt uns Antwort: die phrugifhe Mütze macht ihn 
ald Paris kenntlih; wir haben einen Kampf der Griechen und Xrojaner 
vor und. Um welden Leichnam, läßt mit Sicherheit fih nicht behaupten. 
Dod könnte e8 wohl der vielbefungene Kampf fein um die Leiche des Achill. 
Liegt eine Abbildung vor nah einer fogenannten Neftauration 2%) dieſes 
Tempels, an dem die ehemals bemalten Theile bunt wiedergegeben find, fo 
ift Schließlich noch darüber zu fpreden, wie bie griechifche Plaftif, um bie 
einzelnen Kleineren Theile recht fihrbar zu machen, die bei der Entfernung 
des Beihauers leiht hätten verfhwinden können, fih der Schweſterkunſt 
bevient und durch jcharf von einander abftehende Farben die Unterſcheidung 
aud des Sleineren ermöglicht bat. Um mit der Eigenthümlichkeit des 
plaftifhen Stils dieſer Periode vertrauter zu machen, Könnte etwa nod ein 
Bild der Artemis zu Neapel30) vorgelegt werben. Iſt daffelbe auch nit 
archaiſch, fondern arhaiftifh, fo zeigt e8 doch deutlich ein anderes Charafte- 
riftifum diefes Stiles, nämlich das Zierlihe in Gewand, Haar und Auftreten. 

Der ganze Stoff fann auf 4 bis 6 Stunden vertheilt werden; bie 
Abbildungen bleiben ausgeftellt, bis fie nad einigen Wochen bei Befprehung 
des perifleifhen Zeitalters anderen weichen müſſen. 


15 


c. Das perifleifhe Zeitalter, 
Parthenon. — Phidias, Polyflet, Myron, 


Es ift bier nicht meines Amtes, die unvergleichlichen Verdienſte des 
Perikles um Athen fowohl, wie um die Menfchheit zu feiern. Sein Name 
ift mit der Geſchichte faft jeder Kunft unauflöslih verflodten; vie perifleifche 
Periode aber wird von Jedem, ver in der Weltgefhichte die Entwidelungs- 
geihichte der Menfchheit ſieht, als eine der beveutfamften, großartigften 
gepriefen. Die Größe diefer Zeit läßt fih am wenigften verftändlich maden, 
wenn man den Schüler nicht mindeftens etwas ahnen läßt von ihren un— 
erreichten künſtleriſchen Erzeugnifien. Doch gilt es, ſich weije zu beſchränken. 
Nach einer topographifhen Darftellung ver Afcopolis 31), dieſes Schagkäftleins 
griehifher Kunft, und einem kurzen Blid auf Propyläen 32) und Eredhtheum ?3) 
mit feiner Karparidenhalle 3), begnüge man fi) mit einer eingehenden Be- 
Iprehung des Parthenon 35), dieſes koftbarften aller Evelgefteine. Kein Menfch 
ift fo troden, fo phantafiearm, daß er nicht mächtig angeregt werde, wenn 
der begeifterte Vortrag des Lehrers, unterftügt von guten Abbildungen, dieſes 
Ihönfte Baudenkmal vielleicht aller Zeiten wieder in bie Gegenwart herein 
zu zaubern fucht. Aber nicht in allgemeinen Empfindungen jhwelgen, fondern, 
foweit es möglich ift, Rechenfchaft geben von dem, was uns gefällt und 
warum es uns gefällt! Freilich ift eine bedenkliche Klippe zu vermeiden: 
man darf nicht allzugelehrt Vielerlei in die Werke hineinlegen und heraus 
interpretiren, was der naive Befhauer beim beften Willen nicht finden faun. 

Am Parthenon fällt und vor allen Dingen auf die Harmonie der ein- 
zelnen Theile, die einheitlihe Durdführung des Grundgedankens: der macht- 
vol und mild ſchirmenden Landesgöttin bringt das durch fie reich gefegnete 
Bolt in feftlihen Yubel feinen Dank dar. — Kein gewöhnlicher Tempel ift 
es, fein Qultustempel, der dem Volke verfchloffen ift, ſondern ein Fefttempel, 
ben es betreten darf, wenn vor dem Bilde der Göttin die Giegespreife 
vertheilt werben in dem lichten, hellſchimmernden Innenraum. Wallen wir 
jelbft mit hinauf nah dem Heiligtum, um zu fehen und zu bewundern! 

Die erfte Berrachtung fei ven Gtebelfeldern 36) geweiht, von denen 
das öftliche die Geburt Athene’s, das weftliche die Befigergreifung des artifhen 
Landes durch Athene nah dem Weitkampf mit Poſeidon darftellt. 

Ein neidiſches Schidjal hat dieſe koftbarften Werte, nachdem fie lange 
der Zeiten Stürme getrogt hatten, zerftört und nur in Brudftüden ung 
überliefert; ein Heiner Troft ift es, daß wir durch rechtzeitig aufgenommene 
Zeihnungen in den Stand gefegt find, das Erhabene der Gefammtheit dieſer 
Compofitionen uns einigermaßen zu vergegenwärtigen. Bon ben ftarren 
Kegeln ängftliher Symmetrie hat die fortjchreitende Kunft ſich los gemadı, 
an ihre Stelle ift das freiere Gefeg des Gleichgewichts getreten. Der Raum 
ft au bier in kunftvollfter Weile ausgenugt. Und wie hat der Künftler 
den ſchönſten, fruchtbarften Moment zu erfaflen gewußt! Am weftlichen 
Giebelfeld, von dem wir mit Hilfe von Carrey's Zeichnungen uns eine aud- 
teihende Vorftellung ſchaffen können, läßt ſich das am beften ermefjen. Beide 
Götter, Arhene und Poſeidon, begehrten den Befig des attiſchen Landes. 
Um ven Streit zu ſchlichten, finden fi beide ſammt olympifhen Göttern 


16 


und dem Herrſcher des Landes, Kekrops, auf der Burg ein: Wer dem Land 
die größte Wohlthat erweifen würde, dem follte es zu eigen fein. Die Beiden 
treten mit ihrem Gefolge in die Mitte; die Andern lagern fih umher. 
Da tritt Pofeidon hervor: Ein Stoß in den Felfen! und eine falzige Duelle, 
das Symbol des Meeres und der Seeherrfchaft, jprubelt hervor. Da naht 
ſich Athene, fie läßt aus dem öben Geftein den erften Delbaum hervor— 
wachſen, das Symbol der nährenden Fruchtbarkeit des gebirgigen Landes. 
Ihr wirb der Befig der zufunftreihen Stätte zugeſprochen, ber beleivigte 
Pofeidon aber eilt zürnend davon und droht mit ſchwerer Rache. 

Der Künftler bat den Moment gewählt, wo eben ver Streit ent- 
ſchieden iſt; die Göttin will fiegreih das feitwärts ftehende Geſpann be= 
fteigen und wird freudig von ven Ihrigen begrüßt, leivenfchaftlich fchreitet 
mit mädtigem Schritt andererſeits ber befiegte Gott dahin; in der Mitte 
laſſen fih noh Spuren des Delbaumes und der Quelle erfennen. So ſehen 
wir, was vorher geihehen, ahnen wir, was fommen wird. 

Einzelnheiten zu ftubiren eigmen fih in dieſem Giebelfelde befonders 
ber eine Flußgott, von dem öftlihen Giebel vor allen ver fogenannte 
Thejeus und die beiden Frauengruppen, von denen ſchöne Abgüffe vielfach 
eriftiren. Thefeus?”) fowie der meift Iliffos benannte Flufgott 
zeigen und in fonft umerreichter Weiſe die Schönheit des menfchlichen 
Körpers. Dem ungeübten Auge wird e8 no fchwer fallen, dieſe hohe 
Schönheit zu erfennen; aber durd fortwährend erneuertes Anfchauen biefer 
Körperlinien läßt fih lernen, was ſchön ift, läßt es fih wenigitens 
fühlen. Bielleiht dürfte es fürberlich fein, des Vergleihs halber ein oder 
das andere Bild aus der früheren Periode, etwa vie Aegineten in ihrer 
doch noch ftarren Schönheit, daneben zu ftellen. „Wollte Jemand einwenden “, 
fhreibt unlängft ein feiner Kunſtkenner 35), „er vermöge das Schöne an 
ihnen nicht wahrzunehmen, fo ſchaue er fo lange und fo oft bin, bis fie ihm 
gefallen. Niemand halte das für Scherz. Das Auge wird nicht anders 
erzogen ald durch Gewöhnung an Gutes. Unverſehens wird es nad) einiger 
Zeit Freude am Sehen und am Schönen befommen.“ Daß aber viefe Bilder 
zu dem Schönſten gehören, dafür bürgt uns das Urtheil Danneder’s, ver 
an Welder jchreibt 39): „Der Thejeus und der Flußgott haben mid fo 
ergriffen, daß ich jagen muß, für mic ift e8 das Höchſte, was ich je in ber 
ganzen Kunft gefehen habe. Sie find wie auf Natur geformt, und doch habe 
ih nie das Glüd gehabt, ſolche Naturen zu jehen“. 

Ihnen reihen fih die Franengruppen würdig an. Man wirb be= 
dauern, daß die Köpfe fehlen; Bollftänbigfeit vermehrt die Freude am Be- 
jhauen, wenn auch das Fehlende, wie ja das bei den Köpfen ver griehifchen 
Statuen biefer Periode der Fal ift, nicht das Bedentfamfte if. Das Schöne 
liegt bei diefen Frauenbildern beſonders in der kunftvollen Audeutung der ver- 
ſchiedenen Stufen des Ueberganges aus achtlofer Ruhe in aufmerkfame Be- 
wegung, liegt in ber reihen Gewandung, die troß ihrer Fülle in natür- 
lichen Fluſſe ven durchſchimmernden Körperlinien fih anfügt. Hier läßt fich 
das Wejen der antifen Schönheit erfennen: natürlich-einfache Haltung in 
natürlich=einfacher Darftelung. Wer das nicht gleich erkennt oder fühlt, 
vergleiche diefe Bilder mit den fteifen Gewandftatnen früherer Zeit, mit ven 
gefucht eleganten Kunftwerfen fpäterer Periopen ! 


17 





Von den Giebelfelvern laffen wir die Blide herabaleiten auf bie 
Metopen. Da jeve Metopenplatte ein Ganzes für fi bildet, muß fie 
auh eine in ſich abgefchloffene Compofition enthalten, da aber mehrere zu 
gleiher Zeit überblidt werben können, jo ſetzte man diefe einzelnen Gruppen 
wenigftens auf je einer Seite des Tempels unter ſich durch einen Grund— 
gedanken in Beziehung. Die Höhe der Metopen über dem Befchauer und 
der ftarfe Schatten des weitausladenden Dachgefimjes machten es nöthig, 
die Figuren in Hochrelief zu arbeiten und den Grund, wohl aber auch 
einzelne Theile der Figuren, befonders Gewand und Attribute, durch Fräf- 
tige Farben abzuheben. 

Der Barthenon hat 92 Metopen 0), welche den Grundgedanken aus- 
vrüden, die Macht und Siegesgewalt Athenes zu verherrlihen, indem fie 
tbeild die Göttin felbft, theils ihre Schüglinge im Kampf gegen die gewal- 
tigen Widerfaher der neuen Welt- und Staatsorbnung zeigen. Es find 
dies der Kampf gegen die Giganten, gegen die Centauren, gegen die Ama— 
jonen und gegen die Trojaner. Diefe Bilder find im ſtarken Hochrelief 
ausgeführt und würden uns, fo zerftört fie find, zu eingehender Betrachtung 
einladen, wenn nicht ſolche Einzelftudien ver Schule fernbleiben müßten. Dod 
einige dürfen wir wohl vorlegen, um zu zeigen, welde Manichfaltigkeit in 
dem Gleichen der große Künftler zu entfalten verfteht. Faſt ftets find es 
nur zwei Perfonen, die auf einer Metope zu einer Öruppe vereinigt er- 
Iheinen. Wie verſchieden aber ihre Haltung, wie wechſelnd die Motive! 
Hier der heranftürmenve Yüngling, der des Ungethümes kraftvoll Herr wird, 
dort der fiegesfrohe Gentaur, der den Beflegten graufam zu Boden tritt. 
Denn der Kiünftler hat dafür geforgt, daß in fchönem Wechſel bald dieſe, 
bald jene Partei die Oberhand gewinnt, jo recht im Gegenſatz zu ben 
Schlachtenmalern unferer Zeit, die ängſtlich die ſchließlich fiegreiche Partei 
überall im Bortheile zeigen wollen. 

Treten wir dann unter die Säulenhalle, die den ganzen Tempel um- 
giebt, fo erbliden wir oben an der Wand der eigentlihen Cella ben koſt— 
baren Friest!), dieſe großartigfte Compofition wohl aller Zeiten, die in 
einer Länge von 522 Fuß die ganze Umfaffungsmaner umzog. Welcher 
Peenreichthum, gepaart mit dem größten Wechfel äußerer Erfcheinung, offen- 
bart fih ums hier! Welch’ großer Gedanke, dieſen langen Streifen zu 
ſchmücken mit der Darftelung eines Zuges, eines Feſtzuges zu Ehren ber 
Göttin! Hier durfte der plaftifche Künſtler die Schranke überfpringen, vie 
ihm fonft gezogen tft, daß er nur Gleichzeitiges auf einem Bilde barftellen 
darf, da das Ganze troß des engen Zuſammenhanges ſich doch in eine An- 
zahl feldftändiger Gruppen auflöft, die, weil fie nicht alle gleichzeitig über- 
blidt werben künnen, auch Ungleichzeitiges darftelen vürfen. Und fo ſehen 
wir denn an ber Stirnfeite bereits das Feſtgewand in ber Verfammlung 
der Götter von der Spike des Zuges überreihen, während auf der Nüd- 
feite noch die legten Vorbereitungen für die Aufftelung des Feftzuges ge- 
trofien werben. Wie ſchade, daß wir von all dem Schönen kaum einige 
Gruppen vorlegen können und dürfen! Doch reichen dieſe Hin, zw zeigen, 
in wie unendlichen Erfcheinungen der Künftler immer wieder die ſchöne 
Geftalt darzuftellen wußte, jei e8 in andächtig wilrbevoller, fei es in leicht- 
bemegter Haltung, ſei e8 im fittigen Weibe, im ernften Mann over im 

Menge, Gymnaſium und Kunft. 2 


"ana 


18 


ftürmifchen Yünglinge, jet e8 enblih in ber zur Verherrlichung ber feier 
aufgebotenen Roſſepracht. 

Durch ſolche Bilder vorbereitet, betrat der feftlich geftimmte Arhener 
dann ben eigentlichen Tempel12), und bier ſah er vor fih vie erhabene 
Göttin feldft, die Beſchützerin und Beherrſcherin feiner Stadt, feines Landes, 
fie, zugleih die Krone al der Fünftlerifhen Schöpfungen, die den Partbenon 
zierten. — 

Und diefe wunderbaren Werke rühren im Entwurfe wohl alle, in ber 
Ausführung wenigftens theilweife her von einem Manne, einem Künftler, 
wie fie die Götter felbft dem alten Athen felten gefhentt, dem großen 
Phidias. Daß viefer zu verfelben Zeit in Athen lebte, da der funftverftän- 
dige Perifles das Staatsruder führte, ift eine befonders günftige Fügung 
des Schidjale. Sein Schaffenstrieb, von feinem großen Freunde genährt 
und unterftügt in feiner Richtung auf das Ideale, hat die Welt mit ben 
ihönften Göttergeftalten befchenft, bie für immer vorbildlich geweſen fint. 
„Er allein“, fagt Welder, „erfhaute die Bilder der Götter und madıte fie an- 
ſchaulich.“ 

Die Athene Parthenos iſt uns nicht erhalten, ja nicht einmal eine 
genauere Nachbildung von ihr. Iſt es auch möglich, durch ſorgſame Zu— 
ſammenſtellung und Vergleichung aller ähnlichen Darſtellungen und aller 
Notizen über ſie zu erkennen, wie ſie etwa ausgeſehen haben mag, ſo müſſen 
doch ſolche Bemühungen der Schule fern bleiben; denn was nicht geſchaut 
werben kann, bleibt leerer Klang. Wir werben die ſchmerzliche Lücke anders 
zu ergänzen ſuchen. 

Beklagenswerth ift es, daß auch von dem berrlihen Zeus von 
Diympia, dem zweiten Hauptwerfe des Phidias, Nachbildungen fih nur in 
Münzen 13) erhalten haben, die auch für vie Schule nicht verwendbar find. Der 
fogenannte Jupiter von Dtricoli#!), der fo lange für eine Nahahmung 
des olympifchen Zeus galt, ift jegt dieſer Würbe entfegt; für die Schule aber 
ließe es fi dennoch empfehlen, bei diefer Gelegenheit jene vorzüglihe Düfte 
vorzuführen, die immerhin noch die großartigfte der uns erhaltenen Zeus- 
darftellungen ſein dürfte. Die Erfahrung lehrt, dag nah Erwähnung ber 
Kunftwerte des Phidias die Zuhörer das Verlangen hegen, ein Bild des 
Götterkönigs ebenfowohl zu fehen, wie auch eins der Athene, die ja bach 
den geiftigen Mittelpunkt aller ver vorher befprochenen Pracht bildet. Man 
erfläre die Sachlage und willfahre dem Wunſch. Und zwar würde ich mich 
unter den verfchiedenen Atheneftatuen für die Ballas Giuftiniani?b) ent- 
ſcheiden, nicht als ob fie harakteriftifher oder dem Werke des Phidias ähnlicher 
wäre al8 andere, fondern weil fie die befanntefte und ſchönſte iſt. Indem ber 
Lehrer aber den Jupiter von Dtricoli und dieſe Pallas, beides Werke aus 
römifcher Zeit, vorlegt, darf er nit unterlaffen, hinzubeuten auf die Ber- 
ſchiedenheit der Darftellung in diefen Bildern und in denen bes Partbenon. 
So faun auch dieſes Verlaſſen der chronologiſchen Reihe lehrhaft wirken. 

Wenden wir uns zunächſt dem Yupiter!!) zu. Wir verlieren viel 
dadurch, daß wir nicht einen majeftätifch thronenden Zeus mit dem Reich— 
thum feiner königlichen Attribute vorlegen können, daß wir auf eine Büſte 
hingewiefen find mit ihrem viel fchwerer zu beutenden Ausdruck. Zu gute 
fommt uns, daß dieſe Büfte einer Zeit entſtammt, die fich nicht mit fchlichter 


19 





Einfahheit der Darftellung begnügte, jondern dur Anwendung von mandherlei 
Kunftmitteln eine gefteigerte Wirkung bervorzubringen wußte Auffällig auf 
ven erften Blid ift dem naiven Beſchauer das mädtig den Kopf ummallende 
Haar. Das eigentlihe Haupthaar bäumt fi gewiffermaßen erft aufwärts 
und fällt kunftwol zu größeren Partieen vereinigt in mächtigem Bogen feit- 
wärts, der Bart ift im vollen Yoden gekräuſelt. Zweifellos ſoll hierdurch 
männlihe Kraft: und Schönheit angedeutet werben. Die itbermenfchliche 
Beisheit des Gottes wird bezeihnet durch bie eigenthümlich zweitheilig ge- 
baute, hohe, nad vorn ragende Stirn, während die halbgeöffneten Tippen 
einen milden Ausprud verleihen, vielleiht den Schein des eine Bitte 
Gewährenden erregen follen. Die kräftig geformte, breit vorfpingende Nafe 
endlich pflegt das Sinnbild der Energie zu fein. Die Büfte ift berechnet 
blos auf den Anblid ven vorn, denn im Profil wirkt der Bau der Stirne 
unfhön, und hinten zeigt fi in ber Behandlung des Hanres große Nach— 
läffigfeit. Auch viefes ift ein Kennzeichen fpäterer Kunftiibung, in der man es 
auf einen Hanpteffeft ablegte und Nachläſſigkeiten an gewöhnlich nicht gefehenen 
Theilen nicht ſcheute. 

Auch die Atheneftatmet), die wir vorlegen wollen, ift nicht frei von 
Fehlern, aber dieſe fpringen nicht in die Augen. Wir haben eigentlich nicht 
vie atheniſche Stabtgöttin vor ung, welde, ſei e8 fampfbereit, fei es nad 
dem Siege ruhend, immerhin aber kriegeriſch bargeftellt zu werben pflegt, 
fondern die Weltgättin der Klugheit und Weisheit, die die Waffen noch als 
Schmuck trägt, faſt möchte man fagen, wie zur Erinnerung an bie frühere 
Zeit des Kampfes. Ihr regelmäßig ſchönes Antlig in länglicher Form und 
ächt griechiſchem Profil trägt den Stempel überirbifcher Weisheit und philo= 
fophifher Seelenrube. Ihr Haupt ift bebedt von bem hohen korinthifchen 
Helm, deſſen Bifir, nah oben gefhoben, ven Kopf noch länger erjcheinen 
läßt. Den Helm krönt nad; Phidias' Vorgang eine Sphinx, das Sinnbilo 
böchfter Weisheit, während rechts und links an dem unteren Borbertheil 
vefjelben im fcheinbar getriebener Arbeit zwei Widderköpfe angebradt find, 
vermuthlich ala Symbole friegerifcher Thätigkeit. Ihr Gewand befteht aus 
einem feinen umgefchlagenen (Doppel-) Chiton, vor dem fie an der Bruft 
die Aegis mit dem Gorgoneion trägt, und einem über die linfe Schulter 
gefchlagenen großen Mantel aus jchwererem Stoffe. Die Aegis deutet noch 
darauf hin, daß Athene einft gleich ihrem Bater Zeus eine Göttin bes 
Himmeld und fomit aud der gewitterhaften Himmelserfcheinungen war. 
Sollte. über die Art der griehifchen und römischen Bekleidung mit ſchon 
das Nothwendigfte als befannt vorausgejegt werben dürfen, fo ift es hier 
einzuflechten 4%) ; denn die meiften meiblihen Statuen find Gewandſtatuen, 
deren richtiges Verſtändniß ohne dieſe Kenntniß nicht möglich if. An ber 
Arhene ift noch beſonders darauf binzumeijen, wie die Verſchiedenheit des 
Stoffes durch Berfchievenheit der Falten angedeutet, wie durch gefchidte 
Drapirung eine fhöne Abwechslung im Faltenwurf hervorgebradt ift, wie 
enblih durchs Aufftoßen des Chiton felbft unter den vertifalen Falten eine 
gefälige Manichfaltigkeit erzeugt wird. Die fchwerere Maffe der Gewan- 
dung findet fih am linken Arme, als Gegengewicht dazu trägt die rede 
Hand die Friegerifche Lanze. Es läßt fi nicht verfennen, daß das aller- 
dings fehr faltenreihe Gewand ver Göttin eine impofante Erſcheinung ver- 

2* 


20 


leiht; aber die Körperformen freilich gehen darunter verloren, nur an der 
rechten Seite läßt fi) die Linie des Beines annähernd verfolgen. Noch iſt 
die Schlange zu bemerken, welche fi) von ber linken. Seite der Göttin her 
hinten um dieſelbe herumfchlängelt und rechts im gefälligen Windungen zu 
ihr bis in die Kniegegend den Kopf emporhebt. Was kaun fie zu beveuten 
haben? ft die Statue wirflih in einen Tempel der Minerva Medica ge= 
funden, wie behauptet wird, fo ift fie die befannte Heilihlange; ebenfogut 
aber kann fie aud eine Erinnerung fein an bie Schlange, welche fih Hinter 
dem Schilde der. Athene Parthenos des Phidias emporringelte, und fie wäre 
fomit als attiſche Lokalgöttin aufzufaflen. 

Wir haben die Werke des Phidias, befonders den Barthenon, etmas 
ausführlich behandelt, damit den Schülern der Begriff des idealen ftrengen 
und erhabenen Stils aufgeht. Abſchied nehmen fünnen wir auch jegt noch 
nicht ganz von dieſer Kunftperiode, da es unerläßlich ſcheint, wenigftens Einiges 
von den faft zeitgenöffifhen Bildhauern Myron und Bolyflet zu befprechen. 

Und zwar fließt fih in natürlicher Weife an die vorigen Bilder an 
die Hera des Polyflet. Sie würde bei der Nachwelt wohl nit jo be— 
rühmt geworben fein, wenn man nicht bis vor furzem geglaubt hätte, in 
der Kolofjalbüfte ver Juno Ludoviſi) eine Nachbildung verfelben zu be- 
figen. Dieſer Glaube ift und zwar geraubt, aber trogdem möchte id mir 
geftatten, aus ähnlihen Gründen wie oben, biefes großartige Bild vorzu— 
führen. Sind doch Windelmann, Goethe und Schiller glei vol von Be— 
wunberung für biefe Büfte, bie in ver That die hoheitsvollſte Darftelung 
der Himmelstönigin if. „Indem der weibliche Gott“, fagt Schiller, „unjere 
Anbetung heiſcht, entzündet das gottgleiche Weib unfere Liebe, aber indem 
wir uns ber himmlischen Holpfeligfeit hingeben, fchredt die himmlische Selbft- 
genügfamkeit uns zurück.“ Wehnlih äußert fih Schoemann. Liebreiz und 
Majeftät gepaart, treten uns in dieſem Antlig entgegen, weldes das jhöne 
Weib nicht minder al8 die mächtige Gottheit zum Ausprud bringe. Die 
Züge find ernft, aber nicht ftreng, Augen und Nafe befunden Feftigleit und 
Klarheit; ihre ſchöne Stirn ift von anmuthig gewelltem Haar umrahmt, 
welches das gewöhnliche Attribut der Götterkönigin, die Stephane, ſchmückt. 
Diefe ift mit einem und aus ber Arditeftur befanntem Ornament, mit 
Polmetten und Kelden geziert, und vor der Stephane umgiebt das Haupt 
eine Binde, die Müller-Wiefeler als eine gefnotete oder gliederförmig ge— 
flohtene Wollenbinde bezeichnet, ein Haarſchmuck, der fid) befonders bei Der 
Demeter zu finden pflegt, deſſen Bebeutung mir aber unbefannt if. Einen 
Schleier, den die altgriehifhen Darftellungen der Hera ſtets zu haben 
pflegen, bat dieſe Büfte nit. Auf eine jpätere Entftehung dieſes Kunft- 
werfes weift wie das ausdrucksvolle Gefiht fo aud der Umftand bin, daß 
der Hinterfopf mit minverer Sorgfalt behandelt ift als vie Vorberfeite. 

Es dürfte bier die Stelle fein, Einiges mitzutheilen über bas 
Material!”), aus dem die Bildwerke hergeftelt wurden. Die brei 
Statuen, von denen unfere letten Betrahtungen ausgingen, nämlid ber 
Zeus und die Athene des Phidias, jowie die Hera des Polyklet, waren ge= 
arbeitet aus Elfenbein und Gold in der Weife, daß der innere Stern des 
Ganzen aus Holz, die äußeren förperlihen Theile aus Elfenbein, die Be— 
Heivungsftüde und Attribute aus Gold gemaht waren. Diejes Material 


21 


war fehr koſtbar und legte dem Künftler nicht geringe Beſchränkungen auf. 
In der Regel verwendete man theils Marmor, theild Metall, in jpäterer 
Zeit meift Marmor zu den Werken der Plaſtik. Benutt wurde, wie auch 
bei uns, beſonders die Bronce, deren Lichter, goldener Glanz, welcher anfangs 
die Linien durch die vielen Reflere unklar und zitternd erſcheinen läßt, bald 
ver dunfeln, grünen Patina weicht, welhe die Linien in ihrer Ruhe zur 
vollen Geltung fommen läßt. Die dunkle Farbe freilid, in der das Kunft- 
werf dann erfcheint, bringt einen Uebelſtand mit fih: feine, zarte Linien 
werden nur mit Schwierigkeit oder gar nicht wahrgenommen. Um dem zır 
begegnen, werben die Erzfiguren im ſchärferen Linien gebildet als vie 
Marmorfiguren. Ein anderer Unterſchied zwifchen beiden find die fühneren 
Stellungen und zarteren Einzelteile, befonders Attribute, die das fefte Erz 
zuläßt, der minder haltbare Marmor aber nit. Späterhin find viele Erz- 
bilder in Marmor nahgeahmt worden; der Kenner fieht — Copieen 
uch das Material des Originals an. 

Polgflet hat im Gegenſatz zu Phivias feine Werke meift in Erz ge- 
ftaltet und unterfcheivet ſich auch dadurch mejentlih von ihm, daß er, 
während jener ideale Götterbilder ſchuf, die Schönheit des menſchlichen 
Körpers als Zielpunft feiner Kunft anfah und anf biefem Gebiete Mufter- 
giltige® hervorzubringen wußte (Kanon). Wir wollen ein Erzbild von ihm 
wäher betrachten, welches nicht den mythologiſchen Kreifen, jondern fozufagen 
dem Genre angehört. 

Es ift niht nur geftattet, fonbern gerabezu geboten, bei ven Kunft- 
erzeugnifien der befprochenen Periode auch Bilder diefer Art zu berüdfichtigen, 
weil diefelben, im Gegenſatz zu unferer Zeit, einen großen Theil der Kunft- 
thätigfeit beanfprucdhten: ja nichts war gewöhnlicher in Griechenland, als 
daß man Sieger, nicht etwa blos in den großen Nationalipielen, fondern 
auch in anderen äffentlihen Spielen, mit einem Denfmale belohnte, das 
freifih nicht ihr Portrait wiebergab, aber einen ſchönen Menjchen, vargeftellt 
in der Ausübung oder mit einer Andeutung ber Kunft, in welcher der Sieg 
errungen worden war. Es ſcheint nicht unangemeflen, eine Heine Anzahl 
folder Genrebilver gleichzeitig vorzuführen, die durch einen einheitlichen Ge— 
banfen verbunden find und zugleih von der Kunft einzelner namhafter 
Blaftiker Zeugniß ablegen. Stellen wir folgende zufammen: 1) für Polyklet 
den fogenannten Diabumenos*°), der früher in der Billa Farnefe ftand. 
Zwar wird neuerdings bezweifelt, ob dieſe Marmorftatue wirflih nad einem 
Erzoriginal des Polyklet gearbeitet fei, aber fo lange die größten Autoritäten 
uch darüber getheilter Anficht find, dürfen wir getroft der Tradition folgen. 
2) Für Myron, einen Künftler jener Zeit, deſſen wir nothwendig geventen 
müffen, ven Disktobol#), entweder nad der Marmorcopie in ber Billa 
Maffimi oder nad ber etwas abweichenden im Batifan. Diefem Tiefe ſich, 
um das und unbefannte, aber intereffante Spiel des Disfuswerfens recht zu 
veranfhaulichen 3) ein anderer DisfoboL>0) zugefellen, ver im Batikan fteht, 
und früher als ein Werk des Naukydes, jest wohl auch als ein Werk bes 
durch feine Arbeiten in Olympia berühmten Alkamenes gilt; 4) zur Er- 
gänzung bed dargeftellten Borganges eine Bronceftatue eines Disfobolos 
in Neapel, die ih nirgends erwähnt finde, deren Photographie 1) mir 
aber vorliegt. | 


22 


Altamenes (oder Naufydes) führt uns einen jugendlich ſchönen Körper vor 
in ruhiger Stellung, mehr aufs linfe als aufs rechte Bein geftügt. Die rechte 
Hand und der Ausdruck des in einige Entfernung vor ſich hin blidenden Ge- 
fiht8 zeigen uns, daß er in Gedanken den Wurf erwägt, ja, man möchte 
jagen, ermißt, während er in ber fräftigen, nad unten gejtredten Linken vie 
Diskusſcheibe hält, um fie im rechten Augenblid fofort der Rechten zureichen 
zu können. Mit dem rechten Fuße, auf deſſen fihere Stellung viel anfommt, 
taftet und gräbt er fih fürmlicd einen fiheren Stand. Iſt dem Werfer 
dann der rechte Moment erfchienen, jo faht die Rechte ven herübergereichten 
Disfos und holt weit aus, der Körper wirft ſich mit feinem Gewidt vor— 
wärts aufs rechte Bein, an defien Knie vie linfe Hand ein Wiberlager 
findet ; die rechte Hand ſchwingt die Scheibe ausholend weit nah hinten, 
jo daß ber rechte Oberkörper mit zurüdgeriffen wird, und der rechte Fuß 
bohrt fih mit faft krampfhaft gebogenen Zehen in den Boden ein. Dieje 
Stellung, voll der höchſten Anftrengung und doch mementaner Ruhe, wo ver 
Arm eben nah hinten ausgefhwungen hat und fogleih nad vorn fih be— 
wegen wird, um im kräftigem Wurf die Scheibe zu entjenvden, diefe Stellung 
ift in dem Disfobol des Myron wiedergegeben, der hierdurch bewies, daß 
er Menjhen ebenfogut darzuftellen wußte wie Thiere. 

Das Neapolitaner Erzbild zeigt dem folgenden Moment: Die Scheibe 
ift entflogen, ber Augenblid der Anftrengung vorüber. Das vorher ange- 
zogene, aber frei ſchwebende linfe Bein hat ſich vorgefegt, um ben ganzen 
nah vorn flürzenden Körper aufzunehmen, während das rechte in feiner 
Stellung geblieben ift; der Kopf und die rechte Hand find erwartungsvoll 
nad vorn geftredt; man fieht dem Geficht, das nod in den Zügen die eben 
beftandene Anftrengung erkennen läßt, die haftige Frage an: Habe ih das 
Ziel erreicht? habe ich die Anderen überfhoffen? Die vierte Statue endlich, 
der Diabumenos, ftellt einen zarten Jüngling vor, der ſich die Siegerbinde 
umlegt. Worin er gefiegt hat, erfahren wir durd feine Andeutung. Biel- 
leiht im Lauf? Schmädtig genug wäre der Körper dazu. Der Jüngling 
ruht leicht auf dem etwas zurüdgezogenem rechten Bein, und dadurch wird 
die Gleihmäßigfeit der beiden Körperhälften vermieden, die fonft entſtanden 
fein würde, da die Handlung fo ſchon gleichartige Bewegung beider Hände 
mit ſich brachte. Es wird als ein befonderer Fortfchritt in der Plaftif er— 
wähnt, der an Polyflets Namen geknüpft wirb, daß man erfand bie Figuren 
auf einem Bein ruhen zu laſſen SStandbein — Spielbein), während 
man früher ven ganzen Körper gleichmäßig von beiden Beinen tragen lief. Mag 
nun ber Erfinder fein, wer ba will, jevenfalls leuchtet ein, daß dieſe Er— 
findung für Erreihung größerer Schönheit von höchſtem Belang geweſen ift, 
ba fo erft, wenn eine tragende und eine getragene Körperhälfte unterſchieden 
wurden, aumuthige Leichtigkeit und bewegte Manichfaltigkeit zum Ausdruck 
gebracht werben fonnte. 

Weiter dürfen wir den Kreis unferer Betrachtungen nicht ziehen, wenn wir 
nicht die buch unfere Behandlungsweife geftedten Grenzen überfchreiten wollen. 
Ob etwa noch Paeonios, der Künftler, welcher ven olympifhen Tempel mit 
zu zieren hatte, zu behandeln ift, wird fich im nächfter Zeit entfcheiden, wenn 
fih die jet herrichende freudige Aufregung über bie neuen, faum noch erwar=- 
teten Bunde von Olympia zu einem befonnenen Urtheil abgeflärt haben wird. 


23 


Den für diefe Periode gebotenen Stoff denke ich mir jo behandelt, daß 
man auf die Beichreibung der Akropolis und des Parthenon eine ganze 
dur nichts gekürzte Stunde verwendet, und einen Theil einer zweiten auf 
Nepetition, das Webrige aber in vier auf einander folgenden Gejchichtd- 
ſtunden zur Beiprehung und Anfchauung bringt. 


d, Das Zeitalter Aleyander des Großen. 
Der korinthiſche Bauſtil. — Stopas, Prariteles, — Die Niobiden. — Lyſippos. 


Da ber peloponnefifhe Krieg ſowohl, wie die darauf folgenden blutigen 
Fehden nur felten die für Kunftthätigkeit nöthige Ruhe auffommen Tiefen, 
fo ift der nächſte Excurs erft einzuflechten zur Zeit Aleranders des Großen. 
Der Charakter der Kunft bat fih im Laufe des Jahrhunderts nit un— 
weientlih verändert. Die conftructiven Elemente find bei der Architektur 
allerdings biefelben geblieben. Der Gewölbebau ift entweder in Griechenland 
nie befannt gewejen, oder, was wahrjcheinlicher ift, verfchmäht worden, da 
das prächtige feite Steinmaterial ihn entbehrlich machte. Aber das Streben 
der Baukunſt ift einestheild mehr auf das Zierlihe und Elegante gerichtet, 
anderntheils ſucht fie nicht felten durch große Ausvehnug der Bauten oder 
dur große Pracht zu wirken. 

Etwas vor Alerander’s Zeit entftand in Tegea unter Skopas' Leitung 
ber Athenetempel, der als das prächtigſte und größte Heiligtum des ganzen 
Peloponnes galt. Außen war er von jonifhen Säulen getragen, das Innere 
zeigte zwei Reihen Säulen übereinander, und zwar unten borijche, oben 
torinthifche, die angeblich bier das erfte Mal verwendet wurden. Der Apollo- 
tempel zu Milet hatte 10:21 Säulen und einen Umfang von 164x303 Fuß. 
Als das glänzenpfte Werk aber der damaligen Zeit, an dem die nambaftejten 
Künftler gearbeitet hatten, galt das Maufoleum von Halikarnaffus. 

Bon aller viefer Pracht und Herrlichkeit ift zu wenig erhalten, als daß 
wir uns nod ein flares Bild machen könnten. Wir find für dieſe Periode 
angewiefen auf einige Heine, aber höchſt zierlihe Monumente, die fi in 
Athen erhalten haben, aus weldhen wir uns zu näherer Betrachtung das 
fegenannte Denkmal des Iyfilrates?) auswählen. Es ift ein chora— 
giſches Denkmal. Der Chorführer der Phyle, welche in den zu Ehren bes 
Dionyfos aufgeführten Tragdvien und Komödien gefiegt hatte, erhielt ald Preis 
einen ehernen Dreifuß, den er aber die Pflicht hatte, zur Erinnerung an biefen 
Sieg öffentlich aufzuftellen. Cine ganze Straße in der Nähe des Theaters 
hieß nah dieſen Dreifühen Tripodenſtraße. Je nah den Mitteln oder dem 
Willen des Choragen erhielt ein foldyer Dreifuß einen mehr oder minder 
foftbaren Unterfag. Das Denkmal des Lyſikrates ift aus pentelifhen Marmor 
gearbeitet, mißt im der Höhe 34 Fuß und ftellt in der Form ein Feines 
forinthifches Aundtempelhen vor. Der ganze Bau zerfällt in drei Theile: 
den Unterbau, ven Oberbau und die Krönung. Ueber vier wenig binter- 
einander zurüdtretenden Stufen erhebt ſich ein Fleiner vierediger Quaderbau 
und darauf der von forinthifchen Halbjänlen getragene Oberbau. Die Kapitelle 
find in der zarteften, reichiten Form gearbeitet (kallimachiſches Kapitel). Aus 
einem Kelch von Akanthusblättern, welche die untere Hälfte der Höhe deſſelben 
einnehmen, erheben ſich Blumenftengel, welche ſich je zu zwei an den Eden 


24 





des aufliegenden Abafus zu einer Volute geftalten, während Heinere Stengel, 
die fih in der Mitte zwiſchen je zwei Eden vereinigen, eine Palmette tragen. 
Der Architrav ift dreitheilig und trägt die Weiheinihrift, aus welher man 
erfährt, daß bei dem Feſtſpiele Lyſikrates Chorag war, die Phyle Alamantis 
durch den Knabenchor gefiegt hat, Theon der Flötenjpieler, Lyſiades ver 
Didter, Euainetos der Archon des Jahres war. Der darüber fi erhebenve 
Fries ift nicht, wie dies bei dem borifchen der Fall war, in Triglyphen und 
Metopen getheilt, ſondern glatt und darum geeignet, eine fortlaufende bild— 
lihe Darftellung 52) aufzunehmen. Und wie geiftreih hat ein plaftifcher 
Künftler diefen Raum benugt! Er führt die aus Homer und Ovid und 
wohl aud aus Genelli’s Zeihnung befannte Scene vor, wie ber jugendliche 
Dionyſos fih an den torrhenifchen Seeräubern rächt. Schade iſt es, daß es 
wohl noch Feine Abbildungen giebt, durch die dieſe reizenden Reliefs, fo 
ziemlich die einzigen Originale aus jener Zeit, der Schule zugänglich gemacht 
werben fönnen. Auf den Fries folgt das Gefims mit Zahnſchnitten darunter 
und Afrotherien darüber, denen auf dem Dad noch ein Kranz in ver Geftelt 
des fjogenannten laufenden Hundes (überfchlagender Wellen) parallel läuft. 
Die Krönung befteht in einem Marmorftänder, ver reih mit Alanthus— 
blättern und Ranfen verziert ift und auf dem fi ber jegt verſchwundene 
Dreifuß erhob. 

Bon den plaftifhen Künftlern viefer Periode haben vor allen zwei un— 
vergänglihen Ruhm erworben, Stopas und Prariteles. Auch hier Hat 
fi der Stil geändert. Die Zeit, wo die erhabene leivenfchaftslofe Ruhe oder 
die bloße körperliche Bewegung das Ziel der künſtleriſchen Darftellung war, 
ift dahin gegangen zugleich mit den einfacheren, gemefjeneren Verhältniſſen 
des früheren griehifchen Lebens. Einerſeits find in und nad den erbitterten 
politifhen Kämpfen die menfhlihen Leidenſchaften und die Sinnlidfeit mehr 
bervorgetreten, und die Kunft fpiegelt das Wefen ver Zeit wieder, anberer- 
ſeits hat das Erhabene dem Liebreiz und der Grazie weichen müſſen. Dieſer 
Zeit gelingen deshalb beſonders die Geſtalten der Götter, welche ein ſeeliſches 
Leben bezeichnen und in jugendlicher Anmuth blühen, oder Gruppen, in 
denen eine heftig bewegende Leidenſchaft zum Ausdrud gebracht werden foll. 

As ein Beifpiel von Kunftwerten der erfteren Gattung aus biefer 
Periode galt bis vor Kurzem ein Apollo Kitharvedos8%) im Batikan, 
den man für eine Copie eines Werkes des Skopas hielt; eine Anſicht, die jetzt 
auch bedenklich erjchiittert 54) if. Wehnlih mag aber doch wohl der Apoll 
bes Skopas ausgeſehen haben, und fo dürfen wir es wohl noch wagen, dieſes 
Bild vorzulegen. Wir haben vor uns den Apoll als Geber des Gefanges, 
jelbft als Sänger gefleivet und bie Kithara fpielend. Das Gewand, welches 
er trägt, war früher gewiffermaßen bie Tracht der gottbegeifterten Sänger, 
die Kithara aber unter allen griehifhen Inftrumenten, wie Conze bemerkt, 
das vollfte und Flangreichftee Das Gewand ift ein Aermelditon, der hoch 
oben an der Bruft geglirtet, talarfürmig bis auf die Erbe herabwallt und 
in feinen bewegten Falten ebenfo wie ber vom Ritden herabhängende Mantel 
das raſche Vorwärtsjchreiten des Gottes andeutet. Die Formen des Körpers 
find durd die Bekleidung hindurch zu erkennen. Die Kithara ift mit einem 
breiten Bande befeftigt, mit der Linken hält fie der Gott, mit der Rechten 
Ichlägt er in die Saiten des Inftrumentes, das verziert ift mit dem Bild 


25 
des aufgehängten Mariyas (von dem freilich nur die Fühe antik find). Das 
Haupt ift befränzt mit dem Yorbeer, dem gewöhnlichen Attribute des Gottes. 

Meift wurde Apollo nadt dargeftellt, und zwar in jugenblicher Schön 
beit. Das jugenblichfte Bild aber von ihm ift das des Brariteles, ver foge- 
nannte Sauroftonos), von vemNahbildungen in Marmor und Erz noch 
exiſtiren. Es ift eines ber wenigen Bilder jener Zeit, von denen man nod 
mit Sicherheit glaubt, Copieen zu haben, und verdient für uns deshalb den 
Vorzug vor dem Eros deſſelben Künſtlers. ine tiefe Idee, wie wir fie fonft 
in den Götterdarftellungen wohl zu finden pflegen, drüdt der Sauroktonos nicht 
aus, er fann ung aber als Vertreter dienen für die Genrebilder aus dem Kreife 
der Götter; denn wie die griechiſchen Dichter, fo liefen auch die anderen Künftler 
die Götter nicht ungern in rein menfhlihen Yagen und Handlungen auf: 
treten, bejonders Dionyfos, Aphrodite, Eros und Zeus. Unfre Statue bringt 
einen jugendlich ſchönen, ſehr ſchlanken Körper zur Anſchauung, der auf dem 
teten Beine nadhläffig ruht. Während der linfe Arm fih auf einen Baum- 
famm ftütt, ift bie rechte Hand mit irgend etwas Spigigem bewaffnet, und 
das nad vorn gebeugte Geſicht lugt nad der VBorberfeite des Baumſtammes, 
an dem eine Eidechſe mit neugierig vorgeftredtem Kopfe aufwärts kriecht. 
Im nähften Moment wirb ver Stachel fie treffen. Es kann beiläufig auf 
die Stügen aufmerffam gemacht werben, welde das Erzbild wohl nicht hatte, 
die aber bei ver Nahahmung in Marmor nöthig wurpen. 

Lehrreich wäre es, bei dieſer Gelegenheit vergleichsweiſe noch die ältefte 
erhaltene Statue des Apoll, die von Tenea5°), fowie diejenige mit dem höchſt 
gefteigerten geiftigen Ausbrud, die im Belvedere des Vatikan 3), vorzulegen, 
und fo gewilfermaßen tie Entwidelungsgefhichte der Geftaltung des Gottes 
zu verauſchaulichen. 

Dem apollinifhen Kreife gehört auch das großartige Kunſtwerk an, zu 
deſſen Betrachtung wir uns jegt wenden, und das uns ald Mufter dienen fann 
für die fogenannte freiere Gruppe, id meine die Niobiden®t), Der Glaube, 
der fi längere Zeit gehalten bat, daß vie in Florenz aufbewahrten Niobiden, 
ergänzt durch einige andere, urjprünglid das Giebelfeld eines Tempels 
geſchmückt hätten, ift jest aufgegeben. Wie man fih ihre urfprüngliche 
Stellung zu denken hat, diefe Frage ift ein umgelöftes Räthſel, auch welde 
Anordnung der Figuren die richtigfte ſei, fteht noch nicht feſt; daß bie 
niebrigften auf bie äußerſten Flügel gehören, ergiebt fih ans dem Geſetz 
der Poramide, die bei größeren Gruppen faft ftets wiederlehrt. Halten wir 
ung an die Anorbnung, wie fie Overbed giebt; fie zeigt jevenfalld die ein- 
zelnen Geſtalten durch einen einheitlichen Gedanken verbunden. Mit Original- 
fatuen haben wir es übrigens auch bei ven Florentiner Niobiden nicht zu 
thun, fondern nur mit einer, und zwar nicht der beften von vielen Wieder- 
bolungen, von denen uns fonft aber nur bürftige Nefte aufbewahrt find. 

Es handelt fih um den vermuthlicd ven Schülern aus Dvid oder wenigfteng 
aus der Sagengefchichte befannten Untergang der Niobe mit ihrem ganzen 
Geſchlechte. Niobe, des vielbefungenen Tantalus Tochter, des thebaniſchen 
Königs Amphion Gemahlin, einft Gefpielin der göttlihen Leto, hatte fi 
fol; auf ihre reihe Nahlommenfhaft der früheren Freundin gegenüber 
gebrüftet, die ja nur den Apollo und die Artemis geboren babe, während fie 
Mutter von fieben Söhnen und fieben Töchtern ſei. Hierdurch ſchwer 


26 


gefränft, bat die Göttin ihre Kinder, die Vermefenheit des irdiſchen Weibes 
zu ftrafen, und die beiden Geſchwiſter, die Götter des langhinftredenden 
Todes, ergreifen den Bogen und vollführen den granfamen Wunfh ver 
Mutter. Niobe fieht in plöglichem Tode ihre ſämmtlichen Kinder ‚vahin- 
fterben, fie erftarrt darüber vor Schmerz und wird von den Göttern, ver— 
wandelt in Stein, auf die einfamen Höhen des Sipylus in die Nähe ihrer 
Heimat verfegt, wo man in einem Tropfjteingebilde nod jest ihre Geftalt 
erkennen faun. 

Die Gruppe ift in dem Augenblide dargeftellt, wo bie töbtlihen Ge— 
ſchoſſe treffen. Die rächenden Götter jelbft find unfidhtbar, aber die nad 
zwei verjchiedenen Seiten aufwärts gerichteten Blide der Meiften deuten uns 
den Standpunkt der Götter an. Die Niobiden find theils fhon verwundet, 
theils ſuchen fie fih vor dem Todespfeil zu fchitgen, alle aber ftreben fie, 
ſoweit fie noch können, hilfefuchend der Mitte zu, wo bie Mutter fteht, im 
ihrem Schoße das jüngfte ZTöchterlein bergend. Die bewundernswerthe 
Kunft in der Darftellung dieſer Schredenfcene zeigt fi, wie Dverbef mit 
Recht bemerkt, befonders darin, daß wir beim Anblide derjelben nicht Ent- 
jegen oder Abſcheu, ſondern Mitleid und Furcht, wie bei einer gewaltigen 
Tragödie empfinden. Kein Zeichen phyſiſchen Leidens, fein Weheruf und 
Angftgefchrei, jondern helvenhaftes Erliegen gegenüber der höheren, unver— 
föhnlihen Madt! 

Werfen wir furz einen Blick auf die Figuren, wie fie der Reihe nach 
bei Overbeck angeorbnet fin. Links der erfte Sohn, der allerdings nur ver- 
muthungsweife der Öruppe zugefellt wurde, ift in ven Rüden getroffen. Während 
er mit ber linfen Hand nad) der Wunde greift, hebt er vie Rechte wie abwehrend 
nad) oben. Der nächſte Sohn ſucht ſich fliehend zu retten, während fein Blick 
nad) der Stelle gewendet ift, von der die Gefahr droht. Die nächſtfolgenden zwei 
Figuren find nad) Canova's trefflicher Vermuthung zu einer Gruppe vereinigt. 
Ein Sohn ftößt in feiner Flucht auf eine feiner Schweftern, bie, indem ihr 
Gewand herabfällt, „still wie eine gefnidte Blume“ dahinſinkt; er fängt fie 
fanft mit dem linfen Arm auf und hebt mit der Rechten fein Gewand, wie 
um fie zu deden. Die nächte Geftalt ift eine Tochter, die, mit der rechten 
Hand das Gewand haltend, mit angftooller Geberbe den Blid auf die Mutter 
richtend, rafchen Laufes zu dieſer eilt. Wenn irgenpiwo, jo ift hier die ſchwere 
Aufgabe, den rafhen Lauf fünftlerifh ſchön varzuftelen, glänzend gelöſt. 
Bejonders bewundert wirb eine ältere, noch ausprudsvollere Ueberarbeitung 
biefer Figur 57), die im Batifan aufbewahrt wird. Ihrem ftürmifch flatternden 
Gewande, unter deſſen edlem Faltenwurf die körperlichen Formen Har hervor- 
treten, glaubt man die Eile der tödtlihen Angft anzufehen. Die folgende 
Schwefter, die der Mutter am nächften ift, trägt fchon die Tobeswunde in 
fih, ſchmerzlich ſeufzt fie auf, ihre Züge und Muskeln erjchlaffen jhon: im 
nächſten Augenblid wird fie zufammenftürzen. 

Auf der anderen Seite liegt zu äußerſt töbtlich getroffen ein Sohn bin- 
geftredt, die Linke hat unter der Bruft nah der Stelle gegriffen, wo er bie 
Wunde empfangen hat, mit ver Rechten ſucht er im Sterben noch ſich zu ſchirmen. 
Auch der nächſtfolgende Bruber ift ſchon getroffen, aber nicht gebeugt; faft 
trogig blidt er noch zu der Tod entjenvenden Gottheit hinauf. Der nad) links 
ſich anſchließende Bruder fteht auf der vorliegenden Abbildung mit dem rechten 


27 

Fuße hinter einem Felſen, ob er verlegt ift, läßt ſich wohl nicht entjcheiben. 
Mit hoch aufgehobener Rechten ftürmt er nad) der Mitte. Es folgt ein angftvoll 
fi) zufammendridendes Mädchen, die furchtſam emporblidt und beide Hände 
erhebt; ob zur Abwehr ober zur Bitte, fcheint unklar. Für ihre Jugend dürfte 
das Flehen dod nicht unangemefjen fein. Dann folgen wieder zwei Geftalten, 
bie man zu einer Öruppe vereinigt bat: der Pädagog mit dem jüngſten 
Sohn. Mit erhobener Rechten flieht ver Knabe, fein Erzieher umfaßt ihn 
ſchützend mit der Rechten, während er die Linfe wie erftaunt erhebt. Seine 
Tracht giebt ihn als einen Mann zu erkennen, ver nicht zur Familie gehört; 
ver Kopf ift ergänzt nach der richtigen Vermuthung, daß hier nur ber 
Päragog feine Stelle haben könne. 

Während alle dieſe Geftalten rechts und links mehr oder weniger im 
Profil gehalten find, ift pie Mutter Niobess) als Mittelfigur kenntlich gemacht 
durch ihre Stellung nah vorn, fowie auch durch den größeren Maßſtab 
ihrer Formen. Während alle anderen durch die von zwei Seiten drohende 
Gefahr erfchredt fliehen, ift fie nur ihrem ängſtlich die Mutter fuhenden 
jüngften Töchterchen entgegengeeilt, das beweift die noch nachhallende Be— 
wegung ihres Gewantes und die Haltung ber linfen Hand, die den in 
Folge des rafhen Herankommens zurüdbleibenden Mantel nachzieht. Mit 
der Linken ſchmiegt fie jchügend das Kind an ihr linkes Knie. An Flucht 
benft fie nicht, demm fie weiß, daß zu entrinnen unmöglich ift; noch weniger 
läßt fie fih zum Wlehen herab, denn fie erfennt die Rache der Göttin, die 
unverſöhnlich ift: mit hoheitsvollem Schmerz ergiebt fie ſich in das furdt- 
bare, unabwendliche Geſchick. 

Es bedarf feiner Worte des Lobes für den Künftler, der in fo maf- 
voller Weile und in fo geſchickter Manichfaltigfeit des Ausprudes und ber 
Haltung dieje große Scene uns vorführt. Nur wollen wir no in einigen 
Stüden jeine Kunft zu verftehen ſuchen. Um läftige Gleihmäßigfeit der Be- 
wegung zu vermeiden, nimmt er an, daß die Götter von verſchiedenen 
Stellen aus ohne Wahl ihre Pfeile entjenden, die in ihrer Bahn fich freuzen ; 
mag man darum bie Gruppe auch anorbnen, wie man will, niemals ſehen bie 
Figuren nad derfelben Stelle, noh au etwa fümmtlihe Mädchen nad ber 
einen, fümmtlihe Jünglinge nad der andern. Die Zahl der Motive zu 
erhöhen, hat er, wenigftens nad) ber jest beliebten geiftwollen Anorbnung, 
brei befondere Gruppen innerhalb des Ganzen gebildet, in denen neben ber 
Angft und Sorge um fi jelbft, zugleih Fürforge für Andere ungejucht zum 
Ausprud gebracht wird. 

Und wer ift dieſer Künftler, deſſen hohe Begabung und künftlerijche 
Fertigkeit diefe Nachbildungen doch nur ahnen laſſen? Wir wiffen es nicht, 
auch ſchon das Altertum wußte es nicht. Doc eines fteht feit, entweder , 
Stopas oder Prariteles ift ver Meifter. „ebenfalls alfo haben wir in 
biefer großen jhönen Gruppe ein Zeugniß für den nod immer idealen Stil 
des vierten Jahrhunderts, 

Wer die Zeit dazu erübrigen kann, wird gut thun, um den Gegenſatz 
zwifchen biefem Idealismus und dem in den folgenden Perioden fi ent- 
widelnden Realismus der Darftellung den Schülern einigermaßen begreiflic) 
zu machen, vorläufig einmal die Yaofoongruppe:?) vorzulegen, deren gründ- 
lichere Beiprehung allervings ſammt der Lektüre von Leſſing's Werf für 


— 


Prima vorzubehalten ſein dürfte. Wie ungleich heftiger als bei den Nio— 
biden iſt hier die gemüthliche Erregung im körperlichen Ausdruck dargeſtellt! 
Im Laokoon ſehen wir, wie Winckelmann ſagt, „den Schmerz in allen 
Muskeln, Nerven und Adern wirken, das Geblüt iſt in höchſter Wallung 
durch den tödtlihen Biß ver Schlangen, und alle Theile des Körpers find 
leivend und angeftrengt ausgebrüdt“. „Indem fein Leiden die Muskeln 
auffhwellt und die Nerven anzieht, tritt der mit Stärke bewaffnete Geiſt 
in der aufgetriebenen Stirn hervor, und die Bruft erhebt fih durch ben 
beflemmten Athem —, das bange Seufzen — erfhöpft den Unterleib und 
macht die Seiten hohl, welches uns gleihfam von der Bewegung feiner Ein- 
geweide urtheilen läßt.“ Soweit wie bei uns geht der Kealismus der Griechen 
noch nicht, ihr Geſchmack zog ihm engere Grenzen. 

Entmwidelt fih diefer Stil der griehifhen Kunſt auch erft fpäter, fo 
wird er doch ſchon angebahnt durch einen Künftler viefer Periode, defien wir 
noch zu gedenken haben, nämlich Lyſippos. Sind Skopas und Prariteles 
als Nachahıner res idealen Phidias anzufehen, fo gründet fih der Ruhm 
des Lyſipp auf ftrenge Nahahmung der forgfältig beobachteten Natur, die er 
möglichſt effectvoll wiederzugeben bemüht war. So wird er aud der erfte, 
der das menfchliche Individuum nacdzubilden fuhrt, er ſchafft Portraits. 
Bon mythologiihen Helden hat er nur den Herafles vielfah vargeftellt ; es 
jheint aber feine ver erhaltenen Statuen mit Beftimmtheit auf ihn zurüd- 
zuführen zu fein. Bon feinen Athletengeftalten ift ung nur nod eine in 
der Copie erhalten, allerdings ein vorzügliches Werk, das Zeugniß ablegt 
von feinem Naturftudium nicht minder als von der Zierlichkeit feiner Arbeit 
und der Berehnung auf Wirkung. Der Aporyomeno8®) im Batilan ver— 
diente eine eingehendere Betrachtung, wenn wir das athletifhe Genre nicht 
fhon oben ausführlich befprohen hätten. Befonvders aber kam feine feine 
Naturbeobahtung zur Geltung im Portrait, wo er verfland, die Eigenthiim- 
lichkeiten der Perfon harakteriftifch wiederzugeben, ohne aber in groben Nea— 
lismus zu verfallen. Die im Louvre befindliche Büfte Alerander Des 
Grofen®!), der ſich der Meberlieferung nad nur von Lyſipp barftellen laſſen 
wollte, könnte ihrer Treue und Aehnlichkeit wegen recht wohl auf Diefen 
zurüdgeführt werben, wenn fie den Künig nicht als zu unfhön darftellte. 
Mit Recht erkennt wohl Overbed (II, 96) ein urfprängliches Vorbild Lyſipps 
in ber Ffapitolinifhen Büfte wieder, bie ebenfalld den Schilverungen von 
Alerander entſpricht, insbefondere die befannte Neigung des Kopfes wieder- 
giebt, und dabei ungleich großartiger und effectvoller hauptfählih in ber 
Behandlung der Haare ift. 

Daß die Portraitirfunft erft fo fpät in der griechifchen Plaſtik auf- 
fommt, barf ung nit überrafhen, denn die Plaftif hing von Anfang an, 
im Oegenfag zur Malerei, jo innig mit der Müthologie und Religion zu— 
jammen, daß für fie hiſtoriſche Stoffe und einzelne Berjönlichfeiten eine 
untergeordnete Rolle fpielten, fo lange das religiöfe Leben in Fräftiger Blüte 
ftand, und erft Bedeutung gewannen, als mit bem echt republifanifchen Geifte 
zugleich der religiöfe fhwand, Als dann der Ehrgeiz des Einzelnen fich 
bervorbrängte, entwidelte fih die Portraitirkunſt rafh zu hoher Boll- 
fommenbeit. 

Aus der Zeit des Lyſipp, aber von einem und unbefannten Meifter, 


29 


ſtammt ohne Zweifel aud das Originalbild zu einer ber ſchönſten uns 
erhaltenen PBortraitftatuen, der wir zulegt nod einige Worte widmen wollen, 
id meine den Sophokles 62) im Lateran. Der Dichter ift dargeftelt im 
kräftigen Mannesalter, in ruhiger, jelbfibewußter, man möchte jagen abliger 
Haltung, bekleidet mit einem einfachen, aber nicht ohne Sorgſamkeit gefal- 
teten Gewande. Der Körper rubt auf dem reiten Beine; ver linfe Arm 
ift, vom Chiton umjchlofien, leicht in die Hüfte geftemmt, bie rechte Hand 
fießt aus dem über die linfe Schulter geworfenen und einen Bauſch bildenden 
Gewande bis zum Handgelenfe hervor; das Haar umſchließt in gefälligen 
Loden das ernfte, edle Haupt. Der Schriftfaften, der übrigens hinzu er— 
gänzt ift, ift das gewöhnliche Attribut der Geiftesheroen. 

Die Bemerkungen über diefe Periode der Kunſt laſſen fih anf etwa vier 
Lectionen vertheilen. 


3) Die Behandlung der fpäteren Epoden und gelegentlide 
Bemerkungen über Sunfl. 


Mit der Gefhichte Alexander des Großen und feiner Nachfolger pflegt 
die politifhe Gefchichte Griechenlands auf unfern Schulen abzufchließen, und 
mit Recht. Die Kunftgefchichte findet freilich hier nod feinen paſſenden 
Abſchluß, denn noch mehrere Entwidelungsphafen find zu erwähnen. Nach 
unferem einmal befolgten Plane künnen dieſe nicht wohl als Anhang ange- 
fügt werben, vielmehr müfjen wir uns eine andere, paflendere Stelle dafür 
juhen. Und diefe bietet fih im natürlicher Weife in der römifhen Ge— 
Ihihte, und zwar da, wo die Griehen zum erften Male wieder auf dem 
Schauplag der Gejhichte auftreten, freilih nur, um ihre Selbftändigfeit 
alsbald aufzugeben. Hier ihrer Kunft zu gedenken ift um fo gerechtfertigter, 
erftens, weil da das fonft fo verfommene Volk ſich wenigftens noch in dem 
glänzend und groß zeigt, worin es alle Nationen überftrahlt, im Geſchmack; 
und zweitens, weil feit diefer Zeit die Einwirkung des geiftig überlegenen 
Griechenthums auf das allerdings in Kunftfachen ſpröde Römerthum beginnt. 
Die Nachblüte der griehifhen Kunft unter den römiſchen Raifern verbient 
natürlich ebenfo eine gebührenne Würdigung in ber römifhen Geſchichte. 

Wir begnügen uns, die Aufgabe des Gejhichtslehrers geſchildert zu haben, 
joweit e8 fih um eine methodiſche Einführung in die Kunft gelegentlich der 
griechiſchen Gefchichte handelt. Die Schiller kommen folden Bemühungen 
eifrig entgegen, denn die Luft am Schauen ift ja Allen angeboren. Nur 
begnüge ſich der Lehrer nicht, das Wiffensmwerthe blos vorzutragen, fondern 
frage e8 aud ab, damit er ſich überzeugt, daß die Schüler auch wirklich 
gejehen haben, um was es fi bei jedem Kunftwerfe handelt. Auf viefe 
Weiſe läßt ſich erreichen, daß gewiſſe elementare Begriffe und Anfhauungen, 
ohne welhe das Anbahnen eines tieferen Verſtändniſſes für die Kunft nicht 
möglich ift, allmählich ſich befeftigen. Außerdem ift e8 wünſchenswerth, daß 
zur Unterftügung des eigentlichen Gejhichtsunterrichts Portraits bedeutender 
Perfonen, fomweit es thunlich ift, vorgeführt werden. Wir befigen ſolche, 
theils wirkfiche, theils idealifhe, außer von Sophofles und Alexander 
von Homer®d), Heſiodey, Euripidesd), Anakreonse); Demo- 
thenes®n), Aeſchineses); Herodot und Thufypides6%); So— 


30 


frate8 7%), Plato’!), Ariftoteles'?), Diogenes’), Lykurg ; 
Harmodios und Ariftogeitond); Themiftofles 6), Beritles"”) 
und Alkibiades?s). 

Aber was der Gejchichtsunterricht bietet, ift micht das Einzige, was 
der Schüler von griehifcher Kunft kennen lernen fol. Der übrige Unter- 
richt fol, befonders bei ver Lektüre der alten Schriftfteller, das dort Ge— 
gebene ergänzen, freilih ohne daß bier eime beftimmte Reihenfolge einge- 
halten werben könnte. Werden die Gelegenheiten gehörig wahrgenommen, 
jo kann erreicht werben, was für einen Gecundaner, eines Gymnaſiums 
wenigftens, doch wohl höchſt wünſchenswerth fein dürfte, daß er vertraut 
werde mit ben gewöhnlichen Darftellungen ber griehifhen Götter- und 
Heldenwelt, vertraut werde mit den Xttributen, durch welche herfümmlicher 
Meile gewiſſe Oeftalten unterſchieden werben. 

Sehen wir im der Kürze nur Homer darauf an, wie oft er Anlaf 
bietet, Bilder vorzulegen, die zugleih den Vortheil bringen, das Geleſene 
anfhanliher zu mahen; und daß das befonders für das Verſtändniß viefes 
Dichters nöthig ift, wird wohl Niemand in Abrede ftellen. Natürlich zäble 
ih bloß das auf, wovon man leicht ein Bild beſchaffen kaun. Bon Göttern 
fommen vor: Zeus 79), Hera80), Hades 81), Bofeidon 92%), Demeter 9), Athene st), 
Apollo 85), Artemis 86), Ares"), Hephaiftos 89), Hermes 59), Aphrodite 9), Die- 
nyſos 9!) ; außerdem: .Atlas 9), die Erinnyen 9), die Giganten 9), die Ne- 
reiden 95), die Nymphen 9), die Mufen 9°), die Sirenen 9), die Chariten 99), 
die Horen 100%), Ganymed 101); Danae 102), Niobe 103), Herakles 104), Lapithen 
und Gentauren 1%), Melenger 10%), die Amazonen 19°), Kaftor und Pollur 19%), 
Paris 109), Menelaos 110), Aias 114), Adilleus. 112) Daß manche von biefen 
Bildern ſchon in den unteren Klaffen bei der Erzählung der Helvenfage 
vorgezeigt worben find, hält natürlih nicht ab, fie noch einmal vorzulegen. 
Uebrigens dürfte e8 and durchaus nicht unangemefjen erjcheinen pie Umriß— 
zeihnungen von Flaxmann oder Genelli zuzuziehen oder Abbildungen der 
berühmten Odyſſeelandſchaften von Preler. 

Es wird hierbei, wie fhon angebeutet, noch ein anderer Zwed erreicht, 
der in diefen Blättern in zweite Reihe geftellt werben mufte, ber aber 
mindeftens gleihe Berüdfihtigung verdient, nämlich der, ven Unterricht ans 
Ihaulih zu machen durch Belebung der Phantafiee Bricht fi das Streben 
hiernach, wie zu hoffen fteht, mehr und mehr Bahn, dann wird aud eine 
Lücke, die wir innerhalb unjeres entwidelten Planes haben beftehen laſſen 
müſſen, an richtiger Stelle noch gebührend ausgefüllt; dann wird in Prima, 
wenn die Schüler mit der griehifhen Tragödie fi zu befhäftigen anfangen, 
ihnen auch das Wichtigfte über den Theaterbau mitgerheilt, dann werden 
ihnen die zahlreihen Geftalten des bacchiſchen Kreijes 113) in Abbildungen 
vorgeführt werben. 


Wird fo von dem Lehrer der griehiihen Geſchichte, der den meiften 
Anlaß, aber auch die meifte Zeit hat, die Kunft zu berüdfichtigen, ein fefter 
Rahmen gegeben, wird in den folgenden Slaffen bei Behandlung der 
römischen, mittleren und neueren Geſchichte in ähnlicher Weife fortgefahren, 
machen e8 fi die übrigen Lehrer zur Aufgabe, in dem fie ihren Unterricht 
anſchaulich zu geftalten juchen, viefen Rahmen mit auszufüllen, jo wirb ein 


31 


guter Grund gelegt für die äfthetifhe Erziehung, jo wird recht wohl das 
beſchränkte Ziel erreiht, das die Schule fih fteden muß, nämlich ihre 
Zöglinge zu befähigen, das Schöne wahrzunehmen und Gefallen daran 
zu finden. 

Keine Freude aber ift reiner und beglüdender als die am Schönen. 
Derjenige, bei dem vie Empfänglichkeit für daſſelbe einmal gewedt ift, wird, 
um diefe Freude recht oft zu empfinden, auch Alles, was er thut, gefhmad- 
voll zu thun fi) bemühen und bei Anderen ähnliche Beftrebungen hervor: 
rufen. So kann ber gute Gefhmad ein Gemeingut der Nation werben. 

Dem Griechen galt aber das Schöne zugleih auch als das fittlich 
Önte. Und mit Recht. Denn wer wird leugnen, daß das Gefühl für's 
Shöne, wenn aud nicht vor jeglichem Wehltritte bewahrt, fo doch von rohen 
Ausihreitungen, an denen unfere Zeit leider allzureich ift, zurüdhält? Ya, 
niht nur das fittlihe, fondern auch das rein religiöfe Verhalten bes 
Menfhen wird durch die Empfänglichkeit für's Schöne gehoben. Denn wer 
finnte dann ſtumpf an ten zahllofen Schönheiten unferer Öotteswelt vor» 
überfhreiten? Er muß inne werben, daß diefe herrliche Natur nicht ein 
Verf des blinden Zufalls, der bewußtlos wirkenden Kräfte fein kann. Die 
Schönheit der Welt predigt dem Zweifelnden: Es ift ein Gott, der mid 
gelhaffen hat. Denn mag ber Materialismus aud alle fonftigen Erſchei— 
nungen aus vielfach unbewiefenen Behauptungen erflären wollen: die Welt 
als äſthetiſche Erfcheinung bleibt ihm unerklärlich! 


Uachweiſe der Abbildungen und Anmerkungen, 


Verfaſſer wird in den folgenden Anmerkungen auf Bildwerle und 
Abbildungen hinweiſen, die er ſelbſt benutzt hat. Größtentheils auf ſeine 
eigenen Mittel angewieſen, hat er wohl nicht immer das Beſte ſich ſchaffen 
fönnen, glaubt aber doch Anderen, die in ähnlicher Lage find, einen Dienſt 
zu erweifen, wenn er das namhaft macht, was er als brauchbar befunden 
hat. — Theilweife wird auch bingewiefen werben auf ihm nicht zugänglid 
gewefene Abbildungen, die vieleicht Anderen zu Gebote ftehen, befonders aus 
dem Britifchen Mufeum. 

Die Werke, weldhe häufig citirt werten, find bier zufammengeftellt, 
damit bie Titel nicht überall vollftändig angegeben werden müſſen: 


Garriere: Dr. Morik Carrière, Atlas der Plaftif und Malerei, 30 Tafeln in 
Stahlſtich nebſt Tert. Leipzig, Brodhaus 1875, Duerfolio. 

Conze: Alerander Gonze, Herden- und Göttergeftalten ber griechiſchen Kunſt. Zwei 
Abtheilungen, mit 106 Tafeln. Wien, Waldheim 1875. —2 

Eſſenwein: Dr. Eſſenwein, Atlas der Architektur, 53 Tafeln in Stahlſtich nebſt 
Text. Leipzig, Brockhaus 1875. Querfolio. 

Guhl und Koner: Das Leben ber Griechen und Römer, nach antiken Bildwerken 
bargejtellt. Berlin, Weidbmann. 80, 

Haufer: Alois Haufer, Styllehre ber arditeftonifchen Formen bes Alterthums, mit 
173 Orig.Holzſchnitten. Wien, Hölder 1877. 8°, 

Langl: 3. Langl’s Bilder zur Gefchichte für Gymnaſien u. ſ. w. Großfolio in Del 
farbendrud unb Sepiamanier. Wien, Hölzel. 

Lübke: Dr. Wild. Lübke, Grundriß ber — Stuttgart, Ebner & Seubert. 8°, 

Menzel: Die Kunftwerke ber Völker bes Alterthums. Trieſt, Literarifch : artiftifche 
Abtheilung bes öſterreichiſchen Lloyd. Folio. 

Müller-Wiefeler: Denkmäler ber alten Kunft von E. O. Müller, bearbeitet von 
F. Wiefeler, Göttingen, Dieterih, 2 Bde. Querfolio. 

Dverbed: Geſchichte der griechiſchen Plaftif. 2. Aufl. Leipzig, — 1869. Gr. 80. 

Rheinhard: Album des claſſiſchen Alterthums, 72 Tafeln. Stuttgart, Hoffmann 
1870. Querfolio. 


Britiſches Muſeum: Die angegebenen Nummern beziehen ſich auf einen von 
W. A. Manſell & Co. Photographie & fine art publishers, 2. Perey, St. London 
W, veröffentlichten Gatalog über Photographieen nah den Sammlungen bes britijchen 
Mufeums (Catalogue of a series of photographs from the collections of the 
British Museum, taken by S. Thompson, first series). 

Rive: Die Zahlen beziehen ſich auf den Photographieencatalog bes Neapolitaners 
Robert Rive, (Nbreife: Napoli, Sant’ Anna alla Riviera di Chiaja, Salita 
St. Filippo.) 

Sommer: PBhotograpbieencatalog von Giorgio Sommer, Napoli (catalogo di foto- 
grafie d’Italia e Malta), 


33 


Um die Bilder bequem ausftellen zu können, dürfen fie nicht einges 
bunden werden. Je nah der Größe des verſchiedenen Formates läßt man 
jih mehrere fogenannte fliegende Rahmen mit oder ohne Glas machen; der 
Rahmen ift nöthig, um den Bildern einen gehörigen Abſchluß zu geben. 
Die Bilder bleiben fo lange ununterbroden in der Klaſſe hängen, bis fie 
fih möglichft allen Schülern feft eingeprägt haben. Die Schüler faſſen dieſe 
Aufgabe felbft fo ernft, vap Störungen der Ordnung durd das Aufhauen 
in den Zwifchenftunden nicht hervorgerufen werben; aud das Vertrauen, 
das man ihnen ſchenkt, indem man ihnen foftbare Bilder überläßt, willen 
fie zu würdigen und belohnen es durch forgfältige Wachſamkeit über das 
anvertraute Gut. 


1) Wer fid mit der äfthetifhen Pädagogif im ganzen Umfange eingehender be: 
Ihäftigen will, den verweifen wir auf das geiftvolle Bud von Bruno Meyer: „Aus 
der äſthetiſchen Pädagogik. Sch Vorträge.” Berlin, Gebrüder PBaetel, 1873, Es wirb 
dort der Reihe nach gebanbelt über: 1) Stellung und Wichtigkeit des Aeſthetiſchen als 
Erziefungsmittel und Unterrichtsgegenſtand. 2) Sprade und Literatur. 3) Muſit. 
4) Künftlerifche Lebensformen. 5) Die Werfe der bildenden Künſte. Die Kunft im 
Handwerfe. Die jelbitthätige Uebung in ben Künften. 6) Die äſthetiſche Pädagogif 
gegenüber ber Praris. 

2) Siehe das lefenswertbe, ſchon 1848 erfhienene Schriftchen von Dr. Bernhard 
Stark: „Kunft und Schule. Zur beutjchen Schulreform.“ Jena, Frommann. Die bort 
niedergelegten Gebanfen bat Stark fpäter theils wiedergegeben, theils erweitert be- 
bandelt in mehreren Artifeln, die ebenfall® unter dem Titel „Kunft und Schule“ er: 
Ihienen find in ber „Allgemeinen Schulzeitung“ 1871, Nr. 16 fi. 

3) Ausgabe von 1847, Bb. 12, ©, 82, Anm. 

4) ©. Budle, Geſchichte der Civilifation in England, deutſch von Arnold Ruge, 
5. Ausgabe, 1874, Bb. II, ©. 411 und 413, wo der Schotte Hutchefon gewilfermaßen 
als Erfinder ber modernen Aeſthetik gebührend gewürdigt wir. 

5) Schlie in jeiner Rebe „über die Einführung der Kunftgeichichte in dem Lehr: 
plan der Gymnaſien“ (veröffentliht in: „Zwei populäre Vorträge aus dem Gebiete ber 
Kunfi und Alterthumswiſſenſchaft“, Roftod 1875) S. 50 meint, „daß mit einer Stunde 
wöchentlid von Secunda an, alfo mit ungefähr 160 Stunden in vier Jahren bis zum 
Abiturienteneramen bin, vielleicht mit noch etwas weniger Zeit fi das ganze — Material 
bewältigen lafjen müßte“. Schlie e. in biefer von großer Wärme für bie Sache 
zeigenden Rede Ähnliche Zwede wie ber Berfaffer, ohne fi aber auf die Methode bes 
betreffenden Unterrichts näher einzulafien. Stark a. a. O. verlangt für die eigentliche 
Kunftgefhichte nur eine Stunde die Woche, bei einem einjährigen Curſus. Bei ihm 
liegt aber aud der Schwerpunkt im „äſthetiſchen Anſchauungsunterricht“ und im 
„Kunjtunterricht“, der nad jeiner beherzigenswerthen Mahnung während ber ganzen 
Schulzeit und befonders durch den Zeihenunterricht gepflegt werben joll. Den Betrach: 
tungen follen Gypsabgüfje zu Grunde gelegt werben. Aber wanı werben bie Zeiten 
fommen, wo jede Schule aud nur zwanzig Gypsabgüſſe zur Verfügung haben wird ? 
und wann wirb wohl jene eine Stunde, in ber oberiten Klafje natürlih, für unjeren 
Zwed bewilligt werben ? 

6) Das Nähere über die Behandlung des Zeihenunterridhts ift zu finden 
bei Starf, a. a. D. Daß übrigens auch die Alten nad) Ariftoteles ihre Kinder im 
Zeichnen unterrichteten, weil fie glaubten, daß es geſchickter mache, die Schönheit in ben 
Körpern zu betradten und zu beurtheilen, erwähnt Windelmann in „Gedanken über 
die Nahahmung der griehijhen Werke“ (im Anhang zu deſſen „Geſchichte der Kunft 
bes Altertbums“, neuerdings herausgegeben von Julius Lejfing, Berlin, Heimann's 
Verlag, 1874, ©. 283). 

7) Wer aus Zahn, „Die ſchönſten Ornamente und merhwürbigiten Gemälde von 
Herculanum und Pompeji”, oder Ternite, „Wandgemälde aus Pompeji und Hercu— 
lanum“, oder Niccolini's Prachtwerk über eben biefe Städte feinen Schülern etwas 
vorführen kann, mag es ja nicht verfäumen; es kann jo manches Vorurteil allmählich 
befeitigt werben, das ſich noch immer über die Malerei der Alten findet. Geringeren 


Menge, Gymnaſium und Kunit. 3 


34 
Anjprüchen genügt wohl auch die Kaccolta dei piü belli dipinti negli scavi di 
Ercolano, Pompei, Stabiae, Napoli 1571, welde die bebeutendften Bilder des 
Neapolitaner Kgl. Mujeums in mäßig gelungenen Umrißzeichnungen wiebergiebt. Eine 
bejcheidene, aber brauchbare Abbildung, wenn man nur einen Begriff von Bompejanijcher 
Wandmalerei beibringen will, bietet Rheinhard, Album des claffiihen Alterthums, 
Stuttgart 1870, Blatt 45. — Bon den Hauptwerfen der Meifter des 15. und 16. Jahr» 
bunderts, jowie auch der Neuzeit, bat fich Verfaſſer eine Sammlung meijt kleinerer, 
theils großer Photographien angelegt, deren Benugung im Schulunterricht aber mißlich 
it, Als Notbbehelf könnten auch dienen: „Denfmäler der Kunjt“, Stuttgart, 
Ebner und Seubert, jowie: „Atlas der Plaftif und Malerei“, von Dr. Mori 
Barriere, Brodhaus 1575 (Separatausgabe aus der 2. Auflage des Bilderatlas). 
Eine Sammlung harafterijtifher Kupferjtihe fih anfchafien zu können, wird wohl auch 
für die meiften Schulen noch lange ein frommer Wunjd bleiben, 

8) Die befannten Launitz'ſchen Zafeln find theilweije recht brauchbar, theil— 
weije freilich mehr groß als ſchön. Ein ſchönes, aber freilich nicht ganz billiges Hilfs— 
mittel find: J. Langl's Bilder zur Geſchichte, für Gymnafien, Realihulen und 
verwandte Kunjtanftalten. Ausgeführt von Eduard Hölzel’8 Kunftanftalt in Wien. 

9) Abbildungen der erwähnten Denkmäler finden fi in den Anm. 7 genannten 
„Denkmälern der Kunjt“; ferner im „Atlas der Arhiteftur“ von Dr. Auguit 
Ejjenwein, Leipzig, Brodhaus 1575 (Separatausgabe aus der 2. Aufl. des Bilder: 
atlas). Mancherlei brauchbare Abbildungen enthält ein dem Text nad allerdings wenig 
werthvolles Buch: Dr. E. 4. Menzel, „Die Kunjtwerfe der Bölfer des 
Altertbums“, Trieſt, Literarifch-artiftiiche Abtheilung des öfterreihiihen Lloyd. 
Auch die Münchner Bilderbogen find nicht zu verſchmähen. Zur Vergrößerung 
Kleiner Anfihten, bejonders zur Anfertigung größerer Grundrijje bat Berfafjer die 
Kunſtfertigkeit geſchickter Schüler mit Erfolg verwandt. — Eine ftattlihe Anficht der 
Pyramiden bietet Langl, No. 1, außerdem Eſſenwein, Tafel 1; Menzel, BL. 2; 
Münchner Bilderbogen ; Denkm. d. Kunft, Volks: Ausg. T. 1. 

10) Tempelanlagen von Edfu: ©. Ejjenwein, T. 2; Menzel, Bl. 3. 

11) ©. Tempelinneres zu Philae, bei Efjenwein, Taf. 2, Fig. 3; Menzel, BL. 5; 
Yangl, Ro. 5. 

12) Unfichten von ägyptiſchen Kapitellen bietet auch Lübfe, Grundriß der 
Kunftgefhichte, Fig. 10 u. 16, 

13) Bergl. die Baugefchichte des Tempels bes Hephäftos, wie ihn Herodot nennt, 
oder Ptah, bei Herodot II, 101, 121, 136, 153. Die wenigen Grunbrijje, die uns zu 
—— — zeigen freilich eine regelmäßigere Anlage. ©. Lübke, Fig. 14; Eſſenwein, 
Taf. 1, Fig. 7. 

14) Selientempel von Ibſambul: S. Ejjenwein, Taf. 1,3; Menzel, BI. 3; 
J. Yangl, No. 4. 

15) Aegyptiſche Reliefs: ©. Garriere, Atlas der Plaftif u. Malerei, Taf. 1; 
Lübke, Kunſtgeſch, Fig. 20 u. 21; Denkmäler d. Kunft, V.«A., Taf. 2. 

16) Das bomerifhe Haus: ©, Arthur Windler, Die Wohnhäufer der 
Hellenen. Berlin, Galvary u. Co. — Ein Grundriß des Haufes des Odyſſeus findet ſich 
in Replaff, „Vorſchule zu Homer“, Berlin 1868, Fig. 21. 

17) Belasgijhe Königsburgen: ©. Ejjenwein, Taf. 4; Menzel, 27 u. 28, 
Löwenthor: Yangl, No. 14; Lübke, 55; Müller» Wiefeler I, 1; Overbed, Fig. 2. 

15) Dverbed, Geſchichte ver Plajtif, 2. Aufl., Leipzig 1569, ©, 43, „Ipridt von 
dem Borhandenjein zablreiher Tempel, die Homer im Einzelnen und im Allgemeinen 
bezeichnet.“ Hiergegen ijt zu bemerfen, daß das Wort „Tempel“ bei Homer auffällig 
jelten vorfommt, namentlidy) aber nur folgende acht Tempel aufgeführt werden: Tempel 
der Athene in Athen und Ilios, des Apollo in Pytho (Delphi), Ilios und Chryſo, des 
Bojeidon in Helife, Aegae und bei den Phäafen (Odyſſee VI, 266 MTossiwdijor ?) 
j. Retzlaff, Vorſchule S. 55. 

19) Nah Müller, Handbuch der Archäologie, $ 59, haben am Schild des 
Achilleus Rejlaurationsverfuche angeitellt, früher Boivin u, Gaylus, jpäter Quatremere- 
de-Quincy, Jupiter Olyıp, p. 64, Mem. de l’Institut royal T. IV, p. 102. — In 
Ermangelung diefer Werfe benuge man als Beijpiel den Schild des Herafles nach Hefiod, 
von Schwanthaler, lithographirt von Hellmuth; a übrigens Dverbed, Fig. 3. 

20) Außer den bereits mehrfach angeführten Werfen find für die griechiſche Kunft 
bejonders Photographieen größeren Formates zu benugen. Bon den Kunitwerfen, die 


35 


noch in Griechenland find, beſorgt Abbildungen der deutfche Buchhändler Herr Wilberg 
in Athen; ferner find Photograpbieen von Paul des Granges zu beziehen durch 
Kunftbändler Duaas in Berlin, das Stüd zu 2 .AM. 50 A.; ebenfo bat eine große 
Auswahl W, AU, Manfell & Co., Photographie Publishers, 2, Percy Street, 
London W.; von denen in Italien: Spitboever, Rom, piazza di Spagna. Am 
befannteften und ſehr preiswertb ift die von Sommer in Neapel veranftaltete Samme 
lung von Photograpbieen nad Anfihten und Kunftwerfen in ganz Italien, nach deſſen 
Gatalog (Giorgio Sommer, Napoli) vom Jahre 1872 ich öfter citiren werde. Photo: 
grapbien in ber Größe von 19><25 Etm, ohne Rand koſten ohne Garton in größerer 
Anzabl bezogen 1 Franc das Stüd, Nicht minder empfehlenswertb find bie Photo: 
grapbieen von Robert Rive (Napoli, alla riviera di Chiaja). — Ein billiges Hilfe: 
mittel ift das „Album bes claffifchen Altertbums“, zur Anjhauung für bie Jugend, 
befonder8 zum Gebraud in Gelchrtenihulen von Hermann Rheinhard, Stutt: 
gart 1870. 72 Tafeln in Farbendrud nah ber Natur und nad antiken Vorbildern 
mit bejchreibendem Tert. 18 .A. Meines Wiffens kann man auch einzelne Blätter 
beziehen. — Ueber die griechiſchen Bauftile findet man ausreichende Auskunft in dem 
billigen, trefflihen und ſchön ausgeftatteten Werfhhen: Alois Haufer, Styl-Lehre 
der ardhiteltonifchen Formen des Alterthums, verfaßt im Auftrage des f. k. Miniſteriums 
für Gultus und Unterridt, Mit 173 Holzichnitten. Wien 1877. — Dentmäler ber 
ke zufammengeftelt von Studirenden ber Fönigl. Bauafademie zu Berlin. 
1870—71, Fol. 

21) Tbefeustempel: ©. Menzel, BL. 31; Lübke, Fig. 65; Rheinhard, BI. 2 
(im jegigen AZujtande). 

22) Neptuntempel zu PBaeftum: Photographien bei Sommer No. 1176, 
1177, 1447; bei Rive, Vorberanfiht 253, 252, Seitenanfiht 251, Neptuntempel und 
Bafilifa 261. — Die Anficht des Innern bei Rheinhard Nr, 14; Eſſenwein, Taf. 7; 
Rive, Nr. 254. — Grunbriß bei Lübfe, Fig. 67; Effenwein, Taf. 6. — Querdurchſchnitt 
bei Lübke, Sig. 61; Haufer, Fig. 62. 

23) Tempel ber Nike apteros: Findet fid) mit abgebildet auf dem Afropolis: 
bild in den Launik’fchen Tafeln, und bei Rheinhard, Blatt 6. Grundriß bei Haufer, 
Fig. 42, Grundriß und Durchſchnitt bei Gubl und Koner im „Leben der Griechen und 
Römer“, Fig. 16, 17, 

24) Die nöthige Unterweifung bietet Haufer in feiner oben erwähnten „Styl-Lehre“, 
Bien 1877; aber Genügenbes aud) Sub u. Koner im erften Bande; val. Rheinhard, BL. 15. 

25) Wer bie verfchiebenen Tempelformen, jtatt fie felbit anzuzeichnen, in 
fertigen Bildern vorlegen will, kann die Launitz'ſchen Tafeln benugen. Ach pflegte damit 
die Ban ber Klaſſe friesartig zu garniren, bis Formen und Namen fi feit ein- 
geprägt hatten. Für die Säulenorbnungen ift aufmerkſam zu maden auf: Haufer, 
Säulenordnungen, Wandtafeln. Wien 1876, gr. Fol. 

26) Größere Abbildungen ber Ornamente fenne ich nicht. Man nehme die 
Kunjtfertigfeit der Schüler zu Hilfe und laſſe die im Haufer gegebenen Muſter vergrößern. 

27) Athenetempel zu Aegina im jeigen Zuftande: Rheinhard, BI. 12; 
Yangl, Nr. 15. 

28) Die beften Abbildungen der in Münden befindlichen Giebelgruppe ber 
Aegineten find bie Photographieen von Hanfflängl, das Stüd zu 2 .A. im Bud: 
handel zu beziehen. — ferner Overbed, Fig. 15, 16; Garriere, BI. 2; Müller: Wiefeler 
I, Nr. 28-30; Menzel, BI. 32. — Mittelgruppe bei Lübke, Fig. 78. 

29) Den Athenetempel von Negina reftaurirt und in Buntdrud bietet 
Rheinhard, BI. 13 (ohne Karben: Haufer, Fig. 60; Müller-Wiefeler I, Nr. 28). 

30) Artemis in Neapel: Müller: Wiefeler I, Ar. 35; Overbed, Fig. 37; 
Rive, Nr. 543; Sommer, Nr. 1535. 

31) Grundriß der Afropolis in Athen findet fi in: SKiepert, Neuer 
Atlas von Hellas, Karte 6; Guhl und Koner, Fig. 50. — Anfihten der Akropolis 
im früheren Zuftande: Rheinhard, Bl. 4; Lübke, Fig. 72; Launitz'ſche Tafeln. — 
Am gegenwärtigen Zuftande: Menzel, BI. 34; Langl, Nr. 16 (von Norden) und 
Nr. 17 (von Süben). 

32) Grundriß der Propyläen: Efjenwein, BI. 6; Lübke, Fig. 70; Suhl 
und Koner, Fig. 50. — Anſicht: Efjenwein, BI. 6; Rheinhard, BI. 6. 

33) Grundriß des Erechtheums: Efjenwein, BI. 6; Gubl u. Koner, Fig. 36. 
— Zwei Anjihten und ein Durchſchnitt bei Eſſenwein, BI, 8. — Anficht bei 


3* 


36 


Rheinhard, BI. 5; Menzel, PL. 37; Lübke, Fig. 71; Guhl und Koner, Fig. 37; 
Sangl, Bl. 19. 

i 34) Karyatiden find abgebildet bei Müller: Wiefeler I, Nr. 101; Lübfe, Fig. 90; 
Guhl u, Koner, Fig. 215; Overbed, Fig. 65; Sommer, Nr. 1702. 

35) Für das Folgende verweife ih auf Michaelis, „Der Parthenon“, ein 
Werk, das auch für Laien in ber Archäologie verftändlich gefchrieben it und von ihnen 
mit dem reichften Gewinn ftubirt werden kann. — Auf die noch herrſchende Uneinigfeit 
in ber Deutung verjchiedener Figuren ift in ber Schule jelbitverftändlich nicht einzu— 
gehen; der Verfafier bat fich natürlich in der Benennung ganz an Michaelis angefchlofien. 

on Allem, was im Tert befprochen ift, finden ſich im Michaelis die Abbildungen, bod 
balte ich e8 für zweddienlich, in meinen Nachweilen fortzufahren. 

Grundriß zu dem Bartbenon: Eſſenwein, Bl. 6; Gubl u. Koner, Fig. 235 
(die Launitz'ſchen Tafeln bieten fein Schema, das auf den Parthenon ganz paßte; ich 
babe mir einen Grundriß nah Michaelis in der Größe der Launig’fchen Tafeln machen 
laffen). — Längendurdfhnitt: Effenwein, Bl. 6, — Aeußere Anfidt: Eſſen— 
wein, BI. 7; Guhl u. Koner, Fig. 24. 

36) Darftellungen ber Giebelfelder des Parthenon: nad Carrey's Zeich- 
nungen Overbef, Fig. 55. — Reftauration bes Weſtgiebels: bdafelbit 552; Uer: 
Wieſeler I, 120, 121; Brit. Mufeum, 693— 700, 

37) Theſeus im Giebel des Partbenon: Miüller-Wiefeler I, Nr. 120b; Over: 
bed, Fig. 57; Brit. Muf,, Nr. 694; Lüble, Nr. 84, — Alifjos: Miller: Wiejeler I, 
Nr. 1218; Overbed, Fig. 59; Brit. Muf., Nr. 700. — Frauengruppen bed Bar: 
tbenon: Müller Wiejeler I, Nr. 120 u. 120e u. f.; Dverbed, Fig. 53; Garriere, 
Bl. 2; Lübke, Fig. 53; Brit. Muf., 695 u. 697. 

38) Vgl. „Gegenwart“ von Paul Lindau, 1875, Nr. 31, ©. 76, — Aehnlich ſpricht 
ſich auch Windelmann in der Geſch. der Kunft des Altertbums (Berlin 1874, ©. 127) 
aus: (Die Beichauer) „jollen vorber eingenommen fi (den Werfen ber Alten) nähern; 
denn in ber Verfiherung, viel Schönes zu finden, werben fie baffelbe ſuchen, und 
Einiges wird fich ihnen entdeden. Man kehre fo oft zurüd, bis man es gefunden bat; 
bern es ift vorhanden.” — Auf berjelben Seite giebt Windelmann noch eine andere 
beberzigenswertbe Regel für das Anjchauen von Kunſtwerken: „Sude nicht bie Mängel 
und Unvollfommenbeiten in Werfen ber Kunft zu entdeden, bevor bu bas Schöne 
erkennen und finden gelernt. Diefe Erinnerung gründet fich auf eine tägliche Erfahrung, 
und den Meiften, weil fie den Genfor machen wollten, ehe fie Schüler zu werben amge- 
fangen, ift das Schöne unerkannt geblieben. Denn fie maden es wie bie Schulfnaben, 
die alle Wit genug haben, die Schwäche des Pebrmeifters zu entdeden.” — Auch auf 
noch ein Wort dieſes arofen Meijters jei aufmerfiam gemacht, das er ausfpridt in 
den „Gebanten über die Nachahmung ber griechiſchen Werfe* auf ber erſten Seite: 
„was Jemand von Homer geſagt bat, daß Derjenige ihn bewundern lernt, ber ihn wohl 
verftehen gelernt, gilt auch von den Kunftwerfen ber Alten, fonberlich der Griechen. 
Man muß mit ibnen wie mit feinem Freunde befannt geworden fein, um ben Laokoon 
ebenjo unnachahmlich wie den Homer zu finden.” 

39) Das Wort ift entnommen aus Michaelis, Parthenon, ©. 86. 

40) Metopen des Bartbenon: Brit. Muſ., Nr. 619—634; Miüller-Wiejeler 
I, Nr. 111114; Overbed, Fig. 61, 62; Garriere, BI. 2; Lübke, Fig. 85. 

41) Fries bes Partbenon: Brit. Muf., 635° —692; Müller : Wiejeler I, 
Nr. 115—119; Overbed, Fig. 63, 64; Lübke, gig: 86—88. — Der Fries bes Parthenon, 
galvanoplaftifch dargeitellt von Br. E. Braun in Rom. 

42) Das Innere des Parthenon: Gffenwein, BI, 6. 

43) Münzen nah dem Olympiſchen Zeus bes Phidias find abgebildet: 
Müller: Wiefeler I, Nr. 103; Dverbed, Fig. 48; Eonze, 2; Garriere, BL, 4. — Eine 
Reitauration des Zeus von Olympia bietet Garriere, BI. d. 

44) Zeusbüjte von Otricoli: MüllersWiefeler Il, Nr. 1; Garriere, BI. 4; 
Conze 3; Lübke, Fig. 30; Sommer, Nr. 1795; Rive, Nr, 1258, 

45) Ballas Giufiniani: Müller-Wiefeler II, Nr. 205; Eonze, 28; Sommer, 
Nr. 1717; Rive, Nr, 1212, 

46) Das Nöthige über griehifche und römische Befleidung findet fi in 
Suhl u. Koner; Rheinhard bietet an Bildern Nr. 65, Grieche; Nr. 66, Griedin; Nr. 67, 
Römer in ber toga praetexta; Nr. 68, Römerin ; außerdem it etwa auzuziehen bie Pubdi- 
citia: Sommer, Nr. 1707; Garriere, BL, 5, u. die Flora des Gapitols: Sommer, Nr, 1773. 


47) Büfte der Hera Ludoviſi: Müller-Wiefeler IL, Nr. 55; Garriere, Bl. 4 
Füble, Fig. 92; Photographieen von diefer herrlichen Büfte zu befommen, fcheint ebenjo 
ſchwet zu fein, wie Zutritt zu ber Billa zu erhalten, in ber fie aufbewahrt wird. Dem 
Berfaffer wenigftend hat Beides nicht gelingen wollen. Photographie nah Gypsabguß, 
Gab. Berlin, Nr. 2365. 

47*) Ueber die Bebeutung des Materials für die bildende Kunft kann man ſich 
unterrichten im Lemcke, populäre Aeftbetif, oder Riegel, Grundri der bildenden Künfte. 


48) Auch von bem Diabumenos find Bilder bis jet fchwer zu haben. In 
Rom, wo er früher in ber Billa Karnefina fland, giebt es feine, ob in London, wo 
er jet im Britifhen Mufeum ſieht, bejondere Bilder zu haben find, ift mir unbe— 
lannt, aber wabrjcheinlich; mitabgebildet ift er auf einer Photographie, Brit. Muf., 
Rr. 602; eine Umrißzeihnung bietet Müller-Wiefeler I, Nr. 156, 

49) Myrons Diskobol: Miüller-Wiefeler L, 139b; Overbed, Big. 43; Lübfe, 
Fig. 79. Diefe drei Abbildungen find nach der Gopie in Villa Maffimi; eine Photo: 
srapbie ber etwas abweichenden Eopie im Batifan bietet Sommer, Nr. 1767. 


50) Disfobol des Allamenes oder Naufybes: Overbeck, Nr. 50; 
Sommer, 3408. 

51) Disfobol von Neapel: Sommer, Nr. 1507. 

52) Denkmal des Epfilrates: Eſſenwein, BI. 8, Guhl u. Koner, Fig. 150, 
reftaurirt. Im gegenwärtigen Zuftande: Rheinhard, BI. 8; Menzel, BI. 40; Langl, 
Rr, 18. Der Fries findet ſich bei Overbet, Fig. 87, 88; Müller-Wiefeler I, Rr. 150. 
Dafelbft auch einige Figuren in vergrößertem Mafftabe, bei. Dionyfos mit dem Panther, 
der auch bei Garriere, BI. 4 abgebildet ift. 

53) Apollo Kitbarvebos: Müller: Wiefeler I, Nr. 141 a; Garriere, BI. 4; 
Sommer, Nr. 1735; Rive, Nr. 1256, 

54) Bol. Overbed II, 19 ft. 

55) Apollo Sauroftonos: Müller Wiefeler I, Nr. 147 A; Overbed‘, Fig. 80; 
Sommer, Nr. 1741; Rive, Nr. 1244. — Apollo von Tenea: Dverbed, Fig. 3; 
Gonze, 57: Garriere, Bl. 2. — Apollo vom Belvedere: Müller-Wiefeler II, 
Rt. 124; Overbed, Fig. 103; Lübfe, Fig. 129; Garriere, Bl. 3; Gonze, 63; Rive, 
Rr. 1236; Sommer, Nr. 1735. 

56) Niobiden: Dverbed, Fig. 52; Müller-Wiefeler I, 142; Einzelnes in 
größerem Maßſtabe wieberholt. Die Aufftellung der berühmten Statuen in ben 
Uffieien zu — iſt möglichſt unglücklich. Sie ſtehen in zwei Gruppen geordnet an 
den vier Wänden eines außerdem mit Oelgemälden gefüllten Saales. Die Photo— 
grapbieen von Sommer, Nr, 1883, 1884 geben biefe beiben Gruppen wieder, Die 
MONERE von Rive, Nr. 1500, ift mir unbelfannt, 

97) Fliehende Niobide des Batifan: Sommer, Nr. 1725; Rive, Nr. 1214, 

58) Niobes: Mutter: Müller: Wiefeler I, Nr. 142 Aa; Overbeck, Fig. 83; 
Lübke, Fig. 96; Garriere, BL. 2; Sommer, Nr. 1893; Rive, Nr. 1501, 

59) Laofoongruppe: Müller-Wiefeler I, Nr, 214; Dverbed, ig. 100, 101; 
Sübfe, Ar 99; Garriere, Bl. 3; Sommer, Nr. 1734; Rive, Nr. 1229, 

0) Aporyomenos: Lübke, Fig. 97; Carriere, Taf. 3; Sommer, Rr. 1713; 
Rive, Nr. 1218; Overbed, Fig. 91. 

61) Alexander ber Große: Üverbed, Fin. 39, 90; Müller: Wiejeler 1, 
Ar. 159, 168, 170 (158 ift Abbildung der Büfte im Loupre); Garriere, BL. 3; Rive, 
Nr. 1283 (bie fapitolinifhe Büfte,. — Alexanderſchlacht in Mofaif: Müller: 
Wiefeler I, 273; Rheinharb, BE. 58. 

62) Sophofles: Garriere, BI. 3; Lübke, Fig. 98; Sommer, Nr. 1700. 

63) Büſte von Homer: Sommer, Nr. 1564; Rive, Nr. 567, beide nad bem 
Eremplar in Neapel, das als das ſchönſte gilt. 

64) Büfte des Hefiod im Batifan: Nive, Nr. 1217, 

65) Büfte des Euripides in Neapel: Rive, Nr. 646; Statue im braccio 
nuovo bes Batifan, Nr. 53; ich befige davon eine große Photographie, bie aber fein 
Abzeichen des Verfertigers trägt. 

66) Statue des Anafreon im Borgbefifhen Muſeum, Büſte angeblich in 
Neapel, aber beide find noch nicht in Photographie zu haben. 

67) Statue des Demoftbenes im Natifan: Sommer, Wr. 17125 River, 
Nr. 1209; Büfte im Neapel: Rive, Nr. 638 


38 


68) Statue des Aeſchines (früher Ariſtides genannt) in Neapel: Sommer, 
Nr. 1525; Rive, Nr. 515. 

69) Herodot und Thufydides in einer Doppelherme in Neapel (photograpbiid 
nicht zu haben). Von Thufydides erijtirt auch in dem Fapitolinifhen Mufeum eine 
Büſte, die mir in Kupferftich vorliegt (engraved by Bovi). 

70) Büfte des Sofrates: Die beite ift in Villa Albani, ſcheint aber nicht 
photographirt zu fein; außerdem ijt beſonders zu nennen eine in Neapel: Sommer, 
Nr. 1539; Nive, Nr. 566. Eine andere befand fich zu Friedrichs IL Zeit in 
Sansfouci. 

71) Eherne Büfte des Plato in Neapel: Rive, Nr. 623. Photographie 
nad Gypsabguß, Gab. Berlin, 2159. 

72) Statue bes Ariftoteles im Palazzo Spaba zu Rom, 

73) Statue des Diogenes in Villa Albani. 

74) Büfte bes Lykurg in Neapel, Rive, Nr. 643. 

75) Harmodios und Nriftogeiton in Neapel: abgebildet bei Dverbed, 
Fig. 14. 

76) Es giebt von Themiſtokles einen Kleinen ſchlechten Kupferftih nad einer 
Büfte; nad) einer Zeichnung von Garjten. 

77) Büfte des Perifles im Vatikaniſchen Mufeum, Ach befike davon einen 
Kupferftih (Salesa del. — Bossi ine.) und eine Berliner Photographie in Gabinet: 
format nad einem Gypsabguije, Nr. 2290, 

78) Eine Büfte oder vielmehr Herme von Alfibiades befige ich in Kupferilid 
(Doleibene del. — Petrini seulp.) in zwei Anfichten. Die Herme trägt an ber Seite 
bie Auffchrift: effossum Athenis in ruderibus Prytanei III Nonas Junias 
UIIICCLXXXV. R. Worsley rest. cur. 

79) Die widtigften Darftelungen des Zeus finden fi in Müller: Wiefeler 
II, 1— 50 und bei Gonze, Bl. I—4; Overbeck, Atlas zur gr. Kunftmythologie. In 
Photographie ift außer der Büfte von Dtricoli zu haben der jchöne 3. von Veroſpi 
in der galleria delle statue des Vatikan: Sommer, Nr. 3405. 

80) Die widtigften Darftellungen der Hera in Müller-Wiefeler, Bd. II, 54—65 
und bei Gonze, Bl. 5—8; Overbeck, Atlas zur Kunſtmythol. Außer ber Lubovifi iſt 
jedenfalls noch vorzuführen die großartige Statue im Batifan: Sommer, Nr, 1762 
(auch 1763); Rive, Nr. 1260. 

81) Bilder von Habes: Müller-Wiefeler, Bd. IL, 851 — 864, Conze 9, 10. 

82) Poſeidon: Müller: Wiefeler, Bd. II, 67— 86; Conze 15, 16; Overbed, 
Atlas zur Kunſtmythologie; Rive, Nr. 591. 

83) Demeter: Müller-Wiefeler, Bd. II, 86—99 5; Conze, 52—55 ; Rive, Nr. 528. 

84) Athene: Müller-Wiefeler, Bb, II, 198 — 242; Conze, 24— 28; Rive, 
Nr. 517 (kann als Symbol ber Stabtbeherrfcherin dienen). Die Friegerifche Pallas der 
Villa Lubovifi ift abgebildet bei Overbeck II, Fig. 109. Vgl. oben Anm. 45. 

85) Apollo: Müller-Wiefeler, Bd. II, 118—153; Conze, 57 —63, Bol. oben 
Anm. 53—55, 

86) Artemis: Müller-Wiefeler, Bd, II, 156—178. 183; Conze, 64—67. Bal, 
oben Anm. 30; ferner Sommer: 1533, 1709. Artemis v. Epheſus: Rive, Nr. 54), 
1216. Die ſchönfie bleibt freilich immer die Artemis v. Verſailles im Louvre. 
Eine größere Photographie von ihr fonnte ich aber weder in ben Parifer Läden er: 
halten, noch durch Vermittlung beziehen; fie findet ſich Müller-Wiejeler, Bd. II, 
Nr. 157; Oberbed, Fig. 103; Garriere, BI, 3, 

87) Ares: eine zweifelloje Aresftatue fcheint e8 faum zu geben; im fapiteli: 
nifhen Mufeum ift ein Ares-Hadrian, von bem es aber feine Abbildungen giebt; 
Gonze 50, 51; Müller-Wiejeler, Bd. II, 243— 253; Earriere, BI, 6, 

88) Hephaiftos: Miller:Wiefeler, Bd. II, 191— 197; Conze 34 — 36, Von 
der borgheſiſchen Statue giebt e8 feine Photographieen, 

89) Hermes: Müller-Wiefeler, Bd. II, 237— 337; Conze, 69— 72; Garriere, BL. 4. 
Beſonders ſchön ift der im Belvedere des Vatifan: Rive, Nr. 1228; Sommer, Nr. 1733 
(bier fälfchlih Antonio benannt) und der in den Ufficien zu Florenz: Rive, Nr. 1489. 

90) Aphrodite: Müller: Wiefeler, Bd. II, 258 — 29; nah Prariteles: 
Müller: Wiefeler, Bb. II, 1468; Aphrodite von Melos im Louvre, abgebildet 
Lübke, Fig. 89; Overbed, Bd. II, Fig. 113; Garriere, Bl, 4. — Aphrodite von 
Gapua: Sommer, Nr. 1515. — Aphrodite des Gapitols, Sommer, Nr. 1786, 


39 


1787, — Apbrobite von Mebict: Dverbed, Fig. 106; Sommer, Nr. 1892; Rive, 
Nr. 1495. Im Uebrigen ſ. Conze, 37—44, 

91) Dionyfos: f. Conze, 73—76; Müller:Wiefeler, II, 341—434, 443 —453, 
600 Fl. 965; außerdem f. unten unter: der Kreis des Dionyfes, Anm. 113. 

92) Atlas mit der Himmelsfugel in Neapel: Sommer, Nr. 1565; Rive, 
Pr. 531. — Atlanten als Träger verwendet: Müller:Wiefeler, Bd. I, 102; DOverbed, 
ig. 656; vgl. Müller-Wiefeler, Bd. II, 821—829, 

93) Die Erinnyen: Gonze, 14; Müller-Wiefeler, Bd. II, 955—95>. 

94) Die Giganten: Eonze, 100; Müller-Wiefeler, Bd. II, 343—850. 

35) Die Nereiden: Gonze, 19, 

%) Die Nympben: Eonze, 22; Nympben ber Artemis; Müller: Wiefeler, 
®. II, 179, 180. 

97) Die Mufen: Conze, 90, 91. — Müller-Wiefeler, Bb. I, 730—750. Gruppe 
der Muſen auf bem Sarfopbag im Capitol: Sommer, Nr. 1777 und 1778. — Euterpe: 
Rive, Nr. 545, — Thalia: Rive, Nr. 546. — Polyhymnia: Rive, Nr. 557. — 
Ralliope: Rive, Nr. 558 (alle vier in Neapel). — Polyhymnia und Klio am 
Ihönften in Berlin; Cab.: Photographie Nr. 2029 und 2381. — Melpomene am 
Ihönftten im Louvre, 

98) Die Sirenen: Müller:Wiefeler, Bd. II, 751—755; Eonze, 92. 

99) Die Ehariten: Müller-Wiefeler, Bd. IL, 722— 726; Gonze, 87. 

100) Die Horen: Müller-Wiefeler, Bo. II, 959— 964, — Gonze, 88, 89; Rive, 
Rr. 513 (bie fogenannte Flora farnese). 

101) Ganymed: Müller-Wiefeler, Bd. IL, 50—53,. — Ganymeb nad Leochares: 
ri Fig. 54; Müller» Wiefeler, I, 148. — Sommer, Nr. 1708 — 1754; Rive, 

. 521. 

102) Danae: Müller-Wieſeler II, 48. 

103) Niobe: ©. 0. Anm. 5658. 

104) Herafles: Conze, 98, 99. — Der Farnefiihe Herafles: Müller - Wiefeler I, 
Rt. 152; Overbed, ig. 108; Sommer, Nr. 1504; Rive, Nr. 502. — Torfo des Herafles 
im Belvedere: Rive, or. 1225; Sommer, Nr. 1723; Dverbed‘, ig. 105. 

105) Lapitben und Gentauren im Kampfe: Müller Wiefeler, I, 110, 123. 
— Gentauren allein: Miüller-Wiefeler II, 587599; Gonze, 78, 83, — Die zwei 
ſchönſten find im Kapitolinifhen Mufeum (Sommer, Nr. 1774) und im Louvre; beide 
find abgebildet bei Overbed, Fig. 115. 

106) Meleager: Sommer, Nr. 1729; Rive, Nr. 1226. 

107) Die Amazonen: Müller Wiefeler I, 137, 138; Conze, 31—33; Dver: 
bed, Fig. 69; Sommer, Nr. 1780, 1710; Rive, Nr. 1246. 

108) Kaftor und Pollur: S. Photographie des Monte cavallo: Sommer, 
Kr, 1050, 1086; Rive, Nr. 1015; Garriere, BI. 6. 

109) Paris: Gonze, 101—103; Sommer, Nr. 1791; Rive, Nr. 1251. 

110) Menelaos: Statue im Vatifan: Sommer, Nr. 1793. — Büjte im Batifan: 
Rive, Nr, 1249. 

111) Aias: Sommer, Nr. 1540, 1837, 

112) Adhilleus: im Louvre; Garriere, BI. 3. 

113) Der Kreis bes Dionyfos: ber farneſiſche Torjo des Dionyfos in 
Neapel: Rive, Nr. 500, 500A, 501. — Dionvjos und Ampelos in Florenz: 
Sommer, Nr. 1896, — Silen: Gonze, 80, 81; Müller-Wiefeler II, 494 — 522; 
Sommer, Nr. 1547. — Silen und Dionyfos im Batifan: Sommer, Nr. 1704. — 
Satyrn: Miüller-Wiefeler II, 454—487; Eonze, 79, 82, — Der Periboëtos nad 
Vrariteles: Müller Wiefeler I, Nr. 143; Dverbed, Fig. 81; Sommer, Nr. 1783. — 
Der Fauno sonnante in Florenz: Sommer, Nr. 1875. — Der trunfene 
Zaun in Neapel: Sommer, Nr, 1505. — Der Faun di rosso antico auf bem 
Rapitol: Sommer, Nr. 1776. — Mänaden: Miller: Wiefeler II, Nr. 559 — 586; 
Sommer, Nr. 1794 (die Tänzerin im Cabinetto delle maschere). — Gentauren: 
f. Anm, 105. 


Deutſche Gedichte. Eine Muſterſammlung für mittlere und höhere Schulen ſowie 
zum Privatgebraud. Nebft Anbang: Die Verslehre. — Die Dicbtungsgattungen. — 
Die Bildfichkeit der Poefie. — Kurze Biographien der Dichter. Bon W. Fride 
Preis 3.4 20 Pf., gebunden 3 .A 60 Bf. 

Eine Zufchrift an die Verlagshandlung jagt: „Mit größtem Jutereſſe habe ich Einfiht genommen 
in Fride's enge | es ift eine reihe, wohlgeorbnete und mit richtigem Geſchmack und päba- 
geolidem Blidck getroffene Auswahl, die in vortbeilhaftefter Weile auch die neuefte Beit berüdfichtigt. 

er Herausgeber hat fi die Aufgabe geftellt, nicht allein den Entwidelungsgang der beutidhen P in 
einen —— Rahmen zu faſſen und die Schüler und Schülerinnen mit ben hervorragenderen 

Dichtern und den Gattungen ber Dichtung vertraut zu machen: er war auch beftrebt, bad Befte, und nur 

dieſes allein ift gut genug für die Jugend, mit bem Schulgemäßen zu vereinigen. Daß ein joldes Bud 

auch denen, weiße ich mit dem Gange und dem Schönften deuticher Dichtung durch Selbititubium befannt 
machen wollen, joldhen, die aus innerem Drange gern in Boefien fich — * eine willkommene Gabe 
ſein wird, bezweifeln wir feinen Augenblick. Der Anhang, welcher die methodiſche und leicht faßliche 

Darftellung der Bildlichleit der Poeſie, der Vers und Gaftungslehre nebſt den Biographien ber Dichter 

enthält, wird dazu dienen, den Werth dieſes Buches —* für den Privat- wie Schulgebrauch zu 

erhöhen.“ — Da es durd das fjorgfältigfte Arrangement des Sabes ermöglicht worden ift, zugleich die 
reihhaltigfte Sammlung herzuftellen, dürfte das Buch vor älteren äbnlihen Werfen entichieben den 

Borzug verdienen. Inhalts: Berzeichniffe, alphabetiich nad den Anfangszeilen der Gedichte und chrons- 

togilc nah Dichtern und Anhalt georbnet, erhöhen die praktiihe VBerwenbbarteit. 

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Der Berfaffer beabfichtigt mit dem vorliegenden Werke eine kurzgefaßte Ueberfiht über bie Ge— 
jammtliteraturgefhichte als praktiiches Hülfs- und Nachſchlagebuch zu geben, und man muß gefteben, 
daß er die Aufgabe, die er fich geftellt, recht glüdlich gelöft bat. In Marer, überfichtlicher Darftellung 
werben die irgendwie bedeutenden Dichter und Literatur - Erzeugnifie ſämmtlicher Eulturvölter angeführt 
und nad dem heutigen Stande der Wiſſenſchaft kurz und durchweg treffend dharakterifirt. Wir empfehlen 
das Wert, das troß feiner ſchlichten Art ein ebenfo ſcharfes wie anziehendes Bild von dem allmäligen 
Gange der Geiftesbilbung und Eulturentwidelung der einzelnen Bölter entwirft, auf's Beſte. Der Schluh 
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deten Leſerkreis zugänglichen * und Sprache eine ein —— Erflärung und äſthetiſche Würdigung 
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aufgefunden. Ein intereflanter Beitrag zur Thüringifchen, ———— Eiſe nachiſchen Lokalgeſchichte 
Die Reimchronik ftammt aus dem Ende des 16. Jahrhunderts, beginnt die Erzählung aber Fon mit 
dem Jahre 450. Sie ift ein reicher Beitrag zur Denk- und Anihauungsweije jener Zeit, und in fultur 
biftoriicher Beziehung find einige Stellen von größtem Werthe. Der Herausgeber hat der Chronik eine 
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latinae, goticae forma et usn. Bon Dr. E. Milbelm, Brofeffor in Jena. 
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Pädagogifde Studien. 


Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein. 


13. 5 ef t. 


Die 


gewerbliche Bildungsfrage 


und 


der induſtrielle Rückgang. 


Von 


Drr. Karl Büder, 


Lehrer der Wöhler-Schule in Frankfurt a. M. 


Wien und Leipzig. 
——— Verlag von A. Pichler's Witwe & Sohn. 
handlung fiir pädagogiihe Literatur und Lehrmittel » Anstalt. 





Drud von Fiiher & Wittig in Leipzig. 1877. 


Vorwort, 


Wie kommt Saul unter die Propheten, die Socialpolitit unter 
die Meifter von der Schule, - der gewerbliche Nüdgang umter die 
„Päbagogifchen Studien“? So mag der geneigte Lejer beim Erbliden 
diefes Schriftchens ausrufen, das viel eher in die von der Unruhe der 
Zeit durchtränkte gewerbliche oder volkswirthſchaftliche Fachliteratur fcheint 
verwiefen werden zu müffen, als in die ftille Gefellichaft, wo die höchften 
Fragen der Menfchenerziehung im Ganzen und im Einzelnen mit pein- 
lichet Sorgfalt erwogen zu werden pflegen. 

Allerdings ift das die landläufige Auffaffung, die wahrlich nicht 
zum Mugen der Sache zwei Gebiete von einander jcheidet, welche ihrer 
Natur nach im innigften Zuſammenhang ftehen. 

Das große fociale Problem, welches gegenwärtig die Geifter auf: 
regt und beunruhigt, hat eine recht ernſte pädagogische Seite. Und die 
wichtigsten und einjchmeidenften Fragen der Pädagogik laſſen ſich hin- 
wiederum fo wenig von ihrem focialen Untergrunde abtrennen, daß jeder 
des Harbewußten focialpofitischen Zieles entbehrende Löſungsverſuch nur die 
Verwirrung der Köpfe vermehrt, die Zerfeßung der Gejellfchaft beichleunigt. 

Neben den wirthichaftlichen Gegenfägen, welche in ihren ferneren 
Fortſchritten die modernen Kulturvölter in unzählige Proletarier und 
wenige Millionäre fcheiden zu wollen fcheinen, ftehen die Gegenſätze der 
Bildung, nicht minder ſchroff und unvermittelt, mit einem gleichen Zuge 


der Vererblichkeit — neben dem Heinen Häuffein derjenigen, welche mit 
1* 


1 


der ganzen geiſtigen Errungenſchaft alter und neuer Zeit ausgerüſtet ſind, 
die große Maſſe der geiſtig Armen, deren Anſchauungen theilweis um 
Jahrzehnte, ſelbſt Jahrhunderte hinter der Gegenwart zurückliegen. 
Als Angehörige deſſelben Staates, als Bürger derſelben Gemeinde, als 
Glieder deſſelben Wirthſchaftsorganismus erſtreben ſie daſſelbe Ziel; aber 
ſie gehen neben einander und verſtehen einander nicht; ſie legen mit 
gleichem Recht den Stimmzettel in die Wahlurne, und ihre Gedanken— 
freife, ihre politischen Begriffe, ihre Anjchauungen von Recht und Sitte 
berühren fih faum an der Peripherie. Man täufche ſich ja nicht: die 
Bildungsgegenfäge find in einer ftarfen Strömung begriffen, fich zu er: 
weitern und zu verjchärfen; fie tragen in ihrer lebhaften Wechſelwirkung 
und theilweiſen Durchkreuzung mit den Einkommens- und Vermögens: 
gegenfägen ein neues Moment der Gefahr in fi. Won ihrer Aus: 
gleihung hängt es zunächſt ab, ob auf dem friedlichen Wege ftetiger 
Entwidlung ſich die jocialen Reformen vollziehen werden, deren Noth— 
wendigfeit ein Tag dem andern zuruft, eine Stunde der andern, oder 
ob kulturmordende Erjchütterungen eintreten jollen, welche die nationale 
Entwidlung und die mühjam errungenen TFreiheitsrechte aufs ernftlichite 
gefährden. 

Auf dem Gebiete der Volkserziehung fehlt es an der Durchführung 
flarer Rechtsgrundſätze mehr als auf irgend einem andern. Die ver- 
Ichrobenen Zuftände, welche aus jahrzehntelanger Vernadhläffigung und 
in Folge unbegreiflicher focialpolitifcher Kurzfichtigkeit fich erzeugt Haben, 
erjcheinen den Meiſten al3 das Normale, Naturgemäße. Mag die Un- 
vernunft des Bejtehenden noch jo verderblich zu Tage treten, für die 
Mehrzahl Liegt ſchon ein Rechtfertigungsgrund darin, daß es beiteht. 
Freilich man hat „Interefje* für Bildungsfragen, tönende Phrajen und 
eine ungeitige Art von fentimentalem Pathos fpielen nirgends eine 
größere Rolle, ald wo unfere Berufspolitifer oder die Wäter der Stäbdte 
auf die Schule zu fprechen kommen. Und erft die Prefie! Was wußte 
und weiß fie nicht Alles die langen Jahre her zu erzählen von Fort: 
bildungsjhulen, Bildungsvereinen, Wanderlehrern, der Realſchulfrage, der 
Freiwilligenberechtigung, der Schulaufficht, der Simultan- und Kon- 
feſſionsſchule — fie Magt auch wohl einmal über den chroniſchen Volks— 


— v — 


ſchullehrermangel, die niederen Lehrergehalte; aber ob in unſeren Schulen 
das dem Volke Nothwendige gelernt wird, ob dieſelben in der eines 
Kulturſtaates würdigen Verfaſſung ſich befinden, das fragt fie nicht. 
Für patriotiiche Feſte und ähnliche Gelegenheiten wird der „Schul- 
meifter von Sadowa“, „das Volk der Denker“ und Aehnliches aus dem 
redaktionellen Phraſenkaſten hervorgeframt; man regiftrirt dicht daneben 
unter der Rubrik „Rohheitsitatiftit” jeden Exceß der Straßenjugend oder 
der arbeitenden Klafje; man berichtet mit Humanem Behagen von der 
gejegneten Wirffamfeit des neugegründeten Thierjchugvereind; aber man 
weiß nicht? davon, daß jährlich viele Zaufende von Kindern in Das 
praftiiche Leben und den Kampf ums Dafein Hinausgeftoßen werden, 
deren geiftige Ausbildung oder vielmehr Nichtausbildung ein Hohn ift 
auf unjere jo viel gerühmte Kultur, auf die Liberalen Grundjäge unjeres 
Staat3- und Rechtslebens. 

Wenn im Folgenden der Verſuch gemacht iſt, eine Trage des 
praftiichen Gewerbelebens in ihrem Zuſammenhang mit der allgemeinen 
Bildungsfrage zu behandeln, jo erwartet der Verfaſſer, daß der konkrete 
Hintergrund, vor den er feinen Gegenftand ftellen konnte, diejen in der 
richtigen Beleuchtung zeigen und ihn jelbjt vor Mißverſtändniſſen und 
Mifdeutungen fügen wird. Im Uebrigen muß der Verſuch fich jelbit 
rechtfertigen. Daß er nicht möglich war, ohne weitverbreitete und vielen 
vielleicht Tieb gewordene Vorurtheile anzutaften, ohne manche mit devotem 
Eifer errichtete Altäre umzuſtürzen und den fie umgebenden Weihrauch- 
duft zu zerjtreuen, kann der DVerfaffer nur aus dem einen Grunde 
beflagen, daß er außer Stande ift, die angeregten Fragen an dieſer 
Stelle zu erfchöpfen. Jedenfalls hat überall das Beſtreben vorgewaltet, 
die realen Verhältniſſe unter den Füßen zu behalten und aus einer un— 
befangenen Betrachtung derſelben die Grundgedanken für die gegenwärtig 
in Fluß befindlichen Reformbeſtrebungen zu gewinnen. 

Die nachſtehenden Ausführungen verdanken einem Vortrage ihre 
Entſtehung, welchen der Verfaſſer im December vorigen Jahres im kauf— 
männischen Verein zu Frankfurt a. M. gehalten hat. Kurz vor Boll- 
endung des Druds fanden die Verhandlungen des preußiichen Ab— 
geordnetenhaufes über den Wehrenpfennig’ichen Antrag betreff3 des 


— vi — 


gewerblichen Unterrichtsweſens Statt. Sie boten keinerlei Anlaß zur 
Aenderung der vorgetragenen Anſichten, wohl aber ſtärkten fie die Ueber- 
zeugung des Verfaſſers, daß bei der allgemeinen Verwirrung unflarer 
Tagesmeinungen hier endlich einmal deutlich Farbe befannt werden muß. 
Es jteht jonft, troß des alljeitig Fundgegebenen guten Willens, zu fürchten, 
daß man auch ferner über allgemeine Redensarten und Fchwächliche 
Erperimente nicht hinauskommen wird. Wenn die Herren Bolfsver- 
treter ich ſelbſt mit eittem: non liquet und den Gewerbeſtand mit 
einem WBechjel auf die lange Sicht des Unterrichtögefees getröftet haben, 
jo iſt das ficher eine Anwendung des jetzt jo beliebten dilatorifchen 
Verfahrens am unredhten Orte. Wenn man in Deutjchland warten 
will, bis fich Theoretiler und Praktiker, Zeitungsfchreiber und Dugend- 
politifer iiber eine Frage geeinigt haben, bei der irgend erhebliche egoiſtiſche 
Snterefjen in Mitleidenschaft kommen, jo kann man wohl bis ans Ende 
der Tage warten. Wollen wir zögern, big uns das Ausland nod 
weiter hinter fich zurüdgelaffen hat und die Ausficht, daſſelbe einzuholen, 
in immer größere Ferne gerückt ift? Mit Recht fagt ein namhafter 
Induftrieller aus dem Reichslande, Herr Engel-Dollfus in Mülhauſen: 
Lessentiel est que l’on ne recule devant aueun des probl&mes 
si diffieiles, qui s’offrent dans l’existence industrielle. Les &luder, 
c’est s’exposer presqu’a coup sur, & les retrouver plus tard, sous 
une autre forme, aggraves et presqu’insolubles. 


Frankfurt a/M., im Februar 1377. 


Schon mit dem erſten Beginne der großen Kriſis, aus welcher unſere 

wirthſchaftlichen Zuſtände ſich feit drei Jahren vergeblich emporzuarbeiten 
ſuchen, hat man ängſtlich nach den Urſachen des Stillſtandes, der Noth, des 
Rüdgangs auf dem Gebiete der Induſtrie geforſcht; man hat ein wahres 
vollswirthſchaftliches Sündenregifter aufgeftelt und bald den Staat, bald 
das Kapital, bald die Fabrikanten, bald wieder die arbeitende Klaſſe mit 
Vorwürfen überſchüttet. Der Minifter wie der Handbwerkslehrling, der 
ipefalirende Börfenmann wie der ftrifende Yabrikarbeiter, der Bropucent wie 
ver Konfument, der Milliardenfhwindel, die moderne Gewerbegejeggebung, 
die Tarifverhältniffe unferer Eifenbahnen, der Mangel an billigen Wafler: 
ſtraßen, die freihändleriſchen Zolleinrihtungen, die Laften des Militarismus, 
der große Krieg, die Unreellität der Yabrifanten, die Gründungen auf Aktien, 
die Unbotmäßigfeit und Zügellofigkeit der Arbeiter, die hoben Löhne, die 
Beihränfung der Kinderarbeit, die Socialdemofratie, felbft das „Luther- 
thum“ und der Kulturfampf wurden für das hereinbredhende Elend, je nad) 
Etimmung und Gelegenheit, nad Intereffe und Parteiftandpunft verantwort: 
ih gemadıt. 
Eine unbefangene Prüfung al’ diefer guten und ſchlechten Grüude und 
Ausreden für das einmal nicht abzuleugnende Uebel wäre ein verbienftliches 
Unternehmen. Sie würde in legter Linie auf die Erkeuntniß führen, daß 
dem jähen Ausbrechen biefer periopifhen Krankheit Organifationsfehler unferes 
geſammten Wirthſchaftsſyſtems zu Grunde liegen, an deren Fortdauer mit 
Iofalen Mitteln, wie Kontraktbruchsgeſetzen, Schupzöllen u. dgl nichts 
geänbert wird. Schon die eine Thatſache, daß bie gegenwärtige Geſchäfté— 
frife alle Imbuftrieftaaten, den einen mehr den anderen weniger, ergriffen 
bat, und jenfeits des Oceans mindeftend ebenjo verderblich wüthet als in 
Europa, muß den Einfihtigen abhalten, nad) lofal wirkenden, auf die deutſche 
Induftrie beſchränkten Urfahen zu ſuchen, die man dagegen für die befonderen 
Leiden befonderer Induftriezweige, wie der Eifen- und Zertilbrande, immer: 
bin zugeftehen Tann. 

Die Reuleaur’fhen Briefe aus Philadelphia find noch in lebhafter Er- 
innerung; ber Kampf der Meinungen, welchen biefelben heroorriefen, beginnt 
fib nun allmählich abzufühlen. Man hat hier vielfach den Geſichtspunlt, 
von welchem der Berliner Gelehrte ausgegangen war, mit den Gedanken 
über die allgemeinen Urfahen der Krifis vermifcht und den legteren eine 
neue hinzugefügt: die Schledhtigfeit der deutfhen Arbeits- 
leiftungen. Dean ſprach wierer, wie vor einem Jahre der preußiſche 
Sinanzminifter in einer allbelannten Keichstagsrede, von der „Konkurrenz- 
unfähigfeit* ver deutſchen Induſtrie, nur daß man diesmal nidht die 


2 


hohen Arbeitslöhne, jondern die geringe Qualität ver Arbeitsprodufte ver— 
antwortlih machte. Wahr ift allerdings, daß Profeffor Reuleaur' Urtheil 
von einer Vergleihung der deutfhen Arbeitsleiftungen mit denen bes Aus— 
landes feinen Ausgang nahm; wahr ift au, daß derſelbe den handels— 
politifhen Gefihtspunft der Konkurrenz auf dem MWeltmarkte in fpäteren 
Priefen berührte; aber unrichtig ift es, daß die Qualität unferer Arbeits- 
feiftungen mit der gegenwärtigen Krifis in wefentlihem Zufammenhange 
ſteht. Oder will man wirklich im Ernte behaupten, daß feit dem beutjch- 
franzöfifhen Kriege die Umfiht unferer Fabrikanten, die Tüchtigfeit unferer 
Urbeiter in dem Mafe abgenommen habe, daß wir nicht mehr leiften fünnen, 
was vorher möglich war? 

Damit fell die Berechtigung der am unferer Induſtrie geübten Kritif 
nicht im mindeften angezweifelt werben. Das deutfche Gewerbe fteht in ver 
That und ftand aud ſchon früher in der Qualität feiner Leiftungen viel- 
fach hinter dem Auslante zurüd. Biele unjerer Induftrie-Erzeugnifle laſſen 
Solivität der Technik, Korrektheit der Arbeit, künſtleriſche Geſchmacksbe— 
thätigung vermiffen und verfperren ſich natürlich fo nicht nur den Weltmarkt, 
ſondern veranlafien felbft einen beträchtlichen Theil der kauffräftigften ein- 
beimifhen Konfumenten, ihren Bedarf aus dem Auslande zu deden. Aber 
diefe Thatſache war lange vor ver Weltausftellung in Philadelphia befannt 
und bewegte die Gemüther aller derjenigen, welche unfere gewerblichen Ver— 
bhältniffe mit unbefangenen und wohlmollenden Augen betraditeten. Nur 
wurden die gutgemeinten Rathſchläge und Mahnungen von ven betbeiligten 
Kreifen überhört; es mußte erft die Nothlage der legten Jahre kommen ; 
e8 mußte vor aller Welt erft die ſchwärende Wunte entblößt werben, bis 
man fi mit unwilligem Murren zur Selbftihau und Selbftprüfung und 
nah vielem Sperren und Würgen auch zu einem ſtark verflaufulirten 
Sündenbekenntniß entſchloß. 

Die Wichtigkeit der Frage auch für die geſammte nichtgewerbetreibende 
Bevölkerung iſt einleuchtend, und fo ernſtlich oben ihre urſächliche Ber— 
bindung mit der gegenwärtigen Geſchäftsſtockung zurückgewieſen wurde, ſo 
wenig kann geleugnet werben, daß der Erfolg unſerer Induſtrie im Wett— 
bewerb auf dem Weltmarfte wejentlih von der Güte ihrer Leiftungen ab» 
hängt. Ja noh mehr: wir haben jelbft einträgliche Pofttionen bier aus 
feinem anderen Grunde an das Ausland abtreten müſſen, als weil wir in 
der Qualität der Produkte zurüdftanden. Aber es muß nachdrücklich vor 
zu ausfchließliher Betonung dieſes Gefichtspunftes gewarnt werben; wir 
laufen fonft Gefahr, daß unfere Gewerbepolitif, wie fie das feither ſchon 
zu thun pflegte, die erportfähige, fapitalreihe Großinduſtrie unterftiitt, 
während bie Fleineren, vorwiegend für einheimifche Konfumenten arbeitenden 
Geſchäfte in ihrer alten Verkümmerung fortvegetiren. 

Man Hat fih im Anuſchluß an die Reuleaur'ſchen Briefe vielfah mit 
ten Urſachen des betrübenden Zurüdbleibens unferer Induftrie-Erzeugniffe 
hinter den Zeitanforbungen beihäftigt; man hat neben vielem Unvernünftigen 
aud manches Treffende gefagt; Vorſchläge zur Bellerung find ebenfalls 
gemacht — verſchieden freilih je nah der Individualität ihrer Urheber. 
Wenn ih auf dem folgenden Blättern mid an derſelben Aufgabe mit 
befonderer Rückſicht auf die gewerbliche Bildungsfrage verfuche, fo made ich 


3 


keinen Anfpruh auf Vollſtändigkeit und Allffeitigkeit. Es kommt mir viel 
mehr auf die leitenden Gefihtspunfte und bie großen wirtbfchaftlich-focialen 
Zufammenhänge an; die Einzelerfheinungen führt das Leben leicht jedem 
jelbft vor Augen. 


Die Mängel in der Beſchaffenheit der deutfhen Inbuftrieprodufte treten 
hauptſächlich auf drei einander berührenden Gebieten zu Tage: 

1. In denjenigen ©ewerbözweigen, weldhe die Anwendung der 
Majhine und der Arbeitstheilung in größerem Umfange geftatten, 
wo demnach die billige Maffenproduftion Regel ift; 

2. bei denjenigen Gewerben, welde eine höhere wifjenfhaftlid- 
tehnijhe Ausbildung zur Vorausfegung haben und bei denen eine 
der wiffenfchaftlihen ähnliche Forſchungsthätigkeit mit langwierigen oder 
foftipieligen Verſuchen ohne NRüdfiht auf unmittelbaren Gewinn die Be 
dingung des Erfolges ift; 

3. bei denjenigen Arbeitsleiftungen, für welche bie handwerfsmäßige 
Routine nicht ausreiht, teren Blüthe vielmehr von individuellem 
Geſchmack und fünfllerifher Durchbildung, von glüdlider 
Erfindung und Kombination abhängt. 

Mas den erften Punkt betrifft, jo ift e8 derjenige, bei welchem befonvers 
das Reuleaur'ſche „billig und ſchlecht“ feine Öeltung findet. Es ift darüber 
in jüngfter Zeit fo mandherlei beigebraht worben*), daß es Raumver— 
ihwendung wäre, wenn ich midy bier mit Erläuterungen aufhalten wollte. 
Auch für die zweite Kategorie bedarf es deren kaum. Wenn bier der Ber- 
faffer der „theoretifhen Kinematif” Mangel an Fortfchritt im rein Tech— 
niihen gerügt bat, fo wird man ihm die Berechtigung dieſes Urtheils wohl 
nicht im Ernte abftreiten, follte man aud für andere Gebiete feine Kom: 
petenz nicht gelten lafjen wollen. Bereits im Anfange des vorigen Jahres 
überreichte der preußiſche Handelsminifter dem Abgeorbnetenhaufe eine Denk: 
ihrift, im welcher über die großen Schwierigkeiten bei Beſchaffung Leiftungs- 
fühiger Inftrumente für den Gebraud der geopätifhen, aftronomifhen und 
überhaupt der naturwiſſenſchaftlichen Staatsinftitute bitter geflagt und bie 
Gewährung einer ftaatlihen Subventien für die bei der Berliner Gewerbe- 
afademie beftehende mechanische Werkftätte dringend empfohlen wurde. Der 
Aufſchwung anderweitiger gewerblicher Thätigkeit, fo wurde geltend gemacht, 
babe „Mittel und Perſonen der Präcifionsmehanit mehr und mehr zu 
Gunften folder verwandten Zweige ber Gewerbsthätigkeit entzogen, bei 
denen eine Maſſenproduktion in größerem Umfange durhführbar ift, denen 
ſomit die höhere Ausnugung der Arbeitsfräfte andauernd höhere Löhne zu 
geben geſtattete“ Bedenkt man, daß ber hier berührte Zweig der mecha- 
nifhen Technik nicht bios den ausgedehnten Kreis der naturmifienfchaft- 
lihen Mefjungs- und Beobadhtungsapparate umfaßt, fondern aud bie dem 


*) Bol. bie allerdings nicht ganz unparteiifhe Sammlung von Streitichriften: 
F. Reuleaur und bie beutfche Andujtrie auf der Weltausftelung in Pbilabelpbia. 
Leipzig. G. Hirth. 1876. Ferner Franz Wirth im „Arbeitgeber“. November und 
December 1876. Januar 1877. 


4 

Schulunterrihte zur Grundlage dienenden Inftrumente und Modelle und 
alle diejenigen mechaniſchen Mittel, welche der Mafchineninduftrie, dem Ber- 
kehrsweſen, vielen fanitären und anderen Wohlfahrts-Anftalten zur Förderung 
und Sicherheit dienen, ja, daß von der fchöpferiihen Thätigkeit der wiſſen— 
fhaftlich-praftifhen Mechanik der Fortſchritt unferer gefammten materiellen 
Kultur abhängt, fo wird man die Bedeutung jenes officiellen Geftänpniffes 
und das Eingreifen bes Staates, der ja fonft der Wirthichaftspolitif des 
laisser faire, laisser aller huldigt, richtig zu würdigen willen. *) 

Die dritte unter den angeführten Gewerbeflafien umfaßt alles das, 
was man gegenwärtig als Kunftinduftrie zu bezeichnen pflegt. Die 
Beitrebungen auf dieſem Gebiete find in den legten Jahren befanntlich ſehr 
lebhaft geweſen; ihr Beginn fält mit det Londoner Ausftelung von 1851 
zufammen. Damals erfannte nicht blos Deutfhland, fondern auch die 
übrigen Inbuftrieftaaten Europas, daß ihre Leiftungen nad der Seite des 
Geſchmacks von Frankreich weit übertroffen wurden, und fie ſuchten mit 
rührigem Eifer das nachzuthun, was Franfreih durch eine Generationen 
alte Uebung und im gefiherten Befige eines beftinnmten Marktes entfalten 
fonnte. Es wurden Mufeen, Zeitfhriften und Schulen für das Kunſtge— 
werbe gegründet; mit gewaltigem Sammeleifer wurde auf bie Weberrefte 
früherer Blüthe des Kunſthandwerks Jagd gemacht; die „Werfe der Väter“ 
wurden zur ftehenden Redensart. Voran ging England mit der Gründung 
des South Kensington Museum, an das fih bald eine Gentrallehranftalt 
anſchloß mit einem über das ganze Yand verbreiteten Ne von Zeichenfhulen. 
Es folgte 1864 Defterreih mit Gründung des Mufeums für Kunft um 
Induſtrie. In Deutfhland war man ſchon vorher auf privatem Wege 
vorangegangen. in großes Vervienft hat z. B. der Münchener Kunſtge— 
werbeverein, der im legten Jahre fein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum 
feierte. Hier und da mifchten fi national-deutſche Gedanken mit ven ge 
werbliden Nüdfihten. Man fprah von dem „wälſchen Tand“, ven man 
abıhun müſſe, und meinte damit die Parifer Kunft- und Lurusinduftrie. 
Auch die Etaatsbehörden nahmen fih der Sadhe an. In Bayern, Wiürttem- 
berg und Baben wurden Kunftgewerbefchulen gegründet, Mufter- und Anti- 
quitätenfammlungen angelegt; 1867 folgte Preußen mit dem Gewerbemufeum 
in Berlin, dem fi) bald Sachſen anjhloß.**) Die rafh einander ablöfenden 
Weltausftellungen boten immer wieder neuen Anlaß zur Vergleihung, neue 


*) Weber das „Ideenſtehlen“ im beutfchen Mafchinenbau vgl. Schlidenien im ber 
Hirtb’fhen Sammlung ©. 15. Im Allgemeinen f. Heine: Reuleaur und bie deutſche 
Induſtrie. Berlin, Seybel, 1876. Schon Reuleaur erhebt in ber Vorrebe zu jeiner 
„Kinematif“ Tebhafte Klagen über ben Mangel an jelbftändigen Erfindungen im 
Maſchinenfach und tadelt auf das fhärfite, daß in Deutſchland bie Sucht, fremde Er: 
findungen in verfchlechternder Meife nachzuahmen, um fi greife. Hierdurch fommen 
jelbfiverftändlich die deutſchen Fabrifate in Mißkredit; und da der Fabrifant, welder 
unredlich genug ift, fit ohne Entſchädigung fremde Erfindungen anzucignen, feine 
Luft Bat, Felo Neues zu erfinnen, fo verliert die Induſtrie alles Originelle und finft 
auf die niebrigite Stufe herab. er 

**) Ausfuͤhrliches über bdiefe Beitrebungen bei H. Schwabe, Die Organifation 
von Kunftgewerbejhulen in Verbindung mit dem beutfchen Gew.-Muſ. Berlin, 1868. 
Ze fe DO. Motbes, Deutſches Kunftgewerbe und der Münchener Kongreß. Leipztg, 
. ©. 18. 


5 

Nahrung für jene Beſtrebungen. England und Oeſterreich machten raſche 
Fortſchritte und nöthigten Frankreich zu den äußerſten Anftrengungen, um 
feinen Vorrang aufreht zu erhalten.*) Im Italien und der Schweiz, in 
Belgien und Holland regt man fi; ſelbſt Amerika errichtet Eoloffale Kunft- 
gewerbemufeen in Boften, New-York und Philavelphia.**) In Deutfch- 
land ift die Bewegung in den legten Jahren ganz bejonders lebhaft geweſen; 
es genügt bier an die Ausftellungen kunftgewerblicher Erzeugniffe in Dresden, 
dranffurt a. M., Köln uud Münden zu erinnern. Am legten Orte war 
Öelegenheit geboten, das bis jest Erreichte prüfend zu überſchauen und an 
ben Leiftungen der Vergangenheit die Früchte ber modernen Beſtrebungen 
zu meffen. Man bat vielfach behauptet, daß die deutſche Inbuftrie in 
Münden die Scharte von Philadelphia zum Theil ausgewetzt babe. Ich 
babe bei eigener Anjhauung der Ausftellung des Olaspalaftes diefe Be- 
bauptung nur in fehr geringem Maße beftätigt gefunden. Biel Künftliches 
gab’8 allerdings da zu ſchauen, aber aud viel Ungeſundes. Die ganze Be- 
wegung wurzelt zu wenig in ber breiten Maſſe der Gewerbe; fie ift von 
außen her in einzelne Gebiete derſelben hineingetragen ; fie wird von feinem 
kräftigen volfsthümlihen Impuls getrieben, wie ihn das 16. Jahrhundert 
zeigt, fondern riecht ftarf nad der Stubierlampe der Kunftgelehrten; fie 
arbeitet nicht für die Bedürfniſſe des täglichen Gebrauchs, fie zielt nicht auf 
die Gefhmadsveredelung des Unbemittelten, fondern fpefulirt auf dem liber- 
reizten Luxus, wie ihn fchmell erworbener Reichthum erzeugt, ober doch auf 
ven Äußeren Schein, ber die auslänvifhen Käufer Ioden fol. Wir find 
auf diefem Gebiete noch weit entfernt von der gefunden Einfiht der Fran- 
zofen, aus welcher unlängft in Paris die Preisaufgabe hervorging, eine 
möglichft gefchmadvolle, aber zugleih auch billige und zwedentfprechende Aus- 
ftattung einer Arbeiterwohnung herzuftellen. Die Bewegung hat ihre Be- 
rehtigung, nur fange man unten an und hüte fi vor Abwegen. ***) 


*) Mothes a. a. O. Bol. Blod, Statistique de la France I, 258 fi. 

*) Reuleaux, Briefe aus Philadelphia. Braunfchweig, 1877. ©. d8f. — 
Ueber Defterreih, vgl. Eitelberger von Ebelberg, Die dfterreihiihe Kunit: 
Inbuftrie und bie heutige Weltlage. Wien, 1871. Derf.: Ueber Zeihenunterriht und 
funftgewerblihe Fachſchulen. Wien, 1876. A. Ilg, Die kunftgewerbliden Fachſchulen 
bes f. f. Handeldminifteriums. Wien, 1876. Endlich die Weliausſtellungs-Feſtſchrift: 
Tas diterreichifhe Mufeum und bie Kunftgewerbejchule. 1873. 

***) Ich kann mir nicht verfagen, bier einen Paſſus aus ben „reichsfreundlichen 
Betrachtungen“ ber „Augsb. Allgem, Ztg.” über die Münchener Ausftelung wieberzu: 
eben: „Dean täufche fich doch nicht“, jchreibt fie, „das Gewerbe hat mit dem erzielten 

olg berzlih wenig zu thun. Wenn man bie Ausftellung forgfältig durchmuſterte, 
wenn man bie Gegenjtände nicht blos anfchaute, fondern effektiv prüfte — was freilich 
mit ziemlicher Weisheit verhütet wurbe, weil man bei 15 Mark Strafe nichts an- 
rühren burfte — jo zeigte fihb im Münchener Glaspalaft ganz biefelbe Erſcheinung, 
wie fie Reuleaur in Philadelphia fand. Auch im Münchener Slaspalaft ift nur bass 
jenige, was in bie Sphäre der „Kunſt“ reichte, jhön und lobenswerth gewejen; nur 
die Leiftungen biefer Art waren es, welchen ber große Erfolg zu danken iſt — das 
vortreffliche Arrangement gehört ja auch ſchon zu ben „Kunſtleiſtungen“ — aber jobald 
das eigentliche Gewerbe in Frage fam, und bei allem, was in biefe Kategorie gehörte, 
da zeigte ſich vollftändig diejelbe Mifere, unter welcher jeder von uns im alltäglichen 
Leben fjeufjt und welcher Reuleaur mur beredte Worte geliehen bat. Es war mir bies 
nicht umerwartet; ich habe im Jahre 1854 in der damaligen Ausitellung ein Paar 
Stiefel gefeben, auf deren Sohlen mit künſtleriſcher Vollendung bie Landſchaft Tegern- 


— 


Die Urſachen des Rückgangs der gewerblichen Arbeits— 
geſchicklichkeit ſind theils ſolche, welche aus der Umgeſtaltung des ge— 
ſammten Gewerbebetriebs entſprangen und ſich mehr oder weniger auch in 
anderen Induſtrieländern geltend machten, theils ſolche, welche unſeren 
deutſchen Verhältniſſen eigenthümlich ſind. Ich glaube dieſelben in drei 
kurzen Sätzen zuſammenfaſſen zu können: | 

1. Die modernen Formen bes Gewerbebetrieb haben. das perſön— 
lihe Band, welches ehemals Probucenten und Konjumenten ver- 
fmüpfte, entweder gänzlich zerriffen oder doch bedeutend gelodert und 
damit das Gefühl der Berantmwortlidhfeit für die einzelnen 
Ürbeitsleiftungen ſtark erjchüttert. E 

2. Der früheren Gewerbe» Berfaffung lag die Ivee des Berufes zu 
Grunde, der zum allgemeinen Beften betrieben wird, die freie 
Konkurrenz maht die produktive Thätigleit zum Geſchäfte, das 
in erfter Linie ven perſönlichen Vortheil verfolgt. 

3. Die gegenwärtige Gewerbe-Organifation macht eine allfeitige, Den 
Zeitanforderungen genügende Ausbildung des Arbeiters auf 
dem berfümmlihen Wege in den meiften Fällen unmöglid. 

Wenn man uns fragt, was wohl die größte Beränderung in ver 
modernen gewerblichen Produktion hervorgebradht habe, fo wird jeter rafch 
mit der Antwort zur Hand fein: die Machine, die Arbeitttheilung, Das 
Fabrikweſen. Diefe Worte erſchöpfen aber die Sache nicht. Es handelt fich 
viel weniger um die Propuftion, die Hervorbringung der Güter, als um 
die Bertheilung derfelben zum Verbrauch. Denn die Konjumtion oder ihr 
früberes Stadium, der Bedarf, ift urfprünglic ver bewegende Yaltor jedes 
gewerblihen Schaffens ; die Mittel, den Bedarf aus engeren ober weiteren 
Kreifen zu befriedigen, die Leichtigkeit und Raſchheit des Verkehrs, des 
Transports, beftimmen die Art der Produktion und des Vertriebs, wie über- 
haupt die ganze Geftaltung der Wirthſchaft. Im Altertum bewegte fih ver 
wirthſchaftliche Kreislauf von der Probuftion bis zur Konjumtion in der 
Hauptfahe felbftändig innerhalb des einzelnen Hausweiens: ed war bie 
fogenannte geſchloſſene Hauswirthſchaft; nur wenige Turusgegenftände wurben 
für den Export gearbeitet. Im Mittelalter bildete jede Stabt — und bie 
Städte waren faft ausfchlieglih ter Sig ber gewerbliden Arbeit — einen 
in ſich abgejhloffenen Wirthſchaftsorganismus, der felbftändig, je nach feinen 
Bedürfniſſen, die Produktion, die Vertheilung und den Berbraud der Güter 
regelte. Das Gewerbe wurde nur im Slleinen betrieben; bie Arbeit harte 
eine Tünftliche und ftraffe Organifation in den Zünften, deren Hauptziwed 
die angemefjene Befriedigung des ftädtifhen Bedarfs auf Grund einer Aus- 
gleihung der Imtereffen von Probucenten und Konfumenten war. Diejes 
Berhältniß erhielt fih nur fo lange, als die Verkehrsmittel ſchlecht und 


jee durch farbige Holaftiften aufgetragen war — aber um ein Schuhwerk zu befommen, 
bas waſſerdicht ift oder einen eleganten Fuß macht, muß man nah England, Baris 
oder Wien gehen. Man fand auf ber Ausitellung imitirte gothiſche Schlöffer, Renaifjances 
Thorbänder und Aehnliches, die einem Künftler das Herz laden machten; aber in 
unferen Häufern geht fein Schloß und fchließt fein Fenſter. Wir haben Buchbinder, 
deren Pebereinbände mit denen bes Mittelalters recht wohl rivalifiren können; aber 
feiner bindet unfere Bücher fo, baß fie beim Auffchlagen liegen bleiben,“ 


7 
unfiher waren; mit dem Auflommen bequemerer Straßen, größerer Sicherheit, 
mit der Erfindung der Eifenbahnen, des Zelegraphen, mit der Raſchheit, 
Biligkeit und Zuverläffigkeit des Perfonen-, Güter: und Briefverkehrs dehnte 
fih das Abfaggebiet für die Gewerbe aus, wurde es für die Konjumenten 
leichter, ihre Berürfniffe zu vermanichfaltigen und über die zunächſt ſtehende 
lolale Produktion hinauszugreifen. Heute ift das einzelne Hausweſen wie 
die ftädtifche und dörflihe Gemeinde oder allgemeiner: jeder Produktions» 
und Konfumtionsort ein unfelbftändiges Glied in dem Organismus der 
Gefammtheit aller Einzelwirthihaften; die Umwälzung in den Verfehröner- 
bältniffen Hat alle Schranken zwiſchen ven einzelnen Produktionsorten nieber- 
geriffen ; die Wirthſchaft nähert fih der Weltwirtbihaft und dies um fo 
mehr, je mehr man die Feſſeln der alten Gewerbeverfaffung abgeftreift hat, 
je mehr Gewerbe- und Handelsfreiheit herrihen. Diefe Verhältniſſe und 
mit ihnen Hand in Hand eine Keihe wichtiger technifcher Erfindungen haben 
erft der werbenden Kraft des Kapitald und der Ausvehnung der Großpro— 
duftion den Boden geebnet, auf dem ihre Macht zur Entfaltung fommen konnte, 

Der Handwerker der alten Zeit arbeitete für einen ziemlich eng be- 
grenzten Iofalen Abfatkreis, für feine Kundſchaft, wie man feine fländigen 
Abnehmer fehr bezeichnend zufammenfaßte. Der heutige Probucent, einerlei 
ob Groß» oder Slleingewerbetreibender, arbeitet für den Weltmarkt; fein 
Abnehmerkreis kennt keine Schranken, und wenn er aud auſcheinend Lokal 
begrenzt bleibt, jo find es doch immer die allgemeinen Marktverhältniffe, 
welhe auf Art und Preis feiner Produkte den maßgebenven Einfluß üben. 
Es ift für die früheren Bertriebsverhältmiffe charafteriftifch, daß fie zwiſchen 
dem Handwerker und feinen ftändigen Abnehmern ein feites, von ethifchen 
Fäden durchzogenes Band fchufen. ° Der Producent fannte feine Kunden 
(daher die Benennung) und ihre befonvderen Wünfhe und Bedürfniſſe; er 
beftrebte fi, denſelben nad Kräften zu genügen; er fühlte eine gewiſſe 
verfönliche Berantwortlichkeit für die Schönheit, Solidität und Dauerhaftigkeit 
feiner Arbeiten. Heute find biefe perfönlichen Beziehungen zum guten Theile 
weggefallen. Der Konjument dedt feinen Bedarf, wo er es am billigften 
und zwedentjprechenpften kann, und ver Producent fieht fi gemöthigt, feine 
Produktion nicht für das individuelle Bedürfniß eines bekannten Runden» 
kreifes, fondern nad der allgemeinen Nahfrage des Weltmarktes, nad ber 
Mode, einzurichten; es verliert das Bewußtſein der perfönlihen Haftbarkeit 
für feine Leiftungen. 

Um diefen allgemeinen Sag zu verdeutlichen, genügt ein kurzer Ueber: 
bit über die dermaligen Hauptformen, in welchen ſich der Gewerbebetrieb 
bewegt. Man kann deren fünf unterfheiden: 1) die reine Fabrikinduſtrie, 
2) Manufaktur oder .Hausinduftrie, 3) Gewerbe, in welden die Arbeits- 
theilung eine bebeutende Ausdehnung gewonnen hat, 4) Magazingewerbe und 
5) Haudwerke und überhaupt ſolche, welche unmittelbar für den Konfumenten 
arbeiten. *) 

Für die Fabrifinduftrie und ben Grofbetrieb bedarf das 
Geſagte keines Beweifes. Der kaufmännische Vertrieb bildet hier ein Gebiet 


*) Bol. für das Einzelne G. Schmoller, Zur Gefdichte der deutfhen Kein: 
gewerbe im 19. Jahrh. Halle, 1870, ©. 159—254. Ueber die Ausdehnung ber 


S 

für fih; der Producent tritt mit dem Konfumenten nur ausnahmsmweife 
in birefte Verbindung; der lokale Verſchleiß kommt vielfah gar nicht in 
Betracht. Es gehören hierher in erfter Linie Inpnftriezweige, welde won 
jeher ein großes Kapital erfordert haben, ſodann ſolche, welche erft mit ven 
technischen Erfindungen der Neuzeit entftanden find und erft im dritter Linie 
Gewerbegebiete, auf welden eine Verdrängung des Handwerks Statt ge- 
funden hat. Im erfter Linie find bier zu nennen Bergbau und Hütten: 
weſen, der größte Theil der Metallverarbeitung, das ganze private Berfehrs- 
weien, ſodann die Mufchineninduftrie, bie chemrifchen Fabriken, Tapeten=, 
Porzellan- und Kautfhufinduftrie, endlich Webereien und Spinnereien, Zucker⸗, 
Stärfe:, Farben- und Theerbereitung, die Fabrikation von Kunftwein, Bier, 
Spiritus, Steingut, Glas, Papier, Kurz: und Galanteriewaaren, ein Theil 
der Leder- und Holzinduftrie, Dampfmühlen, Drudereien, das ſtädtiſche 
Baugewerbe ꝛc. 

Die Hausinduftrie befteht befonders in denjenigen Gewerben, in 
welchen die Herftellung des Produkts fih durch mehr oder weniger einfache 
und leicht erlernbare Verrichtungen bewerkftelligen läßt, die ohne große 
Muslelkraft auch von Frauen und Kindern, oft neben ber Landwirthſchaft, 
ausgellbt werben können. Der Arbeiter oder die Arbeiterin bat mit dem 
Konjumenten des Produkts gar nichts zu thun; ein faufmännifcher Unter- 
nehmer beforgt den Bertrieb ; oft fteht zwifchen ihm und dem Arbeiter noch 
ein Kommiffionär oder Faktor. Die Mifbräuhe und die befonteren Ein- 
flüffe dieſes Verhältniffes auf die Güte der Arbeiten bedürfen keiner Er- 
Örterung. Jeder benft fofort an die alte Weife der Spinnerei und Weberei, 
an alle Arten von Weißzeugnäherei, Striden, Stiden, Spigenflöppeln, Filet- 
arbeiten, Strob-, Draht: und Korbflehterei, an viele Arten der Heinen 
Ho» und Metallinpuftrie, Giürtler- und Beinarbeiten, Nagelfhmieberet, 
Uhrenfabrifation, Spielmaaren u. vgl. 

Eine große Reihe von Gewerben bat ſich mit Nüdfiht auf die wirth- 
ſchaftlichen Vortheile der Arbeitstheilung in mehr oder weniger zahlreiche 
Specialbranden gefhieven. Denke man z. B. an die Tiſchlerei. Neben 
den beiden älteren Hauptarten der Bau- und Möbelfchreineret finden fich 
eine Menge Specialfäher. Es gibt Meifter, die nur Tiſche, nur Stühle, 
Buffets, Sophageftelle, Fenfter, Thüren, Parketböden, Schnigarbeiten, Four nire, 
Särge, Kiſten ꝛc. fabriciren. Der Drechsler beſchränkt fih auf Pfeifen, 
Gigarrenfpigen, Stöde, Thürbrüder, Kegel, Spielmaaren u. dgl. Das Ge- 
werbe des Bürſtenmachers zerfällt in zehn bis zwölf Specialbranden won 
größerem oder geringerem Umfang. Aehnliches Tiefe fih fir die Buch» 
binderei, die Taſchenuhrenfabrikation, die Blehtwaareninduftrie nachweiſen. Ein 
vollftändiges Yager von Nürnberger Kleinwaaren umfaßt 1400 Nummern ; 
ein großer Theil verfelben entfteht unter den Händen von Specialiften. 
Selbft viele Zweige des Kunftgewerbes unterliegen der Arbeitstheilung und 
Specialifirung mehr, als mande Handwerfsenthufiaften glauben, die durch 
Hebuug dieſes Gebietes den gewerblihen Mittelftand erhalten zu fünnen 


fünf Betriebsgebiete bürften erft bie — der mit der Ey Beitegägfung ver: 
bundenen Gewerbezählung genaueren Auffchluß geben. — Bol. ch Roſcher, Ans 
ſichten der ———— tr, IV: Ueber Induſtrie im Großen ** Kleinen, ©. 118 ff. 


9 
meinen *). — Sehr viele diefer Geſchäfte find ohne großes Kapital zu be 
treiben ; fie arbeiten fir einen weiteren Markt, oft fitr große Exporthäufer, 
bei denen fih die einzelnen Artikel zu Kollektionen fammeln; manche halten 
daneben einen offenen Laden, in dem fie Paſſendes und Unpaſſendes mit 
ihren Fabrikaten vereinigen — immer ift die Beziehung zum Konfumenten 
nur eine fehr Lofe. . 

Albekannt ift das Magazinfyftem Daffelbe entipricht dem Be- 
dürfniffe und den Gewohnheiten des kaufenden Publitums und ift nad 
vielen Richtungen hin eine wirthſchaftliche Nothwendigkeit. Der Unter: 
nehmer ift entweder blos Kapitalift oder aud Techniker; bald hält er eine 
eigene Werkftätte, bald gibt er den Stoff an Meine Meifter aus, bald kauft 
er von den legteren das fertige Probuft; im jevem Falle ift ver kauf— 
männifhe Bertrieb ihm die Hauptfahe; der Producent kommt mit bem 
Konfumenten nirgends in Berührung. Als Beifpiele genügen die Magazine 
von Kleidern, Schuhmwaaren, fertigem Weißzeug, Möbel, Leber, Papeterie. 
Ein Mißbrauch des Syftems find die Wanderlager, die ftehend gewordenen 
„Ansverfäufe”: die Rolle, welche bier ver Producent fpielt, braucht nicht 
ausgemalt zu werben. **) 

Was bleibt und num no übrig für das eigentlihe Handwerk alten 
Stils, bei dem der Meifter gleichtüchtig in allen Einzelheiten feines Ge- 
werbes, für den unmittelbaren Berbraud feiner Kunden arbeiter? Offenbar 
berzlih wenig. Da find zunächſt folhe Handwerker, weldye lediglich im 
Dienfte größerer Geſchäfte ftehen. Die meiften Fabriken haben ihre Schloffer- 
und Reparaturwerfftätte; ein Buchbinder ift ausſchließlich für eine Verlags- 
iirma, ein Küfer für eine Weinhanplung beihäftigt, ein Schreiner macht 
nur Packkiſten für eine Fabrik. Daran fchließen fi die Reparaturgewerbe. 
Da die früher genannten vier Arten des Gemwerbebetriebes fih nur aus- 
nahmsweiſe mit der Reparatur ber von ihnen gefertigten Artikel abgeben, 
je finden biefe lohmenden Erwerb. Unjere Uhr- und Büchſenmacher ver- 
fertigen felten noch neue Uhren oder Schiegwaffen ; der Flickſchneider ift eine 
befannte Figur ; vor furzem hat ſich dahier (in Frankfurt) fogar ein großes 
Schuh » Reparatur = Gefhäft etablirt. Gewerbswiſſenſchaftliche Syſtematiker 
haben früher wohl die Baugewerbe als für ewige Zeiten vor. dem fabrif- 
mäßigen Betrieb gefichert bezeichnet. Wo ift heute ver „Bauherr“ des alten 


*) Bol. Reuleaur, Briefe ©. 53 über die Theilung der Arbeit in der franzöſiſchen 
Keramif. 

**) Die Frage bat von biefer Seite noch kürzlich (11. Dechr. v. 3.) den Reichstag 
beſchäftigt. Es wurde von dem Abg. Adermann u. a. geltend gemadht: „Die 
Randerlager führen leichte Waare, deren Anfertigung ſchon bie Arbeiter demoralifire 
und jebenfall® ber beutfchen Induſtrie jhädlich fei, die allen Grund babe, fih von dem 
leider zu viel befolgten Grundfage „billig nnd jchlecht” frei zu machen. Die Wander: 
lager loden gewöhnlich durch große Reflamen das Publikum an, auf bejien Täuſchung 
es abgefehen ſei; während ber ſeßhafte Kaufmann zur Wahrung feines guten Rufes 
unb feines Kredits von berartigen Manipulationen durchaus fih fern halten müſſe. 
68 liege Grund genug vor, dem ehrenhaften Kaufmannsitand in diefer Beziehung durch 
die Gejepgebung zu Hülfe zu kommen.“ Gin interefjantes franzöſiſches Urtheil über 
biefe in anderen Ländern von der Öffentlichen Meinung und der gejhäftlichen Tradition 
gleih ſcharf verurtbeilten Praftifen j. in db, Reforme &conomique vom 15. Februar 
1876, S. 3967. 


Zimmermannsfprucdes in dem Zeitalter ver „Spekulationsbauten”, der „Bau-= 
fabriten*? Dem Sleinbetrieb find faft nur die Gewerbe bes lofalen An- 
bringens und Reinigens — Glaſer, Ofenſetzer, Tapezierer, Scornftein- 
feger —, die perfönlihen Dienftleiftungen des Barbiers, Frifeurs u. dgl, Die 
Nahrungsmittelgewerbe — Bäder, Fleifher — gefiert, auf allen anderen 
Gebieten machen die modernen, probuftiveren Formen reißende Fortſchritte. 

Es bevarf faum eines bejonberen Hinweifes daranf, daß die fünf hier 
gefhilderten Hauptformen des heutigen Gewerbeberriebes keineswegs durch 
fharfe Orenzlinien von einander geſchieden find. Auf dem Lande, in in- 
buftriearmen Gegenden herrſcht vielfach noch die alte Art ver Gütererzeugung 
vor; and in manden Städten gibt ed noch genug Handwerker alten Schlages 
und mande Bevölferungsihichten haben eine Borliebe für viefelben. Aber 
fie find zufehends im Abnehmen begriffen oder verfümmern unter der durch 
unfere Berkehröverhältnifie möglihen auswärtigen Konkurrenz. Die Arbeits- 
theilung, die Anwendung der Majchine, felbft das Magazinſyſtem bieten zu 
viele wirtbichaftliche Vortheile; unter der herrſchenden Gewerbefreiheit haben 
die nieberen, weniger zeitgemäßen Formen ihnen gegenüber einen ſchweren 
Stand. Bei vielen Arten der Hausinduftrie und des jpecialifirten Gewerbes 
ift e8 nur eine Frage der Zeit und des Kapitals, wann die Fabrikräume 
fie umfchließen follen. Offenbar ift alfo die Tendenz vorhanden, den Riß 
zwiſchen Producenten und Konfumenten immer weiter und allgemeiner zu 
machen, ven faufmännifchen Vertrieb überall von der Fabrikation zu trennen, 
während auf dem fommterciellen Gebiet die entgegengejegte Strömung herrſcht, 
die vielen Zwifchengliever zu entfernen und jever Krämer direkt vom Import- 
baufe in Rotterdam oder Hamburg, vom Fabrilanten in yon oder Man— 
hefter beziehen möchte. Mit der Entfernung vom Konfumenten wird wicht 
mehr veffen beſonderes Bedürfniß, fondern die auf dem großen Markte be- 
liebte Form und Ausftattung wie Preis der Waaren aud für ven Heinen 
Gemwerbetreibenven das Beſtimmende. Dazu fehlt ihm jedes Mittel, auf den 
Markt einen Einfluß auszuüben; bier herrfcht der große Fabrikant, ber 
faufmännifche Unternehmer, der es in der Hand hat, den in feiner Klientel 
befindlichen Heinen Specialiften, den Hausarbeiter über bie wahre Sachlage 
zu täufchen, ihn immer tiefer herabzudrücken und immer abhängiger zu 
machen, dabei aber den ganzen Gewinn der Produktion für fi einzufteden. 
So richtig es ift, daß das Aufkommen jener faufmännifhen Mittelsperfonen 
einen Fortſchritt in der Arbeitstheilung, eine weitere Bequemlichkeit für vie 
Abnehmer gefhaffen hat, fo falſch ift es, daß ihre Thätigkeit für bie Billig- 
keit des Produftes, die Güte der Arbeit im Ganzen förderlich geweſen ift. 


Es wurde fodann weiter hervorgehoben, daß zum Schaden unferer 
Urbeitsleiftungen überall im Gewerbe das reine Gefhäftsprincip 
berrfchend zu werben beginnt. Der größeren Deutlichleit halber geftatte 
man auch bier einen DVergleih mit dem mittelalterlihen Zunftwefen. Die 
Zünfte vertraten im ihrer beften Zeit die Idee des Berufes. Die zahl- 
reihen Zunftorpnungen, welche uns aus mittelalterlihen Städten erhalten 
find, wurden erft fchriftlich niedergelegt, als die Zünfte felbft bereits ihre 


— 


volle Ausbildung erlangt hatten; ſie geben alſo nur die thatſächlich vor— 
handenen Zuſtände wieder. Ueberall tritt uns nun aus ihnen die An— 
ſchauung entgegen, daß die Zünfte oder Handwerksämter beſtehen „um des 
gemeinen Nutzens und Beſtens willen“, daß ihre höchſte Pflicht die Förde— 
rung des Gemeinwohls mittels der gewerblichen Produltion if. Dafür 
gewährt die Stadt den Meiſtern ihren Lebensunterhalt in dem ausſchließ— 
lichen Recht auf den ftäbtifhen Markt. Innerhalb der Zunft war fomit 
jeder einzelne Meifter eine Urt von befolvetem ftäptifchen Beamten; das 
Handwerf wurde zum Berufe, der manichfahe rechtliche und moralifche 
Pflihten auferlegte und in welchem der Einzelne feine ganze höhere Lebens— 
aufgabe bejchlofjen fand. 

Die Zimfte entarteten fpäter in engherziger Beſchränkung der Gewerbe: 
gerehtfjame und waren zulegt nur noch eine ftarre Form ohne gefunden 
Yebensinhalt. Das, was früher ein Amt gewefen war zum allgemeinen 
Beiten, wurde zum wirthſchaftlichen Monopol im Dienfte des privaten Egois- 
mus, das mit eiferner Zähigfeit feftgehalten und zum Schaden ver fonfu- - 
mirenden Mehrheit wie ber unfelbftändigen Arbeiter ausgebeutet wurde, 
Die neuere Zeit mit ihren Fortfhritten im Verkehrs- und Mafchinenweien 
bat zulegt auch diefe Schranken eingeriffen; fie hat an ihre Stelle vie 
Öewerbefreiheit gejegt, welche allein dem Princip der politifchen Freiheit 
und rechtlichen Gleichheit der Einzelnen entjprad. Das Grundprincip der 
Gewerbefreiheit ift die freie Konkurrenz, d. h. innerhalb ver allge 
mein rechtlichen Schranken darf jede Privatwirthihaft ihr Selbftinterejje bei 
Feſtſetzung der Preife für Waaren, Dienftleiftungen, Zinfen, Miethe ꝛc. fomeit 
geltend madhen, als es ihr beliebt. Die einzige wirthichaftlide Schranke 
gibt die Wechſelwirkung zwiſchen Angebot und Nachfrage. Man kann den 
wohltgätigen Einfluß, welden vie freie Konkurrenz auf Rafhheit und Spar- 
jamfeit der Produktion, auf Vervolllommnung der tehnifchen Arbeitsmethoden 
(Auwendung neuer Mafhinen, Stoffe :c.) gehabt bat, fehr hoch anſchlagen; 
man darf aber daneben nicht vergeffen, daß fie die Stellung bes Gewerbe: 
treibenden innerhalb der Geſellſchaft in einer für die höheren Zwecke des 
wirthſchaftlichen Lebens nachtheiligen Weife verändert hat. Nicht nur, daß 
fie in ver Abſicht, einen ehrlihen Kampf der Kräfte zu ermöglichen, von 
dem Irrthum ausging, daß alle wirtbfchaftlichen Perfonen unter gleihen Be— 
dingungen auf dem Kampfplag erfhienen, während die wirtbfchaftlihe Ein- 
heit vielmehr eine Zufammenfegung von Perfon und Kapital ift; fie hat 
auch äußerlich den Gewerbebetrieb der Berufseigenfhaft entkleivet, fte hat 
den Producenten zum Gefhäftsmann gemadt, der in feinem ganzen Thun 
und Laffen nur das Selbftintereffe, den perſönlichen Bortheil, den Geld- 
erwerb verfolgte. Es ift ja durchaus nit ausgefhloffen, daß der einzelne 
Gewerbetreibende für fi höhere Gefihspunfte fefthält, daß er auch tes 
Konfumenten geventt, der feine Erzeugniffe gebrauchen will; moralifhe Grund— 
füge, wirtbichaftliche Klugheit können ihm das gebieten; aber in ber That 
ift er nur durch die Verhältniſſe des Marktes beftimmt. Und leider bilven 
diefe für die Mehrzahl ven einzigen Maßſtab; das Selbſtintereſſe wird zum 
ftrafbaren Eigennuge; die gewilfenlojen Elemente werden nur immer nod) 
ſchlechier und gar leicht wird im gejhäftlihen Dängen das Strafgefegbuch 
der einzige Moralkodex. Nichts illuftrirt dieſes Syftem deutliher als die 


Büder, Die gewerblide Bilbungäfrage. 2 


12 





Beliebtheit einer Produftionsform, wie es die der inbuftriellen Aktienunter- 
nehmungen ift, bei welchen feine perfönlihe Berantwortlichkeit des Probu- 
centen binter dem Produkt fteht, ver Gelderwerb allein das treibende Motiv 
ift, der wirthihaftlihe Nuten eines Unternehmens nad der Höhe der Divi- 
denden bemefjen wird. 

Die freie Konfurrenz gab den Boden, auf welchem fid) die Macht ver 
Großinduſtrie gleih verberblih für dem gewerbetreibenden Mittelftand wie 
für die Güte der Arbeitserzeugniffe entfalten follte. Der maſchinelle Grof- 
betrieb hat fih in Deutfchland ziemlich fpät entwidelt. Er fand auf dem 
fremden und theilweife auch auf dem einheimifhen Markte bereits eine 
fapitalfräftige, leiftungsfähige ausländifche Konkurrenz vor. Es boten fih 
ihm, wie Reuleaur fehr richtig bemerkt hat, zwei Mittel, dieſe Konkurrenz 
zu beftehen, entweder Herabjegung des Preifes oder Steigerung der Dualität 
bei Fefthaltung des beftehenden Taufchwerthes. Kaufmänniſch führen be 
kanntlich beide Wege zum Ziele; aber es ift auch ebenfo Kar, daß, inbuftriell 
und volkswirthſchaftlich betrachtet, der legte allein auf die Dauer möglich ift. 
Die deutfhen Imbuftrielen haben leiver die einfahften Regeln wirtbicaft- 
licher Klugheit und Borausfiht außer Augen gelaſſen; fie haben vie Kon: 
furrenz durch die Billigfeit des Preifes aufgenommen, bie mit der Zeit die 
Berfchlehterung des Produkts herbeiführen mußte Sie haben den Grund: 
fa der Preisfonfurrenz zu einem Grundzug unferer gejammten Produktion 
und eines großen Theiles unferes Waaren -» Umfages gemacht. Man wird 
bier einwenden: das faufende Publikum kennt kein anderes Friterium als 
das des Preifes; e8 hat in feiner breiten Maffe noch nicht den Standpunkt 
wirtbichaftliher Bildung erflommen, auf dem es Grundfag wird, immer nur 
das Befte zu kaufen, weil dieſes unter allen Umftänden auch das billigite 
if. Man muß darauf antworten: Nicht das Publitum, die Nachfrage, iſt 
e8, welche gegenwärtig auf die Qualität der Arbeitderzeugniffe den maß— 
gebenden Einfluß ausübt, fondern pas Angebot, die Produktion, welche durd- 
gehends nicht für den unmittelbaren Konfumenten, ven lokalen Verſchleiß, 
fondern auf Borrath, fir den Weltmarkt arbeitet. Und ift es denn ie 
richtig, daß das Publifum immer nur ver Billigkeit nachgeht? Die Tud- 
fabrifanten mögen ſich z. B. bei unferen Schneidern erkundigen, warum wir 
englifhen Stoff verlangen, wenn wir einen feinen Anzug brauchen. Die 
Großproduktion ift in dem Streben nad) raſchem Gewinn fehr bald im ver 
Verſchlechterung der Produkte an der Grenze des Möglihen angelangt. 
Die Maſchine geftattete, Stoffe zu verwenden, welche früher für die Hand- 
arbeit zu Schlecht befunden wurden und ihnen trogvdem ein gefülliges Aus: 
feben zu geben. Man nahm Baumwolle ftatt ver Wolle, Werg ftatt des 
Tlahfes; man lernte die Baumwolle fo verarbeiten, daß fie ein der Wolke 
ähnliches Ausfehen erhielt. Im manden Induftrien nimmt jegt die „Imie 
tation” einen größeren Raum ein, als die Driginalproduftion ; die Menge 
der Surrogate ift unüberfehbar. In Frankreich ziehen die Fabrikanten mit 
großen Koften Kiünftler und Mufterzeihner für ihre Ateliers heran; in 
Deutſchland hat man Jahrzehnte lang die fremden Mufter nachgeahmt oder 
durch engliihe und franzöfiihe Etiketten den Schund empfehlen zu müſſen 
geglaubt. Der irifche Leinenfabrifant macht jedes Stüd Shirting !/, ober 
!/, Yard größer als die Nominallänge; in Deutfchland kommen eine Menge 


13 


von Waaren (3. B. Wollengarn, Tabal, Stearinfergen, Band, Chofolade) 
padetweife in den Handel, welche nicht das angegebene Gewicht, die vor— 
ausgejegte Länge haben. Seit langem klagt man in Handelstammerberichten, 
gewerblihen Zeitfhriften, ſelbſt in der politiſchen Preffe über derartige ber _ 

trägeriihe Manipulationen; unfere fremblänvifhen Abnehmer bejchweren 
fih immer wieder darüber, daß beutiche Fabrifanten ihre Lieferungd- und 
Zahlungsfriften nicht einhalten, die Waaren unter der Muſterqualität liefern ; 
die Reuleaug - Literatur hat eine Reihe neuer Einzelheiten zu Tage ge 
fördert *); weitere Worte über den Gegenftand zu verlieren hieße Eulen 
nah Athen tragen. 

Wenn fhon die Großinduftrie die Rüdficht auf die Güte des Produfts 
außer Augen ſetzte, fo mußte dies auf das Kleingewerbe in verberblidhiter 
Beife zurüdwirten. Es producirte unter fchwierigeren Umftänden, mit 
größeren Koften und follte doch gleich billig verlaufen. Die Folgen liegen 
vor aller Bliden: die Möbel unferes Zimmers, der Inhalt unferes Bücher- 
ihranfes, die Geräthe der Küche belehren uns täglich darüber: allerwärts 
lüverlihe und unfolive Arbeit, gejhmadlofe Formen, unpraktiſche Ausführung, 
Laſſe man die Heinfte Reparatur beforgen, beftelle man gar ein Stüd für 
beionderen Zweck und nad eigener Erfindung — wie felten wirb der kleine 
Meifter das Wert nad Abficht und Beftimmung pafjend liefern, wie oft wird 
ihm dazu jeder Maßſtab bei Feitiegung der Preife abgehen! Wie manches Mal 
wird er Die unter heiligen Betheuerungen geſetzte Lieferungsfrift nicht ein- 
halten! Ueberall ift mit der Zeit eine lodere Gejhäftsmoral an die Stelle 
des Berufögeiftes getreten; man freut fi) wahrhaft, wenn man nod einen 
Handwerker alten Schlags findet, der an dem Werke feiner Hände freude 
empfindet, der fich der perfünlihen Verantwortlichkeit für feine Leiftungen 
bemußt geblieben if. Wundere man ſich darüber nicht in einer Zeit, in 
welher das Wort geſprochen werden konnte: „Man erwirkt die Millionen 
nit, ohne mit dem Aermel and Zuchthaus zu ftreifen“, in einer Zeit, in 
welher Strousbergifhe Gefhäftsmarimen öffentlich vertheitigt werden konnten, 
wo das ganze wirthichaftlice Leben zu einem rohen Intereſſenkampfe ge— 
worden ift, in dem jedes Mittel bebagt, wenn nur das blanfe Gold vabei 
in den Kaften kommt. 

Es ift feine Sprache ſtark genug, um dieſes Treiben gebührend zu 
kennzeichnen und zu verurtheilen. Mit melden Verdächtigungen und felbit 
Denunciationen bat man Reuleaur verfolgt, als er die eiternde Wunde 
unferes wirthfchaftlihen Lebens berührte! Man bat ihm vorgeworfen, er 
fördere durch feine Kritik den Vortheil unferer frempländifhen Konkurrenten, 
vernichte den Ruf unferer Inpuftrie im Auslande. Als ob da noch viel zu 
verlieren gewejen wäre! Hören wir eine franzöfiihe Stimme, die fi etwa 
ein halbes Jahr vor ven Philavelphia-Briefen darüber vernehmen ließ: 

„Die deutſche Induftrie trägt keinerlei Bedenken, mit den mittelmäßigften 
oder elendeſten Erzeugniffen ven Markt zu überſchwemmen; fie ſucht ſich zu 
bereihern durch Schwindel und Betrug; bie deutfchen Arbeiter entwürdigen 
niht nur dadurch ihre Geſchicklichkeit und ihr gemwerblicdes Talent, indem 


*) Bol, bie u, je: Sammlung; außerdem Wirth im „Arbeitgeber“ Nr. 1096 ff. 
Mothes a. a, O., 
2%» 


14 


fie fih zu all den berechneten Nadläffigkeiten der Fabrikation erniebrigen, 
fondern fie verfommen und verderben auch fittlich durch das Schaufpiel eines 
Urbeitgebers, der fih an dem Ertrag der techniſchen Fälfhungen und 
Täuſchungen bereichert, melde er ihnen zumuthet.* *) 

Dem Manne hat ficher feine freundliche Gefinnung bie Feder geführt; 
aber darf es uns gleichgültig fein, daß unfere Feinde auch nur mit einem 
Schein von Berechtigung fo von uns fprechen können ? 


Bei weiten am wichtigften ift die britte Urfache, welde für ven Rüd— 
gang der gewerblichen Arbeitsleiftungen verantwortlich gemadt werben muß: 
die Shwierigfeit und in vielen Fällen die Unmöglichkeit, 
auf dem herkömmlichen Wege eine den BZeitanforderungen 
entfprehende Ausbildung der Arbeiter zu erzielen. 

Diefer Sat wird vorausfichtlih wiel angefochten werden. Daß unjere 
gewerblichen Arbeiter durchgängig in Hinficht ihrer Arbeitsgefchidlichkeit viel 
zu wünfchen übrig laffen, ift eine Thatjache, die von den Einfihrtigen unter 
ihnen nicht beftritten, von Fabrikanten und Handwerkern viel beffagt wird 
— nur daß beide Theile, anftatt den beftehenvden gewerblichen Verhältniſſen 
Rechnung zu tragen, fi lediglich im gegenfeitigen perfönlihen Vorwürfen 
ergehen. Im äuferften Falle deuten die Einen noch mit einem in phrafen- 
haftes Dunkel gehüllten Hinweis auf die neue Gewerbe» Orbnung, die an- 
deren auf bie Ausbeutung durch das Kapital hin. 

Allerdings hat die durch die moderne Entwidlung erzeugte Veränderung 
in der Stellung der gewerblihen Hülfsarbeiter, der Gefellen und Lehrlinge 
zu ihren Arbeitgebern einen minveftens ebenfo großen Einfluß auf die ge- 
werbliche Arbeitsgefhidlichkeit ausgeht, als die Umwandlung ver Stellung 
unferer Handwerker und Fabrikanten zu ihren Abnehmern und Konfumenten 
— nur daß man die Urfahe in dem Wechjel äußerer Formen fuchen zu 
müſſen glaubt, während das innere Wefen der Sache fi verändert hat. 

In der alten Gewerbeverfaffung ftanden die Gefellen und Lehrlinge 
zu dem zünftigen Meifter in einem patriarhalen Dienftverhältniffe. Sie 
hießen im Mittelalter durchgehends „Knechte“; fie harten überhaupt nur 
ein Recht auf Arbeit, infofern fie die Meifter am ihrem „Amte“ Theil 
nehmen liefen und waren unter allgemeiner Ueberwahung ber Zunft in 
ihren einzelnen Leiftungen dem befonderen Meifter verpflichtet, deſſen Arbeits: 
gehülfen fie waren. Ste wohnten in feinem Haufe, aßen an feinem Tiſche, 
waren ber allgemeinen Hausorbnung unterworfen; der Meifter übte eine 
Art väterliher Gewalt über fie aus, hielt fie zu Fleiß und Ehrbarbeit, zu 
Gehorfam und Sparfamfeit an. Aber der unfelbftändige Arbeiter hatte 
auch ein feftes Tebensziel vor Augen; er wurde nach beftimmten Lehr- und 
Manderjahren jelbft Meifter und fügte fi deßhalb im die Unterordnung 
und Beihränfung feiner perfünlichen Freiheit. Diefes Berhältnig dauerte, 
fo lange das Gewerbe wenig ausgebildet war, änderte ſich aber, fobald durch 
die Beſchränkung der Zahl der Meifterftellen fi ein befonderer Gefellenftand 


*) Charles Boysset in ber Reforme &conomique Bd. II, ©. 397 (15. Febr. 1876). 


15 


herausbildete, der nie Ausficht hatte, zur Selbftändigfeit zu gelangen und 
feine Lage um fo bitterer empfand, je mehr die Arbeitsbedingungen einfeitig 
von ben Meifterlorporationen feftgefegt wurden. Auch das Mittelalter kennt 
feine Striles, jene Kämpfe um die günftigften Arbeitsbevingungen, bie ba- 
mals aus vielen Gründen für die Arbeitgeber und bie Stäbte furchtbarer 
waren, als heutzutage. Es folgte im Auſchluß am bier nicht zu erörternde 
kulturgeichichtlihe Ummälzungen eine entjeglihe Berfümmerung des beutjchen 
Handwerks, wo die Zahl der Meifter viel zu groß war, bie ber Gefellen 
auf ein Minimum herabſank, beſchränkte Selbſtſucht, Fleinlicher Formelkram, 
ein verzopfter Kaftengeift fi breit machten. Als die Großinduſtrie das alte 
Gebäude über den Haufen warf, verband fchon längft kein organifher Zu— 
fanmenhang mehr bie beiden Theile. Die früher geſchilderten Verhältniſſe 
fhufen bald Maſſen umjelbftändiger Arbeiter und Arbeiterinnen, welche zum 
allergrößten Theile niemals Ausfiht anf gewerbliche Selbſtändigkeit haben. 
Es entiprad nur einer Forderung der Gerechtigkeit, wenn mit Einführung 
ber Gewerbefreiheit die Stellung diefer zahlreihen Bevölkerungsklaſſe gemäß 
den allgemeinen Anfhauungen von bürgerlicher Freiheit beftimmt wurde, 
und wenn hier etwas zu beflagen tft, fo ift es nur, daß dies in Deutſch— 
land nicht ſchon früher geſchah. Die Beſchränkungen des perſönlichen Dienft- 
verhältniffes fielen ; es trat ein vechtliches Vertragsverhältnig an bie Stelle, 
das jedem tie höchftmögliche Berwerthung feiner Arbeitskraft fihern follte. 
Damit wurde die perfönliche Freiheit des Arbeiters und bie rechtliche Gleich— 
heit vom Urbeitgeber und Arbeitnehmer zur Orundlage ber Orbnung bes 
Arbeitsverhältniſſes gemacht. Nach dem modernen Arbeitsrecht wird bie 
Arbeit als eine Waare angejehen, bie ihr Befiger, der Arbeiter, je nad 
Angebot und Nachfrage verwerthet. Der Arbeitnehmer fteht rechtlich zum 
Arbeitgeber in Feiner anderen Beziehung als jever fonftige Waarenverfäufer 
zum Waarenkäufer. Er giebt feine Waare Arbeitskraft auf beftinmte Zeit 
ober für, beftimmte Einzelleiftungen und empfängt dafür den Preis in Ge— 
Halt des Arbeitslohnes. So wenig ed num einem Kaufmanne einfällt, neben 
der Einhaltung der feſtgeſetzten Lieferungs- oder Zahlungsbedingungen an 
feinen Gejhäftsfreund noch Forderungen perfünlicher Ergebenheit und Unter- 
wärfigfeit zu ftellen, ebenfo wenig hat der Arbeitgeber ein Recht, die alte 
patriarchale Unterordnung neben der Arbeitöverpflihtung in Anfprucd zu 
nehmen. 

Daß dies trogbem nod vielfach geſchieht, daß die Arbeitgeber ſich im 
Allgemeinen viel weniger den durd die Gewerbe-Orpnung geichaffenen Zu- 
fänden anbequemen mögen, als die Arbeiter, ift jedem Kundigen offenbar. 
Und daneben hat noch die Waare Arbeitskraft Eigenthiümlichfeiten, welche 
ihren Berfäufer ſehr unvortheilhaft von dem Berfäufer jeder anderen Waare 
unterfcheiden. Sie ift untrennbar von der menfhlihen Perfon; ihr Ber- 
kauf beſchränkt diefe mach jeder Richtung; der Käufer ift vermöge feiner 
wirthichaftlihen Ueberlegenheit im Stande, eine Herrfchaft über das gefanmte 
phyfifche und geiftige Leben des Arbeiter auszuüben. Mit der Arbeitskraft 
verkauft der Arbeiter ſich felbit und zwar zu einem Preife, der die gewohn- 
heitsgemäßen Unterhaltstoften feiner felbft und feiner Familie nur felten 
überfteigt, oft unter vdiefelben herabſinkt. Wenn die Arbeiter, von denen 
jeder Einzelne auf dem Arbeitsmarfte die Bedingungen annehmen muß, 


16 


weldhe ihm bie wirtbfchaftlihe Ueberlegenheit der Unternehmer biktirt, fich 
vereinigen, um beſſere Tohnbedingungen zu erzwingen, jo ift das ihr ein- 
faches Recht. Und dieſes Recht, welches auf der freien Konkurrenz beruht, 
ift wahrlich tiefer begründet, als dasjenige, nad welchem fi die Fleiſcher 
und Bäder unferer Städte oder die amerifanifhen Betroleum-Fürften ver- 
binden, um uns am unjeren nothwendigſten Eriftenzbebingungen durch 
Steigerung der Preife zu verkürzen. 

Ob dies ein focial wünfhenswerther Zuftand ift, das ift eine ganz 
anvere Frage, die bier nit zur Beantwortung fteht. Aber das darf man 
wohl fagen: wenn unſere Gewerbetreibenvden das fittliche Verhältniß des 
Berufes, d. h. eines Erwerbes, mit dem zahlreiche rechtliche und moralijche 
Pflichten verknüpft find, gegen das des Geſchäftes ausgetauſcht haben, das 
nur des Gelverwerbes wegen betrieben wird — haben viefelben dann irgend 
eine gegründete Beranlaffung, fich daritber zu beflagen, daß ihre Arbeiter 
fih) auf dem Boden des reinen Lohnverhältnifies halten, daß ihre Arbeits- 
thätigfeit nicht oder nur wenig von einer ethiſch-ſocialen Auffafiung durch— 
drungen ift? Man hört jo oft Fabrifanten den Ürbeiter anflagen, „er 
babe fein Interefie für das Geſchäft, er arbeite mit Unluft, er befige feinen 
Ehrgeiz”. Aber derſelbe Fabrikant fhent fih nicht, ohne feine Arbeiter zu 
fragen, eine ftrenge Fabrikordnung einzuführen mit bisciplinaren Strafbe- 
ftimmungen, die zu dem Vergeben in feinem Verhältniß ftehen und ber 
Chifane Thor und Thür öffnen; derjelbe Mann trägt fein Bedenken, in 
einer Zeit der Gejchäftsftille vie Arbeiter zu Hunderten zu entlaſſen mit ver 
Ausficht auf dauernde Arbeitslofigkeit, auf North und Elend von Frau und 
Kind.*) Wo foll unter diefen Berhältnifien das Intereffe, die Yuft, der 
Ehrgeiz berfommen? In Franfreih hat ſchon die große Revolution dem 
demokratiſchen Gleihheitsgefühl infoweit Geltung verſchafft, daß im perſön— 
lihen Berfehr zwiſchen Fabrikanten und Arbeiter die fociale und wirthſchaft— 
lihe Abhängigkeit des legteren nicht zum Ausdruck gelangt; in. England 
erzwingt bie weitverzweigte Organifation der Gewerkvereine den Arbeitern 
Ahtung ihrer Rechte; in Deutſchland will man nod immer trog Schaven 
und Berbruß die Yeußerlichkeiten des patriarchaliſchen Dienftherrnverbältnifies 
nicht aufgeben. 

Man kennt die Erfheinungen der Jahre 1871—73, der Zeit des fo- 
genannten wirtbichaftlihen Aufſchwungs. Die Arbeiter haben auch ihrer: 
ſeits die günftigen Konjunfturen benugt, um eine Erhöhung ihres Lohnes 
zu erzielen, ver vielfah in feinem Berhältnig mehr zu ben Preiſen ver 
nothwendigften Lebensbedürfniſſe ftand. **) Es ift zuzugeben, daß die Damals 


*) Fälle brutalen Verfahrens bei Arbeiterentlafjungen oder Lohnherabſetzung find 
in letter Zeit mehrfach fonftatirt worden. Während ich bies fchreibe, erhalte ich bie 
Nachricht, daß ein benahbarter Fabrifant, ber ſich früher durch Betbeiligung feiner 
Arbeiter am Reingewinn befannt gemadt bat, am Weihnachtsabend plöglich wegen 
flauen Gejchäftsgangs 50 Arbeitern gekündigt bat; er bätte wohl einen pafjenderen 
Zeitpunft wählen dürfen. sFeinbjeliges Benehmen ungebildeter und armer Menjchen 
entbinbet doch wahrlich den „gebildeten“ Fabrikanten nicht von jeder menſchlichen Rüdficht. 

**) Dap buch die Erhöhung bes Gelblohnes der Sachlohn der Arbeiter nicht 
eitiegen ift, weiß jeder, ber ſich mit ben Verhältniſſen ernftlich befchäftigt hat. Vgl. 
—8* i im Arbeiterfreund 1875, Heft 6. 


17 


ins Werf gefegten Arbeitseinftellungen mandmal die bei Löfung des 
Arbeitöverhältniffes üblihen Formen nicht beobachtet haben, und das ohne- 
bin bedrängte Kleingewerbe litt ſchwer darunter, daß auch hier die Gefellen 
diefelben Anfprühe geltend madten, wie ihre Genoffen in ben Fabrifen. 
Bald erhob ſich denn im deutſchen Reiche ein Auf der Entrüftung über bie 
Unbotmäßigkeit und Zügellofigkeit der arbeitenden Klaſſe, über die Unluft 
zur Arbeit, über den häufigen Brud des Arbeitsvertrag. Man verlangte 
kriminelle Beftrafung bes letteren, die Wiedereinführung von Zeugniffen und 
Arbeitsbüchern, ohne Skrupel darüber, daß man dem Geifte des modernen 
Arbeitsrechtes, deffen Bortheile die Arbeitgeber wohl auszunugen verftanden, 
daß man bem FFreizügigfeitsgefege damit ins Angefiht ſchlug, das Princip 
der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gefete verlegte. Als dann auf 
bie imbuftrielle Fluthperiode die nothwendige Ebbe, auf den Aufihwung ber 
unvermeidlihe Rückſchlag folgte, da waren es wieder zunäcft die Arbeiter, 
welhe man für das ganze Unglüd verantwortlihd machte. Die Steigerung 
der Arbeitslöhne follte auch die Preife der Imduftriepropufte jo in die Höhe 
getrieben haben, daß man mit dem Auslande nicht mehr fonfurriren könne. 
Die focialsdemofratifhe Agitation follte den Arbeitern Arbeitsluft und Arbeits- 
freubigfeit verborben, ihren Fleiß und ihre techniſche Fortbildung geſchädigt 
baben ; quantitativ und qualitativ follten die Leiftungen zurüdgegangen fein. 
Nun beträgt aber ber Arbeitslohn bei vielen Inbuftrieprobuften einen jo 
geringen Theil der Herftellungsfoften, influirt alfo demgemäß jo wenig auf 
vie Waarenpreife, daß man mit viel größerer Berechtigung wird fagen dürfen: 
die Mißgriffe bei unferer Münzreform, die planlofen und theuren Induſtrie— 
anlagen auf Aktien, die hohen Gründergewinne, die maflofen Dividenden 
haben die beutihen Waaren vertbeuert. Im England zahlt man höhere 
Löhne und ift doch fonkurrenzfähig; man arbeitet kürzere Zeit, und der 
einzelne Arbeiter probucirt mehr. Ja ein namhafter englifcher Fabrikant, 
Mundella, der die veutfchen Arbeiterverhältniffe aus feiner Berheiligung an 
ſächſiſchen Fabriken fennt, behauptet geradezu, daß die lange Arbeitszeit ber 
deutjchen Arbeiter eine Haupturfache ihrer geringen Yeiftung ift. Freilich 
findet ein als Fabrikant und Erfinder gleich ausgezeichneter Techniker, Dr. W. 
Siemens in Berlin, die Urfache ver feitherigen Produktivität der beutjchen 
Induftrie in den beiden gleich wenig erfreulihen Umftänden der Nahahmung 
fremder Erfindungen und der Billigkeit der Arbeitslöhne Aber verbienen 
denn Indbuftrien, welche lediglich durch Ideendiebſtahl und durch die Niehrig- 
feit förmlicher Hungerlöhne beftehen, die Eriftenzberechtigung ? Hervorragende 
Praktiler wie Theoretifer find darin einftimmig, daß aus vielfahen Be— 
obachtungen als regelmäßige Folge eines höheren Lohnes eine erhöhte Arbeits: 
tüchtigfeit fi) ergibt und daß mit einer allgemeinen Verkürzung der Arbeits- 
zeit (natürlich bis zu einer gewiffen Grenze) eine Steigerung der Leiftungen 
Hand in Hand geht.*) Wie follte nun plöglich der deutſche Arbeiter, ver 
im Auslante überall gefucht und geſchätzt und gut, gelohnt wird, feine ver- 
wehrte Muße, feine erhöhten Mittel im Baterlande nur in wüfter Schwelgerei 


#) Bgl. bie trefflichen Zujammenftellungen von Prof, L. Brentano: lleber 
das PVerbältnig von Arbeitslohn und Arbeitszeit zur Arbeitsleiftung. Feipaig 1376, 
und ben Nachtrag zu diefer Abhandlung in Holtzendorffs Jabrbud IV, S. 3995 -420. 


18 


vergendet haben, anftatt feine phyſiſche und geiftige Lebenshaltung mittels 
berfelben zu erhöhen und dadurch feine Arbeitstüchtigkeit zu fördern? Wahr- 
ih, man gibt der deutſchen Gefelfhaft, ihren Schulen, dem Beijpiele ver 
höheren Klaffen damit ein fehr demüthigendes Zeugniß; man fchreibt der 
arbeitenden Bevölkerung einen Grad von Rohheit und Verkommenheit zu, 
für den doch unfere Geiſtlichen und Lehrer, unfere Fabrikanten und Unter— 
nehmer, unfere Behörden und Minifter die Verantwortung zu tragen hätten. 

Tiefgreifende und dauernde fociale Mifverhältniffe verderben ven Reichen 
wie den Geringen, den Befehlenden wie den Gehorchenden. Es hieße bie 
Augen verfhließen, wenn man behaupten wollte, das durchgängige Verhältniß 
zwifchen Arbeitgeber und Arbeitnehmer entfpreche auch nur den befheidenften 
Anforderungen eines loyalen Bertragsverhältnifies; es hieße ungerecht fein, 
went man ber Klaffe der Arbeitgeber allein die Schuld zuſchreiben wollte. 
E8 geht ein für pas Gedeihen der Arbeit wie für bie gegenfeitige Stellung 
ber an der Imbuftrie zufammenwirkenden Kräfte gleich verderblicher Zug des 
Peifimismus durch die deutfche Arbeiterwelt; auch dem ebelvenfenden, für 
das Wohl feiner Arbeiter ernftlich beforgten Fabrikanten begegnet vielfach 
ftörrifche Feindfeligkeit und hartnädige Unzugänglichfeit für milde und ernfte 
Worte. Die Berbitterung hat oft einen fo hohen Grad erreicht, daß in ben 
MWerkftätten ein beftändiger Kriegszuftand herrſcht, und nicht felten läßt ber 
Urbeiter den Arbeitgeber gerade dann am liebften im Stihe, wenn er ihn 
am nöthigften brauht. Auch das darf nicht gelengnet werben, daß ber 
Urbeiter nur zu oft vergift, daß er die Verpflichtungen, welche er als freier 
Mann in freiem Bertrage, wenn aud zehnmal unter dem Zwang der Noth 
und unglnftiger Lohnverhältniffe, eingegangen hat, auch bis zu Ende er- 
füllen muß. Wo im Großgewerbe die Arbeiter von aller perſönlichen Be— 
ziehbung mit dem Wrbeitgeber Losgelöft und ver nicht felten unbefhränften 
Gewalt von weder Mugen noch humanen Werkmeiftern und VBorarbeitern 
anheimgegeben find, find dieſe Erfcheinungen nur zu erflärlih; daß vie 
felben auf das Handwerk fih mehr und mehr übertragen haben *), muß man 
bedauern. Jedenfalls wirken fie auf die Gilte der Arbeitsleiftungen nicht 
vortheilhaft ein und hindern den Arbeiter nicht felten auch, das zu benugen, 
was ihm für feine technifche Weiterbildung geboten wird. Daß die Agitation 
ber Socialdemofratie den Geift der Unzufrieveuheit und Berbitterung genährt 
bat, wer dürfte das in Abrede fielen? Aber der Erfolg dieſer Agitation 
follte doch auch eine dringende Mahnung fein, tn ernftlichen jocialen Reformen 
die Mittel zur Abhilfe zu ſuchen; er follte ſchon längſt die Einfiht allge 
mein gemacht haben, daß ber Arbeiter mit all feinen Fehlern, mit feiner 
ganzen Verbitterung und dumpfen Unzufriedenheit ein Provuft von Zuftänden 


*) Die betreffenben Zuftände find, wenn auch zu grell, gefhildert von Dannen= 
berg, Das deutſche Handwerk und bie fociale Frage. Leipzig 1872. Namentlich irrt 
berjelbe, wenn er bie Anfhauung vertritt, unter ber alten Gewerbeverfaffung babe 
zwiſchen Meifter und Gefellen eitel Friede und Eintracht gewaltet. Man frage jeden 
älteren Handwerksmeiſter; man blide, um ber mittelalterlihen Gefellenaufitände und 
Auftreibungen gar nicht zu gebenfen, auf bie Hanbwerkszuftinde bes vorigen Jahr: 
bunberts, wo bie Gejdichte ber Zunft, wie Böhmert, Beitr. zur Geſch. des Zunftw,, 
©. 49, fagt, „eine Geſchichte von Gejellenaufftänden war“ — und man wird fi febr 
hüten, von „neuen Innungen“ irgend Heil zu erwarten. 


19 


ift, deren Schuld auf die ganze übrige Gefellihaft zurüdfält. Namentlich 
muß der Behauptung widerfproden werben, daß der Socialismus einen 
bireften Einfluß auf das Sinken der Arbeitstüchtigkeit geübt habe. Schäffle 
» fhreibt mit Recht den deutſchen Socialiften einen hohen Grad wifjenfchaft- 
lihen Ernftes zu; ihre Parteiblätter und Agitationsfchriften -ftellen an bas 
Dentvermögen der Leſer bei weitem fehwerere Anforderungen, als die Zeitungen 
und bie Movelektüre der übrigen Klafien ; es ift oft zugeftanden und beflagt 
worden, daß gerade bie intelligenteren Arbeiter fih dem Gocialismus zu- 
wenden: Menſchen, welche venfen, welche ſich eifrig geiftig befchäftigen — 
fei e8 immerhin mit einer Wahn- und Irrlehre — können auch ihre in- 
duftriellen Arbeiten nicht geift- und gebanfenlos vollziehen.*) 

Faft zu lange fhon haben wir uns mit biefen wenig erquidlichen 
Dingen befhäftigt, ohne diefelben erfhöpfen zu können. Wir wiffen, daß 
wer bier gerecht fein will, nicht hoffen darf, einem won beiden Theilen zu 
gefallen, gefchweige denn beiden zugleih. Im der folgenden mehr techniſchen 
Betrachtung dürfen wir und kürzer faflen. 

Wir haben früher ven Umfang der Großinduſtrie und der übrigen 
modernen Gewerbeformen überblidt. Bei dem dabei zu Tage getretenen 
Fortfhritte des Princips der Arbeitstheilung muß es überhaupt zweifelhaft 
erfheinen, ob das Gewerbe an ſich noch im Stande ift, einen allfeitig techniſch 
durchgebildeten Arbeiterftand zu erzielen. Ueberall fommt ed nur darauf an, 
mit möglichft geringem Aufwand von Zeit und Arbeitskraft und fomit Ar- 
beitsloyn eine möglihft hohe Produktivität zu erreihen. Die Maſchine 
macht den Arbeiter zum willenlofen Werkzeug ; er muß zur beftimmten Zeit 
biefelbe einförmige Berrichtung immer wieder vollziehen ; die Mafchine jchreibt 
ihm Form und Art, der Stoff Güte und Dauerhaftigkeit feines Produktes 
vor: der eignen Erfindungskraft und Geftaltungsgabe bleibt faft nichts über- 
laſſen. Die Specialifirung im Kleingewerbe macht ihn auch bier einfeitig 
und führt ihn dem Schablonenwerf zu: ein Schreiner, der nur Parketböden 
arbeitet, wirb fein kunſtvolles Buffer, nicht einmal einen orbentlihen Tiſch 
mahen können. Er verliert die Weberfiht über das gefammte Fach, die 
Gewohnheit, feine Produktion dem Stile eined größeren Ganzen, ben 
wechfelnden Bedürfniſſen anzupafjen. Der Schloffer der alten Zeit machte bie 
funftvolle Drnamentif eines Thorbeſchlags mit derſelben Geſchicklichkeit, wie 
etwa einen einfachen Schlüffel oder ein Ofenrohr. Aber damals beſaß auch 
der Danbwerfer einen faft umnverlierbar ficheren Kundenkreis; die Arbeits- 
löhne waren nad dem Herfommen beftimmt; man fonnte dem Arbeiter Zeit 
laffen, unter den Augen und mit Beihülfe des Meifters fein Werf mit Ruhe 
und mit Aufwendung aller ihm zu Gebote ftehenden Gefchidlichkeit auszu- 
geftalten. Die Konkurrenz verführte damals nod nicht zur Verſchlechterung 


*) Bol. Hirth’8 Sammlung: Reulenur und die deutſche Induſtrie auf ber 
Weltausftellung, ©. 23f. unb ©. 37f. An letzter Stelle ift ein Artikel des „Volks⸗ 
ſtaat“ abgebrudt (vom 23. Juli 1876), wo ber Nachweis verſucht ift, daß bie in 
Philadelphia befonders ausgezeichneten beutichen Firmen meiſt focialiftifche Arbeiter 
beſchäftigen. Vgl. auch das interefjante Urtheil des Hanbelsfammerfefretaird Dr. Karl 
Roſcher über die zur legten Meichsenquäte berangezogenen Socialdemofraten in ber 
„Concordia“ 1875, Nr. 25. 


20 


des Stoffes, zum Abzwaden des Lohnes, zu eilfertiger und auf Täuſchung 
berechneter Arbeit. Die heute vielfach übliche Altorbarbeit hat ohne Zweifel 
ihre großen Vorzüge; aber fie nützt auch durch viel größere Anftrengung 
, Nerven und Muskeln viel mehr ab, als die Arbeit im Taglohn und follte 
deßhalb immer mit einer Verkürzung ber Arbeitözeit verbunden fein. That» 
ſache ift, daß ihre Einführung nicht felten einer verftedten Lohnreduktion 
gedient und bamit faft nothwendig ben Arbeiter zur höchſten Eile und zur 
weniger forgfamen Ausführung des Einzelnen gezwungen hat.*) Ju feiner 
gebrüdten und ausfichtslos abhängigen Stellung liegt nicht jener Zug ber 
Ruhe und Behaglichkeit, der zum Gedeihen jeder qualificirten Arbeit, be— 
fonders aber des Kunftgewerbes unerläßlich fcheint. 

Der häufige Perſonenwechſel innerhalb der einzelnen MWerkftatt ift das 
äußere Symptom jener vielfahen Mifftände im heutigen Arbeitsverhältnif, 
deren Schuld ſich immerhin gleihmäßig auf die Schultern von Arbeitgebern 
und Arbeitnehmern vertheilen mag, vie aber unferem Arbeiterftand eine Be— 
weglichfeit und Unftätigfeit eingepflanzt haben, die für feine wirthihaftliche 
und fociale Stellung, wie für die ruhige Ausbildung der Einzelnen und bie 
Kontinuität der Werkftatt-Trabition gleich verberblih if. Diefe Erkenntniß 
bricht fi immer mehr Bahn; die Fabrifanten beginnen auf Mittel zu 
finnen, durch welche fie einen gefchulten Arbeiterftamm dauernd feſtzuhalten 
vermögen. Die Anlage von Arbeitermohnungen, die Berfuhe der Betheili— 
gung der Arbeiter am Neingewinn, die Kranken» und Imvalivenfafien, 
mancherlei Anftalten zur billigen Beihaffung von Lebensmitteln u. dgl. find 
dieſem Beftreben entjprungen; daß der Erfolg diefer Bemühungen ven Er— 
wartungen in den wenigften Fällen entſprochen bat, liegt zum großen Theile 
baran, daß die Arbeiter hinter der breiten Abfichtlichkeit diefer „Wohlfahrts- 
einrichtungen“ nicht die Humanität, fonbern das Intereffe des Fabrifanten 
witterten, welches darauf ausgehe, fie nur immer noch abhängiger zu madhen. **) 
Es darf billig bezweifelt werben, ob es auf biefem Wege gelingen wird, auf 
die Zufriedenheit und Arbeitstüchtigkeit der Fabrikarbeiter für die Dauer 
wohlthätig einzumirfen ; dem Handwerk gehen folhe Mittel gänzlih ab. 


In jüngfter Zeit hat man ſich mehr daran gewöhnt, für den Berfall 
ber gewerblichen Arbeitsgefchidlichkeit nach einer nody tiefer liegenden Wurzel zu 


*) Schon bas Mittelalter wußte, daß Stüdlöhnung zur PVerfchlehterung ber! 
Nrbeitsprodufte führt: Schanz, Zur Gefdhichte ber deutſchen Gefellenverbände, S. 110. 
Mifbräude bei ber Stüdlöhnung in England von ben Gewerfvereinen befämpft: 
Brentano, Arbeitergilden ber Gegenwart Il, ©, 80 ff. Pal. Schmoller, Ueber 
einige Grundfragen bes Rechts und der Bolfswirtbichaft, S. 145. 

* Eine UWeberfiht dieſer Beitrebungen gibt F. Kalle, Mafregeln zum Bejten 
ber Fabrikarbeiter beſprochen vom Standpunfte bed Arbeitgebers. Wiesbaden 1875 — 
eine recht verftändige und mafvolle Schrift. Weitfchichtiges Material bieten bie 
officiellen Publifationen: Die Einrichtungen für die Wohlfahrt der Arbeiter der größeren 
gewerblihen Anlagen im preußifchen Staate. 3 Theile. Berlin 1876. — Die Ein⸗ 
richtungen zum Beſten der Arbeiter auf den Bergwerken Preußens. Berlin 1875. 
2 Bde. — Frief, Die wirthſchaftliche Lage der Fabrikarbeiter in Schleſien und die zum 
Beiten berjelben beftehenden Einrichtungen, Breslau 1876. Ohne dem Geifte, aus 


21 
ſuchen und glaubt diefe in den Zuſtänden bes heutigen Lehrlingsweſens 
gefunden zu haben. Allerdings gibt es bier der Klagen nicht wenige und 
diefelben find niemals lebhafter gewefen, als in den legten Jahren, nirgends 
beweglicher als bei den Handwerksmeiſtern. Auhänger der verfchiebenften 
wirthſchaftlichen Richtungen und Lebensftellungen, zünftleriih angehaudte 
Eccialpolititer, wie für abfolute Gewerbefreiheit ſchwärmende Mandyefter- 
männer, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer — die legteren felbft bis zu ber 
ertremften Richtung — find einftimmig barin, daß hier etwas geichehen 
müſſe, wenn nicht unfere Inbuftrie und damit die gefammte Bolfswohlfahrt 
den größten Schaden leiden ſolle. Es ift zweifellos richtig, daß unſer ge 
werbliches Lehrlingsweien an großen Uebelſtänden kranukt; aber es bebarf 
eines nicht geringen Grades focialer Unbefangenheit, wenn man die wahren 
Urfahen derjelben erkennen, die richtigen Mittel zur Abhilfe finden will. 
Von vorn herein kaun man behaupten, daß der Intereijentenftandpunft ſich 
nirgends unfrudhtbarer erwiefen bat, als gerade im dieſer Frage, bie doch 
in erfter Linie die fociale Tüchrigfeit und die Erwerbsfähigfeit der arbeiten- 
den Klaſſe und damit die ganze Geſellſchaft angeht. 

Hören wir zuvörderft die Klagen der Urbeitgeber, die fi mit er- 
müdender Einförmigfeit in allen Gewerben wiederholen *): 

„Seit Auflöfung der alten Gewerbeverfaffung bat ſich nicht allein eine erftaun: 
lihe Zunahme bes Bruchs von Lehrverträgen Seitens der Lehrlinge, fonbern auch eine 
Abnahme der Luſt, etwas Tüchtiges zu erlernen, berausgeitelt.e Das Streben ber 
Lehrlinge, ihrer Eltern und Vormünder it dem Uebergewicdht nach weniger auf bie 
Grreibung einer guten Fahbildung als auf die Gewinnung eines möglichſt hoben 
Lohnes bei möglichft geringer Leiſtung gerichtet. Die Lehrlinge haben aufgehört, wie 
früber es war, es als Ehrenpunkt zu betrachten, bei bemfelben Meifter, bei bem fie 
ihre Lehrzeit begonnen baben, diefelbe zu beendigen. Mit Gleichmuth geben fie einem 
Wechſel entgegen. Namentlich legen fie auf die Form, unter ber die Loͤſung des Lehr: 
lingeverbäftnifjes geichieht, Feinen Werth mehr. Mit diefer Schwächung bes Ehr— 
gefübls gebt das Schwinden ber Luft, feine Schuldigfeit zu thun, Hand in Hand. Dazu 
mehren fich täglich die Anzahl ber Fälle, dat Eltern und Vormünder ber durch Lehr: 
vertrag auf beftimmte Zeit gegen vorher vereinbartes Lohn gebundenen Lehrlinge noch 
im Laufe der Lehrzeit — zumeift im britten und vierten Lehrjahre — an bie Lehr: 
berren mit dem Verlangen berantreten, das Koſtgeld ber Lehrlinge ber Lohnabrebe 
entgegen zu erhöhen, widrigenfalls fie biejelben nicht ferner bei ihnen belafjen würden, 
und baf bei Weigerung biejer Koftgelderhöhung biefe Drohung zur Wahrheit gemacht wird.“ 

„Eine Verfolgung derartiger, nicht vereinzelt unter der Autorität der Vormund— 
ſchaftsbehörden verübten Rechtöverlegungen wird erfchwert, weil die Gerichte über die 
Kompetenzfrage ſtreiten. . . . Erlangt der Lehrherr aber jelbft ein obfiegliches Erkennt: 





dem biefe Einrichtungen hervorgegangen find, irgendwie zu nahe treten zu wollen, 
darf man body nicht verfennen, daß in benfelben für ben Arbeitgeber die Berfuchung 
liegt, einen Theil des Arbeitslohnes in einer für ben Arbeiter ſchwer meßbaren Form 
zu geben, und tbarfächlich empfindet ber legtere diefe Art von „Woblfahrtseinrihtungen“ 
als verftedtes Truckſyſtem. 

*) Die Stelle ift wortgetreu einem Gutachten entnommen, eritattet vom 
ſtändigen Ausſchuß ber beutjchen Baugewerfsmeifter in ber vom Berein für Social: 
politik veranitalteten Sammlung von Gutachten und Berichten über bie Reform bes 
Lebrlingswejene, Leipzig 1875. Weiteres Material findet fih in den Berhand- 
lungen ber dritten Generalverfammlung deſſelben Vereins. Leipzig 1875. Ferner bei 
Jul. Schulze, Das heutige gewerbliche Lehrlingsweien, feine Mängel und die Mittel 
zu beren Befeitigung. Leipzig 1876. — Dannenberg a. a. O. S. 4ff. — Stort, 
Enquete über die Verb. der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Berlin im „Arbeiter: 
freund“, XII. Jahrg. 1875. ©. 304 ff. 


22 


niß, fo fehlt e8 an ber nöthigen Rechtshülfe, ſolches zur Bollftredung zu nn In 
ven feltenften Fällen gelingt es, durch Perjonalzwang, ben Lehrling dem Lehrherrn 
zurüdzuführen, für welchen dann immer noch feine weitere — davon entſteht, als 
daß der Lehrling abſichtlich Alles verdirbt, um ſich fo bei dem Lehrherrn unleidlich 
zu machen und ſeine Entlaſſung zu erreichen. In den bei Weitem meiſten en 
weiß ſich indeß ber Lehrling durch Wechſel feines Wohnorts jeder Executionsmaßregel 
zu entziehen.“ 

Entſchädigungsklagen, fo wird weiter ausgeführt, ſeien hauptſächlich 
wegen der Mittelloſigkeit der Lehrlinge und ihrer Eltern ohne Erfolg; das 
allgemeine Rechtsbewußtſein werde dadurch getrübt, daß die Betheiligten ſich 
bei ihrem Kontraltbruch im Rechte glaubten. 

„Die Neigung ber Lehrlinge zum Kontraktbruch droht aber in weiterem Berfolg 
für die Entwidelung der Bauinbuftrie auch dadurch nachtheilige Wirfung zu äußern, 
daß mit Zunahme der Ungewißbeit, ob ber Lehrling feinen Vertrag aushalten und fein 
Lehrverhältnig beenden werde, bie ſchon vereinzelt auftauchenbe, an fi nicht ungerecht: 
fertigte Anfhauung in ben Lehrherrnkreifen weitere Verbreitung finden möchte, es ſei 
unflug, ben Lehrling möglichſt gründlid auszubilden. Denn ba ber tüchtige, geſchulte 
Lehrling vor Beendigung ber Lebrzeit Jeichter als Gefelle Arbeit finden wird, als ber 
minder gefchulte, fo wird felbftredend ber auf Ausbilduug bes Lehrlinge gerichtete 
größere Fleiß für ben Lehrherrn bie ihm nachtheilige Wirkung äußern, daß ber Lehr: 
ling ihm nur befto früher entläuft. Die Klugheit bürfte befhalb leicht zu ber ber 
Anduftriefahentwidlung nachtheiligen Praris —* ben Lehrling erſt möglichſt ſpät 
zur vollkommenen Ausbildung zu bringen, deshalb die Beibringung gewiſſer Handgriffe, 
Fertigkeiten und Arbeiten ſo zu ſagen bis zur letzten Stunde zu verſchieben, ſo daß 
es leicht kommen kann, daß ber eintretende Ablauf der Lehrzeit Lehrling und Lehrherrn 
überrafcht, bevor die vollftänbige Ausbildung gelungen iſt.“ 

Kürzer und bei weitem treffender faßt ein nahmhafter weftfälifcher 
Vabrikant *) die beiden einander bedingenden und fich gegenfeitig verftärfer- 
den Mißftände des heutigen Lehrlingsweiens zufammen : 

„Die Lehrlinge verlafjen einerfeits oft ftraflos ihren Lehrherrn 
vor Beendigung Hörer Lehrzeit, weil fie bei andern Arbeitgebern ohne Schwierig: 
feit angenommen werben unb weil das Geſetz es geitattet, während andererfeits 
mande Lehrherren ihre Lehrlinge als billige Arbeitskräfte auszu— 
— beſtrebt ſind, ſtatt pflichtgetreu für ihre Ausbildung zu 
orgen.“ 

Es iſt ein weitverbreiteter und, wie es ſcheint, unausrottbarer Irrthum, 
daß alles Schlimme, was unſer heutiges Gewerbeweſen bedrückt und beun— 
ruhigt, mit dem Erlaß der am 21. Juni 1869 für den norddeutſchen Bund 
publicirten, 1872 auch auf die ſüddeutſchen Staaten ausgedehnten Gewerbe 
Drbnung feinen Anfang genommen habe. Die beregten Uebel beftanden 
faft alle ſchon vorher, nur daß fie nad) Wegräumung der überkommenen 
Polizeifhranfen aud ferner Stehenden fihtbarer und den ſchuldigen Theilen 
empfinpbarer zu Tage traten. Man follte doch bedenken, daß nirgends bie 
Macht altgemohnter Berhältniffe fih nachhaltiger geltend zu machen pflegt, 
als auf wirthſchaftlich-ſocialem Gebiete und daß nad dem Eingeftänbnifie 
aller vorurtheilslofen Praktiker vwielleiht nie ein Geſetz weniger beobachtet 
worden ift, als die deutſche Gewerbe-Ordnung. Was den Einfluß ber 
Lehrlingsansbildung auf die gewerbliche Tüchtigkeit insbeſondere anlangt, die 
man unter ber großen Mehrzahl der deutſchen Arbeiter vermißt, fo darf 
man wohl mit Recht fragen: Wie viel Lehrlinge find denn in ber kurzen 





*) Dr, Karl Möller, Gutachten bes Vereins für Socialpolitif, S. 13. 


23 


Zeit feit Erlaf des erwähnten Gefeges ausgebildet worden? Im Berhältnif 
zu ber großen Maſſe von Ürbeitern doch nur eine verſchwindend Heine 
Zahl, die ſich zudem noch im jenem Alter befindet, das nur als Fortfegung 
der Lehrzeit betrachtet werden kann, im welchem ber junge Arbeiter bie in 
ver Lehrzeit erworbenen Wertigfeiten ergänzen und vervolllommnen muß. 
HM der Mangel zureichender Arbeitögefhidlichleit ein fo weit verbreitetes 
Uebel, jo müſſen feine Urfahen nothwenbig zurüdreihen in vie Zeit ber 
alten Gewerbe- Berfaflung; fie müſſen tiefer liegen als gewöhnlich ver— 
muthet wird. 

Bas hat ſich denn feit Einführung der dentſchen Gewerbe- Orbnung 
in der Gtellung des Lehrlinge zum Schlimmen geändert? Doch nur 
Aeußerlichkeiten. 

In der guten Zunftzeit war der Lehrling allerdings der geſammten 
Gewerbeorganiſation eingegliedert: er wurde als Schutzbefohlener des Hand⸗ 
werks und als Glied der Meiſtersfamilie angeſehen, über das ſelbſt die 
Eltern keine Macht mehr hatten, ſondern ſtatt ihrer der Meiſter, der nach 
Vorſchrift und unter Aufſicht des Handwerks ven Lehrling für das Gewerbe 
und bas bürgerliche Leben erziehen follte. Das war die Idee. Entſprach 
ihr aber eine ebenfo ſchöne Wirklichkeit? Die Geſchichte des Handwerks 
beantwortet diefe Frage mit einem ſehr entfchievenen Nein. Die Zunft- 
fatuten enthalten zwar recht ins Einzelne gehende Beftimmungen über bie’ 
Eigenfhaften, welde der zur Lehre Aufzunehmende haben follte (eheliche 
Geburt, deutſche Nationalität, „ehrlihen* Stand :c.), über die Dauer ber 
Lehrzeit, über die Anzahl der von bemfelben Meifter gleichzeitig zu haltenden 
Lehrlinge, über die Strafe des Entlaufens, über die Formeln und Gebühren 
bes Freiſprechens und Geſellenmachens: aber alle diefe VBorfchriften tragen 
die felbftfüchtigen Rüdfichten der Meifterforporation auf der Stirne gefchrieben, 
die Abficht, das Gewerbe vor Ueberfegung und unbequemer Konkurrenz zu 
fihern. Für eine zwedentfprehende, zum felbftändigen Fortlommen zu— 
reihende Ausbildung der jungen Leute war feinerlei Fürſorge getroffen; 
was man von einer Gefellenprüfung nah überſtandener Lehrzeit gefabelt 
bat, verbankt feine Entftehung fpäterer Feftfegung der Landesbehörden und 
beweift nur bie offenfundige IUnzulänglichkeit der überlommenen Berhältniffe. 
Mit Recht jagt einer der vertrauteften Kenner diefer Dinge*) vom Lehrling 
der Zunftzeit: 


*) Stahl, Das deutſche Handwerf, S. 168 fi. — Eine Prüfung nad; über: 
flandener Lehrzeit ift aus der früheren Aumftzeit nirgends mit Sicherheit nachgewieſen. 
Ral. Schönberg, bie wirtbihaftliche Bedeutung bes deutſchen Zunftwejens im M.A. 

- 60, N. 158. Kriegk, Franffurter Bürgerzwifte unb Zuftände im M.- A, 
398 ff. Stahl aa. DO, ©. 221. Noch Adrian, Beier, ber Verfaſſer der älteſten 
und vollftändigften Darjiellung bes Handwerksrechts weiß in feinem Tyro opifieiarius, 
Jena 1688, nichts vom Geſellenſtück; in feinem Handwerks-Lexikon 305 findet fi ein 
Beifpiel. Erſt durch fpätere Ianbesherrliche Verordnung wirb die Gefellenprüfung ein» 
geführt, weil man bie Unzulänglichfeit des feitherigen AZuftandes einſah (Val. 3. B. 
bie marfgräflich badifche Verordnung vom 24. Det. 1764 bei Ortloff, Corpus juris 
opifieiarii [2. Aufl.] S. 356); aber fie ift nie fo allgemein gewejen, als moberne 
Zunftenthufiaften annehmen. Ich verweife nur auf Weiffer, das Recht der Hanb- 
werker, Stuttgart 1780, ©, 121 und J. 9 Fride, Grundſätze bes Rechts ber 
Handwerker, Göttingen und Kiel 1771, ©. 67. 


— 


„Ein Sklave des Meiſters, der ihn zu allem, was ihm dienlich däuchte, 
gebrauchen durfte, zur Feldarbeit wie zur Handwerksarbeit, gleichgültig, ob 
der Lehrling für feinen Zweck dabei etwas lernen fonnte oder nicht, benutzt 
von ber Meifterin zu Küchen» und Hausarbeiten wie im ber Kinderftube, 
Gegenftand der rohen Späße und der Mißhandlung der Gefellen, denen er 
auch manichfache Dienfte leiften mußte, war er viel mehr ein Dienftbote 
für alle in des Meifters Haufe als ein Lehrling, befonders wenn er in ber 
ungünftigen Lage war, kein Lehrgeld bezahlen zu können, fondern während 
ver Lehrzeit und in dem darauf folgenden Dienftjahre durch Leitungen feines 
Meifters Mühe und Ausgaben erfegen zu müſſen. Die Frucht feiner Lehr— 
zeit für ihn war dann allerdings meift eine fehr geringe, foweit es fih um 
erworbene Handfertigfeit im Gewerbe handelte, wenn auch nicht zu ver— 
fennen ift, daß ſich dabei fein Charakter befonvers in der Kunft des Ge— 
horfams und Ertragens fehr entwidelte, und daß er den Genuß daraus zog, 
fpäter diefe Kunft in anderen Lehrlingen gleihfalls im vollften Maße aus- 
bilden zu können. Diefe Charakterentwidlung ſcheint ſchließlich Tegar 
als vorzüglichfter Zwed der Lehrlingseinrihtung angefehen worden zu fein; 
wer nicht die übliche ftrenge und harte Schule eines Lehrlinge durchgemacht 
hatte, den hielt man nicht für fähig, einen tüchtigen Handwerksmeiſter ab- 
zugeben, wogegen er die tedhnifche Kenntniß und Fertigkeit zum größten 
"Theile in dem vorgefchriebenen Dienftjahren und Wanderjahren fi leicht 
nachträglich aneignen fonnte.* 

Mag immerhin unter einfachen wirtbichaftlihen Berhältniffen vie alte 
Form des Lehrlingsweiens genügt haben: für vie legten drei Jahrhunderte 
der Zunftgefhichte trifft dieſe Schilderung unzweifelhaft zu. Ja die Schrift- 
fteller des 17. und 18. Yahrhunderts, die ſich befannter Maßen mandyerlei 
Gedanken zu machen pflegten über Urfprung und Zwed viel unvernünftiger 
Dinge, leiten das Entftehen des Wanderzwangs geradezu von der ungenügen- 
den Ausbildung der Lehrlinge durd die Meifter her. Sie fagen: die Xehr- 
linge wurden von den Meiftern vernachläffigt, nicht recht unterrichtet und zu 
andern Dingen gebraucht; ein anderer Meifter am Ort nehme fie daher 
auch nicht gern als Arbeiter an, deßhalb habe man ihnen die Wanderfchaft 
auferlegt, damit fie bei fremden Meiftern nachholten, was ihre Lehrmeiſter 
an ihnen verfäumt. Und damals befand ſich das Gewerbe tehnifh in einer 
erihredenven Armuth und Berfümmerung, fo daß ſich z. B. Voltaire recht 
luftig darüber macht, daß ein Knabe, der in feinem ganzen Leben nichts 
ald Schuhe und Stiefel machen folle, drei bis fehs Jahre lernen müſſe. 
Bei den meiften Handwerkern war es den dazu gehörigen Meiftern geftatter, 
ihre eigenen Söhne an einem und vemfelben Tage als Lehrlinge ein- und 
ausichreiben, alfo zu Gefellen erklären zu laffen, ohne daß fie auh nur 
einen Tag in der Stellung eines Lehrlings durchlebt hätten*) — ein Be— 
weis mehr dafür, daß das ganze Verhältniß nicht als eine Stufe ber ge— 


*) J. © Hoffmann, Die Befugniß zum Gewerbebetriebe. Berlin 1841, 
©. 102. — Im Allgemeinen vergleihe man über die Erfolge bes zünftigen Lehrweſens 
bie Schrift: Das Intereſſe des Menihen und Bürgers an ben bejitebenden Zunft: 
verfafjungen. Königsberg 1803, ©. 89 ff. Bertbeidigt werben bie betr. Einrihtungen 
von J. 9. Flirnbaber), Hiftorifch = politifche Betrachtung ber Innungen und deren 


25 


werbliben Erziehung, fondern als eine ber vielen Schranfen auf der dornen⸗ 
vollen Bahn der Zulaflung zum Meifterrecht angejehen wurde, bie nur für 
ven durch Geburt Bevorrechteten nicht eriftirte. Selbſt als bie Landes— 
behörben die Zünfte nah allen Richtungen hin reglementirten, ift es ihnen 
nur felten in ven Sinn gelommen, in der frage der Lehrlingsausbildung 
über formale Beftimmungen hinauszugehen. 

„Der Lehrling*, heißt es in einer Schrift vom Anfange dieſes Jahr— 
hunderts, „größtentheil® zu häuslichen Arbeiten erniebrigt, lernt nur bie 
einfahten Handgriffe und wird nicht wegen feiner Kenntniffe, fondern wegen 
einer Reihe überftandener Lehrjahre freigefprohen. Man braudt bei allen 
Öewerben viel grobe Handlangerarbeit ; den Lehrling dazu anzulernen, treibt 
den Meifter fein Bortheil; aber ihn weiter zu bringen, hat er faum irgend 
ein Interefle. Kein Schneiderlehrburſche lernt zufchneiden: die Gefellen 
müſſen es in der Megel heimlich abjehen. Weberhaupt wirb faft bei feinem 
Gewerbe die Zufammenfegung des Ganzen, die Auswahl und der Anfauf 
der Materialien, die ganze Dekonomie des Gewerbes ausprüdlicd gelehrt. 
Die Gefellen ſehen das in reiferen Jahren ab. Manches wird einem Günft- 
linge, einem Berwandten, erſt fpät, als ein tiefes Geheimniß mitgetheilt. 
Bei manchen Bortheilen in ver legten Appretur ſcheut der Meifter den 
Lehrling und ©efellen wie einen Spion.“ Aehnlich lagen andere, „daß 
die Lehrmeifter den Lehrling mehr zu Hausarbeiten als zu Handwerksarbeiten 
gebraudhen und daß verfelbe oft dann erft anfangen muß, das Gewerbe zu 
lernen, wenn er Geſelle wird. Bis dahin muß er nur hin und wieder 
etwas von dem Gewerbe abftehlen, weil er oft mie Ohrfeigen begegnet wird, 
wenn er nur bei biefem oder jenem Handgriffe zufehen will.“ 

So ift das Berhältniß bis auf die neuefte Zeit herab geblieben, nur 
daß, je mehr das Gewerbe ſich in der Richtung rafcherer und reicherer Pro- 
duftion entwidelte, je fehwieriger die ftäntifhen Wohnungs- und Erwerbs— 
verhältniffe wurden, um fo mehr das Verhältniß des Lehrlings zum Meifter- 
baufe fich Loderte, und fo ausſchließlicher der Nachwuchs des Urbeiterftandes 
aus den ärmften Klaffen der Bevölterung fih rekrutirte. Der Lehrling 
wohnt umd ift nicht mehr im Haufe des Meifters; ein Lehrgeld wirb nur 
noh in den feltenften Fällen entrichtet; ja meifl erhält der Knabe noch eine 
Art Koſtgeld, bald fofort vom Antritte ver Lehrzeit an, bald erft nad) einigen 
Monaten. Er kommt nur zur Arbeit in die Werkftätte und, ba er ber 
bäuslihen Obhut des Meifters entzogen ift, jo gehen die allgemeinen Er— 
ziebungszwede ver früheren Zeit größtentheild verloren. Man kann das in 
mancher Beziehung bedauern; aber man wird e8 unter diefen Umftänden 
nur gerechtfertigt finden müffen, daß die Gewerbe-Orbnung das alte Dienft- 
verhältnig mit feinen mandherlei Härten und Unzuträglichfeiten aufhob und 
an feine Stelle ein, freilich nicht unbedingtes Bertragsverhältniß feste. 

Die Eltern oder Vormünder des Lehrlings ſchließen mit dem Arbeit- 
geber einen Kontraft, nah welchem letzterem die Arbeitskraft des jungen 


zwedmäßige Einrichtungen. Hannover 1782, ©. 186 ff. 279 ff. K. H. Rau, Ueber 
das Zunftwejen und die Folgen jeiner Aufhebung. Göttinger Preisichrift. Leipzig 
1816, S. 18. — Die Schrift von Weiß, Handwerks +Barbarey, oder Geſchichte meiner 
Lehrjahre. Halle und Leipzig 1790, ift mir nicht zugänglich. 


26 
Menihen anf einige Jahre zur Berfügung geftellt wird. Dafür verfpricht 
er, ihn bie im feinem Gewerbe erforberlihe Geſchicklichkeit zu lehren. Es 
fehlt allerdings die tiefere moralifche Beziehung; das Berhältnig ift ein 
äußerliches, rechtlichee. Zahlt ver Lehrling ausnahmsweise ein Lehrgelo, jo 
ift daſſelbe als Entschädigung für die Mühewaltung des Meifters anzufehen, 
erhält der Junge Lohn, fo mag derſelbe al® Entgelt für feine tharfählichen 
Leiftungen betrachtet werden. Man pflegt im Allgemeinen anzunehmen, daß 
im erften Drittel der Lehrzeit der Meifter durch Zeitverluft bei Aumweifung 
des Lehrlings, durch Berverben von Material u. dgl. mehr Nadtheil als 
Bortheil von. dem Berhältniffe hat; aud im zweiten Drittel ber Lehrzeit 
leifte der Lehrling noch nichts Nennenswerthes, vergüte aber durch feine 
Arbeit das event. Kofigeld und den Zeit- und Materialverluft des Meifters ; 
im legten Theile der Zeit überwiege der Nuten für das Gefhäft. Für den 
Fall, daß der Lehrmeifter feine Verpflichtung eruft nimmt, ift gegen dieſe 
Art von Bilanz nichts zu erinnern. Wäre das Berhältnig überall jo, Dann 
jähe ic, feinen Grund zur Unzufriedenheit und wahrfceinlic die Lehrlinge 
auch nicht. 

Wie kommt e8 aber, daß diefelben trogvem mit Brud des Bertrags 
davonlaufen? Es darf nit in Abrebe geftellt werben, daß vielfah das 
Streben ver Eltern oder des Lehrlings, feine [hwahen Kräfte für höheren 
Gelderwerb zu verwerthen, eine Role fpielt. Wenn aber im Allgemeinen 
von den Meiftern gejagt wird: „Die Iugenb will nichts mehr lernen ; fie 
ftrebt nur nach einem zudhtlofen, ungebundenen Leben“, fo darf man furz 
antworten: Das ift unmöglih. In einer Zeit, der das Wort vom Kampf 
um's Dafein, von ber fhonungslofen Vernichtung des Untüctigen mit 
glühenden Lettern auf die Stirne gejhrieben fteht, im einer Zeit, die mit 
durchdringender Stimme, auch der Jugend vernehmlich, in’s Leben hinaus- 
ruft: Lernt, fo viel ihr irgend fünnt, bei Strafe der Noth, des Berhungerns ! 
— in einer folden Zeit follte die Jugend im Allgemeinen nichts mehr für 
ihre Ausbildung und berufsmäßige Ertüchtigung ihun wollen? in Lehrer, 
der feinen Beruf (abgejehen von per materiellen Seite) furzweg für un- 
dankbar erklärt, ift entweder ein Mierhling oder ein Narr. Und ift nicht 
die Stellung des Meifters zum Lehrling die des Lehrers zum Schiller? Der 
Lehrer der Schule wird ohne weiteres bafür verantwortlich gemacht, wenn 
feine Zöglinge im Allgemeinen ſchlechte Fortſchritte machen. Warum nicht 
auch ver Lehrer der Werkftätte? Unſere Fabrilanten lieben es ja, den Real— 
und Öymnafiıl» Schüler mit dem Lehrling zu vergleichen; fie werben ſich 
aud die obige Erweiterung der Parallele gefallen laffen und dann geitehen 
müſſen, daß fie in der großen Mehrzahl feither fich der Pflichten nit be- 
wußt geblieben find, welche die Annahme eines Lehrlings ihnen auferlegt. 
Dver fie erklären: die Werkftätte ift feine Schule, fie faum oder will es 
nicht fein. Im diefem Falle muß fie folgerichtig aud die alte Form des 
gewerblichen Unterrichts aufgeben und fih ver Mühe unterziehen, eine neue, 
dem Amede befjer entſprechende zu ſuchen. 

Ein furzer Ueberblid über die Arten des modernen Gewerbebetriebs 
belehrt uns, daß fi einer fuftematifhen und viclfeitigen Lehrlingsaus- 
bildung faft unüberwindliche ſachliche Hinderniſſe entgegenftellen, neben denen 
die Schwierigkeiten von mehr perfönliher Natur verhältnigmäßig gering 


27 


find. Faft nirgends befteht noch eine fefte Abgrenzung ver einzelnen Gewerbs- 
und Arbeitögebiete; man treibt Alles, was Geld einbringt, ſobald es mit 
der Hauptrichtung des Gefchäftes nur irgend eine Vermandtichaft befist. Es 
erfordert ſchon einen verhältnigmäßig hohen Grab allgemeiner Bildung und 
ein micht geringes Maß technifcher Selbftändigfeit, wenn ber Arbeiter hier 
überall mit Nugen verwendet werben fol. Uber dieſes liegt gar nicht in 
der Abfiht; man ift zufrieden wenn er für eine verhältnigmäßig einfache 
Specialität eingefchult ift, zumal es ihm zur Erlangung der Selbfiänbig- 
feit meift an dem Nöthigften, am Kapital fehlt. Die Arbeitstheilung und 
Specialifirung greift, wie früher bemerkt, tief in das Handwerk hinunter, 
das in vielen Zweigen unftreitig auf den fabrifmäßigen Betrieb losftenert. 
Ales ift hier im Fluß oder, wenn man will, in der Zerfegung begriffen ; 
wer weiß wann bie Beivegung zur Ruhe kommt? Die Fabrik bedarf meift 
er „gelernten Arbeiter“ gar nicht; fie nimmt den erften beiten Burſchen 
von der Straße und ftellt ihn an die Mafchine, wo er biefelbe einfache 
Manipulation in ewiger Wiederholung vollzieht, jo gut wie der erfahrenfte 
Meifter, der intelligentefte Geſelle. In vielen Maſchinengewerben eriftirt 
einfach das Inftitut der Lehrlinge niht; man hat an Stelle verfelben ven 
fogenannten jugendlichen Arbeiter, der in Beziehung auf Arbeitszeit, Ruhe— 
paufen und Nachtarbeit durch die Geſetzgebung (G.-D. 88 128 —132) ge- 
ſchützt iſt. In manden anderen nimmt man wohl ver Form nad Lehr— 
linge an, um jener gefeglichen Vorfchriften enthoben zu fein. Aber aud 
wo für ven Fabriflehrling eine Unterweifung nothwendig iſt, pflegt dieſelbe 
nicht bedeutende Zeit in Anſpruch zu nehmen, da fie feine wolle Einficht in 
den gejammten Betrieb, ſondern meift nur Abridhtung für ein eng begrenztes 
Gebiet bezwedt. Bielfah überweiſt man hier den jungen Menfchen einem 
Arbeiter oder Werkführer zum Anlernen. Diejes Berfahren kann unter 
zünſtigen Umftänden vom beften Erfolge begleitet fein; aber es trägt auch 
die Gefahr in fi, daß der Lehrarbeiter den Knaben zur Steigerung feines 
Einfommens (Stüdlohns) ausnugt. Nur vereinzelte Fälle find es, wo ber 
Fabrifbefiger den Lehrling für eine höhere Stelle in der Fabrik (Werfführer, 
Borarbeiter) beſonders ausbilden läßt. 

Aehnliche Berhältniffe walten in der Hausinduftrie und in den fpeciali- 
firten Gewerben ob. Eine allfeitige, zur jpäteren Selbſtändigkeit befühigenbe 
Ausbildung ift im dem Betriebe diefer Gewerbe nicht gegeben; bie er- 
forderlihen Manipulationen können in furzer Zeit erlernt werben und ber 
junge Menfh bringt es in denſelben leicht zu einer ſolchen Fertigkeit, daß 
fein Arbeitöproduft dem Meifter einen erheblihen Vortheil bringt. Im allen 
diefen Fällen erſcheint ein mehrjähriges Yehrverhältnig nad feiner Richtung 
hin gerechtfertigt; wenigftens liegt es nicht im Intereffe der befferen Aus— 
bildung des Lehrlings, da der Lehrmeifter gewöhnlid gar nicht in der Yage 
ift, vemfelben einen fo guten gewerblichen Unterricht zu ertheilen, daß der— 
ielbe als Aequivalent für die durchſchnittliche Arbeitsleiſtung während der 
Lehrzeit betrachtet werben könnte.r) Auch in Geſchäften mit umfaugreicherem 
Arbeitsgebiet iſt es Regel, den Lehrling für eine gröbere oder wenig kom— 








*) Bol. Neßmann, Zur Reviſion ber deutſchen Gewerbeordnung. Hamburg 
1875, ©. 15 ff. Dannenberg a. a. O. S. 5 ff. 


Bücher, Die gewerbliche Bildungsfrage. 3 


28 


plicirte Verrichtung anzulernen, die er, eingezwängt in bie vorhandene 
Arbeitsgliederung, bis zur Vollendung feiner Lehrzeit zu verrichten pflegt. 
Dannenberg erzählt von „Schneivergefellen“, vie während ihrer Lehrzeit in 
einem fog. Konfektionsgeihäfte nur mit dem Annähen von Knöpfen betraut 
worden waren. Stelle man fi ven Seterlehrling in einer Zeitungspruderei, 
ben Buchbinderlehrling bei einem Gejhäftsbücherfabrifanten vor: worin 
unterfheiden ſich dieſe „Lehrlinge” von ben „jugendlichen Arbeitern“ einer 
Spimmerei? Wo das Kleingewerbe noch in den alten Bahnen läuft, and 
da ift es felten beffer. Die Noth der Zeit vrüdt ven Heinen Mann jchwer; 
die hochgeftiegenen Arbeitslüöhne legen es nahe, anftatt des theueren Gefellen 
einen Lehrling einzuftellen, der wenig oder gar nichts Koftet und dem Mkeifter 
für längere Zeit fiher if. Da wird er benn nad alter Weife zu allen 
möglichen Hausarbeiten gemißbraucht: er wiegt bas Rind und pugt bie 
Stiefeln, er kauft die Viktualien ein für Meiftersfamilie und Gefellen ; er 
ift von früh bis in die fpäte Nacht auf den Beinen und wirb nur auf 
Stunden in der Werkftätte mit irgend einer Nebenarbeit befchäftigt. Unſer 
ſtädtiſches Gewerbe bat durch die jetzt faft überall vollzogene Trennung bes 
bauswirthfchaftlihen von dem gefhäftlihen Gebiet unftreitig an Probaktivi- 
tät gewonnen. Sein Wrbeiter würde fih heute noch zu Dienftleiftungen 
verftehen, welche außerhalb des erlernten Berufes liegen; das bringt ſchon 
der Stüdlohn mit fih. Nur an den Lehrling werben nod die altpatriar- 
halen Anforderungen geftellt ; er fpart pie läftige Ausgabe für einen Tage— 
löhner oder Anslaufer; der Lehrherr fühlt fich ihm gegenüber nicht ale 
Lehrer, der die Pflicht bat, den Knaben forgfam auszubilden, fondern ale 
Arbeitgeber, der das Recht befigt, die jugendliche Kraft an der Stelle zu 
verwerthen, wo fie ihm am meiften Nuten bringt. Er überfieht es felbft, 
daß die Gefellen ven Lehrling zu perfönlicen Dienftleiftungen migbrauden 
und ihn nad überfommenen Zunftanfhauungen als ihren fpeciellen Unter: 
gebenen behandeln. Vielfach ſcheuen ſich felbft kleinere Geſchäfte nicht, eine 
größere Anzahl von Lehrlingen aufzunehmen, als fie felbft unter den günftig- 
ften Umftänden auszubilden im Stande find. Natürlich gefchieht dies Iebig- 
lich in der Abſicht, ven Lohn fir gelernte Arbeiter zu fparen, und bie legteren 
beichweren ſich bitter über biefe „Schmutzkonkurrenz“.*) Daneben ift nicht 
zu vergeflen, daß eim nicht geringer Theil der Handwerksmeiſter ſelbſt nicht 
auf derjenigen Höhe gewerblicher Ausbildung fteht, welche zur gritmblichen 
Ausbildung von Lehrlingen erforderlich if. Wie es mit der Tüchtigfeit aus 
folder Schule hervorgegangener Arbeiter ausfieht, bevarf feiner Schilderung. 


*) Vgl, Richard Härtel in ben Gutachten bes Vereins für Socialpolitit S. 84ff. 
Daß die technifchen Erfolge ber Werkftattlehre in Frankreich kaum befjere find ale in 
Deutfchland, zeigte Neuburg in denſelben Gutachten S. 175—197. So berichtet 
bie Commission d’enquöte sur l’enseignement professionel (1863): „Man bürfe 
nicht glauben, daß jeber, ber formell eine Lehrzeit von 4—6 Jahren burchmade, nun 
ein guter Arbeiter werde; bie Arbeitstheilung bringe e8 mit ſich, daß ber Lehrling 
oft jahrelang ein und biefelbe Verrichtung babe: trop souvent employ6s comme de 
simples manoeuvres, ils ne sont parfois exero&s qu’& l’exdcution de certaines 
pieces et non à l'ensemble de travaux de la profession; rarement les patrons 
ou les maitres ouvriers, auxquels ils sont adjoints se donnent la peine de 
leur expliquer les r&ögles et les prineipes, qui doivent les guider pour arriver 
a la meilleure ex&cution possible.“ 


29 


Selbſt wenn fie die ganze breis oder vierjährige Lehrzeit gebulbig ausge- 
halten haben, geht ihr Können nicht über die Specialität hinaus, zu welder 
fie verwendet wurben; ein geſunder Wechſel der Thätigkeit, ein Fortſchreiten 
vom Leihteren zum Schwereren, vom Einfahen zum Zufammengefesten hat 
nicht ftattgefunden ; fie find im ihrer Erwerbsfähigkeit auf ein fehr Feines 
Gebiet beſchränkt und müffen, wenn fie nicht gerade eine Werkſtätte finden, 
in welcher vie gleiche Specialität verlangt wird oder wenn biefelbe durch 
eine neue Erfindung entbehrlich wird von neuem anfangen, fih einzulernen. 
Der einzige Unterfchied ift, daß fie jegt das Recht in Anfpruch nehmen, ſich 
Arbeiter zu nennen, während fie früher Lehrlinge hießen. Das Fabrikgewerbe 
pflegt derartige vernachläſſigte Zöglinge des Handwerks in feinem weiten 
Shooße aufzunehmen, und damit ift ihnen die Ausficht auf fpätere Selb- 
fändigkeit für immer abgefchnitten. 

Hier und da findet man wohl nod einen Meifter, der aus perfönlicher 
Gewifienhaftigkeit fih nah Kräften um die Ausbildung von Lehrlingen 
bemüht. Ehre diefen feltenen Ausnahmen; fie fehen fi durchgängig, wie 
ih aus vielen Erkundigungen fließen darf, durch treues Aushalten ver 
jungen Leute belohnt. Ueberhaupt ift der Vertragsbruch berfelben keine fo 
häufige Erjheinung, wie man nah dem kläglichen Gezeter zünftlerifcher 
Realtionäre anzunehmen geneigt fein fönnte.*) Wenn man aber die vor- 
fommenden Fälle auf ihre Urfahen zu prüfen im Stande wäre, fo würbe 
fih ohne Zweifel ergeben, daß die Mehrzahl auf folhe Gewerbe entfällt, 
in welden ohne eine umftändlihe und zeitraubende Unterweifung feitens 
der Meifter die Knaben zu einer Leiftungsfähigkeit gelangen, melde derjenigen 
der Arbeiter wenig oder gar nichts nachſteht. Die legteren erhalten Lohn, 
die erſteren nicht; die Ungerechtigkeit dieſes Zuftandes tritt ihmen täglich 
Ihroff vor Augen; fie berechnen ſich den Vortheil, welden ver Geſchäfts— 
inhaber von ihnen zieht und jehen auf ihrer Seite nicht einen entfprechen- 
den Gewinn an Arbeitsgefhidlichkeit oder Geldlohn. Ein Konkurrenzgeſchäft, 
eine Fabrik verheißt ihnen fofort einen ihren Leiftungen mehr entfprechenden 
Erwerb. Das rechtfertigt freilich den Lehrlingsvertragsbrud nit, erklärt 
ihn aber zur Genüge. Man kann in ven allermeiften Fällen gar nicht 
mehr von einem gewerblichen Lehrlingsverhältnig fprehen. Man bat es 
leriglih mit Kinderarbeit zu thun und mit einem Syſtem der Aus- 
beutung von Schwachen und Unmündigen, das nod immer zu ben jchwerften 
firtlihen Schäden geführt hat, wie die englifchen Erhebungen über Franen- 


*) Der befannte Tifchlermeiiter Brandes bat in bem Gutachten bes Bereins 
für Socialpolitit S. 39 eine haarfträubende Statiſtik über ben Vertragsbrud ber 
Tifchlerlehrlinge in Berlin aufgeitellt. Diefelbe beweift ın. E. nur, daß in den Berliner 
Tifehlerwerfftätten viel Kinderarbeit gebraudt wirb und daß ber Perſonenwechſel unter 
den jugenblichen Arbeitern aus irgend welchen Gründen ſehr ſtark iſt. In Frankfurt 
a. M. liegen, foweit meine Erfundigungen reichen, die Verhältniſſe durchgehends weit 
günftiger. Dem Gutachten eines Buchbrudereibefigers entnehme ih, „daß das will: 
fürlihe Austreten ber Lehrlinge in dieſem Gefchäftszweige bier zu den Seltenheiten 
hört” und boch giebt e8 Dfficinen, bie faft ausſchließlich mit Lehrlingen arbeiten, — 
Frankreich, wo bie Klagen über bem Lehrlingsvertragsbrud nicht minder lebhaft 
find (Neuburg a, a, D. ©. 195), betrugen doch in den Jahren 1870—73 bie Klagen 
über Verlegung bes Lehrvertrags, ſoweit fie vor bie Conseils de prud’hommes 
gebracht wurden, nur 50%, ſämmtlicher Streitfälle. Zeitfchr. der preuß. ftatift. Bureaus 
1876. Heft LIL, ©. XIV. 
3* 


30 

und Kinderarbeit und jelbft die fehr fchonenden und übermäßig rüdfiche- 
vollen Berichte der preußiſchen Wabrikinfpektoren beweiſen. In allen Fällen, 
wo ber Lehrling blos zu den roheften und einfachften Arbeiten zugelafien 
oder zu aufergewerblichen Dienften mißbraudt wird, liegt eine Bertrags- 
verlegung bes Arbeitsgebers vor, der die Pflicht hat, ihn mit dem gefanımten 
Gefhäftsgebiete nah allen Einzelheiten vertraut zu machen. Es ift nur 
zu erflärlih, wenn das ungleiche Berhältniß zum Bruce führt, von dem 
fiher der „Lehrling® den meiften Schaden hat, indem er fi zum umfelbft- 
ftändigen Handarbeiter verdammt. 

It denn aber der Rüdgang der Berufsbildung eine auf das gewerbliche 
Lehrlingsweſen allein beſchränkte Erfheinung? Im Kaufmannsftande klagt 
man in ganz ähnlicher Weife über mangelhafte und eimfeitige Ausbildung 
der jungen Leute, obgleih man dod nicht wird behaupten dürfen, daß bas 
vorzeitige Verlaſſen der Lehre bier eine häufige Erſcheinung fei. Im gar 
vielen Fällen ift die Behandlung der Kaufmannslehrlinge eine fchlehte, vie 
Ausfiht auf eine gute Berufsbildung eine Fägliche, die Arbeitszeit eine 
unverhältnißmäßig lange. In den üblichen Lehrfontraften ftipulirt fich ber 
Prinzipal alle möglihen und unmöglihen Rechte, von Berpflichtungen 
vefjelben ift wenig, von Rechten des Lehrlings gar nicht die Rede. Es ift 
mir verfichert worden, daß größere Geſchäfte in ven legten Jahren bie 
Commisftellen gleih dutzendweiſe mit LTehrlingen befegt haben, um Salair 
zu erjparen. Man hat e8 eben aud bier in der Hand, diefelben raſch für 
einzelne Verrichtungen einzufchulen, ſei's im Comptoir, fei’8 im Magazin, 
ſei's endlih im Auslauferdienſt. Zudem weiß man, daß die Lehrlinge ihre 
Zeit aushalten müſſen, da im faufmännifchen Leben das Lehrzeugniß als 
unerläßlich gilt fir weiteres Fortlommen. Das Angebot von Arbeitskräften 
ift eben bier ein ungefund großes und die vielfach eingeriffene Unfolivität 
des Gefchäftslebens zieht von den Perſonen mit derſelben Gewiſſenloſigkeit 
ihren Profit, die im Waarengeſchäfte leider fo verbreitet ift. 

Setzt auf der einen Seite die ftarf vorgefchrittene Specialifirung der 
Gewerbe und die weitgehende Arbeitstheilung in den Werkftätten ver all 
feitigen Ausbildung der Arbeiter faft unüberwindliche Hinderniffe entgegen, 
fo ift auf der andern Seite auch nicht zu vergeffen, daß gegenwärtig an 
das Gewerbe viel höhere allgemein technifche Anforderungen geftellt werben. 
Das Gewerbe der Zunftzeit war nicht blos in der Zahl der Producenfen 
gefchloffen, fondern zerfiel aud nah Umfang und Art der Arbeitserzeugniffe 
in ſcharf gegeneinander abgegrenzte Gebiete. Der Schloffer und Schmieb, 
der Klempner, der Gelb» und Rothgießer wußten genau zu fagen, wo ihre 
Ürbeitsbereiche ſich ſchieden; das gejtattete ihnen, auf einem bejtimmt ab- 
geihlofienen Felde ſich ficher zu bewegen. Die Gewerbefreiheit hat dieſe 
Grenzen aufgehoben ; heute weiß jchwerlich jemand zu fagen, was alles unter 
ven Begriff der Schlofferei oder des Schmiedehandwerks fällt. Dazu find 
eine Menge Erfindungen gemadt worden, deren Anwendung eine höhere 
tehnifhe Ausbildung, Einfiht in mancherlet Gefege der Chemie, Phyſil, 
Mechanik zc. vorausfegt. Das Kunftgewerbe ift ein eigenes meitichichtiges 
Gebiet, welches nicht blos eine geübte Hand, eine höhere Durchbildung des 
Geſchmacks vorausfegt, fondern aud eine bedeutende techniſche Selbftänbig- 
keit, einen freien, verftändigen Blid. Die Durchſchnittsbildung des Heinen 


31 

Meifters genügt hier in den allermeiften Fällen ven Zeitanfpräcden nicht, 
und wenn ihn dies an und für ſich ſchon in feiner Erwerbsthätigkeit ſchädigt, 
jo macht es feine Stellung als Lehrer der Werkftätte doppelt ungenügend. 

Die Nothwendigkeit, die Berufsarbeit des Einzelnen auf ein möglichft 
enges Gebiet zu befchränfen, ift eine allgemeine Signatur unferer modernen 
Berhältniffe Das Gewerbe theilt bier das gleihe Scidjal mit allen 
Zweigen menjhlicher Thätigkeit, welche von den großartigen Fortfhritten der 
Bifenfhaft berührt worden find. Univerfalgenies, die das ganze Wiſſen 
ihrer Zeit umfpannen, ſucht man jest felbft auf unferen Univerjitäten 
vergebens. Der Yurift, der Philologe, der Mediciner fieht fih auf eine 
Specialität feiner Fachwiſſenſchaft beſchränkt, und er arbeitet hier jedenfalls 
dann mit Erfolg, wenn- eine gründliche allgemeine Schulung ihm den nöthigen 
Ucberblid verfchafft hat, wenn er fih den Zufammenhang mit den allge- 
meinen Fortſchritten der Forfhung in feinem Fache zu bewahren verfteht. 
Dan findet es auf allen höheren Arbeitsgebieten felbftverftändlih, daß eine 
befondere Unterweifung eintritt, welche von der praftifhen Ausübung ge- 
trennt ift, weil man es für unverftändig hält, die Rüdfichten des Erwerbes, 
welhe jeder Lebensberuf dem Einzelnen auferlegt, mit denen bes Unter: 
richts ohne Schädigung eines von beiden Theilen vereinigen zu wollen. Nur 
auf dem gewerblichen Gebiete will man ſich zu dieſer Anfhauung nod 
immer nicht erheben. 


Hiermit meinen wir im Wefentlihen die Urfachen angedeutet zu haben, 
welhe auf die Güte der deutfchen Arbeitspropufte nachtheilig eingewirkt 
haben. Es find nicht die modernen Verkehrsverhältniffe und Produftions- 
formen an fih, melde für den Schaden verantwortlid gemacht werben 
müſſen, fondern die Anwendung, melde biefelben auf beutfhem Boden 
gefunden haben, bie wirtbfchaftlihen und fittlihen Gebrehen, welche unter 
den veränderten Berhältniffen fchranfenlos aufgewuchert find. Bei ver 
Raſchheit, mit welcher die induftriellen Ummälzungen mit der ihnen eigenen 
Zerfegung des alten Handwerks und bes gewerblichen Mittelftandes über 
und gefommen find, bei den großen Bevölkerungs- und Berufsverfhiebungen, 
deren Zeugen wir gemwejen, find ja unftreitig in rafhem Anlauf große 
wirthſchaftliche Fortſchritte erzielt worden. Aber es ift auch ein gut Stüd 
alter Ehrbarkeit und Tüchtigkeit verloren gegangen, deſſen Erfegung uns 
lange und mühevolle Arbeit koften wird. Wundern darf man fi darüber 
nit gegenüber einer Wirthfchaftspolitit, deren einzige Stärke in der Ver— 
neinung beftand, die aber gejunder pofitiver Gedanken eben jo wenig fähig 
war, als fie ein wahres Bewußtfein von der wirtbichaftlihen und focialen 
Aufgabe des Staates beſaß. Ihre Popularität beruhte einzig auf ber 
Wegräumung veralteter und vielfadh brüdender Schranken; Neues mußte 
man niht an die Stelle zu fegen. Man fühlte ſich beengt in den alten 
Räumen; aber in dem neuen, größeren Haufe, das wir bezogen, fünnen 
wir nicht zur Behaglichkeit, zum Frieden und zur Orbnung gelangen. 
Vieles, was in anderen Ländern die frühere und ftetigere Entwidlung, 
das rechtzeitige Eingreifen des Staates, die zwar ungejchriebenen, aber 


32 





mädtigen Gefege gejellihaftliher oder gef&häftlicher Ueberlieferung und Ge- 
wohnheit von felbft gegeben haben, werben wir uns erft mühſam erfämpfen 
miüffen. Moralprebigten find bier, wie überall, von feinerlei Nuten. Für 
Unreellität und ſchwindelhaftes Gefhäftsgebahren, befonders im Großen, 
wird die öffentlihe Meinung mehr und rüdfichtslofer als bisher in Auſpruch 
genommen werben müflen; für den Mifbraud der Konkurrenz im täglichen 
Berkehr wird die Geſetzgebung überall da einzutreten haben, wo widtige 
Lebensinterefien des Bolfes auf dem Spiele ftehen. Den alten Tarorbnungen, 
den Borfchriften über Maß und Güte mancher Produkte Tag ficher mehr 
focialpolitifche Weisheit zu Grunde, als der Lehre vom „unbeſchränkten Spiel 
der wirtbichaftlihen Kräfte“. Wir werden, wenn aud jchwerlid bier, fo 
doch am mancher anderen Stelle wieder auf bie durch und durch politiſche 
und gefunde Anjhauung unferer Boreltern zurüdgreifen müffen, daß alle 
probuftive Thätigkeit höheren gefellfchaftlihen Zweden diene und fid) umter- 
zuoronen babe, daß „zum gemeinen Beften“, im Intereffe der Geſammtheit 
der wirtbihaftlih Schwache des Schußes, der Starke der Schranken bedarf. 
Einige der gröbften Mifftände werden dur die Reform des Aktiengefetes, 
den Zeichen, Mufter- und Patentfhug getroffen werden. Die Wahrung ber 
gewerblichen Intereffen muß aus den Händen von Juriſten und Ber- 
waltungsbeamten im biejenigen von erfahrenen Yahmännern gelegt werben ; 
an die Stelle des feitherigen müßigen Zuſchauens muß eine planvoll 
Thätigkeit zur Oewerbebeförberung treten, für deren einzelne Zweige be 
fondere Organe zu ſchaffen find. Namentlich muß die Großinbuftrie auf- 
hören, was fie jo lange war, das Schoffind der Regierungen zu fein, zumal 
fie die Mittel befigt, ſich felbft zu helfen. 

Kein BVernünftiger wird ſich einfallen laſſen, die imbuftrielle Ent- 
widelung nah per Richtung des Maſchinenbetriebes, der Arbeitstheilung, 
der GSpecialifirung da hemmen oder Zweige bes Kleingewerbes künſtlich 
fonjerviren zu wollen, wo bie Fortſchritte der Technik oder die Natur ber 
Produktion auf diefe Entwidlung hinftenern. Man wird kurz fagen fönnen, 
daß dies überall da der Fall ift, wo bedeutende Anlageloften, Gleihmäßigfeit, 
Raſchheit und Billigkeit der Produktion in Frage kommen. Aber es gibt 
daneben eine ganze Reihe von Arbeitögebieten, auf welchen eine dauernde 
Konkurrenz zwifhen Groß- und Kleinbetrieb ſehr wohl möglich ifl.*) Es 
ift wahr, der erftere hat in dem verhältnigmäßig geringeren Anlagekoften, 
in bem billigeren Anfauf des im Großen bezogenen Rohmaterials, in dem 
tationelleren,, faufmännifhen Vertrieb unläugbare Bortheile; aber biefe 
werben beim Handwerk fiher oft genug aufgewogen durch die Möglichkeit 
forgfamer Ausnugung der Robftoffe, durch die Detailtenntniffe des Klein— 
meifters in den einzelnen Arbeitsverrichtungen, durch jein ſtändiges Mit- 
arbeiten und Beauffichtigen der Arbeiter. Vielfach findet auch hier ſchon 
bie Anwendung der Maſchine ftatt; aber fie verrichtet meift nur die gröberen 


*) In ber Schweiz können bei ber Tafhenubrfabrifation die Fabriken bie Kon- 
kurrenz ber Handarbeit nicht aushalten; freilich iſt auch im Jura die Specialifirung 
jo weit fortgefhritten, daß eine Taſchenuhr durch mehr als 300 Hände geht, ehe fie 
fertig if. Im Schwarzwald leidet aus dem entgegengefeßten Grunde bie Hausinbaftrie 
von ben Fabriken, Jahrb. f. Nationalök. u. Statiſtik, XVII (1872), ©. 213 #. 


Borrihtungsarbeiten (man denke an Kreis- und Banbfägen, Hobelmafdhinen 
u. dgl), welche ftarken Aufwand von Musfelkraft erforbern ; Formgebung und 
Zufammenfegung hängt von individueller Gefhidlichkeit und Geſchmacks— 
bildung ab. Nicht wenige Zweige des fpecialifirten Gewerbes gehören in 
viefe Reihe; gerade hier find die Anlagefoften wenig bebeutend und bie 
Begrenzung bed Arbeitsfeldes geftattet, im kleinſten Punkte die größte Kraft 
zu fammeln und in engem Kreife Borzügliches zu leiften. tabliffements, 
in welhen Dampf= oder Waflerfraft an Heine Meifter oder an Arbeiter« 
familien der Hausinduftrie vermierhet wird, beftehen bereits in Mülhaufen, 
Nürnberg, Dresden und an anderen Orten; Genoſſenſchaften und, mo nöthig, 
Staats- und ©emeindemittel, hätten bier einzutreten; daneben wäre bas 
Spftem der Robftoffvereine weiter auszubehnen und ähnliche Genoſſenſchaften 
für den faufmännifchen Vertrieb der fertigen Produkte zu bilden. 

Gerade bier liegt eine Haupturſache des Berfalld der Sleingewerbe 
und der Rathloſigkeit und Muthlofigkeit, welche in Handwerkerkreiſen gegen- 
“wärtig allgemein if. Mit der Entwidlung der Großinduſtrie und ber 
Erweiterung bes Marktes wurden für den Einkauf der Rohftoffe und für 
den Berfchleiß der Waaren Berhältniffe maßgebend, für deren Beherrſchung 
der begrenzte Blid und die mäßige Bildung des Meinen Meifters nicht 
ausreicht. Der Boden begann ihm deßhalb bald auch da zu ſchwanken, 
wo er dem Grofbetrieb techniſch gewachſen war, fobald ihm ein fapital- 
kräftiger Unternehmer gegenüber trat, der jene Dinge nah faufmännifchen 
Principien betrieb, der die Berhältniffe des großen Marktes kannte und nad) 
diefen Umfang und Art feiner Produktion einzurichten wußte. Biele der 
Heinen Leute verkümmerten bei ber alten Weife lokaler Produktion ; beiten 
Falls Tegten fie einen Detailfram oder eine Schankwirthſchaft an; bie 
Mehrzahl fiel in die Hände jener kaufmännifhen Zwijchenglieder des Ber- 
lehrs, der Kommiffionäre, Baktoren, Agenten, Berleger oder wie fie fonft 
heißen mögen. Man mußte bie Früchte ſauren Schweißes um Spottpreife 
verſchleudern; der Groffifl, der Erporteur zog den Hauptgewinn: er hatte 
immer etwas an ber eingelieferten Beftellung auszufegen, Preisredultionen, 
Zahlung mit fchlehten Geldſorten oder gar hochberechneten Waaren bildete 
die Regel, und vielleicht nie haben Wucherer, Magazininhaber u. dgl. die 
Heinen Leute ſchlimmer ausgebeutet, als in ben vierziger und fünfziger 
Jahren unferes Jahrhunderts. Damals ging hauptfählicd der Zufammen- 
hang diefer Probucenten mit der Konfumtion und ein gutes Theil der alten 
technischen ZTüchtigkeit verloren; Maſſenprodukte nah der Schablone, nad) 
ausländifhen Muftern und Moden wurden gefertigt; der Großhändler hätte 
den Mann ausgelacht, der ihm nad eigener Erfindung und Idee gearbeitete 
Erzeugniffe vorgelegt hätte. In einzelnen Gegenden wurde fo beſonders 
die Hausinduftrie ansgefogen; ja bie erftaunlihe Niebrigfeit des Stück— 
preifes und bie Bebürfnißlofigkeit der Leute geftattete, fie auch ba noch feft- 
zuhalten, wo in andern Ländern längft die Fabrik an die Stelle getreten 
war. Noch heute dauern dieſe Berhältniffe theilweife fort; ja das bem 
Fabrifarbeiter gegenüber verbotene Trudiyftem ift in manchen armen Gegenden 
der Hausinduftrie noh im voller Blürhe. Hier findet eine einfichtige Ge- 
werbepolitit fehr viel zu thun. Gie kann dem Heinen Specialiften und 
Hausarbeiter zwar ben alten Zufammenhang mit der fonfumirenden Kund— 


34 


[haft nicht wiedergeben ; fie fann nicht verhüten, daß auf dem Weltmarkt 
die Kunſt und Gefchidlichleit des einzelnen Arbeiters verfchwinvet ; aber es 
liegt in ihrer Macht, ihn der Ausbeutung durch Zwilhenhändler zu ent: 
reißen, ihm Ermunterung und bie Mittel zu freierem Streben und Schaffen 
zu gewähren. GStaatlihe oder kommunale Behörden können in bie zer- 
ftreute Produktion Einheit bringen, den Waaren Ruf und Abſatz verjchaffen, 
die Bildung von eigenen Handelögefellihaften der Heinen Producenten 
anregen und befördern. Was auf diefem Felde möglich ift, zeigt die Hebung 
der Hausinduftrie, insbefondere der Uhrmacherei und Strohflehterei, im 
badiſchen Schwarzwalde. Ständige Gemerbehallen nah dem Mufler ber: 
jenigen in Triberg und Furtwangen bilden Gentrafpunfte für den Abſatz, 
wie fie ſich nicht beffer denken laffen, zugleich aber auch eine ftete Anregung 
zum Fortfchritt in der Technik und ein Mittel, den Heinen Producenten 
der Iſolirung und Berfiimmerung zu entreißen. Früher waren vielfad 
gewerblihe Schauanftalten in Anwendung, um die Güte und Beichaffenheit 
gewifler Waaren zu prüfen und fie, wenn fie den Vorſchriften entjprachen, 
mit einem Stempel zu verjehen. Sie waren für ven Export fehr wichtig 
und erfüllten für den feinen Gewerbetreibenven biefelbe Beftimmung, wie 
für den Örofinduftriellen die Fabrik- und Waarenzeihen. Bei Iofal fon- 
centrirten Gemwerbezweigen, bejonders der Hausinduftrie, fünnten fie gewiß 
mit Vortheil wieder eingeführt werben. 

Es ift nicht der Zweck diefer Ausführungen, eine Zufammenftellung 
ber zwedmäßigften Mittel zur Gewerbeförderung zu geben; es foll nur 
angedeutet werben, daß der Staat und bie freiwillige Thätigfeit von Ein- 
zelnen und Oenoffenfhaften ein weites Feld vorfindet, auf dem die Hebung 
der Arbeitsgefdidlichkeit, die Verbeflerung der Mängel unferer Imbuftrie- 
produfte möglih if. Was bis jett geſchehen tft, kam entweber blos ven 
großen Unternehmern zu Gute, oder war fo allgemeiner Natur, daß es für 
die Werfftätte wenig Gewinn brachte. Ih braude nur an die Induſtrie— 
ausftelungen, bie Gewerbemufeen, die fländigen Sammlungen von Muftern 
und Mopellen, die Beihaffung und Vertheilung oder Vermiethung von 
Werkzeugen aus Staatsmitteln, das gewerbliche Zeitfchriften- und Bereind- 
weien zu erinnern — Alles gewiß jehr gut gemeinte Beitrebungen, aber 
zu unbeftimmt, ins Blaue hinein. An dem anregenden Einfluß vieler 
Mittel ſoll nicht gezweifelt werben; aber derſelbe ift meift nur einzelnen 
ohnehin bevorzugten SKreifen zu Gute gefommen; vie arbeitenden Hände 
wurden barob nicht geſchickter, die Köpfe nicht heller. Es fehlt, um 
derartige Beftrebungen fruhtbar zu maden, an einer 
grünpliden allgemeinen und einer genügenden fahliden 
Bildung.*) 

Erft wenn es gelingt, dieſe mothwendige Vorbedingung jeder all- 
gemeineren Einwirkung zu fohaffen, werden bie vorhin angeführten Mittel 


*) Schmoller, Zur Geſchichte d. d. Kleingewerbe im 19. Jahrh., ©. 689: 
„Gelingt bie geiftige und technifche Hebung des Handwerkerſtandes wie bes Arbeiter: 
ftandes, jo ift damit das Wichtigite erreicht. Es handelt fich in erfter Linie um eine 
Erziehung der Leute zu anderen gefellfchaftlihen Gewohnheiten, zu anderen bäuslicen 
Sitten, zu einem weiteren Blid, zu einer böberen techniichen Bildung.“ 


35 


höherer Gewerbeförberung wirklich die Kreife erreichen, für welche fie be- 
rehnet und nothwenbig find. Man betrachte nur die verjchievenen gewerb- 
lihen Vereine. Abgefehen von ven Fabrikantenverbindungen zu ſchutzzöll- 
nerifhen Zweden oder zur Durchſetzung gemeinfamer Maßregeln gegen bie 
Arbeiter, friften die Iofalen Gewerbevereine, die polytehnifhen Vereine, die 
Vereine für das Wohl der arbeitenden Klaffe, oder wie fie ſich fonft nennen, 
meift ein Fümmerliches und künſtliches Dafein. In den Städten fteben 
vielfach Literaten und Advokaten an der Spite, an Heineren Orten ber 
Arzt, der Geiftlihe oder Schullehrer — gewiß immer wohlmeinende, aber 
ſelten ſachkundige Perfonen, mit deren Wirken der Berein fteht und fällt. 
Daſſelbe Bild zeigen felbft vie für ven Heinen Mann berechneten Schulge- 
ihen Genoſſenſchaften. Was aus eigener Initiative der Betheiligten bervor- 
gegangen ift, wie der Handwerkerbund und die Hanbwerfertage, war nod 
weniger erfreulih: fie find über die herfümmlihen Anfhauungen nicht 
binausgefommen ; zünftleriiche Reaktionsgelüfte, Deklamationen über die an- 
geblih aus der Gewerbefreiheit herworgegangenen Schäden und Unordnungen 
machten ſich breit; nirgends ein energiſches Erfaffen der gegebenen Zuftände, 
nirgends ein Fräftiges Vorwärtöftreben.*) Das beweift zur Genüge, daß 
der Schwerpunkt der Frage auf dem Gebiete des allgemeinen und gewerb- 
lichen Bildungswefens Liegt. 


Um bierfür ven richtigen Mafftab zu gewinnen, müffen wir und zu 
einer Fritifchen Ueberſchau ver feitherigen Beftrebungen und Beranftaltungen 
auf dieſem Gebiete entſchließen. Wir Inüpfen hier an das an, was, früher 
über die Zuftände im heutigen Rehrlingswefen gejagt wurde. Die 
Ihwierige Frage will von focialen, pädagogiſchen und techniſchen Geſichts— 
punkten zugleich betrachtet fein. Es gilt, den Blid feft auf das Ziel ge- 
richtet, fi durch ein Wirrfal von Meinungen, burd eine Menge von 
ererbten Vorurtheilen durchzuarbeiten. 

Die Vorſchläge, welche zur Beſeitigung der Mißſtände im gewerblichen 
Lehrlingsweſen gemacht worden find, halten faft alle an der überkommenen 
Inſtitution feſt. Man meint, wenn man nur den Lehrling zwingen könne, 
die für nöthig befundene Lehrzeit auszuhalten, die techniſche Durchſchnitts- 
tüchtigkeit allmählich den Zeitanforberungen eniſprechend erhöhen zu können. 
Es wird dann wohl noch ein Appell an die Gewifienhaftigleit des Meifters 
binzugefügt, feine Pflicht ihm im Einzelnen eingefchärft, oder gar der Wunſch 
ausgefprochen, daß der Lehrling wieder, wie in guter alter Zeit, ein lieb 
der Meiftersfamilie bilden möchte. Dieſer Wunſch wird natürlih unter den 
fädtifchen Wohnungs- und Miethverhältnifien ein „frommer“ bleiben. Bon 
anderer Seite hat man dagegen mit Recht geltend gemacht, daß das Gewerbe 


*) Bl. V. A. Huber, Handwerkerbund und Handwerlernoth (Sociale Fragen VI). 
Nordhaufen 1867. Die Agitation der bis jetzt in ben Anfängen fledengebliebenen 
Handwerferpartei unb ber Agrarier fteht auf derfelben Linie. Bis zu wel traurigem 
Grabe der Berblendung felbit ſonſt verftändige Männer auf diefem Wege gelangen 
fönnen, zeigt Perrot, Das Handwerk, feine Reorganifation und feine Befreiung von 
der Uebermacht bes Großkapitals. Leipzig 1876. 


36 


im legten Jahrhundert vielfach technifch verkümmert und verarmt jei und 
daß es bier nicht felten ſchwer halten dürfe, die rechten Lehrmeifter zu 
finden. Und wenn fie ſich fänden, find dann die vorgefchlagenen Mittel *) 
— foriftliher Abſchluß ver Lehrverträge, Friminelle Beftrafung des Lehr- 
lingsvertragsbruchs, Gefellenprüfungen, Verpflichtung ver Arbeiter, Lehrbriefe 
und Arbeitsbücher zu führen u. dergl. — eine Garantie für die Erlangung 
einer gründlichen gewerblichen Ausbildung? Zugegeben, daß man auf diefe Weiſe 
die Lehrlinge zwänge, auszulernen: wird man auch die Meifter zwingen können, 
fie das Erforderliche zu lehren? Ich muß das bezweifeln; ja ich behaupte: 
felbft wenn der Lehrherr feine Aufgabe noch fo ernft nimmt, fo machen in 
den meiften Fällen vie Gefchäftseinrihtungen, die Gliederung ber Arbeit, 
die Specialifirung der Gewerbe, die Haft ver Konkurrenz, einen ftufenmäßig 
fortfchreitenden Unterricht, eine genügende Einfiht in den Jufammenhang bes 
Gewerbebetriebes, eine zur Selbſtändigkeit befähigende Ausbildung unmöglid. 
Unfer Gewerbe, wo es nicht ganz verfümmert und verrottet ift, hat fih 
überall auf die größte Raſchheit und Produktivität eingerichtet; jedem Arbeiter 
find feine beftimmten Obliegenbeiten angewiefen; Alles muß präcs in 
einander greifen; man fchiebt den Lehrling als das unbedeutendſte Glied 
des Mechanismus da ein, wo feine Arbeitskraft am nugbringenpften ver- 
wendet werben fann. Er erlangt beften Falls Virtuoſität im einer Anzahl 
von Einzelverrihtungen; Allfeitigkeit und tiefere Einfiht in den Geſchäfts— 
betrieb vermag ihm die Werkftätte nicht zu bieten. Was unter biefen Um— 
ftänden Prüfungen helfen follen, ift nicht einzufehen, zumal es geradezu im 
den meiften Gewerbezweigen unmöglih fein bürfte, den Inhalt verfelben 
feftzuftellen. Keine Prüfung ohne feftumgrenzte Arbeitögebiete; feine Ge— 
fellenprüfung ohne Meifterprüfung! Die alte Gewerbeverfafjung entftammt 
einer burchgebildeten Drganifation ; wer das Eine wieberherftellen will ohne 
das Uebrige, verräth wenig Einfiht. Freili hat man aud ben rabifalen 
Vorſchlag gemacht, das Lehrlingsweien zu befiern durch Schaffung „meuer 
Innungen“. Bon allen Schwierigkeiten und Unzuträglichleiten, auf welde 
ein folder Verſuch heute ftoßen müßte, abgefehen, genügt der oben gelieferte 
Nachweis, dag die alten Innungen in Hinfiht der gewerblichen Bildung fehr 
mangelhafte Inftitutionen gemwejen find, um uns jede Hoffuung zu nehmen, 
daß die neuen hierin glüdliher fein werden, im Falle fie an der alten Form 
der Werkitartlehre fefthalten. Daß das Gewerbe ehemals über einen ver- 
hältnigmäßig beffer durchgebildeten Arbeiterftand verfügte, lag im der Stetig- 
feit und Gemächlichkeit, zugleih aber auch in der techniſchen Beſchränktheit 
ver Verhältniſſe; unferen Arbeitern würde auch die dreijährige Wanderſchaft 
nie das fein können, was fie früher war, die eigentlichen Lehrjahre nad) der 
vorausgegangenen Leid- und Prügelperiobe. 

Man darf fih das nicht verhehlen: die heutige Lehrlingsfrage ift viel 
fhwieriger, als die der Bergangenheit. Auf der einen Seite ift durch bie 
modernen tehnifhen Erfindungen, durch die Anwendung ber Naturwifien- 


) Es mwürbe von feinerlei Nuten fein, bier alle bis jet gemachten Vorſchläge 
im Einzelnen zu prüfen. Wer ſich über biefelben unterrichten —* findet in den oben 
—— Schriften überreiches Material. Das Geſagte charakteriſirt die Richtung 
zur Genüge. 


37 


Ihaften auf die Gewerbe, durch die Steigerung der künftlerifchen Anforde 
rungen, durch die faufmännifche Betriebsweife das Maß einer dem Zeit- 
anforderungen genügenden gewerblichen Bildung ein weit höheres geworben ; 
auf der anderen Seite verfchafft die Specialifirung ber Imbuftrie, der Ma- 
fhinenbetrieb, die Arbeitstheilung, die wilde Jagd der Konkurrenz; bem 
Arbeiter nur noch eine gewiffe mechaniſche Gefchidlichkeit in einzelnen Ber- 
rihtungen. 

Daraus ergeben fih fir die Löfung der gewerblichen Bildungsfrage 
zwei ungemein widtige Säge, die nur zu oft verfaunt werben: 

1. Der Gewerbetreibende bedarf einer bedeutend höheren 
allgemeinen Bildung, als er fie gegenwärtig durch 
bie Volksſchule erlangen kann. 

2. Eine gründlide Fachbildung ift bei Feftbaltung der 
feithberigen Form des Lehrlingswefens innerhalb der 
Werkftätte niht zu erzielen. Es ift eine Form der ge— 
werbliden Ausbildung zu [uhen, welche ohne Preis- 
gebung der produftiven Zwede den Unterridt zur 
Hauptfahe maht und damit eine genügende Fad- 
bildung ermöglidt. 

Daß die gegenwärtige Durdfchnittsbildung unferer Handwerfer und 
Arbeiter den Zeitanforberungen nicht genügt, ift eine längft anerkannte 
Thatfache, deren Schwere vielleicht von niemanden lebhafter empfunden und 
auch anerfannt wird als von den Betroffenen ſelbſt. Man hat deßhalb 
Ihon feit dem erften Auftauchen der „focialen Frage“ die Mängel der all« 
gemeinen Bildung bei den Arbeitern und Kleingewerbetreibenden zu ergänzen 
gefucht.. Arbeiterbildungsvereime wurden gegründet, hauptſächlich in 
den größeren Städten. Es fanden fi politiihe Streber, aber auch mwohl- 
meinende Männer aus den gebildeten Ständen, Gelehrte, Volksvertreter, 
Redakteure, Lehrer u. dgl., welde die Sahe in die Hand nahmen. Eine 
Schaar von lernbegierigen Arbeitern war bald zufammengebradt: es wurden 
fogenannte populärwiffenfhaftlice Vorträge gehalten, den einen Abend über 
die Ritterorden des Mittelalters, den andern über die Staatöverfaffung der 
Athener, den dritten über die Spektralanalyfe, pie Darwin'ſche Theorie, das 
Gefängnigwefen, und mandes andere. Das find alles Gegenftände, welche 
neben einem nicht umnbeträdtlihen Maße allgemeiner Bildung tiefernfte 
Studien, fehwierige Denkoperationen, manihfahe Uebung und Anfhauung 
zu ihrem Verſtändniß vorausfegen, was natürlich in einer flüchtigen Stunde 
nicht gegeben werden Tann. Die Verſuche verwechſelten das Publitum und 
verfehlten nicht nur ihr Ziel, weil fie geiftige Bereicherung und Stärfung 
des Denkvermögens nicht zu geben vermochten, fonbern fie richteten auch 
unenblihe® Unheil an, weil fie durch das Aufpfropfen zujammenhangslofer 
wiffenfhaftliher Kenntniffe jenes Schein» und Halbwiffen, jene Bildungs- 
heuchelei und jenen ſeichten, materialiftifh angehaudten Aufkläricht beförderten, 
an dem weithin bie befigenden Klaffen leiden. 

Man hat fi) dann auch der Lehrlinge zunächft angenommen und Fort- 
bildungsihulen für viefelben errichtet zur Wiederholung und Er- 
weiterung der in der Volksſchule erworbenen Kenntniffe ine befondere, 
von liberalen Abgeordneten gegründete Gejellihaft für Verbreitung von 


38 


Volksbildung hat ſich dieſer Schulen hauptſächlich angenommen und ſucht 
dieſelben durch Zweigvereine möglichſt allgemein zu machen. Durch eine 
rege Agitation einzelner für die Sache begeiſterter Perſönlichkeiten, durch 
öffentliche Verſammlungen, durch Ausſendung von Wanderlehrern hat die 
Geſellſchaft eine ziemliche Verbreitung erlangt und in ihre Beſtrebungen eine 
große Zahl bereits vorhandener ähnlicher Vereine (Gewerbe-, Handwerker-, 
Arbeiter-, Bildungs-, Bürgervereine) hereingezogen*). Für bie erwähnten 
Fortbildungsſchulen, deren Errichtung bereits durch die Gewerbe-Ordnung 
vorgeſehen iſt, wurde eine Staatsunterſtützung erwirkt. Durch Ortsſtatut 
faun der Beſuch derſelben für Lehrlinge und Arbeiter bis zum achtzehnten 
Lebensjahre obligatorifh gemaht und felbft die Meifter zu Beiträgen für 
die Unterhaltung verfelben herangezogen werben. Im ähnlicher Weije ift 
man auf dem Lande mit Gründung fogenannter ländlicher Fortbildungs- 
fhulen vorgegangen, ja die Vorliebe für dieſe Inftitution geht jo weit, daß 
neulich eine befannte militärifhe Korrefpondenz fogar von militärischen Fort- 
bildungsfhulen zu erzählen wußte, die in dem zu erwartenden preußifchen 
Unterrichtsgejege vorgefehen fein. Das ganze Fortbildungsidul- 
wefen ift nichts weiter, als das unerfreulide Eingeftänp- 
niß, daß in unferen Bolfsfhulen niht einmal das im 
bürgerlihden Leben aub für den Allergeringftien unbe- 
dDingt erforderlide Maß von Elementarfenntnifjfen er- 
worben wirb. . 

Schon im Yahre 1860 erklärten die vereinigten Minifter des Handels, 
bes Unterrichts und des Innern in Preußen, „daß eine vollitändig genügende 
Wirkfamkeit der Clementarfchule die Fortbildungsihule überflüffig machen 
würde”. Nad dem preufifhen Landrecht fol die Volksſchule „die für jeden 
vernünftigen Menſchen feines Standes nothwendigen Kenntniffe” gewähren. 
Gewiß ein je nad den Fortfchritten der Kultur jehr wechſelndes Maf. Wird 
es heute erreicht? Nach einer preisgekrönten Schrift über die Fortbildungs- 


*) Vol. Statiftif ber mit ber Gejellfchaft für Verbreitung von Bolksbildung im 
Berbindung ftehbenden Bereine für Volfsbilbungszmwede nad bem Stande bes 
Berwaltungsjahres 1874/75. Berlin, Franz Dunder. 1875. Es liegt mir durhaus 
fern, bie Reinheit und Ehrlichkeit der Beitrebungen von Männern, wie dem ver- 
ftorbenen Dr. Leibing, anzweifeln zu wollen. Aber ih muß geſtehen, baf mir bie 
Einfiht und der gute Wille mancher Leiter ber Bewegung für das, was Noth thut, 
jhon feit der Zeit zweifelhaft wurben, als ich einſah, baß fie die fchweren Mipftände 
bes Volksſchulweſens gänzlich Falt Liegen. Die angenommenen ®anberlehrer fröhnten 
berjelben „zuchtlojen Halbwifferei“, von der Treitfchfe mit gerechtem Zorne fpridt, und 
bie Enthüllungen des entlafjenen Dr, Lindwurm waren nicht bazu angethan, 
Spmpatbien zu erweden. in hervorragender Leiter ber Bewegung, mit dem ich vor 
zwei Jahren über bie Lehrlingsfrage und ihre Förderung durch die Gef. f. Verbr, v. 
Volksbildung ſprach, erwiberte mir furzweg: „Die Fortbildungsſchulen gebe ih gerne 
preis; für uns iſt der Kulturfampf die Hauptfache.“ — Es braucht faum noch be— 
ſonders barauf aufmerffam gemacht zu werden, daß bier überall Iebiglih von ber 
allgemeinen Fortbildungsihule bie Rebe ift, wie fie in Norddeutſchland durchweg 
bie Regel bildet und auch von dem genannten Berein verfianden wird. In Sadjen, 
Großh. Heflen, einigen thüringifhen Staaten u. f. w. ift biefelbe bereits obligatoriſch; 
wer bier einen dem umſtändlichen Apparate nur halbwegs entiprehenden Erfolg er— 
wartet, ift ficher ein unverbefjerlicher Optimiſt, deſſen päbagogifhe Einfiht faum Neid 
erweden bürfte. 


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ſchulen“) bietet eine mittelmäßige Volksſchule während einer achtjährigen 
Schulzeit ihren Schitlern: „Fertigkeit im Lefen und im felbftändigen Nieder- 
Ihreiben einer einfahen Erzählung oder Beſchreibung ohne grobe ortho- 
graphifche Fehler, Uebung in Anwendung der Örundrehnungsarten mit 
ganzen und gebrochenen Zahlen und Aehnliches.“ Das ift Häglich wenig 
und fönnte offenbar bei genügenden Lehrkräften und Lehrmitteln im der 
Hälfte der Zeit jelbft mit mäßig begabten Schülern erreiht werben. Doch 
darüber fpäter. Hier ift nur die frage, ob denn die fo viel berebeten 
Fortbildungsfchulen fähig find, das in ber Elementarſchulzeit Verſäumte 
nachzuholen. Wer die BVerhältniffe fennt, wird nicht wagen, dieſe Frage 
zu bejahen. 

Werfe man nur einen flüchtigen Blick auf die thatſächlichen Zuſtände, 
wie fie mit wenigen Ausnahmen faft überall beftehen. Auf hohen obrig- 
feitlihen Befehl wird irgendwo eine „gewerbliche“ Fortbildungsſchule er- 
richtet. Die Meifter find nunmehr bei Strafe gehalten, ihre Lehrlinge und 
Arbeiter unter 18 Jahren wöchentlich zwei Mal Abends nad Feierabend, 
alfo etwa von 8—10 Uhr, oder auch des Sonntags in die Schule zu ſchicken. 
Da kommt denn ein Biertel- over Halbhundert Lehrlinge aller Berufsarten 
zufammen, müde und abgehegt von des Tages oft zwölf» bis vierzehn- 
ftlindiger Arbeit, und beginnen nun unter Anleitung des Ortsichullehrers 
ihre Uebungen. Die jchwielige Hand, welde tagüber den Meißel ober 
Hammer geführt hat, fol nun mit gleicher Birtuofität die Schreibfeber, den 
Zeihenftift handhaben, das müde und ftumpfe Hirn fol ſich fchwieriger 
Gevantenarbeit anbequemen, im Rechnen, der Sprach- und Naturlehre, ver 
Geographie und Geſchichte, wenn's gut geht aud ber Geometrie, der Chemie 
und Phyfif. Iſt der Lehrer einer von den modernen, jo fommen aud Bud): 
führung, Stenographie, Wirthſchaftslehre oder eine neue Sprache auf bie 
Tagesordnung. Der legteren Gegenftände nimmt fich vielleicht der Redakteur 
des Lokalblattes an oder fonft eine jchägbare Kehrkraft. Ich Habe alle 
Ahtung vor dem Bildungsftreben unferer Arbeiterjugend, aber ich muß jehr 
bezweifeln, ob e8 bejondere Bernunft verräth, ihnen Derartiges zuzumuthen, 
während fie ihre ganze Kraft der Erzielung einer genügenden Erwerbsfähig- 
feit zuzumenden haben. Die Borbildung berjelben ift natürlih ſehr un— 
gleich ; niemand weiß an welder Stelle die Schule einzufegen, wo fie auf- 
zuhören bat. Bei der Kürze der Zeit, der Manichfaltigfeit der Unterrichts- 
gegenftände, deren unmittelbarer Nugen den Knaben nicht einleucdhtet, darf 
man fih über den Mangel an Interefje bei der Mehrzahl kaum wundern. 
Die Lehrer find, wie erwähnt, die am Drte angeftellten Boltsfcyullehrer. 
Man darf mit hoher Befriedigung anerkennen, daß fie jich meift ber ſchwie— 
rigen Aufgabe mit großer Liebe und Aufopferung unterziehen. Aber es heißt 
Unmenjchliches verlangen, wenn man meint, daß ein Mann, der über Tag 
80—100 und mehr Kinder in aufreibender Anftrenguun zu unterrichten hat, 
no geiftige Friſche genug behalten folle, um am Abend oder Sonntag ſich 
ben Lehrlingen zu widmen. Die Väter ber Städte find fparfam; ber Fall 


*, C. Schröder, Die gewerblihe Fortbildungsſchule. Berlin 1872, ©. 18. 
Die obigen Angaben find für den größeren Theil der Monarchie eber zu hoch, als zu 
niedrig gegriffen. 


40 





ift nit fo felten, daß den ohnehin ſchmal befolveten Lehrern ver Fort» 
bildumgsunterriht nicht beſonders vergütet wird. Sie find ja kraft ihrer 
Bofation aud hierzu verpflichtet. Das dient micht gerade dazu, ihr 
Intereffe an der Sache zu fteigern. Man vertheilt daun wohl bie Laft auf 
alle verfügbaren Schultern, und es gibt thatſächlich Fortbildungsſchulen, in 
denen heute der, Über 8 Tage ein anderer und nah 14 Tagen wieder ein 
anderer Lehrer unterrichtet, biß die Reihe um ift.*) Mit mwelhem Erfolg, 
läßt fih denken. — Die gewerbliche Fortbildungsichule, wie fie gegenwärtig 
verftanden wird, als ein Lüdenbüßer für vie vernachläffigte allgemeine Volks— 
fhulbilvung, ohne inneren Zufammenhang mit der Gefammtorganifation bes 
Schulmwefens, hat keinen vernünftigen Sinn. Gie ift geradezu ſchädlich, 
indem fie die unbegreifliche Gleichgültigkeit der Volksvertretungen und 
Regierungen gegen eine zeitgemätße Reform der Elementarſchule erhält. 

Man hat in den letzten zehn Jahren ſo oft das Wort geſprochen und 
drucken laſſen: die ſociale Frage iſt eine Bildungsfrage. Wenn man dieſen 
Sat allgemein nimmt, fo iſt er unrichtig, und jeder, ver ihn nachſpricht, 
gibt feiner focialen und wirthſchaftlichen Einfiht ein Armuthszeugniß und 
verfhiebt den Schwerpunft der Sade. Die fociale Frage ift ihrem innerſten 
Kerne nah eine wirthſchaftliche Frage oder, wie jener Chartiftenführer fagte, 
eine „Mefier- und Gabelfrage“ und fann nur duch wirtbfhaftlihe Reformen 
auf Grund der allgemeinen Rechtsgleichheit gelöft werden. Es ift Die Be— 
bauptung aufgeftelt worben, daß die Entwidelung der Klaffengegenfäge nie 
bis zu der Schärfe gebiehen fein würde, die fi wieder aus ben letzten 
Reihstagswahlen offenbart hat, wenn bie Regierungen feit Aufang dieſes 
Jahrhunderts durch gründliche Reformen im Schulwefen dem Fortſchreiten 
der Rulturgegenfäge rechtzeitig Einhalt gethan hätten. **) Das ift unbedingt 
zuzugeben: der gewerbliche Mittelftand würde nicht in dem Maße focial 
und techniſch verfrüppelt und verfiimmert fein; er würde durch zweckmäßige 
Drganifation der Produktion auf Grund der Aſſociation manche, jegt ver- 
Iorene Pofition gehalten haben. Hirth fagt gewiß mit Recht: „Der Menfc, 
der feine allgemeine Bildung befigt nnd nun zur Erhaltung des nacdten 
Lebens gezwungen ift, aud beruflich auf jeden weiteren Gefichtäfreis zu ver- 
sichten, muß nothwendig anf den Werth der Mafchine herabfinfen. Der 
niedrige Kulturgrad der fleinen Leute wird zum verhängnißvollen Schußzoll 
für das Großfapital, deſſen Prämie mit jedem neugeborenen Arbeiterlinde 
wählt.“ Wenn er nun aber weiter meint, durch einen großartigen „Kultur- 
hub“ der ungebilveten und in ihrer Lebenshaltung auf das Nothdürftigſte 
berabgebrüdten Klaſſen den letzteren eine gleihe „Bewaffnung im Kampfe 


) R. Nagel, Die gewerblichen Fortbildungsfhulen ber Provinz Preußen. 
Danzig 1875, ©. 22. In Br. Eylau wechjeln jo 7 Lehrer von Sonntag zu — 
in Bilhofsburg 6, in Liebemühl 4, von benen jeber je einen Monat unterrichtet. 
ſelbſt kenne einen Fall, wo bie brei Lehrer eines Ortes fi ben ſchmalen Verdienſt ie 
glaube 60 Pfennig pro Stunde) nicht einmal gönnten und von Woche zu Woche ab— 
a werden mußte. 

G. Hirth, Ueber Volfsbildbung und Rechtsgleichheit. Zur Löſung ber jocialen 

gran. 2, Auft,, Leipz. 1873. (Auch Rn in ben „Freifinnigen Anſichten ber 

olkswirthſchaft und bes Staates“. Leipz. 1876, ©. 53 fi.) Eine zwar nicht durchweg 

befriedigende, aber in ihren Grundgebanfen Re Schrift, bie leider fat ohne 
Einfluß geblieben ift. 


41 . 

ums Dafein“ geben zu können mit ber Klaffe, die ihnen im Streite um 
die Höhe des Arbeitdertrags und damit um die fociale Stellung gegenüber 
fteht, fo ift dies eime fhöne und verführerifhe Täufhung. Er vergißt dabei, 
daf die „Konkurrenzfähigkeit” der Perfonen, welche im wirtbichaftlihen Leben 
einander gegemüberftehen, in erfter Linie auf ihrer Kapitalkraft beruht und 
erft am zweiter Stelle auf ihren intelleftuellen und moralifhen Eigenfhaften. 
Darnach beftimmt fi der Einfluß einer erhöhten Geiftesausbilpdung auf Die 
Fähigkeit, dem vollswirthſchaftlichen Intereffenlampfe gewachſen zu fein. Doc 
mag immerhin eingeräumt werben, daß noch in dem erften Drittel biejes 
Yahrhunderts die Intelligenz gegenüber dem Befig eine höhere Bedeutung 
harte, als jest, wo fie ohne Unterftägung beffelben fih mur ansnahmsweife 
und unter den größten Mühen Bahn zu breden vermag. Aber auch noch 
unter den heutigen Berhältniffen müßten die jocialen Folgen eines auf 
der gefeglich gemwährleifteten gleihen Rechtsbaſis aufgebauten Bolfsbilvungs- 
weſens ſich auf die Dauer auch wirthichaftlih ungemein wohlthätig erweifen. 
Erhöhte Bildung innerhalb einer ganzen Vollsklaſſe hat eine Erhöhung ver 
Lebenshaltung zur unmittelbaren Folge; mit der Erweiterung des konven— 
tionellen Bedürfnißfreifes würde der Arbeitslohn fteigen und darnach mitte 
fih auf die Länge aud die ganze wirthfhaftlide Zufammenfegung ver Ge— 
ſellſchaft modificiren. Man hat es ja fo vielfach beflagt oder getabelt, daß 
bie Arbeiter meift die Lohnfteigerungen der inbuftrielen Fluthjahre nicht zur 
Hebung ihrer materiellen und kulturellen Lebenshaltung zu verwenden 
mußten. Man hat darans mit befliffenem Eifer die Berechtigung ſchöpfen 
zu dürfen gemeint, ſich immer tiefer im jenes äſthetiſche Mißbehagen einzu- 
bohren, mit dem felbft fonft wohlmeinende Männer der Ürbeiterfrage gegen- 
über ftehen. Ja man ift auf diefem Wege zu jener blöben Stumpfheit des 
politifhen Denkens und der biftorifhen Auffafjung gefommen, von der aus 
man entweder die ganze Proletarierbewegung zuſammenkartätſchen oder ihr 
mit ein paar homöopathiſchen Receptchen, wie Schievsgerichten, Gewerkvereinen, 
Hülfskaffen zc., frievlihe Bahnen vorzeihnen zu fünnen meint. Die aller- 
nächſte und allerhöchſte Aufgabe des Staates und der gebildeten und befigen- 
den Klaſſe gegenüber der focialen Frage ift unbedingt eine pädagogifche: 
erft wenn es gelingt, die arbeitende Klaſſe möglichft allgemein an ven 
Gütern der Kultur, an dem geiftigen Errungenfchaften der Gegenwart zu 
betheiligen, finden einfchneidende wirthſchaftliche Reorganifationsgedanten eine 
ſolide Unterlage; erft bann können wir ohne Beforgniß vor fonft unver- 
meidlihen focialen Berwidlungen der Zukunft emtgegenjehen und auf eine 
friebliche und befriedigende Löfung der materiellen Schwierigkeiten hoffen. 

Inhalt, Umfang, Allgemeinheit und Freiheit des Elementarunterrichts“, 
jagt Lorenz Stein, „bebeuten in ihrem Kreife die Kraft und die Richtung 
ber ganzen foctalen Bewegung einer Epode, und zwar in ber Weile, daß 
die Entftehung und Ausdehnung deſſelben fowie feine organifhe Verbindung 
mit dem allgemeinen Bildungswefen den großen Prozeß der Hebung ber 
niederen Klaſſen überhaupt, fpeciell aber den ber Hebung berjelben zum 
geiftigen Leben der höheren bedeuten. Es ift daher ohne eine wohl organi- 
firte Elementarbildung gar fein wahrer focialer Fortſchritt möglich; mo der— 
jelbe dagegen fehlt, fehlt das große vermittelnde Glied für den Uebergang 
von einer Klaffe zur andern, mit ihm das Element der Ausgleihung der 


42 


Klaffengegenfäge, und der fociale Kampf wirb daher ein rober, gewaltjamer, 
der die Vermehrung der Wohlfahrt zum Inhalt und die Despotie zur Folge 
bat. Nur der tüchtige und allgemeine Elementarunterricht fann das ändern, 
faft noch mehr durch fein Princip als durd feinen Inhalt.“ 

Dies ift die fociale Tragweite der frage; die politifche dürfte von 
felbft einleuchten. Wir haben es bier zunähft nur mit ber technifchen 
Seite zu thun; aber wir durften uns einer furzen allgemeinen Erörterung 
nicht entichlagen, um fir die auf Grund dieſer zu ftelenden Anforderungen 
ben Mafftab zu gewinnen. Ueber bie Verpflichtung des Staates, „für bie 
Bildung der Jugend durch öffentlihe Schulen genügend zu forgen“ *), 
bedarf es feiner Worte; fie ift wohl in allen deutſchen Staaten ver- 
faffungsmäßig anerkannt und erfcheint als nothwendige Konfequenz bes all- 
gemeinen Schulzwange. Daß die dermaligen Leiftungen der Volksſchulen 
durchgängig hinter den Zeitanforberungen zurädbleiben, ift ſchon durch bie 
Agitation für die obligatorifche Fortbildungsſchule zugeftanden, die am 
eifrigften von gewerblichen Kreifen betrieben wird. Die Frage liegt nun 
fo: bebarf e8 einer immerhin nad manchen Beziehungen bevenklihen Aus- 
dehnung des ftaatlihen Schulzwangs bis zum achtzehnten Lebensjahre durch 
bie obligatorifche Fortbildungsfhule, wobei ver Erfolg immer noch ein äußerft 
ungenügender bleibt, oder läßt fih der Zwed nicht vollfommener durch eine 
Hebung der Volksſchule erreichen ? 

Die Leitungen der legteren entfprehen augenblidlih nur ihrer Orge- 
nifation und ben auf biefelben verwandten Mitteln. Trotz ber gewaltigen 
Fortfchritte auf allen Gebieten der geiftigen und materiellen Cultur fteht bie 
Boltsfhule in Preußen und den meiften anderen deutſchen Staaten noch 
immer auf dem Standpunkte, den fie am Ende bes vorigen Jahrhunderts 
eingenommen hatte. **) Das Lehrziel, welches ihr gefeglich geftellt ift, ift ein 
Häglich geringes und wird in ven allermeiften Schulen gar nicht einmal 
erreicht. Abgejehen von ber Diürftigkeit der Lehrmittel, der ſchlechten Be- 
ſchaffenheit ver Schullocale beeinträchtigt die Ueberfüllung der meiften Schulen 
im höchſten Grave die Erreihung eines befriedigenben Reſultats. Das Ge- 
fe fchreibt vor, daß von demfelben Lehrer höchſtens 80 Schüler gleichzeitig 
unterrichtet werben dürfen. Diefe Zahl ift, wie jeder Anfänger in der 
Pädagogik weiß, eine viel zu hohe; fie hat felbft bei der äußerſten Kraft⸗ 
anfpannung des Lehrers zur nothwendigen Folge, daß von ben Schülern 
viel gefeflen werden muß, aber erftaunlih wenig gelernt wird. Allgemein 
gilt die Zahl von 40 Schülern als die höchſte, welche gleichzeitig mit Er: 
folg unterrichtet werben kann. Nun aber geht die Zahl in fehr vielen 
Fällen,. auf dem Lande fogar in ber Regel, über das gefetlich zuläfjige 
Marimum hinaus. Am 1. Juli 1875 gab e8 nah einer officiellen 
Angabe im preufifchen Staate 54,496 Elementarlehrerftellen. ***) Bon biejen 





*) Worte ber preuß. Perfafjungsurfunde vom 31. Januar 1850. 

”*) Bol. Gneift, Die Selbftverwaltung ber Vollsſchule. Berlin 1869. Im 
Vebrigen ſ. bie Schrift von Eduarb Sack, Unfere Schulen im Dienfte gegen bie 
Freiheit. Braunfchweig 1874. 

+) Bol. Jahrbuch für bie amtl. Statiftif bes preuf. Staates, IV. Jahrg., 2. Hälfte, 
©. 54. 42fj. Der Kürze wegen find ordentliche und Hülfslehrerftellen im Zert zu: 
fammengezogen. 


43 

waren nicht weniger als 4508 oder 12 Procent berzeit unbeſetzt; faft 
1900 der legteren wurben von ungeprüften Lehrkräften oder Präparanden 
verwaltet, d. h. halbwüchfigen Jungen von 14—16 Jahren, die fih auf den 
Befuh des Seminars vorbereiten. 2463 wurden von geprüften Lehrern 
anderer Schulen oder Klaffen mitverfehen, und 155 Stellen waren ohne alle 
Berforgung. Berüdfihtigt man nun, daß jenes „Mitverfehen“ von 2463 
Schulen oder Klaffen nur dadurch möglich ift, daß immer je zwei Schulen, 
bie „mitverfehene“ und diejenige, fiir melde der Lehrer orbnungsmäßig an- 
geftellt ift, leiden, bezw. nur bie Hälfte des Unterrichts, der ihnen zulommt, 
empfangen, fo wird man fi leicht eine Vorftelung von der herrſchenden 
North und von den Refultaten des Unterrichts machen können. Auf je einen 
Lehrer entfallen — immer die Richtigkeit der amtlichen GStatiftit voraus- 
gefegt — durchſchnittlich 75 Schüler (auf dem Lande 79, in den Städten 63). 
Ohne jeden Unterriht waren ſomit 11,625 Kinder, nit ordnungsmäßig 
(d. 5. durch Präparanden und „Mitverfeher”) unterrichtet 511,200 Kinder 
in 6816 Schulen bezw. Klafien. Auf dem Lande, aus deſſen Schulen aud 
der ftäbtifche Urbeiter- und Handwerkernachwuchs zu einem beveutenven 
Procentfag hervorgeht *), find die Volksſchullehrer mander Bezirke thatſächlich 
zu ambulanten „Schulhaltern” geworben. Im nicht wenigen heilen ber 
alten Provinzen herrſchen befanntermaßen nad dieſer Richtung entjegliche 
Zuftände. Unter ven Einzelheiten, vie bugenbweije zur Hand find, fei nur 
folgender Bericht eines nationalliberalen Blattes hervorgehoben : 

„Der Lehbrermangel ift in einzelnen Bezirken ber Provinz Schlefien jo groß 
geworben, daß die Beitimmungen des Minifteriums über das Marimum der Schüler: 
zabl nicht beachtet werben können. Nach bem in ber General-Fehrerfonferenz in Kattowig 
erftatteten amtlichen Berichte ergibt fi, daß in den ländlichen Schulen des Kreiſes 
achtzig Lehrer 11,390 Schüler unterrichten, alfo auf jeben Lehrer 142 Schüler fommen, 
während vorfhriftsmäßig die Schülerzahl nicht Über achtzig betragen fol. Aus dem 
Liegniger Regierungsbezirt wird ferner ein Fall berichtet, daß bei einer in bem Jahre 
jhon einmal —* Lehrermangels zeitweiſe geſchloſſen geweſenen Dorfichule abermals 
eine ſechswöchentliche Unterbrechung eingetreten iſt, weil der junge Lehrer zur Ableiſtung 
ſeiner Dienſtpflicht eingezogen und ein Erſatz für ihn nicht zu beſchaffen geweſen iſt. 
Daß ländliche Lehrer in Ermangelung von Hülfslehrern weibliche Familienmitglieder 
mit der Ertheilung des Unterrichts betraut haben, gehört nicht zu den Seltenheiten und 
hat, auch wo eine Berechtigung der Hülfslehrerinnen zur Ertheilung von Unterricht 
nicht nachgewieſen war, die — der Aufſichtsbehörden finden müſſen, weil 
nur auf dieſe Weiſe die Fortführung des Unterrichts möglich wurde. Die gleiche Er— 
ſcheinung zeigt ſich übrigens bekanntermaßen faſt in allen Provinzen und ſie wird ſich 
ſo lange wiederholen, bis die oft genug dargelegten Gründe, aus denen ſie mit Noth— 
wendigkeit erwächſt, beſeitigt find.” 

Aber auch in den neuen Provinzen wird es bald kaum beſſer ausſehen. 
Das ehemalige Naſſauer Ländchen war früher der Trefflichkeit feiner Volks— 
ſchulen wegen berühmt. Bor 1866 hatte aud das ärmfte Dörfchen des 
BWefterwaldes feinen Lehrer; im vorigen Jahre waren allein im Amte 
Ufingen von 52 Schulſtellen 13 unbefegt.**) Die Gegend ift arm, bie 


*) Engel in ber Zeitſchrift bes ftatift. Bureaus X (1870), ©. 396. 

*) „Frankfurter Anzeiger” vom 11. Februar 1876. Freilich leidet nicht allein 
Preußen unter der Mifere bes Lehrermangeld. Aus ben Thüringifhen Staaten (mit 
Ausnahme von Sachfen: Weimar) waren noch vor kurzer Zeit ähnliche Klagen zu ver: 
nehmen. Das Schulmwefen im Königreih Sachſen gilt für gut; dennoch theilte am 
16. Januar 1876 ber „Hamb. Corr.“ mit, daß nad Angabe bes Bezirksjchulinipeftors 

4 


Bücher, Die gewerblide Bildungsfrage. 


44 


Dörfer liegen weit aus einander; wie fih da die 26 unter dem Notbftand 
des „Mitverfehens* ſtehenden Schulen befanden, läßt fih ahnen. Aehnliche 
Klagen erfhallen aus Hannover und Schleswig-Holftein. Schon fängt man 
an, fhägbare Kräfte für das Lehrfach zu nehmen, we man fie findet. Trotz 
aller Staatsfubvention vermögen die Präparandenanftalten und Seminarien 
wenig mehr als ven natürlichen Abgang zu deden. Die Zahl ver Lehrerinnen 
an Elementarſchulen, wo ihre Kräfte felten den Anforverungen gewachfen fein 
dürften, hat fi zwilhen 1873 und 1875 von 3,177 auf 3,936 vermehrt. 
Ein Ende der North ift gar nicht abzufehen. 

Ein weiteres Hinderniß für die Erzielung eines erträglihen Erfolges 
ift die Organifation der preußiſchen Volksſchulen. Die einklaffige und bie 
Halbtags-Schule herrſchen auf dem Lande überall vor; ja es fcheint bie 
Abſicht zu fein, fie zu eigentlihen Normaljchulen zu mahen. Den einfachten 
Lehrregeln zuwider werben bier Kinder jeven Alters vom 6. bis 14. Yahre 
in ein und bemfelben Lokale von ein und vemjelben Lehrer gleichzeitig 
unterrichtet, oder vielmehr die Mehrzahl wird „ftill beihäftigt”, während 
immer nur eine Abtheilung fich der perfünlihen Umterweifung des Lehrers 
erfreut. In der That genieht aljo der einzelne Schüler nur etwa ben 
vierten Theil des Unterrichts, auf welchen er nad allen Regeln ber Ber- 
nunft und mad) dem Geift der Gefege Anfpruh hat; für ven größten Theil 
der Schulzeit hat er daneben die Befugniß, auf der Schulbanf zu figen 
und Urbeiten zu machen, bie ver Lehrer faft nie im Einzelnen fontroliren 
fann, deren Nugen demgemäß eim jehr zweifelbafter ift. Bon ber Beichaffen- 
heit der Schullofale und ihrer Ausftattung mit Lehrmitteln ift es räthlich, 
lieber zu fchweigen. Das VBerzeihniß der „unentbehrlihen Lehrmirtel* in 
den „Allgemeinen Beftimmungen“ vom 15. Oftober 1872 ift wahrlich kein 
Dokument, mit welchem ver preufifhe Staat feine Kulturmiffion beweifen 
fann, und wie oft werben feine vierzehn Nummern nit einmal komplet 
vorhanden fein, obgleich fi) wever eine Wandkarte von Europa (gefchmeige 
denn der übrigen Erdtheile) noch ein einziges Anfhauungsmittel für den 
naturwiffenfhaftlihen Unterricht darunter befindet ! 

Ueber die Borbildung ver Lehrer ift nod; weniger Tröftlihes zu be 
richten. Die Leiftungen ber flaatlihen und privaten Präparandenanftalten 
können nad ihrer ganzen Organifation und nah der Dürftigfeit ihrer Aus- 
ftattung feine glänzenden fein, fo viel Ruhmens viefelben fih auch zu 
erfreuen haben. Einrichtung und Lehrziel der Seminarien entfprehen nad 
keiner Seite den Anforderungen ber Zeit. Was z. B. an geographifchem 
und geſchichtlichem Unterricht ver Normallehrplan vorjchreibt *), geht nicht 
über das Maß hinaus, welches den 12—14 jährigen Knaben der höheren 
BDürgerfhulen oder ber mittleren Realfhulllafien geboten wird. Es ift kaum 
glaublih, daß in der Marhematif das Gewöhnlichite aus ber ebenen Geo- 
metrie, in ber Algebra vie Gleichungen zweiten Grades (Meihen- und 


Spieß in ber Amtshauptmannihaft Chemnitz allein 70 Lehrkräfte fehlten, von bemen 
nur 24 durch die nächſte Kanbidatenprüfung des Seminars in Zſchopau auf Entfat 
zu vechnen hatten, In Baiern fcheint es nicht beffer zu fiehen. ©. König im ben 
Gutachten des Vereins für Socialpol. über das Lehrlingsweien S. 7. Am Uebrigen 
vgl. Sad a. a. O. S. 29 ff. 

*) Man vgl. die Allgem. Beſtimmungen vom 15. Oct. 1872, ©. 36 ff. 


45 


Logarithmenlehre nur ausnahmsweife!) das Endziel des Seminarwiſſens 
bilden. Nicht einmal für ben Unterricht in der Mutterfprade und National: 
Iteratur ift genügend geſorgt. Kurz man fann fagen, daß bie fachliche 
Ausbildung unſerer berufenen Volksbiloner hinter dem Maße erheblich 
zurüdbleibt, welches gegenwärtig als das allgemeine Bildungsziel des höheren 
Dürgerftandes durch die Realſchule erfter Ordnung aufgeftelt wird. Wie 
ed mit ber felbftändigen Weiterbildung der jüngeren Lehrer ausficht, darüber 
wurden von genauen Sennern der Berhältniffe auf vem Erfurter Lehrertag 
wahrhaft baarfträubende Einzelheiten mitgetheilt. Nicht nur, daß ihnen die 
Hauptwerfe unferer Dichterheroen faum dem Namen nah befannt feien: 
ed fehle felbft nicht felten vie Fähigkeit, orthographifh und grammatiſch 
rihtig zu fchreiben. Ein Wunder, wenn e8 anders wäre! Das Seminar 
erzieht nicht zur geiftigen Selbftänvigkeit, ſondern begnügt fih mit einer 
nothdürftigen Drillung; die materielle Notb, der Zwang zu jeglicher Art 
von Nebenbeihäftigung, die Arbeitslaft der Schule find fpäter nicht dazu 
angetban, Zeit und Kraft und Freudigkeit zu rüftigem Weiterftreben übrig 
zu lafjen. 

Der Gegenftand drängt und dieſe Erörterungen auf; wir glauben 
eher zu heil als zu dunkel gezeichnet zu haben. ever, ver fi die Frage 
ſtellt, ob unfere Volksſchulen eine den Anforderungen bes praktiſchen Ge— 
werbelebens genügende Ausbilvung gewähren, muß vor biefen, in me- 
lancholiſches Grau gebüllten Hintergrund treten, Man kennt an leitender 
Stelle recht gut den fchneidenden Widerſpruch zwifchen den Forderungen 
ver Zeit und den tharfählihen Zuſtänden des Bolfsbildungswefens. Der 
Erlag vom 15. Oktober 1872 hat deßhalb im Anſchluß an die bereits in 
vielen Orten beftehenven Bürger:, Mittel-, Rektor, höheren Knaben - over 
Stadtſchulen eine Art oberer Volksſchulen gejhaffen, „welche einerfeits ihren 
Schülern eine höhere Bildung zu geben verfuhen, als dies in ber mehr- 
Maffigen Vollsſchule geichieht, andererſeits aber auch die Bedürfniſſe des 
gewerblichen Lebens und des fogen. Mittelftandes in größerem Umfange 
berüdjichtigen, als dies in den höheren Lehranftalten regelmäßig ver Fall 
fein fann. Es entjpriht den Anforderungen ber Gegenwart 
nit nur, die beftehenden Anftalten diefer Art weiter zu 
entwideln, fondern aub die Neuerrihtung berfelben 
Seitens der Gemeinden thunlihft zu fördern“. Go das 
Minifterium, welches damit ein geradezu vernichtendes Urtheil über den 
Stand des Volksſchulweſens ausſpricht, es aber dem guten Willen und ber 
Steuerkraft ver Gemeinden itberläßt, ob fie „den Anforderungen der Gegen- 
wart entſprechende“ Mittelihulen erhalten follen oder ob fie fih mit ber 
nieberen Elementarjchule begnügen müflen. Es ift im höchſten Maße be- 
zeihnend, daß man die Verwaltung und die Aufbringung der Koften für 
die Volksſchulen ven Heinen lotalen Verbänden überlaffen hat ohne Rüdficht 
auf die ungleiche Wohlhabenheit der einzelnen Gegenden *) und dag man 
gerade an der Volksſchule mit der Selbſtverwaltung erperimentirt, für bie 


*) Bergl. bie nad ber finanziellen Seite gewiß ſchlagenden Ausführungen von 
G. Hirth, Bolfsbildung und Rechtsgleichheit, S. 37 fi.; auf dem Gebiete der Schul: 
aufficht herrſcht kaum weniger Unvernunft. 
4* 


46 


auf anderen Gebieten das Volk immer nicht reif genug if. Wohin wir 
auf dieſem Wege gelangen müſſen, fann bei den herrſchenden geſellſchaftlichen 
und politiihen Klaffenftrömungen faum zweifelhaft fein. 

Was die liberalen Parteien in Volls- und Gemeindevertretung bis- 
lang für die Schule gethan haben, ift ein Hägliches Zeichen ihrer Kurz- 
fihtigfeit und ihres Egoismus. Faſt jeder Einzelne unter ihmen fieht bie 
Unzulänglichkeit der Bolksfhule ein und wer die Mittel nur irgend zu 
erſchwingen weiß, jchidt feine Kinder nicht in dieſelbe. Mit Aufbietung oft 
verhältnigmäßig bedeutender kommunaler Mittel hat man in ben Gtäbten 
und größeren Orten faft überall Rektoratsſchulen, nievere und höhere Bür- 
gerſchulen, Realſchulen erfter und zweiter Ordnung, Öymnafien und Pro— 
gymnaſien errichtet. Die Inftiturion des Einjährig-Freiwilligendienſtes 
begünftigt in hohem Maße diefe Anftalten ; bei der Mehrzahl ihrer Schüler 
bat denn auch der Bildungstrieb mit der Erlangung ber Freimwilligen- 
beredhtigung ein Ende. Diefe Schulen belaften natürlih die ftäptifchen 
Budgets ſchwer, wenn fie nit gar Staatsunterftiigung beanfprudhen und 
erhalten ; fie werden mit Iururiöfen Schulhäufern, mit reihlichen Lehrmitteln, 
mit den beiten Lehrkräften ausgeftattet. Für die Voltsfhule wird natürlich 
um fo weniger gejorgt, je weniger die Bäter der Stadt, welche ja meift ber 
befigenden Klaffe angehören, ein perfünliches Interefie dabei haben. Sie ift 
ſchon tharfählih in allen größeren und in vielen Hleineren Städten zur 
Armenjchule herabgefunken. Freilich ſchreiben die minifteriellen Beftimmungen 
vor, daß nur da die Erridtung höherer Schulen zuläffig fein fol, wo für 
die Volksſchule eine „ausreihende Fürforge ftattgefunden hat“. Was aber 
bier al8 ausreihend angejehen werben darf, ift nach dem früher Bemerkten 
zum Erbarmen wenig, Das Schulgeld für vie höheren Lehranftalten wird 
gefliffentlih fo hoch bemeſſen, daß der Feine Handwerker, der Arbeiter nicht 
daran denken kann, von ihnen für jeine Kinder Nugen zu ziehen, obgleid 
er durch feine Steuern zur Unterhaltung verjelben beitragen muß. Für bie 
Gymnaſien und Realſchulen ift das Schulgeld durch eine Minifterialver- 
ordnung auf 100 Markt normirt worden; mande Städte gehen nod darüber 
hinaus. Man fhmeichle fi nur nicht mit der Einbildung, daß dieſe höheren 
Tehranftalten der Mehrzahl ihrer Schiller aud wirklich eine intenfiv höhere 
Bildung gewähren. Ihre Organifation ift von unten an darauf berechnet, 
daß die Schüler den ganzen ſechs- oder neunjährigen Kurfus durchmachen; 
aber bei noch nicht 6 Procent ift das wirkli der Fall.*) Etwa 94 Procent 
der Zöglinge können ober wollen den Kurſus nicht vollenden ; fie treten 
ſchon aus ven mittleren Klaſſen, beften Falles nah Erlangung des Frei— 
willigenreht8 aus und find für bie betreffenden Anftalten eine ſchwere Be- 
laftung, für diejenigen Schüler, welche eine gründliche Vorbildung auf das 
Berufsftubium erfireben, ein großes Hinderniß. Thatſächlich fteht ein folder 
Gymnaſial- oder Real Tertianer oder Quartaner an wahrer innerer Aus— 
bildung dem Knaben faum gleih, welder eine tüchtige württembergiſche 
Bolls- oder preußifhe Mittelſchule durchgemacht hat. Aber eine höhere 
Ausbildung ift aud von den Eltern meift gar nicht beabfichtigt; es kommt 





*) Maſcher, Das beutihe Schulwefen nach feiner biftorifchen Entwidlung und 
ben Forderungen der Gegenwart. ©. 97. 


47 


bier derfelbe Zug ftändifher Abfchliegung, der in der ganzen Zeit liegt, den 
Betroffenen oft felbft nicht bewußt, zum Ausdruck: die Kinder der Befigen- 
den jollen nicht mit dem Kindern des „gemeinen Volks“ auf derfelben Bank 
fiten. Früher war es mindeſtens nod die Kegel, daß durch die drei unteren 
Elementarflaffen die Kinder aller Stände in derfelben Bolksfhule beifammen- 
blieben ; jegt hat auch das faft ganz aufgehört. Die meiften höheren Lehr— 
anftalten errichten fog. Borfhulen, in welden die Kinder fhon vom ſechſten 
Jahre an für die Realfchule oder das Gymnaſium vorbereitet werden. Mit 
welhen pädagogifhen Scheingründen man immer diefe Einrihtung mag zu 
rechtfertigen fuchen: vom focialen Standpunkte aus ift fie im höchſten Grade 
zu beflagen. Man verjege fi im den naiven Gedankenkreis eines folden 
Kindes, das jene vornehme Schule befuht, während das Söhnchen des 
Handwerkers, der im Hinterhaufe, des Arbeiters, der in der Manfarde wohnt, 
zur Armenjhule muß. Soll uns da nit grauen vor der Zufunft, wenn 
wir mit anfehen müſſen, wie dem heranwachſenden Geſchlecht von Kindes— 
beinen an die Slaffengegenfäge eingeimpft werden, wie unſere fünftigen 
Beamten, Kaufleute, Fabrikanten bereits in der Schule lernen, den Mann 
im Arbeiterfittel gering zu jchägen ! *) 

Bon den Tribünen der Parlamente, von den Kathedern der Hohjchulen, 
auf allen Straßen und Gaſſen ruft man dem Arbeiter zu: „Du bift frei, 
niemand hindert did in der Entwidlung und Verwerthung deiner Kräfte, 
arbeite, fpare nur, werde auch reich, wie diejenigen, welde bu beneibeft !“ 
Aber die Gefellfchaft verfagt ihm die Mittel, fchneidet ihm die Möglichkeit 
ab, fi die geiftige Ausrüftung anzueignen, welche ihm vie Fähigkeit ver- 
leiht, fih in feinem Thun über die Mafchine, über das rein vegetative 
Dafein zu erheben. Ia fie leiftet denjenigen noch allen Vorſchub, welche 
aus feiner geifttgen Inferiorität Vortheil ziehen. Im den Gegenden ber 
Hausinduftrie verfümmern viele Taufende von Arbeiterfindern ; vom früheften 
Morgen bis im die tiefe Nacht hinein müſſen fi die Händchen regen, um 


. *) Der „Bad. Beob.“ verfichert in einer Gorrefpondenz aus Pforzheim vom 16. Nov, 
1876, daß ſich auch in größeren fübbeutichen Städten der Beſuch der Volksſchule fat nur 
noch aus den nieberften Klafjen refrutirt. In einer jegt preußifchen Provinzialftadt, 
deren Bürger fich ihres altüberlieferten bemofratifchen Geiftes zu rühmen pflegen, wurbe 
unlängft das Schulgeld für Realfchnien erfter Ordnung und das Gymnafium auf 120 M. 
normirt, für bie Realjchule zweiter Ordnung auf 100, für einige mittlere Anjtalten auf 
36-55 M., für die Bürgerſchulen auf 18 M. In ber Discuffion der Stabtverorbnetens 
verfammlung wurbe beantragt, das Schulgeld ber höheren Töchterſchule und das einer der 
beiden Realjhulen erfter Ordnung auf 150 M. zu erhöhen, weil eine große Anzahl 
von Eltern dies wünſche; im anderen Falle würde man nur bem Anititutswefen Bor- 
ſchub leiften. In berfelben Stabt wurben bie bunfeln und feuchten Räume, aus welden 
das Gymnaſium mit Rüdfiht auf die Gefundheit ber Schüler auf Anordnung ber 
Behörde hatte entfernt werben müſſen, für eine Armenfchule beſtimmt — natürlid nad 
vorgängiger Renovation. Eine zweite Armenfchule, welde eine ping ri 
aus eignen Mitteln unterhielt, ohne daß das fläbtifche Kuratorium fi darum kümmerte, 
litt dermaßen an Weberfülung, »daß die Behörde eine Reduktion der Klaffen auf je 
80 Kinder verfügen mußte. — Aus Mainz berichtete unlängft ein Frankfurter Blatt: 
„Dan babe nahezu 200,000 M. für die Reftauration bes Theaters ausgegeben, aber 
eine gleiche Summe für Erbauung eines Schulhaufes für zu hoch befunden. In alten, 
nothdürftig verbefferten Magazinen, in welchen bie Fußböden cementirt feien, erbielten 
die Kinder Schulunterricht; wochenlang hätten bie Schüler einzelner Klafjen aus Mangel 
an Schulbänfen fih auf ben flachen Boden jegen müfjen und Andere hätten mehrere 
"Monate Ferien befommen, da man feine Lokale, um fie unterzubringen, gefunden.“ 





48 


am Erwerb der Familie mitzuhelfen; die Lehrer Hagen Jammer und Noth 
über die Schlaffheit des Körpers, die Stumpfheit des Geiftes, die ihnen bei 
diefen Kindern täglich in der Schule entgegentritt.*) Daß die Borfchriften 
der Gewerbe-Orbnung über die Beihäftigung von Kindern in ben Fabriken 
durchgehends feither nicht beobachtet worden find, ift eine burd die Reichs— 
Enquete über die Frauen- und Kinderarbeit wie durch bie Berichte der 
preußifhen Fabrikinfpeftoren beftätigte Thatſache.*) Bekanntlich bitten 
Kinder unter 12 Jahren in Fabriken überhaupt nicht, vom 12. bis 14. Jahre 
täglihd nicht über 6 Stunden beſchäftigt werden, Nachtarbeit ift gänzlich 
unterfagt. Keine diefer Beftimmungen hat trog der Bemühungen der Be 
hörden bis jest überall Durchführung gefunden. Für die Fabrilkinder 
ſchreibt das Geſetz (G.-D. $ 128) „täglich einen mindeftens breiftändigen 
E dhulunterriht in einer von ber höheren Berwaltungsbehörbe genehmigten 
Säule” vor. Wo folhe Fabriffhulen — eine wirflih unverzeihlihe Kon- 
nivenz der Geſetzgebung — errichtet find, herrſcht eine Klage darüber, „daß 
die in den Fabriken befchäftigten Kinder ebenfowenig Zeit hätten, al® Nei- 
gung zeigten, deu Anforderungen der Schule an den häuslichen Fleiß zu 
genügen, daß in den Lehrftunden felbft aber ihre Aufmerffamkeit erſchlaffe“. 
In den drei Aachener Fabriffhulen wurden 1875 von brei Lehrern 136 
Knaben und 220 Mädchen unterrichtet, in Burtfcheid von einem febrer 
115 Knaben, in Duisburg von einer dazu kränklichen Lehrerin eine Fabrik— 
mäbcenflaffe von 170 Kintern: die geiftige Ausrüftung, mit der biele 
Armen fpäter in das Leben hinausgeftoßen werten, kaun man fid vorftellen. 

Der Ertrinfende Hammert fih an einen Strobhalm. Der Gewerbe 
ftand, welder recht gut weiß, daß die nothwenbigfte Vorbedingung für bie 
Erzielung eines tüchtigen und geſchickten Arbeiterftandes eine gute Volks— 
fhulbildung ift, hat, fomeit er nicht überhaupt an einer Beſſerung ber Zu- 
ftände verzweifelt, zum Theil der obligatorischen Fortbildungsihule jeine 
Hoffnung zugewandt, zum Theil verlangt er eine Ausdehnung der Schul- 
pflicht bie zum fünfzehnten Yebensjahre.***) Daß beide Vorſchläge bei Fortdauer 


* Man vgl. die Ausführungen des Bürgermeifters Lubwig:Wolf von Großen: 
hain in ben Eiſenacher Verhandlungen von 1873, ©. 42 f. 

**) Bol, „Goncordia” 1876, Nr. 20. Jahrbuch für Gefeßgebung, Verwaltung 
und Volkewirthſchaft im beutjchen KReih von Holtzendborff und Brentano, 
L. 1. N. F. 1877, ©. 219 ff. Jahresberichte der preußiichen Fabrik-Inſpektoren 1874 
und 1875. Namentli herrſchen in der Slas- und Zünbwaarenfabrifation vielfah 
entfeplihe Zuftänbe; ſ. Jahresber. pro 1875, ©. 69 fi.;5 1874, ©. 50 ff.: „Die Schul: 
Inſpektoren behaupten, daß nirgends ber Schulbefuh ber Kinder unregelmäßiger if, 
als in ben Gemeinden, in welden Glashütten in Betriebe find; bie Kinder kommen 
entweder gar nicht zur Schule, oder find buch die Nachtarbeit fo erjchöpft und 
ermübet, daß fie dem Unterricht nicht zu folgen vermögen ober gar ſchlafen.“ Und 
babei Fündigt uns der „Reichsanzeiger“ an, daß Mobificationen ber gefeßlichen Be: 
flimmungen über die Kinderarbeit zu Gunften der Glasinbuftrielen in ber kürzlich 
ftattgehabten Konferenz ber Fabrikinjpektoren vorgeſchlagen worden jeien! 

***) In einer Petition von felbftändigen Handwerfsmeiftern Berlins an bas Ab: 
georbnetenhbaus um Einführung obligatorifcher Fortbildungsihulen bieß es: „Es üt 
allgemein befannt, daß fi der allergrößte Theil der jungen Leute, welche ſich ber Er: 
lernung irgend eines Gewerbes widmen, aus denjenigen Volkskreiſen recrutirt, welche 
in Bezug auf Schulbildung leider am jchlechteften bajtehen. Aus biefem Grunde iſt es 
eine Sache der höchſten Nothwendigfeit, für die weitere Ausbilbung der Handwerks— 
lehrlinge Sorge zu tragen, ba ohne eine folche erweiterte Bildung der Handwerker ben 


49 

der gegenwärtigen Berhältniffe nur wenig beffern würden, bedarf nah dem 
Gefagten feines weiteren Beweiſes. Eins muß man fi immer vor Augen 
halten — und im ber Betonung dieſes Punktes beftärft mich der Wiberftand 
vieler Lehrherren gegen den Fortbildungsſchulbeſuch der Lehrlinge —: So- 
bald die Berufsbildung beginnt, muß die ihr zur Grund— 
lage dienende allgemeine Bildung abgeſchloſſen jein Ein 
einfihtiger Gewerbetreibender änßerte fi über diefen Punkt bei Gelegenheit 
ver Reichs-⸗Enquẽte über die Arbeiterverhältnifie treffend wie folgt: „Ueber- 
haupt halte ich Fortbildungsfchulen für Lehrlinge für unpraktiſch. Wer mit 
mangelhaften Schulfenntniffen in die Lehre tritt, hat, wenn er feine ganze 
Aufmerkfamkeit der Erlernung feines Gefchäftes widmen foll, feine Zeit und 
Luft mehr, in die Schule zu gehen. Die kurze freie Zeit ift überbies 
nothwendig zur Erholung des Lehrlings, wenn er zur Arbeit friſch fein foll.“ 
Mich dünkt, das gilt für jeden Beruf: ohne ein genügendes Maß allgemeiner 
Bildung fehlt e8 dem fpeciell fachlichen Unterrichte an der entiprechenden 
Unterlage. Wer in ein kaufmännifches Gefhäft in die Lehre tritt, fährt 
gewiß übel, wenn er nicht genügend ſchreiben und rechnen gelernt bat. Bon 
dem Studirenden der Medicin, ber Jurisprudenz, bes Ingenieurweſens 
fordert man das Maturitätszeugniß eines Gymnaſiums oder einer Real— 
ſchule, weil von dem durch daffelbe gegebenen Maße von Kenntniffen der 
Erfolg jeines Fachſtudiums abhängt. MUeberhaupt hat fi bei allen foge- 
nannten höheren Berufsarten eine mehr oder weniger ſyſtematiſche Ver— 
bindung bes nieberen mit dem höheren und fachmäßigen Unterrichte im 
Laufe der Zeit herausgebildet. Sollte für das gewerblide Bildungswefen 
nicht auf ähnliche Weiſe ein organifher Zuſammenhang herzuftellen fein? 

Die Grundlage muß auf jeden all eine zeitgemäß eingerichtete Volls— 
ihule für alle Stände bilden. Das fordern politifche, jociale und päda— 
gogifhe Gründe. An die Spige jeder gefeglichen Regelung des Schul— 
weſens follte man die Worte ftellen, mit melden Ariftoteles feine Aus- 
führungen über die Erziehung im achten Bude der Politik einleitet: „Da 
ein Ziel dem ganzen Staate gejegt ift, fo müſſen aud alle Glieder deſſelben 
nothwenbig ein und biefelbe Erziehung haben; die Sorge für die legtere 
muß eine gemeinjchaftliche fein und darf nicht Einzelnen überlaffen werben.“ 
Es bleibt uns nur eine Wahl: entweder müfjen wir den Grundſätzen der 
formellen Rechtsgleichheit, deren theoretifche Anerkennung — das fei nicht 
vergefien — dem Liberalismus zu verdanken ift, auf dem Gebiete ber 


beutigen Zeitverhältnifjfen gegenüber feine gejelihaftlihe Stellung nicht mehr fihern 
taın. Die Fortichritte er induſtriellem Gebiete fordern gebieteriich, den Handwerkern 
eine größere Bilbungsfumme zuzuführen, weil ohne diefelbe ber Gewerbetreibende feine 
Stellung als Staatsbürger niet aufreht erhalten und die mit derſelhen verbundenen 
Aufgaben nicht im gemügender Weiſe erfüllen kann. Wir find aber außerbem ber 
ieften Weberzeugung, und hoffen bierin mit dem hoben Kaufe der. Abgeordneten voll: 
ſtändig übereinzuftimmen, daß nur die mangelhafte Bildung in den Handwerkskreiſen 
es ermöglicht bat, daß die focialdemofratifhen Agitatoren für ihre ebenjo thörichten 
als ftaatsgefährlihen Lehren eim fo gut zu beadernbes Feld unter ben Arbeitnehmern 
gefunden haben.“ Ausbehnung ber Schulzeit bis zum 15. Jahre gleihmäßig von einem 
Sroßinbuftriellen und einem dwerfer beantragt: Gutachten bes Ber. f. Socialpel. 
üb. das Lehrlingsweien, ©. 7 u. 42. Ueber bie Abhängigkeit jeder tüchtigen gewerb- 
lien Bildung von dem Stande ber Volksſchulbildung: Eitelberger v. Edelberg, 
Ueber Zeichenunterricht und funftgewerbl. Fachſchulen, ©. 29. 


50 

geiftigen Kultur einen tharfählihen Inhalt geben, oder wir müffen zum 
autofratifhen Syſtem, zur Beihränfung der Freiheit zurüdkehren. Die Ent- 
fheibung kann für alle biejenigen, welche an eine befjere Zukunft ber 
Geſellſchaft glauben, nicht zweifelhaft fein. Die Worte Freiheit, Rechts— 
gleihheit, allgemeines Stimmreht, Selbftverwaltung bleiben leere Phrafen, 
wenn wir ihnen nicht denfende Bürger zu Trägern geben. Der ganze Kampf, 
für welchen feit einem Jahrhundert fo viel "Begeifterung und fo viel Blut 
verwendet worben, bleibt ein ſchlechter Spaß, eine thörichte Laune der Zeit, 
wenn er nicht wirklich für das Volk, fondern für eine Heine Minorität ge 
führt wurde, wenn es uns nicht gelingt, die politiſchen Staatsangehörigen 
auch geiftig und wirtbichaftli zu Bollbirgern zu machen. 

Eine gründliche Reorganifation der Schule ift gleichbedeutend mit der 
Umwälzung eines großen Theiles des auf dieſem Gebiete feirher zur Unehre 
der Nation Beftebenden. Sie fordert zunähft: Abihaffung ver Lokalen 
Schuljocietäten, Uebernahme fümmtliher Koften für allgemeine Bildungs- 
zwede auf das Staatsbudget, Aufbringung der Mittel durch gereht verans 
lagte Steuern, Aufhebung des Schulgelves für vie Volksſchule, Dagegen 
billige Bemeffung veffelben nah dem Gebührenprincip für die Anftalten, 
welche fpecieller Berufsbildung dienen. Ferner gründliche Wegräumung des 
Standesshulwefens und eine den Anforderungen der Zeit entſprechende 
Bolksfhule, deren Beſuch für alle Stände obligatorifh if. Alle Privat- 
inftitute find aufzuheben, weil im der Regel bei ihnen die Erwerbszwece 
den Bildungs = und Erziehungszweden vorgehen. Privatunterricht ift nur 
in befonderen, ver behörblihen Prüfung und Genehmigung unterliegenden 
Fällen zu geftatten. Die Beihäftigung von Kindern in Fabriken ift, fo 
lange die allgemeine Schulpflicht dauert, nicht zuläffig. Die höheren Bildungs- 
anftalten dienen vorwiegend Berufszweden und find mit der allgemeinen 
Bolksihule in eine organische Verbindung zu fegen. Als Mafftab des von 
ber legteren zu Leiftenden muß zum Mindejten das Ziel der jegigen preu- 
ßiſchen Mittelfchulen angefehen werden. An die Voltsjhulen haben auf ver 
einen Seite die auf die Univerfität, das Polytechnikum ꝛc. vorbereitenven 
Gymnaſien und Realfhulen fi anzuſchließen, auf der anderen Seite bie 
gewerbliche Lehrzeit und im weiterer Linie technijche Unterrichtsanftalten, von 
denen fpäter bie Rede ift. 

Dies die Grundgebanfen, deren Ausführung und Begründung an biefer 
Stelle zu weit führen würde. Es genügt für dem vorliegenden Zwed, bie 
Forderungen für die allgemeine Vollsſchule näher anzugeben. Sie find nicht 
jo erorbitant, als fie vieleicht auf ben erften Anblid erfcheinen.*) Die 
preußiſche Mittelfhule ift natürlich feine vollfommene Einrihtung: aber in 
ihrem Rahmen läßt fi unendlich viel Gutes und Tüchtiged erreichen, wenn 
es nur gelingt, einen genügend vorgebilveten Lehrerftand zu erzielen. Die 
jegigen Beſtimmungen über die Prüfungen der Lehrer an Mittelfhulen find 


2) Auch Hirtb, a. a. O. ©, 46, meint: „Das mindefte, was wir unter allen 
Umftänden ſchon jet von ben einzelnen Staaten verlangen müfjen, ift, ba fie mit 
thunlichſter Befhleunigung die beffere Stadt»: ober Mitteljhule 
überall an bie Stelle der unteren Bolfsfhule fegen und zwar zu allererft 
da, wo unter bem bisherigen Syitem und unter den Einwirkungen fulturfeindlicer 
Elemente die Volksbildung am meiften zurüdgeblieben iſt.“ 


51 


viel zu dehnbar, die reife, auf welche fie berechnet find ober doch that- 
ählih Anwendung finden, viel zu bunt und zu ungleich vorgebilvet. Von 
den Seminarien, wie fie jett find, ift noch viel weniger Heil zu erwarten. 
Die erfte Bedingung für das Gedeihen derſelben ift die Anftellung wiſſen— 
ſchaftlich gebildeter Fachlehrer und die Entfernung aller ungenügend ausge— 
bildeten Lehrerbilpner, der früheren Volks- oder Präparandenjchullehrer und 
Theologen, über deren Leiftungen unter ihren ehemaligen Zöglingen nur 
eine Stimme berriht. Die Präparandenanftalten find eine durchaus über- 
lebte Inftitution ; fie müſſen erjegt werben, fei es dadurd, daß man für bie 
Aufnahme in das Seminar das, Abiturientenzeugniß der Realſchule erfter 
Ordnung fordert, jei es durch eine befondere auf der einen Seite an bie 
Vollsſchule, auf der anderen an das Seminar anſchließende Vorſchule, für 
vie ebenfalls wiffenfchaftliche Lehrkräfte erforberlih find. Natürlich verlangen 
jelhe Anftalten ganz andere Mittel, ein durch dieſelben ausgebildeter Lehrer: 
fand um das Dreis oder Vierfache höhere Bejoldungen, als fie gegenwärtig 
gegeben werben. „Will man nad) und nad) das gefammte Lehrerperfonal“, 
jagt Hirth, „durch hochgebildete Leute erfegen, die ihren Schulgemeinden in 
jeder Beziehung als Kulturmehrer zur Seite ftehen, will man die Schul- 
räume und bie Unterrichtsmittel itberall auf einen ven Anfprühen ver 
Pädagogik und der Wiffenfhaft entfprehenden Stand bringen, jo wird man 
zu einem Budget kommen, das unferem jegigen Militäretat ſchwerlich viel 
aus dem Wege geht“.*) Was die Geftaltung der Volksſchule felbft betrifft, 
jo ift al8 das Marimum der von einem Lehrer gleichzeitig zu unterrichtenden 
Schüler die Zahl 40 feftzuhalten. In Städten und größeren Orten, wo 
8 die Schülerzahl geftattet, müßten unter allen Umftänden ven verſchiedenen 
Atersftufen verſchiedene Klaffen entfprehen. Auf dem Lande würde ſich in 
dünnbevölkerten Gegenden die zwei- oder breiflaffige Schule ſchwerlich um- 
geben laſſen; eine zwedmäßige Koncentration des Unterrihts und, wenn 
irgend möglih, eine Verminderung der täglichen Lehrftunden würde aud 
bier geftatten, Vieles zu erreihen. Der Unterricht hat überall nah Ber- 
tiefung, nicht nach Verbreiterung ber Oberfläche zu ftreben, wie fie jest auf 
niederen und höheren Schulen an ver Tagesordnung if. Darum ift ent- 
ihieden vor der Aufnahme neuer Lehrgegenftände zu warnen. Ueberall muß 
feftgehalten werben, daß die Bollsfhulbildung eine allgemeine Bildung 
ift, die geiftige Wenzehrung, welche jedem Menſchen in's Leben mitgegeben 


*) A. a. O. S. 42. Hirth fordert deshalb die Unterhaltung der Volksſchulen 
auf Koften des beutjhen Reiches und Einführung einer gerechten Reichseinkommen— 
teuer. Die Berfafjungsverbältniffe und bie Finanzgeſtaltung bes Reiches, wie fie 
dermalen find, laſſen dieſen Vorſchlag mehr als bedenklich erfcheinen, jo viel Verlockendes 
er font bat. Michtiger fcheint folgende Erwägung: Eine in dem Grabe gehobene 
Volksſchule, wie oben und von Hirth verlangt wird, würbe Zöglinge liefern, welche 
der Mehrzahl unferer jekigen zum einj. Freiwilligendienſt Berechtigten an Intenſität 
der Bildung nicht nachſtänden. Jeder Grund gegen Berallgemeinerung ber einjährigen 
Dienftzeit, welche ber Gewerbeftand aud aus anderen Gründen fordern muß, fiele bann 

Das Militärbudget rebucirte fih um ein Beträchtlihes; jo würde ein großer 
Theil der Koften für die Schule frei. Der Reſt könnte durch eine zwedmäßig ein: 
gerichtete Wehrſteuer, die ich bei gehöriger Beichränfung auf bie Arbeitsfähigen unb 
mit einer ftarfen Progreffion in ben höheren Stufen für eine burhaus gerechte 
Steuerart halte, gedeckt werben. 


52 


wird. Harmonifhe Entwidlung der geiftigen und körperlichen Kräfte, Er: 
ziehung zur Selbftändigkeit des Denkens und Wollens und damit zu einem 
tüchtigen Staatöbürgerthum ift das Ziel. Pädagogiſch ausgedrückt liegt der Punkt, 
bis zu welchem jede Volksſchule zu gelangen ſuchen follte, da, wo es aud 
dem mäßig begabten Schüler möglich ift, ſich felbftändig fortzubilven. 

Das find im Umriß die Forderungen, welche die Zeit, bie heutige 
wirthihaftlihe Zufammenfegung der Gejellihaft, die in unſer Staatsleben 
bis jegt nur formell eingeführten Rechtsgrundſätze erheben. Sie find ibeell; 
fie follen es fein. Daß es, felbft ven beften Willen ver herrſchenden 
Parteien vorausgefegt, in Jahrzehnten kaum möglich ift, fie völlig zu ver 
wirklichen, weiß ih. Was nöthig erfcheint, ift mit voller Beſtimmtheit aus 
gegeben ; die Schulfrage muß von dem Unkraut der Phrafen und Schlag 
wörter endlich einmal befreit werben. Wer den Weg beginnt, foll Har die 
Richtung wiffen, in der er zum Ziele gelangen kann. Sonſt bleibt er 
vernünftiger zu Haufe. 


Den Einfluß, welden eine den Zeitanforderungen nur einigermaßen 
genügende Bolfsfhulbildung an und für fi ſchon auf die technifche Tüchtigkeit 
unferes Gewerbeftandes ausüben würde, fann man ſich nicht beveutend genug 
vorftellen. Es ift nicht nöthig, bier auf Einzelheiten einzugehen ; wer unferen 
früheren Erörterungen gefolgt ift, bedarf feines befonberen Bemweifes. It 
aber damit die Aufgabe des Staates gegenitber der gewerblichen Bildungs 
frage erihöpft? Offenbar handelt ſich's bei der profeffionellen Ausbildung 
der Handwerker und Fabrifarbeiter um eben fo gewichtige Lebensintereflen 
der Geſellſchaft, als in anderen Fällen der Fahbildung, wo wir es jelbft- 
verftändlich finden, daß der Staat mit feinen Mitteln und mit feiner Auffict 
eintritt. Bon den Univerfitäten und allen denjenigen Lehranftalten, welde 
für fogenannte höhere Berufsarten vorbereiten, fann bier füglich abgeſehen 
werben; es genügt, auf bie Lehranftalten für Bergbau- und Hüttenweſen, 
die mittleren und niederen Landwirthſchaftsſchulen, die Waldbau-, Navigations- 
und Handelsfhulen zu verweifen — Einrichtungen, bei deren Gründung ja 
öfters ein ummittelbares ftaatliches oder kommunales Intereffe mitgewirkt 
haben mag, bie aber ‚von der Mehrzahl ihrer Zöglinge nur zum Zwede 
privater Erwerbsthärigkeit benugt werden. Wo von dem GStaate ähnliche 
Anftalten für den gewerblichen Unterricht eingerichtet worven find, da geben 
diefelben zunächſt an die Adreſſe der großen Fabrikanten und Unternehmer: 
in polytehnifhen Schulen und Gewerbeakademien ift mehr als ausreichend 
für die Heranbildung von Ingenieuren, Architekten und überhaupt höheren 
Technikern .jever Art geforgt. Das Privatlapital nimmt hier unbedenklich 
recht opulente Stmatsunterftügung entgegen und wir find nicht Willens, ihm 
diefelbe ftreitig zu machen, da wir einfehen, daß auf dieſem Gebiete zur 
Erzielung genügender Reſultate weder Privatanftalten noch der bildende Einfluf 
der Praris ausreiht. Nur wollen wir fehen, ob aud für die niebere techniſche 
Ausbildung gleihe Grundfäge gelten. Allem Anſcheine nad fehlt e8 auch 
bier nit an der Fürforge des Staates, nur daß diefelbe entweber an bem 


53 





Felde vorbeifchieft, das fie treffen follte, oder für das Bedürfniß nicht ent- 
fernt genügt. 

Die Urfache liegt zum guten Theil darin, daß man über die thatſächlich 
beſtehenden Berhältniffe in einer böfen Täuſchung befangen if. Man weiß, 
daß die Werkftätte Feine tüchtigen Arbeiter Liefert; aber man will over fann 
nicht einfehen, daß die Arbeitseinrichtungen nichts weiter zu erwerben geftatten, 
ald eine ziemlich eng begrenzte Hanpfertigkeit in Einzelverrihtungen. Man 
begnügt fi deshalb mit Einwirkungen ganz allgemeiner Art, von denen man 
hofft, daß fie dem Gewerbe doch irgenpwie zu Gute kommen werden, ohne 
fi darüber weiter Sorge zu mahen, daß deren praftifhe Verwendung ein 
höheres Maß von tehnifher Selbftändigfeit und allgemeiner Bildung vor- 
ausfegt. 

Um zunädft bei Preußen zu bleiben, fo befteht hier feit einer Reihe 
von Jahren, ziemlich ſpärlich vertheilt, eine Anzahl fogenannter Gewerbe- 
ſchulen. Es ift hier nicht der Ort, auf die jevenfalls belehrende Gefdhichte *) 
diefer Schulen näher einzugehen; nur das fei hervorgehoben, daß viefelben 
früher vorwiegend dem Hanbwerfe dienten und vemfelben in ziemlich ent- 
ſprechender Weife die allgemeinen theoretifchen Kenntniffe in der Mathematif, 
den Naturwifienfchaften und in ben verſchiedenen Richtungen des Zeichnens 
vermittelten. Zur Aufnahme gemügten die durch erfolgreihe Abfolvirung 
einer Elementarfchule zu erwerbenden Kenntniffe und Fertigkeiten. Durd 
Erlaß des Hanvdelsminifteriums vom 21. März 1870 find viefelben reor- 
ganifirt, d. h. nah den Wünſchen eingerichtet worden, welche fih aus ven 
Bezirken der Grofinbuftrie geltend machten. Zur Aufnahme ift das Zeugnif 
der Reife für die Secunda eines Gymnaſiums oder einer Realfhule L O. 
erforderlich; neben den für die fpätere gewerbliche Praris wichtigen Fächern 
tritt Die Rüdfiht auf eine höhere allgemeine Bildung ftark hervor: dem 
Unterricht in der beutfchen, franzöfifhen und englifhen Sprache, ver Geſchichte, 
der Geographie und Komptoirwiſſenſchaft ift der dritte Theil der Yehr- 
ſtunden zugewiefen. Der Curſus dauert drei Jahre; an die Abjolvirung 
der beiden unteren Klaffen (das ift die Hauptſache!) ift die Erlangung der 
Freimilligenberechtigung gefnüpft ; bie oberfte (Fach-) Klaſſe zerfällt in vier 
Abtheilungen: 

a) für die Borbilbung der Böglinge zum Beſuche einer höheren 
technifchen Lehranſtalt, 

b) fir Bautechnik, 

c) für mechaniſch · techniſche und 

d) für demifch-technifche Gewerbe. 

Das find Schulen für künftige Ingenieure, Baumeifter, Fabrikdirektoren, 
Vorbereitungsanftalten auf die Gewerbeafavemie und das Polytechnikum, und 
wenn auch ein Theil ihrer Schüler unmittelbar in die Praris übertritt, fo 
war der Unterricht, deſſen Organifation und Bertheilung auf die einzelnen 
Fächer noch obendrein aller Paͤdagogik Hohn fpricht, doch viel zu allgemein- 


*) Bol, Walth. Zebme, Die Meorganifation bes preuß. Gewerbeſchulweſens im 
Jahresbericht Über bie höh. und nied. Gewerbeihule zu Barmen 1871. Außerbem 
Schmoller in Hildebrands Yahrb. Ag Nationalöf, und Statiftif XV (1870), ©. 268 ff. 
— GStatiftifches — IV, 2, ©. 122 ff. — Dan vgl. auch die Debatte über ben 
Rebrenpfennig’schen Antrag i in ber 20. Sitzung des Abgeordenhaufes vom 14. Febr. 1877. 


54 


tbeoretiih, um die rechte Frucht für die technifhe Weiterentwidelung zu 
tragen. 

Man hat ſodann die Fortbildungsſchulen mehr den gewerblichen 
Bedürfniffen der Arbeiter und Handwerker anzupaſſen gefucht und bier das 
Hauptgewicht auf Zeichnen, darftellende Geometrie und Modelliren gelegt. *) 
Diefe Dinge find ficher für jedes gewerbliche Fach wichtig; der große Fehler 
liegt nur darin, daß diefe Abend» und Sonntagsjhulen fich zu jehr ins 
Allgemeine verlieren, daß fie innerhalb des furzen, ihnen zugemefjenen Zeit- 
quantums aud) die in ver Volksſchule vernadläffigten Lehrgegenftänge berüd- 
fihtigen wollen, daß es ihren Lehrern durchgehende an der geeigneten Vor— 
bildung und der unerläßlihen Bekanntſchaft mit der Werkftattpraris fehlt. 
Mer einmal Gelegenheit hatte, eine Ausftellung von Zeichnungen, die aus 
diefen Schulen hervorgegangen waren, zu durchmuftern, dem wird die Unfähigfeit 
der gewöhnlich für dieſes Fach herangezogenen Lehrkräfte grell vor Augen 
getreten fein. Das Zeichnen ift hier nicht die Fähigkeit, Gegenftänvde richtig 
zu jehen und in einer Fläche richtig darzuftellen, fondern die Linien einer 
Vorlage möglihft genau nachzuziehen, wenn man fih nit gar zum Wiſchen, 
Kreivefhmieren und. Farbenklexen verfteigt. Selbft in größeren Städten, 
we man unſchwer bei Aufwand einiger Geldmittel fachmänniſche Kräfte ber- 
anziehen könnte, begnügt man fi mit feminariftifch gebildeten Lehrern, und 
wie auf den Seminarien der Zeichenunterricht beſchaffen ift, davon fann ber 
Umftand allein eine VBorftellung geben, daß von 99 preußifchen Xehrer- 
Seminarien faum ein halbes Dugend Fachlehrer für viefen Gegenftand befigt. 
In den meiften Zeihenfhulen für Lehrlinge fehlt ver Auſchluß au die fpeciellen 
Gewerbebebürfniffe: neben dem Schuhmacher figt der Zimmermann, neben 
dem Kunfttifchler der Maler, neben dem Scloffer der Buchbinder. Ein 
umfichtiger Lehrer wird ja nad Möglichkeit die einzelnen Profejfionen berüd- 
fihtigen ; aber wenn die Abtheilung nur einigermaßen zahlreih ift, fo tft 
ein gleihmäßiger Maflenunterriht kaum zu umgehen. Kein Wunder, baf 
man meift über die Anfangsgründe wenig binausfommt, zumal ſich in Deutjd- 
land nod faft nirgends die Ueberzeugung Bahn gebrochen hat, daß das 
Zeichnen al8 ordnungsmäßiger Tehrgegenftand der Volksſchule viefelbe Berüd- 
fihtigung verdient, wie das Schreiben. Nur in Württemberg ift man auf 
dem zulegt angebeuteten Wege vorgegangen, und da hier überhaupt ber 
Vollsihulunterriht auf verhältnigmäßig hoher Stufe fteht, fo nehmen aud 
die mit mufterhafter Sorgfalt und großer Sachkenntniß geförderten gewerb- 
lichen Fortbildungsfhulen unter allen ähnlichen Einrichtungen Deutfhlands ven 
eriten Rang ein.**) Ihre Organijation beruht auf Freiwilligkeit und Ent- 
geltlichkeit : fie rechnen auf die Elite des heranwachſenden Gewerbeftandes; 





*) Man vol. den Erlaß des preuß. Kultusminifters vom 17. Juni 1874 bei 
Nagel a. aD. ©. 42 ff. Während die Gewerbejhulen vom Hanbelsminifterium 
rejfortiren, fallen bie gewerblichen Fortbilbungsfhulen in den Gefchäftsfreis des Kultus: 
miniſters — natürlih, ba fie Lückenbüßer ber Volksfchule find, für ihre ganze Richtung 
und ern im höchſten Maße nachtbeilig. 

**) Bol. (Steinbeis), Die Entftehung und Gntwidlung ber gewerblichen 
Fortbildungsſchulen in Württemberg. Herausg. auf PVeranlaffung der Commiſſ. für 
d. gem. fyortb.-Schulen. Stuttg. 1873. — Ueber die Förderung ber Kleingemwerbe 
überhaupt in Württemberg j. Shmoller, Geſch. d. Kleingew., & 322 fj., und bie 
bort angeführten Schriften. 


55 


-—— 





für die große Maſſe der Lehrlinge und Arbeiter bleiben fie da allerdings 
fruchtlos. Streben nad) auch praftifch gefhicdten und ausübenven Lehrkräften, 
Sorge für Beihaffung und Zugängigmahung guter Lehrmittel, Anpaffung 
an die fpeciellen lokal-gewerblichen Bedürfniſſe zeichnen fie vortheilhaft aus. 
Sie leiften da fiher Borzligliches, wo in einer Gegend ein beſonderer Induſtrie— 
zweig vorherrijht und die Kräfte zu koncentriren geftattet, die andberwärts 
durch die Manichfaltigkeit der ins Auge gefaßten LTehrgegenftände zerfplittert 
werben. Auch darf der Zeichen- und Movellirfhulen des badifhen Schwarz: 
waldes hier rühmend gedacht werben, welche fih in Auswahl und Anwendung 
des Lehrſtoffs ganz an die altheimifche Uhreninduſtrie anfchliefen und dieſen 
wihtigen Erwerbszweig nad) ber fünftlerifchen Seite kräftig zu fördern ſich 
angelegen jein laſſen. 

Man fieht, die Bemühungen des Staats um die Hebung der gewerb- 
lihen Arbeitsgeſchicklichkeit halten fi in engen und dazu wenig beftimmten 
Grenzen. Die materielle Unterftügung, welche er für die tehnifche Erziehung 
des eigentlichen Arbeiterftandes gewährt, beſchränkt ſich auf ein fehr Geringes, 
da faft überall für die ärmlich dotirten Fortbildungsfhulen die Gemeinden 
und die beteiligten Arbeitgeber aufzulommen haben. Derfelbe Mangel einer 
ſachkundigen Oberleitung, der bie gewerblichen Interefien im Allgemeinen 
drüdt, zeigt fih aud in ber gewerblihen Bildungsfrage. Wir wollen, um 
ängftlihe Gemüther nit von vornherein abzufchreden, nicht verlangen, daß 
das Lehrlingsweſen, wie fih 1851 ein franzöſiſcher Deputirter ausdrückte, 
einen Theil des öffentlichen Unterrichts bilden fol. Aber fo viel darf man 
bob von einer verftändigen Gentralleitung erwarten, daß fie die anerkannt 
zwedmäßigen Anftalten, welde die Praris aus bdringendem Bedürfniſſe bis 
jegt nur vereinzelt für bie Lehrlingsbildung gejhaffen und ausgebildet hat, 
nah Kräften fördert und zu verallgemeinern fucht. 

Solche vielverfprehenden Anftalten find die gewerblichen Fachſchulen, 
bei denen nicht (wie bei den Fortbiltungs- und Gewerbefhulen neben ber 
Verkftätte) Theorie und Praris als gefonderte Gebiete auseinanderfallen, 
ſondern ein ganzes gewerbliches Specialfah in feinem praftiihen Zufammen- 
bang und gemäß ben neueften Fortfhritten der Technik gelehrt wird. Den 
Uebergang von den gewerblichen Fortbildungs= zu diefen Fachſchulen bilden 
die Lehrkurſe, welche einzelne Fabriken in engem Anſchluß an die Bedürf— 
niffe des Etabliffements für ihre jugendlichen Arbeiter eingerichtet haben. 
Da fih hier Theorie und Praris in unmittelbarer Verbindung und fort: 
laufender Wechſelwirkung erhalten Lafien*), fo leiften dieſe Anftalten ficher 
Tüchtiges und es ift deßhalb ihre Weiterverbreitung dringend zu wünſchen. 
Die Fachſchulen für Sleingewerbe find ziemlich neuen Urfprungs; ihre 
Entftehung macht ſich natürlich bei lokal foncentrirten Inbuftriezweigen am 
einfachften und leichteften. Am verbreitetften find noch die Baugewerkſchulen, 
deren Preußen allein 10 (wovon in Berlin 3) befigt, neben ihnen die Webe- 
Ihulen (in Preußen 3, in Württemberg 3, in Baiern 2). Buchdruckerſchulen 


*) Wie dies im Ginzelnen fih ausnimmt, zeigen bie Ausführungen von 
Mepmer über die Schuleinrihtungen der Mafchinenwerkitätte in Graffenftaben bei 
Straßburg: Gutachten des Ber. für Socialpol. über die Reform des Lehrlingsweſ., 
©. 128 ff. (Vol. „Eoncordia* 1873, Nr. 5 u. 6.) Aehnliche he finden 
fih in ber Fabrik von König und Bauer in Oberzell bei Würzburg: a. a. O. S. 1 ff. 


96 





finden fi in Leipzig und Berlin, im Dresden eine Schneiverafademie, in 
Landshut eine Töpferfhule; es gibt Fachſchulen für Bäder, Bierbraner, 
Uhrmader, Maſchinentechniker ꝛc. Die meiften dieſer Anftalten find aus 
privaten, höchſtens noch mit Zuhülfenahme kommunaler Mittel errichtet; fie 
jegen zum Theil eine längere praktiſche Thätigfeit ihrer Zöglinge voraus und 
beabfichtigen nicht fowohl eigentliche Arbeiter, als Werkführer, Fabrikauffeher 
u. ſ. f. auszubilden. 

In wahrhaft großartiger Weiſe ift Defterreih mit der Gründung 
von Fachſchulen vorgegangen ; ja man kann fagen, daß neben Witrttemberg 
und in mancher Hinfiht Baiern Defterreih der einzige Staat ift, welder 
das gewerbliche Unterrihtswefen im einfihtiger und planvoller Weife förbert.*) 
In den Volks- und Mittelfhulen ift vem Zeihenunterridte 
als allgemeinem Bildungsmittel die gebührende Stelle angewiefen. Für die 
Lehrlinge ſchließt fih daran die gewerbliche Fortbildungsfäule, 
welche für ven Zeichen und Modellirunterriht, auf dem fie für gewöhnlid 
beichränft ift, wo es die örtlihen Verhältniſſe irgend erlauben, in Fad- 
gruppen zerfällt, in denen bie verwandten Gewerbe vereinigt find. Durch 
bie höhere Zahl der Lehrftunden, durch ben beftimmten von Fahmännern 
entworfenen Lehrplan unterſcheiden fih dieſe Schulen vortheilhaft von ven 
entfprechenden preußifchen. Sodann hat das öfterreihiihe Handelsminifterium 
mit forgfältiger Benugung ber beftehenven Induftrieverhältniffe fpecielle Fad- 
ſchulen gegründet, welche vie befondere Aufgabe haben, das Kunftgewerbe 
in weiteftem Umfange zu pflegen, d. h. alle diejenigen Gerwerbözweige, bei 
welhen es nicht blos auf technifche Solivität und Genauigkeit, ſondern auch 
auf die Berhätigung künftlerifhen Geſchmacks ankommt. Auch in mehreren 
deutſchen Staaten hat man dem Funftgewerblichen Unterricht feit einigen 
Jahren erhöhte Aufmerkfamkleit zugewendet. Es fei hier nur erinnert am bie 
Kunftgewerbejhulen in Minden, Nürnberg, Stuttgart, Karlsruhe, Dresten, 
an die Akademie der bildenden Künfte im Leipzig, vie Unterrichtsanftalten des 
deutfchen Gewerbemufenms in Berlin, die Kunftinpuftriefhule in Offenbach, 
die Fiihbah’iche Anftalt in Hanau. An Funftgewerblihe Mufeen fließen 
fih faft überall diefe Lehranftalten an; es ift eine unter den Fachleuten viel 
verbreitete Klage, daß fie durchgängig zu fehr ins Große, Allgemeine wirken, 
daß fie thatſächlich ihre talentwollen Schüler dem Gewerbe entfrembden und 
der Kunft in die Arme führen, oder daß fie doch mehr Deffinateure heran- 
ziehen, die nah allen Richtungen thätig fein wollen und fi deshalb feiner 
befonderen Technik recht anzupaffen wiſſen. Wer auf der Münchener And 
ftellung die Leiftungen und Lehrmittel der verfchiedenen funftgewerblihen 
Schulen durdmuftert und verglihen hat, dem hat ſich gewiß die unerfreuliche 
Wahrnehmung aufgedrängt, daß die preufifchen Beftrebungen auf viefem 
Gebiete an die füddeutſchen, beſonders die bairiſchen, bei weitem nicht hinan- 
reihen, daß aber alle von der Gruppe ver dfterreihiihen Fachſchulen über- 
troffen wurden, wie denn aud die Ausftellung der öfterreihifchen Kunft- 
induftrieleiftungen Far bewiefen hat, wie viel wir nod auf diefem Gebiete 
zu lernen haben. 


*) Ueber das Einzelne fei auf die ©. 5 angeführten Schriften von Ilg und 
Eitelberger von Edelberg verwieſen. 


57 . 


Die öfterreihifhe Regierung hat dem kunſtgewerblichen Fachſchulweſen 
erft jeit wenigen Jahren hervorragende Aufmerfjamfeit gewidmet. Bon den 
39 Anftalten diefer Art, welche Ende 1875 beſtanden, ift die erfte 1869 
errihtet worden, bie meiften aber 1873 und 1874, aljo kurz nad dem 
großen „Wiener Krach“. Die Schulen haben die Ausbildung von Arbeits- 
und Hülfskräften für einzelne Kunftfewerbe zum nächſten Zwede. Man 
hatte in Defterreih nicht den naiven Gedanken, der in einzelnen deutſchen 
Stäbten noch vor Furzem hervortrat, daß ed nur der nöthigen Gelbmittel 
bevürfe, um an jebem beliebigen Orte eine reihe Blüthe kunftgewerblicher 
Thätigkeit aus dem Boden zu ftampfen. Die öfterreihifhen Fachmänner 
wußten ſehr gut, daß es dazu vor allem örtlicher Anfnüpfungspunfte inner: 
bald der bereit8 vorhandenen Gewerbs- oder Nahrungsverhältnifie bedarf, 
jedann aber aud der geeigneten Lehrkräfte. 

Man hat deßhalb in Defterreih Fachſchulen zunächſt da angelegt, wo 
ein beftimmter Inpuftriezweig bereits fabrifmäßig be- 
trieben wurde, um eine befiere Ausbildung bes Fabrifarbeiterftandes 
zu erzielen. Hierhin gehören befonders die Tertilzeihenfhulen in Böhmen 
und Vorarlberg. 

Sodann hat man durch diefes Mittel der unter den inpuftriellen Ver— 
hältniffen der nächſten Bergangenheit vielfah in Berfall gerathenen Haus- 
indbuftrie neues Leben einzuhauden geſucht, zunähft in Gegenden, wo 
diefelbe eine alte Heimftätte hatte. Dahin find zu rechnen die Schulen für 
Holzſchnitzerei, Drechslerarbeiten, Quincaillerie, Glasinduſtrie in Tirol und 
Böhmen, die Goldſchmiedſchule in Prag u. a. 

Weiter gab das Bortommen eines funftinduftriell gut ver- 
werthbbaren Materials (Töpferthon, Siderolith, Marmor) in einer 
Gegend Anlaß zur Gründung von Schulen. 

Enplid — und dies ift die Mehrzahl der Fülle — waltete bei ber 
Gründung der Fahfhulen die Abfiht vor, die Erwerbsfähigfeit eines 
Bezirks in Anknüpfung an günftige örtlihe Bebingungen durch Ein- 
führung eines neuen Erwerbszmweiges (Holzichnigerei, Spigen- 
induftrie) zu heben. 

Bielfah wirkten mehrere diefer Momente zufammen. Die Aufgabe 
diefer Fachſchulen läßt fi mit wenigen Worten bezeihnen. Sie fuchen 
zunächft durch einen gründlichen Zeihen- und Mobellirunterricht bie noth— 
wenbigften Vorbedingungen für künſtleriſche Gefhmadsbildung zu fchaffen. 
Daran fließt fi praktifche Unterweifung in der Ausübung der betreffen- 
den Gewerbe, der Behandlung des Materials, der Berhätigung eines ge— 
läuterten Gefhmads. Endlich haben fie die Aufgabe, durch die Gediegenheit 
ihrer Leiftungen ven örtlihen Gewerbeanlagen als Mufterwerkftätten zu 
dienen. 

Natürlich Können nur dann biefe Schulen den verfchienenen Zwecken 
genügen, wenn tüchtige, fowohl theoretifh als auch ganz bejonders 
praftifch gebilvete Lehrer an ihrer Spige ſtehen. Man begegnet in Deutſch⸗ 
land fogar in den für dieſe Dinge maßgebenven Kreifen der Einbildung, 
daß jeder Zeichenlehrer einer Volks- oder Realſchule aud den gewerblichen 
Zeihenunterricht geben könne, daß jever Maler oder Bildhauer oder Architekt 
fh zum Direktor einer Kunftinduftriefchule eigne. Im Defterreih werben 


58 





die Lehrer der Fachſchulen für ihren Beruf eigens in ber Kunſtgewerbeſchule 
des äfterreihifchen Mufeums in Wien vorgebilvdet, und man har bier bie 
ſehr beadhtenswerthe Erfahrung gemadht, „daß ein junger Mann, welder 
früher fhom einem praftiihen Gewerbe angehört hat, alfo 3. B. Weber, 
Tiſchler oder Bildhauer geweſen ift, relativ. immer fchneller ſich in feiner 
neuen Lehrerftellung zuredt findet, als derjenige, welcher nur eine allgemeine 
Schulbildung mitbringt.“ — Im Allgemeinen fei nody bemerkt, daß fünmt- 
lihe Fachſchulen unter einer fahfundigen Oberleitung ftehen, daß Tehr- und 
Arbeitsmittel, wie alle fonftigen auf ihr Gebeihen gerichteten Impulfe von 
dem Wiener Gewerbemufeum ausgehen und daß an ihrer weiteren Aus- 
breitung und Nugßbarmahung für das inbuftrielle Yeben des vielgeftaltigen 
Raiferftantes eifrig gearbeitet wird. *) 

Defterreih hat uns die Bahn gebroden, auf welder wir ihm folgen 
müſſen, wenn bei unferen funftinduftriellen Beftrebungen nicht Zeit, Gelb 
und Kraft vergeubet werben fol. Bereinzelt ift man aud in Deutjchland 
fhon mit der Gründung fpecialifirter Fahfchulen vorgegangen. Baiern be 
figt Holzihnigihulen in Berchtesgaden, Roding und Partenkirchen, Württem- 
berg hat eine Gravir- und Cifelirfhule in Schwäbiſch-Gmünd, das Heine 
Reuß hat eine Holzihnigfhule in Schleiz eingerichtet, um biefen Gewerbs- 
zmweig in feinen Oberlanden einzuführen, eine gleiche Anftalt wurbe im 
vorlegten Jahre von dem Maler Dagnuffen in Schleswig gegründet, um 
die dort früher eifrig betriebene Schnigfunft wieder zu beleben. In Preußen 
fehlt es minbeftens auf Seiten der Regierung noch ganz an einer plan- 
mäßigen Thätigfeit auf diefem Gebiete. Vereinzelt beginnen ſich hier und 
da Privatkräfte zu rühren und fih in funftgewerblihen Vereinen zufammen 
zu thun. Man folgt bier den Münchener Anregungen ; aber man jcheint 
noch lange nicht überall begriffen zu haben, was die Münchener Ausftellung 
und bie Debatten der bort verfammelten Fachmänner bis zur Evidenz be 
wiefen haben, daß nur durch gut geleitete und eingerichtete Specialfachſchulen 
der Weg zum Ziele führt. 


*) Um eine Vorftelung von ber Thätigfeit bes djterr. Handelsminiſteriums zu 
aeben, führe ih nah Ylg, Vorrede S. VIII, nur Folgendes an: Bon den Provinzen 
find bisher Tirol und Vorarlberg mit 12, Kärnthen mit 3, Oberöfterreih mit 3, 
Niederöfterreih mit 1, Mähren mit 2, Böhmen mit 17 derartigen Fachlehranſtalten 
bedacht. Was bie übrigen Kronländer anbelangt, jo find bie ————— für Er: 
richtung verſchiedener Schulen eifrig im Gange und bat das Minijterium durch 
manichfache Förderung und Unterftügung tüchtiger Elemente aus ben betr. Ländern 
in ber Kerle maieäne bes Mufeums für geeignete Lehrfräfte biefer projektirten 
Bildungsanftalten vorgeforgt. Nah ben Materialien orbnen fi bie gegenwärtig be» 
ftehenden Fachſchulen in bie Kategorien ber Holzichnigerei, Tiſchlerei und Dreberei, 
Marmor= und Serpentinbearbeitung, Porzellan-, Fayence- und Siderolith-Induſtrie, 
Glasdeforation, Gold- und Silberarbeit, Schlofjerei, Weberei, Stiderei und Spigen- 
induftrie, fowie fchließlich der Spielwaarenerzeugung. — Ein reiches Material für bad 
funfigewerblihe Schulwefen findet man nod in dem „Bericht über bie Verband: 
lungen in ben aus Anlaß ber Jubelfeier bes Münchener Kunſt-Gewerbe— 
Bereins am 25., 26., 27. Sept. 1876 veranftalteten Berfammlungen von Künftlern, 
Kunftinduftriellen und Freunden bes Kunftgewerbes. Münden 1876.” Ich will bier 
noch befonders bemerken, daß weiterhin im Tert unter Fachſchulen überall nur jolde 
Anftalten verftanden werben, welche den Zwed haben, Gewerkslehrlingen und Gejellen 
eine höhere fachliche Ausbildung zu geben, als es in ber Werkftätte geſchehen kann — 
nicht Kunſt- oder gewerbliche Realſchulen. 


59 


Aber wir dürfen bei dem Kunftgewerbe nicht ftehen bleiben; wir 
mäflen das bier bewährte Fachſchulſyſtem aucd auf eine große Anzahl anderer 
Gewerbe auspehnen, mamentlih auf diejenigen, bei welden phyſilaliſche, 
mechaniſche, chemiſche, mathematifche Kenntniffe zum vollen Verſtändniß er- 
forderlich find, oder mo wegen der fortgefchrittenen Arbeitstheilung die Praris 
das Gewerbe nicht in feinem vollen Umfange lehren kann. Natürlich find 
derartige Special-?ehranftalten nur in Grofftäbten und an Orten, wo ein 
befonderer Imduftriezweig reichlich genug vertreten ift, anwendbar. Es ift 
dabei immer feftzuhalten, daß praftifche Arbeiter ausgebilvet werben follen ; 
bie Technik ift die Hauptfache, alles unfruchtbare Theoretifiren ift ftreng fern 
zu halten. 

Es liegt mir daran, gerade hier nicht mißverflanden zu werben. Seinem 
halbwegs Bernitnftigen wird es einfallen, bie gewerbliche Ausbildung zu 
einer rein theoretiihen mahen zu wollen. Wir leiden ohnehin auf allen 
Gebieten der Fahbildung genug darunter, daß die Köpfe mit unfruhtbarem 
Wiſſen vollgeftopft werden und daß felten das rechte Können erzielt und bie 
Anwendung der meift tobt bleibenden Schäge auf das Leben gelehrt wird. 
Auf unferen Univerfitäten hat man feit langem im unverantwortlichfter Weife 
die Buchdruckerkunſt ignorirt, bis man endlich einſah, daß es mit den Bor- 
trägen allein nicht gethan ift. Für Philologen, Hiftoriker, Iuriften, National- 
öfonomen hat man allmählih Seminare errichtet, in welchen der Student 
jelbft praktiſch im methodiſcher Forfhung arbeiten lernt. Die Mebiciner 
waren ſchon längft jo Hug. Bon unferen akademiſch gebildeten Architekten 
hörte ich vor kurzem einen namhaften Bauunternehmer fagen: „Ste haben 
alle möglichen konſtruktiven und artiftifchen Feinheiten ftudirt; aber wenn 
fie auf die Bauftelle kommen, kann fie ein Maurergejelle belehren.“ Die 
jungen Lehrer unferer Gymnaſien und Realſchulen machen Anfangs in ber 
Schule die merkwürdigſten Mißgriffe und Erperimente, weil fie wohl irgend 
eine humaniſtiſche oder erafte Wiſſenſchaft ftudirt haben, in der praftifchen 
Pädagogik aber von jedem Dorflehrer Unterweifung annehmen können. Biel- 
leiht finden viele vermöge ihrer höheren Bildung nad mancherlei Ummegen 
die rechte Bahn, nachdem fie jo unfanft aus den Himmeln der Theorie in 
die Waffer der Praris gefallen find; für die Imbuftrie ift ein folder Weg 
ſchlechterdings unmöglich. Bieles was der Gewerbsmann lernen muß, iſt 
dad Reſultat uralter Erfahrung und Uebung. Cs läßt fi nicht in Lehr— 
füge faffen, nicht durch die detaillirtefte Beſchreibung begreiflih machen, 
jondern nur durch praftifhe Mebung in der Anfertigung der Gegenſtände 
ſelbſt, durch längere Erfahrung in Handhabung von Stoff und Werkzeug 
erlernen. Wie der Schreiner ein Yournir richtig auffegt, daß es weber 
Blaſen wirft noch Riffe erhält, wie der Metallarbeiter beim Härten und 
Löthen zu verfahren hat, eine Menge Kunft- und Handgriffe können nur in 
der Werkftätte ſelbſt durch Erfahrung und Uebung angeeignet werben. Was 
helfen die gejhmadvollften Zeihnungen, die umfaſſendſte Kenntnif aller Stil- 
arten und ihrer Feinheiten, wenn der Zeichner die Rüdficht auf das Material 
und anf die Grenzen der Technit aus den Augen gefest hat, wenn ber 
Arbeiter nad feinen Vorlagen nicht arbeiten kann? 

Sollen darum in gewerblichen Fachſchulen wirkliche Arbeiter, nicht blos 
Künftler oder Deffinatenre oder Fabrifauffeher gebildet werden, fo ift un— 

Bücher, Die gewerbliche Bilbungsfrage. 5 


60 


umgänglich nöthig, daß ihre Schüler vorher eine Zeitlang in der MWerkftätte 
gearbeitet und ſich bier alle die fonkreten Anfhauungen von Material, Werl 
zeugen, Handwerkömanipulationen angeeignet haben, welche fie zum Begreifen 
und zur richtigen Anwendung der theoretiſchen Unterweifung erſt befähigen, 
fie vor Abwegen in ihren Beftrebungen bewahren, ihnen bie Rüdfehr in bie 
Werkftätte leicht und einen veredelnden Einfluß der Fachſchule auf das Ge 
werbeleben möglih machen.“) Wie lange dieſe praltiſche Thätigfeit dauern 
fol, muß je nah ber Natur ber einzelnen Gewerbe verſchieden beftimmt 
werden; im Durchſchnitt dürfte ein Zeitraum von zwei Jahren genügen. 
Innerhalb diefer Zeit behandle man dem jungen Menfhen als das, was 
heute der Gewerbslehrling ſchon faft überall ift, als jugendlichen Arbeiter, 
der je nach dem Umfange feiner Handfertigleit gelohnt wird.**) Man ver: 
jhone ihn mit al den Zwangsmitteln, welche ver auögelebten Zunftperiode 
angehören; aber man befhüge ihm vor Ueberarbeitung durch Ausdehnung 
der Schugvorjchriften über die jugendlihen Wabrikarbeiter (©.-D. $ 128 


*) Es ift mir fehr erfreulich, daß dieſer von mir bereitS auf der Gifenader 
Berfammlung des Vereins für Socialpolitif 1875 angeregte Gebanfe auf der Münchener 
Berfammlung einen fo fundigen Vertreter gefunden Bat, wie Herrn von Miller, ber 
bieje grundlegende Idee unmittelbar aus langjähriger praktiſcher Erfahrung gewonnen 
und ihr in der Rejolution Ausdruck gegeben bat, „daß in die Kunftgewerbe: 
oder Fachſchulen fein Schüler aufgenommen werbe, ber neben bem 
Nahmweis empfangenen Elementarunterrihts niht aud ben gelieferte 
baß er ein Handwerk praftifh erlernt und wenigftiens zwei Jahre 
in einer Werffiätte praftifh gearbeitet babe.“ Die meifterhafte Be 
gründnng dieſes Antrages jowie die interefjanten Debatten über benfelben j. ©. 11 fi. 
und 53 des angef. Berichtes. — Die franzöfiihen Fachſchulen in Chalons-ſur-Marne, 
Angers und Air fordern ebenfalls als Bedingung des Eintritts von ihren Zöylingne 
die Abfolvirung einer praktiſchen Lehrzeit in einem ber in der Schule gefehrten Gewerbe 
(Block, Statist, de la France Il, S. 262). In Paris befteht jeit drei Jahren ein, 
aus kommunalen Mitteln erhaltene Lehrlingsſchule, über deren Einrichtung ich der 
Röforme &conomique vom 15. Jan. 1577 Folgendes entnehme: „L’enseignemwent y 
est A la fois theorique et pratique: il comprend en premier lieu l’&tude du 
frangais, de la ki rg de l’'histoire, des mathématiques dlöwentaires, de la 
me6canique appliquee et du dessin; en second lieu, le maniement des outils 
propres au travail du fer et du bois, En un mot, On se propose, on trois 
anndes d’apprentissage de former pour liindustrie parisienne des ouvriers in- 
telligents et habiles. De&jä, en effet, un certain nombre d’&l&ves, au sortir de 
l’&cole, ont trouv& dans les ateliers une situation avantageuse, et gräce & leurs 
connaissances acquises, à leurs habitudes de discipline et de rögularit6, ils ont 
môrité en peu de temps, l’estime et la cansidöration de ceux qui les emploient.“ 

**) In der jtellenweife viel gelunden Menſchenverſtand verratbenben Schrift: „Suum 
euique. Vorſchläge zur er ha ie bat Th. Ebeling in 
Hamburg bereits gerathen, die alte Zunftſchichtung von Meifter, Gefellen, Lehrling 
fallen zu laffen: „Wir haben es nicht mehr mit dem Lehrling zu thun, fondern 
mit einem jungen Menſchen, ber die Schule verläßt, um ins bürgerliche Leben einzu: 
treten. Bor dem Augenblide an, da er dieſen Schritt thut, gehört er ber menſchlichen 
Geſellſchaft als Arbeiter an und bringt als folder feine Leiftungsfähigfeit an den 
Markt. Somie er diefelben Pflichten auf fich zu nehmen bat, wie jeder andere Staat 
angehörige, jo hat er auch eben diefelben Rechte für fich in Anſpruch zu nehmen. Bon 
dieſen feinen Rechten beihäjtigt uns bier nur bas eine, feine Arbeitskraft jo vortheil⸗ 
haft wie möglih zu verwertben. Nun ift ſelbſtverſiändlich feine Leiftungsfäpigteit 
zunächft eine fehr geringe; denn die meiften jungen Leute verfteben von dem Gewerbe, 
welches fie ergreifen, (ehr wenig ober gar nichts. Aber zu irgenb etwas ift er doch 
— zu gebrauchen, und wäre es nur zu den einfachſten ————— die in jedem 

ewerbe nöthig find und ihren Werth haben“ ꝛc. 


61 





bis 131) auf ſämmtliche Gewerbe. Mag er dann in der Werfftätte Hand und 
Auge üben, Erfahrung und Fertigkeit in Eingelverrihtungen fammeln : 
in der Fachſchule wird ſich anf dieſer Empirie die Kenntniß des ganzen 
Zuſammenhangs, die volle techniſche Gewandtheit und Gelbftänpigfeit auf- 
bauen laſſen. Der Weg ift kaum länger, als der gegenwärtig übliche, und 
garantirt fiheren Erfolg; aud braucht er nicht nothwendig koftfpieliger zu 
fein, da eine gute Fachſchule auch immer die probuftiven Zwede fefthalten 
wird und die Arbeitsleiftung bald felbft die Untermeifung bezahlt. 

In Amerika baut fi im ähnlicher Weife die höhere techniſche Aus- 
bildung auf der praftifhen Werkftatt-Thärigfeit auf, und man gewinnt auf 
diefem Wege dort beſſere Refultate, als bei uns auf dem umgelehrten einer 
Ihablonenhaften wiffenfhaftlihen Ausbildung, die an den Klippen der Praris 
oft genug fheitert.*) Mit Recht wurde in Münden auf das Beijpiel der 
Apotheler hingewiefen: „ein junger Mann wird in bie pharmaceutifche 
Schule an der Univerfität nicht aufgenommen, wenn er nicht drei Jahre in 
ber Upothefe gelernt hat, d. h. wenn er fein Gewerbe nicht vorerft praktiſch 
getrieben hat — und der Erfolg ift gut.” Auch unfere Handelslehranftalten 
begehen in ihren Lektionen über Waarenfunde, Handelsrecht ꝛc. ven Fehler, 
daß fie bereits das lehren wollen, mas eine umfaſſendere praktiſche Er« 
fahrung vorausfegt. Richtiger ſcheint mir, nach einer tüchtigen allgemeinen 
Schulbildung unmittelbar in die Lehre einzutreten: hat ber angehende 
Raufmann das praftifche Gefhäftsleben gründlich fennen gelernt, dann fann 
jedenfalls ein theoretifcher Kurfus in der Waarenchemie, dem Hanbels- und 
Wechſelrecht, der Volkowirthſchaft und felbft ver Buchführung mit großem 
Nugen an die gewonnene Empirie anfnüpfen. 

Die Hauptfache bleibt immer, daß wir und von dem verrotteten und 
nah Feiner Richtung genügenden Werkftattlehrlingswefen los machen. Schon 
am. Ende des Mittelalters wußte man an den Hauptftätten höherer Ge— 
werbethätigkeit, daß das bloße Banauſenthum zur techniſchen Berkümmerung 
führt: die Nürnberger hatten ſchon im 16. Jahrhundert einen Lehrer ber 
Mathematik aus ftäntifhen Mitteln angeftellt, um einfache Handwerler in 
feinem Fache zu unterrichten, ein Beifpiel, das dem berühmten Peter Ramus 
der Bewunderung und Nahahmung würdig fchien.**) Nur muß ftets ber 
Unterſchied zwiſchen ver allgemeinen Bildung zur Entwidlung ver natür- 
lichen Kräfte und Fähigkeiten und der Fachbildung zur Anwendung im 
praftifchen Leben feftgehalten werben. Hier muß jede pädagogiſche Ein- 
wirfung, wenn fie ihres Zieles wicht veriuftig gehen will, eine perfönlich 
individuelle und fachlich fpecialifirte fein. Mit Recht fagt der um die Ger 
werbebeförberung in Württemberg hochverdiente Steinbeis im Hinblid 
auf die belgiſche Induftrie: „Gar zu oft vernadläffigt der Deutſche die 
jpeciele Yahbildung der allgemeinen wiflenfhaftlihen Ausbildung wegen. 


*) Veber bie Ausbildung böherer Techniker in Amerika vgl. die intereffanten 
Mittbeilungen von dem Ingenieur H. Heine, Reuleaur u. b. d. Inbuftrie ©. 36 ff.; 
hierher gehören auch bie im der deutſchen Prefje viel mißverftandenen Aeußerungen 
von Julius Sengenwald, Die Lage der deutſchen Induſtrie. Straßburg 1877, 
©. 15 ff. Es ift außer allem Zweiiel, daß unferen techniſchen Hochſchulen nichts mehr 
geihabet bat, als bie im Regierungsfreiien jo beliebte Barallelfirung mit ber Univerfität. 

**) Kriegf, Frankfurter Bürgerzwifte und Zuflände im Mittelalter, ©. 376. 

5* 


62 





In den Ländern der Induſtrie ift dies anders; dort wirb eine einfeitige 
Fahbildung feineswegs als Ignoranz angejehen, wenn fie dafür um fo 
gründlicher ift, und aud wir müffen, um durchaus gewerbstüchtig zu werben, 
dahin gelangen, daß wir e8 und nicht zur Ehre, fondern zum Borwurfe 
rechnen, Alles wiflen zu wollen. Im diefer Weife muß auch der Unterricht 
des künftigen Imbuftriellen von feiner frühen Jugend an geleitet und auf 
fortwährende gleichzeitige Ausbildung der Körperkraft und der Hanbfertigkeit 
neben der Stärfung des Nachvenkens und der Bildung pofitiven Wiflens 
hingewirkt werben.“ 


Mit den Fahjchulen allein gelangen wir offenbar nicht dahin, auf 
allen Gebieten des Gewerbelebens die Werkftattlehre zu erfegen, auch liegen 
bier, wie Beifpiele zur Genüge beweifen, die Abwege nad ver Geite einer 
unfruchtbaren Theorie zu nahe. Für die meiften Gegenden und Gewerbs- 
zweige empfiehlt fi ein anderes Syſtem, das dazu den Bortheil hat, daß 
es nur fehr wenig Koften macht und fiherer zum Ziele führt: ich meine 
die Errichtung von Lehrwerkſtätten. Verſuche dieſer Art find meines 
Wiſſens in Deutfhland noch gar nicht gemacht worden: aus Belgien gen 
dagegen die günftigften Erfahrungen vor.*) Die dortigen Ateliers d’appren- 
tissage wurden vor etwa dreißig Yahren von der Regierung ins eben 
gerufen, um auf bie techmifhe und moralifhe Hebung des gefuntenen 
flandrifhen Arbeiterftandes hinzuwirken. Im Jahre 1850 beftanden fie 
bereit8 in der Zahl von faft 100, Der Staat, die Provinzen, Gemeinden 
und Private trugen zur Aufbringung der Koflen bei. Meift fanden fid 
Privatunternehmer, welche diefelben unter Aufficht der Behörden verwalteten 
und leiteten, und faft alle fanden fehr wohl ihre Rechnung dabei. Man 
fnüpfte bezeichnenter Weife an die in Flandern alteinheimifche Linnen- 
induftrie an; Lehrarbeiter und Lehrarbeiterinnen wurden aus allen Welt 
gegenden herangezogen. Die Regierung forgte für Einführung ber beften 
und neueften Mafchinen und Werkzeuge und verabfolgte viefelben auch an 
eingefhulte Arbeiter der Hausinduftrie.e Der Einfluß dieſer Lehrwerkftätten 
auf die Erwerbsfähigfeit der flandrifhen Arbeiter ift ein ungemein ſegens— 
reicher gewefen. Nod einfacher und weniger künſtlich ift das Verfahren, 
welches man in ven letten Jahren vereinzelt auf dem Gebiete des Kunft- 
gewerbes in Defterreih eingefchlagen hat. Die Regierung wendet einem 
Gewerbetreibenven, ver fein Fach an einem Orte in vorzüglicher Weile ver 
tritt, Unterftügungen zu, unter der Bedingung, daß er eine Anzahl junger 
Leute in feine Werkftätte als Lehrlinge aufnimmt. „Im der Regel bat fid 
eine berartige inbuftrielle Kraft mit einigen Gehülfen in ver Weife eines 
Privatateliers ohnehin ſchon etablirt, und es ift fo leicht die Gelegenheit 
geboten, durch Staatsunterftügung eine Vermehrung feiner Schülerzahl zu 
ermöglichen, feinem Unterriht durch MWeberlaffung guter Borbilver und 
Lehrmittel einen höheren Werth zu verleihen und auf biefe Weife bie 


*) Bol. Steinbeis, Die Elemente ber Gewerbeförberung, nachgewiejen an ben 
Grundlagen ber belgiſchen Inbuftrie, Stuttgart 1853, ©. 60 ff 


63 


Begabung des Einzelnen zu einer Bildungsquelle der Bevölkerung allmählich 
zu geftalten.“ ’ 

Die Lehrwerkſtätte ift die gewerblide Bilpungsanftalt 
ber Zulunft; fie vereinigt im fi alle Vortheile des alten Syſtems mit 
den gefteigerten Anforderungen des modernen Wirthſchaftslebens. In ihr ift 
es von vorn herein möglich, durch ftete Unterweifung mit und an der Arbeit 
jelbft das höchſte Maß von Handfertigfeit und körperlicher Gewandtheit zu 
erzielen, Sorgfalt und Exaktheit der Arbeit, Zwedmäßigfeit der Ausführung 
und Schönheit der Form tem Lehrling zur zweiten Natur werben zu laffen, 
wo eine theoretifche Unterweifung nöthig ift, diefelbe in ftetem Zuſammen— 
bang mit ber praftifchen Anwendung zu ertheilen, kurz gllfeitig tüchtige und 
jelbftändige Arbeiter zu erzielen, bie in der Berwerthung ihrer Kräfte fich 
nicht mit dem üblihen Minimum des Tagelohns zu begnügen brauchen, 
fondern einen ihrer Geſchicklichkeit entfprechenden Theil des Arbeitsertrags 
beanfpruchen können. Natürlid bedarf es zur Einführung und Berall- 
gemeinerung berfelben allfeitig praftiih und theoretifch burchgebilpeter Werk: 
ftattvorftände ober, wo ſich die erforderlichen Eigenfhaften in einer Perfon 
nicht vereinigt fänben, ber Verbindung mehrerer zum gemeinfamen Zwecke. 
Es wird die Aufgabe des Staates fein, in allen feinen Werkftätten eine 
befondere Tehrabtheilung diefer Art zu errichten und auf folden Gebieten ver 
funftgewerblichen und mechaniſchen Fächer beſondere Werkftätten ins Leben 
zu rufen, wo die Privatthätigkeit aus irgend einem Grunde nicht ausreicht. 
Daneben kann ven Gemeinden und gewerblichen Bereinen dieſe Aufgabe nicht 
dringend genug ans Herz gelegt werben. Im jever größeren Stabt follte 
für jedes einzelne nicht allzufchwach vertretene gewerblihe Fach mindeftens 
eine Lehrwerkftätte beftehen. Es dürfte nicht mit all zu großem Riſico ver- 
bunden fein, wenn fi ein oder ber andere verftändige Arbeitgeber entichlöffe, 
jeine Werkftätte zur Lehrlingsfhule zu machen. Die probulftiven Zwecke 
ſeines Geſchäftes dürften nad dem erften Uebergangsftapium mehr geförbert 
werben, als wenn baffelbe, wie vielfach gegenwärtig, mit halbausgebilveten, 
gedankenlofen und um jeden Preis zu theueren Gehülfen betrieben wird. 
Wie ganz anderen Erfolg würde der gewerblihe Zeichen- und Mobellir- 
unterricht, die Unterweifung in Mathematik und Technologie haben, wenn fie 
diret an ein foldes Etablifjement angefchloffen werben könnten ! 

Hier böte ſich ein fehr vankbares Feld für Bereinezur Förderung 
von Lehrwerkſtätten und zur Unterftügung unb Ueber— 
wahung von Fehrlingen. Für den legteren Zweck wirken an einigen 
Orten des Auslandes bereits foldhe Vereine mit nicht geringem Segen, welche 
ih der Lehrlinge, natürlih auf dem Boden des überlieferten Lehrverhält- 
uiffes, befonders annehmen.*) Es ift eine oft beflagte Thatſache, daß das 
Handwerk von feinem früheren Anfehen beveutend verloren bat, und dies um 
fo mehr, je mehr es aufhörte, einen „goldenen Boden“ zu haben. Knaben 


2) Seit 1837 beiteht ein folher Berein in Herijau im Kanton Appenzell a. Rbı, 
über ben ber Lefer im „Arbeiterfreund“ XII. Jahrg. (1874), ©. 374 fi. Nüheres 
findet. Ein ähnlicher Verein wurde 1874 in Dänemark gegründet: „Goncorbia” 1876, 
Nr. 11. Der Zwed des letzteren ijt: 1) eine befjere Ausbildung ber Lehrlinge im 
Handwerk wie in ber (Fabrik) Inbuftrie herbeizuführen, 2) die Ausgelernten in ihrer 
weiteren Ausbildung zu unterftügen, 3) Aufflärungen über Arbeiterverhältnifje im In— 


64 

ans vermögenden Ständen widmen ſich demfelben nicht; auf dem Lande, in 
den ftäbtifchen Armenvierteln muß es feine Zöglihge ſuchen. Oft genug 
find bier die Eltern über die Wahl des Berufs, die Formalitäten des Kehr- 
vertrags, die Pflichten des Lehrherrn ꝛc. in Unwiſſenheit; fie verſtehen ſich 
nit oder nur gewaltfam zu helfen gegen eigennügige Ausnugung des 
Knaben von Seiten des Meifters. Umgekehrt Magt ver Lebtere über Bös— 
willigfeit, Ungehorfam, Vertragsbruch, unbillige Forderungen der Eltern. 
Dem Tehrlingshülfsverein würde e8 zufallen, Hier zu vermitteln, 
den Lehrling den von ihm ins Leben gernfenen und umterftügten Lehrwerk— 
ftätten zuzuweiſen, barauf zu fehen, daß Lehrmeifter und Lehrling ihrer 
Pfliht nahfommen, Streitigfeiten zu ſchlichten, unbemittelte Lehrlinge zu 
unterftügen und, wo es gewünſcht wird, nach Abſchluß der Lehre für ihr 
weiteres Fortlommen bie erfte Sorge zu tragen. Eine vorwiegende Berheiligung 
einfichtiger und mit ben gewerblichen Zuftänden und Perfonen bes Drtes 
vertrauter Arbeitgeber wäre Haupterforberniß. Die Zeihen- und Fort⸗ 
bildungsfhulen würden zwar zum Theil durch die Lehrwerkſtätten überflüffig 
werben; für andere Fächer ließen fie ſich vielleicht zwedmäßiger beibehalten. 
Aber fie müßten nad verwandten Gewerbegruppen fpectalifirt und den ört- 
lihen Bebürfniffen genau entfprehend eingerichtet werben. Auf geeignet 
vorbereitete Lehrer, am beften ausübende Gewerbetreibende von Erfahrung 
und geläutertem Geſchmack wäre befonders das Abſehen zu richten. Die 
Unterrichtszeit müßte vor ber Arbeitözeit in den erften Morgenftunden liegen, 
jeder Lehrling zum Beſuche derfelben verpflichtet fein. Amt beften würde der 
Berein zur Ueberwadhung des Schulbeſuchs und der Schulleitung eine befondere 
Kommiffion bilven, die auch für die neueften und zwedmäßigften Lehrmittel 
forgte und den Werkftätten mit guten Muftern, Werkzeugen u. vgl. an bie 
Hand ginge. Bon Zeit zu Zeit wären Ansftellungen von Lehrlingsarbeiten, 
bie jet bem Gewerbebetrieb mander Drte mehr zur Schande als zur 
Förderung gereihen, nah zwedmäßigem Plane zu veranftalten. Es würbe 
fi bei einigem guten Willen doch immer eine Anzahl kundiger Männer 
finden laffen, welche fi die Mühe nicht verbriehen ließen, Mufterzgeihnungen 
zu entwerfen und Mobelle zu befchaffen, nad denen bie Lehrlinge für bie 
« Anusftelung zu arbeiten hätten ober mindeſtens ihmen ihren Kräften ange 
meſſene Aufgaben zu ftellen. Die Arbeiten müßten in Bezug auf ben Gegen- 
ftand beſcheidene Grenzen einhalten und könnten dennoch fo gewählt fein, daß 
mehrere zufammen ein anfprehenves Ganzes bildeten, Lehrlinge verſchiedener 
Gewerbözweige an ein und bemfelben Stüde einander in die Hände arbeiten 
könnten. 

So viel auch Privatvereine und Gemeinden auf biefem Wege im 
Einzelnen wirken und Segen fiiften Bnnten: das muß feftgehalten werben, 
daß, unferer modernen Wirthſchaftsorganiſationen entſprechend, eine centra- 
liſtiſche und fachkundige Staatsleitung, wie fie Württemberg und Defter- 
reich befigen, aud die Förderung der Fachſchulen und Lehrwerkftätten im bie 


und Auslande zum Beſten ber Arbeitgeber wie Arbeitnehmer zu fammeln, 4) einen engen 
Zuſammenſchluß zwiſchen ben Meiftern und ben buch ben Verein ausgebildeten Lehr: 
lingen zu ſchaffen. Prämien und Meifeunterfiügungen, Arbeitsnachweis, Erlebigung 
von Streitigkeiten kommen baneben in Betracht, Auch im Frankreich follen derartige 
Bereine im ziemlicher Zahl beflehen. 


65 


Dand nehmen muß. Erft wenn es gelungen ift, durch diefe Anftalten auf 
dem Grunde einer gehobenen allgemeinen Boltsbildung den Arbeiter- und 
Handwerkerſtand intelleftuel, ſittlich und techniſch zu heben, können bie 
beliebten Staatsmittel der Gewerbebeförderung, wie Ausſtellungen, Gewerbe- 
mufeen, Muſter- und Werkzeugfammlungen ꝛc. die rechte Wirkſamkeit aus- 
üben. Und follte fih nit am Ende im Anſchluß an eine durchgreifende 
Neugeftaltung des gewerblichen Unterrichtsweſens auch eine den Zeitforderungen 
entfprechende Organifation der Gewerbe finden lafjen, nad der man jegt fo 
ängftlih juht und die man aus blöber Berlegenheit in einer fünftlichen 
Wiederbelebung des ſocial und öfonomifh ausgelebten Zunftwejens gefunden 
zu haben mähnt? 

Nur der Tüchtige, welcher feine Stelle — und ſei es die allerbeſcheidenſte 
in der Geſellſchaft — vollkommen ausfült, vermag in feiner Thätigkeit nad) 
firtliher und materieller Hinfiht Genüge zu finden; der Untüchtige, der 
Pfuſcher fieht ſich faſt nothwendig auf Täuſchung und Unehrlichkeit, auf 
Schwindel und Betrug hingewiefen. Das gilt in allen Lebensfreijen, nicht 
am wenigiten in. der Induſtrie. Cine allgemeine Hebung der Hanbwerter 
und Arbeiter in intelleftweller und moralifher Beziehung, eine Stärkung 
der technifhen Fähigkeiten wird mit der Zeit jenen wiverlihen Gejhäfts- 
geift, der unferem mwirthichaftlihen Leben weithin zur Unehre gereicht, 
unmöglih machen und an feine Stelle wieder das lebendige Bewußtſein für 
die Pflihten des Berufes fegen, deſſen Berluft wir fo tief beflagen. 
Freilih muß damit eine Wandelung in den wirthſchaftlichen Anfhanungen 
der befigenven Klaffen, der Kapitaliften und Unternehmer, Hand in Hand 
gehen. Wir müffen vahin gelangen, das Gefühl der focialen Berantwort- 
lichkeit in weiteftem Umfange waczurufen, wo ein jeder für bie Solivität 
und Güte von feiner Hände Werk wie fir fein ganzes wirthichaftliches 
Thun fi der gefammten Gefelihaft gegenüber verpflichtet erachtet und nicht 
mehr in der Geltendmachung bes Eigennuges bis an die äußere Örenze der 
Geſetzlichkeit den legten wirthſchaftlichen Enpzwed erblidt. 

Das find Feine utopiftifhen Hirngefpinfte, die fih mit dem vagen 
Titel einer „Löfung der focialen Frage“ brüften; es ift nur der Markſtein 
für eine ernfte Kulturarbeit, die fih ohme die größte Gefahr nicht mehr 
länger aufjhieben läßt und deren Vollendung in den Grenzen ver Mögliche 
keit Liegt. 

Ih weiß nicht, ob man bie vorgefchlagene Löfung ber gewerblichen 
Bildungsfrage einer näheren Prüfung werth halten wird, ob man ſich wird 
entſchließen können, das VBeraltete, Abgeftorbene, da es nun einmal todt ift, 
auch in aller Form für todt zu erklären. Eines möchte ih vor allem 
außer Zweifel geftellt haben: es galt nicht ein theoretifches Luftgebäude 
nah ſubjektiver Willkür oder abftraften Bernunftgründen zu fonftruiren: 
ih babe in ver Frage der allgemeinen Bollsbildung nur verſucht, vie 
Konjequenzen anerkannter ſtaatsrechtlicher Orundfäge zu ziehen, in ver 
Trage der Fachſchulen und Lehrwerkftätten, die Anhaltspuntte, weldhe das 
praktiſche Gemwerbeleben jelbft bot, im Zufammenhang zu verwerthen. Cs 
find junge unfdeinbare Triebe, weldhe aus einem vielfad für unfruchtbar 
gehaltenen Boden hervorgefeimt find; fie bebürfen der Wartung und Pflege. 
Wird man fie ihnen zu Theil werben laffen, wirb der Staat die Aufgabe 


66 


anerkennen, die ganze Volks- und gewerblidhe Bildung planmäßig und mit 
Rüdfiht auf die focialen Aufgaben der nädften Zukunft umzugeftalten ? 
Wird er beim Hinblid auf den „Rückgang“ die Stimmen ber einflußreichen 
Intereffenten überhören und thun, was ihm die Rückſicht auf das ganze Boll 
gebietet? Oder wird er jene weiter mit Millionen unterftügen, dieſe mit 
Bettelfuppen, wie Fortbildungsfhulen und Hülfskaſſengeſetzen, abfpeifen? 
Noh ift es Zeit, eine Wahl für die Zukunft zu treffen. Auf der einen 
Seite fteht ein geiftig und körperlich verfommenes Fabrikproletariat, Frauen- 
und Kinderarbeit, der Ruin des Familienlebens weiter Bevölkerungsſchichten, 
eine grollende dumpfe Unzufriedenheit unlentfamer Maſſen; auf der andern 
Seite ein intelligenter, tüchtiger Arbeiterftand, ver feinem Berufe genügt und 
befähigt ift, bei der Löfung der fchwierigen focialen und politifhen Fragen 
jelbftthätig auf Grund des allgemeinen Stimmrechts mitzuwirken. Allgemeine 
Phrajen, Borfhläge in den Nebel hinein hört man jest auf allen Strafen. 
In einer richtigen Werkſtätte gefchieht fein Meißelftih und fein Feilenftrich, 
fein Hobelftoß und fein Hammerſchlag umfonft und an der unrechten Stelle: 
auch auf dem Gebiete der Wirthfchaftspolitif. ift jedes unbeftimmt taftende 
Erperimentiren vom Uebel; nur folhe Mittel find geftattet, deren Nutzeffekt 
fit) annähernd bemeſſen läßt. 


Fädagogifde Htudien. 


Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein. 





14. Seft. 


Die 


Geſchichte der Pädagogik 


im 


Seminarunterrichte. 


Eine hiſtoriſch-methodologiſche Abhandlung 


von 


Dr. 3. Ehr. Gottl. Schumann, 


Königl. Seminardirector in Alfeld. 












pr: ? Wien und Feipzig. en , 
F — A. Pichler's Witwe & Sohn. — 





Drud von Fiſcher & Wittig in Leipzig. 1877. 


Inhalisverzeidniß. 


ur. 


Seite 
. Meberblid über die Gefchichte der Pädagogik. i EL; 1—37 
.Allmähliche Berückſichtigung der Gefchichte der Padagogit i im Seminar: 
sinterricht . us ; 31—58 
. Der Zweck und Nuten * Geſdichen der Bhdagogit ı und deren Stellung 
im Seminarunterricte . A 58—63 
‚ Auswahl, Anordnung und Babes: des ESioſſes der — der 
6876 


Pädagogil . 


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J. 
Ueberblick über die Geſchichtſchreibung der Pädagogik. 


Die Geſchichte der Pädagogik ift im Seminarunterrihte nod eine ſehr 
junge Disciplin. Es hat dies zum Theil feinen Grund darin, daß die 
Seminare, in ber Zeit der Aufklärung entftanden, die an fih wenig Sinn 
für den „Schutt und die Dunkelheit“ der vergaugenen Zeiten hatte, in 
ihren erften Lehrplänen fie nicht berüdfichtigten, fo daß auch vie folgende 
Zeit, welche die urfpringlihen Seminarfädher, wenn fie aud einzelne neue 
binzuthat, treu confervirte, ihr feine bejondere Stellung im Seminar» 
unterrichte angemwiefen hat. Es hat aber hauptfählich feinen Grund darin, 
daß die miffenfhaftlihe Pädagogik ſelber erft ſehr fpät auf die Geſchichte 
der Pädagogik Rüdfiht genommen und fie angebaut bat. Allerdings hatte 
ihon Amos Comenins in ver Didactica magna 1631 auf die Bor- 
gänger bingewiejen, denen er Anregung und Förderung feiner Anfichten 
verbanfte; ebenjo bot Morhof in dem zmeiten Bude feines Polyhiftor 
Lübeck 1688, 4. Aufl. 1747) werthvolle Notizen über bedeutende Pädagogen ; 
auch hatten die Acta scholastica um bie Mitte des 18. Jahrhunderts, 
und Biedermann, Altes und Neues von Schuljahen 1752—1755, 
mandyer alter Schulmänner gevaht, und in dem Revifionswerfe von 
Campe waren eine Reihe Erfcheinungen auf päbagogifchen Gebiete ein- 
gehend beſprochen worden. Aber zu einer zujfammenhängenden Geſchichte 
der Pädagogik dat erſt C. E. Mangelsporf einen Anfang gemacht in 
jeinem „Berfud einer Darftellung veffen, was jeit Iahrtaufenden in Betreff 
des Erziehungsweiens gejagt und gethan worben ift, Leipzig 1779*. Ihm 
folgte am Ende des vorigen Jahrhunderts Ruhkopf mit feiner „Geſchichte 
des Schul» und Erziehungswejens in Deutfhland, Bremen 1794“. Dieſe 
Borarbeiten find, obgleich fie jegt nur noch hiftorifchen Werth haben, nicht zu 
verachten ; aber doch gebührt af Fr. 9. Chr Schwarz das Berbienft, 
für die Gefhichte der Pädagogik die eigentliche Bahn gebrochen und viefe 
mit der Erziehungs: und Unterrichtslehre in Verbindung gebradt zu haben. 
Er Hat durch diefe Verbindung zugleich hingewiefen auf den praftifchen 
Werth, den viefelbe für die Erziehungslehre und für den Erzieher hat, jo 
dag nun nah und nad Mar geworben ift, daß biefelbe nicht nur für das 
Wiſſen an fi, fondern aud für die Entwidelung ver Erziehung und für 
die Praxis von bedeutendem Intereffe if. Seine „Geſchichte der Erziehung 
nah ihrem Zufammenhange unter den Völkern von alten Zeiten ber bis 
auf die neuefte“ erjhien zuerft 1813 als letzter Theil feiner Erziehungs- 
lehre, dann in ber zweiten Auflage 1829 als erfter Theil — Es 

Schumann, Geſchichte d. Pädagogik im Seminarunterricht. 1 


2 


muß, ba namentlich in neuerer Zeit vielfah über die Stellung, welde tie 
Geſchichte der Pädagogik im Unterrichte in der Pädagogik auf den Seminaren 
einzunehmen hat, gejftritten wird, auffallen, daß auch bei dieſem erften 
Verſuche, die Geſchichte der Pädagogik mit der Pädagogik ſelber zu ver: 
binden, dieſe das erfte Mal am Enve, das andere Mal am Anfange ber 
Pädagogik ſteht. Nah Schwarz felber gehört fie an ven Anfang und hat 
den Eingang zur Pädagogik zu bilden, und fie ift im der erjten Auflage 
nur dadurd an den Schluß des Werkes gelommen, daß es dem Berfafler 
erft bei der Ausarbeitung der anderen Theile der Erziehungslehre möglich 
geworden war, die Quellen jo eingehend zu ftubiren, daß er aus ihnen 
eine Geſchichte der Pädagogik geftalten konnte. . An den Anfang gehört 
aber die Geſchichte der Pänagogif- für die Behandlung bei denen, welche fid 
über Erziehung belehren wollen, weil, wie er in ber Vorrede zur erften 
Ausgabe fagt, „aus dem Alterthume fließt der erfte Duell der Bildung und 
ihr ewiger ; einen befjeren konnte feine neue Zeit eröffnen, und das Befte, was 
immer gejhehen kann, ift, daß man jenes Herrliche nur immer wieder in 
bie Zeit einführt, zu einer neueren, und wo möglich ſchöneren Geftaltung. 
Wenn nun das vorliegende Buch den Beweis liefert, dag auf dieſe Art 
unfer Meinen und Thun in der Erziehung durch das Stubium alles befien, 
was von Alters her darin geſchah, nur befjer berathen werbe, fo ift ber 
Zwed des Verfaflers erreiht, und er hat alsdann zugleich dargelegt, warum 
er dieſen biftorifhen Theil als nothwendig zur Vollſtändigkeit feiner Er- 
ziehungslehre anſah.“ Noch veutliher prüdt er ſich darüber in der Vorrede 
zur zweiten Auflage von 1829 aus. „Für dieſe Umarbeitung ergab fi 
bald, — daß aber drittens tie Gefchichte der Erziehung voranzufegen jei, 
Ihon aus dem einfahen Grunde, weil wir erft ſehen müſſen, was bis jegt 
gefhehen ift und wie wir zu umferer Bildung gelangt find, bevor wir 
erkennen, was wir zu thun haben, um_unfere Finder gut zu bilden und 
zu erziehen. Nach diefer Einrihtung wird auch manches abgekürzt, indem 
in der Lehre felbft nur auf das verwiefen zu werben braucht, was fich in 
der Geſchichte vorfindet. — Der Berfafler hat felbft diefe Vorrede hiſtoriſch 
angefangen, damit man ihn und fein Unternehmen von dem richtigen 
Punkte aus verſtehe.“ Unſer Urtheil über biefe Anſicht von der Stellung 
der Geſchichte der Pädagogik halten wir zurüd bis zu dem Abfchnitte, wo 
wir über die Stellung derſelben im Seminarunterrihte fprehen müſſen. 
Hier genügt es, darauf hinzuweifen, daß das Werf von Schwarz aud 
heute noch durch treue Forfhung, befonnene und ungefärbte Darftellung 
von Werth ift, wenn aud die neueren Forfhungen reichliheres Material 
zu Tage gefördert und manden Irrthum befeitigt haben. Im ähnlicher 
Weile wie Schwarz hat fein Zeitgenofje Aug. Herm. Niemeyer feinem 
1799 zum erften Male erfchienenen Werke: „Grundſätze der Erziehung 
und bes Unterrichts für Eltern, Hauslehrer und Schulmänner. Halle, 
Waifenhaus*, in fpäteren Auflagen einen „Ueberblid der allgemeinen Geſchichte 
ber Erziehung und des Unterrichts nebft einer fpecielleren Charakteriftif des 
achtzehnten Jahrhunderts bis auf die meueften Zeiten“ beigegeben. Er 
wollte dadurch wie durch fein ganzes Werk vazu aufmuntern, „daß wir 
endlich anfangen follten, ftatt unaufhörlih zu erperimentiren und zu 
organifiren, das jo reichlich vorhandene Gute alter und neuer Zeit nur 


3 


treu und weife zu benugen“, und darum mit älteren Berbienften befannt zu 
maden; denn „die Kenntniß älterer Verdienſte ift das beſte Mittel, ven, 
welher über einen Gegenftand benft und fchreibt, vor dem Dünfel zu 
bewahren, daß er lauter Unbekanntes und Neues an das Licht bringe 
(ein Dünkel, der viele unferer jegigen Methodiker charakterifirt); fo iſt es 
auch eine viel zu fehr verfäumte Pflicht, das ZTrefflihe und Brauchbare, das 
wir haben, der Bergeffenheit zu entreißen und von der unglüdjeligen 
Gewohnheit, nur nah dem Meueften zu greifen, zurüdzubringen.“ Er 
geißelte darum auch die Schweizer mit ihrem Ausjpruhe: „Die Pädagogik 
bat bisher in Blindheit und Finſterniß gewandelt." Die Niemeyer’jche 
Geſchichte ift überfihtlih, bündig und Mar und bietet eine reiche Literatur. 
Daß Niemeyer außerdem auch zur Aufhelung mander dunkeln Punkte in 
der Gefchichte der Pädagogik im befonderen Abhandlungen gute Beiträge 
geliefert har, daran fei bier, z. B. am die jegt vielfach beſprochene Ratke— 
Frage, nur erinnert. ' 

In der Mitte der zwanziger Jahre dieſes Jahrhunderts hielt es auch 
ber Leiter des Volksſchulweſens im preußiſchen Minifterium, Dr. Rudolph 
Bededorff, wie er in dem Abfchnitt „über den Inhalt und die Abficht 
dieſer Jahrbücher“ in den „Jahrbüchern des Preußifhen Volksſchulweſens. 
Herausgegeben von Dr. Rudolph Bededorfl. Berlin, Trautwein 1825“ 
Band 1 erklärt, für angemefjen, in dieſen Jahrbüchern die Geichichte des 
Schulweſens nah den einzelnen Provinzen zu geben, weil fih „an bie 
Schilderung von Tharfahen und Erfahrungen die Entwidelung von Grund— 
fügen und Anfichten auf natürliche und eindringlihe Weile anknüpfen laſſe“, 
ohne daß es dazu vieler und weitläuftiger Abhandlungen von mehr ab» 
ftraftem Inhalte bedarf. Um zugleich zu zeigen, was neben der Förderung 
bes Berftändnijjes für die Maßnahmen der Regierung dadurch erzielt werben 
tann, fagt Bededorff in vdemfelben Auffage: „Wenn in der neueren Zeit 
dem Unterrichts- und Erziehungswefen von allen Seiten vermehrte Auf: 
merfjamleit und Sorgfalt gewidmet worden ift, fo Hat fi neben bem 
dadurch unleugbar bewirkten, veränderten und verbeſſerten Zuſtande und 
einem nicht geringen Reichthume von nüglihen Erfahrungen und Beob— 
ahtungen, auch eine beträchtliche Berfchievenheit der Richtungen und eine 
große Mannigfaltigkeit von Experimenten ergeben. Einiges davon hat fid 
bewährt, Vieles hat wieder aufgegeben werben müſſen, über Anderes fteht 
das Urtheil noch nicht feit, und Manches ift im entfchievenem Widerjtreite 
unter einander. Bei einem folhen Zuftande der Dinge kommt es nicht 
blo8 darauf an, daß überhaupt etwas gefchieht, daß angeregt, geihaffen und 
eingerichtet wird, fondern ganz vorzüglich darauf, in welcher Gefinnung und 
Abſicht gewirkt wird, von welchen Grundſätzen ausgegangen ift, und welches 
Ziel erreicht werden fol. In ven legten anderthalb Jahrzehnten (1810—1825) 
ift in den preußifchen Landen für den Unterriht und vie Erziehung viel 
geichehen; begonnen unter jhweren und unglüdlihen äußeren Berhältuifien, 
gejhägt und erhalten während der Drangfale und Anftrengungen der Kriege 
uud durchgeführt und erweitert in ben günftigen Zeiten des Friedens. Auf 
dem Lande find tanfende von neuen Schulen geftiftet, mehr als zehntaufend 
im Aeußern, faft alle im Innern verbefferr; meugegründete oder befler 
eingerichtete Seminarien in allen Provinzen haben bereits viele tauſend 

1* 


4 
wohlvorbereitete Lehrer in Aemter entlaflen, und ſenden jährlih fortwährend 
deren über fehshunvert aus. Faſt allenthalben ift Orbnung und Regel- 
mäßigfeit in den Schulbefuh gebracht; für Lehrmittel und Schulbücher wird 
nah Möglichkeit geforgt; ſchwächeren und mangelhaft vorbereiteten Schul- 
lehrern wird durch Nahhülfsanftalten, in denen fie einige Wochen des Jahres 
fih aufhalten, Gelegenheit gegeben, das früher Verſäumte nachzuholen; zu 
Superintendenten und Schulinfpectoren werben bie eifrigften und einfichts- 
vollften Geiftlihen beftellt, und ihr Eifer wird durch Ermunterung, Lob und 
Belohnung erhöht; unter ihrer und anderer thätiger Pfarrer Auffiht find 
Bereine, Zuſammenkünfte, Leſezirkel gebildet, die den Lehrern Anregung 
gewähren und den Fortſchritt erleichtern; träge, unbraudbare oder un= 
würbige Subjecte werden aus dem Schulvorftande entfernt, ftrenge Prüfungen 
und genaue Auffiht find angeorbnet, und durch häufige Nevifion an Drt 
und Stelle wird bewirkt, daß Trieb und Eifer nicht erfalten. Auch bie 
Städte find nicht zurüdgeblieben. Einige der größeren haben ihr Schul- 
wefen bereits mufterhaft georpnet, andere folgen dem Beifpiele mit gutem 
Willen, manche haben auch große Opfer nicht geſcheut, viele haben wenigftens 
für das nievere und Armenſchulweſen hinlänglich geforgt; faft allenthalben 
find neue Schulen eingerichtet, viele Schulhäufer erbaut, die Einfünfte ver 
Lehrer vermehrt oder doch gefichert, und verftändige und thätige Schulvor- 
ftände eingefegt, und wenn nicht überall gleiher Eifer und gleiher Erfolg 
Statt gefunden bat, fo ift doh im Ganzen Antheil nnd Anftrengung nicht 
zu verfennen gewejen; in einzelnen Fällen aber bat wenigftens der Nachdruck 
der Behörbe erjegt, was freilich beffer und glüdlicher aus freiwilliger Thätig- 
feit hervorgegangen fein würde. Außerdem find Waifenhäufer, Beflerungs- 
anftalten, Erwerbſchulen, Sonntagsihulen, Taubftummen- und Blindenanftalten 
theils neu angelegt, theil$ erweitert und verbefjert. So reihe und mannigfaltige 
Thätigfeit kann nicht ohne Wirkung geblieben fein. Es müfjen Rejultate zum 
Vorſchein gekommen fein. Einſicht, Gefhid und Arbeitfamkeit müfjen ſich ver— 
mehrt haben, und vor allen Dingen darf ein günftiger Einfluß auf Gefinnung und 
Eitte nicht vermißt werben. Hierüber Auskunft zu ertheilen ift die Hauptabficht 
diefer Jahrbücher. Nicht blos in Namen und Zahlen follen fie angeben, 
was gegründet und eingerichtet ift, fondern in Thatfahen und Erfahrungen 
nachmeijen, was bewirft worben ift und erwartet werben darf.“ Wir ſehen 
daraus, daß Bedeborff aus der Keuntniß der gefchichtlich gewordenen Ber- 
hältniffe und der Thatfachen, durch welche fie fo geworben find, fowie der 
Erfahrungen, die fih aus bejonderen Einrichtungen und Maßnahmen ergeben 
haben, nit nur beſondere Förderung des Schulweiens, fondern auch Einficht 
in das, was wirklich noth hut, und darum Verhütung von Fehlern 
erwartet, ja baß fie aud, wie aus anderen Stellen erfihtlih wird, durch 
das Hineinziehen aller Betheiligten in das Interefje der Schule vor dem 
blinden Nachfolgen eitler Reformer bewahren wird. Darum enthält ſchon 
das britte Heft des erften Bandes Nachrichten von den Rochow'ſchen Schulen 
und das erfte Heft des zweiten Bandes einen ausführlihen Auffag „Zur 
Geſchichte des preußiſchen Volksſchulweſens“, welcher e8 in der Einleitwug 
ausfpridht, daß er hätte „das ganze Unternehmen eröffnen follen*. Er gibt 
eine recht überfichtlihe Darftelung der älteren Schulgefhichte bi8 auf 
Friedrich Wilhelm III, drudt aus der Viſitations- und Confiftorialorduung 


5 
ven 1573 den Artikel über die Schulen, die Viſitationsfragen von 1710, 
die Verordnung vom 28. Septbr. 1717 vom Schulbeſuch, die Prineipia 
regulativa von 1736, das Reglement wegen ber beutichen Privatfchulen von 
1738, das General» Land-Schul- Reglement von 1763, die Inftruction fir 
das Ober- Schulfollegium von 1787 ꝛc. ab. Ueber die Abficht auch dieſes 
Auffages bleiben wir nicht im Unflaren, denn er beginnt gleih: „In der 
Ankündigung diefer Jahrbücher ift and eine Zufammenftellung verſprochen 
von den wichtigften auf das preußiſche Schulweſen bezüglichen älteren noch 
gültigen Gefegen und Berorbnungen, welche als Vorbereitung bienen folle 
zu ben bier mitzutheilenden neueren und neueften Anorbnungen und Ber- 
fügungen. Es verfteht fih wohl von felbft, daß damit nit ein bloßer 
Abtrud jener Geſetze gemeint fein könne, ſondern daß, wenn eine folche 
Zufammenftellung Interefje und Nuten gewähren foll, fie zugleich biejenigen 
biftorifhen Nachrichten und Bemerkungen enthalten müſſe, die über ihre 
Veranlaffung, ihren Zweck und Erfolg, fo wie über ihren Zufammenhang 
mit ben fpäteren Einrichtungen das nöthige Licht verbreiten.“ Das zweite 
Heft des britten Bandes bringt eine kurze Gefhichte des Taubftummen- 
unterrichts, das erfte Heft des fechften Bandes eine Geſchichte ver Schule 
auf der Laſtadie in Stettin, ber alten Bildungsftätte für Yehrer, und andere 
Bände anderes Gefchichtlihe. Diefe Art, biftoriih in das Verſtändniß ber 
Schulaufgaben und der Mittel zu deren Löfung in ber Gegenwart einzu - 
führen, fand damals Beifall, und das mag wohl den fpäteren Leiter bes 
Volksſchulweſens im preußiſchen Minifterium, Ferd. Stiehl, um das gleich 
bier zu erwähnen, bewogen haben, in der Menzeit einen ähnlichen Weg ein- 
zufhlagen in dem „Centralblatt für die gefammte Unterrihts- Verwaltung in 
Preußen. Berlin, W. Herg feit 1859“, in den „Altenftüden zur Geſchichte 
und zum Verſtändniß ber drei preußifchen Negulative vom 1., 2. u, 3. October 
1854. Berlin 1855%, in ber „Weiterentwidelung der drei preußifchen 
Regulative 1861”, in ver „Slugfhrift?: „Meine Stellung zu ben brei 
preußifchen Negulativen 1872”, und "bei Gelegenheit ver Borlegung eines 
Unterrichtögefeges in der Schrift: „Die Gefeggebung auf dem Gebiete des 
Unterrichtöwefens in Preußen. Bom Jahre 1817 bis 1868. Berlin, 
B. Her 1869." Er bat aber damit weniger Glüd gehabt und weniger 
Beifall gefunden. Aber das lernen wir aus dem Unternehmen Bedeborfis, 
bag darin eine andere Bedeutung ber Geſchichte des Schulwefens insbe— 
fondere betont wird, die Bedeutung für die Fortentwidelung des Scul- 
weiens durch die Behörden auf Grund der gewordenen Zuſtände, bie erit 
ihre rechte Beleuchtung erfahren durch Kenntniß der Urſachen, welche fie 
berbeigeführt haben, fo daß dann die rechten Mittel gefunden werben können. 
Diefe Beveutung ift aud für unfere Zeit in das gehörige Licht zu ftellen, 
damit wir nicht den einfhmeichelnden Wahnbildern mander Reformer, welche 
alle geſchichtlichen Berhältniffe ignoriren, unfer Ohr leihen, fondern un 
erinnern an das, was fon Herbart von den verborgenen Miterziehern 
gefagt hat, und eingedenk bleiben der Entwidelungen, welche Waitz (All⸗ 
gemeine Pädagogik ©. 10 ff.) gibt, daß es eine allgemeine Pädagogik in 
dem Sinne, daß fie nicht Nüdficht zu nehmen habe auf das Zeitalter, die 
Nation m. f. w. überhanpt nicht geben könne. „Der bifterifhe Grund und 
Boden, auf welchem erzogen werben foll, mobificirt nothwendig bie Öefichte- 


6 
punkte, aus denen, und bie Mittel, dur bie es gefhehen fann und foll; 
und weil es nun einen folhen nicht in allgemeiner Weife, fondern nur im 
zeitlih und national beftimmter Weife gibt, fo fann es aud feine allge 
meine Pädagogik in der oben angeführten Bedeutung geben, ſondern nur 
eine folhe, die fih auf ein beftimmtes Stadium der Geſchichte eines 
befonderen Volkes in der Gegenwart ober Vergangenheit bezieht” (Waitz). 

Den Ertrag der Vorarbeiten von Mangelsvorf, Ruhkopf, Schwarz, 
Niemeyer und Beckedorff hat Puſtkuchen-Glanzow zufammengefaft in 
feinem Buche: „Kurzgefahte Geſchichte ver Pädagogik, oder gebrängte Dar: 
ftellung des Eutftehens, Wefens, Zufammenhangs und Wechſels der herrichenven 
Anfihten über Erziehung und Bildung Rinteln 1830.” Es gibt vie 
Sade in bündiger Form, hat aber heute nur noch Bedeutung für die, 
welde das Urtheil des Berfafiers über die erften Jahrzehnte unferes Yabr- 
bunderts, in deren päbagsgifhen Bewegungen er eine Rolle gefpielt bat, 
fennen lernen wollen. 

Der erſte, welcher im Bewußtſein der Wichtigkeit der Gefchichte ver 
Pädagogik und nicht abgefchredt von der Größe, der Schwierigkeit und dem 
Umfange des Unternehmens, es unternahm, eine ausführliche Gefchichte der 
Pädagogik zu ſchreiben, war Dr. Friedrich Cramer, Gubrector am 
Gymnaſium zu Stralſund. Er ſpricht e8 in der Vorrede zum erften Bande 

-and, daß ihm die Ausarbeitung einer folhen Gefchichte Lebensaufgabe fein 
fol, wenn er jagt: „Wenn mir Gott Kraft und Leben fchenkt, fo hoffe id 
die pädagsgifhen Beitrebungen der verſchiedenen Völker und Männer bis 
auf unfere Zeit barftellen zu können, eine Arbeit, die mich ſchon jett 
wunderbar ergreift und erwärmt, und ber ich alle Muße, weldhe mir mein 
Beruf geftattet, gern und freubig widmen will, denn bie Erziehung ver 
Menſchheit vom Anfange bis in die Gegenwart zu begleiten, das ift eines 
Menſchen Leben werth und das foll neben und nad dem mir anvertrauten 
Amte mein irbifches Tagewerk fein. Aus der Verwirrung ber Gegenwart 
in bie Bergangenheit wie in eine ältere Heimath einzufehren, ift fo ſehr 
Bedürfniß, wie beim Alter der Jugend zu gedenken. Diefer Rüdbtid in 
die Unfhuldswelt der Kindheit ift das feligfte Kleinod, das dem Menſchen 
ins Erbenleben zur Mitgabe wurde. Das fagen Viele, das gefteben Alle. 
Aber die Geſchichte der Erziehung gewährt uns dies feligfte Kleinod in 
zwiefacher Geftalt, fie ift das Anfhauen einer zwiefahen Unſchuldswelt, einer 
ihlummernden Kindheit, mit ihr und burd fie badet fih der Menſch im 
verjüngenden See der Vergangenheit.“ Leider ift Cramer durd feinen früh— 
zeitigen Tod verhindert worden, die mit treuem Fleiße und warmer Be 
geifterung angefangene „Geſchichte der Erziehung und des Unterrichts in 
welthiftorifher Entwidelung“ zu Ende zu führen. Es ift davon nur bie 
erite Abtheilung, die „Geſchichte der Erziehung und des Unterichts im Alter: 
ıhume* (Eiberfeld bei C. 3. Beder, 1832 und 1838) in zwei Bänden er 
ſchienen, von denen der erfte die „Praftifhe Erziehung von den älteften 
Zeiten bis auf das Chriftenthum, oder bis zum Hervortreten des germaniſchen 
Lebens“ umfaßt, während der zweite Band die „Theoretiihe Erziehung von 
den älteften Zeiten bis auf Lucian“ behandelt. In vier anderen Bänden 
wollte Cramer dann das Mittelalter und vie neuere Zeit behandeln, damit 
das ganze Werf eine volftändige Erziehungs- und Unterrichtsgeſchichte ber 


7 


gefammten Menſchheit bildete. Aber es ift davon außer Heineren Neben- 
arbeiten nur anf Anregung einer Preisaufgabe der Akademie in Brüffel 
1840 als Vorbereitung die „Geſchichte der Erziehung und des Unterrichts 
in ben Niederlanden während des Mittelalters, mit Zurüdführung auf die 
allgemeinen pädagogifhen und literarifchen Berhältniffe*, Stralfund 1843, 
erſchienen, welche mit das Befte über die Geſchichte der Pädagogik des 
Mittelalters bietet, und welde, da fie Cramer durd eine ausführliche Ein- 
leitung mit jeiner Gefhichte der Pädagogik im Alterthum verknüpft hat, mit 
biefer eine zuſammenhängende Geſchichte bilde. Als Ziel feiner Aufgabe 
hat fih Cramer, mie er es in den Borreden und Einleitungen ausfpricht, 
geftellt, „das, was praftiich und theoretifch bei den verfchievenen Völkern 
geleifter ift, in fortjchreitender Entwidelung und in fteter Wechſelwirkung zu 
einander“ zu erforfhen und darzuftellen, denn nur dann fann eine Hare 
und grünblide Einfiht in die Gefhichte der Erziehung gewonnen werben. 
Die Erziehung, welde das Böſe und Befondere gleih einem beftänbigen 
Eroreismus andzurotten ſucht, und der Unterricht, welcher das Gute und 
Allgemeine gleich einer fortwährenden Taufe einflößen will, muß darin mit 
fteter Berüdfihtigung des allgemeinen fittlihen und geiftigen Zuſtandes ber 
einzelnen Völfer, oder der Erziehung im Großen und Ganzen, fowie der 
verſchiedenen örtlihen und zeitlihen Einwirkungen, durch welche jener Zu— 
ftand wejentlich bedingt ift, im gleicher Weife vargeftellt werden. Der ge- 
Ihihtlihe Fortgang in der Erziehung erjcheint ihm dabei als eine fort- 
ihreitende Befreiung von der Natur, als eine zunehmende Auferftehung 
des Geiftes und wachſende Menjhenerhebung, worin fid) die göttliche Idee, 
das Menjchengeihleht dem Ziele der Vollendung immer näher zu bringen, 
entwidelt und fortfchreitend offenbart hat. „Damit nun biefer Begriff des 
menfhlihen und göttlichen Fortfchreitens recht anfchaulich werde, ift bie Ge— 
Ihichte der Erziehung als eine Biographie des Menſchen betrachtet“ und 
entwickelt. „Wie eine Lebensftufe die andere vorbereitet, fo hat auch jedes 
Gefchleht der Menſchen feinen Beruf, ein Volk ift der Lehrer des anderen, 
feines für das andere umfonft. Deshalb fünnen immer einzelne Völker dem 
allgemeinen Gange vorgreifen, wie ja aud Kinder oft verftändiger find, als 
dag Alter. Das find die freien Pulsjhläge des Lebens gegen die falte 
Regel, das find die Ausnahmen der lebenden Völker in der großen Grammatik 
des Menjchengefhlehts. — Wenn nun die gefammte Geſchichte der Er— 
jiehung und des Unterrichts eine Biographie des Menſchen überhaupt ift, 
io finden wir im Altertfume von den älteften Zeiten und den erften Stufen 
ver Entwidelung an, bis auf das Hervortreien des germanijch = hriftlichen 
Elementes, den Menfchen von feiner früheften Kindheit an bis zum vollen 
Yünglingsalter dargeftelt. Wie fid die einzelnen Zuſtände bes mehr oder 
minder gereiften Yugenplebens auseinander entwideln, wo Uebergänge aus 
einem Lebensalter in ein anderes ftattfinden, das Alles ift in ber folgenden 
Darftellung ausführlih erörtert. ALS entfprehend dem erften Zuftande ver 
Kindheit oder der Periode der Sinnlichkeit, find die noch in Horden lebenten 
Naturmenſchen Amerika’s, Afrikas und Auftraliens zu betrachten, bei denen 
ſelbſt die Familienverhältnifie noch auf der niedrigften Stufe ſtehen.“ Die 
Erziehung ift nur eine finnliche, auf die Formirung und Bildung des Körpers 
gerichtete, denn je ungebildeter ein Wolf, deſto mehr hält es auf fürperliche 


8 


Einzelheiten, und die Zerriffenheit der körperlichen Bildung, namentlih bes 
Gefihts, bie wir vorzüglich in den zerriffenen Erdtheilen, befonder® in 
Auftralien und Amerifa und in dem ungeftalteten und ungegliederten Afrika 
finden, ift ein Bild bes zerriffenen Geiftes der Bewohner, der fih noch nicht 
aus feiner Zerftreutheit und Allgemeinheit fammeln, fih noch nicht für höhere 
Zwede des Lebens concentriren kann. Erft wo fid die Menfchen zu größeren 
Genoſſenſchaften ſammeln, da beginnt die äußerliche Gleichgültigfeit, das 
natürliche Nebeneinander, abzufterben, bie fittlihen Berhältniffe ver Einzelnen 
zu den Einzelnen fangen an fih zu bilden und der Sinn für höhere An- 
gelegenheiten als die unmittelbaren Bebürfniffe, entwidelt fih allmählich. 
Dies fittlihe Gefühl muß ſich zuerft in ber’ Familie geltend mahen, un 
dies ift auch im erften Staate der Weltgefhichte, in China, ber Fall, wo 
das gefammte Leben und bie gefammte Entwidelung unter dem Bilde einer 
großen Familie erfcheint, mit dem fittlihen aud das geiftige Bewußtfein 
erwacht, aber das lebtere, ba der Kreis des fittlihen Lebens eng ift, faft 
noch ganz ein natürliches, gleihförmiges ift, eben fo regelmäßig wiederfehrenv 
wie Ebbe und Fluth, wie Sommer und Winter, ohne die höhere Richtung 
und ohne die Freiheit des Bemußtfeind. „Im Indien, der Wiege der 
Bildung, erbliden wir die erften Blüthen am Baume des geiftigen Lebens, 
und der Menfh reift fih im Gefühle feiner Freiheit bald von der Narur 
(08, wird aber auch bald wieder von ihr übermannt, daher der dauernde 
Wechſel von Yubel und Trauer, von Freude und Schmerz, der fih durch 
fein Leben und feine Dichtung hindurchzieht. Der Menſch ift noch zu Klein, 
fein Geift nod zu Shwah, und die Natur zu groß und ihr Einprud zu 
ungeheuer, als daß fie ihn nicht beraufhen und ihn feiner unbewußt mit 
fich fortreißen follte.” Im Berfien jcheidet fi der Geift vom Körper, wie 
in der Religion des Volks das Licht von der Finfterniß, fo daß hier neben 
der vorwaltenden körperlichen Abhärtung der fittlihen Bildung (Liebe zur 
Wahrheit) befondere Aufmerkfamkeit zugewendet wird. Als Folge dieſes 
Strebens nah Wahrheit haben wir von ihnen unter allen Bölfern des 
Drients die erfte Geſchichte. Die bei den Perfern beginnende ſittliche Er- 
ziehung fest fih bei den Juden fort, wird aber nicht fowohl auf das Ber- 
hältniß des Menfchen zum Menfhen, fondern vielmehr auf das des Menfchen 
zu Gott bezogen, daher die jüdiſche Erziehung vorzugsweife eine religiöfe 
ift, ähnlid wie in Imdien ; aber die indifche Religion drüdt in ihrer Unge- 
heuerlichfeit das aufftrebende Menſchenkind nieber, die jüdiſche durchdraug das 
ganze Leben und hob das gebrüdte und gebeugte Kind tröftend empor zum 
Baterherzen. Im Indien ift nur die Wurzel, in Judäa der Gipfel ver 
religiöfen Erziehung Aſiens. Auch in der größeren Achtung der Juden 
gegen das weibliche Geſchlecht, in ber höheren Bildung beffelben und in ber 
theilweifen Monogamie bekundet ſich ein tieferer Sinn für die häuslichen 
und Familienverhältniffe. Die höhere Achtung der Frauen finden wir auch 
bei den Weguptern, wo wenigftens die Priefler nur eine Frau hatten, und 
wo ber Genius der Menfchheit auf ver eriten Stufe des Knabenalters er- 
ſcheint, noch zum Theil befangen in ber früheren Stufe der Kinpheit, fe 
daß er fi unter tem Bilde der Sphinx ſymboliſch barftellen läßt, oder ber 
Fabel und dem Käthfel vergleihbar if, wo im Sinnlihen ein verborgener 
Geift hervortritt. Es herriht da ein Geift der inneren Gährung, fo daß 


9 


das Leben der Menſchen wie ein ſteter Klageruf ſich von den Feſſeln ver 
Natur zu einem höheren Bewußtfein empor zu ringen firebt. „Aegypten 
it die Morgenröthe der geiftigen Freiheit, deren Sonne bei den Griechen, 
dem heiteren, lieblihen Knaben, dem in jugendlicher Yreudigkeit und in 
allfeitiger Kraftentwidelung das Leben entgegenlacht, zur Zeit der Kämpfe 
gegen die Perjer die Mittagshöhe erreicht, mit dem peloponnefifhen Kriege 
aber von ihrer Höhe herabfteigt.. Das griehifche Leben ift eine Jugend— 
blume der Schönheit, die eben veshalb verblühen mußte, denn auf vie 
Jugend folgt ein fpäteres Alter, auf das Blühen ein Verblühen, auf Spiel 
ber Ernfi. In Griechenland fonnten fi die Blütben der Humanität am 
beften entwideln, denn alle äußeren und inneren Bebingungen vereinigten 
fih Hier in barmonifher Wechſelwirkung, ein günftiges Klima, politifche 
Sicherheit nah außen, heitere Muße im Innern, eine Schönheitsreligion, 
die belebend und erheiternd die Freuden an der Gegenwart würzte, und ein 
empfänglicher,, reger Sinn als das urfprüngliche Erbtheil und die bleibende 
Öottesgabe feiner Bewohner, die fih frei im Gebiete ihres Seins und Lebens 
bewegten, denn felbft die doriſche Herrichaft lähmte und ertödtete keineswegs 
die geiftige Bewegung der abhängigen Völkerſchaften. Früher waren nur 
Priefter die Lehrer ter Menſchheit, bei den Griechen aber find Homer und 
Hefiod die Schöpfer der Theogonie oder der Götterwelt, und Dichter im 
weiteften Sinne werden die Bildner des Volks, fo wie das Leben felbft, mit 
bem Zanber der Dichtkunſt umgoffen, feine Kinder im finniger Heiterkeit 
erzog, bildete und unterrichtete”, bis dann unter der Pflege eines befonderen 
Lehrftandes, zuerft der Sophiften, von dem Baume ver Erfenntniß die 
Wiſſenſchaft ſich zuerſt freier und fchöner, mamentlih in Athen, entfalten 
lonnte. So erjheint die Menfhheit auf der Stufe des eben zum Jüng— 
linge beranreifenden Knaben angelangt, ber num jelbft prüfen, einfehen, 
den Zujammenhang begreifen will, aber jest, nachdem er vom Baume ber 
Erlenntniß gekoftet, aus dem Stande ver Unſchuld zur Sünde erwadt. In 
Rom, das eine Doppelftadt, Athen und Sparta in fi vereinigt, nah außen 
ein Kriegsvolf, nah innen ein Rechtsvolk ift, erfcheint ihm die Menfchheit 
als gereifter Jüngling, der ſich durch Krieg und Eroberung das Haus feiner 
Zukunft gründe. Durch die Bereinigung beider Seiten, durch die Kraft 
nah außen, die in dauernden Kämpfen zunahm, durch die Feftigfeit nach 
innen, die fi in häufigen Streitigkeiten bewährte, erlangte das eine Rom 
auch eine welthiftorifhe Größe, zu der fid das vielfach getheilte Griedhen- 
land nicht erheben konnte „Mit Rom erreiht die alte Bildung ihren 
Endpunft und in der römifchen zeigen ſich daher ſchon vielfahe Elemente 
der modernen. Gallien hat immer den Ruhm gehabt, die Vorläuferin ver 
neuen Bildung zu fein, neue Ideen anzuregen, deren tiefere Begründung 
aber andern zu überlafien. In Oberitalien finden wir römifche und galliſche 
Völker und mit ihnen die Elemente alter und neuer Bildung vereinigt.“ 
So hat Rom den Uebergang der alten zu der neuen mehr geiftigen Bildung 
im Mannesalter vermittelt. — Das find mit feinen eigenen Worten bie 
Geſichtspunkte, welche Cramer bei der Darftellung feiner Gefhichte ter Er- 
ziehung befolgt hat. Er ift dadurch, daß er jo die Gefhichte der Menſchheit 
zu conftrniren verſucht, öfter in die Gefahr gelommen, ber ſchulgerechten 
Gonftruction zu Liebe, der Geſchichte jelbft Gewalt anzuthun. Auch feine 


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lebhafte Phantafie hat öfter die Klarheit und Nichtigkeit des Gedankens durch 
Bilderfhmud verbunfelt, und manche Spielerei mit hriftlichen Begriffen, 
3. B. das Erwachen bes Selbfibewußtfeins als Sündenfall zu bezeichnen, 
wirft ein fchiefes Licht auf einzelne Partien der Geſchichte, während anbrer- 
jeit8 die Bedeutung des Chriſtenthums und die Stellung, welde das Bolt 
Israel für daffelbe einnimmt, nicht in der rechten Weife erkannt, auch ber 
Zufammenhang durd die Scheidung im einen theoretifhen und praktiſchen 
Theil zerriffen if. Aber überall tritt uns Lauterkeit der Gefinnung, religiöfe 
Wärme, Ernft und Begeiftierung für tie hohe Aufgabe der Erziehung bei 
dem Berfaffer wohlthuend entgegen. Und wie es ſchon ein nicht Geringes 
war, bie große Aufgabe der Geſchichte der Erziehung zu erfafen, fo gebührt 
ibm auch das Verbienft, daß er durch finnige und gevanfenreihe Darftellung, 
durch ſorgſame Zufammenftellung und Verarbeitung des gefhichtlihen Ma— 
terials, ſoweit e8 bis auf ihm durch bie Forfhung zu Tage geförbert war, 
und buch den gründlichen Fleiß, mit dem er im einzelnen Partien zuerft 
Licht gefhafft hat, zuerft eine wirklihe Geſchichte der Pädagogik in wiſſen— 
Ihaftliber Schärfe und Darftellung gejhrieben, und fo die Bahn gebroden 
hat, auf der neme Bearbeiter diefer Wiffenfhaft ven feinen Fehlern ſowohl 
wie von feinen Vorzügen lernend, weiter ftreben fonnten. | 

Cramer erhielt bald einen Nachfolger in einem Zeitgenofien, in Karl 
von Raumer, welder etwa da, wo Cramer in ter Geſchichte des Mittel- 
alters aufgehört bat, begann mit feiner „Geſchichte der Pädagogik vom 
Wiederaufblühen Haffifher Studien bis anf unfere Zeit“ (4 Bände. Stutt: 
gart, Lieſching. Erfte Auflage 1842). Dies Werf ift, wie das Werk von 
Cramer, hervorgegangen aus dem fittlihen Ernft, mit welchem fein Berfafler 
die Aufgabe der Erziehung und den Lehrerberuf auffaßte. Die Eigenthüm:- 
lichkeiten vefjelben, der große Unterſchied deffelben von dem Cramer'ſchen, 
werden aber erft recht verſtändlich aus der Lebensführung und ber Lebens. 
anfhauung feines Verfaſſers. Karl von Naumer, geb. ven 9. April 1783 
zu Wörlig, geft. den 2. Iuni 1865 zu Erlangen (Karl von Raumer's 
Leben von ihm felbft erzählt. Stuttgart, Lieſching. 1866), hatte, wie er 
felbft fagt, bei feinen trefflichen Lehrern Meierotto, Buttmann, Fr. Auguſt 
Wolf, Steffens, Werner und anderen audgezeihneten Männern, vie beite 
Gelegenheit gehabt, etwas Rechtſchaffenes zu lernen. Im der großen nationalen 
Bewegung, welde während und nad der Unterbrüdung durch Napoleon 
Deutſchland mwedte, wurde befonders durch Schleiermacher's und Fichte's bes 
geifternde Worte der Gedanke lebendig, das deutfche Volk durch eine nationale 
Erziehung zu dem großen Werke feiner einftigen Befreiung zu fFräftigen, 
wehrhaft und fampfbereit zu machen; denn durch die neue Erziehung werde, 
jo hoffte man, ein neues Geflecht erwachſen, welches eine neue glorreide 
Zeit berbeifithren werde. Und Fichte glaubte, diefe neue Erziehung fei ſchon 
gefunden durch Peftalozzi, auf den er daher in feinen Reben an bie deutſche 
Nation binwied. Zu denen, welche fich begeifterten und hofften, dem Bolte 
durch die neue Erziehung helfen zu fünnen, gehörte auch K. von Raumer. 
Mit vielen andern eilte aud er in die Schweiz, um in ber Mufteranftalt 
Peſtalozzi's zu lernen und mitzubelfen. Er fand aber, daß die Benwirl- 
lihung der Idee in der Anftalt mangelhaft ſei und kehrte im biefer Be— 
ziehung enttäufcht heim, aber die Begeifterung für die Idee blieb in ihm 


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lebenbig, fo daß er nichts fehnlicher wünſchte, als auch felber lehrend an 
der Erneuerung des Volles in der Erziehung der Jugend mit zu arbeiten. 
Er Hatte aber faum damit als afademifcher Lehrer in Breslau begonnen, 
wo er mit Harnifd, der bort das Seminar leitete, in Verbindung trat, als 
der sFreiheitsfrieg auch ihn zu den Waffen rief. Im ernfter Zeit reifte er 
auch innerlich zum Chriften, und darum förderte er, als er aus dem Felde 
mit bem eifernen Kreuze geſchmückt zurückkehrte, das angefangene Werf 
weiter. Durch freundſchaftlichen Verkehr fuchte er namentlih auf die Stu— 
denten erziehlich einzumirfen und nahm lebhaft an der Ausbildung ber 
Iugend durd das Turnen Theil. Diejes Beftreben fegte er auch in Halle, 
an befjen Univerfität er 1819 als Docent berufen wurte, fort, und tort 
begann er aus bemfelben Interefje 1822 im Anfhluß an die Gejchichte ver 
Pädagogik von Chr. H. Schwarz BVorlefungen über Gefhichte der Pädagogik 
zu halten. Aber fhon 1823 wandte er fi wegen der burjchenjchaftlichen 
Streitigfeiten von Halle fort und übernahm in Nitenberg die Leitung ber 
Dittmar'ſchen Erziehungsanftalt, in der er auch felber Unterricht ertheilte. 
Zugleih gründete er eine Anftalt für verwahrlofte Kinder, fo daß er, als 
er als Profeffor nah Erlangen berufen, auch die Borlefungen über Gefchichte 
der Päragegif (1838— 1842) wieder aufnahm, auch eine reiche praftijche 
Erfahrung gefammelt hatte. Im Erlangen gab er auch nad biefen Bor- 
arbeiten jeine „Geſchichte der Pädagogik vom Wiederaufblühen klaſſiſcher 
Studien bis auf unſere Zeit“ 1842 heraus. Er ſpricht ſich über dieſelbe 
in der Vorrede zur erſten Auflage dahin aus: „Mein Buch beginnt mit 
dem Wiederaufblühen der klaſſiſchen Studien. Deutſchland faßte ich vorzugs— 
weiſe in's Auge. Warum ich als Einleitung eine kurze Geſchichte der 
italieniſchen Entwickelungen von Dante bis auf die Zeit Leo des Zehnten 
vorausſchicken mußte, ergibt ſich dem Leſer aus dem Buche ſelbſt. Er wird 
ſich, wenn etwa nicht gleich anfangs, doch im Verfolg bes Leſens über— 
zeugen, daß jene Einleitung zum Verſtändniß der Geſchichte deutſcher Pä— 
dagogik unumgänglich nothwendig ſei. — Eine Geſchichte der Pädagogik muß 
einmal die Bildungsideale in's Auge faſſen, durch welche ein Volk in der 
Folge ſeiner Entwickelungsepochen beherrſcht wird, dann aber die Weiſe, wie 
die Pädagogik in jeder Epoche das aufwachſende Geſchlecht dem Bildungs— 
ideale gemäß zu erziehen, dies Ideal in der jungen Generation zu verwirk— 
lichen ſtrebt. Im ausgezeichneten Männern tritt jenes Bildungsideal wie 
perfonificirt auf, fie üben daher den größten Einfluß auf die Päpagogif, 
felbft wenn fie nicht Pädagogen finv. 
a „Ein großes Mufter wet Nacheiferung 
Und gibt dem Urtheil höhere Gefege.” 

Doppelt mächtig wirken fie aber auf die Bildung ihres Volks, wenn 
fie zugleich felbft pädagogisch eingreifen, wie einft Luther und Melanchthon. 
Diefe Betrachtung beftimmte mich, in diefer Gefchichte vorzugsweiſe Charak— 
teriftifen ausgezeichneter Pädagogen zu geben, welche bei ihren Zeitgenofjen 
im größten geiftigen Anfehen ftanden und deren Beifpiel vielen vorleuchtete. 
Ein folder war Johannes Sturm in Straßburg, ein Rector, der mit feftem 
Blid einem feſten pädagogifhen Ziele nachging, fein Gymnaſium höchſt ver- 
ftändig organifirte, und das, was er fir das Rechte erfannt hatte, auch mit 
größter Virtuoſität ausübte. Cine aus den Quellen gejchöpfte genaue Dar: 


12 


ftellung der pädagogiſchen Wirkſamkeit dieſes Normalrectors gewährt meines 
Erachtens viel mehr Anichanlichkeit und Belehrung, als wenn ih mid in 
ein zerftüdeltes Charakterifiren vieler mittelmäßiger, nah Sturm's Vorgang 
eingerichteter Schulen verloren hätte. So viel zur Rechtfertigung, daß viele 
Gefchichte vorzugsweife eine Folge von Biographien enthält. Bei der außer- 
orbentlichen Verſchiedenheit der zu charakterifirenden Männer wird es nicht 
auffallen, wenn meine Charakteriftifen in der Form höchſt verfchieven find. 
— In einer andern Hinficht follte ih mich wohl auch entſchuldigen; jedoch 
ich ftehe an, e8 zu thun. Man verlangt nämlid vom Geſchichtſchreiber eine 
objective Darftellung, insbejondere eine Darftelung frei von Liebe und von 
Hof. Mit Recht wird eine Wahrheit und Gerechtigkeit verlangt, welde 
weder blind ift gegen das Gute am Feinde, noch gegen das Böfe, was dem 
Freunde anklebt. Aber frei von Liebe und von Haß bin ih nicht und will 
es nicht fein, ih will nad beftem Wiffen und Gewiſſen pas Böfe haſſen 
und dem Guten anhangen, auch fauer nit ſüß, noch füß fauer nennen. 
Es wird and wohl zur Objectivität gefordert, daß ber Hiftorifer nie per- 
ſönlich hHervortrete, nie feine Meinung über bie mitgetheilten Thatfachen 
äußere. Man räumt ihm nicht fo viel ein als dem Dramatiker, ber fi 
durch Prolog oder Epilog, oder durch den Chorus, der vor jedem Aufzuge 
auftritt, mit dem Publitum über fein Stüd ſpricht. Auch einer jolden 
Dbjeetivität fann ich mich nicht rühmen, ich trete hin und wieder offen mit 
Urtheilen vor. Und follte nicht die Objectivität der Gefhichte gerade durch 
ein freies, perſönliches Dazwifchentreten des Hiſtorikers mehr gewinnen, als 
wenn er möglichft Hinter den Thatfahen und ihrer Erzählung Verſteck fpielt ? 
Lernt doch der Leſer durch ſolch unverholenes Urtheilen ven Berfafler kennen 
und weiß, was er fi von jeiner Erzählung zu verfehen habe, Er bemerkt 
dann leichter, wo ihn, aud beim beften Willen unparteiiih und wahr zu 
fein, doch etwas Menfhlihes, Parteiiſches beſchleichen ſollte Bon einem 
Kirchenhiſtoriker, welder feine puritanifhe Gefinnung ohne Rüdhalt aus: 
ſpricht, erwartet kein verftändiger Lefer eine unparteitfhe Würdigung bes 
"Mittelalters. — Ich trete auch deshalb offen mit Urtheilen hervor, um bie 
Lefer zum Befprehen mancher wichtigen pädagogifhen Gegenftände zu reizen, 
was die bloße Darftellung der Thatfahen in der Regel nicht bewirkt. Wenn 
in biefer Gefhichte Ideal und Methode fo verfchievener Pädagogen geſchildert 
werben, jo drängt fi, beſonders den praftiihen Schulmännern, eine Ber: 
gleihung mit ihrer eigenen Anfiht und VBerfahrungsmeife auf. Ueberein- 
ftimmendes erfreut und gibt ein befriedigendes Gefühl, daß man das Rechte 
thue. Abweichendes treibt zur Prüfung bes Eigenen wie des fremden : 
eine Prüfung, deren Reſultat entweder Beharren aus verftärkter Ueberzeugung 
oder Aendern ift. Ich geftebe gern, daß mid, vorzüglich ein praftifcher Zwed, 
wie ich ihm eben angebeutet, zu biefer Arbeit getrieben und bei berfelben 
geleitet habe.” Aus dieſen Gefichtspunften hat Raumer fein Werf ge: 
ſchrieben, beſonders auch, um der alavemifhen Jugend die Bildungsideale 
vorzuhalten, durch welche das deutſche Volk in Folge der humaniſtiſchen Be— 
ſtrebungen und der Reformation beherrſcht und zu denen die Jugend 
erzogen wurde. Aber er hat nur bie Höhepunfte in anſchaulich gezeichneten, 
quellenfriihen Charatteriftifen folder Männer, die ihr Zeitalter beherrſchten, 
hervorgehoben. Die ganze Darftellung ift Hriftlih umd tief ernft, und je 


13 





ziehen fih dur das Ganze die Gedanken hin: Gott ift der Erzieher des 
Menjhengefchlehts, um es zur volltommenen Heiligkeit zu führen. Darum 
müſſen wir bei aller Erziehung auf die göttliche Erziehung des Menjchen- 
geſchlechts ſchauen, wenn unfere Erziehung wirklich gedeihlich fein fol. Wir 
müflen aber neben der allgemeinen Art und dem Ziele der ganzen Menſch— 
beit auch den inbividnellen Charakter des Kindes ins Auge fallen, wie ihn 
Sort gefhaffen, in der Taufe wievergeboren hat und fort und fort erzieht, 
damit wir gewiffenhafte Mitarbeiter Gottes bei der Erziehung find und das 
Jbeal verwirklichen helfen, zu deſſen Realifation Gott ſchon dem Kinde bie 
Anfänge eingepflanzt bat. Das Ziel ift der neue Menſch im Heiligkeit, 
Liebe und Weisheit, der Gottes Ebenbild volllommen wiederhergeftellt an 
fih trägt. Auf diefem Fundamente ruht Raumer's Anfhauung von ber 
Hriftlihen Erziehung, nad diefem prüft er die Arbeiten der Männer, bie in 
den Rahmen feiner Gejhichte fallen. Im dieſem Sinne fhildert er zuerft 
die Borläufer und Beförderer der altklaffifhen Studien in Italien und 
Deutſchland, entwidelt in der Reformation die Berbienfte Luther's und Me- 
lanchthon's um die Erziehung und den Unterricht, zeichnet dann das Leben 
der großen Rectoren Trogendorf, Neander und Sturm nad dem Quellen- 
material, das er zum Theil zum erften Male an’s Licht gezogen hat, fo daß 
allerdings das Leben Sturm's auf Grund neuer Dellen nad ihm Gegen- 
ftand vieler Discuffionen geworben ift (Edftein, Küdelhan, Laas ꝛc.). Es 
folgt dann eine Darftelung der Schuleinrihtungen in Württemberg und 
Sachſen und die Einrihtung der Studien bei den Jefuiten, während aud) 
in kurzen Zügen die Univerfitäten, der verbale Realismus, Fr. Baco und 
Montaigne gejchildert werden. Der zweite Band beginnt mit den Neuerern, 
mit Wolfgang Ratke, ven er im Ganzen richtig geſchildert hat (vgl. in der 
neueren Zeit Kraufe, Schumann, Störl), mit dem großen Kriege und 
A. Comenius, fohildert dann, um Einzelnes nur nod hervorzuheben, vie 
pietiſtiſche Richtung in 4. H. Frande, aus deſſen Beftrebungen auch bie 
Realſchulen hervorgingen, dann die Philanthropen und deren Vorläufer Tode 
und Rouffeau, die philologifhe Richtung der Erziehung in %. A. Wolf und 
endli aus eigener Anſchauung im Peſtalozzi das auf die Entwidelung ver 
Volksſchule gerichtete Streben. Es ift allerdings Feine volftändige und er- 
ihöpfende Gejhichte der Pädagogik, denn es find nur die Hauptvertreter 
der verjchiedenen Richtungen vertreten, und diefer Mangel wird auch nicht 
ausgeglichen durch bie Abhandlungen des dritten Theils über vie erfte Kind- 
beit, Kleintinderfhulen, Schule und Haus, Erziehungsinititute, Hofmeifter- 
erziehung, den Religionsunterricht, das Latein, die Geometrie, das Rechnen, 
die phyſiſche Erziehung, die Schulen der Wiffenfhaft und der Kunft, über 
den Unterriht im Deutfhen (von feinem Sohne Rud. v. Raumer), über 
Kirche und Schule und die Erziehung der Mädchen, obgleih fie manches 
biftorifche Material und anregende Gedanken bieten. Diefer Mangel wird 
auch nicht gehoben durch den vierten Band, welder bie Gefchichte der Uni- 
verfitäten behandelt. Uber gerade das Hervorheben ver Hauptgeftalten 
orientirt nicht nur in der Gefhichte der Pädagogik, fondern macht auch den 
Bid fharf, um aud in umtergeorbneten Erſcheinungen die Hinneigung zu 
ter oder jener Richtung zu erfennen ; dazu ermuntert bie praftifche Haltung 


14 


des Buches zu ernfter Selbftprüfung, und der reiche Stoff bietet eine reiche 
Fülle treffender Anfhaunngen und Erfahrungen. 

Die Arbeit von Raumer regte eine Reihe Einzelforfhungen an, bie 
meift in Programmen niedergelegt find; dagegen find die nächſten Arbeiten, 
die Geſchichte der Pädagogik im Zufammenhange darzuftellen, nicht bebeutent. 
E. Anhalt, Geſchichte ves Erziehungsmweiens im Zufammenhange mit der 
allgemeinen Culturgeſchichte (Jeua 1846), bat nur eine kurze Zufammen- 
ftellung der Hauptſachen gegeben; 9. F. Th. Wohlfahrt, Gejcdichte des 
gefammten Erziehungs- und Schulwejens in befonderer Küdfiht auf bie 
gegenwärtige Zeit und ihre Forderungen (2 Bände, Duerlinburg und 
Zeipzig 1853 und 1855) bietet zwar ein reichhaltiges, aber ein ungeorbnetes 
Material, indem er noch dazu mit dem Hochmuthe des alten Rationalismus 
die Vergangenheit meiftert und nach dem Mafftabe ver Zweckmäßigkeit für 
die Gegenwart die Leiftungen der Vergangenheit mißt; und Körner's 
Gefhichte der Pädagogik von den äÄlteften Zeiten bis zur Gegenwart. Ein 
Hantbud für Geiftlihe und Lehrer beider Confejfionen (Leipzig, 1857) ift 
nur flüchtig gearbeitet und daher dürr und trivial und voll innerer Wider: 
ſprüche. Eine kurze Geſchichte der Pädagogik in iüberfichtliher Weiſe gab 
als Einleitung ©. Baur in den „Örumbzügen ber Erziehuugslehre“ 
(Gießen, 2. Aufl., 1849). Er hat diefelbe feinem Artikel über die „Geſchichte 
ver Pädagogik“ in Schmid’s Enchelopädie (Band 5) zu Grunde gelegt und 
erweitert. Eine kurze Geſchichte der veutihen Volksſchule gab ſodann 
Dr. H. Graefe am Schluſſe feines Werkes: „Die deutſche Volksſchule 
oder die Bürger- und Landfchule nad der Geſammtheit ihrer Verhältniſſe“ 
(2. Aufl. 1850), weil er von dem Grundſatze ausging, daß die Gegenwart 
erft durch Die Vergangenheit in ihr volles Licht trete, und daß nur derjenige 
fagen dürfe, er verftehe das, was ift, ver wiſſe, wie es geworden. Es find 
meift kurze, aber lichtoolle Ueberfichten über die einzelnen Zeiträume, welde 
auch Blide in die zukünftige Entwidelung der Volksſchule eröffnen folen. 
Umgekehrt ftellten die Prolegomena in Palmer's Evangelifher Pädagogilk 
(1. Aufl. 1852) eine kurze Lleberfiht der Geſchichte der Pädagogik voran, 
um das Werben der Pädagogik zur Wiffenfhaft in gefhichtliher Entwidelung 
zu zeigen. Es werben in furzen Ueberſichten vorgeführt: die vorchriftlice 
Zeit, die alt- und neuteftamentliche Pädagogik, die Kirchenväter, das Mittel- 
alter, die Reformation, die Herausbildung ber reformatorifhen Erziehungs: 
idee durch Spener und Frande, die pädagogiſche Revolution von Lode bis 
Pefinlozzi, die Richtungen der Gegenwart, der Standpunkt der evangelijchen 
Pädagogik, deren Stellung zur Theologie, Grenzen und Eintheilung, jo daß 
der Leſer dadurch völlig für das nachfolgende Syſtem vorbereitet if. Da 
das preußiſche Negulativ für den Seminarunterriht vom 1. October 1854 
itatt der früheren Rubriken: Pädagogik, Methodik, Didaktik, Kaiechetil :c. 
auf den Lectionsplan der Seminare wöhentlid zwei Stunden „Schulkunde“ 
fegte, in der auch gegeben werten follte „ein einfaches und beftimmtes Bilv 
von der evangelifh-riftlihen Schule nad ihrer Entftehung und Ausbildung, 
nah ihrem Berhältniß zur Familie, Kirche und Staat, wobei die einfluß- 
reichten Schulmänner, namentlich ſeit der Reformation, ihre Erwähnung 
und deren, Einwirfung auf Geftaltung des Elementar-Schulwejens ihre 


15 


Darftellung finden können“: jo nahm 8. Bormann in feine „Schulkunve 
für evangelifhe Volksſchullehrer“ (9. Aufl. 1861) auch fünf Abſchnitte geſchicht— 
lihen Inhalts (von den chriftlihen Schulen vor der Reformation, von den 
evangelifhen Volksſchulen im Zeitalter der Reformation, Aug. Herm. Frande, 
die Bhilanthropen, Peftalozzi) auf, welde auf 14 Seiten einen recht bürftigen 
Stoff bieten, welcher gegen die Reichhaltigkeit des Materials, welches ?. Kellner 
in feiner Schrift: „Skizzen und Bilder aus der Erziehungsgefchichte “ 
(Eſſen 1862) den katholiſchen Volksſchullehrern bietet, traurig genug abfticht. 
Kellner geht von der Anfiht aus, „daß die Gefhichte der Erziehung und 
des Unterrichts für Geift und Herz erfprießlih ift und ven umfafjenpften 
Nugen gewährt. Sie wird den Lehrer überzeugen, daß Liebe zur Gadıe, 
Begeifterung und MUeberzeugungstreue die Haupthebel aller pädagogiſchen 
Wirkſamkeit find und jelbft da mit entſchiedener Macht einwirkten, wo fie 
für den Irrthum auftraten. Die Erinnerung hieran ift gewiß niemals 
nügliher gewefen als gerade in der Gegenwart, wo das Uebergewicht ber 
materiellen Intereffen einen Umfang gewonnen hat, ver bis in die niebrigfte 
Dorfihule reiht und vielfah die Frage in den Borbergrund treten läßt: 
Welcher Lohn wird mir für meine Arbeit? — Wenn irgend etwas die 
Jugend und den Mann erwärmen, mit Hochbildern erfüllen kann, fo ift es 
das Beifpiel, und darum bürfte es ſich dringend empfehlen, ven angehenden 
Lehrern in ihren Bildungsafftalten, jo wie jüngeren und älteren Lehrern 
in den Gonferenzen von Zeit zu Zeit als Stärkung für die Berufspflichten 
Beifpiele vorzuführen, wie fie die Erziehungsgefhichte reichlich bietet. Solche 
Beijpiele würden aber aucd nad einer andern Seite hin vom vortheilhafteften 
Einfluffe fein können. Sie würden mit der Liebe aud die Demuth paaren. 
Namentlih jüngere Lehrer - würden daraus lernen, dag nicht alles Wahre 
neu ift, ſondern daß vielmehr die wichtigften, ewige Geltung behauptenven 
Wahrheiten bereits in vielen Köpfen und Herzen gelebt haben, und daß wir 
vielfah nur Nachgeborne find, die vom Vermächtniſſe der Väter zehren und 
erſt forgen follten, viefes dankbar zu verwertben, anftatt auf Neuerungen zu 
finnen, die meiftens nichts weiter als Barintionen eines alten Themas find. 
Der Mangel an Würdigung und Berftändniß des Alten ift eine Haupt- 
urfahe fo mander Zerfplitterung der Kräfte und fo mander frühreifen 
Ausgeburten des Hochmuthes. Tiefere Blide in die Erziehungsgeihichte und 
in das Wirken einzelner ihrer Repräfentanten werden uns enblid im ber 
bohwichtigen Ueberzeugung befeftigen, daß nur die hriftlihe Auffaffung des 
Berufes vor verberblihen Abwegen bewahrt, und daß jede Entfernung von 
ben Lehren des pofitiven Chriftentbums auch Keime von Irrthum birgt, 
welche ſich jpäterhin zu Früchten entwideln, vie faum minder verberblid, 
wirken, als jene am Baume der Erlkenntniß des Guten und Böfen. Je 
mehr gerade in der Gegenwart das Rechtsbewußtſein zu ſchwinden droht und 
immer größer werdende Begriffsverwirrung ſich mit ſteigender Genußſucht 
verſchwiſtert, um auch die Maſſen in ihrem ſittlichen Leben zu gefährden, 
deſto mehr müſſen Lehrer und Schule von der Wahrheit durchdrungen ſein, 
daß nur in der chriſtlichen Auffaſſung des Lebens Heil und Wiedergeburt 
zu finden iſt. Nach dieſer Seite hin werden Bilder aus der Erziehungs- 
geihichte von großem Nugen fein. Niemals können wir es verhindern, daß 
unjere Lehrer früher oder fpäter mit Männern, wie Roufleau, Baſedow :c. 


16 


befannt werben. Schlimm ift eine folhe Belanntihaft nur dann, wenn fie 
junge Männer ohne Führer. oder gar mit einem Führer machen, ver ihr 
Urtheil verwirrt, indem er die Schatten Ficht nennt und das Gift als gefunde 
Nahrung preiſt. Auch deshalb halte ich es für eine Pflicht aller, die auf 
Schulen und Lehrerbildung einzuwirken haben, daß fie bie rechte Belannt- 
{haft mit den Koryphäen der Pädagogik zur rechten Zeit im Lichte des 
Chriſtenthums vermitteln und dadurch zugleih auf auſchaulicher Grundlage 
eine Erziehungslehre bauen, deren Theorie durch die Macht des Beifpiels 
unterftügt wird. Der katholiſche Lehrerftand wird durch pädagogifche Lebens: 
bilder, wie ih fie zu liefern bemüht geweſen bin, aud feine Kirche noch 
inniger lieben und noch richtiger beurtheilen lernen. Er wirb ja erfennen, 
daß diefe Kirche niemals das Wort des Herrn vergeflen hat: „Yaflet bie 
Kleinen zu mir kommen!“ daß fie niemals fich wirklichen Fortſchritten ver: 
fhloffen, fondern nur alle Lehren und Bewegungen abgewehrt hat, melde 
auf Enthriftlihung der Jugend ausgingen. Es wird ihm namentlich aud 
flar werben, daß die Kirche fich ſtets bemühte, Unterricht und Erziehung in's 
richtige Verhältniß zu fegen, und daß fie deshalb niemals die legtere aus 
dem Auge ließ. Gerade viefer Zwed hat mich auch befonvers zur Abfafjung 
des vorliegenden Werkes bewogen und mir bie bamit verbundene Mühe 
erleichtert.“ 

Wir haben dieſe ausführlichen Angaben hierher gejegt, weil Kellner’s 
Bud, wie er felbft fagt, auf den Gebiere der Fatholifchen Pädagogik der erfte 
Verſuch diefer Art ift. Das Befte in der Arbeit verbanft Kellner proteftantifchen 
Geſchichtsſchreibern, ift aber vielfah in den Fehler, den er proteftantifchen 
Geſchichtsſchreibern macht, verfallen, daß er nämlich Pädagogen anderer Kirchen 
geringihägig behandelt. Kine Perfönlichleit wie Luther zu begreifen, ijt er 
nit im Stande gewejen. Er hat von ihm eine Karrifatur gegeben. So 
wird auch an andern Stellen die hiftorifhe Treue vermift. Aus der vor- 
hriftlihen Zeit hat er nur furze Skizzen gegeben, ausführlicher ift er ſchon 
im Mittelalter und befonders in der Neuzeit; den Schluß bifvet ein kurzer 
biftorifcher Rüdblid, der da8 Ergebniß zufammenfaffen fol. Die Erzählung 
ift fließend und lebendig, fo daß die Bilder wohl das Herz für die Schule 
erwärmen können. 

Auf proteftantifcher Seite entftand noch ewas früher eine „Geſchichte 
des deutſchen Volksſchulweſens“ von Dr. Heppe (4 Bände, Gotha 1858 
und 1859). Dr. Heppe in Marburg war zur Abfaffung dieſes Werkes auf 
folgende Weife gefommen, die er felbft fo erzählt: „Bor einer Reihe von Jahren 
ſuchte ih am vielen Orten nah handſchriftlichen Quellen zur Kirchengefchichte 
des fiebzehnten Jahrhunderts. Da fand ich unter Anderem eine Reihe von 
AUltenbänden, aus denen fih eine vollftändige Geſchichte des Dorfſchulweſens 
der (etwa 100 Pfarreien umfaffenden) kurheſſiſchen Diöcefe Allendorf vom 
Ende des jechszehnten bis zur Mitte des fiebzehnten Jahrhundert ergab. 
Ic verarbeitete den Inhalt dieſer Altenbände, ſah jedoch fehr bald ein, daß 
ih, um das Ganze in angemeffener Weije darftelen zu können, ſowohl in 
die frühere Zeit als in die fpätere Entwidelung des Boltsihulwefens bliden 
müßte. Ich arbeitete daher, indem ich alle mir zugänglichen gebrudten und 
bandjchriftlihen Quellen ausbeutete, eine Gefhichte des kurheſſiſchen Volks— 
Ihulwefens vor der Reformation bis in den Anfang diefes Jahrhunderts aus. 


17 


Über dazu mußte ich nothwendig auch die Geſchichte der jetzt mir Kurheſſen 
vereinigten, früher jelbftändigen Gebiete (Fulda und Hanau) miraufnehmen, 
und fehr bald wurde mir der Gegenftand, mit dem ich mid bejchäftigte, jo 
lieb, daß ich mich entſchloß, demfelben wo möglich in allen deutſchen Ländern 
nachzugehen. Denn ich jah ein, daß derſelbe noch niemals einer ernftlichen 
und umfafjenden biftorifhen Bearbeitung gewürdigt worden war, und taf 
derſelbe doch um feiner hoben Bedeuzung willen eine folhe Bearbeitung 
erheiſchte. Iſt doch vie Gefhichte des Volksſchulweſens in Deutſchland nidıe 
anderes, als die Geſchichte des allerwichtigften chriftlichen Eulturgebietes ! 
Die Wahrnehmung, die ich fehr häufig machte, daß jelbit jehr gebilvete 
Padagogen aud nicht eine Ahnung von dem wirklichen Urſprunge und von 
dem. gefchichtlihen Emtwidelungsgange der Bolksfchule hatten, fteigerte 
meinen Eifer für die Arbeit, die ich begonnen hatte.” Heppe behandelt im 
erften Bande nah einer furzen einleitenden Geſchichte des deutſchen Volks— 
ihulwefens im Allgemeinen die Gefchichte des Volksſchulweſens in Kurheſſen, 
im zweiten Bande die Gefchichte des Schulweiens in Hanau - Münzenberg, 
Fulda, Heflen- Darmftadt, Mainz und Worms, Rheinhefien, Wilrttemberg, 
im Rönigreih Sachen, in Sachſen-Gotha, Sahfen-Weimar-Eifenadh, Walded, 
im dritten Bande die des Schulweſens in Preußen, Rheinpreußen, Wittgen- 
fein, Miünfter, Paderborn, Weftfalen, Hannover, Braunfhweig, Naffau, 
Lippe» Detmold, Schaumburg=- Lippe, im vierten Bande die von Bayern, 
Würzburg, Nürnberg, Dettingen, Speier, Aſchaffenburg und Kegensburg, 
Baden, Medlenburg - Schwerin und Medlenburg - Strelig. Es fehlen alfo 
nur Oldenburg, Anhalt, Altenburg, Schwarzburg und Meiningen. Heppe 
bietet wur zuverläffiges Material zum Theil fehr jeltener Art, das er erft 
aus den Archiven gefammelt hat, zu dem allerdings bie Neuzeit noch mancherlei 
binzugefunven hat. Daffelbe ift auch gut verarbeitet, fo daß im Ganzen 
die Gefchichte des deutſchen Vollsſchulweſens hinreichend erleuchtet ift, wenn 
er aud wegen Mangels des Materials in der Geſchichte des einen Bandes 
mehr tie Seminare, in dem anderen mehr die Bolksihule, in dem einen 
mehr nah ven Schulorbnungen der verſchiedenen Perioden, in dem anderen 
mehr nad) ftariftifchen Ueberſichten das Schulweſen geſchildert hat. An dieſen 
Stellen hat die Quellenforfhung einzufegen, und fie hat ſchon zum heil 
ein reiches Material zu Tage gefördert, um auch die Geſchichte des Schul- 
weiens einzelner Territorien, einzelner Städte und einzelner Schulen genauer 
darzuſtellen. Man wirb daher auch da, wo man wünſchte, daß der Verfaſſer 
iechniſche Schulfragen eingehender berührt haben möchte, und die Vermuthung 
nahe liegt, daß er es wohl auf Grund der ihm vorliegenden Quellen habe 
{hun können, bemjelben, der nicht Pädagog von Fach ift, nicht zürnen, 
jondern ihm dankbar fein, daß er ald Quellen auffpürenver Hiftorifer ein 
bis dahin gänzlich vernachläſſigtes und von der wiffenihaftlihen Darftellung 
nicht gewürdigtes chriftliches Culturgebiet zum erften Male varzuftellen 
verjucht hat. 

Weil in der Bormann’ihen Schulkunde „das Stüdlen Geſchichte der 
Püdagogit“ gar zu dürftig behandelt war, unternahm es Aug. Droeje, 
für „meiterftrebende“ Lehrer in einem billigen Büchlein die wichtigften 
Perioden der Schule und ihrer Geſchichte, das Wichtigſte aus dem Leben 
Ihrer hervorragendſten Vertreier in gedrängter Kürze lei a ce 

Schumann, Die Gejhichte db. Pädagogik im Seminarunterridt. 3 


18 


Mas er aber in den „Pädagogiſchen Eharakterbildern“ bietet, find ftümper- 
bafte Auszüge voller Fehler mit feichtem Raifonnement, die nicht der Er- 
wähnung werth find. 

Viel mehr Beahtung verdienen die neben ten erwähnten Bearbeitungen 
der Gefhichte der Pädagogik im Ganzen bergehenven Specialforfhungen, 
welhe mannigfaltige und zum Theil recht ergiebige Früchte trugen. Wir 
erwähnen aus der großen Zahl nur:, Dr. U. Kapp, Platon’s Erziehungs- 
lehre ꝛc. Aus den Quellen dargeſtellt. Minden 1833. — Schubert, 
Bernard DOverberg. 1835. — Fehter, Thomas Platter und Felix Platter, 
zwei Autobiographien. Bafel 1840. — Strümpell, Die Pädagogik ver 
Philofophen Kant, Fichte, Herbart. Braumfchweig 1843. — Ausfeld, 
Chr. Gotth. Salzmann, Gründer der Erziehungsanftalt in Schnepfenthal. 
Stuttgart 1845. — Blohmann, Heinrih Peftalogzi, Züge aus bem 
Bilde feined Lebens und Wirkens. Leipzig 1846. — Chriftoffel, 
Peſtalozzi's Leben und Anfihten, aus feinen Schriften vargeftelt. Züri 
1846. — Dr. Zoller, Beftalogzi und Rouffeau. Frankfurt a. M. 1851. 
— Dr. Krauſe, Geihihte der Erziehung, des Unterrihts und ver 
Bildung bei den Griechen, Etrusfern und Römern. Halle 1851. — 
v. Wedderfop, Das Rauhe Haus, ein Bild aus der Zeit. Dibenburg 
1851. — Brüftlein, Luthers Einfluß auf das Volksſchulweſen und ven 
Neligionsunterridt. Iena 1852. — Ludwig, Grundſätze und Lehren 
vorzügliher Pädagogiker. Bayreuth, 2 Bände, 1853. — Weete, Er- 
ziehung und Unterricht bei den Römern bis zur Zeit der Kaiſerherrſchaft. 
1854. — GStolgenburg, Gefhihte des Bunzlauer Waiſenhauſes. 
Breslau 1854. — Palmer, Ueber neuteftamentlihe Pädagogik und iiber 
die Pädagogik der Kirchenväter in Bölter’s ſüddeutſchem Schulboten 1854. 
— Bodemann, Joh. Fr. Oberlin, Pfarrer im Steinthal. Stuttgart 
1855. — Löſchke, Balentin Trogendorf nad feinem Leben und Wirken. 
Zur Erinnerung an feinen Todestag, den 26. April 1856. Breslau 1856. 
— Ledderhoſe, Leben und Schriften des Magifter I. F. Flattich. 
Heidelberg 1856. — Clafſen, Jacob Michllus, Rector zu Frankfurt und 
Profeffor zu Heidelberg von 1524—1558 als Schulmann, Dichter und 
Gelehrter. Frankfurt 1859. — Dr. H. Heppe, Das Schulwejen des 
Mittelalters und deſſen Reform im jehszehnten Jahrhundert. Mit einem 
Abdrud von Bugenhagens Schulordnung der Stabt Lübeck. Marburg 1860. 
— 9. Diürre, Gefchichte der Gelehrtenfhulen zu Braunfchweig. Erſte 
Abtheilung. Vom 11. Jahrhundert bis zum Jahre 1671. Braunſchweig 
1861. — Sad, Geſchichte der Schulen zu Braunfchweig von ihrer Ent- 
ftehbung an und bie Verhältniſſe ver Stadt in verſchiedenen Jahrhunderten. 
Braunſchweig 1861. — Pilz, Duintilianus. Ein Lehrerleben aus ber 
römifhen Kaiferzeit. Leipzig 1863. — Dr. ©. Weider, Das Schul«- 
weſen der Jeſuiten nad ven Orbensgefegen. Halle, Waifenhaus 1863. — 
Außerdem erfchienen in U. Schmid's Enchycelopädie des gefammten 
Erziehungs» und Unterrichtsweiens feit 1859 (Gotha) eine Reihe trefflich 
gearbeiteter Biographien von Schulmännern :c., und Reinh. Bormbaum 
gab in drei Bänden (Gütersloh 1860— 1864) die evangeliihden Schul- 
ordnungen des fechözehnten, fiebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts 
gefammelt heraus, um die Schule fi auf ihre Geſchichte befinnen zu laffen 


19 


und die vergeffenen Quellen der evangelifhen Schulgefhichte, wie fie im 
ver Schulgefeggebung als bie erfte und wichtigſte gegeben ift, aufs Neue zu 
erihließen, weil er der Ueberzeugung ift, „daß eine erjprießliche Löſung ber 
Shulfrage nur durch befonnene Berüdfihtigung der gefhichtlihen Continuität 
möglih iſt“. Er hat fih mit feiner forgfältigen Arbeit ven Dank aller 
Schulmänner verbient. 

Dies waren im Wefentlihen auf dem Gebiete der Geſchichte der 
Pädagogik die Vorarbeiten, als e8 Karl Schmidt unternahm, eine voll- 
fändige Gefhichte der Pädagogik zu fchreiben. Sie erfhien in Cöthen in 
vier Bänden von 1860 —1863 unter dem Titel: „Geſchichte der Pädagogik, 
dargeftellt in mweltgefchichtlicher Entwidelung und im organifhen Zufammen- 
bange mit dem ulturleben ver Völker.“ K. Schmidt war für eine glüd- 
lie Köjung der Aufgabe, foweit fie damals überhaupt bei den bo im 
Ganzen nody immer mangelhaften Vorarbeiten gelingen konnte, in mancher 
Hinfiht wohl ausgeftattet. Er hatte in Halle Theologie ftndirt, hatte fich 
fleißig mit der Philofophie befhäftigt, die er „zum Kampfe gegen Satzung 
und Formelweſen“ für die Aufgabe feines Lebens zur Führerin ermählte, 
war feit 1850 Lehrer am Gymnaſium zu Cöthen und hatte jo Gelegenheit, 
in feinem Berufe praktifhe Erfahrungen zu fammeln. Er hatte bereits 
1854 in dem Buche der Erziehung, 1856 in den Briefen an eine Mutter 
über Leibes - und Geifteserziehung ihrer Kinder, 1857 in feiner Gymnaſial⸗ 
pädagogif ſeine theoretiſchen Anfichten niedergelegt und fuchte nun eine Be— 
gründung berjelben in der Geſchichte der Pädagogik. In kaum fehs Jahren 
hat er diefelbe in vier Bänden herausgegeben, darum zeigten fi in ders 
jelben trog der großen Arbeitskraft des Verfaſſers, troß der geiftigen Ge— 
wanbtheit umd lebendigen Darftellung, mit welcher er die große Maſſe des 
freilich meift aus zweiter Hand gefhöpften Materiald zufammengebradt, 
überfichtlich geordnet, ſyſtematiſch verarbeitet und auch geiſtreich behandelt 
hat, große Mängel. Sehen wir aber zunädft, wie Schmidt die Aufgabe 
der Gefhichte der Pädagogik aufgefaft hat. — Gottes Weſen lebt im Ad, 
und im ber Menfchheit offenbart es fih als die Vernunft, Schönheit und 
Sittlichkeit. Die Herrichaft dieſer idealen Mächte aud in der Menjchenmwelt 
ft das Biel, wonach die Menſchheit ringe. Die Gefchichte gibt Zeugniß 
von all den Anläufen und Bewegungen, weldhe unfer Geſchlecht nad dieſem 
Ziele hin gemadt hat, und von dem Fortſchritte, weldher auf dem Wege 
fetiger Entwidelung bereits gethan if. Im der Entwidelung zeigt ſich 
das Geheimniß des Lebend, welches die Geſchichte dem Leben abzulaufchen 
bat. In der Entwidelung fchreitet die Menjchheit vom Einfahen zum Zu- 
fammengefegten, "vom Unbemwußtfein zum Bemwußtjein, von der Formlofigkeit 
zur Schönheit, von der Naturnothwendigfeit und von der Naturreinheit des 
natürlichen und geiftigen Lebens durdy den Bruch zwiſchen Natur und Getjt 
hindurch zur bewußten Berfühnung von Nothwendigfeit und Freiheit, zur 
Seiftesfreiheit fort. Diefer Fortſchritt in der Geſchichte ift immer ficht- 
barere, börbarere, fühlbarere Verleiblihung Gottes in der Menjchheit, in ber 
e8 feine Wiederholung und feinen Rüchkſchritt gibt; denn wohl das einzelne 
Bolt fchreitet ſcheinbar zurüd, aber die Menfchheit geht dabei vorwärts zu 
und in neuen Bölferkreifen, die in ihrem Anfange im Bergleih mit ber 
eben vollendeten untergegangenen elementarer und unvolltommener erſcheinen, 

2* 


20 
in ihrem Fortgange aber eine höhere Entwidelungsftufe einnehmen. So ift 
die MWeltgefhichte die Geſchichte des fich entwideluden Menſchheitsgeiſtes, 
deſſen Entwidelungsweife dieſelbe ift, wie die des einzelnen Menſchengeiſtes, 
fie bat daſſelbe Gefeß, weil benfelben Gottesgevanten, bat auch wie ber 
einzelne Menſch ihre Lebens- und Entwidelungsftufen. Die orientaliſchen 
Völker find das Kind in der Menſchheit, das noch nicht ſich felbft, ſondern 
feiner Umgebung angehört. Aber das Kind wird in der Eutwidelung frei 
von der Außenwelt und mißt nun die Welt als Yüngling nah Idealen 
und fucht das, was biefen Idealen in der wirklichen Welt nicht entfpridt, 
nieberzufämpfen und ihm ven Stempel feines eigenen Daſeins aufzubrüden. 
Dies Yünglingsalter der Menſchheitsgeſchichte repräfentirt das claffiiche 
Alterthum. Dann fommt der Jüngling zum Bewußtfein, daß er nur mit 
fich felbft zur Harmonie gelangt, wenn er fih in Harmonie mit der Außen- 
welt ftellt: ber Mann, der in harmoniſches Wechfelverhälmiß mit ber 
äußeren Welt tritt, ift in der Weltgefhichte der Chriſt. Nun aber ent 
widelt fih vie Menjchheit in Individuen und Völkern, melde ihre Organe 
find, mittelft derer fie im Laufe der Zeiten ihr göttlihes Leben offenbart 
als im Idealbildungen, die fie aber der Größe ihrer Anlage und ver 
Tendenz ihrer inbividuellen Geftaltung gemäß nad längerer oder kürzerer 
Dauer abwirft, doch nur, um fie als Unfterblihe in ihrem Tempel aufzu- 
ftellen, in der Wirklichkeit aber neue zu Trägern ihrer Idee zu ſchaffen unt 
durch diefe immer mehr.ihrem ewigen Ziele, der VBerwirflihung des Reiches 
Gottes auf Erben zuzueilen. Die Gefhichtfchreibung hat diefe Entwidelung 
der Menſchheit auf ihren verjchievenen Stufen, wie fie ſich mittelft ver 
Bölfer und Individuen offenbart hat, zu charafterifiren. Die, Gejchicht- 
ihreibung joll alfo zum allgemeinen Bewußtfein erheben, was geſchehen ift. 
Sie hat demnach zu zeigen, wie bie Gejchichte zu immer höherer Boll- 
fommenheit emporgeftiegen tft, bloß zu legen die Urſachen, welche das Empor- 
blühen und den lintergang der Völker bedingten, und damit bie Welt- 
gefhihte als das Weltgericht, auch als das Gericht des eigenen Selbft dar- 
zuftellen. Der menſchliche Geift hat jedoch, obſchon ein rüdwärts gewandter 
Prophet, bisher noch nicht alle Entwidelungstnoten, in denen die Menfchbeit 
bis heute aufwärts gegangen ift, zu entwirren vermocht. Und darum ift 
die Geihichtsichreibung nichts mehr ala, wie Ariftoteles jagt, die Erzählung 
von dem Erforfchten, das fie, ohne vom außen hineingetragene Brincipien dem 
Gange der Menfchheit gemäß verknüpft, um barin und dadurch die welt- 
geihichtlihe Entwidelung aufzumeifen. Die Gefege ver Geſchichte im Al- 
gemeinen find auch die Gefete in der Geſchichte der Pädagogik; denn die 
Aufgabe der Erziehung ift &8, den werdenden Menfhen, ven Mikrokosmos, 
demfelben Ziele entgegenzuführen, dem der Makrokosmos der Menfchheit 
zueilt. Mit ver Entwidelung des Einzelmenfhen entwidelt bie Erziehung 
zugleich da8 Volk, da dies nur diejenige Entwidelungsftufe einnehmen kann, 
auf der feine Gliever, die Einzelmenfhen, ftehen. Und mit der Ente 
widelung des Volkes entwidelt vie Pädagogik zugleich die Menjchheit, deren 
Organe Einzelmenfhen und Cinzelvölfer find. Aber umgekehrt hängt auch 
die Entwidelung des Einzelmenfchen von der Entwidelungsftufe feines Volks, 
wie von ber Entwidelungsftufe ver Menfchheit ab, auf der das BVolf ftebt. 
Die Pädagogik und ihre Entwidelung ift deshalb aufs innigfte mit ber 


21 





Bollscultur im Allgemeinen verknüpft; denn der Menſch kann anderen 
nihts anderes geben, als was er felbft befitt, und fo kann er auch die 
herauwachſende Generation nach feinen anderen Grundſätzen und zu feinem 
anderen Ziele erziehen, als zu dem, was er für das Hödjfte hält. Die 
Erziehung ſchreitet mit der Eultur der Völker fort, und deshalb zeigen in 
der Erziehung die Völker, bis zu welcher Stufe der Eultur fie fortgefchritten 
find. Ein Boll will, wie der einzelne Erzieher, in feiner Erziehung bie zu 
erziebenden Glieder zu dem machen, was es felbft für ſich geworben ift; 
es wiederholt alfo feine eigene Entwidelung in ber Erziehung feiner Nach— 
lommen, und dieſen wird durch die Erziehung unmittelbar gegeben, was das 
Volt durch feine geſchichtliche Entwidelung erreiht. Durch pie Erziehung 
vermittelt das Bolf fein Beftehen und feine Entwidelung. So ift die Er- 
jiehbung abbängig vom Leben unb feiner Entwidelung und doch wieber 
Erzeugerin neuen Lebens und neuer Entwidelung. 

Die Geſchichte der Pädagogik, welche die Entwidelung des Menfchen- 
geſchlechts und die darauf bafirte Erziehung von den älteften Zeiten bis 
zur Öegenwart barftellen will, muß alfo mit der Geſammtgeſchichte der 
Menfchheit zugleich betrachtet werden und hat dieſe zu ihrem Hintergrunde. 
Beientlihe Aufgabe der Gefchichte der Pädagogik ift e8, nachzuſpüren, wie 
weit umd wie deutlich ſich die Idee ber Menſchheit in dem jevesmaligen 
Zeitbewußtſein wiederjpiegelt. Sie muß deshalb die organifche Entwidelung 
der Erziehungstunft und die fortfchreitende Entfaltung der pädagogiſchen 
Nee im Laufe der Zeiten nachweiſen und daher darftellen, was die Erziehung 
zu jeder Zeit in der Erjcheinung war und was fie ihrem Weſen nad fein 
jollte, fo daß fie alfo die praktiſche und die theoretiſche Entwidelung ver 
Pädagogik in der, Weltgefchichte zum zeigen bat. Sie hat aber audy dieſe 
Entwidelung innerhalb ver einzelnen Völker zu charafterifiren, fo daß fie 
die Erziehung im Kinpheits-, Jünglings-, Mannes- und Oreifenalter des 
Voltes jhildern muß. Die Entwidelung eines Volkes geht von der Praris 
zur Theorie, von der That zum Gedanken. Je mehr ein Volk ſich auslebt, 
um fo theoretiſcher wird es, um fo mehr auch tritt ber Unterricht, ber 
früher nur Moment der Erziehung war, felbftändig auf, und um fo mehr 
wird die Erziehung nur Moment des Unterrihts. Der Geihichtichreiber 
der Pädagogik ſucht das Erziehungsmweien der bisherigen hiſtoriſchen Völker 
zu erforfhen und im dem Erforſchten den Fortgang ber Erziehungsibee 
in der Menjhheit nadyzuweifen, fowie zu zeigen, wie in jedem Volke vie 
see der Erziehung zum Bewußtſein gefommen ift, weldes Bildungsiveal 
das Volk hatte, wie es das Weſen und den Zweck der Erziehung auffante, 
durch welche Mittel e8 fein Ideal zu verwirklichen ftrebte und wie es biejes 
Ideal in der Wirklichkeit erreichte. Diefe feine Aufgabe löft er ethnographiſch, 
wo die Völker von einander abgeſchieden find und demnach die Erziehung 
mehr volksthümlich ift; fo im der vorchriftlihen Zeit. In der Epoche ber 
Hriftlihen vorreformaterifhen Pädagogik hingegen wird die Darftellung der 
Geihichte, da die Völker und Staaten in diefer Zeit und alſo aud ihre 
Erziehung auf einerlei Grundlage ruhen, chronologiſch auftreten, und im 
reformatoxiſchen und ven ihm folgenden Zeitalter Erhnographie und Synchronis⸗ 
mus zu vereinigen fireben, indem bie Bölfer und Staaten der Neuzeit unter 
einander jelbftäntig find, aber von gleichen geiftigen Einflüffen berührt und 


22 

von übereinftimmenden Bildungsrihtungen geleitet werden. — Aus dem 
Weſen der Geſchichte der Pädagogik folgt ihr Werth. Wer da weiß, daß 
die Gegenwart nur das Refultat der Vergangenheit ift, daß alfo nur ver 
die Gegenwart wahrhaft fennt, der ihre VBorausfegung, ihre Bafis erforfcht 
bat, der wirb auch verftehen, daß nur der einen wirfliben Einblid in vie 
Aufgaben der Erziehung der Gegenwart hat, und daß nur der allein ven 
Sclüfjel zur Löfung diefer Aufgaben befigt, der den bisherigen Gang ver 
Geſchichte der Erziehung durhforfht und ihre warnende, belehrende und 
erleuchtende Stimme gehört hat. In der Gefchichte badet fi ber Menſch 
geiftig gefund und verjängt fein Leben; fie lehrt ihn, fein Leben zu ge- 
winnen durch eine energifche Entfaltung feines individuellen Dafeins ; fie 
ermuntert ihn aber auch, e8 hinzugeben für das Ganze, und durch edles, 
aufopferungsfähiges Schaffen und Wirken fein Scherflein niederzulegen auf 
dem Altare der Menfchheit, von der der Einzelmenſch feine höchſten Schätze 
empfängt. Und fie ift ihm zugleih die Schule, in der er die Wiſſenſchaft 
der Pädagogik lernt. Nur der wird in der Gegenwart am beften wiffen, 
was er in der Erziehung will und was er fann, der beobachtet und gelernt 
bat, was zu leiften möglih ift: das aber lernt und erfährt er durch das 
Studium deſſen, was in der Erziehung geleiftet und was darin gedacht ift. 
Nur der kennt das Weien und den Werth der Erziehung, der ver Ent- 
widelung ber Erziehungsidee im Laufe der Jahrhunderte nachgegangen ift. 
Nur der endlih kann die wahrhafte Wiffenfhaft der Pädagogik der Gegen- 
wart verftehen und ſelbſtſchöpferiſch im ihr auftreten, der ſich in die Geſchichte 
der Pädagogik eingelebt hat. Die Wiflenfhaft ver Pädagogik ift ohne bie 
Gefhichte der Pädagogik im Gebäude ohne Fundament. Die Gefhichte der 
Pädagogik ift felbfi das vollenverfte und objectivfte wiffenfhaftlihe Syftem 
der Päpdagogil. : 

Sp weit zunächſt Schmitt. Zuerft fällt der Anklang an den Pantheis- 
mus auf, der fi gleich von vorn herein fühlbar macht; dagegen hat er 
richtig erfannt, daß nad Ariftoteles die Gefhichtfchreibung nichts mehr fein 
fol, als die Erzählung von dem Erforſchten, weldes fie ohne von außen 
bineingerragene Principien, vem Gange der Gefhichte folgend, zu verknüpfen 
hat, um daburd die weltgefhichtlihe Entwidelung nachzuweiſen. Wir können 
aber ſchon bier und noch viel mehr in der fpäteren Ausführung fehen, daß 
ſowohl in der Auffaffung als auch in ver Erzählung der Berfafler nicht 
ruhig und unbefangen genug in die Fülle der einzelnen Erfheinungen ein- 
gegangen ift, daß er auch, abgefehen davon, daß von felbftändig Erforjchtem 
wenig in dem Buche die Rede fein kann, gar nicht aus der unbefangenen 
und überfichtlih vorgetragenen Geſchichte das Endreſultat ſich von felbit 
berausgeftalten läßt, wie e8 doch namentlih nad den Gefegen der Didaktik 
auf dem Gebiete der Gefhichte der Pädagogik gejhehen müßte. Er bat 
dagegen überall einen Schemarismus in philofophifher Weife a priori con« 
ftruirt und in denfelben die Sahen hineingezwängt, und zwar oft mit großer 
Gewalt, jo daß das gefchichtlihe Material öfter in verkehrte, wenigftens 
willkürliche Stellung tritt und einen ganz anderen Werth und eine ganz 
andere Bedeutung im Einzelnen erhält, als es bei unbefangener, nicht im 
Voraus philofophifh conftruirter Gefhichtserzählung erhalten würte Schon 
hierin zeigt fit) das Bedenkliche der Schematifirung. Aber die philofopbifche 


23 


Rihtung des Verfaflers zeigt fih nod in einer anderen viel bevenkliheren 
Beife. Der lebendige Gott erſcheint als eine bloße Abftraction, vom 
Chriftenthum bleibt, wenn man die hriftlic klingenden Ausdrüde u. ſ. w. 
auf ihren wahren Gehalt prüft, faum mehr als ein feinerer Pantheismus 
übrig. Das Ziel und die Höhe der bisherigen Entwidelung der Geſchichte 
der Pädagogik ift nad dem Verfaſſer die anthropologifhe Pädagogik, welche, 
wie wir in der Einleitung jehen, den Menſchen als die organifche Einheit 
ven Natur und Geift, als den Repräfentanten der Welt betrachtet, der ſich 
durch verfchiedene Stufen bis zum felbftbewußten Wejen emporgearbeiter hat und 
auf diefem Wege in immer verfchievenen Welten und Beziehungen (Familie, 
Nation, Menfchheit) auftritt und nahher aus dem telluriihen Dafein in 
das kosmiſche, aus der Zeit in die Ewigkeit eintritt. Dauach ift das 
formale Princip der Pädagogik die Entwidelung, welde die materiellen Er- 
ziehungsprincipien der Individualität, Nationalität und Humanität, die Ideale 
ver harmonifhen Entfaltung ver Oeiftesfräfte, die Religiofität, Eittlichkeit 
und Schönheit, welche in der Idee der Gottähnlichkeit vereinigt find, aus— 
bildet und geiftig im Denken die Wahrheit, im Wollen die Freiheit und im 
Fühlen die Liebe harmonifh entwidelt. Diefe Anjhauung beherrſcht das 
Bud, fo dag das Chriftenthum zu einer philofophifhen Idee verflüchtigt, 
und darum auch in feiner weltgeſchichtlichen Bedeutung und Entwidelung nicht 
verſtanden wird. Im dieſem Sinne wird daher, wo der wahre Chriften- 
glaube auftritt, derfelbe meift als orthodor, confeffionell, reactionär verfegert 
und geächtet, weil er das Chriftenthum nicht im Sinne des Verfaſſers auf: 
faßt. Es ift darum, wenn auch das Buch ein chriſtliches Gewand trägt, 
Vorfiht nöthig bei der Prüfung der Urtheile und Folgerungen, welche der 
Berfaffer zieht. Jedenfalls fruchtbarer würde der Gedanke der Entwidelung 
fih entfaltet haben, wenn der Berfaffer ohne vom Syftem auszugehen, bie 
Thatſachen erft unbefangen erzählt, fie auf das Moment der Wahrheit, das 
in ihnen ſich geltend machte, geprüft und jo fort die Bewegung der Geſchichte 
aus der Bewegung der gegen einander auftretenden Gegenfäge zu begreifen 
gefuht und endlich die Refultate viefer Bewegung in Fleineren und größeren 
Zeiträumen, bei den einzelnen Perfönlichkeiten, bei den Völkern und endlich 
aus dem bisher Erforfhten der ganzen Menſchheitsgeſchichte gezogen hätte. 
Damit haben wir natürlich nicht den Berfaffer etwa abfihtliher Täuſchungen 
in Betreff ver gefchichtlihen Thatſachen zeihen wollen, fondern es jollte nur 
nachgewieſen werden, wie er vom philofophifdhen Syftem gehalten, mandes 
nit mit der nöthigen Unbefangenheit beurtheilen konnte. 

Es wird das Alles noch mehr zu Zage treten, wenn wir ihm in das 
Einzelne bei dem Gange feiner Geſchichte folgen. „Die Gefhichte der Päda— 
gogit theilt mit der Gefchichte der Menfchheit im Allgemeinen biefelben 
Entwidelungsepohen. Die Idee des Gottmenjhen ift der Mittelpunkt der 
Weltgeſchichte; auch der Geſchichte der Paãdagogil. Gott iſt Menſch geworden, 
damit der Menſch wie Gott werde: darin hat die Geſchichte der Menſchheit 
ihren Mittelpunkt, ihren Ruhepunkt ſowohl als ihren Strebepunkt. Der 
Gedanke des Gottmenſchen iſt das höchſte Ideal, die abſolute Idee, die zu 
erfaſſen die Menſchheit ſich zerarbeitete, bis ſie in Jeſus von Nazareth als 
Thatſache erſchien. Mit dem Erſcheinen des Gottmenſchen war das Streben 


aller vorchriſtlichen Zeit erfüllt. Und in der Verwirklichung der Idee ber 
Sottmenfhheit innerhalb der Einzelmenſchen, der Völker und der Menſchheit, 
bat alle nahchriftliche Zeit ihre Aufgabe.“ Darum durchlebt die Geſchichte 
ber Pädagogik, wie die Gefhichte der Menfchheit, vor Chriftus ihr Kindes— 
und Yünglingsalter ; denn die Völker führen meift ein Maturleben ; ihre 
Bildung ift naturwüchſig, und die Nationalität ift ihre natürliche Schrante, 
fo daß es vor Chriftus nur nationale Götter, nur nationale Menihen und 
nationale Erziehung gab. Mit Chriftus tritt die Menſchheit in ihr Mannes- 
alter ein. Der Nationalgott wird ein Gott der Menfchheit, die Meufchen 
als Kinder eines Baters im Himmel find Britder. Die Humanität beginnt, 
und die Erziehung trägt ihren Charakter. Die Weltepohe ber nationalen 
Erziehung vor Chriftus, vor der die geſchichtsloſen und halbgeſchichtlichen 
Völker liegen, die nur furz charakterifirt werben, gliedert der Berfaffer, indem er 
fih an Cramer anfchließt, veilen Schema er nur verfhärft, nach dem leiblid: 
geiftigen Leben der Bölfer, denen fie eignet, alfe: a) die jubftantielle Er- 
ziehung der orientalifhen Bölker. Chinefen, Inder, Perfer und Aegypter 
gehören in dieſen Kreis. Ber ihnen geht das Individuum in der Subftanz, 
in einem Allgemeinen unter, fo daß das Individuum nichts ift, der Menſch 
nur als Öattungseremplar unter der Autorität fteht. Ueber die Entwidelung 
der Auſchauung kommt die Erziehung nicht hinaus, und jo ift das Rind 
der Weltgejchichte, wie jedes Einzelfind, Epiker, verliert fi) in ber Welt ber 
Anihauung und unterwirft fi, weil es noch alles Sein außer fih hat, der 
äußern Autorität. Das Allgemeine, dem der Einzelne blindlings biemt, ift 
zuerfl die Familie Das erfte hiſtoriſche Bolt, vie Chinejen, find eine 
Familie Im Imbien ift der Einzelne durch die Geburt einer beftimmten 
Kafte zugetheilt und nur im ihr kann er ſich fein Leben hindurch bewegen. 
Die Erziehung ift in Indien erclufive Standeserziehung. Die Perfer er- 
faffen fih als ein Volk und ftellen fid als ſolches anderen Böltern gegen: 
über. Ihre Erziehung ift Staatserziehnuug und hat einen nationalen, volfs- 
tbiimlihen Charakter. Aegypten ift die Hand, mit der der Orient nad dem 
Dceident binübergreift. Im fih ift es die Hieroglyphe des aufwachenden 
Geiftes. Priefter und Krieger waren die herrfchennen Stände: bei ihnen 
fand aud nur eine Erziehung im eigentlihen Sinne ftatt, und der Priefter 
ift der Repräfentant der Bildung, der Priefter der alleinige Lehrer, die Er- 
ztehung eine priefterliche. — Diefe Glaffificirung kaun nur eben ein Berjud 
fein, denn mit der Hervorhebung dieſer Einzelheiten ift das. tieffinnige 
Weſen des Drients nicht gerade treffend bezeichnet. 

b) In ver individuellen Erziehung ver altclaffiihen Nationen befreit 
fi) der Jüngling der Menſchheit von der zerprüdenden Macht des objectiven 
Dafeins, indem er fic felbftändig demfelben gegenüberfegt. Das Individuum, 
im Triumphe feiner Subjecrivitär, betrachtet alle objectiven Mächte nur noch 
als feine Diener. So in Hellas und Rom. Für den Hellenen ift vie 
Ihöne, für den Römer die praktiſche Individualität Ideal, Zwed und Ziel 
des Denkens und Wollens. Diefe Individualität vermag fih jedoch meh 
nicht über die Naturbafis zu erheben, und an ihrer Nation bat fie ihre 
Grenze. — Die Schwähe dieſer Charakteriftif liegt namentlich in ver Be— 
fimmung von dem Gebundenfein an die Naturbafis, welches auch im ver 


25 


hriftlihen Bildung noch ftattfindet, da der Einzelne am vollfommenften im 
Schooße feiner Familie und in der Eigenthümlichkeit feines Volkes gedeihet 
und fi entfaltet, wie auch Schmidt anerkennt. 

e) In der theofratifchen Erziehung des Volles Israel, bei dem au, 
da fie fonft in dem Syftem feinen Plag finden fünnen, die Babylonier, 
Affyrer, Phönizier ꝛc. mit in der Kürze abgehandelt werben, geht der Ein- 
zelne in feinem Öott unter. — Es wird dabei anerkannt, daß dadurch Israel 
einzig unter den Völkern des Alterthums dafteht, aber es wirb nicht darauf 
bingewiejen, daß in der Gemeinfhaft mit Gott, für welde Israel als 
Bumdesvolk von Gott durd feine Heilsöfonomie bereitet und erzogen wurde, 
Anfang und Zielpunkt jeder Entwidelung des Einzelnen, der Völker und 
der ganzen Menſchheit gegeben ift, obgleih auch Schmidt als Ziel ver Eut— 
wicelung diefe Gemeinfhaft mit Gott aufftellt. Darin aber beficht gerade 
bie pofirtve Vorbereitung auf Chriftum in der alten Welt, und diefe Auf: 
gabe zu löſen ift gerade die einzigartige Stellung, die Israel in der Welt- 
geſchichte erhalten hat, während die Heidenvölfer fich jelbft überlaſſen auf 
negativem Wege zu demfelben Heil in Chrifto vorbereitet wurden uub nur 
in ben in Betracht auf diefen Cardinalpunkt mehr in der Peripherie liegenden 
Dingen (Wiffenfhaft, Philofophie ꝛc.) auch pofitiv vorbereitet worden find. 
Durch ſolche Auffafjung und Behandlung der Geſchichte Israels, wie fie 
die geſchichtlichen Thatſachen fordern, würbe auch die von Schmidt hervor— 
gehobene, unzweifelhafte Wahrheit mehr zu ihrem Rechte gelommen fein, daß 
Chriſtus der Mittelpunft der Weltgeſchichte, alſo auch ver Geſchichte ber 
Pädagogik ift. 

Nah Chriſtus, von deſſen „gottvoller“ Perſönlichkeit fih ein neues 
Prineip der Erziehung entwidelte, ftellt vie Erziehung „pie fi ihrer Weſens— 
und Xebensgemeinfhaft mit Gott inne gewordene Individualität an bie 
Spige, die Individualität, die in ihrer velfsthümlihen Sonderung feine 
Abtrennung von der Menfchheit findet, in ihrem Gehorfam gegen ven Willen 
Gottes nur die Forderung ihres eigenen Weſens erfüllt und der Wahrheit 
zu dienen, der Tugend nachzuleben und die Schönheit an fi felbft und 
feinem Birken barzuftellen tradtet*. Es beginnt alfo mit Chriftus bie 
„Weltepohe der humanen Erziehung, der menfchlich- indivinuellen Freiheit.“ 
Die Sittlikeit des Chriftenthyums baut fih auf der allgemeinen Menfchen- 
liebe ‚auf, bie in der Gotteskindſchaft aller Einzelmenjhen ihr Fundament 
bat. Dieje Weltepode ver humanen Erziehung, welche, indem fie ald Organ, 
mit dem fie Gott, Welt und Menſchheit erfaßt, die Bernunft hat, vie höchſte 
Harmonie der Geiftesfräfte befigt, je daß alfo die Höhe ver Entwidelung 
der Rationalismus wäre, theilt fi) im die Zeit der transfcendenten und in 
pie ber organifchen Erziehung, in die Periode vor und in die nad der Re— 
formation. Die Zeit vor der Reformation ift alſe die Zeit der Verftanpes- 
herrſchaft, welde im Gegenſatze zur Welt und ihrer Bildung die Erziehung 
für den Himmel unb die Geiftlicfeit betont und in ber mönchiſchen Er- 
ziehung ber orientalifden Kirche, fowie im der fcholaftifch » geiftlichen, ver 
abendländiſchen Kirche, auf dem von Chrifte gelegten Fundamente ein Ber: 
ftandesgebäude aufrichtet, das vor der Kritik der Vernunft nicht beſteht. 
Die Erziehung des Mittelalters ift abftract geiftig, „Ein todtes Spiel mit 
Begriffen, das fih nicht um den Inhalt kümmert, geiftverödenver Formalismus: 


26 
das ift das Weſen der mittelalterlihen Erziehung, deren Methode im firengen 
Nahahmen und Memoriren, ohne innere lebendige Betheiligung bes Lernen- 
den befteht, und die fih, analog der Entwidelung der Nationen und ber 
Religionen, in die mönchiſche der orientalifhen Kirche, im die geiftliche ber 
oceidentalifchen Kirche und in die Laienerziebung des Ritter- und Bürger: 
thums gliedert.“ — Ziemlich gewaltthätig wird aber nad dem erften liebe, 
nah der möndifhen Erziehung der orientalifhen Kirche, die des Muha— 
mebanismus eingefhoben ; denn die Araber find doch nicht vorzugsweiſe vie 
Vermittler des Oſtens mit dem Weften geweſen, und haben nur zum ge 
ringen Theile die Haffifhe Bildung bewahrt, wenn man damit das ver- 
gleicht, was das Mönchthum allein auf die fpäteren Zeiten des Mittelalters 
vererbt hat. — Im der riftlih-abendländifchen Bildung, die von Rom aus: 
geht, zeigt fih von vorn herein, auch im Mönchthum, vie Richtung aufs 
Praktifche, fo wirkte fie auf die Romanen. Mber die Aufgabe und vie 
Macht der occidentaliſchen Kirche und ihrer Wiffenfhaft und Kunft, ber 
Romantik, liegt in der Durchdringung des römischen Chriftentbums und ver 
germanifhen Imbivibualität. Dadurch erhielt die Religion ihr Gepräge, 
„daß fie die Welt als das Gott» und Geiftlofe fortftieß und ihren Belenner 
aus derfelben herans in bie reine Innerlichkeit des Geiftes bineinflüchtere. 
Darum ging das Streben des mittelalterlihen Chriften über die Wirklichkeit 
hinaus in ein transfcendentes Reich, in den jenfeitigen Himmel, und um 
die Sehnſucht nad diefem Reiche drehte fih alles Denken, Fühlen und 
Thun“. Im diefem Streben nah dem Moftifh-Symbolifhen hat auch bie 
Romantik ihre Grundlage Sie war fubjectiv geiftig im ©egenfag zur 
Clafficität des Alterthums mit feinem bewunderungswürbigen Gleichgewicht 
zwifhen der bildenden Kraft und dem zu geftaltenden Stoffe, und fie be 
berrfhhte das Denken und Thun aller abendländiſchen Nationen. Die Haupt: 
ſtadt diefes großen romantifhen Geifterreihs war Rom, von wo auß ber 
Papft, der Geifterfürft, mit feinen Beamten, den Geiftlihen, vie zugleich bie 
Geiftigen fein follten und waren, die Geiſterwelt beherrſchte. Chriftlicher, 
t. i. päpftliher Glaube und Iateinifhe Sprache, waren das Panier biefes 
Geifterreihes, der Hierarchie; „die Scholaftif aber war die Hanblangerin, 
welche innerhalb der von der Kirche überlieferten, unbedingt als wahr vor- 
ausgeſetzten Dogmen mit Hülfe platonifher und ariftotelifher Philoſophie 
denfen und in biefem SKreife ihre Gedankenkunſtſtückmachereien ausführen 
durfte”. Gemäß dem Charakter des germanifchen Volles wurbe zwar aud 
die Erziehung Standeserziehung, und der Nährftand erhielt durch Karl ven 
Großen aud feine Parochial- und Gemeindefchulen, die aber die Geiftlichen, 
der einzige Stand, der in Wahrheit Geltung und Bildung bejaß, bald 
fallen ließen. Diefe Geiftlichen, der Lehrftand, fanden ihre Bildung in ben 
Klofter- und Stiftsfhulen. In ihnen war die Zucht ftreng; die Unterrichte- 
gegenflände waren die fieben freien Künfte, die aber Dienerinnen der Haupt: 
wiffenfhaft, der Theologie, fein mußten. Das weltliche Wiffen war rein 
formel, „Das Weſen des Unterrichts war nicht freie Entwidelung, jondern 
leerer Formalismus, Gedähtmißfram, und das Weſen der Zucht war mit 
Gewöhnung zum fittlihen Thun, fondern zu äußerer Werkheiligteit. Aber 
doch war die occidentalifche Kirche mit ihrer Neigung zur Praris ein wejent- 
licher Fortfchritt gegen die mönchiſche Paffivität des Orient. Sie reprü- 


% 
% 


27 


fentirt in der Entwidelung der Gefchichte die Zucht, den Gehorfam im 
Denken und Thun, der die Vorbedingung aller Freiheit if. Zugleich war 
fie tie alleinige Bewahrerin der Wiffenfhaft und Kunft in ven Jahr— 
bunderten, wo das Abendland im Gährungsproceh lag.“ Aber die Geift- 
lihteitsficche des Mittelalter und ihre Erziehung war ein Ertrem, das in 
fein eigenes Gegentheil umſchlagen mußte, in dem die Innerlichkeit, vie Welt 
und Natur von fi wirft, ohme fie zu durchdringen, zu Weltlichkeit und 
Sinnlichkeit wurde, Der Geifterfürft wird weltliher Machthaber, das Inner- 
fichfte, der Glaube, wird das Aeußerliche, das Fürwahrhalten hiſtoriſcher 
Begebenheiten, die Klöfter, die Stätten der Entfagung werben Sitze der 
finnlichften Luft, die ©eiftlihen, die Kepräfentanten der Sitte und Zucht, 
treiben Hurerei. Da konnten die Schulen nicht gebeihen, und die Er— 
ziehung der Geiftlihen ging zu Grunde durch die Kreuzzüge, durd bie 
Schulen der Dominikaner und Franziskaner, die Univerfitäten und das 
Städteleben. Es bildete fih nah und nad durch ben neuen Geift im 
Yaientbume ein Gegenfag gegen die Geiftlihen, der ſich im der ritterlichen 
und bürgerlihen Erziehung von der Kirche frei machte und in der Myſtik 
das religiöfe Gefühl, das germaniſch ift, gegen den fcholaftifchen Verſtand, 
der von Rom kommt, in- den Kampf fchidte, aud in den großen Borläufern 
der Reformation zur fittlihen DOppofition gegen bie Unfittlichfeit der Hie- 
rarhie wurde, neue Erfindungen fhuf, neue Künfte entwidelte und bie 
Schule, fowie in den Univerfitäten die Wiffenfhaft von der Kirche zu be— 
freien fſuchte. Es bildete fih nun ein eigener Lehrftand, und durch bie 
claffifhen Studien wurde die Scholaftit überwunden. ine neue Zeit 
begann, die Periode der vernünftigen Erziehung, indem durd die Reformation 
der neue Geift den Sieg errang zuerft auf religiöfem Gebiete. Luther „ift 
die perfönliche Reaction des Gewiſſens gegen die Gewiſſenloſigkeit der 
Hierarchie. Dem Gefühl der mittelalterlihen Myftit, das in ihm lebendig 
wird, fügt er die Energie des Willens zu. An die Stelle der Außerlichen 
Dogmen tritt bei ihm der innerlihe Glaube, an die Stelle ver Werkheilig- 
keit die fittlihe That. Der freie perfönlide Menfh, ver fih auf vie 
Autonomie der Vernunft ftellt umd deſſen aus Gort geborenes Gewiflen in 
Religionsfahen als Autorität weder Clerifei noch Kaiferreih anerkennt, ift 
die Eroberung der Reformation. Die Reformation und ihr Zeitalter ift und 
ſucht die Einheit von der Objectivität des Alterthums und der Gubjectivität 
des Mittelalterd. Cie hebt den Gegenfag von Gott und Welt, Geift und 
Materie auf im der Idee vom organifhen Leben und verſöhnt fomit das 
Subject mit dem Object, fucht und findet überall die Einheit des Dafeins, 
die Einheit im Al.“ Denn vie Reformation in der Kirche ift nicht eine 
iofirte That des Geſchichtsgeiſtes. opernicus entdeckt das Sonnenſyſtem, 
Columbus findet die Unterwelt, Magelhaens zeigt die wahre Geftalt ver 
Erde, Bacon tritt als Herold der Naturwiflenfhaften auf, die Nationalitäten 
emancipiren ſich, die Königsmacht tritt hervor, und der Gegenfag von Kirche 
und Staat wird aufgehoben. So jest die Reformation den Ganz- und 
Vollmenſchen in feine Rechte ein und führt dadurch die eigentlihe Mannes- 
periode der Menfchheit herbei. Iſt der Charakter des Lebens im Altertum 
epifch, der des Lebens vor der Reformation lyriſch, fo könnte man den bes 
Lebens in der nachreformatorifhen Zeit dramatiih nennen. Der neue 


28 


reformatoriſche Geiſt tritt auch in der Erziehung auf. Sie umfaßt von nun 
an ale Stände und ſtrebt, jede Individualität auf dem Wege ber Ent- 
widelung, ven ihr von Gott gegebenen Anlagen gemäß, ihrem ewigen Ziele 
entgegenzuführen: fie ift die organiiche Erziehung. Diejelbe gliedert ſich 
aber in drei Perioden: im bie abftract chriftlichetheologifhe Erziehung , die 
den Chriften nod im Gegenfag zum Menſchen auffaßt, in vie abftract 
menſchliche Erziehung, die den Menfhen noch im Gegenfag zum Chriften 
ftellt, und im die hriftlih-humane Erziehung, welde die Einheit von Chrift 
und Menſch im Ideale der Gottähnlichkeit erfaßt und dieſe Einheit im ber 
Individualität zu entwideln ftrebt. 

Die Reformatoren erfirebten eine allgemeine Berbreitung gelehrter 
Bildung, um dadurch wiljenfchaftlihe Männer für kirchliche und weltliche 
Aemter zu erlangen, wollten aud für alle Volksklaſſen Schulen ſchaffen; fie 
fuchten aber auch, meil fie in ver Schule die Stüge ihres reformatorijchen 
Strebens jahen, diefelbe wiederum zur firhlihen Anftalt zu machen, weshalb 
fie den Unterriht im Chriftentbum als Hauptaufgabe ver Schule hinftellten. — 
Das Letztere trifft aber wenigftens bei den höheren Schulen nicht zu. — Diele 
Anknüpfung der Schule an die Kirche war in den Augen der KReformatoren 
eine nothwendige Forderung zum Siege des Fortſchritts, mad den Refor— 
matoren in den Händen der Buchſtabenmänner eine Waffe zur Kmechtung 
der freien Entwidelung in der Schule, jo daß fie noch einmal den harten 
eg der Scholaftif durdarbeiten mußte. Diefe Entwidelung machte ber 
Proteftantismus wie der Katholicismus duch, in welchem durch die Refor- 
mation ein nenes Leben erwachte, das fi) aud der Schulen bemäcdhtigte, um 
der Bildung und Gelehrſamkeit der Proteftanten nicht nachzuſtehen. So 
ftellt fi eine abftract chriftlich » theologijche Erziehung und zwar zuerft als 
Hierarchismus dar, der im Katholicismus als Jeſuitisomus und im Pro: 
teftantismus als Orthodoxie auftritt, welcher durch die vom breißigjährigen 
Kriege erzeugte leiblihe und geiftige Barbarei begünftigt wird. Der Hie 
rarchismus wiederholt die jcholaftiihe Erziehung, indem er nicht Sachen, 
fondern Worte, nicht Wahrheiten, jondern Formeln, überhaupt abjtracte 
Frömmigkeit und Zungenfertigfeit als Ziel aufftellt. Erziehung und Unter- 
riht beftehen in Gerähtniß- und Formelkram. „Und doch ift vie bie 
rarchiſche Erziehung ein nothwendiges Moment nicht allein in der Ent- 
widelung der Erziehung überhaupt, ſondern auch der erfte, wenn auch nod 
rohe Anfang der heutigen Erziehung, Es war die Zucht des Geiftes, die 
bier geübt, die Entfagung des fubjectiven Dünkels, worauf bingenrbeitet 
werben follte, und was erft niedergemacht werben mußte, ehe die Vernunft 
des Menſchen von ihrem Hoheitsrechte Gebraudy machen konnte. Zugleid 
waren bie erften Schritte zu einer wirklichen Organifation des Schulweſens 
geihau.“ Aber die einfeitige Verſtändigkeit ruft. bie eben fo einfeitige Ge— 
fühlefeligfeit, der Hierarchismus den Pietiömus, die Orthoporie den Pietismus 
Speners, der Jeſuitismus den Janſenismus hervor. Dieſe beiden vertraten 
der Buchftabenorthodorie und äußeren Autorität gegenüber das Gefühlsleben 
und zogen das objectiv Göttliche in das Subject herein, vernichteten aber 
dafür das Individuum, verbammten bie weltliche Bildung. uud Gelehrſamleit 


und hatten eine Scheu vor dem auf wahrhaft concreter Sittlichkeit ruhen- 
den Leben. 


29 





Selbftändig neben ber einfeitig hriftlich = theologifchen Erziehung begründete 
fih im 16. und 17. Jahrhundert eine Erziehungstheorie, welche im Keim 
die ganze neuere Entwidelung des Erziehungs- umd Unterrichtsweſens in 
fih enthält und die darum wefentlih zum Wortfchritt über die abftract 
theologische Erziehung hinaus beigetragen hat (Val. Trogendorf (? !) Joh. 
Sturm (? !), Ratich, Comenius, John Lode, Cartefins, Baco, die Deiften, 
Spingza, Leibnitz, die Auftlarung). Sie proclamirte die abſtract menſchliche 
Erziehung, die ihr Weſen in dem Kampfe gegen die abftract chriſtlich— 
theologische Erziehung hatte. Als Methode wurbe vorgefchrieben : Anfhauung, 
Fortfhritt vom Leichten zum Schweren, Bildung des Gedächtniſſes und 
Bildimg für's Leben. „Die Schule ftrebte Selbftzwed, felbftändig und Organ 
des Staatöganzen zu werben, und Humanismus und Realismus judten fie 
diefem Ziele entgegenzuführen, indem fie, unter fich jelbft wieder Gegenfäge, 
das Individuum von der todten Scholaftif des Hierardismus und von ber 
Gefühlsſchwelgerei des Pietismus befreien wollten, damit aber in das andere 
Ertrem fielen und eine rein weltlihe Erziehung, die alles fpecififch Chriftliche 
von ſich weißt, erzielten. Der Humanismus (Cellarius, Gesner, Heyne, 
Ernefti, F. A. Wolf) fegte das Erlernen der lateinifhen und griechiſchen 
Sprade als Zwed und ſucht durch Vertiefung in das klaſſiſche Alterthum 
und in die Denkmäler der antifen Kunft die rein menfhliche Gefinnung zu 
bilden und die Idee der Menſchheit im Individuum zu weden. Er hielt in 
DOppofition gegen den Realismus das formale Erziehungsprincip feſt und 
behauptete, daß es im Unterricht nicht auf Erwerbung pofitiver Kenutniſſe, 
fondern vorzüglich auf Uebung und Stärkung der geiſtigen Kraft ankomme. 
Statt jedoch den Zögling in das wahrhaft Menſchliche, d. i. in die Ent- 
widelung der Gefchichte einzuführen, macht er ihn nur in Griechenland und 
Rom beimifh, und ftatt feinen Geift wahrhaft zu emtwideln, madt er ihn, 
weil er der Gegenwart entfremder wird, unbehülflich, unpraftifc und urtheils- 
(08. Dagegen betont der Realismus die Gegenwart und jegt dem Humanis- 
mus gegenüber die Realien, d. i. die brauchbaren Kenntnife ver Mathematik, 
Phyſik, Geographie, Geſchichte und neueren Spraden als das Wefentliche 
des Unterrichts, indefi er der Orthodoxie und dem Pietismus gegenüber zeigt, 
daß der Erdmenſch nicht bios ven Weg zum Himmel zu wandern hat, ſondern 
and über die Erde gehen muß und aljo das irdifhe Dafein für ihn von 
Bedeutung und Werth ift. Zur Erziehung des ganzen individuellen Menſchen 
will der Realismus den Körper durch Gymnaſtik und Abhärtung flärken und 
den Geift durch Nachahmung der Natur gelegentlih, fpielend und dialogiſch, 
dem Worte die Anfhanung zufügend, entwideln. Stod und Ruthe werben 
ans der Schule verbannt. Nicht ſtlaviſcher Gehorfam, jondern Geſetzlichteit 
durch Vernunft fol ven Willen lenken. Der Zwed der Erziehung iſt die 
unmittelbare Praris und das Ziel über die Nationalität hinaus der reine 
Menfh. Dadurch aber wird die lebendige Individualität nicht weniger als 
im ‚Humanismus verflüchtigt, wie auch der Realismus mit feinem Ideal ber 
Naturwahrheit, das er in dem urfprünglichen Naturmenfhen (Rouſſeau) zu 
finden mwähnt, zu derſelben Abſtraction gelangt iſt, als der Humaniſt, der 
ſeinen Idealmenſchen im Griechenland und Rom ſuchte und fand. Die 
Philanthropen gehören hierher. Ihre Beſtrebungen haben das Schulweſen 
weiter entwickelt in katholiſchen und proteſtantiſchen Ländern, ſo daß ganz 


30 

neue Schulformen entftanden, die Unterrichtsfächer fih mehrten, und zur 
Bildung der Lehrer Seminare errichtet wurden. Im Gegenſatz zur hierarchiſchen 
und pietiftiihen Periode erhielt der Unterriht das Uebergewicht und warb 
die Erzielung von Einfiht das Hauptziel des Unterrichts, indeß die Zucht 
zur bloßen Schultisciplin herabſank. Die Volksſchule begann fi wieder 
von der Kirche zu emancipiren, und vie Regierungen fingen an, fie als 
Staatsanftalt zu betrachten. Aufflärung war, wie in ber Kirche, fo im ver 
Schule das Lofungswort geworden. 

„Die Aufklärung, die zur Aufflärerei ausartete und ohne hiftorifche 
Auffaffung den BVerftandespogmatismus proclamirte, der alles Leben durch das 
Entweder - Over des Verſtandes töbtete, ward durch die deutſche Philofophie, 
diefe großartige Geiſtesepoche aller Zeiten, nur vergleihbar mit dem Platoniſch- 
Ariftorelifhen Zeitalter, in ihre Schranfen gewiejen, inde die franzöfifce 
Freidenkerei unter dem blutigen Scheine der franzöjiihen Revolution in’s 
Gericht geführt ward. Deutſche Philofophie und franzöfifhe Revolution find 
die Örundfteine, auf denen die neueſte Zeit aufgebaut ift, und während jene 
die Freiheit des Geiftes in ber Wiffenfhaft proclamirte, räumte dieſe die 
Nefte des Feudal- und Ständeftaates weg und beantwortete mit den Waffen 
in ber Hand die Frage: „Was der dritte Stand* ſei. Und dieſer Geift, 
ber in beiden lebte und ber erkannt hat, daß das Göttliche der Welt und 
ver Menfhheit immanent ift, und daß man den Menfhen nicht heben 
ann, ohne das Göttliche mitzuheben, daß dem Menſchen das göttlihe Gejet 
in’8 Herz gejchrieben und daß aljo die Freiheit nichts Anderes ift als bie 
vollendete Herrſchaft des menjchlichen Geiftes ſelbſt“, dieſer Geift lebte in 
Leifing, Schiller, Goethe, Schleiermadher, Humboldt, Leverrier ꝛc. und bemächtigte 
fih aller Wiffenfhaften und dadurch ver Welt. Die Sorge für die Erziehung 
ift nun auch die Angelegenheit des Volkes geworden. Der Gegenfag des 
formalen und materiellen Erziehungsprincipsg, mit dem Humanismus und 
Realismus Fampfgerüftet ſich gegemüberftanden, ift durch Peftalozzi aufgehoben 
und zuglei wurde der Erziehung die Richtung anf die unteren Schichten 
der Gefellihaft gegeben, indeß der Humanismus nur auf die höhern Stände 
ih beſchränkte und der Realismus, fo fehr er auch darnach ftrebte, Bürger 
und Mel, Katholifen und Proteftanten in fih aufzunehmen, in feinen 
Erziehungsplänen dody nur auf vornehmere Familien berechnet war. Peſtalozzi 
ift in Wahrheit der Bater der Volkserziehung. Jedem Menfhen fol vie 
Möglichkeit zur Bildung und zur felbftändigen Erwerbsfähigkeit eröffnet 
werben: das ift feine Forderung. Sein Ideal eines menfhenwärdigen Dafeins 
ſucht er durch Bildung mittelft Form, Zahl und Sprade, fowie durch bie 
finnlihe Anfhaunng zu realifiren. Die Entwidelung des Menfhen wird 
von innen heraus verfucht. Auf viefem Boden von Peſtalozzi's Erziehung. 
principien bewegt ſich die neuere Volksſchule. Sie theilt deshalb alle Borzüge 
und alle Mängel Peſtalozzi's. Aufgabe ward, daß das Kind harmoniſch 
entwidelt, daß Anfchaulichkeit bei allen Unterrichtsgegenftänden angewendet, 
daß die freie Geiftestbätigfeit angeregt, daß in jeven Lehrgegenſtande ftufen- 
weis und ftetig fortgefchritten werde, und daß der Schüler Alles mit Bewußt- 
jein lerne und thue Die Zucht ift nur noch ein Äußeres Unterftügungs- 
mittel des Unterrichts. Die Volksſchule will nicht mehr Lehr- und Erziehungs- 
anftalt des Laudvolkes und der unteren bürgerlichen Stände fein; fie will und 


31 
fol die Orundfhule aller Stände und die nothwendige Bafis der allgemeinen 
Bildung werden. Die Gegenwart verlangt, daß alle Schulen Erziehungs: 
anftalten fein follen. Sie fordert mit Peftalogzi, daß der Unterricht nicht 
das Kennen, fondern das Erkennen betone; aber fie will aud, daß Das 
Schulleben den zu entwidelnden Menfhen nad allen Seiten hin erfaffe und 
bilde, nicht blos nach der geiftigen, ſondern aud nad der körperlichen bin. 
Sie will ferner nicht allein intellektuelle, ſondern auch Herzens- und Willens- 
bildung. Sie läßt den Unterrichtsftoff Mittel fein ; aber fie prüft ihn nichts— 
deftoweniger nad dem Werthe, welden er an fi bat, und will den Geijt 
nur durch das Allergediegenfte nähren und entwideln. Sie weiß endlich, daß 
der Meunſch fi entwidelt durch Affimilation und Production, betont daher 
nit minder die Ausführung des Eingejehenen, das Können, und ſucht auch 
das fchöpferifhe Element in dem Kinde anzuregen und zu entwideln. Diefe 
legtere Forderung hatte bereits ein Dann hervorgehoben, ver gleich Peftalozzi 
ein Herz für die Menſchheit hatte und darum fühlte, was der Erziehung 
noth that. Friedr. Froebel hat dem ABE ver Anfhauung von Peltalozzi 
das ABE des Thuns hinzugefügt. Die gelehrten Schulen entwideln ſich 
minder lebendig. Indeß verjuchte die neuefte Zeit no einmal im Bunde 
mit der kirchlichen Reaction die Abftraction durchzuſetzen, den Oymnafial: 
unterricht zur formalen Bildung zu ftempeln und die lateinijche und griechiſche 
Sprache (?) für die einzigen und ewigen Bildungsmittel zu halten. Doch 
ver Geift der Weltgeſchichte ift zu mächtig, ald daß einzelne Parteien der 
Bergangenheit feine Weiterentwidelung zu hemmen vermödten. Und ver 
Kampf zwiſchen Humanismus und Realismus, um den es fi hierbei 
weientlih handelt, wird dann erft beendet jein, wenn pas humaniftifche 
Oymnafium fein Centrum in der Geſchichte und in den diefelbe aufſchließenden 
Sprachen findet, indeß die Naturwiflenihaften in feiner Peripherie liegen, 
und wenn die jenem gleichgeftellte Realſchule ihren Mittelpunkt in den 
Naturwiſſenſchaften ergreift und ihre Peripherie mit der Geſchichte und ven 
Spraden füllt (8. Schmidt, Die Gymmafialpädagogif). Die Univerfitäten 
endlich bafiren in Deutſchland auf Lehr- und Hörfreiheit, indeß ihnen eine 
organifirte Disciplin fehlt, ein engherziger Kaftengeift in ihnen herrſcht, die 
theologiſche Facultät fih von dem Stamme des Wiffenfhaftsorganismus für 
den Augenblid loszutrennen ſcheint, und bei den Studenten ein hanbwerls- 
mäßiger Betrieb der Brotftudien ſich einfchleiht. Das überall im der Gegen- 
wart fümpfende Bor- und Rückwärts liegt aud bier im Kampfe; doch 
bewahren die deutſchen Univerfitäten noch die Höhe ber, Entwidlung. Ueber- 
haupt nimmt Deutihland, das Land der Gebanfen, den Höhepunft ver 
theoretiſchen und praftiihen Entwidelung in der Erziehung ein. Mit der 
Praxis geht die Theorie parallel, um mit ihrem Bildungsideal der Praris 
zum Leitftern zu dienen. Diefe Bildungsiveale aber find jo verjdieden, jo 
verſchieden der Boden ift, auf dem fie aufgebaut werden. Die Empirifer 
(Schwarz Eurtmann (?), Sailer, Arndt, Braubah, Dinter, Graefe (?), 
Diefterweg 2c) ſuchen aus ihren Anfhanungen (?) ſowie aus den Erfahrungen 
im Leben die Erziehungsidee zu beftimmen und die Theorie der Pädagogik 
zu begründen. Die Philofophen (Kant, Niemeyer (?), Stephani, Fichte, 
Nierdammer, Schopenhauer, Hegel, Rojenfranz, Schleiermacher :c) erjtreben eine 
wifienfchaftliche Behandlung der Erziehungslehre nach feften, aber verſchiedenen 


32 





Principien. Das fpecifiihe Weſen der Religion tritt im ihren Erziehungs- 
foftemen im den Hintergrund gegen die Sittlidfeit. Darum entſtand von 
thbeologifher Seite eine chriſtlich-theologiſche Pädagogik, deren 
Bertreter (Durfh, Palmer) innerhalb ihrer jpecififh orthoboren Syſteme 
conjequent find, aber Alles, was über diefe Syſteme hinausliegt, nicht begreifen 
und daher nur verdammen fünnen (? Palmer ?). Tiefer als die theologifchen 
Orthodoxen der Neuzeit griffen die Piychologen (Herbart, Benefe) in das 
Weſen der Erziehung ein. Aber „das innere Seelenleben ift in beſtändigem 
Fluſſe, und die innern geiftigen Zuftände laſſen fi weder willfürlih hervor- 
rufen, nod beliebig feithalten. Die Selbftbeobahtung entbehrt alſo durch 
diefe Unfaßbarkeit des innern Lebens, wie auch dadurch, daß fie immer nur 
die Beobahtung des bejtinmten Individuums mit beftimmter geiftiger 
Drganifation ift und alfo auch nur diefe zu beobachten vermag, des fichern 
rundes. Als weſentliche Ergänzung muß deshalb der Selbſtbeobachtung 
die Beobachtung von andern Menfchen hinzugefügt werden. Diefe Ergänzung 
führt die Anthropologie aus, die durd Selbft- und Menfchenbeobahtung 
die Phyfis und die Piyche des Menſchen zu erforfchen ftrebt und denfelben 
einerfeits als ein Glied im Weltganzen, anbererjeits als einen im fich jelb- 
ftändigen Organismus, als einen Mifrofosmos, erfennt. Auf dieſer Bafis 
ruht die anthropologifhe Pädagogik. Sie faht den Menſchen als die organifche 
Einheit von Natur und Geift, als Repräfentanten des Kosmos, der ſich durch 
alle Stufen der Thiermelt hindurch, vom Reptil an bis zum gottbewußten 
und felbftbemußten Weſen emporarbeitet und auf diefem Wege in immer 
verfchiedenere Welten und in immer mannigfaltigere und vielfältigere Beziehungen, 
zuerft in den Mutterfchooß, dann in den Familienkreis, hierauf in vie Nation, 
die Menſchheit, nachher aus dem tellurifhen Dafein in das fosmijche, aus der 
Zeit in die Emigfeit eintritt. Demgemäß fucht und erftrebt die anthropologiiche 
Pädagogik die Erziehung des ganzen Menichen, bie allgemeine Menichen- 
bildung, im Dienfte ver höchſten menfchheitlichen Intereffen und ftellt als ihr 
formale Princip die Entwidelung auf, indeh fie in ihrem materialen Princip 
die individuellen, nationalen und humaniftifhen Erziehungsprincipien, ſowie 
die Ideale der harmonifhen Entfaltung der Geiftesträfte, der Religiofitär, 
Sittlichkeit, Schönheit ꝛc. zufammenfaßt und im der Idee der Gottähnlichkeit 
vereint, womit fie eine harmoniſche Thätigfeit des Leibes- und Geifteslebens 
verlangt, geiftig aber im Denken vie Wahrheit, im Wollen die Freiheit und im 
Fühlen die Liebe harmonifh entwidelt. Das iſt der Wen, den die Geſchichte 
der Pädagogik zu durchwandern hat. Sie hat auf-viefem Wege nichts anderes 
zu thun, als den Geift der Menfchheit auf der Bahn feines Befreiungs- 
fampfes zu begleiten und zu notiren, wie er babei, in die Beſonderheit ver- 
ſchiedener Nationen und eigenthümlicher Menfhen eingehend, in immer 
wechſelnden Geftalten ſich darftellt, ohne dabei fein Siegesziel aus dem Auge 
zu verlieren, und wie er die Errungenfchaft in jevem Volle und durch jeden 
Menihen als eine Stufe betradter, auf der es näher zur Gottheit ift und 
auf der er felber gewachſen und größer geworben, fich immer mehr von ber 
Gemalt der Natur befreit. Und löſt die Geſchichte der Pädagogik diefe 
Aufgabe, fo ift fie gleich der Weltgefhichte im Allgemeinen, von der es Der 
Dichter fagt, das Weltgericht.“ 

So haben wir auch für die Zeit nach Chrifto meift mit Schmidt's 


33 


Worten jelbft die foftematifhe Gliederung gegeben. Wir haben ſchon bei 
Einzelheiten auf den Zwang aufmerkſam gemacht, mit dem ſich einzelne 
Erfbeinungen in dies Syſtem fügen laffen, wir bemerken aber hier noch, 
daß überhaupt das ganze Mittelalter im Gegenfag zur Neuzeit fi) nicht als 
Subjectivismus, jene als die Einheit der Subjectivität und Objectivität 
harakterifiren läßt; denn gerade in der Meuzeit ift, wie Schmidt's Schema 
bei der Zerlegung ber pädagogifhen Richtungen im derfelben, und es ift noch 
nit einmal vollftändig, zeigt, der Subjectiviemus in aller Schranfenlofigkeit 
erft hervorgetreten. Ebenfo ift ja nur von Seiten des Schmidr'ſchen philo- 
fophifchen Schema’s, nicht aber in der Wirklichkeit die Anfhauung der abftract 
hriftlich = theologischen Richtung von dem Gegenfage des Chriften und bes 
Menfhen antiquirt, ja fie liegt, wenn es Feine Phrafe fein foll, aud ver 
Schmidt'ſchen Auffaffung von der „hriftlihen Humanität“ zu Grunde. 
Zugleih aber hat diefe fhablonenmäßige Auffaffung gehindert, daß Männer 
wie Trogendorf und Sturm ihre richtige Stellung erhalten haben. Bei ver 
Charafterifirung der Neuzeit, ver Epoche der hriftlihshumanen Erziehung, 
fireift der Gedanke, „vaß der Geift nun erkannt hat, daß das Göttliche der 
Delt und der Menſchheit immanent ift”, an ven Pantheismus. Durd Alles 
dies aber foll nur der Geiſt, der in der Auffafjung und Ausführung ver 
Geihichte der Pädagogik von Schmidt waltet, bezeichnet werben, damit man 
Sache und Auffaffung des Berfaffers nicht verwechſele. Wir wollen damit 
das harte Urtheil, welches ©. Baur in dem Artikel „Geſchichte ver Pädagogik“ 
in Schmidt's Eucyclopäpie fällt (Br. V, ©. 712), nicht unterfchreiben, wenn 
er fagt: „An die Stelle der ruhigen Gefhichtsforfhung, welche die That— 
fahren varftellt und auslegt, tritt gar häufig Die abftracte Theorie, welche 
ihre Gedanken den Thatſachen nur unterlegt, die Genanigfeit in Ermittelung 
und Darftelung der Thatſachen jelbft behindert und die Phrafe ihnen 
fubftitmirt. Insbejondere ift der Verfaſſer zu einer flaren Einficht über das 
Verhältniß der pädagogiſchen Forderungen zu den Forderungen des Chriften- 
thums nicht gelommen. Er proclamirt zwar Chriftus ald den Mittelpunkt 
der Gefchichte der Pädagogik, wie der Weltgejchichte, und die hriftlihe Zeit 
als die Periode der humanen Erziehung. Aber wenn nun ein chriftlicher 
Pidagog mit diefem Principe Ernft machen und fpecififch hriftlichen Begriffen, 
wie fie auf jedem Blatte des neuen Teftamentes ausgefprocden find, auch im 
Gebiete der Erziehung Geltung verſchaffen will, fo erkennt Schmidt darin 
nichts, als eine Fälfhung des wahren Chriſtenthums, nad, feiner, übrigens 
nirgends klar erkennbaren, Auffafjung, durch theologische Syitemmacherei, und 
feinem Vorwurfe gegen folhe Pädagogen, daß fie die Fragen, welde die 
moderne Pädagogik „aus lebendiger Menfchenkenntnig heraus“ ftellt und 
beantwortet, gar nicht verftehen, fann mit größerem Rechte der Vorwurf 
zurüdgegeben werben, daß er jelbft über bie einfachen Forderungen des 
Evangeliums an die Erziehung fih noh im Unklaren befindet.” Wir felber 
haben oben auf mandes Unzutreffende hingewiefen und haben gefunden, daß 
er öfter den Dingen Gewalt anthut, bald Unwefentliches betont, bald Wejent- 
liches ausläßt, weil die Abficht, Alles erklären und jedes Ereigniß als ein 
nothwendiges Refultat deduciren zu wollen, einer unbefangenen Auffaffung 
ber Dinge und Verhälmiſſe widerftreitet. Aber wir erkennen an, daß Schmidt 
in feinem Buche zum erften Male eine reihe Zufammenftellung und fleifige 
Schumann, Geſchichte d. Pädagogik im Seminarunterriht. 3 


34 


Bearbeitung des Gejammtmateriald für die Geſchichte der Pädagogik gegeben 
und trog mander Mängel und mandhem Phrafenhaften aüch einzelne treffende 
Charafteriftiten geboten hat. Leider ftarb K. Schmidt, ber wegen feines 
fchrififtellerifhen Rufes nah Gotha als Seminardirector und Schulrath 
berufen wurde, wo er noch einen Auszug feiner Geſchichte ber 
Pädagogik namentlid fir Volksſchullehrer, Seminariften und Predigtamts- 
canbivaten herausgab 1863, fon am 8. November 1864, ſonſt hätte er 
Manches gewiß neu bearbeitet ober getilgt. Die beiden folgenden Auflagen 
bat Wicharb Lange in Hamburg bearbeitet, doch find auch in biefen neuen 
Bearbeitungen die alten Mängel geblieben, und es find nicht einmal überall 
die Ergebnifje ver neueren Detailforfhung berüdfichtigt; dagegen leibet ber 
legte Theil, welcher die neuefte Zeit behandelt, an einer übermäßigen Breite, 
mit welcher Lange’ihe Lieblingsthemen behandelt werben, und orientirt nicht 
gehörig in den Fragen der Gegenwart, da diefe nicht mit philofophifhen Scharf: 
blide zufammengefaßt find. Wir müſſen mit Dr. Schneider (Kehr, 
Pädagogifhe Blätter I, ©. 20: „Unfere Aufgabe in Beziehung auf bie 
Geſchichte der Pädagogik”) fagen, daß es ſich immer noch darum handelt, 
„zur Klärung ber Begriffe beizutragen und Materialien zufammenzubringen, 
welde die bis jegt noh nicht gelungene Löſung der Aufgabe 
einer wirfliden Geſchichte ver Pädagogik ermöglichen helfen. — 
Es find aber bis jegt no zu wenig Vorarbeiten vorhanden, oder richtiger, 
fie find noch nit zu Ende geführt. Es fehlt uns eine Geſchichte ber 
Philofophie, die es wirklich ift, eine Geſchichte der Gefellihaft und endlich 
auch eine folhe der Schulen“. Nah allen viefen Seiten hin regt dieſer 
trefflihe Aufſatz Dr. Schneider's zu treuer Arbeit an, zeigt Punkte, in dem 
biefe zur Förderung ver Geſchichte der Pädagogik einzufegen bat, und wirft 
Fragen auf, die noch zu löfen find. Und in gleicher Weife hat Dr. 8.8. Stoy 
in der Enchclopäbie der Pädagogik (Leipzig 1861) die Aufgabe der Gefchicht- 
Ihreibung der Pädagogik, die nod immer zu Löfen ift, geiftreih und ver- - 
ſtändnißvoll gezeihnet (S. 110 ff.). 

Faſt nur abhängig von K. Schmidt ift bie „Geſchichte der deutſchen 
Pädagogik“ im Umriß. Von den älteſten Zeiten bis zur Gegenwart von 
Dr. A. Wittſtock (Leipzig 1866). Sie hat ſich zur Aufgabe geſtellt, zu 
zeigen, was unfere Borfahren in der Wiſſenſchaft ver Pädagogik geleiftet 
haben und wie fih die Erziehung der Gegenwart auf bie Vergangenheit 
ftitgt, hat aber die Sache nicht gefördert. Ballien’s Abriß der Gefchichte 
der deutſchen Pädagogik macht auf Wiffenfhaftlichkeit feinen Anfprud. Die 
„Geihichte der Erziehung und des Unterrihtes‘ von Dr. Sr. Dittes 
(Leipzig 1870) und die „Kurzgefaßte Gejhichte der Pädagogik mit befonberer 
Berüdfihtigung des deutſchen Volksſchulweſens“ von 3. Böhm (Nürnberg 1870), 
ebenfo die „Eurze Geichichte des Erziehungs- und Unterrichtswefens, insbeſondere 
des neueren“, welhe Schüte am Schlufje feiner „evangelifhen Schullunde “ 
gibt, haben die Zwede ter Lehrerbildung im Seminar im Auge. Neben ihnen 
find aber eine Reihe Monographien entftanden, von denen wir hier erwähnen: 
Dr. Schneider, Das Schulmefen in Franfreih. Dr. Schneider, J. J. Rouffeau 
und Peftalozzi ꝛc. Bromberg 1866. W. Thilo, Preußiſches Volksſchulweſen 
nah Geſchichte und Statiſtik. Goıha 1867. Spieler, Das 8. Schullehrer- 
Seminar und Waifenhaus zu Neuzelle in dem erften Halbjahrhundert ihres 


35 





Befichene. Berlin 1867. Langenberg, Adolf Dieſterweg. Sei Leben 
und feine Schriften. Frankfurt a. M. 1868. 3. Leyfer, 8. Fr. Bahrdt, 
ber Zeitgenoffe Peſtalozzi's, fein Verhältniß zum Philanthropinisnns und 
zur neueren Pädagogik. Neuſtadt a./S. 9. 1870. Dr. Shumann, bie 
Geſchichte des Volksſchulweſens in der Altmark ꝛc. Halle 1871. Dr. Götze, 
Geſchichte des Gymnaſiums zu Stendal. Stendal 1871. Arnftäpt, 
Frangois Rabelais zc. Leipzig 1872. Schorn, Das Seminar zu Weißen- 
fels. Gotha 1872. ©. Kraufe, Wolfgang Ratichius oder Ratke im Lichte 
feiner und der Zeitgenofjien Briefe und als Didaktikus in Cöthen und 
Magdeburg. Leipzig 1872. Dr. Shumann, Ferienfhriften ꝛc. Die 
Mädchenerziehung im deutſchen Mittelalter. Hannover 1872. Seyffarth, 
Joh. Heinr. Peftalozzi. Leipzig 1872. Laas, Die Pädagogik von Joh. Sturm xc. 
Berlin 1872. Küdelhban, Joh. Sturm ꝛc. Leipzig 1872. Keller, 
Geſchichte des Preußifhen Boltsfhulwefens. Berlin 1873. Kelle, bie 
Jdeſuiten⸗ Gymnaſien in Defterreih. Vom Anfange des vorigen Jahrhunderts, 
Prag 1873. Dr. Shumann, Die echte Methode Wolfgang Ratke's. Ein 
Beitrag zur Böfung ber Ratles frage Hannover 1876. Dr. Juft, Zur 
Pädagogik des Mittelalters. Eifenah 1876. Dr. Störl, Wolfgang Ratte. 
Ein Beitrag zur Geſchichte ver Pädagogik des 17. Jahrhunderts. Leipzig 1876. 
9. Thierſch, Chriftian Heinr. Zeller's Leben. 2 Bände. Bajel 1876. 
9. Mitller, Leben und Streben im Seminar zu Hannover während ber 
Yahre 1790— 94. Als Beitrag zur Geſchichte des Seminarmweiens nad 
Arten und Tagebüchern. Hannover 1877. Nachdem zuerft Seyffarth 
eine vollftändige Ausgabe der Werke Beftalozzi’s veranftalter hat, liegen nun 
auch eine Reihe der wichtigften pädagogifhen Schriften älterer und neuerer 
Zeit in guten Ausgaben jedermann leicht zugänglich vor in der „Pädagogiſchen 
Bihliothef“ von K. Richter (Berlin feit 1868); in der „Bibliothel päda— 
gogiſcher Elaffiter* von H. Beyer (Langenfalza feit 1872) und in den 
„Pädagogiſchen Klaffitern, Auswahl der beften pädagogiſchen Schriftfteller 
aler Zeiten und Völker“ :c. von Dr. ©. 4. Lindner (Wien feit 1876). 
Den Ausgaben der einzelnen Werke ift meift eine gute Biographie des Schrift- 
ftellers, aud wohl eine Analyfe des betreffenden Werkes hinzugefügt, fo 
dag diefe Sammlungen zur Berbreitung des Studiums der Geſchichte der 
Pädagogik bereits viel beigetragen haben. Eine, Geſchichte des deutſchen Bolks⸗ 
ſchulweſens“, weniger auf Duellenftudien als auf dem Grunde ber bisherigen 
Bearbeitungen berubend, hat 8. Strad (Gütersloh 1872) gegeben. Eine 
Reihe guter Specialarbeiten hat außerdem die num vollendete Schmid'ſche 
Encyclopäpdie der Pädagogit im ihren Schlußbänden geliefert und aud 
die „Pädagogifhen Blätter für Lehrerbildung und Lehrerbildungsanftalten“ 
von Kehr haben feit 1872 (Gotha) eine Reihe hierher gehöriger Artikel 
gebracht. Für das Seminar endlich und die Weiterbildung der Lehrer in 
der Gefchichte ver Pädagogik find feit dem Erlaß der Allgemeinen Beftimmungen 
in Preußen vom 15. October 1872, da diefe eine größere Berüdfihtigung 
der Geſchichte der Pädagogik in ver Lehrerbildung fordern, aud eine Reihe 
ven Lehrbüchern der Pädagogik erfchienen, welche ver Geſchichte der Pädagogil 
einen größeren Raum gewährt haben, als es bisher ver Fall war. Wir orbnen 
diefe Lehrbücher hier nah der Zeit ihres Erſcheinens. E. Braun, Hand- 
buh der Geſchichte der Erziehung und bes Unterrichts im Bereiche ber 
3* 


36 





Bollsihule in Zeit- und Lebensbilvern. (Breslau 1872.) K. Bormann, 
Pädagogik für Volfsfhullehrer auf Grund der allgemeinen Beftimmungen x. 
(Berlin 1873.) Aug. Schorn, Geſchichte der Pädagogik in Borbilvern 
und Bildern. (Leipzig 1873.) 5. 9 Kahle, Grundzüge der evangelifchen 
Volksſchulerziehung. Für Seminariften und Lehrer. (Breslau 1873.) 
Dr. ©. Shumann, Lehrbuch der Pädagogik. (Erfter Theil. Einleitung, 
in bie Pädagogik und Grundlage für den Unterricht in der Geſchichte der 
Pädagogif mir Mufterfiüden aus den pädagogiſchen Meifterwerken ber ver- 
ſchiedenen Zeiten.) (Hannover 1874. 5. Aufl. 1877.) Dr. Joh. Neumaier, 
Leitfaden für den Unterricht im der Pädagogik, die Geſchichte der deutſchen 
Volksſchule und mit ihr verwandter Bildungsanftalten, die Erziehungs- und 
Unterrichtslehre mit Katechetif enthaltend. Für Schulfeminarien und zum 
Selbftunterriht. (Tauberbifhofsheim 1874.) Dr. ©. Schumann, Yet 
faden der Pädagogik für den Unterricht in Lehrerbildungsanftalten. Zweiter 
Theil. Geſchichte der Pädagogik. Hannover 1876. Wir unterlaffen bier 
eine Charakteriftif dieſer Lehrbücher, da wir auf fie weiter unten 
wieder zurückkommen müflen. Unfer Urtheil aber über die Entwidelung 
der Geſchichtſchreibung der Pädagogif müſſen wir dahin zufammenfaflen: 
Wir haben nod feine völlig genügende allgemeine Geſchichte der Pädagogil, 
fondern nur einzelne Berfuhe zur Löſung dieſer Aufgabe, die aber theils 
in der Auffaffung ganzer Perioden, theil® in der Charakteriftif einzelner 
Partien fih noch unzuverläffig erweifen oder von der Detailforfhung über- 
holt find. Der Grund von diefer Erfcheinung liegt noch immer, wie es 
fhon Rapp betonte, darin, daß es noch viel Unbefanntes aufzuſuchen, noch 
fehr vieles Einzelne zufammenzuftellen, zu ordnen und mit der philoſophiſchen 
Erfenntniß zu durchdringen gibt, daß es alfo noch immer an ben ent- 
fprehenden Vorarbeiten für alle Theile diefer Geſchichte, „der Weltgeſchichte 
innerften und wichtigſten Theil“ mangelt. Darum kann, wenn es aud 
päbagogifh möglid wäre, in den Seminaren nod feine Geſchichte ber 
Pädagogik „in weltgefhichtliher Entwidelung und im organifhen Zufammen- 
bange mit dem Qulturleben ver Völker“ gelehrt werben, eine ſolche zu fchaffen 
bleibt vielmehr noch Aufgabe ver Zukunft. Dagegen befigen wir eine Reihe 
guter Monographien über einzelne hervorragende Pädagogen aud über 
einzelne Zeitabſchnitte, welche theils auffordern, ähnliche Arbeiten zu liefern, 
um Materialien zu einer umfaflenden und ftreng wiflenfhaftlihen Be— 
arbeitung der Gefhichte der Pädagogik herbeizufhafien, theild es uns er- 
möglihen, im Geminarunterrihte anſchauliche Bilder der bebeutenpften 
Pädagogen und einzelner hervorragenden Zeiten zu geben. Nod immer 
muß jede allgemeine Geſchichte der Pädagogik den Titel „Skizzen und 
Bilder* tragen, wenn auch bereits fo viel bearbeitetes Material vorliegt, daß 
e8 belehrend und Wege weifend zur Löfung der päbagogifchen Tagesfragen 
einleiten fann, und daß es in ven Stand fest, auf Grund wirklich geſchicht⸗ 
liher Erfahrungen ein vernünftiges und beredhtigtes Urtheil über einzelne 
Zeiterfheinungen zu fällen. Aber bis jegt barf noch feine allgemeine 
Geſchichte der Pädagogik die Aufgabe des Weltgerichts löſen wollen, over das 
Amt des Weltenrichters fih anmaßen, über alle Zeiterfcheinungen endgültig 
zu urtbeilen. Das verbietet uns das wifienfhaftliche Gewiſſen, dieſe Zierbe 
des deutfhen Volkes aud in Bezug auf die Gefhichtichreibung. Und dieſes 


37 


Gewiſſen auch in ber jungen Lehrerwelt zu pflegen und zu fchärfen, tft 
neben den anderen Aufgaben die fchöne Aufgabe, welde ver Unterricht im ber 
Gefhihte der Pädagogik zu löfen bat; denn dadurch werden unfere jungen 
Lehrer wirklich innerlich frei und urtheilsfähig und nicht nur in den Stand ge- 
fest, ihre Aufgaben innerlich aufzufaffen, fondern auch felbft mit Baufteine 
jufammenzutragen zu einer wirklich wiffenfhaftlihen, auf foliven hiſtoriſchen 
Örundlagen ruhenden und mit deutſcher Gewiffenhaftigfeit — Geſchichte 
der Pädagogik. 


“ II. 


Allmähliche Berücfichtigung der Gefcichte der Pädagogik im 
Seminarunterridt. 


Wir haben bereits oben erwähnt, daß die Seminare, entftanden in der 
Zeit der herrſchenden Aufllärung, die für die Beftrebungen der Vergangen- 
beit feinen Sinn hatte, da fie in ihnen meift nur Berirrungen ſah, bie 
Geſchichte der Pädagogik nicht in den Lehrplan aufnahmen. So blieb es _ 
auch noch viel fpäter nad dem Erwachen bes hiftorifhen Sinnes nah ben 
dreiheitsfriegen, und erft die neuere Zeit hat ihr den gebührenven Play im 
Seminarunterrichte angewiefen. Es hing darum frither von der Anficht der 
betreffenden Lehrer ab, ob fie in gelegentlicher Belehrung ihren Schülern 
Einzelnes aus derfelben vortrugen oder nicht. Bon Spuren eines folden 
Unterrichts im vorigen Yahrhunderte habe ich in den mir zugänglichen Ge— 
Ihichten älterer Seminare, z.B. in Salfeld, Gejhichte des Seminars zu 
Hannover ꝛc. nichts gefunden. Man arbeitete bei der beſchränkten Unter- 
rihtözeit und bei der höchſt elementaren Vorbildung der Zöglinge nur darauf. 
bin, fie praftifch zum Ertheilen des Unterrichts zu befähigen. Charafteriftifch 
iſt in biefer Beziehung die Aeußerung Hoppenſtedt's (Müller, Leben und 
Streben im Seminar zu Hannover, 1877, ©. 50): „Wird der Zögling 
theoretifch gelehrt, jo wird er den Kopf voll Kenntniffe befommen, aber er 
weiß fie beim Kinderunterrichte felbft nicht auszuwählen, zu reden und zu 
entwideln. Wird er aber nur praftifch geübt, ohne ftufenweife fortzufchreiten 
und fih über den Zufammenhang des Ganzen Mar zu fein, fo wird er wohl 
gewifie Fertigkeit im Lehrvortrage erlangen, aber fein Unterricht wird un— 
gründlich, unmerhodifh und mechanifh werden. Im Gefühl der äußeren 
dertigfeit und bei dem Mangel an Wiffen wird er ein fih viel dünkender 
Lehrer werben.“ Um das zu vermeiden, wird nun aber nichts weiter gethan, 
als daß die Seminariften in der Woche vorher den Unterrichtsftoff jelbft in 
ihrem Unterrichte burcharbeiten, den fie in der folgenden Woche in der Semi- 
narfhule zu ertheilen haben, und daß dann biefe Unterrichtsarbeit beurtheilt 
wird, wobei fie eine methodiſch-praktiſche Belehrung erhalten. „Bejonvere 
Stunden für Methodik feftzufegen, würde bei dieſem Unterridtsplane ganz 
überflüffig fein.“ Im diefem Plane hatte alſo die Geſchichte der Pädagogik 
keinen Plag, und ähnlih ift es in ver Gothaer Seminarordnung 
von 1786. Auffallend ift aud der Mangel an biftorifhem Sinne in Betreff 


38 


der Pärngogif bei den Philanthbropen, fie erwähnen meift nur Zeit- 
genofien, mit denen fi) beſonders das Nevifionswert von Campe befaßt, und 
bei Beftalozzi, der höchſtens Sokrates und Baſedow erwähnt. Die Lehr- 
bücher der Pädagogif von Niemeyer und Schwarz verbreiteten mohl 
zuerft in der Lehrerwelt einige Kenntniß der Gefchichte, aber im wie wenig 
Lehrerhände kamen diefe Schriften. Auch die Schriften von Ludwig 
Natorp, die „Schulbibliothef”, welche mit der pädagogiſchen Literatur be- 
fannt machen wollte, „Sancafter, der einzige Schulmeifter unter taufend 
Kindern” und der „Briefwechfel einiger Schullehrer und Schulfreunde“, 
welder aus der Rochow'ſchen Schule die Lehrer zur Peſtalozzi'ſchen Schule 
binüberführen follte, brachte manche Kenntniffe wenigftens der pädagogiſchen 
Literatur, aber doch zeigt auch das von Natorp umgeftaltere Seminar zu 
Potsdam Feine Geſchichte der Pädagogik in feinem Lehrplane. Bon den 
Männern, von denen das Seminarweſen in Deutfhland lange Zeit Richtung 
empfangen bat, von Dinter, Denzel, Dieftermeg und Harnifh, erwähnt 
Dinter in der Schilterung feiner Arbeiten für das Seminar die Geſchichte 
der Pädagogik gar nicht, und es fcheint, daß bie Seminariften nur wohl 
Männer wie Baſedow und Peſtalozzi bei ihm haben fennen lernen in ge 
legentliher Mittheilung. Schon mehr nimmt auf biftoriihe Mittheilungen 
Denzel Rückſicht, wenn wir wenigftend ans feinen Schriften auf feine 
Praxis bei der Lehrerbildung fließen dürfen. Er gab ba zu ben einzelnen 
Unterrichtsfähern allervings meift nur die neuere Literatur, erwähnte aber 
doch 3. B. bei dem Lefeunterrichte ältere Methodiker und verwies auf Nie 
meyer. Es bat ihm aljo die gelegentliche Erwähnung älterer Methoden nur 
ein didaktiſches Jutereſſe, und er will au bei der Methopif nicht ven ge- 
ſchichtlichen Weg geben, weil verjelbe „vem Lehrer das Auffaſſen eines rid- 
tigen Geſichtspunktes für feine Praris erſchwert hätte“. Er wirb daher im 
Unterrichte wohl meift nur bie neueren Pädagogen, von denen Peftalozzi, 
Bell, Lancafter, Niemeyer, Schwarz zc. öfter erwähnt find, charakterifirt haben. 

Ausprüdlih und wiederholt erwähnt und befprodhen finden mir vie 
Geſchichte der Pädagogik bei Ad. Diefterweg. Wie er im Seminar zu 
Mörs den pädagogiſchen Unterricht ertheilte, erzählt Yangenberg, Leben 
Diefterwegs 1, ©. 77. Er ſchloß fih an das amtlide „Reglement für das 
evangelifhe Schullehrer-Seminarium zu Mörs“ an (abgedrudt in Beckedorff's 
Jahrbüchern des Preußiſchen Bolls-Schul-Wefens. I. Band, 1. Heft. ©. 152 fi. 
Berlin 1825). Es heißt darin $ 21: „Um die Geminariften mit vem 
ganzen Umfange ihres wichtigen Berufes vertraut zu machen, wird ihnen 
aud in der Methodik, Didaktik und Pädagogik der nöthige Unterricht ertheilt, 
welcher aber nicht in dem Bortrage einer trodenen, mweitläuftigen Theorie ober 
in angehäuften theoretifhen Regeln und Vorſchriften beftehen fol, fondern ihnen 
in beftänbiger Verbindung ber Theorie mit der Praxis eine kurze aber Mare 
und gründliche Meberfiht der allgemeinen ®rundfäge der Methoden-, Unter- 
richts- und Erziehungslehre verichafft, und ihnen das Allgemeine wie das 
Bejondere dieſer Lehren durch das Beijpiel der mit dem Seminar zu ver- 
bindenden Uebungsfhule, wie durch den von den Seminariften unter Aufficht 
der Lehrer fortwährend zu ertheilenven Unterricht in allen Fächern anfhaulich 
macht. Der Unterricht in der Pädagogik ftütt fi am beften auf eine Mare 
und überfichtlihe Kenntnig der menſchlichen Seelenkräfte und umfaßt auch 


39 


die Grundſätze über Schuldisciplin und Schullehrerfiugheit, nebft einer An- 
weifung über die zur weiteren Ausbildung und Bervolllommnung fhon an- 
geftellter Lehrer führenden zwedmäßigften Mittel.“ In Betreff des legten 
Satzes fagt Dieftermeg bei Langenberg, nahdem er den Weg geſchildert hat, 
den er einfchlägt, um die Grundkräfte des Menſchen zc. kennen zu lehren: 
„Dur den bisherigen Unterricht wurbe erftrebt bie Kenutniß des Menfchen 
von Seiten feiner förperlihen und geiftigen Natur, die Natur feiner Ent- 
widelung, die daraus hervorgehende Einſicht des Zweckes feiner Beftimmung 
und die Idee der Erziehung. Nun ift ed am ber Zeit, ven Schüler mit den 
Grundfägen der Erziehung befannt zu machen. Bier gibt e8 zwei Wege, 
welche ich im verfchiedenen Jahren eingefchlagen habe. Entweder bleibt man 
der bisherigen Methode, der rationellen Entwidelung und Ableitung der Er- 
jiehungsgrunbfäge aus der erfannten Menfhennatur, getreu, oder man betritt 
ven Weg der Geſchichte und Erfahrung, indem man ven Schüler mit den 
von Schriftftelern aufgeftellten Erziehungsprincipien bekannt macht, und zu 
jelbfländigem Urtheil über viefelben anleitet. Jenes ift die fchwerere, dieſes 
die leichtere Weife. Beide führen indeß zum Ziele, und da die Zeit, binnen 
welcher der Unterricht zu Ende gebracht werben muß, beſchränkt ift, jo rathe 
ih zu dem legteren. Derſelbe empfiehlt fi) auch noch in doppelter Hinficht. 
Einmal find die Schiller durch die bisherige heuriftifch-rationelle Behandlung 
bereits binlänglich in diefen bildenden Lehrgang eingeführt, jo daß es nun, 
gleihfam zur Erholung für die bisherige Anftrengung, gerathen jcheint, eine 
andere Unterrichtsmweife.zu beginnen, und fir das Andere führt man fie auf 
diefem Wege zur Kenntniß der pädagogifhen Literatur, und man hat das 
Mittel gefunden, fie in biefem Zweige mit der Bücherſprache befannt zu 
machen, und ihnen die Fertigkeit in dem Verſtehen verfelben anzueignen, 
wodurch man ihnen zugleich das Mittel der Weiterbildung, nad ihrer Ent: 
laſſung aus dem Seminar, aneignet. Deswegen gebe ich den Zöglingen nun 
irgend ein Buch über Pädagogik in die Hand, daffelbe mit ihnen lejend und 
erflärend. In den verfchievenen Jahren habe ich dazu Depzel’s Vollsſchule, 
Gruner's Erziehungslehre, Harniſch's Handbuch des Vollksſchulweſens, Zer- 
renner's Methodenbuch und mein kleines Werkchen über Erziehung im All— 
gemeinen und über Schulerziehung im Beſonderen gebraucht. Alle dieſe 
größeren und kleineren Werke, auch andere, geben einen zweckmäßigen Yeit- 
faden ab, und bieten die mannigfaltigfte Gelegenheit zu Bemerkungen und 
Anfihten, befonders wenn fie in beftändiger Beziehung zu den Erfahrungen 
in der mit dem Seminar verbundenen Schule gehalten werben. Dadurch 
bleibt der Unterricht ein theoretifch-praftifcher, ein Lebensunterricht. Um dieſen 
Zwed noch mehr zu fördern, wird zu den bisherigen Lectionen wöchentlich 
noch eine Stunde genommen, welche einzig den Mittheilungen der Erfahrungen 
in der Schule und ihrer Würdigung gewibmet if. Sind wir mit dem 
Lefen eines der angegebenen Handbücher zu Enbe gelommen, jo theile ic 
den Schülern eine kurze Gefhichte der Erziehungslehre und eine biographiſche 
Darftellung der wichtigften Schriftfteller über Pädagogif mit. Und num 
gebe ih aus der Biblisthef des Seminars, oder wo biefe nicht ausreicht, 
aus meiner eigenen Bücherfammlung jedem Seminartften ein Werk über Er- 
ziehung, Methodik, Disciplin ꝛc. in die Hand, jedem ein anderes, mit dem 
Auftrage, daffelbe für fih zu ſtudiren, einen Auszug aus bemfelben anzu- 


40 

fertigen, und das Wichtigſte und Bebeutendfte in den Lehrftunden in mlnd- 
lihem, freiem Bortrage mitzutheilen. Die Lehrftunden find nun zu Stunden 
freier Mittheilung geworden. Hier trägt Einer nah dem Andern einen 
Abſchnitt aus feinem Buche vor. Ale übrigen hören mit mir dem Dar- 
ftellenden zu ; vernehmen feine Bemerkungen, feine Einwendungen, jeine Zweifel 
und Fragen, diefelben werben von mir und ben Zöglingen beantwortet und 
beftritten. Der ftrenge Unterricht geftaltet ſich dadurch in freie Unterhaltung 
um, und die Seminariften werden auf ſolche Weife in ihrem Urtheile jelb- 
ftändig und ir geifliger Hinficht die felbfturtheilenden Freunde des Lehrers. 
Auf folhe Weife wird in diefer Beziehung ber Uebertritt der Zöglinge aus 
dem Seminar in das Veben und in das Gebiet der jelbftändigen Wirkjams 
feit vermittelt und eingeleitet." So behandelte Diefterweg im der Prarxis 
die Gefhichte der Pädagogik, aber auch fonft hat er wenigftens die Geſchichte 
der neueren Pädagogik energifch betont. So fagte er in feiner Antrittsrede 
im Seminar zu Mörs: „Kein Lehrer darf die Namen eines Rochow, Baſedow 
ohne innere Erhebung und Begeifterung nennen hören. Bor Allem muß 
uns Peſtalozzi für die große Sache der Menſchheit begeiftern.“ So gab er 
in zwei Bänden 1835 u. 36: „Das pädagogiſche Deutfchland der Gegeuwart. 
Dver: Sammlung von Gelbftbiographien jett lebender deutſcher Erzieber 
und Lehrer. Für Erzieher“ (Berlin, Plahn), heraus. Es enthält Biographien 
von Handel in Neiße, Ich. Ramsauer, Dr. W. Braubad, R. L. Roth, Lor— 
berg, ©. Reinbeck, Fr. W. Lange, Stiebel, Sidel, Schweizer, Kröger, Kopf, 
Kern, Rebe, Ewich, und Diefterweg hoffte, daß dadurch die Lehrer nicht nur 
fih, fondern aud die Kinder kennen lernen und einjehen jollten, welde 
Stunde in der Schulwelt vor einiger Zeit und fo eben gefchlagen hat. 
Ebenjo hatte er fhon 1830 für die rheinischen Blätter einen Auffag: „Ein- 
leitung zur Geſchichte der Erziehung“ gefchrieben, und in feinem „Wegweifer“ 
empfiehlt er I, ©. 86 befonders Biographien, hält aber dafür, daß für die 
Lehrer „nur die Gefchichte des modernen Volksſchulweſens ſeit 1770 
belehrend ſei.“ 

In ähnliher Weife verlangt Aug. Klaude, Paſtor zu Ham und 
Horn bei Hamburg, in feiner Schrift: „Grundſätze der Schullehrer⸗ 
Bildung in Seminarien mit befonderer Beziehung auf Hamburg. Ein 
philofophifher Verſuch“ (Hamburg 1829) ein hiftoriiches Element im der 
pädagogiihen Bildung. Er fagt ©. 131: „Einen wichtigen Nebentbeil 
diefer Methodik bildet das biftorifhe und literarifhe Clement, welches 
ſchwerlich fehlen darf, da nicht zu erwarten ift, daß die künftigen Lehrer id 
große Bibliorhefen anfchaffen jollen. Unter der Literatur, die den Seminariften 
zu geben ift, verftehe ich aber nicht ein Verzeichniß von Büchertiteln — 
das gehört nur zum Flitter der Gelehrjamkeit und ift etwas Ueberflüſſiges 
— ſondern theils die Darftelung und Auseinanderjegung des Inhaltes der 
Hauptbücher über die verfchiedenen Methoden von Geiten des Lehrers, 
theil® das eigene Privatlefen der Seminariften in den dahin einfchlagenden 
Büchern, fo daß fie felbft den Inhalt darftelen und entwideln. Diefes 
biftorifche Element, welches überall ſich hineinmiſchen muß, bewahrt aud vor 
dem verberblihen „Schwören in verbum magistri.“ In Hamburg if 
ein Seminar ſehr viel fpäter errichtet, und aud in ſchon beftehenden 
Seminaren findet man die Gefhichte ver Pädagogik wenigitens im den 


41 
Berihten nicht erwähnt, 3. B. in den Seminarberichten von Brühl und 
Soeft 1825. 

Harnifc legte, wie Schorn in ver Schrift: „Das Seminar zu Weißen- 
feld ꝛc.“ (Gotha 1872) ©. 26 jagt, dem Unterrichte in der „Schulmeifter- 
funjt” fein Handbuch für das deutſche Volksſchulweſen zu Grunde, beſprach 
aber in einer befonderen Stunde politifche und pädagogifhe Zeitfragen, fo 
dag dadurch die Seminariften in der Zeit orientirt wurden. Dürfen wir 
aus feinem Handbuch für das deutſche Volksſchulweſen einen Schluß auf 
feine Unterrichtspraxis ziehen, fo kamen gelegentlih die Anfichten einer 
großen Reihe von Pädagogen zur Sprade; denn er erwähnt Denzel, Nebe, 
Zerrenner, Zeller, Beckedorff, Schwarz, Diefterweg, Sailer, Fichte, Rouffenu, 
3. Baul, Wolf, 3. Lode, Niemeyer, Benede, Peſtalozzi, Guts-Muths, Baſedow, 
Baco von Berulam, Luther, Türk, Niederer, Dinter, Schleiermader, Graſer, 
Thierbah, Overberg, Hirfher, Bell, Lancafter, Natorp, Jahn, Eifelen, 
Stephani, Schmid, Ramſauer, Plato, Pythagoras, Idelfamer, Heinide, Ge- 
dide, Campe, Zeipler, U. Comenius, Salzmann, Rochow, Felbiger, Jacotot, 
Fellenberg, Oberlin u. a., von denen er Ausſprüche anführt; er erwähnt 
Schulblätter, gibt bei den einzelnen Abfchnitten eine reiche Literatur, führt 
auh die Schüler im die Zeitftreitigkeiten, z. B. über bie geiftlihe Schul- 
aufficht, in den Streit zwifchen Diefterweg und Thierfch ꝛc. ein, gibt eine 
kurze Geſchichte einzelner Unterrichtsfächer, z. B. des Zeichneng, Geſanges, 
Leſens, Sprachunterrichts, der Realien, in der er öfter ſogar bis auf die 
Griechen und Hebräer zurückgeht, gibt auch am Ende eine kurze Ueberſicht 
über die Geſchichte der deutſchen Volksſchulen unter dem Abſchnitte: „Die 
Vollsſchule in beſonderen Geſtaltungen“, ©. 512 ff. Wir ſehen, das find 
Namen genug, aber ob er verfucht hat, den Seminariften dieſe Namen aud 
lebendig zu machen, das willen wir nidt. 

Am nächſten fteht Harnifch der ibm befreundete Katholit D. Daniel 
Krüger in Breslau, welder in feinem Bude: „Ueber Vollsſchulen und 
Elementarunterriht. Ein Beitrag zur Bildung der Lehrer. Zunächſt 
Bielen der ehemaligen Zöglinge des hiefigen katholiſchen Schullehrer = Semi- 
narium gewidmet* (Breslau 1818), die Art zeigt, wie ber pädagogiſche 
Unterricht im Breslauer Seminar ertheilt wurde. Auch er erwähnt eine 
Maſſe Hiftorifchen Stoffes gelegentlih wie Harniſch. So finden wir bei ihm 
erwähnt Friedrich den Großen, Felbiger, die Sagan’fche Methode, die Se⸗ 
minare zu Gotha und Hannover, Tancafter, Natorp, Niemeyer, die Schule 
in Hofwyl, Campe, Baferow, Sailer, Rochow, Wolfe, die alten Weijen 
Griechenlands, Augustini de rudibus catechizandis, Salzmann, Am. Co- 
menius, 9. Lode, Fonélon, Rouſſeau, Frande, Guts-Muths, Iſelin, 
Schummel, Steinbart, Billaume, Herber, Weihe (Kinderfreund), lat 
(Iugenpihriften), Kindermann, Peftalozzi, Türk, Stephani, Graſer, Olivier, 
Heinide, Pöhlmann, Harnifh, Tilih, Dolz, Schwarz, Naegeli, Duintilian, 
Sturm :c., empfiehlt zur weiteren Belanntfhaft mit den Alten Meiner’s 
„Seihichte der Willenfchaften in Griehenland und Rom“, und führt bie 
Schriften fo vieler Männer an, um, wie er fagt, feine Schüler au bie 
Duellen zu weijen, aus denen fie weitere Belehrung und, wo es nöthig fei, 
Berichtigung der vorgetragenen Anfihten ſuchen könnten. Darum gibt er 
auch zulegt noch Hinweiſe auf die „Ueberfiht der pädagogiſchen Literatur 


42 


von Petri”, auf die „Kleine Schulbibliothel von Natorp“ und bie „Kleine 
Handbibliothek für Schullehrer x. von I. W. H. Ziegenbein.“ Dabei 
muthet uns die wahrhaft edle Freifinnigfeit und ungeheuchelte Lauterkeit der 
Sefinnung wohltuend an, mit ber er proteftantifche Pädagogen befpridt 
und auf fie aufmerkſam macht als beachtenswerthe Förderer der Erziehung. 

Daß im übrigen Deutjhland die Seminare und deren Unterricht ſich 
in ähnliher Weife entwidelten, könnte bier noch weiter entwidelt werben 
aus verfhiedenen älteren Schulgefegen und ans den Schriften von Böfe, 
Deinhardt x. Doc genügen die obigen Andeutungen. Ganz ähnlich ift 
es, wie 9. 3. Schlegel, „Die ſchweizeriſchen Lehrerbildungsanftalten“ 
(Zürich 1874), zeigt, in der Schweiz geweſen. Die Geſchichte der Pädagogil 
ftand nicht auf dem Lehrplane, und nur gelegentlih, wo nicht Dieſterweg's 
Weife befolgt wurde, wurden Einzelheiten aus derſelben gegeben. 

In Preußen, wo wie anderwärts bie Praxis nad den an den Semi— 
naren ſtehenden Perſönlichkeiten fehr verſchieden war, ordnete das Minifterium, 
da verjchiebene Verſuche ein Unterrichtögefeg zu Stande zu bringen, vergeblich 
gewejen waren (vergl.: Die Gefetgebung auf dem Gebiete des Unterrichts— 
weiens in Preußen. Bom Jahre 1817 bis 1868. Altenftüde mit Er- 
läuterungen aus dem Minifterium ber geiftlichen, Unterrichts- und Mebicinal- 
Angelegenheiten. Berlin. W. Her& 1869), das Seminarwefen durd das 
Regulativ vom 1. October 1854. Diefes ſchrieb in Betreff ver 
Pädagogik vor: „Was bisher an einzelnen Seminarien nod unter ben 
Rubriken Päragogif, Methodik, Didaktik, Katechetif, Anthropologie und Pſycho— 
logie u. f. w. etwa gelehrt fein follte, ift von bem Leftionsplan zu entfernen 
und ift ftatt deſſen für jeden Curfus in möcentlid zwei Stunden „Schul: 
kunde“ anzufegen. In dem Seminar ift fein Syſtem der Pädagogik zu 
lehren, aud nicht in populärer Form. Der Unterricht über Schulkunde hat 
fih vor Abftractionen und vor Definitionswerk forgfältig zu bewahren und 
möglihft praftifh und unmittelbar zu geftalten. Der angehenve Lehrer ſoll 
durch dieſen Unterricht die für ihm erforderliche pädagogiſche Bildung er- 
langen und befähigt werben, ſich felbft und Andere über das Weſen und 
die Aufgabe feines Berufes bewußte und flare Rechenschaft zu geben. Ein 
einfahes und beftimmtes Bild von der evangelifd-drift- 
lien Schule nad ihrer Entftehbung und Ausbilpung, nah 
ihrem Verhältniß zu Familie, Kirche und Staat darzuftellen, wobei bie 
einflußreichſten Shulmänner, namentlid feit der Refor— 
mation, ihre Erwähnung, und deren Einwirkung auf Ge- 
ftaltung des Elementar-Shulmwejens ihre Darftellung 
finden fönnen; fowie eine Charakteriftit des Lehrers mac feinem 
hriftlihen und fittlihen Standpunkt zu geben, wird eine angemefjene Auf: 
gabe für den Unterricht des erften Jahres fein, während im zweiten Jahre 
die Aufgabe und Einrihtung der Elementarfhule, ver für fie paflende 
Leltionsplan und die wichtigſten Grundfäge des in ihr ftatthaften Unterrichts- 
Verfahrens, der hriftlihen Erziehung überhaupt, und der Schulzucht im 
Bejonderen, ihre Darlegung und Erläuterung finden müflen. Im dritten 
Jahre find die Zöglinge mit ihren Pflichten als künftige Diener des Staats 
und ber Kirche, fowie mit den geeigneten Mitteln zu ihrer Fortbildung nad 
der Seminarzeit befannt zu machen, und ift im Mebrigen bie verftattete 


43 


Zeit bauptfächlic zur Vorbereitung für die Arbeit in der Uebungsichule, 
fowie zur Klärung und Befeftigung der in berfelben gemachten Beobachtungen 
und Erfahrungen, foweit beides, mit Ausſchluß der Methodik (dieſe follte 
im Seminarunterrihte mit dem Unterrichte in dem einzelnen Fächern ver- 
bunden werben) im Einzelnen, das Schulhalten und die Schulerziehung an- 
gebt, zu verwenden.“ Es war damit wenigftens der Geſchichte ver Volks— 
ſchule ein befcheidener Pla im Seminarunterrichte eingeräumt. Da ber 
Geheimerath F. Stiehl, der Verfaſſer der Regulative, in feiner Schrift: 
„Meine Stellung zu ven drei Preußiſchen Regulativen ꝛc.“, Berlin 1872, 
©. 5, die Aeußerung eines feiner früheren Schüler anführt: „ich hätte auf 
die Ausgabe der Regulative meinen Namen nicht zu fegen gebraudt; jeder 
meiner Schüler würde fofort aus dem Inhalte den früheren Seminarbirector 
Stiehl erfannt haben“: fo dürfen wir annehmen, daß alfo dadurch bie 
Seminarpraris Stiehl's in Neuwied von 1835 — 1844 auf die übrigen 
Seminare ausgebehnt werben follte. In einem Circular-Erlaß des Minifters 
vom 28. März 1855 wurde fovann auf die von dem Provinzial-Schulrath 
8. Bormann auf Grund der Regulative bearbeitete Schulfunde aufmerkjam 
gemadyt. Wir haben das Bud jchon oben erwähnt und den Abfchmitt des— 
felben über die Geſchichte der Volksſchule als äußerſt dürftig bezeichnet. Es 
wurbe daher wohl in den Seminaren eingeführt, aber in ven meiften 
richteten jich Die Lehrer wenig nad demſelben, obgleih ed aud Seminare 
gab, in denen es auswendig gelernt wurde. Später wurde auch Schüge’s 
„Schulkunde“ gebraudt, die aber nur die Gefchichte der Pädagogik feit der 
Reformation ansführliher behandelt. Die Praris blieb auch nah den Re— 
gulativen in ben verfchievenen preußifhen Seminaren eine fehr verſchiedene, 
nur fiel überall die Geſchichte der Pädagogik in das erfte Jahr. Im den 
„Altenftüden zur Geſchichte und zum Verſtändniß der drei Preußiſchen Re— 
gulative ac. von F. Stiehl* (Berlin, Herg 1855) ift ©. 63 ein Lehrplan 
eines Seminars mitgetheilt. Wir heben aus ihm das aus, mas hierher 
gehört: „Schulfunde. Erfter Curſus 2 Stunden. Erftes Tertial. Biblifche 
Orundlegung für die Erziehung unter Zufammenftellung und Erläuterung 
der in der heiligen Schrift enthaltenen hierher gehörigen Grundſätze. Ge— 
Ihichtliches über die Entftehung und Ausbildung der evangelifch - hriftlihen 
Schuien nad ihrem Verhältniß zu Kirhe, Staat und Familie Zweites 
Zertial. Die einflußreihften Schulmänner feit der Reformation, fo wie 
deren Einwirkung auf die Geftaltung des Elementarfhulwefens. Bilder aus 
dem Kinderleben. Wohnftuben- Erziehung und chriftliches Familienleben. 
Bartefchulen und Rettungshäuſer.“ Man fieht daraus, wie befchränft hier 
der Raum für die Gefchichte zwgemeflen ift; denn nur noch im britten 
Curſus kommen in einem Tertial die wictigften Bücher für die Fortbildung 
und die pädagogiſche Literatur zur Beiprehung. Indeſſen ift gewiß, daß 
in ben meiften preufifhen Seminaren der Unterricht der Pädagogik mit be- 
ſonderem Ernfte betrieben wurbe, wie denn aud die Regulative zum Schlufie 
noch betonten: „Es darf erwartet werben, daß die Seminarlehrer dem Aus- 
bau dieſes Unterrichtsfaches ihre ganze Umficht und Gewifjenhaftigfeit zu— 
wenden und fi zu biefem Behufe namentlih mit den faktifhen Zuftänden 
des Bollölebens und der Elementarfchule in einem lebendigen Zuſammenhang 
erhalten.“ Der Berfaffer felbft kann dieſe ernfte Arbeit, bie er an ver: 


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ſchiedenen Seminaren in jener Zeit gefehen hat, bezeugen, und baffelbe be- 
zeugt ber Seminarbirector F. Leutz zu Carlsruhe, der gleichfalls in jener 
Zeit mehrere preufifhe Seminare beſucht bat, im feiner Schrift: „Die 
Theorie und Praris des pädagogiſchen Unterrihts an den deutſchen Schul- 
lehrer-Seminarien. Eine Zufammenftellung und Beurtheilung der hierüber 
in Deutſchlaud beftehenden Einrichtungen. Carlsruhe, Braun 1870." Im 
Seminar zu Berlin unter Thilo wurde befonderes Gewicht auf die ge 
ſchichtliche Entwidelung des preußifhen Volksſchulweſens gelegt (Thilo, Das 
preußifche Volksſchulweſen nah Geſchichte und Statiftif. Gotha, Beſſer 1867), 
in Köpenid ſchloß fi der Director Schaller, wie er ed aud früher in 
Dfterburg gethan hatte, nur wenig in dem gefhichtlihen Abjchnitten an 
Bormann an, fondern gab in freier Weife eine Geſchichte des Volksſchul— 
weſens, mit bejonderer Hervorhebung der großen Pädagogen feit der Re— 
formation. In Bunzlau legte Seminardirector Dr. Schneider befonderes 
Gewicht ſchon in der dritten Klaſſe auf das Lefen pädagogiſcher Schriften, 
und in Weifenfels behandelte Seminarbirector Shorn im erften Jahre 
die Gefchichte der Pädagogik in ihren Hauptzügen, fo daß bie Erziehung 
beim Volke Ifrael, Chriftus, Auguftinus, die Klofterfchulen, die Reformatoren, 
Am. Comenius, U. H. Frande, Rouffeau, die Philanthropen, Rochow, 
Peftalozzi 2c. vorgeführt wurden. Es brauchte alfo bier nur eine geringe 
Erweiterung einzutreten, um bie Forderung der Allgemeinen Be- 
ftimmungen vom 15. October 1872 zu erfüllen, und Schorn fonnte mit 
Recht in der Vorrede zu feiner „Gefchichte der Pädagogik in Borbildern 
und Bildern“ (Leipzig, Dürr 1873) fagen: „In vdiefem Sinne (um das 
Wefentlihfte aus der Gefchichte der Erziehung und des Unterrichts in 
lebendigen Bildern der bedeutendſten Männer zc. zu geben) hat Berfafler 
die vorliegenden Bilder zufammengeftellt und fie bereits eine Reihe von 
Jahren hindurch bei feinem linterrichte verwendet.“ Auch ich felber habe 
als Director in Ofterburg und in Alfeld die Seminariften tiefer im bie 
Gefhichte der Pädagogik eingeführt, ald e8 an ber Hand von Bormann 
gefhehen konnte, weil ich einmal meinen Zöglingen die Grundlage bieten 
wollte, damit fie fi weiter in die Gefchichte ver Pädagogik und die Auf- 
gabe der Schule hineinarbeiten könnten, und weil ich, wie id es in ber 
Borrede zu meiner „Geſchichte des Volksſchulweſens in der Altmark” (Halle, 
Waiſenhaus 1871) ausgefproden habe, von der Ueberzeugung ausgebe, daß 
die Gedichte am Harften darlegt, wie bie Behörden, die Leiter und Lehrer 
der Schule die Aufgaben der Pädagogik begriffen und gelöft haben, und 
daß die Geſchichte das Gelbftbemußtjein eines Volkes if. Wie weit aber 
einzelne preußifhe Seminare auch anf unferem Gebiete über die Forderungen 
der Regulative hinausgewachfen waren, zeigt der für ben Unterricht in ber 
Geſchichte der Pädagogik in den Seminaren Epoche machende Aufjag von 
Dr. Schneider: „Unfere Aufgabe in Beziehung auf die Geſchichte der 
Pädagogik“, in „Kehr's pädagogiſchen Blättern für Xehrerbildung und Lehrer- 
bildungsanftalten* (Gotha, Thienemann 1872) 1. Br., ©. 20 ff., in deſſen 
weitem Theil der Berfafer, nachdem er im erften die mannigfaltigen Auf- 
gaben lichtvoll gefchildert hat, die noch zu löſen find, ehe wir eine wirkliche 
Geſchichte der Pädagogik erhalten, die Praris ſchildert, die er felber in der 
Behandlung der Gefhichte ver Päragogif in dem Seminarunterrichte an 


45 

verfhiedenen Seminaren geübt hat. Für den Schulmann, welcher lernen 
will, bietet der Auffag in jeder Zeile eine Fülle Anregung und Belehrung, 
jo daß auch diejenigen, welde bisher eine andere Praris befolgt haben, ſich 
einer Revifion ihrer Anfichten angefichts der Begrünbungen und ber Nad- 
‚weife, welche er auch im Betreff des Standes unferer Geſchichtsſchreibung 
der Pädagogik bietet, nicht werden auf die Dauer entziehen fünnen. Wenn 
irgend jemand, jo mar aber ber Verfaſſer ver Allgemeinen Beftimmungen 
vom 15. October 1872 in dieſer Beziehung und aud in anderen Punkten, 
die einer zeitgemäßen Reform beburften, durch fein eigenes Wirken als 
Schulmann über die Regulative hinausgewachſen, fo daß die allgemeinen 
Beftimmungen eben nur einen Abſchluß feiner eigenen Entwidelung als 
Schulmann bezeichnen. 

In einer glüdliheren Lage als die preußifchen Seminare, die wenigftens 
auf die Dauer nicht genug Antrieb dur die Regulative empfingen, befand 
fi) bereits feit 1863 das Seminar in Gotha. Nah $ 32 fol im 
Seminar Pädagogik und Geſchichte derfelben gelehrt fein. Es follte, wie 
C. Schmidt in der Gefhichte der Volksſchule und des Lehrer - Seminars 
in Gotha, ©. 49, es ausſpricht, „die eingehende Beihäftigung mit den 
pädagogischen Wiffenfchaften, foweit dies möglich ift, eine Garantie dafür 
bieten, daß auch in der Volksſchule an die Stelle eines handwerksmäßigen 
und jchablonenartigen Unterrihts mehr und mehr ein der Zwede und 
Mittel fih bewußter Unterricht treten wird, welcher allein eine geveihliche 
Entwidelung des kindlichen Geiftes verbürgt“. Nach dieſem Geſetze 
reorganifirte C. Schmidt das Seminar und begann den pädagogiſchen 
Unterriht mit der Anthropologie, welche vie Piychologie einſchließt, dann 
folgte die Unterrichts- und Erziehungslehre, die Schulfunde mit der Schul- 
einrichtung und der Schulzucht mit ihren Geſetzen. „Endlich“, jo fagt er 
„Zur Reform der Lehrerfeminare* (Cöthen, Scettler 1863), „muß ver 
Seminarift im Seminar eine Belanutfhaft mit dem wefentlihen Gange ver 
biftorifchen Entwidelung der Erziehung und bes Unterrichts, jowie ver 
Geſchichte des Volksſchulweſens im Beſonderen gewinnen, woran die Gefege 
der Bollsfhule des Heimathlandes zu Mmüpfen find, um daburd ben 
fünftigen Lehrer in den Stand zu ſetzen, die päbagogifchen Fragen ber 
Gegenwart dem Geifte der Gegenwart, dem Geifte der gejhichtlihen Ent— 
widelung angemefjen zu beantworten." C. Schmidts Nachfolger, Dr. Fr. 
Dittes, gab 1868 den Lehrplan des Herzoglichen Lehrerfeminars in 
Gotha heraus. Es heißt darin in Betreff der Geſchichte der Pädagogik 
©. 8: „Es (das Seminar) will enblih aus der Geſchichte der Pädagogik 
mittheilen, was den Bollsjchullehrer zu edlem Wirken begeiftern, oder was 
ibm als Borbild in der Methode und Disciplin, oder zur Warnung vor 
Rrthümern und Mißgriffen dienen kann.“ Sie bildet den Lehrftoff für 
das Winterfemefter der erften (oberften) Klaſſe. Der Lehrplan gibt an: „Die . 
Erziehung bei den vorchriſtlichen Bölfern, unter Bezugnahme auf die all- 
gemeine Geſchichte, nur kurz (etlihe Stunden); die älteften chriftlichen 
Bildungsanftalten, die Kirchenväter; die kirchliche Erziehungsweife in 
Deutfchland bis auf Karl dem Großen; Karl der Große; die Zeiten bis 
zur Reformation, Klerus, Adel und Bürgerthum, erfte Stadtſchulen, Bachanten, 
Eutftehung der Univerfitäten, Wiederaufblühen der Wiſſenſchaften; die Re— 


46 

formatoren und die Reformation; die kirchlichen Elementarfchulen, die Zeit 
bis zum breifigjährigen Kriege; ver breißigjährige Krieg; Baco von Berulam 
und Sohn Lode; Ratich und Comenius; die gothaifhe Schulreform unter 
Herzog Ernft dem Frommen; ber Pietismns und Auguſt Hermann Frande ; 
Ronffean; die Philanthropiften (Baſedow, Campe, Salzmanın u. |. w.); 
Peftalozzi; Dinter, Niemeyer, Schwarz, Stephani, Denzel, Zerrenner, Graſer, 
Harniſch, Jean Paul, Gräfe, Palmer; Gall und die Phrenologie; Herbart 
und Benefe; Jacotot und feine Nachfolger; Bell und Lancafter; Fröbel; 
Diefterweg; die preußifchen Regulative; die Gegenwart. Ein für die Hand 
der Zöglinge völlig geeignetes Lehrbuch gibt es noch nicht; unter ben vor- 
handenen empfehlen wir vie (Heine) Geſchichte ver Erziehung und bes 
- Unterrichts von E. Schmidt (Cöthen bei Schettler). Ungefähr vom Februar 
an ©eneralrepetition ber Erziehungs- und Unterrichtslehre mebft ihrer 
Geſchichte.“ Diefer Stoff wird in wöchentlich vier Stunden durchgenommen. 
Wie Dittes diefen Unterricht behandelte, zeigt feine ‚Geſchichte der Er- 
ziehung uub des Unterrichts. Für deutſche Bolklsſchullehrer“ (Leipzig, 
Klinfharbt 1870), in deren Vorrede er fagt, nachdem er die Mängel ver 
bisher erfchienenen Geſchichten der Pädagogik erwähnt bat: „Diefe Uebel- 
ftände habe ich feit einer Reihe von Jahren in meiner amtlihen Wirkfan- 
feit — am Seminar in Gotha und am Päragogium in Wien — lebhaft 
gefühlt. Ein Buch follte meine mündlichen Vorträge aus der Geſchichte ber 
Pädagogik unterftiigen, aber feines genügte mir in dem Maße, daß ich es 
meinen Hörern mit Befriedigung hätte empfehlen können. Daher entjchloß 
ih mid endlich zur Ausarbeitung des vorliegenden Buches. Daſſelbe ift 
alfo unmittelbar aus meiner Lehrthätigkeit hervorgegangen: es ift eine 
gebrängte Niederſchrift mündlicher Vorträge und gibt die Geſchichte der 
Pädagogik in dem Umfange und in der Form, wie ſie nach meiner Meinung 
für den deutſchen Vollksſchullehrer erſprießlich iſt. Der Nachfolger von 
Dittes, C. Kehr, ging, wenn wir wenigftens® von einer Section -über 
Rouſſeau, die wir bei ihm hörten, auf andere Theile der Geſchichte der 
Pädagogik ſchließen dürfen, mehr anf den Inhalt der Hauptichriften ein. 

An dem Seminar in Eiſenach wurde nad dem Lehrplan von 1865 
(Geſchichte und Lehrplan des Eifenaher Schullehrer- Seminars von dem 
derz. Director Eberhardt. Eiſenach 1868) aud die Geſchichte der Päpagogif 
berüdjichtigt, und die Lehrordnung (Dritter Bericht über das Eiſenacher 
Schullehrer - Seminar vom Dir. Schulrath Eberhard, 1874—1876) ſchreibt 
diejelbe für Klaſſe 1b vor, fo daß einmal bei der Methopif der einzelnen 
Unterrichtsfächer die Geſchichte der betreffenden Methode berückſichtigt wird, 
und dann im bejonderen Stunden Erziehungslehre und Gedichte der 
Pädagogif, welche die Lectüüre pädagogifcher Claſſiker begleitet, behandelt 
werden. In Weimar fällt die Gefchichte der Pädagogik in das zweite 
. Jahr der erften Klaffe. 

Nah der Verordnung über die Bildung der Schullehrer im Königreich 
Bayern vom 29. September 1866 umfaßt das Seminar zwei Curfe, 
in denen im unterften fünf, im oberften vier Stunden Unterricht in ber 
Pädagogik ertheilt werden. Die Geſchichte der Pädagogik und Methodik in 
biographiſcher Darftellung beginnt den Unterricht im oberen Eurfus. Es 
folgt dann noch die Schulzucht, die fpecielle Methodik und ein kurzer Ueber- 


47 

blid über die in Bezug auf das Schulweſen geltenden Gefege und Ber- 
orbnungen. Einen Leitfaden zur Geſchichte der Pädagogik fir die bayerifchen 
Seminare hat Seminarlehrer I. Böhm im Altdorf gegeben durch feine 
„Kurzgefaßte Gefhichte der Pädagogik, mit befonvderer Berückſichtigung des 
deutſchen Volksſchulweſens und einem Anhange: Geſchichte, Verwaltung und 
Statiftit der deutſchen Schulen und Lehrerbildungsanftalten in Bayern.“ 
(Nürnberg, Korn 1870.) Es ift dem Gegenftande eine Wohenftunde im 
zweiten Curſus zugemefien, aber doch hat Böhm fi nicht auf die chriftliche 
Zeit beſchränkt, weil er, wie er in ver Vorrede fagt, „fi dabei nicht hat 
den Auſchauungen anfhliegen können, als ob für die Volksſchullehrer das 
meifte pädagogifhe Wiſſen in den päragogifhen Kram gehöre und für fie 
nur die Geſchichte des modernen Vollksſchulweſens belehrend fei; er ift viel- 
mehr der Anfiht, daß das Stubium der alten Geſchichte das Weſen 
bes geiftigen Lebens und Strebens der hiftorifhen Völler aufſchließt, und 
zugleih die Fundamente kennen lehrt, auf welchen die Entwidelung ber 
Menſchheit fortwährend neuen Fuß faßte. Aus diefem Grunde hat er vie 
vorhriftliche Zeit nicht unberüdfichtigt laffen können, doch aber nur kurze 
Skizzen gegeben. Im der Geſchichte der chriſtlichen Zeit bildet natürlich vie 
Geſchichte der deutſchen Pädagogik, und dann insbejondere die des deutſchen 
Vollsſchulweſens, den Kernpunkt“. 

Im Königreich Sachſen wird die Geſchichte der Pädagogik in der 
oberſten Klaſſe gelehrt, und es wurde früher (ſ. Leutz, Die Theorie und 
Praris des pädagogiſchen Unterrichts 2c., S. 17) „Die Geſchichte ver deutſchen 
Pädagogik von Ballien“ als Lehrmittel empfohlen. Im neuerer Zeit hat 
man der Geſchichte der Pädagogik größere Aufmerkfamkeit zugewandt und 
hat 3. B. in Zihopau auf des Berfaffers Geſchichte der Pädagogik hin- 
gewiefen, gibt z. B. in Noſſen auch eine Gefhichte der Meihodik. Außer- 
dem haben uns die fähfifhen Seminarprogramme fhon manden 
Ihägenswerthen Beitrag zur Gefchichte der Pädagogik in Einzelunterfuhungen 
gebracht, welche Zeugnig ablegen von dem frifhen Streben, das in ben 
ſächſiſchen Seminaren herrſcht. 

In Bremen verlegt der Lehrplan für das Seminar zu Bremen im 
Auftrage des Scholarchats, herausgegeben von Aug. Lüben (Bremen, 
Müller 1867), vie Pädagogit in bie oberfie Klaſſe, „da das richtige Ver— 
ſtaͤndniß derſelben eine größere Reife des Geiſtes vorausſetzt. Es werden 
ihr, die Unterrigtsübungen der Seminariften mit eingerechnet, wöchentlich 
fieben Stunden gewidmet. Gegen das Ende lernen die Seminariften auch bie 
allmählihe Entwidelung der deutſchen Volksſchule und ihre Aufgabe in 
ber Gegenwart kennen. „Die Seminarbibliothef enthält die wichtigften 
pädagogifhen Schriften, deren forgfältige Benugung den Seminariften der 
erften Klaffe zur Pflicht gemacht wird. Der Director leitet dies Studium 
in der Weife, daß er zu pafjender Zeit die Schriften oder Abſchnitte der— 
felben namhaft macht, welche eine weitere Belehrung über behandelte Öegen- 
ftände enthalten. Auf dieſe Weife erlangen die Seminariften zugleich 
genügende Kenntniß derjenigen pädagogifchen Literatur, die fie zu ihrer 
jpäteren Weiterbildung nöthig haben.“ 

Im Großherzogtum Heſſen wurde im Friedberg im legten Seminar- 
jahre eine überfichtlihde Gefchichte der Pädagogik gegeben. 


48 

In Oldenburg fheint man, nah Dr. ©. Böſe, „Zur Seminar- 
reformfrage* (Oldenburg, Bultmann 1872) ©. 20 zu urtheilen, früher nur 
Einiges aus der Geihichte der Pädagogik gelegentlich mitgetheilt zu haben, 
denn er forbert dort außer den Fächern, melde das Oldenburger Seminar 
treibt, auch Geſchichte der Pädagogik. 

In Hamburg wird nad dem erften Yahresberiht von 1873 vom 
Director H. Paul als Lehrziel bingeftelt: „Die Gefhichte der Pädagogik 
(incl. der Vollsſchule) fol die Seminariften mit der Entwidelung diefer 
Wiffenfhaft befannt mahen und ihnen edle Vorbilder für das fünftige 
Berufsleben vorführen.“ Sie fällt in die oberſte Klafle und behandelt be— 
ſonders ausführlich die Zeit nad) der Reformation. 

Wir haben damit ſchon eine große Berfchievenheit in der Behanplung 
der Gefchichte der Pädagogik nachgewieſen an verfchiedenen Seminaren, und 
diefelbe ließ fih nah Leutz, Die Theorie und Praris des pädagogifchen 
Unterrichts ꝛc. (Carlsruhe 1870) und nah 3.9. Schlegel, Die ſchweizeriſchen 
?ehrerbildungsanftalten (Züri, Orell, Füßli 1874) leicht noch vermehren. 
Aber dies mag genügen, um nadıyzumeifen, daß man überall ver Gefchichte 
der Pädagogik in den Seminaren mwenigftens die Aufmerkfamkeit zugewandt 
bat, daß aker überall eine große Verſchiedenheit in der Stellung derſelben 
und der Behandlung herrfht. Und vaflelbe zeigt fih auch in den Schriften, 
welche mit der Seminarreformfrage fih befhäftigen, von denen wir nur 
Böfe, Deinhardt und Richter noch erwähnen. 

Dr. Böſe (Zur Seminarreformfrage, ©. 32) läßt fie in dem wier- 
Haffigen Seminar in der zweiten Klaſſe, in welcher der pädagogiſche Unterricht 
beginnt, mit drei Stunden wöchentlich auftreten, aber von je drei Stunden 
Katehetil und Methopif und Pſychologie begleitet fein, während aud) bie erfte 
Klaffe neben einer Stunde Piychologie noch eine Stunde Geſchichte ver 
Pädagogik haben foll, 

9. Deinharpt, Ueber Lehrerbildung und Lehrerbildungsanitalten 
(Zweite Auflage Wien 1871, Bihler), der von öfterreihifchen Berhält- 
niffen ausgeht, hat der Gefchichte der Pädagogik in der theoretifchen 
Pädagogik eine fo eigenthümliche Stellung und Aufgabe zugewiefen, ©. 129 ff., 
daß wir zum Berftänpniß derfelben hier auf feine Entwidelung ſelber ein- 
gehen müflen. Er fagt: „In dem Unterrichte der Yehrerichule, der die 
pädagogifhe Theorie darftellt, ift Alles als überflüffig und daher ſchädlich 
zu vermeiden, was dem Zmwede, bie fünftigen Lehrer zu orientiren, um fie 
zu befähigen, die Aufgabe der gegenwärtigen Vollksſchule mit Rüdfiht auf 
gegebene Berhältnifie felbftändig zu beftimmen, abfeits liegt oder über ihn 
hinausgeht. Wir negiren daher vor Allem eine Darftellung der pädagogischen 
Theorie, melde darauf angelegt ift, fih zu einem fpeciell ausgeführten 
Schul- und Unterrihtsplane zuzufpigen, welche aljo ven Charakter der Anz 
weifung annimmt oder vielmehr von vornherein hat. Das Planmachen, vie 
durchgeführte Anwendung pädagogischer, didaftifcher und metherifher Grund- 
füge auf das Ganze des Unterrihtd und die einzelnen Disciplinen muß 
den felbftändig gewordenen Lehrern — abgefehen von den maßgebenben 
Beftimmungen der Schulgefeßgebung, wie abgefehen von ihrer freiwilligen 
und in Anſpruch genommenen’ Berftändigung und Einigung — überlaffen 
bleiben, und infofern fhon vie Lehrfchulzöglinge damit beginnen werden und 


4 


jollen, muß ihr Berhalten dabei ein innerlihes und freies fein. Ein 
Unterricht, der im biefer Beziehung vorgreift, indem er, um recht praktiſch 
zu fein, den fünftigen Lehrern Irrungen und vergeblihe Anftrengungen zu 
erijparen prätenbirt, ift wejentlih unpraktiſch, weil er bei ven ſchwächeren 
oder fügfameren Naturen das Selbftvenfen in Ruhe fest, bei den begabteren 
ober Fräftigeren die geheime Oppofition bedingt. Der an ſich theoretische Unterricht 
muß durchaus, um feinem Zwede zu entſprechen, alfo wahrhaft praktiſch zu 
fein, theoretifh bleiben. Er darf fih aber auch nicht in Abftractionen 
bewegen, um durch ein zwingende Beweisverfahren die Sagreiben, von 
deuen für praftifhe Pläne ausgegangen werben fol, feftzuftellen, ſondern 
muß, um eimerjeit8 bie Objectivität zu bewahren, weldye bei den Hörern 
oder Zöglingen das Gefühl der Freiheit und Unbefangenheit erzeugt, anderer- 
feits, indem er Anjhauungen bietet, die Gedankenbewegung als bialektifche 
ju vergegenwärtigen und die päbagogijhen Fragen hervortreten zu Lafjen, 
zu verfolgen und über ihren Stand thatfächlich zu orientiren, hiſtoriſch— 
entwidelnde Darftellung fein. Die rein philoſophiſche Darftellung, 
die von Begriffen ausgeht, um zu Wahrheiten und zu praftifchen Reſultaten 
zu gelangen, fest überhaupt ein an verfchievenen Stoffen wiſſenſchaftlich 
gejhultes Denken und insbejondere die Kenntniß der hiſtoriſchen Gebanfen- 
entwidelung, die fie überall für den Kundigen genügend, alfo andentend zu 
recapituliren hat, voraus; fie läuft daher als verfrühte auf das Vor— 
mahen von Beweiſen und auf die Scheinbegründung aufoctroyirter Sätze 
hinaus, an welche fi die vorgreifende Anmweifung, die von vornherein ber 
eigentlihe Zwed ift, am bequemften anſchließt. Indem wir aber für bie 
Lehrerſchule die pſeudophiloſophiſche Darftellung der Pädagogik negiren und 
die biftorifch » entwidelnde Darftellung verlangen, wollen wir feineswegs, wie 
es fcheinen könnte, den theoretiſch-pädagogiſchen Unterricht auf eine Disciplin, 
die Gefchichte ver praftifhen und theoretiihen Pädagogif, rebuciren, und 
zwar jo wenig für die gewöhnliche, wie für bie höhere Lehrerſchule. Wir 
nehmen drei Disciplinen der theoretifhen Pädagogik, nämlih außer ver 
Gefhihte der Pädagogik die allgemeine Erziehungslehre und die 
Didaktik und Methodik in Auſpruch, und da dieſe nad unſerer Anficht 
nicht aufeinander folgen, fondern mit bejonders zu erwähnenden Aus— 
nahmen mebeneinander hinlaufen, fih alfo unmittelbar ergänzen follen, 
während die Forderung einer hiftorijch » entwidelnden.. Darftellung ſich auf 
den ganzen theoretiſchen Unterricht bezieht, da ferner die unentbehrlide 
Unterlage der allgemeinen Eulturgefhichte in Bezug auf beftimmte Zeiten 
und Böller zur Charakteriftif ihres befonderen Erziehungsweſens voll- 
fommen ausreiht und da endlich dem gegenwärtigen und künftigen Selbit- 
ftudium der Zöglinge zu überlaffen ift, was ihm füglich überlafjen werben 
tann, fo verfteht es fih von felbft, daß wir feine ſich gleihmäßig fort 
ipinnende Geſchichte ver Pädagogik, fondern einzelne, ausgiebig ausgeführte 
Bartien derſelben, die durch cultur = biftorifhe Ueberſichten, reſpective 
Recapitulationen zu verbinden find, im Auge haben. Sole Partien find 
beifpielöweife für die alte Zeit: vie fpartanifche und athenifche Erziehung, 
Sokrates; für die neuere und neuefte Zeit: die Schulenbegründung bei 
der Reformation, das Erziehungsigftem der Jeſuiten, Fraucke und die Pietiften, 
Baſedow und die Philanthropiniften, Peſtalozzi und Fröbel. Dabei ift auf 
Schumann, Geſchichte d. Pädagogik im Seminarunterridte. 4 


0 


Bolkszuftändlihes und Perfönlihes der Art einzugehen, daß lebendige, nach— 
baltige und fruchtbare Bilder und Eindrüde erzeugt werben, während fid) 
die allgemeine Erziehungsiehre, wo fie das Hervortreten der päbagogifchen 
Ideen und ihren Kampf behandelt, an vie Sahe zu halten und von bem 
allgemeingefhichtlihen Hintergruude, dem Zufammenhange mit weiterreichenden 
Eulturveränderungen zwar nicht abzufehen, aber fih auf die Recapitulation 
und Andentung zu beichränfen bat. Wir nehmen aber das Ausgehen von 
ver biftorifhen Darftellung und Reflerion bei der allgemeinen Erziehungs: 
lehre durchgehends in Anſpruch, ohne deshalb den Fortſchritt der Erörterung 
als einen dem Berlaufe der Geſchichte parallel gehenden im Auge zu haben, 
da ein »erartiger Parallelismus der Natur der Disciplin widerftrebt, fie 
alfo ihres eigenthämlichen Charakters berauben und die Ergänzung, bie wir 
verlangen, ausfchließen würde. Im Begriffe der Lehre liegt ein conjequenter 
Uebergang von ven allgemeinen zu den befonderen Fragen und Wuhrbeiten, 
wobei die Ueberſicht immer wieder berzuftelen und die Auffafjung ver 
Grundſätze fortſchreitend zu vertiefen ift, und wir find weit entfernt, dieſem 
logifhen Borgehen ein chronologiſches jubftituiren zu wollen. Wie aber vie 
Geſchichtsbetrachtung ihre — wmefentlih der neueren Zeit augehörige — 
Gejhichte bat und jeve Gefhichtsberrahtung die gefammte Bergangenbeit 
unter eine relativ neue, rejpective einfeitige Beleuchtung bringt, jo ift that- 
fählih jede pädagogische Frage irgend einmal in den Vordergrund geftellt, 
als vie pädagogiſche Trage ſchlechthin behandelt und mit Pathos debattirt 
worden, und von biejer Thatſache abzufehen, alfo das hiſtoriſche Bortreten 
und Gicdrebuciren der päbagogifhen Gedanken, venen jedenfalls eine 
momentane Bedeutung zulommt, zu ignoriren, ift eine Abftracion, durch 
welche jedenfalls vie Anfhaulichkeit und Eindringlichkeit der wiffenihaftlichen 
Darftellung verkürzt und verfümmert wird, wenn fie aud nicht nothwendig 
ven wiffenfhaftlihen Stanppunft und die wiffenfhaftlihe Betrachtung verengt 
und vereinfeitigt. Um fo mehr ift bei einer Behandlung der Erziehungs- 
lehre, welche den eigeurlich wiffenjchaftlihen Charakter noch nicht anftreben 
und annehmen darf, welche durchweg anfhaulich fein und ein gewiflermafeu 
leivenfhafrlihes Intereffe an den einzelnen pädagogifhen Fragen ohne das 
fünftlihe Mittel des fubjectiv » rhetorifhen Kaifonnements, das theils un—⸗ 
wirfjam, theild bedenklich ift, hervorrufen muß, die hiſtoriſche Einleitung 
und Yluftration der -verfchievenen Themen zu fordern. So ift z. B. bei 
dem wichtigen Thema ver Naturgemäßheit der Erziehung vor Allem das 
Aufıreten Rouſſeau's zu fhildern und fein Stanppunft zu entwideln, bei 
dem Thema der öffentlihen und Yamilienerziehung in ihrem Verhältniß vie 
gewaltigen und gewaltfam erfheinenden Poſtulate Fichte's in feinen Reden 
au die deutſche Nation voranquftellen und auf biftorifche Gegenfäge, den ber 
Sriehen und Römer, der Spartaner und Arhener u. f. w. zurüd- und 
einzugehen, bei dem Thema ver religiöfen Erziehung die Tendenzen der 
jefuirifchen und pietiſtiſchen Erziehungweife, vie Aufklärung ver Philan- 
thropiniften, der Streit Diefterwegs gegen die Negulative, der Palmer'ſche 
Standpunft zu berüdfichtigen. Auh bei den anthropologifhen Themen, 
welhe die Erziehungslehre einſchließt, das Specifiſche der menſchlichen 
Organifation, vie Altersftufen, der Gejchlechtsunterfchied, Die Temperamente 
und Anlagen u. ſ. w., iſt die Berüdfihtigung ethnographiſcher und gefhicht- 


51 


licher Thatſachen nicht zu verſäumen. Daß die Didaktik und Methodik 
neben der allgemeinen Erziehungslehre, von der ſie eigentlich ein Theil ſind, 
behandelt werben, hat feine Begründung im dem Organidmus der Lehrer⸗ 
ihule und insbejondere darin, daß das Eingehen auf den Unterrichtsftoff 
und die Unterrichtsaufgaben unverhältnigmäßig viel Zeit erfordert und doch 
für eine anfhaulihe Darftelung fowie theilweife für die Recapitulation des 
zur Aneignung gebrachten realiftifhen Willens nothwendig ift. Eine un— 
berechtigte Boranftellung des Zwedes, die Unterrichtsfähigfeit zu vermitteln, 
ift darin nicht zu fehen, da uur die abftracte uud falſche Auffaffung diefes 
Zwedes das Boranftellen veffelben gefährlid macht, und wir davon ausgehen, 
daß der Unterricht als Erziehungsmittel zu betrachten und zu behandeln ijt. 
Die Forderung aber, mittelft der hiſtoriſchen Einleitung und Illuftration zu 
verhindern, daß die Lehre einen abftracten und vorgreifenden Charakter an- 
nimmt, ftellen wir in Bezug auf die Divaktif und Methodilk noch beftimmter 
ald bezüglih der Erziehungslehre. Hier ift eine kritiſch-hiſtoriſche Dar— 
ftellung, welde die hiftoriihen Debatten über die verfchiedenen Unterrichts- 
grundfäge und die hiftoriihen Umbildungen jedes bejonderen Unterrichts- 
betriebes — indem fie die begrifflihen Abgrenzungen fefthält, alfo ohne den 
Charakter einer allgemein geſchichtlichen Darftellung anzunehmen — verfolgt, 
in ungezwungener Weife möglich und für die Objectivirät des Stanbpunttes, 
für die Entwidelung des Imterefjes und die ausreichende Orientirung noth- 
wendig. Den Einwaud, daß ein pädagogifcher Unterricht der Lehrerſchule, 
der in der angegebenen Art biftorifch werden folle, eine zu weite Ausdehnung 
gewinne, Ueberflüſſiges heranziehe und auf Umwegen das praftifche Ziel zu 
ſpät oder gar nicht erreicht, haben wir jhon im Voraus abgethan, wollen 
aber doch noch hervorheben, daß ein Raifonnement, welhes die Stelle ver 
biftorifchen Darftellung einnimmt, binfichtlich der Breite feine anderen Grenzen 
hat, als das fubjective Belieben, daß es aber, wenn bie Lehre ſich ſyſtemtaiſch 
glievern und dabei das Verſtändniß wirflid vermittelt und die Leberzeugung 
begrüntet werden ſoll, fich viel weiter ausdehnen müßte als ein Unterricht, 
der den ficheren Weg der hiſtoriſch-kritiſchen Darftellung einfchlägt, ohne daß der 
gleiche Erfolg zu erwarten wäre. So würde der raifonnirend ſyſtematiſche Vor: 
trag, 3. B. aud die Gedanken des alten Comenius, fo weit fie Gemeingut ge- 
worden find oder geworden jcheinen, in moderner Ausdrudsweije enthalten und 
vorführen, damit aber keinesfalls und nicht von weiten der Gewinn erjegt werben, 
den eine treue hiſtoriſche Darftellung ver Diktatik des Comenius für die Bafirung 
der didaftifchen Gefichtspunfte und für ein klares Urtheil über den Stand der 
gegenwärtigen Didaktik, ihren Fortſchritt und ihr Zurüdgebliebenfein hat. Daß 
freilich das Raiſonnement leichter in die ausprüdlihe Anweifung übergeht als 
eine hiſtoriſch-kritiſche Darftellung, läßt fih nicht verfennen und ift von ung 
anerkannt worden, für unfere Ueberzengung aber ift viefe Anweiſung jchäb- 
liher Ueberfluß, und ver Alternative eines fih zum Schul- und Lehrplau 
zufpigenden und auf diefe Zujpigung von vornherein berechneten, ſyſtematiſch 
taifonnirenden, und eines bloßen Gelegenheitsunterrichtes gegenüber würben 
wir uns unbedingt für den legteren entfcheiden, der jedenfalls eine Zeit 
erfparung märe. Uebrigens finden wir auf den Seminar» Tehrplänen vie 
Geſchichte ver Pädagogik durchweg neben der Erziehungslehre und Didaktit, 
und wenn die legteren Disciplinen rein raifonnirend behandelt werden, aljv 
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von gefhichtlihen Einleitungen und Iluftrationen abfehen, fo nimmt vie 
erfte vermöge ber Abſonderung und Selbftändigfeit, die ihr gewährt worden, 
eine gleihmäßige und möglichft volftändige Ausführung in Anfprud, aus 
jener Abftraction ergibt fi alfo feine Erfparung an Zeit und Lernmübe, 
während man ſich nad unjerer Anſicht das abftracte Raifonnement, alfo den 
Zeit = und SKraftaufwand, den es erforbert, erfparen kann und fol. Dabei 
läßt fih nicht jagen, daß, wie es fi) aud mit dem Werthe des abftracten 
Raifonnements verhalte, ver Gewinn der gefhichtlihen Darftellung jedenfalls 
der gleiche fei. Neben dem Unterrichte, ver die Geſchichte im Ganzen ver- 
folgt, ift ein anderer, der in fie zurüdgreift und bie befonvere biftorifche 
Berradytung unmittelbar zur Bafis befonderer, durch das Reflerionsbevürfnig 
motivirter Reflexionen macht, durchaus nothwendig, wenn bie fortlaufende 
geſchichtliche Darftellung ihre volle Ergiebigkeit bewähren fol. Wären wir 
von biefer Nothwendigfeit nicht überzeugt, jo würden wir uns auch nidt 
bevenfen, bie theoretifhe Pädagogik der Lehrerfchule auf eine Disciplin, 
eben die Geſchichte der Pädagogik, zu reduciren, während wir zujammen- 
greifende Disciplinen, alfo einen geglieverten und ſich concentrirenden 
Unterricht fordern.” Auch die Methodik der einzelnen Bolksfchulgegenftände 
faun in biefer Weife biftorifch behantelt werben, und es wird dies am zwei 
Segenftänden, der Mathematif und den Yormenarbeiten, nachgewiejen. „Die 
Unterlage aber für die Gefhichte der Pädagogik und für die theoretifche 
Pädagogik der Lehrerfchule überhaupt, ift die allgemeine Culturgeſchichte.“ 
Wir ſehen bier aljo der Geſchichte der Pädagogik den hervorragenpften 
Antheil an der pädagogifchen Lehrerbildung zugewiefen und wollen daher 
nit nur in biefer Beziehung, fondern auch wegen der mancherlei Fragen, 
die das Bud, ‚uber Lehrerbildung anregt, auf daſſelbe nachdrücklich hinweiſen. 
Es geht nit in den gewöhnlichen ©eleifen, und man ftößt auf mande 
Paradorien, aber es regt nahhaltig an und behandelt die hohe Frage 
würdig und ſachgemäß. 

Gleich intereffant behandelt die Lehrerbildung Karl Richter im feiner 
Schrift: „Die Reform der Lehrerfeminare nad den Forderungen unferer Zeit 
und der heutigen Pädagogik. Bon der Diefterwegftiftung gekrönte Preis- 
ſchrift.“ (Leipzig, Fr. Brandftetter 1874.) Wir heben nur aus, was auf 
die Gefhichte der Pädagogik Bezug bat, die er im zweiten Kapitel unter ber 
päbagogifhen Bildung im Seminare und zwar unter A, der wiſſenſchaftlich— 
päbagogiihen Bildung, zu ter er Logik, Ethik und Pſychologie $ 17, Methoditk 
$ 18 und Gefchichte der Pädagogik $ 19, ©. 224 ff. rechnet, abhanbelt. 
Das Gefhäft der Erziehung fett Erkenntnif des Zwedes und Zieles voraus, 
nach welchem bier erzogen werben fol, dies lehrt die Eıhik kennen, es forbert 
auch die Kenntnif der Bedingungen und Geſetze, nach welchen fich die geiftige 
Bildung überhaupt vollzieht, dieſe lehrt die Pſychologie. Beide aber fegen 
wieder die Logik voraus, und als weiterer Zweig ber wiſſenſchaftlichen Päda— 
gogik reiht fi die Methodologie oder Methodik an, während die Geſchichte 
ber Pädagogik durch die Darlegung der Erziehungsideale und Erziehungs- 
mittel der verſchiedenſten Zeiten und Völker die Gegenwart mit der Ver— 
gangenheit in Zufammenhang bringt und die wiffenfhaftlihe Pädagogik ab- 
ſchließt. Sie ift alfo legtes Glied in ver Fette der wiffenfchaftlich-päpa- 
gogiſchen Lehrfächer. Richter jagt: „Die Pädagogik trägt einen Januskopf, deſſen 


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eines Gefiht nad) vorwärts, deſſen anderes nad ridmwärts gewandt ift. 
Für die Zukunft der aufwachſenden Jugend arbeitend, muß fie an die Gegen- 
wart anknüpfen, und da dieſe wieder auf voraufgegangenen Zuftänden be- 
rubt, fo muß fie die Vergangenheit nad dem Woher befragen.” Und wenn ber 
Ausſpruch Herbart’8 wahr ift, „daß das immer neue Leben immer von neuem 
bie Schule erzeugen“, alfo das Unterrichts und Erziehungsweien gemäß ber 
Zeitkultur in beftändiger Weiterentwidelung erhalten werden müffe, fo muß 
denjenigen, welche babei in erfter Linie in Mitleivenfchaft gezogen werben, 
den fünftigen Lehrern, der Spiegel der Gegenwart und Zukunft: die Ver— 
gangenheit, vorgehalten werben, damit fie im Lichte verfelben die Stellung 
begreifen, im die fie eintreten follen, und ein richtiges Verſtändniß der Gegen- 
wart umb ihrer erziehlichen Beftrebungen gewinnen. „Jede öffentliche Wirk— 
ſamkeit jegt die Kenntnif der vorhandenen Bebingungen voraus, an die fie 
anzufnüpfen, des Bodens, den fie zu bearbeiten bat, und biefe wiederum 
fann nur dadurch die nöthige Bollftändigkeit und Tiefe erlangen, daß fie das 
hiſtoriſch Gewordene rüdwärts in feine Urfahen und Bildungselemente ver- 
folgt.“ Die Gefchichte der Pädagogik hat einestheils vie Entwidelung ber 
Unterrichts- und Erziehungsgrumpdfäge, anderntheils die Entwidelung 
bes Unterrichts und Erziehungswefens zur Darftellung zu bringen. Hin- 
fihtlid jener Grundfäge hat ſich die Gefchichte der Pädagogik ſowohl an bie 
Anfihten jener Männer zu balten, welche von der älteften Zeit an bis herauf 
in die Gegenwart als die Träger pädagogifcher Ipeen gelten dürfen und 
welche oft mit weitfchauendem Blide aus den Berhältniffen ihrer Zeit heraus 
gedacht, gewollt und erftrebt haben, woran die Gegenwart noch arbeitet, als 
auh am die VBerorbnungen und Gefege, welche zu verſchiedenen Zeiten zur 
Regelung der öffentlihen Erziehung von den einzelnen Regierungen erlaffen 
worden find; hinfichtlih der pädagogifhen Praris aber hat die Geſchichte 
der Pädagogik aufzuzeigen, auf welche Weife in dem verfchiedenen Pertoben 
der Geſchichte in Haus und Schule thatfählih unterrichtet und erzogen 
wurde, welde Sorge man ber leiblihen Ausbildung widmete, welche Zucht⸗ 
mittel man anwandte, wie es in ven Schulen ausfah, welche Gegenftände man 
lehrte und mie dies gefchah, welche Hilfsmittel, Lehrbücher zc. man babei 
brauchte u. dergl. m., daß dabei der Hauptton auf die deutſche Päpagogit 
und das deutſche Schulweien fallen wirb und fallen muß, und das ſchließlich 
das Erziehungs: und Schulweſen des engeren Baterlandes nach jeinem gegen- 
wärtigen Stande, nad der Schulgefeggebung ꝛc. fpecieller darzuſtellen ift, 
verfteht fih von felbft. Freilich Liegt hier, wo es ſich um bie Geſchichte der 
pädagogifhen Praris handelt, der Webelftand zu Tage, daß die Quellen 
dariiber noch ziemlih fpärlich fließen; venn während bie verſchiedenſten 
pädagogifhen Geſchichtswerke über pädagogiſche Theorien ganz ausführlich 
berichten, fuht man im ihnen einen Auffhluß über die praftifhe Erziehung 
fo gut wie vergebens, fo daß man breijt behaupten darf, es gebe überhaupt 
noch gar feine Gejhichte der praftiihen Erziehung und des Schulweſens, 
insbefondere des deutſchen. Aber wenn aud die pädagogifhen Gejdichts- 
fhreiber e8 noch wenig der Mühe werth gehalten haben, an die allerdings 
mühfame Arbeit der Quellenforfhung zu gehen und in alten Chronifen und 
Dichtungen, in alten Schulbüchern, Biographien und Programmen ꝛc. nach- 
zugraben, fondern ſich meift damit begnügten, einander abzufchreiben und aus 


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zweiter und dritter Hand zu nehmen, was fid da fand, jo wird fih doch 
ein Gefchhichtslehrer der Pädägogik, der ein rechter Mann fein will, nicht mit 
dem in bergleihen Geſchichtswerken Gebotenen begnügen over warten bürfen, 
bis ihm endlich einmal alles mundgereht auf dem Präfentirteller entgegen- 
gebradjt wird ; vielmehr muß er felber das Material aus verſchiedenen Quellen 
fi) zufammentragen, um damit die päbagogifhen Zuftände vergangener Jahr: 
hunderte feinen Zöglingen illuftriren zu können. Und glüdlicherweije find 
Dazu im nemerer Zeit theild in Schulprogrammen, welche bie Gejchichte einer 
oder der anderen Schule aktenmäßig darftellen, theils in kulturhiſtoriſchen 
Schriften, welche bie Zuſtände einer Gegend oder Stabt in irgend einem 
Zeitabſchnitte behandeln, theils in Biographien berühmter Männer u. vergl. 
fo mande ſchätzenswerthe Beiträge geliefert worden, die ſchon einigen Anhalt 
und eine ganz erffedliche Ausbeute gewähren. De die Gefhidhte ver Päda— 
gogif ihrem Weſen und Begriffe nah im engften Zufammenhange mit ber 
allgemeinen Geſchichte fteht und nichts weiter als ein fpecieller Zweig ber- 
felben ift, fo muß fie auch im beftänbiger Beziehung zu derfelben erbalten 
werben. Denn mit den focialen Zuftänden eines Bolfes, mit der erreichten 
Stufe in Wilfenfhaft und Kunft, kurz mit feiner gefammten Eultur und 
den daraus hervorwachſenden Culturidealen ftehen bie allgemeinen Geſichts— 
punfte für die Erziehung, die Erziebungs- und Bildungsireale, in enger 
Berbindung, und man kann diefe nicht oder nur mangelhaft verftehen, ohne 
auf jene Rüdjiht zu nehmen. Deshalb ift überall, wo gewiffe Wendungen 
in Betreff der Erziehung und des Unterrichtes, feien dies num Fortfchritte 
oder Trübungen der pädagogifhen Einficht, fi) bemerkbar machen, ver Zu- 
fammenhang, die Wechfelwirfung mit den entſprechenden geſchichtlichen Ereig- 
niffen, mit den Bewegungen im politifhen und foctalen Peben, mit dem 
Stande der Philofophie und der Wiffenfhaft im Allgemeinen ꝛc. aufzuzeigen. 
Die Geſchichte lehrt keinem etwas, der fie nicht zu befragen verfteht uud 
darum Feine oder nicht die rechten Antworten empfangen bat; umb mo fie 
weiter nichts ift, als eine Sammlung vereinzelter Thatſachen und Begeben- 
heiten, die jedes inneren Zufammenhanges, jedes geiftigen Bandes entbebren, 
ba ift fie ganz nuglos. Es darf deshalb auch in der Gefchichte der Pädagogil 
nicht, wie es fo häufig in den Seminaren geſchehen ift, dabei fein Bewenden 
haben, bloße Nomenklaturen und Jahreszahlen, todte, fleifchlofe Gerippe zu 
bieten, die bei den Zöglingen den Dünkel erzeugen, etwas zu wiflen, ohne 
daß e8 doch wirklich der Fall ift; vielmehr müſſen, wo es fi) um hervor: 
ragende Pädagogen handelt, neben einer gebrängten, lebensvollen Biograpbie 
berjelben, eingehende, aus ihren Schriften jelbft geſchöpfte Charafteriftiten 
ihrer pädagogifhen Ideen und Strebziele geboten werden. Aber wenn vie 
auch für die Unterridteftunde binreihen mag, fo genügt dies im Ganzen 
immer noch nicht; denn folhe Charakteriftiten und fragmentarifhe Auszüge 
fünnen immerhin nur eine mehr oder weniger oberflächliche Kenntniß der 
pädagogiſchen Bergangenbeit vermitteln ; und wenn ſchon folhe Charakteriftiten 
ziemlich ſchielend ausfallen können, fo ift die oben gekennzeichnete pädagogiſche 
Geſchichteſchreibung, bei welcher die wenigen, die wirflic zu einzelnen Onellen 
binabgeftiegen find, den folgenden Schriftftellern felbft wieder ala Quelle 
dienen, nicht weniger dazu angethan, fchiefe Urtheile, verkehrte Auffaffungen, 
ja fogar grobe Unrichtigfeiten in die pädagogiſche Fiteratur, und dadurch 


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wieder in bie Lehrermelt, einzuführen und epidemiſch fortzupflanzen, ohne 
daß denfelben auf eine wirffame Art beizufommen wäre. in tieferes Ber- 
ſtändniß und eine rechte, felbftäntige Würdigung ter pädagogiihen Vergangen— 
beit ift nur dann möglih, wenn eine volftändige Einfiht in die Schriften 
der vergangenen Zeiten geboten wird und ihre Berfaffer in verjelben Ur- 
iprünglichfeit vor den Leſer treten, in welcher fie in ihrer Zeit ftanden und 
ihren Ideen Ausdruck verliehen. Mag man fih auch für vie Lehrſtunde 
jelbft einen Fürzeren Abriß gefallen laffen, fo darf daneben doch nicht ver- 
fäumt werten, die Zöglinge auf die entiprehenden Echriften ſelbſt hinzu- 
weifen, fie ihnen in die Hände zu geben und das eigene Leſen derſelben 
ihnen zur Aufgabe zu ftellen. Dem Uebelſtande, daß viele jener Schriften 
theil8 wegen der Sprade, in welcher fie abgefaßt wurben, theils wegen ihrer 
Seltenheit vielen verſchloſſen blieben, halfen vie in neuerer Zeit erfcheinenden 
Sammelwerfe ab, fo daß auch nah biefer Seite hin der Unbelanntfhaft 
damit ihr ftihhaltigfter Entihulvigungsgrund entzogen wird. Neben folden 
Schriften Dürfen auch gute Biographien einzelner Pädagogen nicht fehlen, 
bie, weil fie unmillfürlich zu einem Vergleiche mit ver eigenen Perſon, zum 
Anlegen eines Maßſtabes an das innerfte Selbft herausfordern, ebenfo an- 
regend als erhebend, ebenſo ermunternd als warnend wirken. Würde bie 
Geſchichte der Pädagogik in rechter Weife getrieben und gepflegt, wie fo 
mancher pädagogifhen Jämmerlichkeit würden wir enthoben fein! Wie würde 
die pädagogiſche Dberflächlichkeit und methodiſche Aufgeblafenheit, vie mit 
Geringfhägung auf die pädagogifchen Yeiftungen vergangener Jahrhunderte 
berabfieht und ſich felbftzufrieven in dem Bewußtſein jonnt, „wie wir's fo 
berrlich weit gebracht“, wie wiürbe bie Eitelkeit, die jeven plaufibeln Einfall 
für eine neu entdedte, originelle Idee hält und als folhe auspofaunt, mie 
würde die Hhperprobuftivität in der pädagogifhen Literatur, bei der bie 
Maſſe erfegen muß, was dem Inhalte gebricht, wie würde das alles einem 
ruhigen Sichbeſcheiden, einer richtigeren Schägung der Gegenwart, einer 
größeren Dankbarkeit gegen die Baumeifter der Vorzeit, einem tieferen Ernſte 
des Strebens Platz machen, wenn allen Lehrern der Blid auf das Große 
der Vergangenheit mehr geöffnet würbe, fo daß fie erfennen lernten, wie 
„gewiſſe weltewige Ideen ſich fort und fort im jeder Menfchenbrujt regen 
und oft nur wieder durd Neuheit der Form itberrafhen“, und wie „vieles, 
was in der Pädagogik und Methodik fih als neu und bisher unerhört 
brüften möchte, längft von anderen gedacht und verfucht worden ift“. 

Wir müſſen aber auch bier zugleich erwähnen, daß Karl Richter 
durh die Herausgabe feiner „Päragogifhen Bibliothef, eine Sammlung 
der wichtigften pädagogifhen Schriften älterer und neuerer Zeit. Leipzig, 
Ciegismund und Bolfening”, die wir fhon oben erwähnten, ein befonderes 
Berbienft um unferen Unterrichtsgegenftand ſich erworben hat. 

Mittlerweile wurbe die Geſchichte der Pädagogik aud amtlich befonders 
betont dur die Preußiſchen Allgemeinen Beftimmungen vom 
15. Detober 1872. Es heißt in venfelben für die dritte (unterfte) Seminar- 
Hafle: „Pädagogik, zwei Stunden. Die Zöglinge erhalten das Wefentlichfte 
aus ter Geſchichte der Erziehung und des Umnterrichtes in lebendigen 
Bildern der bedeutendſten Männer, der bewegteften Zeiten, der intereflanteften 
und folgenreihften Verbeflerungen auf dem Gebiete ver Volkeſchule. Zur 


56 


Ergänzung und Veranſchaulichung biefer Bilder dient die Einführung in die 
Hauptwerke der pädagogifhen Literatur, vorzugsweife aus der Zeit nad der 
Reformation. Die Lectüre wird fo gewählt, daß fih die Beiprehung irgend 
einer pädagogifhen Frage an fie knüpft. Diejelbe wird derart behandelt, 
daf die Seminariften den Inhalt eines längeren Schriftftüdes ſelbſtändig 
und verftändig auffaflen lernen.“ Gewifjermaßen den Boden für dieſe Be- 
ftimmungen bereitet, hatte ver Geh. Rath Dr. Schneider durd feinen Auffag 
in Kehr's pädagogifhen Blättern (1872. Heft 1, ©. 20 ff.): „Unfere Auf- 
gabe in Beziehung auf die Geſchichte ver Pädagogik.“ Er meint da, daß 
nit die Einprägung eines dürren Leitfadens die Aufgabe ſei, aud fönne 
noch Fein lüdenlofer Zufammenhang gegeben werden, da bis jegt von einer 
eigentlichen Geſchichte der Pädagogik nicht füglih die Rede jein könne. 
„Andererfeits ift doch aber der Gefihtspunft der Geſchichte feftzubalten, und 
es find demnach einmal alle die Mittheilungen vom Unterrichte auszuſchließen, 
weldye Zuftände, Zeiten und Völker angehen, von denen fein Einfluß auf 
unfere Zeit und unfer Bolt nachgewieſen werben fann, und es find zum 
Andern die Wendepunfte in der Eulturgefhichte und ihr Einfluß auf vie 
Pädagogik recht klar in's Licht zu ftellen. Darnach beftimmt ſich die zeitliche 
und räumlihe Begrenzung des Stoffes.“ Er fließt demnach die pädago— 
giihen Syſteme der Oftafiaten aus, will aber Griechen, Römer und die 
Hebräer berüdfichtigt wiffen. Es fell dann folgen die Wende der Zeiten im 
Chriſtenthum, die inneren Kämpfe der Gemeinde, dennoch möchte er bier und 
im Mittelalter fein Verweilen anrathen, nur der Zuftand der Erziehung 
“ unmittelbar vor der Reformation muß genauer gefchilvert werden. Von der 
Neformation an wird der Unterricht ausführliher. Im Betreff ver Unter: 
richtsweiſe verzichtet er auf firengen Zuſammenhang und auf VBolftändigfeit. 
„Friſche, treue Lebensbilder den Seminariften zu geben, ift nach meiner An- 
fiht das Richtige. Diefe Bilder, welde der Seminarlehrer nicht aus einem 
Eompendium genommen haben fol, fondern bie er felbftändig erarbeitet 
habeyg muß, find Charafterbilver, Zeitbilver und Lebensbilver, d. h. es treten 
in * die Charaltere der bedeutendſten (vornehmlich deutſchen) Pädagogen: 
Luther's, Comenius', Spener's, Francke's, Rouffeau’s, Salzmann's, Rochow's, 
Peſtalozzi's, Dinter's und einiger der Neueren, je nach deren lokaler Bedeu— 
tung, vor die Seele der Zöglinge. Dieſe müſſen wiſſen, unter welchen Müh— 
ſalen, Kämpfen und Opfern ihre Vorarbeiter groß geſchaut und groß gebaut 
und welde Dunkespflicht fie am dieſe abzutragen haben. Zur Ergänzung 
und Verbindung dieſer Lebensbilder unferer großen Pädagogen vienen die— 
jenigen gewiffer Zeiten, namentlich berjenigen, in welde die Wendepunfte 
unferer Geſchichte fallen. — Hier handelt es fi) darum, Zuftände zu haraf- 
terifiren, welde ji in den engen Rahmen einer Biographie nicht faſſen 
laffen. Endlich folen unfere Schüler doch aud ein deutliches Bild von ter 
Einrihtung und der Entwidelung der Schule erhalten. — Diefe Schulbilver 
find in Biographien, namentlid in Selbjtbiographien, in Monographien und 
Programmen zu fuhen. Die Beftrebungen Bel’s und Lancafter’s, Jacotot's 
und anderer bahnbrechender Männer find auf diefe Weife zu veranſchaulichen. 
Ih hoffe, daß es nicht im zu ferner Zeit möglich fein werde, auch die Ge— 
ſchichte des Seminars in zwei oder drei pifanten Bildern den Seminariften 
zu veranfhauligen. Zur Ergänzung diefer Mittbeilungen, tbeilweife zur 


57 


Grundlage für diefelben, dient die Lektüre, und zwar bie ftatarifche als ein 
Theil des Unterrichts felbft. Ein pädagogiſches Leſebuch, welches viejelbe 
ermöglichte, wäre dringend zu wünſchen. — Alles aber kaun ver Unterricht nicht 
thun und darum fommt ihm bie geregelte Privatlectitre zu Hülfe. Die Grundlage 
für vie Charafter-, Zeit- und Sittenbilver fallen in dieſe und fo wechſeln in 
der Lehrftunde vie Vorträge der Seminariften mit venen des Lehrers ab. Den 
Gewinn meines Verfahrens babe ich als einen erheblichen erfahren, zumächft 
für den Lehrer, deſſen Gefichtsfreis fi ftetig erweitert, deſſen Urtheil ſicherer, 
deſſen Viebe zur Sache wärmer wird, dann aber — was doch der Zwed 
ift — für die Seminariften, denen anf diefem Wege eine folde Fülle von 
Anschauungen vorgeführt wird, daß fie zu der Möglichkeit kommen, ſich eigene 
Urteile zu bilden und fremde Erfahrungen zu dem ihrigen zu machen, wäh- 
rend der ſyſtematiſche Unterricht in der Pädagogik fie nur felten über bie 
Gefahr einer unfelbftändigen Abhängigkeit von dem Urtheile des Lehrers 
binmwegführt.“ 

Auf dem Seminarlehrertage zu Dresden 1874 habe ich felbit einen 
Bortrag darüber gehalten: Wie ift die Gefchichte der Pädagogik im Seminar 
zu behandeln ? Er findet fich nebſt ven Theſen abgevrudt in Kehr's päda— 
gogifhen Blättern 1875, ©. 122 ff. Da wir uns in dem Folgenden mit 
feinen Ausfiihbrungen noch öfter berühren werden, jo erwähnen wir bier nur, 
daß die beiven erften Thefen lauten: 1) „Die Gefhichte der Pädagogik im 
Seminar hat die Aufgabe, durch Pflege des geſchichtlichen Sinnes überhaupt 
ten Zögling zum richtigen Verſtändniß der Pädagogik unferer Zeit zu führen. 
Sie hat insbefondere ihn zu begeiftern für feinen Beruf durch anſchauliche 
Beſchreibung des Lebens großer Meifter und liebevolles Verſenken in ihre 
Werke und ihm Achtung einzuflößen vor dem bewährten Alten. Sie hat 
ihn aud durch die Betrachtung der fortlaufenten Entwidelung des Lebens 
"und ber barans fich ergebenden veränderten Aufgaben der Pädagogik anzu: 
leiten, ven Sinn offen zu halten für bie neuen Aufgaben, welde der nie 
raftende Fortſchritt der Cultur der Pädagogik ftellt, und für die neuen Ber- 
fuche, viefelben zu löfen. Sie hat ihn dadurch zu bewahren einerfeits vor 
dem falfhen Eonfervariemus, der des idealen Schwunges bar, die berechtigten 
Forderungen ber Gegenwart nicht anerfennt, und anbererfeitd vor ber 
phantaftifhen Neuerungeſucht, welche vie realen Lebensmächte ignorirt. 
2) Dieje Aufgabe hat die Geſchichte der Pädagogik durch zwei Eurfe zu 
löfen, durch einen einjährigen Borbereitungscurfus, welher am Unfange 
des pädagogiſchen Unterrichts im anfhaulihen Lebensbildern vie großen 
Meifter und die Zuftände großer Culturepochen im biftorifher Reihenfolge 
fchildert und durch einen Nepetitionscurfus am Ende ver Seminarzeit, in 
weldem befonders die Entwidelung der Pädagogik als Wiffenfhaft in den 
Vordergrund tritt.“ 

Wir haben fo, wie wir $ 1 eine Gefchichte der Geſchichtſchreibung 
ver Pädagogik gegeben haben, in $ 2 auch eine Geſchichte der Behandlung 
der Geſchichte ver Pädagogik im Seminarunterrichte in den Hauptzügen gegeben. 
Wir haben dadurd den doppelten Vortheil gewonnen, daß wir fennen 
gelernt haben, welches Material einmal fhon für dieſen Unterrichtszweig 
erarbeitet ift, und fobann, daß wir die Wege kennen gelernt haben, auf 
denen man dieſes Material im Unterrichte des Seminars zu verarbeiten 


58 


gefuht, over welhe man für dieſe Verarbeitung vorgefchlagen bat. 
Diefe Faktoren, das vorhandene Material und die bisherigen Metboven 
bürfen natürlich bei der Beftimmung einer Methode für dieſen Unterridts- 
zweig nicht aus der Acht gelaflen werben. Aber es muß auch für viele 
Beftimmung der Zwed und ber Nuten der Geſchichte der Pähngogit 
beachtet werten; denn von dem Zwecke eines Unterrichtsgegenftandes ift bie 
Methode deſſelben mit abhängig. 


II. 


Der Zweck und Nuhen der Gefchichte der Pädagogik umd deren 
Stellung im Seminarunterrichte, 


Wir haben bisher fhon häufig den Nuten der Geſchichte der Pädagogik 
von ben verjchiedenften Schulmännern preifen gehört. Sie hat aber mit 
aller Geſchichte zuerft den Nusen gemein, daß fie auf ihrem Gebiete ven 
geſchichtlichen Sinn entwidelt, ter das bewährte Alte achtet; fie 
ift aber fodann auch dadurch, daß fie die Vergangenheit erfennen lehrt, 
der Schlüſſel zum Berftändpniffe der Gegenwart; fie kann 
aber auch, wie Sladeczet (Die Gefhichte der Pädagogik in ihrer Be: 
deutung für Lehrerbildung und Lehrerwirkſamkeit ꝛc. Beuthen, Görlich und 
Coch 1875) e8 ausprüdt, vie Brüde fein, vie aus der Laienwelt 
auf das Gebiet pädagogifher Wiffenfhaft führt; fie fann 
die befte Quelle pädagogifher Erkenntniß fein (Deinbarkt), 
und fie fann enblih die Fräftigften Antriebe zum Weiterftubium 
geben. Wir laſſen hier nun den Nutzen, welchen bie Gefhichte der Pädagogik 
mit aller Geſchichte gemein bat, bei Seite und betrachten nur bie folgenden 
Momente, weil in die Augen fpringt, daß davon ſowohl die Stellung 
als auch die Behandplungsweife ver Geſchichte der Pädagogik im Seminar: 
unterrichte abhängen muß. 

a) Die Gefhihte der Päragogifift dadurch, daß fie bie 
Bergangenbeit erfennen lehrt, ver Schlüffel zum Berftänt- 
niffe der Gegenwart. Go haben ihren Nugen die beveutenbften 
Gefhichtfchreiber der Päragogif aufgefaßt. Aber es ift fein Zweifel, daß 
diefer Nugen eben nureiner wirklich wiſſenſchaftlichen Gefchichte ver Pädagogil 
vollfommen eignet; tenn fie muß, da aud die Erziehung alle menfchlichen Ber: 
bältniffe berüdfichtigen muß, Familie, Staat, Kirche, Religion, Wiſſenſchaft und 
Kunft, die Refultate der Philofophie und Anthropologie, die Gewerbe und 
Tebenserfahrungen als Bildungs- und Erziehungsmittel aufnehmen, ebenfo ven 
ganzen menfhlihen Gefichtsfreis umfpannen und alfo die Entwidelung tes 
geiftigen Lebens nad allen feinen Richtungen verfolgen und dies Alles in feinem 
Einfluffe auf die Erziehung varftellen. Bon einer folhen wiſſenſchaftlichen Geſchichte 
der Pädagogik kann allerdings behauptet werben, daß fie Die Gegenwart auffchliekt, 
daß fie, wie 8. Schmidt fagt, „zugleih die Schule ift, in ver der Menſch bie 
Wiſſenſchaft der Pädagogik lernt“. „Nur der wird in der Gegenwart am beften 
wiffen, was er in der Erziehung will und was er fann, der beobadhtet unt 
gelernt bat, was zu leiften möglih ift: das aber lernt und erfährt er 


59 

burh das Studium deſſen, was in ter Erziehung geleiftet und was darin 
gedacht if. Nur der fennt das Weſen und den Werth ver Erziehung, ber 
ber Entwidelung ber Erziebungsidee im Laufe der Jahrhunderte nach— 
gegangen ift. Nur der endlich fann bie wahrhafte Wiflfenfchaft ver Pädagogik 
der Gegenwart verftehen und felbjtihöpferifch in ihr auftreten, der fih in 
die Geſchichte der Pädagogik eingelebt hat. Die Wiſſenſchaft der Pädagogik 
ift ohne die Geſchichte der Päragogif ein Gebäude ohne Fundament. Die 
Geſchichte der Pädagogik ift felbft das vollenverfte und objectivfte wifjen- 
Ihaftlihe Syuftem der Pädagogik.“ So preift 8. Schmibt ten Nugen der 
wiſſenſchaftlichen Geſchichte der Pädagogik. Aber wir haben noch feine folche 
vollfommen wiffenichaftlihe Geſchichte der Pädagogik und können fie noch 
nicht haben, da uns, wie Dr. Schneider nachgewieſen hat, die nothwendigen 
Borarbeiten dazu fehlen, vor Allem eine wirkliche Geſchichte der Philofephie, 
eine Geſchichte ver Gefellfchaft und der Schulen. Aber es würde aud, 
wenn wir eine folhe Gefchichte der Päpagogif bätten, dieſelbe noch gar 
nicht in das Seminar zu bringen fein, venn eine foldhe, die fo hohe Voraus: 
fegungen hat, ift nur ein Studium für gereifte Männer. Mas davon im 
Seminar und zwar am Ende des Gurfus gegeben werben fann, ift und 
kann nur fein eine Vorbereitung auf das fpätere Studium etwa in ber 
Wetje, daß man im Anfchluffe an das, was Graefe in feiner „Pädagogik 
alde Syſtem“ 1845 von der hiftorifhen Entwidelung der philoſophiſchen 
Pädagogik gibt, oder im Anſchluſſe an Ludwigs „Grundſätze und Lehren 
vorzüglicher Pädagogiker“ (3 Bde. 1853— 1857) den gereifteren und bereits 
in der Pädagogik unterwiefenen Zözlingen einen Einblid in die Entwidelung 
der Pädagogik als Wiffenfchaft zu geben verfuht. Es würde alſo in dieſem 
Schlußeurſus etwa der Stoff den Mittelpunft bilven, ven ich in bem Lehr- 
buche der Pädagogik (4. Aufl.) Th. I, 8 32 angedeutet habe, jo daß bazu 
nur noch einzelne Rüdbeziehungen auf frühere Anfäge und Verſuche gegeben 
werben müflen. Gegen ein einfaches Berlegen der Gefhichte der Pädagogik 
an den Schluß des theoretifchen Unterrichts in der Pädagogik fünnte man 
aber auch ins Feld führen, was Gramer in ver Einleitung zu feiner 
Gefhichte der Pädagogik (Br. J. ©. XXV) fagt: „Mittelbar freilich ift die 
Geſchichte der Erziehung ein mefentlihes Erforberniß für die Erziehung 
jelbft, und wie es feine wahre und allfeitige Philofophie gibt, ohne eine 
Geſchichte der Philofophie, überhaupt feine Wiſſenſchaft ohne eine Geſchichte 
verfelben, fo kann es and feine wahre Erziehungstheorie ohne eine gründ- 
liche Einfiht in die Geſchichte der Erziehung geben, fondern jene fann 
höchſtens nur ein ‚verfchobenes Bild‘ gewähren und in einzelnen Strahlen, 
nicht als die ganze Sonne, uns erfcheinen.“ Und es wäre gleichfalls bie 
Anfiht von Schwarz über die Stellung der Gefchichte der Pädagogik, welche 
wir oben erwähnt haben, hierher zu ziehen. Indeſſen wollen wir nur bas 
Eine nod) einmal bier betonen, daß wir das jugendliche Alter ver Seminariften 
aus päbagogifhen Gründen für nicht geeignet halten können, ihnen eine 
wiſſenſchaftliche Gefhichte ver Pädagogik zu bieten, da ihnen nicht nur dazu 
die nothwendigen Borkenntniffe, ſondern auch die geiftige Empfänglichfeit 
fehlt. Es wird darin niemand ein Herunterfegen unferer Seminariften 
fehen, fondern nur die Rückſicht erlennen, die auch der höhere Unteridht auf 
Die pfochologiihe Entwidelung feiner Schüler zu nehmen hat. 


60 





b) Die Geſchichte ver Päpdagogif ift aberandh die Brüde, 
welche aus der Laienwelt auf das Gebiet päbagogifder 
Wiffenfhaft führe Es ift fhon aus $ 2 erfichtlih geworden, daß 
man verfchiedene Wege betreten hat, um den Seminarzögling in feine Bernfs- 
mwiffenfhaft, die Pädagogik einzuführen. Namentlich hat vie Frage, womit 
diefer Unterricht zu beginnen fei, ſtetes Imtereffe erregt und zu verſchiedenen 
Berfuhen Beranlaflung gegeben aus dem Grunde, meil man fi nit ver- 
beblt hat, dag die Pädagogik eine größere geiftige Reife verlangt, als man 
fie bet einem neneingetretenen Seminariften im Alter von 17 Jahren voraus: 
fegen kann. Man hat daher wohl mit der Fragebilpdung begonnen, aber 
biefe läßt nur zu leicht an bie bloße Praris der Schuiftube denken umd 
erzeugt zu leicht jenen banauſiſchen Einn, dem alles Ideale fremp bleibt, 
wenn fie auch nicht in handwerksmäßige Abrichtung ausartet. Man beginnt 
auch wohl mit der Logik und Pſychologie, aber dann verbietet fi ein früher 
Anfang von felbft, fo daß dieſelben höchſtens im zweiten Seminarjahre 
(18. bis 19. Jahr), am beften im legten Seminarjahre eintreten. Gerade 
in Bezug auf fie gilt, was Rouffeau fagt: „Was aud fitr eine Unterweifung 
dem Zöglinge nothwendig werben bürfte, fo bittet euch, fie heute zu geben, 
wenn ihr fie ohne Gefahr bis morgen verfchieben fünnet.“ Aufſchub ift 
gerade bei dieſen Wiſſenſchaften Vortheil, denn fie fordern einen gereiften 
Geift. Diefe Bedenken haben auch Deinhardt bewogen, die allgemeine Eultur- 
geſchichte als Unterlage für die Gejhichte der Pädagogik und für vie theo— 
retiiche Pädagogik der Lehrerfchule zu machen (Ueber Lehrerbildung zc. ©. 137 ff.), 
weil fih aus ihr, wie er meint, die Kenntniß anthropologifher Thatſachen 
und bie anthropologifchen Begriffe, welde zum Verſtändniß der Erziehungs: 
lehre erforberlih find, ergeben, theils für die ausprüdlihe Bermittelung, 
deren fie bebürfen, die Gefchichte der Pädagogik, die Methodif und die Er- 
ziehungslehre felbft — injofern fie anthropologiſche Kapitel einſchließt und 
rechtzeitig erledigt — vollkommen ausreihend find. Wir möchten Dagegen, 
wenn wir aud in dem Gefchichtsunterrichte in dem Seminare das cultur=hiftos 
riſche Element befonvers betont wünfchen, die Ueberleitung aus der Laienſtellung, 
die der angehende Seminarift noch einnimmt, zu dem Studium der Pädagogif 
der Gefhichte der Pädagogik zumeifen. Es ift nämlich zunähft eine an- 
erkannte Thatfache, daß in der Gejchichte der Pädagogik und das Allgemeine 
au einem Individuellen, das Abftrafte an einem Goncreten, die Idee an der 
ſpeciellen Thatfache, die Lehre an dem Beifpiele, die Theorie an ihrem Re- 
präjentanten veranfhaulicht entgegentritt, und biefe anfchaulihe Weiſe ent- 
ſpricht am beten der Entwidelung des menſchlichen Geiftes auch auf höheren 
Stufen, wenn es gilt, etwas ganz Neues ihm nahe zu bringen. Die Ge 
ſchichte der Pädagogik in diefer Stellung, alfo am Anfange, hat eine weſentlich 
propäbeutifhe Bedeutung für die Päragogif in ähnlicher Weije, wie fie die 
Encyelopädie der verfchiedenen Wiſſenſchaften im Anfange der Univerfitäts- 
ſtudien bat, aber fie ift viel anfhaulicher als jene, und orientirt doch and, 
wenn auch in anderer Weife wie jene, den Zögling in der gefammten Wiffen- 
ihaft, die ihm für fein Studium nod vorliegt, indem bie verſchiedenen Ge— 
biete, deren die Pädagogik fihb nah und nah im Laufe ihrer Entwidelung 
bemädhtigt hat, vor feine Augen treten, fo daß er am Schluffe, wenn, wie 
es gefhehen muß, die Geſchichte ver Pädagogik bis auf unfere Tage berak- 


61 





geführt wird, einen Ueberblid über das ganze Gebiet erhält und zwar, was 
die Encyelopädie nicht zu thun vermag, im concreten Lebensbildern, melde 
ihm hiftorifch-genetifh die einzelnen Fragen mit den bereits verfuchten Lö— 
fungen vorführen, fo daß er endlich ein Verſtändniß für die pädagogiſchen 
ragen und Aufgaben, die uns bewegen, gewonnen bat. Er hat dadurch 
gewiflfermaßen in den Werkftätten der Meifter felbft Erfahrungen gefammelt, 
und wenn man mit Recht für das Studium der theoretifhen Pädagogik vie 
Bedingung geftellt hat, daß jemand jhon Erfahrungen müſſe gemacht haben, 
fo Hat diefe Bedingung derjenige erfüllt, welcher die Geſchichte der Pädagogik 
durchgearbeitet hat. Dabei ift freilich der Hegel’fhe Gedanke, als ob die 
Phi loſophie und auch wohl andere Wiffenfchaften gefchichtlih in der Abfolge 
einer philoſophiſchen Rategortenlehre fih entwidelt haben, welchen Gedanken 
auch Rojenfranz auf feine ſyſtematiſche Ueberfiht der Geſchichte der Pädagogik 
in feiner „Pädagogik als Syftem“ (1848) zu viel Einfluß geftartet hat, hier 
abzırmweifen. Die Wiffenfhaften find im ihrer geſchichtlichen Entwidelung 
nicht den philofophifh-genetifchen Weg gegangen ; ihr Gang ift vielmehr ver 
biftorifch-genetifhe mit ſcheinbaren Nüdgängen und Sprüngen, in denen aber 
ein befonnener Forſcher doch einen vernünftigen Fortgang der Entwidelung 
erkennt. So ift es auch im der Pädagogik. Wir fehen aber in biefem 
Gange gerade einen Bortheil für die erfte Drientirung des jungen Zöglings 
in ber Pädagogif. Er wird durch die hiſtoriſche Erſcheinung gerade lange 
genug an einer Stelle feftgehalten, um Einblif und Intereffe dafür zu ge 
wirnen, fie hält ihn aber nod nit auf die Dauer an diefer Stelle feſt, 
eine neue Erjheinung richtet feine Blicke anf neue Gebiete, bis wiederum 
andere Erjheinungen die alte Frage nicht nur erneuern, fondern auch zeigen, 
ob die Löfung der Tragen nun beffer gelungen, tiefer gefaßt ift u. f. w. 
Wir wollen dabei nicht noch weiter verweilen bei dem, was Sladeczel ©. 8 ff. 
nachgemwiejen hat, daß ſchon durch die Geſchichte der (vorchriſtlichen) Pädagogik 
einem verftändnißlojen Aneignen der chriſtlichen Lebens- und Erziehungslehren 
vorgebeugt, pofitiv das Verſtändniß ihrer anthropologifhen und welthiſto— 
rifchen Bedeutung vermittelt, in der Intelligenz und dem Gemüthe des Zög- 
lings für eine geveihlihe Aufnahme verfelben der nöthige Boden gewonnen 
unD vorbereitet und fo die Gefhichte der (altteftamentlichen) Pädagogik ſelbſt 
zu einer Propäventif der chriſtlichen Erziehungslehre geftaltet wird, und daß 
dann bie weitere Gefchichte der Pädagogik zu einer Apologie der riftlichen 
Erziehung wird. Nur der Einwurf muß bier zurüdgewiefen werben, daß 
man barum, weil man eben fo wenig den Unterricht in der Geographie, 
Phyſik ꝛc. mit der Geſchichte derfelben im Unterrichte beginne, auch ebenjo 
wenig als erften Theil der Pädagogik deren Gefchichte lehren könne. That— 
ſächlich geht ja der Unterricht in der Geographie, wenn wir aud ben Kindern 
das nicht erzählen, den hiftorifch-genetifhen Gang vielfah, und ähnlich ift 
es in anderen Wiljenfhaften. Auch wollen viele Methodiker dem Unterrichte 
in der Methodik der einzelnen Fächer, eine Geſchichte der Methodik refp. 
der Entwidelung des betreffenden Faces vorausjhiden. Und endlich ift es 
doch ein Anderes um die Pädagogik für den Seminarunterridt, als um ben 
geographiſchen Unterricht in der Volksſchule ꝛc. Wenigftens wird man bas 
Peginuen mit der Geſchichte verfelben nicht unmethodiſch nennen können, 
wenn man die Grundſätze der Anfchaulichleit und vom Leichteren zum 


62 


Schwereren auch bier feithält. Außerdem ift Tas fein unwichtiges Moment, 
daß die Gefhichte der Pädagogik von vornherein das Intereffe der Schüler 
für die Päragogif überhaupt gewinnt nah dem Goethe'ſchen Worte: „Das 
Befte, was wir vou der Geſchichte haben, ift der Enthufiasmus, den fie er- 
regt.“ Und wir bedürfen für ihr Amt begeifterter Schulmänner, da noch 
jo vielfah der Schlentrian herrſcht. Ich Habe nun vielfad die Erfahrung 
gemacht, daß wirklihe Liebe zum Schulamte uns Zöglinge zuführt, ich weiß 
auch, daß noch heute gilt, was von Peſtalozzi gerühmt wird, daß nämlich 
die Liebe eines für fein Amt begeifterten Lehrers aud vie Liebe anderer 
anfacht zu heller Gluth; aber nirgends wird fi die Liebe zum Amte herr 
licher ausfprehen und offenbaren können, ald wenn wir den eimtreremben 
Berufsgenoffen an der Schwelle zum Heiligihume dieſes hohen Amtes die— 
jenigen fchildern, welche der Schule Liebe und Treue vor uns bewiejen, für 
fie gehofft, gebulvet, gerungen und Herrliches geihaffen haben. Bier gilt 
recht eigemilih: Verba docent, exempla trahunt. Und dies ift um jo 
leichter zu begreifen, als die Empfänglichkeit der Jugend im Gegenfatze gegen 
das nücterne Alter mächtigen Eindrud durch den Eiublid in das Werten 
und Schaffen großer, erhabener Perſönlichkeiten empfängt. „Und viefer Ein- 
fluß,“ fagt Sladeczek, „wird bier um fo bleibender und wirkſamer fein, je 
plaftifheanfhanlicher, anziehender und lebendiger die von deu hervorragenden 
Geſtalten der Erziehungsgefhichte getragenen Ideen für die höchſten Inter: 
effen der Menſchheit vem jungen Manne entgegentreten, ben deſto klarer 
werden fie ſich feinem Berftande, befto tiefer feinen Gemüthe einprägen, 
defto mächtiger auf feinen Willen und feine ganze Seele wirken, um fib in 
feiner Berufsthätigfeit zu realifiren. Iſt mir dod die Geſchichte ver Pädagogik 
in dieſer Beziehung immer wie ein reizendes Album berühmter Porträts 
und hodinterejlanter (ultur=) Landſchaften vorgefommen, in deren Anblid 
man fih ja fo germ vertieft, und die uns deſto mehr anziehen, je länger 
wir fie betrachten. Laffe man nur den angehenden Lehrer bei dieſen ſtumm 
feflelnden erziehungsgefhichtlihen Gemälden verweilen, mahe man ihm auf 
deren vollendere Seiten aufmerffam, und man wird ji überzeugen, daß ber 
Unterricht nicht allein am demonftrarivem Charafıer gewonnen, fondern aud 
aufgehört haben wird, eim Unterricht zu fein, „bei dem vie Köpfe glühen 
und die Herzen frieren“. Wie diefer eıfte Unterricht im der Geſchichte der 
Pädagogilk einzurichten ift, werden wir fpäter fehen. 

e) Der Unterridt in der Geſchichte der Päpagogit if 
auch die befte Duelle pädagogifher Erkenntniß. „Man ift“, 
io fagt ©. Baur in dem Artifel „Geſchichte der Pädagogik“ in Schmid's 
Encyelopädie Bo. V, S, 710, „almählih zu der Erkeuntniß gefommen, daß 
die Wahrheit niemals und nirgends nur das Produkt der Spekulation uud 
Reflerion eines einzelnen, wenn aud) noch fo hochbegabten Individuums ift, 
fondern daß ihr Gold durd tie gemeinfame Arbeit der gefammten Menfd- 
heit im Laufe der Zeiten -zu Tage gefördert uud dur die umerbittliche 
Kritik der Geſchichte von den Schlafen gereinigt wird. Es ift ein mu- 
beſtrittenes Verdienſt Hegels, daß er diejer Erkenntniß einerjeits dem eut- 
ſchiedenſten Ausdruck gegeben und daß er fie dadurch andererſeits im Bereiche 
der verichiedenen Wiffenichaften zu fruchtbarer Wirkjamkeit gebracht hat. Mit 
vollen Rechte jagt ein berühmter Schüler diefes Meifters (D. Strauß, Ölaubens- 


63 


lehre I, ©. X): „Die jubjective Kritik des Einzelnen ift ein Brunnenrohr, das 
jeder Knabe eine Weile zuhalten kann. Die Kritik, wie fie im Laufe ver 
Jahrhunderte ſich objectiv vollzieht, ftürzt als ein brauſender Strom heran, 
gegen ven alle Schleufen und Dämme nichts vermögen.” Schlimm wäre 
ed freilich, wenn, wie es bei dem Werke, an veflen Pforte der fo eben an— 
geführte Ausſpruch fteht, als Reſultat einer ſolchen geſchichtlichen Betrachtung 
nur die wenig tröftliche Ueberzeugung ſich ergäbe, daß eben alles eitel ift; 
wenn nicht vielmehr die Kritik der Geſchichte von dem Vergäuglichen das 
Bleibende, von dem Unmefentlihen das Wejentliche ausfcheiden lehrte. Der 
hohe Werth der Geſchichte der Pädagogik insbefondere befleht darin, daß fie 
zeigt, wie durch die wechjelsweife ſich ergänzende Thätigkeit ganzer Völker 
und Zeiten, wie einzelner Pädagogen, das eigentlihe Ziel der Erziehung 
fi immer beftimmter und zugleich umfaſſender herausgeftellt hat. Sie führt den 
Pädagogen als ein dienendes Glied in das Gebiet einer durd Jahrhunderte 
und Yahrtaufende ſich vorbereitenden großartigen gemeinfamen Thärigfeit ein 
und befördert bei rer Faſſung des Begriffes und der Aufgaben ver Pädagogik 
Umfiht, Befonnenheit und Gründlichkeit. Eben fo fehr, wie zur Adhrung 
gegen das bewährte Alte, mahnt fie durch Hinweiſung auf ven nie raftenden 
Fortſchritt des geiftigen Lebens und die ftets neuen Wandlungen, welden 
das äußere Leben unterliegt, ven Sinn offen zu halten für die neuen Auf- 
gaben, welche die veränderten Verhältniffe der Erziehung fielen. Zugleich 
aber warnt fie vor dem blinden Bertrauen auf neue, oder überhaupt auf 
beftimmte pädagogifhe Theorien, welche fi als vie alleinſeligmachenden an— 
preifen. Wer die Gefchichte der Pädagogik kennt, der weiß, wie deren fo 
manche von Amos Comenius und Wolfgang Ratich bis auf Yacotot und 
Fröbel aufgetaudt find und doch niemals zu leiften vermocht haben, was fie 
verhießen, weil fie eben die fubftanziellen Mächte ver Individualität und 
Nationalität, der Yamilie und der Religion, die focialen und gejchichtlichen 
Verhältniffe, weldhe bei vem Erziehungswerke jo bedeutſam concurriren, nicht 
gehörig würdigten. Die Geſchichte der Pädagogik lehrt dieſe im Erziehungs- 
proceffe jo mädtig mitwirfenden Faktoren in die Rechnung mitaufnehmen, 
damit dieſe fih nicht am Ende als trüglid erweife. Und zumal in einer 
Zeit, in welder die Maſſe der Halbgebilveten der Läftigen Rüdfiht auf das 
geſchichtlich Gewordene durch vie jelbgefällige Berufung auf pie feiner 
Begründung bedürfenden Rechte der „Neuzeit“ fi glaubt entziehen zu 
Einuen, war es gewiß nicht wohlgerhban, wenn Diefterweg dem Publikum 
der Volksſchullehrer den zugleich für die geiftige Trägheit zu verlodenden Rath 
ertbeilt: „Das meifte hiſtoriſch-pädagogiſche Wiſſen, wenigftens der grauen 
Vorzeit, gehört für den Volksſchullehrer zum pädagogifhen Kerne, für fie 
ft nur die Geſchichte des modernen Schulwejens, feit 1770, belehrenv. * 
Bielmehr gilt ganz beſonders von der Gefhichte der Pädagogik das Wort 
eined geiftreihen Schriftftellers, daß die Geſchichte vergangener Zeiten ein 
rechter Baum der Erfenntniß des Guten und Böfen ſei.“ Man wird aber 
auch nicht irre gehen, wenn man vie in den Kreifen der BVolfsihullehrer 
jo allgemeine Gleihgültigkeit und Unmwifjenheit in der Theorie ihres Berufes, 
und dem geifllofen Schulmehanismus, dem fie fo bald anheimfallen, fo daß 
fie nicht Menſchenbildner, fondern nur griehiihe Sclaven = Pädagogen finv, 
darauf zurüdführt, daß ihnen die Pädagogik nicht gründlih und anziehend 


64 


genug durch anthropologifc = hiftorifhe Behandlung nahe getreten ift. Denn 
dag wird man nicht leugnen können, daß nur der Unterricht, welder fid 
auf ein tiefes -Intereffe an dem Lehrgegenftande gründet, eine bleibende 
Wirfung hat. Es wird darum aud aus jener mangelhaften Wirkung bes 
Unterriht8 in der Pädagogik, wie fie in mancherlei Erfheinungen im ber 
Lehrerwelt zu Tage tritt, zurüdgejchloffen werden, daß derſelbe ebenjo ein 
nur ſchwaches Intereffe erregt hat dur eine dem jugendlichen Geifte nicht 
angemefjene Darftelung, und feine tiefe Einficht in die Natur des egen- 
ftandes erzeugt hat. Die Behandlung einer fo tief abftracten Lehre, wie 
die Pädagogik es ift, auf rein philofophifhe Weile ohne einen auſchaulichen 
Borceurfus muß für die jugenblihen Schüler natürlich unverſtändlich und 
reizlos fein. Diefen anfhaulihen Vorcurfus und zugleich diefe auſchauliche 
Unterlage bei ber weiteren Darftellung der Pädagogik bietet die Geſchichte 
der Pädagogik. Durch fie erfcheint jede Lehre der Pädagogik als das, was 
fie wirklich fein fol, das legte Reſultat einer langen Entwidelung, jo daß 
man eben ihre Geftaltung und ihr Wefen nicht beffer Har legen und 
begründen kann als durch ihre Geſchichte, und durch nichts gewinnt ber 
Unterriht in der Pädagogik fo ſehr an Anfhaulichfeit und zugleih an 
wiffenfhaftliher Grändlichkeit, als durch feine Entwidelung auf Grundlage 
der Geſchichte der Pädagogik. Aus dieſen Gründen will Deinharbt, wie 
wir oben fahen, vie pädagogijche Theorie ſtets hiſtoriſch behandelt wiffen und 
dahin zielt auch Sladeczek, wenn er fagt: „Da bdiefelbe (die Geſchichte ver 
Pädagogit) mit den nadten empirischen Gulturerfheinungen des Alterthums 
beginnt, und das pädagogiſche Bemwußtfein der Völker, von der faft rein 
finnlihen Anfhauung ausgehend (Sparta), fi darin nur allmählich zu 
Neen fublimirt: fo hat das Studium der Pädagogik auf hiſtoriſchem 
Boden Schon in feinem Beginn den Vortheil, daß es, ohne alle Gefahr 
unverftanden zu bleiben, weder bejondere Geiftesfhärfe vorausfegt, noch 
den im jelbftändiger Spekulation keineswegs geübten Neuling ex abrupto 
in bie Welt der Ideen verjegt. Es hat ferner den PVortheil, daß ver 
Zögling mit dem continuirlihen Fortgange feines Gegenftandes felbit 
continuirlic wächft, indem ſich mit der beftänbigen Erweiterung des Geſchichts- 
feldes aud fein Horizont beftändig erweitert, mit der ftetigen Entwidelung 
der Ireen ſich auch feine innere Auffaffungsfraft ftetig entwidelt, mit der 
allmählihen Klärung und Zunahme der Eultur» und Erziehungsbegriffe der 
Menſchheit auch feine Cultur- nnd Erziehungsbegriffe fih allmählich klären 
und zunehmen. Dabei macht es eine gute Anleitung möglich, daß er bie 
allgemeine Wahrheit von der concreten Thatſache jelbft abftrahire, die einzelnen 
Geſetze (inbuctiv) felbft conftruire, die Genefiß der Hauptgrunbfäge ber 
Methodik (Anfchaulichkeit, Naturgemäßheit u. f. w.) mit Bewußtſein ver- 
folge, das Ganze, wo es fi läßt, aus ben gegebenen oder von ihm jelbit 
gefammelten Theilen zufammenfüge und fo bei guter Führung nad ber 
Pointe des Ganzen, ber hriftlichen Erziehungsidee, fi das Syſtem auf der 
breiten Unterlage ber Geſchichte pyramidenartig felbft conftruire, foliver und 
jpiger zugleich, als er es dur das angeftrengtefte Studium des beften ab- 
ſtraet⸗ſyſtematiſchen Handbuchs würde haben erreichen künnen.” ben dahin 
neigt Kellner, mwelder in den Aphorismen (Zur Pädagogik der Schule 
und des Haufes. Eſſen, Bädeker, 9. Aufl. 1874) Nr. 117 jagt: „Wenn in 


65 

der hiſtoriſchen Entwidelung einer Wiſſenſchaft, in ver Weiſe, in welcher fie 
fi in dem Menfchengeifte während des Laufes von Jahrhunderten bis zur 
jetzigen Höhe erhob, zugleich die bedeutungsvollften Winke über die Methove 
des Gegenftandes liegen, ja, wenn dieſer Entwidelungsgang vielfach die 
Methode ſelbſt ift, fo leuchtet damit zugleich die Wichtigkeit der Erziehungs: 
geſchichte als Unterrichtsgegenftand unwiderfprehli ein. Die Conftruction 
der Pädagogik a priori, wie wir fie in den Seminaren zu hören gewohnt 
find, hat viel Miglihes und Unzureihendes. Wenn man ben Bildungs: 
ftand, mit welchem unfere jungen Leute in die Seminare eintreten, wenn 
man babei ihr jugendliches Alter erwägt, fo leuchtet ein, daß fie zu einer 
pbilofophifhen und abftraft-theoretifhen Behandlung und Auffaffung ver 
Erziehungslehre nod nicht befähigt find, und daß fie bei einer folden meiftens 
nur mit dem Gedächtniß auffallen, ohne daß die gemürhlich-praktifche Seite 
ihre entſprechende eindringliche Vertretung fände. “Dazu kommt, daß die 
abftraft»theoretiihe Behandlung trog ihrer Unzulänglichkeit den unreifen 
Jüngling oft genug zur eiteln Selbftgefälligkeit führt und mit Plittern und 
Glasperlen ausftattet, welche er leicht für echte Kleinodien anzufehen pflegt.“ 
Wir find allerdings auch der Meinung, daß die Gefhichte der Pädagogik 
am naturgemäßeften zum Studium der Pädagogik überleitet und fordern fie 
darum als Anfangsunterriht und als Grundlage für den Unterricht in der 
Päpvagogif. Diefen Unterricht felber aber fters hiſtoriſch zu geftalten, wie 
Deinharbt will, das ſcheint uns nicht nöthig und, weil zu umftändlih und 
vielfach den Zuſammenhang ftörend, nicht möglih. Nur das fcheint ung 
geboten, daß durch ſtete Repetition der Geſchichte der Pädagogik dieſe ftets 
präfent erhalten werde, und daß bei einzeliien wichtigen und grundlegenden 
Sätzen deren Bewegung in der Gefhidhte nadgewiefen werde. Es bleibt 
dadurch ter Schüler immer im lebendigen Fluffe ver Entwidelung und wird 
dadurch auch angeleitet, die Gegenwart aus der Vergangenheit zu verftehen. 
Angemeſſen aber erjheint e8 auch uns, die Methode der einzelnen Fächer 
mit einer Geſchichte des betreffenden Unterrichtszweiges einzuleiten, um den 
Schüler von vorn herein zu orientiren und das Verſtändniß der folgenden 
methodiſchen Auseinanderfegungen zu fihern. Als Hülfsmittel dazu bieten 
fi an: Dittes, Methodik der Volksſchule, in der er aber den Keligions- 
unterricht ansgelaffen hat, und Kehr, Gefhichte ver Methodik der Volks— 
ſchule (Gotha, Thienemann 1877). 

d) Die Gefhihte der Pädagogik gibt aber aud endlich 
die Ffräftigften Antriebe zum Weiterſtudium; venn fie macht 
vor Allem demüthig und befcheiden, weil fie erkennen lehrt, daß ſchon 
vieles erarbeitet ift, das man noch nicht fein eigen nennt, fie erwedt 
aber aud Intereſſe an der Berufswiffenfhaft in dem Herzen des jungen 
Lehrers und darum auch Luft, fi in diefelbe weiter zu vertiefen, und gibt 
die rechte männliche Selbftändigkeit, die nicht fih von jedem Schlagworte 
fangen läßt, weil er die verfchiedenften Richtungen in der Geſchichte ber 
Pädagogik kennen gelernt har. Da er aber im Seminar erft Grundziige 
verfelben und auch nur Stüde der Hauptwerfe der Meifter Fennen gelernt 
bat, fo wird in ihm, wenn nur fonft der Unterricht auregend gewefen ift, 
vie Sade felbft auf ihn fo anregeud wirken, daß er gern nicht nur bie 
Geſchichte der Pädagogik, theils im Ganzen und Großen, theils in einzelnen 

Schumann, Gedichte d. Pädagogik im Seminarunterridt. 5 


66 
Zweigen und durch die Biographien bedeutender Pädagogen weiter ftubiren 
wird, fondern auch nun, da er fie zu benugen im Seminar gelernt hat, bie 
Hauptwerke der großen Meifter eingehender ftudiren. Er wird dadurch nicht 
nur bie pädagogiſche Vergangenheit richtig und felbftändig würdigen lernen, 
da bies, wie A. Richter richtig fagt, nur möglich ift, „wenn eine vollftändige 
Einfiht im die pädagogifhen Schriften früherer Zeit ermöglicht wird, und 
ihre Berfaffer in derfelben Urfprünglichfeit vor den Lefer treten, in welcher 
fie in ‚ihrer Zeit fanden und ihren Ideen Ausprud verliehen“. Er wirt 
dadurch auch felber pädagogifch reif werden; venn er lernt nicht nur von 
den Beiten feiner Zeit, fonbern aller Zeiten, e8 wird fich feine Liebe zum 
Beruf, feine Demuth, feine Treue entzünden an ihrer Begeifterung, Auf: 
opferung und Treue, Er wird aber auch geiftig reifen; denn wie der perſönliche 
Umgang mit genialen Menfhen durch die von ihnen ausgehende geiftige 
Anregung den geiftigen Fortſchritt befördert, fo gewährt auch die Vertiefung 
in die Werke genialer Männer durch die Auftrengung, die fie uns fort 
während zumuthet, eine vielfeitige und energifhe Anregung aller Geiftes- 
anlagen. Mit Recht jagt daher Sladeczek: „Die Beihäftigung mit den 
erziehungsmifienfhaftlihen Principien wird des jungen Lehrers Geiftesfräfte 
Shärfen und zur Bollreife entfalten. Die Verſchiedenheit der ſich ſchroff 
entgegenftehenden und ſich gegenfeitig befämpfenven Anfhauungen, Ideen unt 
Syſteme wird feine Berftandes- und Bernunftthätigfeit erhöhen, ihn zum 
Forſchen, Unterſuchen, Vergleichen, Unterfcheiden, Prüfen und Abſchätzen des 
Einen und des Anderen anregen. Dies wird ihm die eindringlichfte Be— 
lehrung über das Weſen der Dinge gewähren, die Kriterien des Objectiven 
und Subjectiven, des Univerjellen und Individuellen, des Wejentlihen und 
Zufälligen, der Wahrheit und des Irrthums ins Bewußtfein bringen; dies 
ihm jene Bejonnenheit und Klarheit, die fih nicht von jeder Laune des 
Zeitgeiftes willenlos fortreifen läßt, fowie jene Selbftändigfeit des Urtheils 
ertheilen, die ihn den fubjectiviftifhen Utopiftereien irrationaler Phantaften, 
deren es zu allen Zeiten gibt, unzugänglich macht, ihn endlich zur immer 
bewußten Selbſtentſcheidung und WParteiftellung veranlaffen. Die Einſicht, 
daß jelbft den vorzüglichften Geiftesfhöpfungen des Menſchen aller Zeiten 
immer nod etwas Unwahres anhängt, wird in ihm die Ueberzeugung von 
der Unvolltonmenheit aller Menfchenwerte überhaupt, fowie die andere 
Ueberzeugung begrünten, daß die Wahrheit nie und nirgends das Reſultat 
des Denkens eines Einzelnen, wenn aud noch fo Hocbegabten ift, jondern 
daß fih ihre Strahlen in jedem Geifte anders breden und immer mehr 
oder weniger gefärbt erfcheinen; daß, wenn er deshalb zu dem erforderlichen, 
freien Urtheile fommen wolle, um mit Umnbefangenheit an die Löſung ver 
Zeitfragen berantreten zu können, er jene Strahlen im Brennpunkte bee 
eigenen Geiftes jammeln und mindeftens bie Arbeiten der bedeutendften 
Denker auf dem Gebiete der Pädagogik älterer und neuerer Zeit kennen 
lernen müffe, um ihre Ideen unter einander vergleichen und ihre Beftrebungen 
würdigen zu fünnen. Gr wird ferner aus dem Gange der Erziehungs 
geihichte einfehen Iernen, daß die Wahrheit wohl ftellen- und zeitweife 
zurüdgedrängt — und zwar befto leichter, je mehr fie mit Elementen ber 
Unmahrheit verfegt ift —, nie aber ganz unterbrüdt werden kann, jondern 
fi, gereinigt, vefto herrlicher wiepererhebt und in die Erſcheinung tritt. 


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Die fortlaufende Beſchäftigung mit der Idee der Menfhenbeftimmung und 
ihren Confequenzen wird felbft im dem jugendlichen Lehrer jenen ruhigen 
und gemefjenen Ernſt begründen, der ven Yüngling vor den Mannesjahren 
zum Manne reift. Als foldher wird er die der Jugend anhaftende Neigung 
zur Illuſion ablegen und mehr mit dem gegebenen, als mit imaginären 
Größen rechnen lernen; er wird feiner Neuerung bei fi ohne Weiteres 
Eingang gewähren, fondern die Beftrebungen feiner Zeit ftets an dem 
kritiſchen Maßſtabe der Geſchichte prüfen, beurtheilen und ihnen prognofticiren, 
denn „der gute Hiftorifer ift auch ein guter rüdmärts gewandter Prophet”. 
Er wird fi von dem platten Dilettantismus der hbeftändigen und un— 
biftorifhen Methovenbefprehung abmwenten und einer mehr gründlichen 
Behandlung aller fahmwiffenihaftlihen Fragen und Problem zumenden. De 
weiter er auf dem Alles umfaffenden Gebiete der Erziehungsgeſchichte vor: 
gerüdt fein und durch Streifblide nah den Nahbargebieten von der Uner- 
meßlichfeit des menfchlichen, bereits zum fchriftlihen Ausdruck gelangten 
Wiffens einen Begriff bekommen, haben wird, deſto mehr wird er ſich von 
den im immer größere Ferne entweichenden Grenzen der Wiſſenſchaft ange: 
lodt fühlen und fi ihr und einen ideellen Streben in die Arme werfen, 
defto mehr gleichzeitig auch von jener lächerlichen Arroganz frei bleiben, mit 
der die auf ihren winzigen Beſitz eingebilvete Unwiffenheit ihre Blößen zu- 
zubeden pflegt. 

Sol nun aber ein folhes Studium der Geſchichte der Pädagogik 
ermöglicht werben und ſolche Frucht tragen, fo ift aud an den Unterricht 
in derfelben die Forderung zu ftellen, daß er wenigftens einigermaßen nicht 
nur durch die geregelte Privatlectüre, fondern and im Unterrichte felbit 
durch ftatarifche Pectüre in einzelne Hauptwerfe der pädagogiſchen Meifter 
einführe, um die jungen Yeute fchwimmen zu lehren. Sodann ift nöthig, 
daß der in dem erften Unterrichte in ver Gefchichte der Pädagogik erworbene 
Stoff durch regelmäßige Repetition präfent gehalten und vertieft werde und 
endlich, daß biefer Repetitionscurſus auf der oberften Stufe aud) die Zöglinge 
in bie Entwidelung ver Pädagogik als Wiffenfhaft einzuführen ſuche. Denn 
das ift auf den erften Anblick erfichtlich, daß nicht Alles aus der Geſchichte 
der Pädagogik an den Anfang des Seminarunterrihts zu verlegen iſt. 
Manche Fragen, z. B. eben die Entwidelung der Pädagogik als Wiſſenſchaft, 
innen auf der Anfangsftufe nicht behandelt werden. Wenn daher in dem 
fortlaufenden pädagogiſchen Unterrichte durch Repetitionen und durch Nüd- 
beziehungen an geeigneter Stelle der Lehrer dafür Sorge getragen bat, daR 
die Ergebniffe des erften Unterrichts in der Geſchichte der Pädagogik nicht 
verloren geben, fchließt der Unterricht im der Pädagogik mit einem Gurfus 
ihrer Geſchichte, bei der einzelne Sachen je nad Yänge der Zeit ausführ— 
liher behandelt werben, in dem aber nun die Entwidelung der Pädagogil 
als Wiſſenſchaft, fo weit es möglich ift, die Hauptſache ift, um die angehen- 
den Lehrer für ihr Weiterftudium zu orientiren. 

Wir haben alfo auf dieſe Weife eine breifahe Stellung und aud) 
verfchiedene Behandlung der Gefhichte der Pädagogik im Seminarunterricte 
gefunden und zu fordern: 

a) einen einjährigen Eurfus, welder am Anfange des 

pädagogifhen Unterridtes in anfhauliden Lebens: 
5* 


E 


bildern die großen Meiſter und die Zuſtände großer 
Culturepochen in hiſtoriſcher Reihenfolge ſchildert, 

b) einen Repetitionscurſus, welcher den fortſchreiten— 
den Unterricht in der Pädagogik begleitet und das im 
erſten Curſus verarbeitete Material präſent erhält und 
vertieft, und 

e) einen abſchließenden Curſus am Ende der Seminar— 
zeit, welder befonders die Entwidelung der Pädagogik 
als Wiffenfhaft zu betradten hat. 


IV. 


Auswahl, Anordnung und Behandlung des Stoffes der Geſchichte 
der Pädagogik. 


1. Wir haben jhon öfter erwähnt, daß ebenfo verſchieden wie bie 
Stellung, welde man der Geſchichte der Pädagogik anweiſt, auh die Aus— 
wahl des Stoffes ift, welde man für den Unterricht im diefem Gegen: 
ftande getroffen hat. Wir gehen daher auf viefe Verfchiedenheiten bier nicht 
weiter ein, fondern treffen nun felber eine Auswahl des Stoffes mit Nüd- 
fiht auf die von uns geforderten drei Curſe. 

a) Für den einjährigen Curfus am Anfange des pädagogiſchen 
Unterrichts find wöchentlich zwei Stunden erforberlih, um in anfchauliden 
Lebensbildern die großen Meifter und die Zuftände großer Culturepochen zu 
ſchildern. Es ftehen dann in dem Jahre ungefähr 84 Stunden zur Ber 
fügung. Mit Rüdfiht auf diefe Stundenzahl und auf die Bedeutung, melde 
diefer Curſus hat, daß er nämlid die Zöglinge für päbagogifche Fragen 
empfänglich machen und intereffiren fol, und im Iutereffe einer gründlichen 
Verarbeitung, bat fih die Stoffauswahl auf das gefhichtlihe Material zu 
beihränfen, von dem fid) ein Einfluß auf die Geftaltung unferer Zeit unt 
unferes Volkes leicht nachweiſen läßt, wie es Dahlmann der Gefchichts: 
barftellung überhaupt vorfchreibt, „fie folle nur ſolchen Bewegungen nadı- 
geben, welde in die Gegenwart münden“. Es bleibt daher weg eine 
Schilderung des Erziehungswefens der Chinejen, Iapanefen, Indier und ber 
auderen oftafiatifchen Bölferr. Was davon dem jungen Yehrer von Intereſſe 
ift, kann in die Schilderung der Gulturzuftände diefer Länder, welche vie 
Geographie gibt, eingeflochten werben, und über ägyptifhe und perfilde 
Erziehung gibt die übrige Gefchichte das Nöthige. Dagegen darf nicht 
fehlen eine Zeihnung der Erziehung Sparta’8 und Athens, weil die Griechen 
noch heute an der Erziehung unferer Jugend mitarbeiten. Begeiftert weift 
daher Schwarz in feiner Gefchichte der Erziehung (I, ©. 231) auf fie hin 
mit den Worten: „Ein freies und ſchönes Leben eröffnet fih im ber 
Bildung der Griehen. Wir treten da ein in das freundliche Laud, wo wir 


69 
im Frühlinge unferer Jugend umberwandelten und einen heimathlichen 
Boden für Geift und Gemüth gewannen. Athen ift auch unfere Stubien- 
ftabt, der ionifhe Himmel unfere Erheiterung, die ſpartaniſche Manneskraft 
unfere Kräftigung und Alles, was die griehifhe Eprahe von dem Dften 
in Sleinafien, über das Inſelmeer bis zum Weften in Unteritalien, von 
ver Südſpitze des Peloponneſes bis zum rauhen Thracien uns zugeführt, ift 
unfer geiftiges Eigenthbum geworden. Die berrlichfte Poefie lebt von dorther 
unter und als Muje jelbft, das Höchſte ver Kunft fteht von dorther mitten 
in wunferen Sälen zur fortdauernden Bewunderung und Nachbildung, bie 
Philoſophie leuchtet in ihren vollendeten Syſtemen gleih Sternen von 
dorther zu immer tieferer Erforfhung, alle unfere Wiffenfhaften find von 
dortber angeregt, und die Sprache felbft, die geiſt- und gemüthreichite, bie 
wir bisher kannten, jchon in ihrem Stamme der unfrigen nahe verwandt, 
ift fo in unfer ganzes Denken, Dichten, Wiſſen, Fühlen eingegangen, daß 
wir fie in Schule und Haus, in Tempeln und Akademien walten laſſen, 
um in ihr den Genius unferer Bildung zu vernehmen.“ Nicht allein ver 
Gelehrte, unjer ganzes Volk erfährt noch heute durch den Einfluß, den vie 
gelehrte Bildung auf unfere allgemeine Boltsbildung ausübt, Förderung 
feiner Bildung durd die Griechen. Außerdem aber bietet gerade ber Fort— 
ſchritt der Erziehung bei den Griechen von Sparta zu Athen bie befte 
Gelegenheit, die Zöglinge recht anfhaulih immer tiefer in erziehliche Fragen 
einzuführen, jo daß fie zugleich wie in einer Art Einleitung nit nur die 
verjchiedenen Seiten der Erziehung, leiblihe umd geiftige ꝛc., ſondern aud 
das Anwachſen der Unterrihtsfächer für den Jugendunterricht kennen lernen. 
Außerbem bieten auch die großen Meifter ver Griehen: Pythagoras, 
Sokrates, Plato, Ariftoteles und Plutarch, abgejehen von den philoſophiſchen 
Spftemen, fo viel Intereffantes und Belehrendes auch für den Anfänger, 
daß fie nicht völlig aus dem Anfangsunterricht brauchen verwiejen zu werben. 
Die Lehrweife des Sofrates wenigftens fann leicht veranfchaulicht werben, 
und die Gedanken des Plutarh über die Erziehung der Kinder find auch 
auf diefer Stufe verftändlich. 

Es darf ferner nicht fehlen die Erziehung Roms, deſſen Einfluß das 
ganze Mittelalter beherrſcht, zumal deren Darftellung keinerlei Schwierig: 
feiten bietet. Beſonders herauszubeben find nur Gato, Cicero und 
Quintilian. An dieſen beiven Böltern, den Griehen und Römern, jollen 
die BZöglinge lernen, wie weit bie Erziehung der begabteften Bölfer ohne 
die Offenbarung es gebraht hat. Um aber die Bedeutung der chriftlichen 
Erziehung als Mittelpunkt der gefammten Erziehungsgeſchichte recht würdigen 
zu lernen, ift aud ein kurzer Ueberblid über die Erziehung bei dem Bolfe 
Ffrael zu geben. So vorbereitet fünnen die Zöglinge nun den Einfluß des 
Chriſtenthums auf die Erziehung verftehen. Die Stellung, welche die drift- 
liche Bildung zu der heidniſchen einnahm, ift darauf in ihrer verjchiedenen 
Richtung zu veranfhauliden an dem Pädagogos des Clemens von Alerandrien, 
an der Rede des Bafilins an die Yünglinge, an Iohannes Chryſoſtomus, 
an Hieronymus und Auguflinus, wobei aud die Katechumenatserziehung ihre 
pafſende Stelle finder und zugleidy die Erziehung in den Klöftern die Ueber- 
Leitung zu den Klofterfhulen bildet. Bon diefen find nad) ven Beftrebungen 
Benedictd von Nurfia zu fehildern St. Gallen, Reichenau mit Walafried 


70 

Strabo und Fulda mit Rhabanus Maurus. Es folgt dann die Einrichtung 
der Domfhulen, Karls res Großen Bemühung um die Volksbildung, bie 
ritterlihe Erziehung und das ftäbtifhe Schulmefen. Bon den großen 
Meiftern werden nur behandelt Gerbert und Gerfon, während Vincentius 
von Beauvais dem legten Curſus vorbehalten bleibt. Bon den Humaniften 
werben nad) einer kurzen Weberficht über die bumaniftifchen Beitrebungen 
die Hieronymianer, Erasmus und Reuchlin gezeichnet, und die Schilderung 
des Zuſtandes der Erziehung und des Unterrichts unmittelbar vor ber 
Reformation bildet den Abſchluß diefer Reihe von Bildern, welde etwa in 
26 Unterritöftunden zu bewältigen find, fo daß etwa 10 Stunden auf bie 
vorchriftlihe Erziehung, 16 Stunden auf die Behandlung der Erziehung 
während des Mittelalters fallen. Bei viefer Auswahl können aud die 
Abſchnitte, welche ih in meinem Lehrbudhe ver Pädagogik Theil I geboten 
babe, aus Plato's Menon, aus Plutard, Duintilian, aus dem Pädagogos 
von Glemens, Bafilius, Chryfoftomus, Hieronymus, Auguftinus, Walafrier 
Strabo, Erasmus und Platter theils gelefen, theils für die Privatlectüre 
vorbereiten beſprochen werben. 

Der Stoff von Dr. Martin Luther bis auf die Neuzeit zerfällt in 
zwei Öruppen, in die Zeit von Luther bis auf Peftalozzi und in die Seit 
von Peſtalozzi bis auf unfere Zeit, deren jede wieder je 28 Unterrichts 
ftunden beanfprudt. In den Vordergrund treten in ber erften Gruppe 
Luther, Melanchthon (Bugenhagen für Norbbeutfchland, Brenz für Süd— 
deutichland), Trogendorf, Sturm (Neander und Nic. Hermann), die Yefuiten, 
Ratke und die Neuerer, A. Comenius, Ernft der Fromme, Spener, 3. Yode, 
Trande (die Ausgeftaltung der preußifchen Volksſchule durch Friedrich 
Wilhelm L und Friedrich IL, Heder und Felbiger), Roufieau, Baſedow und 
Salzmann, Eberhard von Rochow. Es können dabei, wenn auf Luther vier, 
auf Melauchthon zwei, auf U. Comenius vier, auf Frande zwei, auf 
Rouſſeau zwei, auf Baſedow und Salzmann drei Stunden gerednet werben, 
Luthers Schrift an die Bürgermeifter und Rathsherrn, ver ſächſiſche Schul— 
plan, die Didactica magna, ber Unterricht, wie die Kinder zur wahren 
Sottfeligkeit und chriſtlichen Klugheit anzuführen find, der Emil, vas 
Ameifenbüdlein ſtückweiſe gelefen und für vie Privatlectüre vorbereitend 
befprochen werben. 

In der zweiten Gruppe tritt zunächſt das Lebensbild Peſtalozzi's in 
den Vordergrund, bei dem man wohl acht Stunden und länger verweilen 
fann, um tiefer in feine Ideen und Schriften einzuführen. Es folgt dann 
Herder und die Entwidelung der Volksſchule im 19. Jahrhundert, wobei 
Dinter, Bell und Lancafter, Iacotot, Diefterweg, Natorp und Overberg nebft 
Harniſch befondere Berüdfihrigung finden. 

b) Für den Repetitionscurfus, welcher ben übrigen pädagogiſchen 
Unterricht im zweiten und während eines Theiles des dritten Jahres be- 
gleitet, find dann noch einzelne Lüden auszufüllen. In ihm kann aus ber 
griechiſchen Erziehungsgefhichte Pythagoras, Plato und Ariftoteles, aus dem 
Mittelalter und der Neuzeit noch Manches, z. B. Leffing, Schiller, Goethe 
Berüdjichtigung finden. Er beanfprudt von jeder Stunde 10 Minuten oder 
wöcentlih eine Viertelftunde und kann and die Geſchichte der Methobif 
berüdfichtigen, entweder in dieſer Zeit oder fo, daß die Geſchichte der Methodik 


71 


die Einleitung zu der Behandlung der Methode der einzelnen Fächer, vie in 
den verfchiedenen Fachſtunden ſelbſt ertheilt wird, bildet. Und es dürfte 
diefer legtere Weg am amgemefjenften jein, weil dadurch die methodiſche 
Belehrung felbft von vornherein auf das nöthige Verſtändniß bei den 
Schülern zu rehnen bat. Im diefer Beziehung jagt Stoy (Emcyelopädie 
der Pädagogik): „Eine einfeitige ertreme Richtung, wie vor einigen Jahren 
die von Wadernagel erfundene Weife des deutſchen Sprahunterridhts, kann 
gar nicht anders verftanden und begriffen werben, denn als Reaction gegen 
das Wurftifhe Regiment.“ Darum flimmen wir barin mit fr. Dittes 
überein, welcher in der Vorrede zur dritten Auflage feiner „Geſchichte ver 
Erziehung und des Unterrichts“ jagt: „Die ausführliche Geſchichte der ver— 
ſchiedenen IUnterrichtsfächer findet meines Erachtens den pafjenpften Platz in 
der jpeciellen Methodik.“ Auch Lüben will bei Beſprechung der einzelnen 
Unterrichtögegenftände gleichzeitig eine Geſchichte derjelben geben. (Mit- 
tbeilungen aus dem Pädagogen-Congreß zu Tabarz. Yeipzig, Branbdfterter 
1863, ©. 26.) Wir haben aber aud oben ſchon unter a die Ausgeftaltung 
der preußiſchen Boltsfhule durch König Friedrich Wilhelm I und Friedrich IL 
mit aufgenommen, fo daß man meinen Fönnte, wir wollten ſchon dadurch 
die Frage: Wo ift die Gefchichte des vaterländifchen Schulweſens zu 
behandeln? entſchieden haben, Es ift das aber nicht der Fall; denn es foll 
dadurch nur ein Bild ans der vaterländifhen Schulgefhichte gegeben werben. 
Die wirkliche Entwidelung des Schulweſens im engeren Baterlande fann in 
jenem erften Curſus noch nicht gegeben werden, fie gehört vielmehr in den 
Abſchnitt der Pädagogik, welder unter der Ueberſchrift Schulordnung und 
Schulkunde die Verhältniffe des engeren Baterlandes behandelt und dadurch 
den an der Schwelle des praftiihen Schulamtes ftehenden Lehrer orientirt. 
In diefem Sinne hat z. B. Thilo feine Schrift „Preußiſches Volksſchul— 
wesen nad) Geſchichte und Statiſtik“ als „die Grundlage aller preußifchen 
Schulfunde” bezeichnet. 

Welchen Nuten der Repetitionscurins mit allem dem, was der übrige 
Unterricht in der Pädagogik und Methodik für die Geſchichte der Pädagogik 
thut, dem Schüler leiftet, brauden wir nad dem, was wir oben erwähnt 
haben, nicht noch einmal zu erörtern. Er erhält die Sachen dem Zöglinge 
präfent, jo daß er immer vertranter mit ihnen wird. 

e) Für den abjchliefenden Curjus am Ende der Seminarzeit, fir 
welden wir etwa 24—30 Stunden in Anfprud nehmen müſſen, fo daß 
den drei Stunden für Pädagogik in den preußiſchen Seminaren eine vierte 
hinzuzufügen wäre, verbleibt als Stoff die Entwidelung der Pädagogik als 
Wiſſenſchaft. Er hat, da die Schüler das Material jonft völlig beherrfchen, nur 
in großen Zügen die-Entwidelung der Pädagogik bei den Griechen zc. zu zeichnen 
und auf die Anfäbe zu einer wiſſenſchaftlichen Pädagogit, z. B. bei Plato aus 
feinem Staatsibeale hergeleitet, bei Bincentius von Beauvais, bei Comenius, 
Frande, Rouffean, den Philanthropen zc. binzuweifen und dann etwa bas 
auszuführen, was id) in meinem Lehrbuche der Pädagogik Th. I, $ 32 im 
Grundriß angedeutet habe. Dabei bietet ſich zugleich Gelegenheit, die Schüler 
in der pädagogifhen Literatur zu orientiren und zum Stubium größerer 
wiffenfchaftliher Werfe anzuleiten. Auch dabei jo der Lehrer hindurhfühlen 
lafien, wie er das eine Syftem vorzieht, das andere nachftellt oder verwirft; 


72 

aber die Schüler follen merken, daß dies nur aus wirklichen ftichhaltigen, 
aus der Natur diefer Syſteme folgenden Gründen geſchieht. Bor Allem 
aber kommt es darauf an, daß die Schüler wirklich in den Gedankengang 
der Werke eingeführt und gemöthigt werben, die Gebantenarbeit ver Meifter 
auch jelber im Denken mitzuthun. Das erfordert aber nit nur einen 
Lehrer, der felber ein Meifter in wiſſenſchaftlicher Erkenntniß und Methode 
ift, jondern auch Schüler, die tüchtige Schwimmer ſind. Darum wird es 
immer dem eignen Ermeſſen auheimgeſtellt bleiben und von den befonderen 
Verhältnifien der einzelnen Seminare abhängen müfjen, wie weit hierin 
vorgegangen werden kann; denn die wiſſenſchaftliche Pädagogik erforbert ſchon 
reiferen Verſtand und weitergehender⸗ Bildung, als ſie bei unſeren jungen 
Schülern im Allgemeinen vorauszuſetzen ſind, und zwar nicht nur eine ſolche 
Erkenntniß, wie ſie der Zögling bereits durch den Unterricht in der Päda— 
gogik gewonnen hat, ſondern Kenntniß der philoſophiſchen Syſteme ꝛc. (Vergl. 
Sioh, Encyelopädie der Pädagogik, S. 124 ff.) Wer aber meint, daß er 
dann jhon eine Entwidelung der Pädagogik als Wiſſenſchaft jeinen Schülern 
gebe, wenn er ihnen feine fubjectiven Urtheile, die oft nur vom Parteiftand- 
punfte eingegeben find, über verſchiedene pädagogifhe Syſteme auskramt, 
ohne ihnen jene ftrenge Gevanfenarbeit zuzumuthen, "der irrt fi; denn er, 
macht feine Schüler nur zu feihten Schwägern uud hochmüthigen Maul 
braudern, die, weil fie nicht im Stande find, die ftrenge Schale, weldye ven 
nährenden Kern der Wiffenfchaft umschließt, zu durchbrechen, über Alles 
hochmüthig berfahren, was ihrem Parteiftanppunfte nicht zu entiprechen fheint, 
und blinde Nachtreter blinder Partei- und Rottenführer werben. Auch hier 
gilt, daß nur das wirflih nährt, was wirklich geiftig verbaut und afftmilirt 
wird, daß aber aller Schein nur das geiftige Auge blendet und daher ſchädlich 
wirkt. 

2. Daß wir in allen Curfen den Stoff. in der hiftorifhen Reihenfolge 
angeordnet willen wollen, liegt in der Natur des gefchichtlichen Unter- 
richts. Nur bei Repetitionen fann man z. B. von einem gewifien Punfte 
aus rückwärts fchreiten oder z. DB. Tragen aufwerfen: Was veran- 
laßte Comenius, das Reformationswerf der Schulen zu unternehmen 1. ? 
Man nörhigt dadurch den Schiller, fid über ven Zuſammenhang der 
einzelnen Lebensbilver, reſp. der Zeiterfcheinungen mit voraufgehenden Har 
zu werben. 

3. Geſchichte muß erzählt werden, diefe Forderung für die Behand— 
lung verjelben, gebt aus dem Weſen ver Geſchichte jelber hervor. Daher 
muß ber Lehrer in dem erften Curfus vie Yebensbilder quellenfriich dar: 
ftellen, die Perfonen nad) äußeren und inneren Charafterzügen ſchildern. Gr 
wird befonderes Gewicht namentlich* auf das Wachſen und die Entwidelung 
der großen Meifter legen, um zwei Fehler, in welche der Geſchichtolehrer 
leicht verfällt, zu vermeiden, einmal nämlid die Anekdotenjagd, welche amüſirt, 
aber nicht bildet, und ſodann die trodene farblofe Aufzählung von Jahren 
und Daten, Büchertiteln u. f. w., welde nur das Gedächtniß belafter und 
das Herz leer und alt läßt. Wenn der Lehrer aber darauf ausgeht, bie 
Perfönlichfeit lebenskräftig vor die Augen der Schüler zu ftellen, jo wird er 
die Meinen harakteriftiihen Einzelzüge nicht überfehen und zugleich die Herzen 
der Schüler für den Mann und feine Arbeit intereffiren. Je mehr er dem 


73 

ftilen Keimen und Wachſen nachgeht und gleichſam das Werden iunerlich 
nahahmend und abbildend zu erzählen vermag, deſto mehr feſſelt er, deſto 
mehr lehrt er. Liebe und Wärme zu dem Gegenftande belebe das Bild, 
aber auch der berechtigte Tadel ſchweige nicht. Nur Parteigezänf und hohle 
Declamation bleibe fern; denn alle Lehre muß ſich das ſchöne Maß bewahren. 
An einzelnen Stellen muß er aber das biographifche Element fahren Laffen, 
um in einem uerfchnitte die gefammten Yebensverhältniffe einer Zeit und 
die Beziehung und den Einfluß der pädagogifchen Arbeit auf dieſelbe zu 
veranfhaulichen. Aber aud hierbei hat er die Darftellung möglichſt concret 
zu halten und fi vor allgemeinen, unvermittelten Urtheilen zu hüten, für 
welche der Schiller feine concreten Unterlagen hat. Diefe Darftelungsweife 
wird auch ſchon von der Pfychologie gefordert, nach der Begriffe, Urtheile, 
Schlüffe aus den Anfhauungen erwachſen, fo daß, wo dieſe fehlen, oder nicht 
hinreihend Mar geworden find, auch jene höheren Bildungen des Seelenlebens 
mangelhaft bleiben. Wie nun bei dieſen Duerfchnitten die gleichzeitige Lite- 
raturs, Eultur- und Staatengeſchichte zu berüdfichtigen ift, jo find auch durch 
dergleichen Hinweife die einzelnen Lebensbilder fo viel als möglich mitten in 
ihre Zeit hineinzuftellen und mit ihren Zeitgenofien zu verbinden. Go 
werben fie, wie es die hell beleuchteten Geftalten in Raumer's Geſchichte 
der Pädagogik find, mehr als bloße Individuen, fie werden Typen und Re— 
präjentanten ber Zeiten, in welden fie mit ihrem Wirken, ihren Freuden 
und Leiden ftanden. Ich habe, um dies Moment anzubeuten, in meinem 
Lehrbuche der Pädagogik immer auf eine Reihe von Zeitgenoffen kurz hin— 
gewiefen. Bei der Erzählung eines LTebensbilves ergibt ſich aber ungeſucht 
zugleid irgend eine pädagogiſche Wahrheit, auf die kurz aber nachdrücklich 
bingewiefen wird, aud eine Erfahrung, die beachtenswerth ift, fo daß 
die Schüler ſchon in dem erften Curſus eine Reihe pädagogifher Sätze 
in ihrer allmählihen hiſtoriſchen Entwidelung fennen lernen und mit 
ven Männern, deren Leben fie mitburdleben, eine Reihe Erfahrungen 
maden, bie für das weitere pädagogiſche Studium von großer Bes 
deutung find. 

Was der Lehrer erzählt hat, müffen die Schüler in der nächſten Stunde 
in lebendiger Erzählung repetiren ; denn aud im biefem Unterrichte follen 
fie nicht nur für fi lernen, fondern zugleih für ihren künftigen Beruf im 
Erzählen geübt werden. 

Schon aber aud im erften Bierteljahre muß eine georbnete Privat- 
lectüre ben Unterricht begleiten, und zwar empfiehlt es fich, für dies erfte 
Bierteljahr nur Biographien beveutender Pädagogen zu wählen. Diefe 
Lectüre wird jeden Monat controlirt entweder in kurzer mündlicher Befprehung 
oder baburd daß jeder Schüler feine Collectaneen vorzulegen hat. Durch 
diefe Lectüre gewinnen die Schüler pädagogifche Fieblinge; aber e8 wird auch 
daburd möglich, daß fie im weiteren Berlauf des Unterrichts einmal an 
Stelle des Lehrers vor der Klaffe ein Yebensbild nad vorgängiger Prä- 
paration und Gontrole ‘durd den Lehrer entwerfen können. Ich habe dieſe 
Abwechſelung der Lehrthätigkeit zwifchen Lehrer und Schülern immer fehr 
auregend gefunden. Es empfiehlt fi) aber das anfängliche Lefen von Bio: 
graphien auch darum, weil die Stüde, welde zuerft aus den Meifterwerken 
ausgewählt find, nur Hein find und in der Klaſſe beim Unterricht behandelt 


74 

werben können, damit an ihnen die Schüler dann größere Arbeiten mit 
Nugen leſen Lernen. 

Von dem zweiten Vierteljahre an bildet einen Hauptgegenftand als 
Ergänzung ber Yebensbilver die Lectüre ausgewählter Stüde aus den Meifter- 
werken großer Pädagogen. Dieje Yectüre kann zunächſt nicht dem Privat: 
fleiße allein überlaffen werben, fondern fie muß zum Theil in den Unter: 
richtsftunden geſchehen, damit die Zöglinge zugleih zur Privatlectitre päba- 
gegifher Schriften und zum weitergehenden Studium gröferer pädagogiſcher 
Werke angeleitet und tiefer in das Verſtändniß und vie Bedeutung päda— 
gogifcher Fragen und Aufgaben eingeführt werden. Darum nimmt von dieſem 
Vierteljahre an die ftatarifche Yectüre in dem Unterrichte neben der Privat: 
lectüre einen größeren Raum ein, damit der Schüler aus dieſen Stüden 
aus den Meifterwerken als aus fiheren, concreten Unterlagen unter Anlei— 
tung bes Lehrers lerne, ein richtiges Urtheil über die Männer und ihre 
Zeit abzuleiten, als auch allgemeine pädagogiſche Wahrheiten zu entwideln. 
Ohne dieſe Arbeit an ſolch concretem Stoffe bleiben die Einzelheiten tobtes 
Gedächtnißmaterial und das Urtheil jowie das Allgemeine hängt in ber Luft, 
- während im ihr der Zögling Erfahrung fammelt, wie in der Praris bes 
Schullebens und dadurch zur fruchtbaren Berreibung der ſyſtematiſchen Päda— 
gogif befähigt wird. Aber dieſe ftatarifhe Leetüre bat aud die Aufgabe zur 
Privatlectüre der pädagogiſchen Meifterwerke anzuleiten. Sie hat daher aufer 
dem bereits angeführten Gefichtspunkte darauf zu fehen, wie ich das aud in 
der Vorrede zur erften Auflage meines Lehrbuches der Pädagogik angedeutet 
habe (Hannover, Meyer 1874): 


a) daß der Schiller ein größeres Stüd dieponiren und dann zuſammen— 
faffend wiedergeben, 


b) der Arı der Eutwidelung folgen und die Gründe, welde die Be: 
hauptungen ftügen, beurtheilen lerne, 

c) daß er allgemeine pädagogiſche Säge aufjuhe und einpräge, 

d) ähnliche oder verfchtedene Ausführungen bei verſchiedenen Pädagogen 
mit einander vergleiche, 

e) aus den Mufterftüden ven Mann und jeine Zeit charakterifiren und 


f) die Ideen ans den Zeitverhältniffen oder den Vebensumftänden der 
Pädagogen begreifen lerne. | 

Es wird dabei nicht nöthig und aud nicht möglich fein, bei jevem 
Stüde auf alle diefe Seiten zu achten, fondern es follen nur damit einzelne 
Geſichtspunkte hervorgehoben werben, nach denen eine fruchtbare Behandlung 
verfelben möglich if. Es wird aber auch dazu nothwendig fein, daß ba? 
Lehrbuch oder der Leitfaden für diefen Unterricht felber eine genügende Reihe 
folder Stüde aus den Meifterwerken enthält. Sehen wir und darauf bie 
vorhandenen Lehrbüiher an, fo fpringt in die Augen, daß ein Buch wie bat 
von Braun (Handbuch für die Gefchichte der Erziehung und des Unter: 
rihts :c., Breslau 1873) Shen wegen feiner groben Fehler gegen die ge 
ſchichtliche Wahrheit und wegen der durchaus durch nichts zu begründenden 
und durch nichts begründeten Urtbeile zu verwerfen if. Auch Bormann’d 
Padagogik (Berlin 1873) mit ihrer dirftigen Geſchichte und ihren abge 
riffenen Sägen aus ben päbagogifhen Werfen tft für unfern Zwed nicht 


75 

brauchbar. Schorn in feiner Gefhichte ver Pädagogik in Vorbildern und 
Bildern (Leipzig 1873) hat dadurch ein gutes Buch geſchaffen, daß er bie 
Pädagogen concret dargeftellt und vornehmlich fie felbft hat reden laſſen, 
aber er fcheint uns für die bier im Frage kommende Lectüre nicht genug zu 
bieten. Kahle, der dieje ausgewählten Stüde ala einen „Quellenſtock“ anfieht, 
zu dem er den Zögling hinführt, um dem PBrincip der Anfhauung aud auf 
unferem Gebiete geredht zu werben, bietet in feinen Grundzügen ber 
evangelifhen Volksſchulerziehung nur ſolche Stüde feit Luthers Zeit, aber 
von da an fir den erften Curſus genug. Daß ich felbft mid bemüht habe, 
in meinem Lehrbuche ver Pädagogik hinreihendes Material für diefen Zwed 
zu bieten, deute ich hier nur an. 

Neben diefer ftatarifhen Lectüre geht nun die geordnete Privatlectüre 
ftetig her und bemächtigt ſich nach und nad auch größerer Schriften, wie fie bie 
Richter'ſchen, Beyer'ſchen und Lindner'ſchen pädagogifhen Bibliotheken bieten, 
welde in der Seminarbibliothet zu finden fein müfjen. 

Bei dem den weiteren Unterricht in der Pädagogik begleitenden Repe— 
titionscurfus tritt der Lehrer mehr zurüd, nur bier und da ftellt er irgend 
eine Perfönlichkeit oder eine Thatſache in ein neues Licht, oder fchlingt die 
Verbindungsfäten wen der einen zur anderen Perfönlichkeit enger, oder weift 
auf eine Schrift hin, die nun bei mehr gereiften Verſtändniß zu lefen ift; 
denn wenn auch im zweiten Jahre für die Privatlectüre mehr pſycho— 
logifhe, dann vibactifhe und methodiſche Schriften in den Vordergrund 
treten, fo ift doh ab und zu namentlih auch bei den Yüden, die ber 
erfte Curſus gelaffen hat, wieder auf die Lectüre geſchichtlicher Schriften 
binzumeijen. 

Der abjhliefende Curſus enblih, der die Entwidelung der Päragogif 
als Wiſſenſchaft zu verfolgen hat, zeichnet mehr in großen Zügen, indem er 
die Einzelheiten als befannt vorausfegt, ganze Perioden, und verweilt mehr 
bei der Darftellung*ver einzelnen Syfteme, die er im ihrer ftrengen Abfolge 
und ihren Principien vorzuführen hat. Lichtvolle Klarheit im VBortrage, 
ftetes Anhalten ver Schüler, aus den Folgerungen weitere Schlüffe zu ziehen, 
und ftetes Hineinziehen verfelben in vie Gedankenarbeit der Meifter ift Haupt- 
aufgabe des Unterrihts. Ob zum Schluffe eins der neueren Syſteme aus: 
führlicher behandelt wird, das muß von der Fähigkeit der Schüler abhängen, 
aber jedenfalls haben fie nur dann Gewinn von einem folden Gurfus, wenn 
fie nit fih nur mande Urtheile über pädagogiſche Syſteme haben andociren 
laſſen, fondern fi, wenn aud nur in einfachere, haben hineinarbeiten lernen. 
Sole Lehrer werden dann aud mit rechtem Nugen für ihr Amt ſich weiter 
in die Gefchichte der Pädagogik nah der Seminarzeit vertiefen; denn fie 
haben viefelbe nicht nur mit dem Gedächtniß aufnehmen lernen, fondern fie 
ift durch Die angeftrengte Gedankenarbeit auch ein beftimmenver Faktor für 
ihr Fühlen und Wollen geworben, fo daß fie durch ihre Reſultate ſich felbft 
erziehen und ihren Lehren Einfluß auf ihre Berufsarbeit geftatten, aber audı 
in den Stand gefegt werden, ihre Stellung in ihrer Umgebung und in 
ihrer Zeit richtig zu begreifen und zu wählen. Denn mit Recht jagt Stoy 
in der Enchelopädie der Päragogif ©. 110: „eve Zeit bietet jedem in 
die Wirkſamkeit der Yeitung Eintretenden nicht anders als dem auf bie- 
herigem Grunde Fortbauenden, ein ganzes Syſtem von Beziehungen, in 


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denen das Meinere oder größere Gebiet der eignen Thätigfeit zu andern 
ſteht.“ Solche gefhichtlidy gebildete Lehrer werben allerdings weniger ge 
eignetes Material zu agitatorifhen Parteizweden, aber felbftändige Lehrer, 
die der Schule Beftes fuhen und weldye unbeirrt durch das bunte Barteigetriche 
mit voller Hingabe an eine in firenger Arbeit erworbene Heberzeugung, diefelbe 
fern von dem Mangel an Pietät und dünkelhafter, bornirter Selbſtüber— 
hebung mit männlihem Ernſte würdig zu vertreten wiſſen. Und folde 
Lehrer find ein Segen für unfere Schule. 


Hädagogifhe Htudien. 


Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein. 


15. Seft. 


Humanismus und Realismus. 


Bon 


Fudw. Ballauff, 


Eonrector an der Realſchule zu Barel (in Tidenburg). 





Wien und SJeipzig. 
Berlag von U. Pichler's Witwe & Sohn. 
2 Buchhandlung für pädagogiihe Literatur und Lehrmittel » Anitalt. 


Trud von Fiſcher & Wittig in Leipzig 1877. 


Die Yeiter unferer Gymnaſien jtränben ſich wol, den matbematifch-natur- 
wiſſenſchaftlichen Unterrictsfähern in den ihnen anvertrauten Anftalten einen 
arößern Raum zu gewähren: fie fürdten, der ideale Charakter ver Bildung, 
zu welder in jenen Schulen die Grundlage gelegt wird, fünne darunter 
Schaden leiven. Im ven paar YVehrjtunden und der Arbeitöfraft, melde 
vielleicht ven übrigen Vehrfüchern entzogen werden müßten, kann der Grund 
diefer Befürchtung faum liegen: fie kann nur aus der Beſorgniß entipringen, 
daß eine größere Ausbildung der mathematisch - naturwiffenjchaftlihen Au— 
ſchanungsweiſe die Einheit der Bildung verlegen und den idealen Interefjen 
widerftreitende Elemente in fie hineintragen würde. Die aus der mathematijch- 
naturwiffenichaftliben Bildung hervorgegangene Weltanſchauung bildet aber in 
unferer Zeit eine geiftige Madıt, deren beveutenden Einfluß auf unjer ge- 
fammtes Leben man nicht in Abrede zu ftellen vermag, mag man ihn für 
wünſchenswerth oder nicht, für heilfam oder verderblid erklären. Man ift 
daher wol zu dem Zweifel berechtigt, ob unfere Gymnafien, wenn jie darauf 
verzichten, den mathematiſch-naturwiſſenſchaftlichen Studien und der durch fie 
bedingten ſpecifiſchen Bildung eine forgfältigere Pflege zu widmen, nicht einen 
großen Theil ihrer frühern Bereutung verlieren: ob fie damit nicht aufhören 
werben, diejenigen Anftalten zu fein, in welden für die höchſte im unſerer 
Zeit erreihbare Bildung die nöthige Grundlage gewonnen werden fann. 

Es iſt eine kaum zu leugnende Thatſache, daß die deutſche Wiſſenſchaft 
in der erſten Hälfte dieſes Jahrhunderts dem Fichte-Schelling-Hegel'ſchen Idea— 
lismus gegenüber als ſchwach und unkräftig ſich erwieſen hat. Nicht allein 
war es ihr nicht möglich, jene philoſophiſche Richtung auf ihrem eigenen Felde 
mit Erfolg zu belämpfen und ihre Unwiſſenſchaftlichkeit in wiſſenſchaftlichen 
Kreifen zum allgemeinen Bewußtſein zu bringen; ſondern aud auf allen 
andern wifjenfchaftlihen Gebieten, das ter Mathematik‘ umd einiger Zweige 
der Naturwiffenihaften etwa ausgenommen, machte ihr verderbliher Einfluß 
fi) geltend. Für Theologie und Jurisprudenz, für Grammatik, Yiteratur- 
geſchichte und Aeſthetik jollten die Gonjtructionen eines vermeinten reinen 
Denkens maßgebend fein; Medicin, Phyfiologie und vie bejchreibenden Natur: 
wifjenjchaften wurden die Beute naturphiloſophiſcher, namentlich an Schelling 
ſich anſchließender Schwärmereien und Deuteleien. Wer es nicht unternahm, 
aus dem Nichts heraus durd das reine Denken die Welt umd feine Wifjen- 
haft zu conftruiren, wer ſich nicht darin gefiel, die heterogenften Gegenftände 
entfernter Analogien wegen zu identificiren, in das Unbedeutenpfte einen hoben 
Einn hineinzudenteln, der wurde unwiſſenſchaftlich und geiftlos gejcolten ; 
er wurde höchſtens für würdig erachtet, ſchätzbares Material berbeizufcaffen, 
an weldem höhere Geifter ihre Kräfte üben könnten. Dem wieder erwacenven 


Ballauff, Humanismus und Realismus. l 


2 

Siun für die müchterne Wirklichkeit, wie er in dem Studium ver gejcichtlichen 
Entwidelung und namentlid in der Mathematif und ven Naturwiſſenſchaften 
ſich geltend machte, ift e8 zu verdanken, daß die Herrichaft jener Richtung ge: 
broden wurde, daß fie nur im einzelnen Epigonen, verquidt mit hiſtoriſchem 
und naturwiſſenſchaftlichen Elementen, ſich noch erhält. Damit zugleich trat 
aber ein anderer Schaden hervor, der nicht allein noch nicht befeitigt ift, ſon— 
dern vielmehr gerade in der neueſten Zeit in ſtetem Wachfen begriffen zu jein 
fcheint. Mit jenem übertriebenen und unberedhtigten Idealismus wurde aller 
und jeder Idealismus, auch der berechtigfte, verworfen. Der Realismus wurde 
zum Materialismus, der nichts anerfennt als das Wirflihe oder was er für 
das Wirkliche hält, und nichts weiß von einer über dem Wirflichen jtehenven, 
mmunftöpliben Norm, nach welcer es wenigitens ſich richten jollte, nichts von 
einer über feinen Werth und feine Würde mit unbedingter Gültigkeit ent- 
ſcheidenden Beurtheilung der Dinge Nicht etwa, als wenn jene Yeugner 
des Idealismus nicht in ihrem wirfliden Handeln von idealen Principien ge 
leitet und getrieben würden: das gerade Gegentheil zeigt fih im dem umeigen- 
nützigen, felbftlofen Eifer, mit dem fie ſich ihrer Wiſſenſchaft widmen. Aber 
fie wiffen innerhalb ihrer Wiſſenſchaft für jene idealen Principien den An- 
Mmüpfungspunft nicht zu finden: innerhalb ihrer Wiffenfchaft verwerfen, ja 
verjpotten fie dasjenige, weldem fie doc in ihrem Leben den Gehorſam nicht 
verjagen fünnen. Darin beiteht gerade die Würde und die Erhabenbeit bes 
Idealen, daß e8 weder dem Willen nocd dem klügelnden Berftande weicht ; daß 
e8, wenn dieſe ihm entgegentreten, fie zwar ebenfalls nicht immer zum Weichen 
zu bringen vermag, aber mit unantaftbarer Autorität fein billigendes oder ver- 
werfendes Urtheil über fie ergehen läßt. Unſere modernen Materialiften hören 
die Stimme, welde das Urtheil ſpricht, jo gut wie jever Andere ; aber jie 
verftehen nicht ſich wiflenfchaftlich zu verdeutlichen, woher fie erklingt und was 
fie eigentlich jagt. 

Auf dem Gebiete der Wiſſenſchaft iſt die Thetlung der Arbeit in ebenio 
hohem, ja vielleicht in noch böherm Grade unentbehrlich als anf dem des in- 
duftriellen Yebens. Die einzelnen Wifjenjchaften haben eine ſolche Ausdehnung 
gewonnen, daß es bei den meiften einem Menſchen felbit von mehr als ge 
wöhnlicher Begabung unmöglich geworden ift, auch nur eine einzige von ihnen 
in allen ihren Zweigen gleichmäßig zu Durchdringen ; noch weniger iſt es einem 
und demfelben im der Regel möglih, in ven beiden von einander fo wejent: 
lich verſchiedenen Arten der wiſſenſchaftlichen Forſchung, von denen Die eine 
es mit der Feftitellung defien, was ift und gefchieht, Die andere mit der des— 
jenigen, was fein und gefchehen fol, zu thun bat, jelbftändig ſchaffend aufzu— 
treten. Mit der Theilung der Arbeit in der Wiſſenſchaft verhält es ſich aber 
etwas anders als mit ver auf induftriellem Gebiete. In jedem Falle muß 
eine Verbindung, ein Zuſammenhang zwifchen den Arbeiten der vielen Ein 
zelnen bergejtellt werden: ein jeder von ihnen muß Darauf rechnen können, 
daß feine Arbeit durch die Andern bis auf einen beftimmten Punkt vorbereitet, 
daß das von ihm Begonnene von den Andern auch weiter fortgeführt werte. 
Auf einem rein mechanifchen Arbeitsgebiete kann dieſer nothwendige Zufanmen- 
bang zwiſchen den Arbeiten der Verſchiedenen durch eine äußere Anordnung 
bergejtellt werten; auf dem Gebiete ver Wiſſenſchaft ift viefes aber nicht 
möglich. Da muß ein jeder ſelbſt die Punkte aufſuchen, in denen er das von 


3 


Andern Begonnene fortzuführen hat; er muß feine Arbeit jo einrichten, daß 
ihre Ergebniffe auch von Anvern mit Bequemlichkeit benutzt und von ihnen 
weiter fortgeführt werden könne. Soll daher der organische Zuſammenhang 
zwijchen den einzelnen Wiffenjchaften nicht zerrifien, jol nicht in Folge deſſen 
das Gedeihen jeder einzelnen gehemmt, die Entwidelung des ganzen willen: 
Ihaftlihen Organismus verfünmern und in falſche Richtungen gedrängt werden, 
jo müfjen vie pfleger jever einzelnen Wiſſenſchaft Interefie und auch ein bis 
auf eimen gewiſſen Punkt fich erjtredenvdes, eingehendes Verſtändniß bejigen 
für das, was auf andern, oft jehr weit abliegenven Gebieten geleiitet wird, 
für die Bedürfniſſe, welde in ihnen bervortreten, und für die Art und Weiſe, 
wie fie befriedigt werden fünnen und müſſen. Cine Verkümmerung des wiljen- 
ihaftlihen Organismus und eine Entwidelung vejjelben in falſchen Richtungen 
wird aber jedenfall einen ſchädlichen Einfluß ausüben auf den geſammten 
Bildungszuſtand des Bolfes in intellectueller jowol wie auch namentlich in 
jittliher Beziehung. 

Man mag nun von der modernen mathematijc = naturwifienichaftlicen 
Weltanſchauung halten was man will, man may der Anficht fein, daß jie 
allein nicht genüge, daß fie auch auf Gebieten zur Anwendung gebracht werde, 
auf denen jie feine Geltung befigt: ihr factifches Vorhandenſein und Die 
Macht, welche fie thatjächlich befigt, muß man doch anerkennen. Sie beberricht 
unleugbar einen großen Theil der willenjchaftlih Gebilveten und ift aud unter 
den gebildeten und ungebilveten Laien, wenn auch mannigfad) entjtellt und ver— 
fünmert, weit verbreitet. Man kann daher mit Recht verlangen, daß aud) 
diejenigen wiſſenſchaftlichen Forſcher, welde es mit dem Ethiſchen im weitejten 
Sinne des Worts zu thun haben, var unjere Theologen, Juriften, Hiftorifer, 
Bhilofophen u. ſ. w. fie nicht unbeadhtet bei Seite liegen laſſen. Thun fie es, 
jo fegen fie ji der Gefahr aus, daß ihre Kämpfe negen den bornirten Rea— 
lismus, oder jagen wir lieber Materialismus, vein vergeblich bleiben werden. 
Sie. verfennen feine Stärte und jeine Schwächen. Es entgehen ihnen vie 
Momente, welche es dem bornirten Realiften erjchweren, ja unmöglich machen, 
fih ihre idealen Anſchauungen anzueignen; es entgehen ihnen aber auch vie 
Punkte, in denen ein vernünftiger Realismus zum Idealismus hindrängt, an 
welchen die idealiftifchen Betrachtungen demnach anknüpfen können und müſſen. 
Sie haben aber auch fein Gefühl für vie Schwächen ihrer eigenen Anſchauungs— 
weile; und jo wird ihr Idealismus jelbft ſchließlich darunter Schaden leiden, 
Die Kluft zwifchen Idealismus und Realismus wird immer breiter und tiefer 
werden, bis endlicd Niemand mehr ein Verſtändniß befigt für das, mas vie 
im entgegengejegten Lager eigentlich wollen und was fie vermilfen. Jede von 
beiden Parteien wird endlich in eitler Selbftgenügfamfeit ſich ver Täuſchung 
bingeben, daß ihr Verfahren das allein vernünftige jei und allen vernünfz 
tigen Anforderungen vollftändig genüge: die Einfeitigfeit ihres Standpunktes 
und das Ungenügende der gewonnenen Ergebniffe wird ihnen nie zum leben- 
digen Bewußtjein kommen. 

Es iſt gewiß nicht gerechtfertigt, wenn man für alle Schwächen und Ber: 
irrungen der herrſchenden Bildung, ſei es auch nur auf intellectuellem Gebiete, 
tie Schule allein oder doch vorzugsweiſe verantwortlihd machen will. Cs mag 
richtig jen, daß, wer die Jugend hat, aud die Zukunft befige; aber vie 
Schule befigt die Jugend nicht ausſchließend: fie muß die Herrjchaft über fie 


1* 


4 

mit anderen Factoren theilen, welche fie zum Theil weit an Einfluß und 
Wirkſamkeit übertreffen. Außerdem it vie Schule nicht allein ein Factor 
ver Zufunft, jondern auch ein Proruct ver Vergangenheit und Gegenwart ; 
und man kann billigerweife von ihr nicht verlangen, daft fie vorurtbeilsfrei 
über die Gebrechen des Zeitgeiftes ſich erhebe. Mit ven Gymnaſien verhält 
es fih aber etwas anders wie mit den übrigen Schulen: jie können ohne 
Trage in hohem Grade verantwortlich gemacht werden für die wiſſenſchaft— 
lihe Bildung der Zukunft. Freilich bängt ja dieſe auch nicht allein von 
ihnen ab; fie wird ergänzt durd die Univerjität, das Privatſtudium umd das 
Yeben. Den Gymnaſien kann die Schuld für die Verirrungen, welde durd vie 
lettgenannten Factoren hervorgerufen find, nicht unbedingt aufgebürdet werten. 
Wenn aber die wiffenfcaftlibe Bildung einer ganzen Generation oder eines 
großen Theils derſelben Lüden zeigt umd am Einfeitigfeit leidet; wenn be- 
ſtimmte Arten des Interefjes gar nicht erwedt find; wenn eine große Unge— 
wandtheit in beſtimmten Arten des Denkens und des Forſchens in weiten Kreifen 
verbreitet ift, troßdem daß es am dem nöthigen Material zur Abhülfe jener 
Mängel nicht fehlt: jo trifft das Gymnaſium der gegründete Verdacht, in 
einer oder der andern Beziehung feine Schuldigkeit nicht gethan zu haben. 

Bon vielen ſolchen Unterlaffungsfünvden, welde man dem Gymnaſium mit 
Net zum Borwurf machen fann, trägt aber das Phantom einer allge- 
meinen intellectuellen Bildung, welde durd die Bejhäftigung mit einem 
bejonderen Unterrichtsfache erworben oder doch ausgebildet werden könne, die 
Schuld. Einer befferen Pſychologie ift es noch immer nicht gelungen, dieſes 
Phantom zu vertreiben: man betrachtet die intellectuellen Thätigfeiten noch 
immer als Ihätigfeiten eines einheitlichen geiftigen Organs, welches durch bie 
Beihäftigung mit einem bejtimmten Gegenftande geübt und in den Stand 
gejett werden könne, alle Gegenftände auf jede ihrer Natur entſprechenden Art 
zu behandeln, Durd eine gründliche Beihäftigung mit ven alten Spraden 
ſoll eine allgemeine formale Bildung erworben werben; in ihr foll ver 
claſſiſch Gebilvete ein geeignetes Werkzeug zur Verarbeitung eines jeden be 
liebigen Stoffes im Denken befigen; es braudt ihm nur ver Stoff gegeben 
zu werden, und er ift vermöge jener formalen Befähigung im Stande, alles 
aus ihm zu machen, was fih aus ihm machen läht, wenn er nicht wielleicht 
jogar mit ihrer Hülfe den Stoff felbjt zu fchaffen vermag. Die jo erworbene 
formale Bildung ſoll ihn befähigen, in allen Lebenslagen ſich zurecht zu finden 
und in jeder Wifjenfchaft, nachdem er die etwa nöthigen pofitiven Kenntniffe 
fi) erworben, mit günftigem Erfolge das von ihr verlangte Denken auszu: 
führen. Selbft wenn dieſer Gedanke als theoretifh unbaltbar erfannt worden 
ift, jo hat er damit feinen Einfluß auf die Praxis nicht verloren; obgleich auf 
der andern Seite nicht verfannt werden fann, daß die Praxis oft genug dazu 
genöthigt hat, feine Conjequenzen aus den Augen zu feten. 

Die intellectuellen Thätigfeiten find aber feineswegs die Thätigfeiten eines 
beftimmten Organs, welches über die vorhandenen BVorftellungen und Begriffe 
verfügt und fie als ein verhältnißmäßig paffives Material verwendet ; jondern 
außer jenen VBorjtellungen und Begriffen it nichts in der Seele vorhanden, 
und alles, was fib im ihr ereignet, ift eine Folge von der Bejcaffenheit ver: 
jelben und namentlich von der Art und Weife, wie fie mit einander verbumden 
find. Der Anſtoß zu jenen Ereigniſſen wird durch die nen in die Seele ein 


5 





tretenden Vorſtellungen gegeben, welche in das in ihr ſchon Vorhandene ein— 
greifen ; da die pfychijchen Proceſſe aber nicht verlaufen können, ohne gewiſſe 
begleitende Zuftände in den Organen des Yeibes hervorzurufen, jo ijt ihr Ver: 
lauf aud in hohem Grade abhängig von der Organifation des lettern. Cine 
ſchon erlangte intellectuelle Bildung erftredt jih daher zunächſt und unmittelbar 
nicht weiter, als die Borftellungen und Begriffe reiben, auf deren georpneter 
Berbindung fie beruht. Die grammatiſche Bildung erjtredt fi daher zunächſt 
nur auf grammatiſche Gegenftände, die geometrifche nur auf geometrijche, die 
ſprachliche nur auf die Sprade und zwar nur auf dieſe oder jene beitimmte 
Sprade. Namentlih in zwei Beziehungen kann aber eine erlangte Bildung 
weit über das Gebiet deſſen hbinausreihen, was ihren unmittelbaren Gegen— 
ftand ausmacht. Zuerſt kann diejenige Bildung, welche auf einem beftimmten 
Gebiete erlangt ift, eine nothwendige Bedingung jein, um fie aud auf einem 
andern zu erwerben, oder ihren Erwerb auf diefem doch wejentlic erleichtern. 
Sp ift ein über einen gewifjen Punkt hinausgehendes phyfifaliihes Studium 
ohne mathematifche Borfenntniffe und Vorbildung nicht möglich ; Die durch Die 
Beichäftigung mit der Geometrie gewonnene Ausbildung der Phantafie fir das 
Räumliche erleichtert die Auffafjung geographifcher, aftronomifcher, mechanifcher, 
ftrategifcher Verhältniſſe. Die durch das Erlernen einer Sprade erlangte 
jprachlihe Bildung erleichtert das einer verwandten, ja, da gewiſſe Grund— 
verhältniffe in jeder Sprade wiederfehren, das faft jeder andern. Selbſt 
für ſehr weit abliegende ©egenjtände kann die auf einem beſtimmten 
Gebiete erworbene intellectuelle Ausbildung wenigſtens Anknüpfungspunfte 
durch entfernte Analogien u. dgl. darbieten. Außerdem kann aber aud durch 
eine bejchränfte intellectuelle Ausbildung ein Intereſſe für eine allgemeinere 
erwachen; es fann dadurch das Bedürfniß erwedt werben, fie auch im an— 
deren Beziehungen zu erwerben; es kann das Gefühl hervorgerufen werben, 
daß in jenen anderen Beziehungen noch etwas fehle, und das Gefühl des 
Mangels ift ja oft genügend, dem Mangel jelber abzuhelfen. Wer auf dem 
Gebiete der Mathematik einmal die Erfahrung gewonnen bat, daß man durd) 
ein Die Erfahrung nicht unmittelbar benugendes Denken zur befriedigenden Er— 
fenntniffen gelangen kann, der wird auch auf anderen Gebieten den Verſuch 
dazu wagen; die auf dem einen Gebiete gewonnene Weberzeugung, wie ſorg— 
fältig und wie vorfichtig man dabei verfahren müfje, wenn man fich wicht in 
die gröbiten Irrthümer verlieren will, wird ihn aud auf jedem andern zur 
Sorafalt und zur Vorſicht mahnen. Das eigenthümliche Gefühl ver Bündig— 
feit einer Unterfuhung, welches man in der Mathematif noch am leichteften 
gewinuen fan, wird in andern Fächern vermißt werden, und dazu antreiben, 
auch in ihmen zu ihm zu gelangen. Gewiſſe Methoden des Denkens, welche 
man in einem alle als erfolgreid) und befriedigend erprobt hat, wirb man 
aud in anderen zur Anwendung zu bringen fuchen; es werben ſich Gewöh— 
nungen bilden, auf eine beftimmte Weife im Denfen und Forſchen zu ver— 
fahren. Endlich iſt es auch denfbar, daß durch eine tüchtige Verſtandesbildung 
auf einem beſtimmten Gebiete eine gewiſſe Biegſamkeit des leiblichen Orga— 
nismus erzeugt werde, die auch in anderen Fällen dem verſtändigen Denken 
zu Gute kommt; ſo daß auf dieſem Wege etwas erreicht wird, was man in 
gewiſſem Sinne eine allgemeine Berftandesbildung nennen könnte, was 
wenigitend eine ihrer nothwendigen Borausjegungen bildet. 


6 

Die Unterrichtsfächer, welche in unſeren Schulen als Bildungsmittel be 
nutzt werden, zerfallen in zwei Gruppen, zu deren Bezeichnung es an recht 
paſſenden Benennungen fehlt. Es möchte am geeignetſten ſein, die eine die 
humaniſtiſche, die andere die realiſtiſche zu nennen; die der erſten 
beziehen ſich wenigſtens unmittelbar auf das Geiſtige, alſo auf das eigentlich 
Menſchliche. Zu den humaniſtiſchen Unterrichtsfächern gehören vor allen Dingen 
tie Sprachen und alles, war mit dem Sprachſtudium in unmittelbarer Ber: 
bindung Steht, außerdem die Gefcichte ; zu den realiftiichen die Mathematit 
und die Naturwiffenjchaften. Die Geographie bilvet gleichſam ein Bindeglied 
zwifchen beiden Gruppen: wenn ihre eine Seite auch den Naturwiſſeuſchaften 
zugefehrt iſt, fo lehrt fie Dod auf Der anderen Seite den Boden fennen, auf 
welchem tie menſchliche Entwidelung vor ſich gegangen ift, und macht mit den 
Ergebnifjen verjelben bekam. Innerhalb jerer Gruppe kaun man wieder 
Term und Inhalt, formale uud materiale Momente von einander 
unterſcheiden. Das Grammatifche und Philologiſche, überhaupt das rein Sprad- 
liche Kilvet Tas Formale der humaniſtiſchen Gruppe, Tas Gefchichtlihe und 
das in der Sprade Ausgeprüdte, ver Inhalt der Yectüre Das Materiale ver: 
felben. In der realiftiihen Gruppe gehören die Mathematif und allenfalls 
ein Theil ter Mechanik dem Formalen, die Naturwiſſenſchaften dem Materialen 
an. Wenn vdiefe Eintheilung auch am logiſcher Bräcifion viel zu wünſchen 
übria läßt, jo wird fie doch zur Erleichterung des Ausdrucks in dem Folgenden 
dienen können ; es iſt auch nicht nöthig, die Stellung der Philoſophie, ſoweit 
fie für Schulen in Betradt fommt, und der Religionslehre in jener Ein 
theilung näher anzugeben, da beide für ven Gegenſtand unferer Unterjucung 
von geringerer Bedeutung jind. 

In unjern Gymnaſien wurde bis auf die meuejte Zeit fait ausſchließend 
Gewicht auf die humaniſtiſchen Unterrichtsfäher gelegt. Solde, in denen in 
ter Mathematik etwas Nennenswerthes gelernt wurde, gehörten zu den Aus- 
nahmen; nur in ganz jeltenen Fällen wol wurde in den Naturmwifienjchaften 
etwas geleifter. Cine geranme Zeit hindurch trat dabei außerdem der forma: 
Liftiiche Theil diefer Unterrichtsfächer ganz überwiegend in den Vordergrund: 
die alten Schriftfteller wurben vorzugsweije als Gegenjtände für ſprachliche 
Unterjuhungen betrachtet. Im gewiſſer Beziehung ift dieſes jelbjt noch jegt 
ber Fall: wenn aud tie Zeiten vorbei find, in denen man es fait für einen 
Nachtheil anjah, daß die alten Claſſiker überhaupt einen Inhalt bejäßen, und 
am liebjten für die philologiſchen Unterſuchungen einen Stoff ganz ohne allen 
Inhalt gehabt hätte, jo find doch für die Auswahl und die Unordnung der 
Lectüre ſprachliche Rückſichten noch immer in erjter Yinie entjcheidend. Unter: 
juden wir daher näher, was für intellectwelle Funktionen bei dieſen Unter— 
richtsgegeuſtänden vorzugsweije zur Anwendung gebradt werden: wur vie 
Vihigfeit zu diejen fann durch den genannten Unterricht ummirtelbar oder 
mittelbar eine weitere Ausbildung erhalten. 

Was die eigentliche Grammatik anberrifit, jo wurden und werben auch 
noch in ihr zwar im der Regel die allgemeinen Begriffe und Kegeln gleichjam 
ald ein poſitiv Gegebenes hingeftellt ; die einzige intellectuelle Operation, 
welde im grammatiichen Unterrichte eingeübt wird, ift dann bie Anwendung 
des To gegebenen Allgemeinen auf den bejonvdern Fall. Indeſſen tft vieles doch 
nicht unumgänglich norhwendig: ihm kann auch die Aufgabe geitellt werten, 


7 
das Allgemeine aus dem Beſondern durch Induction erſt abzuleiten. Man 
nennt nun zwar die Naturwiſſenſchaften vorzugsweiſe inductive Wiſſenſchaften; 
es iſt indeſſen gar keine Frage, daß ſie wenigſtens für den Schulunterricht, 
daß wenigſtens Phyſik und Chemie bei weitem nicht jo oft Gelegenheiten zu 
ſchwierigern Inpuctionen vdarbieten wie die Grammatik. Die allgemeinen 
phyſikaliſchen Begriffe und Säge: der Begriff der Geſchwindigkeit, der Kraft, 
der verjchiedenen Aggregatzuftände u. j. w., das allgemeine Gravitationsgeſetz, 
die Übrigen Grundgejege der Mechanik und dergl. werben mwenigftens in einer 
echt willenjchaftlihen Darftellung durch Debuction, wenigſtens nicht durd eine 
logijche Yuduction gewonnen: der experimentelle, allerdings auf Induction ſich 
gründeude Nachweis des Hebelgejeges z. B. ift doch kaum ein Nachweis zu 
uennen. Der Sat, daß alle Körper ein Gewicht befigen, gründet ſich allerdings 
auf Induction; aber diefe ift eine jo ungemein einfache, daß jie fait unbe— 
wußt verläuft; und gerade in den Fällen, in denen die Begründung jenes 
Sates wie bei der Luft, dem Yuftballon u. ſ. w. Schwierigkeiten darbietet, 
find dieſe nicht durch eine rein logische Analyje, jondern nur durch eine Zer— 
legung der betreffenden Vorgänge in ihre realen Elemente zu befiegen. Die 
Begriffe des Yichts, der Wärme, des Magnetismus, der Clectricität entjtehen 
!benfalls wicht durch Induction: es find anfangs höchſt unbeſtimmte Begriffe 
von den Urjahen gewiffer Erjcheinungen, denen im Fortgaug der Unter- 
juhung eine neue Beſtimmung nad) der andern hinzugefügt wird. Wenn es, 
wie bei Licht und Wärme, gelingt, die anfangs unabhängig von einander da— 
jtehenven Beſtimmungen als nothweudige Folgen aus einer Grundbeſtimmung 
nachzuweiſen, die Erjheinungen des Lichtes z. DB. als Folgen beſtimmter 
Schwingungen. des Aerhers, jo geichieht diefed wieder durch ganz andere Denf- 
operationen als durch eine logiſche Induction. Zur Feititellung einer nature 
wiflenjchaftlihen Ihatjache ijt eigentlich in der Kegel nur eine Beobachtung 
erforderlidh: nur um die unvermeidlichen Fehler fortzuſchaffen oder wenn es 
darauf anfommt, die Abbäugigfeit des Productes von einzelnen jeiner Factoren 
in quantitativer Beziehung feitzutellen, z.B. den Zujammenhang zwiſchen dem 
Marimum der Dampfdichte und der Temperatur zu ermirteln, müſſen ganze 
Reiben von Beobachtungen angeftellt werden Wenn es wirklih auf weit 
läufigere Inductionen anfommt, 3. B. bei der Feſtſtellung des Satzes, daß das 
Gewicht eines Körpers feiner Maffe proportional ift, bei den ſtöchiometriſchen 
Geſetzen, bei manden Fragen der Meteorologie und aus der Lehre vom Erb: 
magnetismus u. |. w., jo Liegt die eigentliche Induction, durch melde das ge— 
fundene Geſetz wifjenjchaftlich begründet it, denn doch ganz außerhalb ves 
Bereichs des Schulunterrichts. Auf eine ähnliche Weiſe verhält es ſich mit 
ven beſchreibenden Naturwifienfchaften. Für fie bat allerdings das inductive 
Berfahren die allerhöchſte Bedeutung : fie find faft ganz em Ergebniß derjelben. 
Wenn aber der Begriff des Säugethieres etwa auf die Weife gebildet wird, 
daß einige wenige, möglichit weit von einander abliegende Säugethiere genau 
bejchrieben ımd mit einander verglichen werden, jo mag diefes Berfahren jonft 
nancherlei VBortheile gewähren: von der eigentlihen Bereutimg dev naturwifjen: 
ſchaftlichen Induction giebt es aber nur eine fehr unvollftändige Vorſtellung. 
Denn die wiſſenſchaftliche Brauchbarfeit eines durch fie gewonnenen Begriffes 
beruht darauf, daß nicht allein jene wenigen beſchriebenen Thiere, fondern auch 
noch eine ſehr große Anzahl anderer im feinem Umfange liegen; daß ibm 
in 


8 

außerdem eine Reihe anderer ähnlicher Begriffe coordinirt iſt, welche zuſammen 
das ganze Thierreich umfaſſen; daß endlich die Weſen, welche in den Umfang 
eines jener Begriffe fallen, nicht allein in den Merkmalen, welche in ihm auf— 
genommen ſind, mit einander übereinſtimmen, ſondern ihrem ganzen Weſen 
nad einander nahe ſtehen. Nicht felten liegt der Grund, aus welchem gewiſſe 
Naturproducte zu einer Gruppe zufammengeftellt werden, gar nicht in den ihnen 
allen zufommenvden gemeinfamen Merkmalen, jondern darin, dar fie ald Um— 
formungen einer und derſelben Grundform angejehen werben fünnen oder daß 
von einander ſehr verſchiedene Formen durch zwijchen liegende allmählich in— 
einander übergehen. Die wahren Gründe für die Bildung jener Gruppen— 
begriffe ergeben fi mithin gar nicht aus den Vorſtellungen ver wenigen Or: 
ganismen, welde in dem Schulunterricht genauer in Betracht gezogen werten 
fönnen, jondern aus der Ueberſicht über die Gejammtheit derfelben, jo daß 
dem Schüler auch nicht einmal nachträglid ein einigermaßen volljtindiger Beweis 
für die Zwedmäßigfeit der gewählten Induction gegeben werben fann. Die 
Inductionen, welde für die Naturwifjenfchaften wahrhaft von Bedeutung find, 
find demnach entweder jo einfah, daß fie nur wenig Lehrreiches barbieten, 
oder jie fjegen eine Mafie von Material voraus, weldes die Schule weder 
berbeifchaffen nod bewältigen fan. Man fanıı ſie daher im Schulimterrict 
nicht wirklich ausführen laffen, ſondern höchſtens eine hiſtoriſche Nachricht von 
ihnen geben, Für die Mathematif hat die Induction durchaus nur eine unter: 
georpnete Bedeutung. Die eigentlihen Grundbegriffe, der der gewöhnlichen 
Zahl, des Punktes, der Linie u. ſ. w. find durd eine Induction gebildet, welche 
dem eigentlichen, mehr wiſſenſchaftlichen Unterrichte ſchon voraus gegangen tft. 
Der legtere hat die ſchon gebildeten Begriffe nur zu reinigen und zu ideali— 
jiren, 3. B. darauf hinzumeifen, daß bei einer Linie von ihrer Breite abgejeben 
werden müſſe. Die Weberzeugung von der Richtigkeit Der Ariome geminut 
nicht einmal der Schüler durch eine Induction, jondern fie entiteht in ihm 
durch das Gefühl der Unmöglichkeit, daß es anders fein könne, wie das Artom 
ed ausfagt. Das Uebrige ergniebt ſich alles auf dem Wege der Deduction, 
wobei nur im ganz einzelnen Fällen, z. B. wenn ein Punkt in der zu unter 
juchenden Figur verfdiedene Lagen haben kann, eine höchſt einfache Imduction 
zu Hilfe genommen wird. 

Auf dem Gebiete der Grammatik verhält es fih anders, Die gramma— 
tifalifhen Grundbegriffe werden durch Definitionen fetgeftellt: ich bezweifle 
aber jehr, ob durch jie der Sertaner oder aud jelbjt ver Duartaner eine 
wirkliche Borftellung von der Sache erhält. Das Subject foll dasjenige Sat: 
glied jein, von welhen in dem Sage etwas ausgefagt wird. Wenn num der 
Sag: „der muthige Däger verfolgt den Yöwen“ vorliegt umd nad dem Subjecte 
gefragt wird, Darf man es da dem Schüler übel nehmen, wenn er „den Löwen“ 
für das Subject erklärt? Denn von ihm wird ja gejagt, daß er von dem 
Jäger verfolgt wird. Das Prädicat foll das von dem Subjecte Ausgejagte 
angeben. Warum it nun „muthige“ fein Prädikat, da es doch aud etwas von 
dem Däger ausfagt? Das Wort „ausjagen* iſt in jenen Definitionen offen— 
bar in einem bejtimmmten Sinne genommen, welcher dem Schüler erſt klar ge— 
worden jein muß, ehe er fie felbjt verjtehen kann. Erſt dadurch, daß er im 
hunderten von Säten Subject und Prädicat beſtimmt, oder umgekehrt Säge 
bildet, in denen ein beitummtes Subject oder Prädicat enthalten iſt; erſt 


9 





dadurch, daß er jenen Sag mit dem andern: „der Löwe wird von dem muthigen 
Jäger verfolgt“ vergleiht, wird es ihm allmählich ar, was Subject, was 
Prädicat ift, was in obigen Definitionen das Wort „ausjagen“ bedeutet: er 
gewinnt demnach die fraglichen Begriffe aus einer auf fehr breiter Gruud— 
lage ruhenden Imduction. Ganz ähnlid verhält es fih mit den grammati— 
falifhen Regeln. Indem der Schüler die werfchiedenen Caſus eines Sub— 
ftantivs mit einander vergleicht, kann er eine Regel aufjtellen, wie der eine 
aus dem andern abgeleitet wird. Berfährt er nach derſelben Regel bei einem 
andern Subjtantiv, jo findet er fie entweder ammwendbar oder nit. Dit das 
(etstere der Fall, jo muß er eine Reihe anderer Subftantive auf ähnliche Weije 
betrachten. Entweder gelangt er dadurch zur Aufftellung verſchiedener Regeln 
für die Cafusbildung, wobei denn womöglich beſtimmte Bedingungen aufge- 
funden werden müſſen, unter denen die eine oder die andere zur Anwendung 
fommt, oder er jieht ein, daß es fib nur um Ausnahmen banvelt, welde 
einzeln gemerft werden müſſen. Der Grund, aus weldem die Imduction- im 
Spradunterrichte fih in weit ausgevehnterem Maßſtabe ausführen läßt als 
im naturwifjenfchaftlichen, ift leicht einzufehen. Auf dem fprachlichen Gebiete 
ift Das erforderliche empirifhe Material entweder ſchon ziemlih vollſtändig im 
Befig des Schülers — fo namentlih in der Mutterfprade — oder es kann 
ihm doc leicht gegeben werden, während die Herbeifhaffung dieſes Materials 
auf dem naturwiſſenſchaftlichen feine großen Schwierigkeiten hat, ja oft geradezu 
unmöglich if. Der Schüler kann oft die erforberfihen Beobachtungen gar 
nidst ſelbſt anftellen, jondern er muß fich mit einem hiſtoriſchen Bericht über 
die von andern angejtellten begnügen. Zu überjeben iſt freilich nicht, daß 
auch auf fprachlihem Gebiete eine Hauptjahe dem Schüler gegeben werben 
mur und faum von ihm jelbft aufgefunden werden kanu, nämlich die Zu— 
jammenftellung des Materials, von der es abhängt, ob das grammati- 
kaliſche Begriffsfyften auf diefe oder jene Weife gegliedert wird. Aber er 
kann ſich doch wenigſtens nachträglih von der Zweckmäßigkeit des gewählten 
Begriffsſyſtems überzeugen: indem man ihm die Aufgabe jtellt, die gefundenen 
Regeln auf eine concife Weife in Worten auszubrüden, oder wenn der Lehrer 
ihm, falls e8 dem Schüler felbit nicht gelingt, den concijen Ausdruck giebt: 
jo ſieht er ein, wie dieſes nur Dadurch möglich wird, daß die grammatifalifchen 
Beariffe auf eine beftimmte und feine andere Weiſe gefaht worden find. 

Sind die allgemeinen Begriffe und Regeln im Unterrichte abgeleitet oder 
aud vem Schüler gegeben, jo kommt es weiter darauf an, fie in den bejoudern 
Fällen zur Anwendung zu bringen. Anwendungen des Allgemeinen auf das 
Beſondere kommen nun in dem naturwiffenfchaftlichen und namentlich auch im 
mathematiſchen Unterrichte faft bejtändig vor; die auf dem fprachlichen Ge— 
biete umterjcheiden fi aber in einer Beziehung wejentlid von denen auf jenen 
andern. Handelt es jich in der Mathematik um die Anwendung einer allge 
meinen Regel, jo kann es eigentlich gar nicht zweifelhaft fein, ob und wie jie 
zur Anwendung gebradıt werden muß; die Bedingungen für ihre Gilltigfeit 
find jo beftimmt angegeben, daß gar fein Nachdenken erforverlich ift, um über 
ihre Anwendbarkeit zu entſcheiden. Rechne ich z. B. mit algebraiichen Zahlen, 
jo ift es allerdings möglih, daß ih an die Multiplicationsregel gar nicht 
denfe oder fie faljch im Gedächtniß habe; ift beides aber nicht der all, jo iſt 
es rein unmöglich, das Product zweier negativen Zahlen negativ zu jegen. 


’ 10 


Ganz anders verhält es ſich ſchon mit den einfachiten Regeln über den Ge— 
braud des Dativs und Accuſativs. Gewiſſe Präpofitionen regieren den Dativ, 
wenn fie in Verbindung mit einem Subjtantiv einen Ort, dagegen den Accu 
fativ, wenn fie eine Richtung wohin angeben. Die Anwendung dieſer Regel 
bat allerdings nur geringe Schwierigkeit und erfordert fein tiefer eingehentes 
Nachdenken, wenn ränmliche Verhältniſſe im eigentlihen Sinne des Wortes in 
Trage kommen. Das ift aber feineswegs immer der Fall: ſehr häufig handelt 
es fih um Berhältnifje, welche ven echt räumlichen nur analog gedacht werten 
follen. Da fann es denn recht zweifelhaft jein, wie die Analogie aufgefakt, 
wie demnach die Regel zur Anwendung gebracht werden muß (z. B. „der 
König herrſcht über fein Bolt“). Es wird nicht nöthig fein, an zuſammenge— 
jegteren Beifpielen zu zeigen, wie die Anwendung oder Nichtanwendung einer 
grammatiſchen Regel nicht allein von dem abhängt, was Har vor Augen Liegt, 
jondern auch von entfernteren und verftedteren Beziehungen: es ift ja be 
kannt, welde Schwierigkeiten im ſolchen Fällen ‚nicht blos die erften Anfänger 
finden. Die Naturmiflenihaften stehen in der angegebenen Beziehung aller: 
dings der Grammatik näher ; fie bieten aber überhaupt im gewöhnlichen Schul 
unterricht dem Schüler weniger Gelegenheit zu jelbitänpigen Anwendungen 
allgemeiner Regeln dar, 

So find es denm hauptjächlich die folgenden intellectuellen Operationen, 
weiche bei dem grammatifchen Unterricht zur Anwendung gebracht werden 
fönnen: die Ableitung des Allgemeinen aus dem Beſondern durch eine auf 
breiter Grundlage ruhende Induction; die concife Faſſuug der allgemeinen 
Regel; die Aumwendung des Allgemeinen auf das Beſondere unter ſchwieriger 
zu durchſchauenden Bedingungen. Es ift nun ſchon bemerkt, daß die Gemanbt- 
heit in beitimmten Denfoperationen, welde auf einem einzelnen Gebiete er- 
worben ift, nicht zugleih die auf jedem andern im ſich ſchließt. Aber indem 
der Schüler fie anf einem einzelnen Gebiete ausführt, lernt er fie doch 
tennen ; er lernt die Bedingungen kennen, umter denen fie allein richtig aus: 
geführt werben fünnen; er lernt das eigenthümliche Gefühl des Genügens 
kennen, welches die richtige Ausführung begleitet. Er wird zu dem Verſuche 
veranlaft, fie auch auf andern Gebieten zur Anwendung zu bringen, und nicht 
eher ruhen, als bis er auch auf diejen zu jenem Gefühle des Genügens ge 
langt. Es liegt darin weniaftens das Motiv, eine durd den Gegenitand 
weniger beſchränkte Fertigkeit in ihmen ſich zu erwerben ; und der Verſuch wirt 
nicht jelten zu einem günftigen Erfolge, zu einer allgemeinen intellectuellen 
Ausbildung in der gedachten Beziehung führen. Frägt man, welchen Berufs: 
arten die eben beſprochene intellectuelie Ausbildung vorzugsweife zu Statten 
fommen werde, jo it wol vor allen Dingen der des Juriſten zu nenuen; 
außerdem in gewiller Beziehung der des VBerwaltungsbeamten. Aber jchon für 
ven lettern in vielen feiner Geſchäfte, und nody mehr für den eigentlichen 
Geſchäftsmann ift es weniger weſentlich, die allgemeine Kegel, wie unter ge 
wiffen Umftänden gehandelt werden muß, zu abftrahiren und die ſchon feit- 
ftehenten Ergebniffe ver Abftraction zur Anwendung zu bringen, als im jedem 
befondern Falle durch ein unmittelbar auf ihn jelbit gerichtetes Nachdeuken 
die geeianeten Mafregeln aufzufinden ; und dafür ift die befchriebene Art der 
intellectuellen Ausbildung nur von geringem Nugen. Daß gerade die latel- 


» 


11 
niſche Grammatik für fie von großer Bereutung iſt, mag übrigens bereitwillig 
zugeſtanden werben. 

Die allgemein bildende Kraft des formalen Spracdunterrichts liegt aber 
nicht allein, ja nur zum Eleinern Theile in dem rein grammatiichen Theile 
deſſelben. Jedes Wort einer Sprache bezeichnet einen Begriff oder wenigjtens 
eine allgemeine Borftellung. Es gilt Das fogar von den Eigennamen, welde 
zwar ein beſtimmtes Individuum bezeichnen, aber doch nicht in einer beſtimmten 
Sage und im beftimmten Berhältniffen, jondern das Individuum überhaupt ; 
es gilt aud von den jogenannten Formwörtern, welche die Begriffe von ge- 
wiffen Beziehungen zwiſchen anderen Begriffen oder auch ihren Objecten be- 
zeichnen. Was für Begriffe jemand befigt, welde Merkmale er in fie auf: 
nimmt, in welchem Umfange er fie anwendet, das hängt, wenn auch nicht allein, 
doch überwiegend von den Spraden ab, deren er mächtig iſt; im eriter Linie 
von feiner Mutterfprade. Wie die Wörter einer Sprache abgeleitet find, das 
ift nicht ohne Einfluß auf die Beveutung, auf das Gewicht, welches den ein— 
zelnen in einem Begriffe verbundenen Merkmalen beigelegt wird. Durch die 
in einer Sprache gebräuchlichen Conftructionen und Redeweiſen werden Be— 
ziehungen zwiſchen den einzelnen Begriffen feitgeftellt: der Einzelne gelangt, 
indem er die Sprache lernt, in den Beſitz defien, was die vergangenen Gene— 
rationen durch Beobachtung und Nachdenken den Dingen abgewormen haben. Es 
ift Daher nicht ſchwer, wie, meine ich, Goethe bemerkt, in einer gebildeten Sprache, 
deren man Herr ift, über irgend einen Öegenftand zu reden und zu jchreiben: 
fie verjchafft die Möglichkeit es zu thun, obme ſich vorher durch eigene Arbeit 
in den Gegenſtand hineingearbeitet zu haben. Wer aufer jeiner Mutterjprache 
einer zweiten Sprade mächtig iſt, der befigt daburd, wie man wol gejagt 
bat, eine zweite Seele; genaner geſprochen: zu dem einen Begriffsſyſtem in 
jeiner Seele wird nod ein zweites hinzugefügt. Aber Das nicht allem: in— 
dem er aus der einen Sprade in bie andere überſetzt, wird er gezwungen, 
beive Syſteme miteinander genau zu vergleichen; er wird dadurch erjt ber 
Eigenthümlichfeiten eines jeden vollftändig inne, denn die Bejchaffenbeit eines 
Dinges lernt man erjt durch Bergleihung mit ähnlichen und Durch die genaue 
Unteriheivung von ihnen recht kennen. Das Begriffsſyſtem, wad in ver 
Meutteriprace feinen Ausprud gefunden bat, gelangt erit durd das Erlernen 
einer fremden zur jcharfen Ausprägung Es wird nidt nöthig jein, dieſes 
genauer auszuführen, da an der bildenden Kraft des formalen Sprachunterrichts 
in fachverftändigen Kreiſen überall Fein Zweifel herrſcht. 

Eine andere Frage iſt es Dagegen, ob die allein auf diefem Wege ge- 
wonnene Bildung eine foldhe tft, wie man fie wünſchen muß, ob fie nidt au 
aewifien Mängeln und Cinfeitigfeiten leivet und deshalb eine Ergänzung von 
anderer Seite her nothwendig fordert. Daß gerade in ımferer Zeit Die Fer— 
tigfeit, ohne ein eigentliches Eingehen in die Sade über alle Dinge reden und 
fchreiben zu fünnen, und den Mangel an Sachkenntniß mit ſchönen Worten 
zuzubeden, weit verbreitet ijt und, wenn fie nicht ein Gegengewicht in einem 
aründlichen pofitiven Wiffen findet, nicht gerade zu dem Lichtfeiten der modernen 
Bildung gehört, it ſchon oft genng geſagt; es ift auch, namentlih von Sceibert, 
nachgewieſen, daß eben deshalb die rein formale Gummafialbildung eine Er— 
gänzung durch Die den pofitiven Gehalt bringenden Univerfitätsitudien noth— 
wendig fordert. Für ven Zweck unferer Betrachtung iſt indeffen noch ein 


12 
anderer Umitand von Belana. Die rein ſprachlichen Studien, von denen bier 
die Rede ift, haben es, foweit fie überhaupt über die Wörter hinausgehen, 
allein mit den Begriffen zu thun, welcde die Wörter bezeichnen ; die ſprachlichen 
Ableitungen werden beftimmt durd die Aehnlichkeit und den Zuſammenhang, 
die ſprachlichen Conjtructionen dur die Beziehungen zwifchen ihnen. Die 
Abftractionen aus den Anfcbamımgen des Wirflichen, aus denen die allgemeinen 
Borftellungen bervorgegangen find, ſowie diejenigen Auffaflungen des Wirk: 
lien, welde zur Aufitellung realer Beziehungen Beranlafjung gegeben haben, 
werden im Ganzen umd Großen als abgemacht vorausgejetgt; nur im gan 
jeltenen Ausnahmefällen wird im gewöhnlichen Spradunterriht auf das Wirk: 
liche hingewiefen, was in dem Spradlichen feinen Wiederjhein und Ausorud 
finde. Man redet z. B. von einem Caufalverhältnik, führt aber nur ſolche 
Beifpiele dejlelben an, welde dem Schüler fo ſchon aus feinem gewöhnlichen 
Leben geläufig find. Es ift das gewiß auch im Allgemeinen zu billigen; denn 
wenn man den Anfänger mit der Sprache bejcäftigt, ſoll man ihm nicht mit 
ſachlichen Schwierigkeiten beläftigen. Dadurch treten aber die Begriffe und 
das an fie ſich amfnüpfende Denfen immer mehr in den Vordergrund; Das 
Keale, auf welches fid jene Gedanken beziehen und durch welches fie eigentlich 
erst ihre Bedeutung erhalten, tritt für das Bewußtſein immer mehr zurüd. 
Die Gedanfen werden allmählidy für das wahrhaft Reale, für das die gemeine, 
ſchlechte Wirklichkeit Beſtimmende aebalten, denen leßtere unweigerlidy jich fügen 
muß. Aebnlichfeiten und Berfchievenheiten der Beariffe werden ohne weiteres 
für reale Aehnlichfeiten und Verſchiedenheiten erflärt; fowie die Begriffe in 
einander übergehen und auseinander folgen, jo follen auch die Dinge in einander 
übergehen und auseinander folgen. Da für unfer vergleihendes Denken das 
Farbige ein Mittleres ift zwiichen dem Bellen und dem Dunkeln, jo ſoll aud 
die Farbe jelbft eine Mifhung von Hell und Dunkel fein. Welchen Scharen 
3. B. die Pſychologie dadurd gelitten hat, daß man in ihr logiſche Zerlegungen 
und Zujammenfegungen der Begriffe von den geiftigen Thätigfeiten für veale 
Zerlegungen und Berbindungen der Borgänge jelbft aehalten bat, it befannt 
genug. Die Gedanken finden ihren Ausprud in Worten, ja es ſcheint jo, ale 
wenn fie den ſprachlichen Ausprud aus fich felber hervorgehen liegen, als wenn 
fie felber fi ihm ſchüfen. Sie gewinnen dadurch eine Art von Wirklichkeit, 
eine Art von Realität ; man braucht nur einen Schritt weiter zu gehen und 
man gelangt zu der Meinung, als wenn der Begriff das in ihm Begriffene, 
die Idee das von ihr Geforderte ſchon in fich trüge, es obme weitere Ber: 
mittelung gleich mit fi bringe. So wird durd jene rein formalen huma— 
niſtiſchen Studien der Anſchauungsweiſe eine Stätte bereitet, nach welcher das 
reine, jcheinbar von der Erfahrung ganz unabhängige, ja vorausjegungsloie 
Denken das allein Entſcheidende, dasjenige ift, was nicht mur zur Erlangung 
einer wiſſenſchaftlichen Erkenntniß vollkommen ausreicht, fondern aud allein zur 
eigentliben Wifjenichaft führen kann. Aehnlichkeiten und Verſchiedenheiten ver 
Deariffe werben als reale Beziehungen zwijchen den Dingen betrachtet; burd 
rein logiſche Analyjen glaubt man eine Einfiht gewonnen zu haben in die reale 
Zufammenjegung des Wirkliben. Die Abhängigkeit und der Zuſammenhang 
unferer Gedanken wird für ein getreues Abbild der Abhängigkeit und des Zus 
jammenhanges der Dinge gehalten ; ift es gelungen, einen Begriff aus anderen 
abzuleiten, jo wird es für überflüjfig erflärt, nun aud weiter nachzuforſchen, 


13 
unter welchen Beringungen fein Gegenftand ein wirklicher werden könne. „Jeder 
Act des Willens iſt jofort und unausbleiblid eine Bewegung des Leibes.“ — 
„Zähne, Schlund und Darmfanal find der objectiwirte Hunger.“ — „Cs 
müßte jonderbar zugehen, wenn das Innerſte des Geiſtes, der Begriff, oder 
auch wenn Sch, oder vollends die concrete Totalität, welche Gott ift, nicht 
einmal jo reid, wäre, um eine fo arme Beftimmung, wie Sein ift, ja welde 
die allerärmjte, die abftractefte ift, im jich zu enthalten.“ Die Idee iſt 
niht „jo ohnmächtig, um nur zu follen und nicht wirklich zu fein“. | 

Es ijt überflüſſig, an einzelnen Beijpielen nadyzuweifen, weldyen Einfluß 
diejes Beitreben, das Wirkliche durch ein fogenanntes reines Denfen zu erfennen, in 
der Entwidelung des Wirflihen nur einen Wiederſchein der Entwidelung der 
Begriffe zu erbliden, feiner Zeit auf die deutſche Wiſſenſchaft ausgeübt hat. 
Die ganze Fichte-Scelling-Hegel’ihe Philofophie mit ihren zahllojen Aus- 
läufern und Epigonen ift ja ein fortlaufender Beweis davon, und aud im 
nicht philoſophiſchen Wiſſenſchaften it oft genug der Verſuch gemacht, ben 
Verlauf der Begebenheiten auf das fortwährende Uebergehen eines Begriffs 
in jein Gegentheil und die Wierervereinigung der beiden Gegenſätze zurüd- 
zuführen oder auf irgend. eine andere Weije in ihr nichts weiter als bie 
logiſche Entwidelung eines Begriffs zu erbliden. Dem überwiegend natur- 
wiſſenſchaftlich Geſchulten erjcheint ein joldhes: Beginnen rein unverjtändlid) ; 
er begreift gar nicht, was die, welche jo verfahren, eigentlih wollen; er muß 
fi dann freilic den Vorwurf gefallen laſſen, er jei in ſchlechter Verſtandes— 
reflerion befangen, welche die Abjtractionen in ihrer Einfeitigfeit feithalte und 
nit im Stande. jei, zum concreten Begriff und zur Idee fich zu erheben. 
Dem realiſtiſch Geſchulten ift das Wirkliche etwas Selbjtändiges, von allen 
Begriffen und Ideen zunächſt und unmittelbar durdaus Unabhängige. Was 
in dem Wirklichen geſchieht oder zu geſchehen ſcheint ift allein eine Folge des 
jelbjtändig Seienden und der Beziehungen der einzelnen Seienden zu einander. 
Alle unſere Gedanken, Begriffe und Ideen haben rein als foldye feinen Ein- 
fluß auf das, was in Wirklichkeit ift und geſchieht; nur infofern fie Gedanken 
und Begriffe und Ideen wirfliher Wejen find, welche ebenfalls in Beziehungen 
zu anderen wirklichen Weſen ftehen, vermögen fie einen beftimmenden Einfluß 
auf den Berlauf der Begebenheiten auszuüben. Ja im Grunde und im 
Wahrheit jind jie gar nicht, wenn fie nicht innere Zuſtände wirklicher Wejen 
oder Ereigniffe in ihnen find. Es fommt bier für uns nichts darauf an, 
ob dieſe realijtiiche Anſchauungsweiſe richtig ift und die volle Wahrheit ent- 
hält ; es genügt für unjeren Zwed die Thatſache, daß fie eine weit verbreitete, 
in weiten reifen herrſchende ift. 

Nod einige andere Mängel oder — wenn man den mildern Ausorud 
vorzieht — Eigenthümlichkeiten der deutichen Wiſſenſchaft erflären ſich aus 
der überwiegend philologiihen Erziehung der wiflenichaftlidh Gebilveten. Die 
Vorftellungen und Begriffe, weldye durch die Wörter einer Sprache bezeichnet 
werden, find, wenigftens wenn fie zu einiger Abftraction ſich erheben, nad) 
Umfang und Inhalt feineswegs feit beitimmt, fondern daſſelbe Wort kann oft 
genug im engerer ober weiterer Bedeutung genommen werden. Ja nicht jelten 
werben ganz verjchiedene Begriffe dur ein und dafjelbe Wort bezeichnet, und 
es find oft nur jehr entfernte Analogien, jehr vervedte Beziehungen, welche 
der Gleichheit der Benennungen zur Rechtfertigung dienen. Man venfe nur 


— 


an die verſchiedenen Bedeutungen, welche die Wörter „Subject“ und „Objeet“ 
in verſchiedenen Wiffenfchaften, ja im emer und berjelben befigen. Daſſelbe 
gilt für die Begriffe der Beziehungen, welche in den verjchiedenen ſprachlichen 
Formen ihren Ausdruck finden. An und für ſich liegt darin fein Nachtbeil, 
es ift vielmehr nicht felten gerade in dieſem Umſtande die Anwendbarkeit der 
Sprache begründet. Im jedem befonderen alle wird durch den Zuſammen— 
bang der Rede der Sinn und die Bereutung bejtimmt, in welden ein Wort 
oder eine Conftructton genommen werden foll; man würde oft genug das, 
was man ausdrücken will, gar nicht oder doch nicht mit hinreichender Feinheit 
auspritden können, wenn nicht die Bedeutung der Wörter und Conjtructionen 
eine gewiſſe Unbeftimmtheit ımd Biegſamkeit beſäße. Der eigenthümliche Reiz 
einer Rede beruht gerade zum großen Theil darauf, daß fie nicht allein Die 
eigentlich ausgeiprohenen Hauptgevanfen in uns hervorruft, ſondern daß aud 
mancherlet Nebengedanfen neben ihnen anflingen. Das wird aber nicht zum 
wenigiten eben dadurch bewirft, daß die Begriffe erſt in weiterer oder engerer 
Bedeutung genommen werden, als es jchließlich geſchehen ſoll; ja, daß jtatt 
des eigentlich aufzufafienden Begriffs erit ein anderer, mit ihm in engerer oder 
weiterer Beziehung jtehender zum Bewußtjein fommt. Nicht felten wird auch 
der Uebergang von einem Gedanfen zu dem andern durch ſolche dem ſprach— 
(ihen Ausdruck anflebende Nebenbeveutungen und Unbeſtimmtheiten auf eine 
paffende Weife vermittelt. Wer ſich aber lange Zeit ausjchlieklih mit ſprach— 
lichen Studien beichäftigt, deſſen Begriffe befommen dadurch leicht eine gewiſſe 
Unbeftimmtheit und Biegfamfeit, die allerdings keineswegs geradezu als ein 
Fehler betrachtet werden dürfen: der eine Begriff verwandelt ſich ihm unter der 
Hand in den andern, und bei dem überwiegenden Werth, welchen er anf Das 
Sprachliche legt, wird er fogar vielleicht dazu verleitet, das für iventifch zu‘ 
halten, was in ihm denſelben Ausorud gefunden bat. Wenn jo etwas nict 
möglich wäre, jo würde Kant ſchwerlich auf feinen. befannten Paralogismus 
gekommen fein, in deffen einer Prämiffe das Wort „Subject“ etwas bezeichnet, 
dem Präpdicate beigelegt werben, während es in der andern das Denfende oder 
Borftellende bedeutet. Hegel Ipielt mit dem Worte „Aufheben“, welches bald 
„Aufbewahren“, bald „Vernichten“, oder auch wol beides zugleich bezeichnen 
fol. Indem jedes von zwei Entgegengejegten, das Aufheben feiner jelbjt und 
des Entgegengejegten jein joll, „aehen fie zu Grunde; das Eine, welches 
jo ſich und fein Entgegengefegtes in fih enthält, ift demmad dev Grund“. 
Welcher Mifbrauh mit den Worten „Organismus“ ımd „Leben“ getrieben 
iſt, iſt bekannt genug: ſie find in folder Ausdehnung angewendet, daß das 
ganze Weltall als ein Organismus betrachtet, auch dem todten Steine Yeben 
zugefchrieben wird, haben damit aber alle und jede beitimmte Bedeutung ver: 
loren. Die Wanvelbarfeit der Beariffe wird dabei auf die Dinge felbit über: 
tragen, jo daß auch dieſe als in einem bejtändigen Uebergehen in Anderes 
begriffen angefehen werten. Dem gegenüber find dem Realismus die Dinge 
etwas durchaus Feſtes ımd am umd für fich Unveränverliches: Alles ift, was 
es ift, und bleibt es jo lange, bis es durch Das Hinzutreten eines Andern zu 
einer Beränderung gezwungen wird. Gr fühlt fich erit dann befriediat, men 
er feine Begriffe, nad dem Mujter ver mathematifchen, zur vollen feiten Be— 
jtimmtheit gebracht. hat, jo daß über ihren Inhalt und Umfang fein Zweifel 
mehr jtattfinden kann. Diejelbe fefte Beftimmtbeit fchreibt er audh dem Was 


— 


zu, welches iſt: eine Beränderung in dieſem Was erſcheint ihm erſt dann be— 
greiflich, wenn er die Urſache derſelben in einer veränderten Beziehung zu 
einem andern Seienden aufgefunden hat. 

Es giebt Begriffe, welche eine Beziehung zu irgend etwas Auderem noth— 
wendig im fich jchließen, von denen die Beziehung zu jenem Auderen einen 
weſentlichen Beſtandtheil bildet, fo daß jie alle und jede Bedeutung, allen und 
jeven Sinn verlieren, wenn man fie von jener Beziehung Loszulöfen, wenn 
man jie für fih allein zu betrachten verſucht. Zu ihnen gehört vor allen 
Dingen der Begriff des Seins, welder nur eine Bedeutung befigt in Bezug 
auf etwas, was ift: das reine Sein ohne ein Seiendes iſt ein reiner Un— 
gedanfe. Es gehört zu ihnen der Begriff der Negation, der nur einen Sinn 
hat in Bezug auf etwas, was verneint, was ausgejchloffen wird; ferner der 
der Grenze, der ſich bezieht auf Das, was, und auf ein anderes, wogegen es 
begrenzt wird, und noch manches andere. In der Spradye werden aber auch 
ſolche Begriffe durch ein bejonderes Wort bezeichnet, nicht blos durch Beugungen, 
welde an andern Wörtern ausgeführt werden. Wer nun daran gewöhnt ift, feine 
Aufmerkſamkeit überwiegend auf den ſprachlichen Ausdruck zu richten, der ver- 
fallt leicht in die Täufhung, daß die Begriffe ebenjo ifolirt gedacht werden 
fönnen, wie man bie Wörter ifolirt ausſprechen oder jchreiben fann; er meint, 
jene Wörter behielten auch dann noch einen Sinn, wenn fie allein und von 
jeder grammatiſchen Verbindung losgeriſſen daftehen. Es fünnte fcheinen, als 
wenn eime jolde Täuſchung unmöglid wäre; es mag Deshalb nicht überflüſſig 
jein, die Möglichkeit und Wirklichkeit derjelben an einem eclatanten Betjpiele 
nachzuweiſen. Hegel verlangt im Anfange jener Logik, man folle ſich das 
reine Sein denken; alſo nicht etwa dieſes oder jenes, welches it, jondern 
das Sein für fi allein ohne ein Seiendes; er verlangt aljo das, was oben 
für unmöglich erklärt wurde. Indem jo aus dem Gedanken des Seins alles 
Seiende ausgeſchloſſen ift, bleibt offenbar an deſſen Stelle Nichts übrig; 
Heel bat alfo ganz recht, wenn er das reine Sein für einerlei mit dem 
Nichts erklärt, vielleicht hätte er indeſſen genauer jagen jollen, das reine 
Sein iſt einerlei mit dem Nichts-ſein. Diefe Einheit des Seins mit dem Nichts 
fell num das Werden fein. Im den Begriff des — abfoluten — Werdens 
liegt nun allerdings, daß an ver Stelle, wo früher Nichts war, jet Etwas 
ft; im Augenblide des Werdens füllt das Etwas mit dem Nichts zufammen ; 
man kann infofern jagen, das Werden ſei die Einheit des Etwas-ſeins mit 
dem Nichts=jein. Zu diefer Einheit iſt aber offenbar Hegel nicht gelangt, 
jondern nur zur Cinerleiheit des Seins ohne Etwas, was tft, mit dem Nichts- 
jein, die allerdings nicht zu leugnen, aber nichts weniger als ein Werden ift. 
Da aber das Sem nicht gedacht werben kann ohne ein Seiendes, jo ſchiebt 
ſich nur zu leicht Der Gedanke des Etwas-ſeins an die Stelle des Nichts- 
jeins: Daher jene Täuſchung. Es mag hierbei bemerft werden, daß auch das 
Nichts zu den Begriffen gehört, welde ohne Beziehung auf etwas Anderes 
keine Bedeutung befigen. Nichts an und für ſich allein kann man jich nicht 
denfen: es fehlt ja an jedem Gegenjtande für das Denken. Man muß fich exit 
Etwas und diejes Etwas wieder wegdenfen, wenn man zum Begriff des Nichts 
gelangen will: das Nichts kann nur gedacht werden in Bezug auf ein vorher 
gedachtes Etwas. Die Definition der Mathematiker: o—=a—a hat ihre gute 
Bedeutung. 


Ballauff, Humanismus und Realismus. 2 


16 

Es ift jest noch ein fehr wichtiger Unterfchied hervorzuheben, welder 
zwifchen der auf bumaniftifcher und der auf realiftifher Schulung ruhenden 
Weltanfhauung fid geltend macht. Er bezieht ſich auf die Unterſcheidung 
zweier Arten von Naturgefegen, welche zwar fo in die Augen fallend ift, daß 
fie faum bat überjehen werden können, aber doch vielleicht nicht jo beachtet 
wird, wie fie es verdient; wenigftens hat fie, foviel mir befannt, noch feinen 
Ausdruck in bejtimmten Benennungen gefunden. Sie tritt 3. B. hervor, wenn 
man bie Keppler'ſchen Gejege mit der Newton’schen Herleitung derjelben ver 
aleiht. Die Keppler'ſchen Geſetze enthalten gewiſſe Regeln, nach denen vie 
Planeten bei ihren Bewegungen um einen Gentralförper fich richten, verſchaffen 
ung einen bis auf einen gewiſſen Punkt genau beftimmten Begriff von ihnen. Wir 
benugen fie, um den Erfolg jener Bewegungen im Boraus zu beftimmen: wır 
erwarten demnach, ja wir jtellen gewiffermaßen die Forderung, daß die Planeten 
in ihren Bewegungen ihnen gehorchen. Die den Keppler'ſchen Geſetzen ge— 
borchenden Erſcheinungen bedürfen aber nody einer Erflärung; und dieſe be- 
fteht darin, daß man die einfachen Vorgänge nachweiſt, durch deren Verflechtung 
der zufammengefegte Vorgang, für welchen fie gelten, entfteht. In unferem 
Beifpiele ift diefe Erklärung bekanntlich vollftändig geleiftet: die elliptifche Be— 
wegung der Planeten entiteht durch die Verbindung zweier einfacheren Be— 
wegungen, von denen die eine dem Planeten an und für fich zufommmt, die 
andere dagegen nad) einem Centralförper hin gerichtet und von den Beziehungen 
zu diefem abhängig iſt. Für diefe beiden Bewegungen gelten aber wieder be 
ftimmte Geſetze: das der Trügheit und das Gravitationsgejeß. Die Keppler'ſchen 
Geſetze und die für jene einfachen Vorgänge geltenden gehören indeffen zu zı6et 
verfchiedenen Arten von Naturgefegen, zwiſchen denen fich mehrere, ſehr be— 
merfenswerthe Unterfchiede finden; da es, mie fchon bemerft, an einer all 
gemein angenommenen Benennung für diefe beiden Arten von Naturgejegen 
fehlt, jo mögen bier die erften hiſtoriſche, die legten phyſikaliſche 
Geſetze heißen. 

Die phyſikaliſchen Geſetze geben allgemeine, aber möglichſt beftimmte und 
genaue Darftellungen deſſen, was ımter gewifjen gegebenen Bedingungen immer 
und unweigerlich ift oder geſchieht. Verſteht man unter einem Geſetze eine 
Vorſchrift, welche ein Sollen in ſich ſchließt, ſo kann man ſie eigentlich gar 
nicht „Geſetze“ nennen; denn man kann nicht vorausſetzen, daß die Möglichkeit, 
und noch weniger, daß die Neigung vorhanden wäre, von ber in ihnen aus— 
aefprodenen Regel auch nur im mindeften abzumeihen. Es kann nicht von 
einem Sollen, ja nicht einmal von einem Müſſen bei ihnen die Rede jein: 
das in ihnen Ausgefprocdene ift und geſchieht, wenn die vorausgefegten Be» 
dingungen vorhanden find, ohne Widerſtreben und ohne die Möglichkeit irgend 
einer Abweichung. Es liegt in ihmen fein Imperativ, ſondern fie enthalten 
nur eine Erfenntniß deſſen, was unter bejtunmten Berbältniffen iſt oder ge 
ſchieht. Cie gelten ohne irgend eine Ausnahme und, wenn fie überhaupt voll: 
ftändig richtig find, mit abfolnter Genauigkeit. Befigt einmal ein Körper eine 
gewiſſe Bewegung und wirft nichts auf ihn ein, jo weicht er niemals und 
nicht im mindejten von feiner anfänglichen Richtung ab, und ebenſowenig tritt 
jemals auch nur die gerinafte Veränderung feiner anfänglichen Geſchwindigkeit 
ein. Mit dem Gravitationsgefege könnte es fich allerdings etwas anders ver- 
halten. Es wäre möglich — ja es ift jogar wahrſcheinlich —, daß wir es 


17 


bei ihm nicht „mit einem wahrhaft einfachen VBorgange zu thun haben; es wäre 
möglich, daß die Gravitation nod von andern Umftänden abhinge, als von der 
Entfermung und der Größe der einander anziehenden Mafjen, indem and ihre 
Qualität einen allerdings verſchwindend Heinen Einfluß auf jie haben könnte; 
es märe denkbar, daß aud das Gefer von der Abnahme der Anziehung mit 
dem Quadrat der Entfernung nicht abfolut richtig wäre. Geben wir ed aber 
als richtig voraus, fo erfolgt wieder die Verbindung der beiden Bewegungen 
des Körpers zu einer ausnahmslos und abjolut genau nad dem Gefege von 
Barallelogramm der Bewegungen. Ganz anders verhält es ſich mit ben hifto- 
rifhen Gefegen, zu denen hier aud die Keppler'ſchen Geſetze gerechnet werben. 
Unter einem Planeten fünnen wir einen Weltförper verftehen, der durch eine 
gewiffe urfprünglich in ihm liegende Bewegung und durch die Gravitation zu 
einem Centralförper von überwiegender Maſſe zu einer Umfreifung des letztern 
beftimmt wird. Durch dieſe Erklärung find gewiffe Beringungen feitgeftellt, 
welche für den Begriff des Planeten weſentlich find: ift ihnen bei einem Welt- 
förper genügt, jo werden wir ihn zu den Planeten zählen. In jedem befondern 
Falle treten aber noch andere die Bewegung bedingende Umftände hinzu, welche 
als nicht wefentlih für den Begriff eines Planeten betrachtet werden. Wären 
blos jene weſentlichen bedingenden Umjtände vorhanden, fo würden die — in 
einem Punkte veränderten — Keppler'ſchen Geſetze nothwendig und mit ab- 
foluter Genauigfeit für die Bewegung des Planeten gelten. Da aber aud) 
noch andere Umftände — die Anziehung anderer vorhandener Weltförper, viel- 
leicht auch ein widerftehendes Mittel oder andere, etwa magnetische, Anziehungen 
— auf fie einwirfen:: jo finden Abweichungen von jenen Geſetzen ftatt, von 
denen einige jo bedeutend find, daß fie als Störungen einen bemerfbaren Ein— 
fluß auf den Berlauf der Erjcheinungen ausüben. Ja es wäre denkbar — 
obaleich dieſer Fall in unferem Planetenſyſtem nicht vorfommt —, daß dieſe Ab- 
weihungen jo bedeutend wären, daß Die Keppler'ſchen Gefege auch nicht einmal 
ald annähernd richtig betrachtet werben fünnten, fie würden dann aud nicht 
einmal ein ungefähres Bild vom wahren Berlauf der Erſcheinungen liefern: 
wir würden in diefem Falle eine Ausnahme von jenen allgemeinen Geſetzen 
für die Planetenbewegungen zugeben müfjen. Ebenſo ift in jedem Samenforn 
ein gewifier Kreis von Beringungen eingefchloffen, in denen, wenn günftige 
äußere Umſtände hinzutreten, die Beranlaffung zur - Entwidelung einer Pflanze 
enthalten ift. Stimmen mehrere Samenförner binfichtlic der im ihnen ein— 
geichloffenen Entwidelungsbedingungen genau mit einander überein, jo werben 
die aus ihnen hervorgehenden Pflanzen zu einer Art geredinet werben müſſen, 
und ed werden für diefe Pflanzenart gewiſſe hiſtoriſche Gefete in Bezug auf 
ihren äußeren und inneren Bau, auf die im ihnen fich bildenden Stoffe, auf 
ihre Lebenserſcheinungen u. f. w. fich ergeben, welche gültig find, jo lange die 
Schwankungen in den mitwirfenden äußern Umjtänden eine gewifje Grenze nicht 
überfchreiten. Aber dieſe Grenze kann überfchritten werden, ohne daß doch die 
Entwidelung der Pflanze unmöglich gemadt wird, es werben fid dann Aus— 
nahmen und Abweichungen von den für die Pflanzenart gültigen Geſetzen zeigen. 
Ja, aud die einzelnen Samenkörner werden, was den im ihnen eingejchloffenen 
Kreis von Bedingungen anbetrifft, feineswegs in voller Uebereinftimmung mit 
einander ſich befinden ; aber Die fich zeigenden Abweichungen find doch vielleicht 
zu unbedeutend, als daß man ihretwegen die Pflanzen verfciedenen Arten zus 
2* 


18 

zählen könnte. Es kann demnach Abweichungen und Ausnahmen von den für 
die Pflanzenart geltenden hiſtoriſchen Geſetzen geben, melde nicht der Ver: 
ſchiedenheit der mitwirfenden zufälligen äußeren Umſtände, jondern Unter- 
fhieden in den urjprünglicen Keimen ihren Urjprung verdanken. Freilich 
verliert dadurch der Umfang, innerhalb deſſen ein bejtinuntes Geſetz Gültigkeit 
befigt, jeine feften Grenzen: e8 fommt dann darauf an, Das ganze Begriffe: 
ſyſtem jo zu gliedern, daß man mit möglichjt wenigen und möglichſt einfachen 
Geſetzen die Geſammtheit des Wirkliben umfaffen kann, dar möglichſt wenig 
Abweichungen und Ausnahmen von ihmen ſich finden. Die hiſtoriſchen Geſetze 
erhalten jo einen, man könnte jagen, idealen Charakter: jie enthalten die For— 
derung, daß das Wirklihe genau umd in allen Fällen nach ihnen fich richte, 
ohne daß diefer Forderung doch nothwendig Genüge zu geſchehen braucht ; eine 
Abweichung von ihnen, eine Nichtbefolgung derjelben iſt möglid. Sie fin 
deshalb Geſetze im eigentlihen oder engern Sinne des Wortes. 

Daß die humaniftifchen Studien faſt allein auf die Erforfchung der hiſto— 
riſchen Gejege fich bejchränfen müfjen und nur im einzelnen Ausnahmefällen 
auf die der phyſikaliſchen ſich einlaſſen können, tft jo einleuchtend, dag es kaum 
eines näheren Nachweiſes bedarf. Die Entmwidelung des Sprachlichen iſt em 
jo complicirter Vorgang, die Zahl der ſich in ihr verflechtenden pfychiſchen und 
phyſiſchen Proceſſe ift eine jo unermeßliche, dieſe Proceſſe jelbit jind theilweiſe 
uns noch ſo unbekannt und die Verflechtung ſelbſt eine ſo verwickelte, den 
Verlauf der einzelnen Fäden verhüllende, der Einfluß zufälliger mitwirkender 
Umſtände ein ſo bedeutender, daß man froh ſein muß, wenn es nur gelingt, 
den Verlauf der äußern Erſcheinungen aufzufaſſen und ihn einigermaßen genau 
und vollſtändig beſtimmten hiſtoriſchen Geſetzen unterzuordnen. Das Gleiche 
gilt von dem eigentlich Geſchichtlichen, wenn die Auffaſſung des Geſetzlichen 
in der hiſtoriſchen Entwickelung der Dinge innerhalb des eigentlichen Schul— 
unterrichts überhaupt eine Stelle finden kann; und wenigſtens zum großen 
Theil auch für das Geographiſche. Dazu kommt denn noch, daß auch die 
Schriftſteller, welche zur Lectüre benutzt werden, wenn ſie auf das Geſetzliche 
in den Erſcheinungen ſich einlaſſen, doch auf die hiſtoriſchen Geſetze ſich be— 
ſchränken, und nur ſelten das Geſchehende in ſeine Grundvorgänge zu zerlegen 
und die phyſikaliſchen Geſetze der letztern zu erkennen verſuchen; machen ſie 
aber auch wirklich einmal einen Verſuch dazu, ſo geſchieht es doch faſt immer 
auf eine Art und Weiſe, welche mit der jetzt herrſchenden Anſchauungsweiſe 
durchaus unvereinbar iſt. Es iſt daher fein Wunder, daß durch den huma— 
niſtiſchen Unterricht das Bedürfniß, das Zuſammengeſetzte in ſeine Elemente 
zu zerlegen und die letztern auf eine feſte und beſtinunte Weiſe aufzufaſſen, 
- gar nicht wacdgerufen wird; es wird jo die Anficht ausgebildet, daß mit der 
Auffaſſung der biftoriihen Gejege für das Wirflicde die Erkenntniß dejjelben 
vollendet jei. Nur jo dürfte die Mißachtung der großen Verdienſte Newton's 
um die Erflärung ver Planetenbewegungen, weldye ſich bei Hegel findet, zu 
erklären fein: Newton’s Ableitung der Keppler'ſchen Gejege aus dem Gravi— 
tationsgejege wird ja von Hegel ald ein. mathematiſcher Yurus betrachtet, ver 
böcitens der Rechnung einige Dienfte leiften kann, aber die Einſicht in das 
eigentliche Wejen des VBorganges nur verdunfelt. Es mag noch daran erinnert 
werden, daß auch Goethes gewiß nicht zu unterſchätzende naturwiſſenſchaftlichen 
Verdienſte auf vie Feititellung ver hiſtoriſchen Geſetze der Erſcheinungen ſich 


19 


beihränfen : die eigentlih phyſikaliſche Erklärung der vorliegenden Thatjachen 
iheint ihm jogar widerwärtig geweſen zu fein. 

In der oben gegebenen Auseinanderfegung der Unterſchiede zwiſchen ber, 
wie wir der Kürze wegen jagen wollen, bumaniftiichen und realiſtiſchen wiſſen— 
ihaftlihen Weltanſchauung find vorzugeweife die Mängel der erfteren hervor- 
gehoben worden. Es iſt imdeflen keineswegs die Memung, daß die huma— 
niftifchen Studien etwa genen die realiftiichen in den Hintergrund treten follten: 
aus andern Gründen, die hier wohl als bekannt vorausgefetst werden können, 
ergiebt fih vielmehr, daß bei einem Yugendunterricht, welcher erziehenp wirken 
foll, auf fie immer das Hauptgewicht gelegt werden müſſe. Aber auch ſchon 
aus dem im diefem Auflage feftgehaltenen Gefichtspunfte ergeben ſich gewiſſe 
Mängel der rein realiftiihen Bildıma, melde die Befchränfung auf fie oder 
auch nur eine einfeitige Hervorhebung derſelben verbieten: dieſe mrüflen daher 
zumächft hier einer nähern Unterfuchung unterzogen werben, 

Wir fünnen an den zulest erwähnten Punkt, an den Unterſchied zwiſchen 
hiſtoriſchen und phyſikaliſchen Geſetzen anknüpfen. Wenn das hiftorifche Geſetz 
einer Erſcheinung feſtgeſtellt iſt, ſo liegt noch immer die Aufgabe vor, ſie auch 
zu erklären, d. h. ſie als eine Verflechtung einfacherer Vorgänge darzuſtellen, 
welche feſten phyſikaliſchen Geſetzen unterliegen. Aber nur in verhältnißmäßig 
ſehr ſeltenen Fällen gelingt dieſe Erklärung einigermaßen vollſtändig; ſie ge— 
lingt in der Regel nur dadurch, daß man zahlreiche Nebenumſtände, welche 
auf den ſchließlichen Erfolg einen verhältnißmäßig nur unbedentenden Einfluß 
ausüben, vollſtäudig aus den Augen läßt. So können bei ver Beſtimmung 
der Planetenbewegungen jene magnetiſchen und widerſtehenden Kräfte, von denen 
oben die Rede war, ja es können die Anziehungen entfernterer oder kleinerer 
Weltkörper ganz außer Acht gelaſſen werden: wenn ſie auch die Planeten 
hunderte oder tauſende von Fußen von ihrer Bahn ablenken, ſo ſind das doch 
Größen, die ſich unſerer Beobachtung gänzlich entziehen. Aber auch die Be— 
rechnung der Störungen, welche nothwendig in Betracht gezogen werden müſſen, 
iſt bekanntlich eine außerordentlich ſchwierige: ſie kann nicht mit abſoluter 
Genauigkeit, ſondern nur angenähert ausgeführt werden. Die Bewegung eines 
Staubkörnchens, einer Flüſſigkeitsmaſſe entzieht ſich jeder genauen Berechnung, 
da die Verflechtung der einzelnen Vorgänge eine ſo verwickelte iſt, daß menſch— 
liche Kraft nicht ausreicht, um ſie zu entwirren und das Ergebniß jedes ein— 
zelnen durch Rechnung zu verfolgen; bei den Vorgängen in organiſchen Weſen 
beſteht die Erklärung in der Regel mehr darin, daß man den Weg nachweiſt, 
auf welchem man fie zu erklären hoffen kann, als daß man die Erklärung 
wirklich leiftet. Namentlicdy in Allem, was Menſchen und menjchliche Verhält— 
niffe anbetrifft, tritt diefe Schwierigkeit augenfällig hervor : zu der, welche aus 
der ımermeflichen Verwidelung der im Betracht kommenden Brocefle ſich er— 
giebt, gefellen fi nody die andern, daß man mir felten die phyſikaliſchen Ge— 
ſetze, denen die einfachen Vorgänge folgen, mit hinreichender Genauigkeit kennt, 
und daß, wegen der ungemeinen Beweglichkeit der Verhältniſſe, Umftände in 
befondern Fällen einen ehr: bedeutenden, ja enticeidenden Einfluß ausüben, 
welche in der Regel To gut wie gar feinen befigen. 

Bei dem realiftifch Gebildeten macht fih nun aber das Bedürfniß geltend, 
das in der Erfahrung Vorliegende auch zu begreifen, es auf eine ähnliche 
Weiſe zu begreifen, wie etma das Hervorgehen einer geomerrijchen Conftructien 


20 \ 
aus ihren einfachen Elementen, Da jedoch die Geſammtheit der bedingenven Um— 
ftände zu umfangreich it, ald daß man alle oder- auch nur die hervorragendſten 
der aus ihnen entjpringenden Entwidelungsreihen im Gedanken fefthalten und 
im Gedanken in ihren Erfolgen gegen einander abwägen fünnte: fo liegt die 
Berführung nah, eine oder einige wenige von ihnen, die gerabe vorzugsweiſe 
bedeutend erjcheinen, feftzuhalten und, blind gegen die Erfahrung, die Folgen 
der übrigen geradezu in Abrede zu jtellen. Allerdings lehrt dem realiftiic 
Gebildeten gerade jeine wiſſenſchaftliche Bildung, die Erfahrimg ſorgſam zu 
beachten und in ihr den alleinigen Ausgangspunkt aller Erkenntnißbildung 
zu-jegen. Aber nur zu leicht betrachtet er allein das als durch die Erfahrung 
gegeben, was ſich jehen und greifen, was ſich mefjen und wiegen läßt; ıbm 
fehlt der hiſtoriſche Sinn, der aud das Geiftige unbefangen aufzufafjen und 
rein im Geiſte und ohne finnliche Hilfsmittel gegen einander abzumägen ver: 
ſteht. Sowie in Mathematif und Phyfif einige wenige Grundſätze Das ganze 
Gebiet beherrſchen, jo Hammert der bornirte Realift fi aud auf geiftigen 
Gebieten an ein oder wenige Prinzipien an, die vielleicht an und für fich richtig 
jein mögen, aber es doch nur neben andern find, jo daß oft gerade das Gegen- 
theil von dem jtattfindet, was ihnen zu Folge wirflic fein müßte Er läßt 
fih durch die Folgerungen leiten, welche er aus jeinen Brinzipien zieht ; umd 
nicht dur den feinen biftorifchen Tact, der, ohne auf die Grundſätze zurüd— 
zugeben, body dasjenige vorher zu jehen vermag, was unter gegebenen Um— 
ftänden ſich entwideln wird. Go zeigt ſich gerade bei Mathematifern und 
Naturforſchern, freilich lange nicht bei ihnen allein, wenn fie ſich auf fociale, 
politifche oder religiöje Fragen einlaffen, jene einfeitige und beſchränkte Ber: 
ftändigfeit, welche immer auf dem Wege ift, das größte Unheil anzurichten. 
Daß aber jener hiſtoriſche Sinn und hiftoriiche Tact, ſoweit er fich auf geiftige 
und von dem Geiftigen abhängende Dinge bezieht, nur durch humaniſtiſche 
Studien ausgebildet werben kann, bedarf wohl faum eines. ausführlichen 
Beweiſes. 

Ueberhaupt: Wenn es ſich um die wiſſenſchaftliche Auffaſſung eines 
größeren Ganzen aus Natur oder Menſchenleben handelt, jo muß die Erfennt- 
niß der hiſtoriſchen Gejege des Seienden und Geſchehenden der Einficht in das 
Hervorgehen des zufammengejetten Erfolgs aus jeinen Elementen vorangeben, 
wenn es nicht überhaupt bei erfterer fein Bewenden haben muß. Nur in 
jeltenen Fällen iſt es möglid, das Zufammengejegte gleichſam a priori aus 
feinen Elementen zu conftruiren. Nun,geht zwar ein großer Theil der Natur: 
wifjenjchaften von ſolchen hiſtoriſchen Gejegen aus — man braucht mur an 
die beſchreibenden Naturwiffenfhaften, an Anatomie und Phyſiologie, an 
Meteorologie u. j. w. zu denken — ; aber das felbitthätige Auffinden derſelben 
liegt meiftentheil® ganz außerhalb der Grenzen des Sculunterrichts ; ja es if 
innerhalb ihrer nur felten möglih, dem Schüler eine auf eigenes Beobadten 
umd Denken gegründete Ueberzeugung von ihrer Nichtigkeit und Angemefjenbeit 
zu verjchaffen. Sie gewinnen ihre wahre Bedeutung erſt dadurd, daß es mit 
ihrer Hülfe möglich wird, ein reiches empiriſches Material zu überjchauen und 
geiftig zu durchdringen. Das legtere kann aber oft gar nicht herbeigeſchafft 
werben ; und wenn man es auch herbeiſchaffen könnte, jo bitrfte man es doch 
dem Anfänger nicht darbieten, ohne ihm zu erprüden Cine wahrhaft genetijce 
Entwidelung der naturhiſtoriſchen Syſteme z. B., welde ja and folde hiſto— 


21 

riſche Geſetze enthalten, ift, wie ſchon früher angebeutet geradezu unmöglich ; 
denn das Bedürfniß nach ihnen erwacht mur "in demjenigen und nur derjenige 
kann eine begründete Weberzeugung von ihrer Angemefenheit gewinnen, welder 
eine große Zahl einzelner Naturproducte ſchon gemaner kennen gelernt bat, 
welcher fid) von. der jcheinbar ungeordneten Mafje erdrückt fühlt, für welchen 
fi daher durd die Einficht in das Syſtem das wüſte Haufwerk in ein wohl- 
gegliedertes und in allen jeinen Glievern wohl zujammenhängendes Ganzes ver- 
wandelt. Innerhalb der Naturwifienichaften müffen daher die hiftorifchen Ge— 
jege dem Schüler als etwas Poſitives gegeben werden: man kann ihn 
wohl zum Berftändniß berjelben bringen, ohne daß er jie aber doch wahr- 
haft umd ihrer Bedeutung nad begreift. Außerdem ftehen die für die Natur: 
eriheinungen geltenden hiſtoriſchen Gejege, namentlich joweit fie innerhalb des 
Schulunterrichts Berüdjichtigung finden können, dem Geiftigen zu fern, als daß 
durch die Beſchäſtigung mit ihnen der hiſtoriſche Sinn und der hiſtoriſche Tact 
für Geiftiges gewedt und wejentlic gefördert werben könnte. Im beiden Be— 
ziehungen können und müfjen daher die humaniſtiſchen Studien — mögen jie 
ih num auf das rein Spradlice beziehen oder auf das, was in der 
Sprache jeinen Ausorud gefunden hat — nicht allein ergänzend eingreifen, fon- 
dern vielmehr die eigentlich grundlegende Arbeit übernehmen. Das rein ſprach— 
lihe Material ift verhältnigmäßig leicht herbeizufchaffen ; das, was in der 
Sprache jeinen Ausprud gefunden hat, ift — jedes einzelne für fid — von 
Werth und Beveutung und wohl geeignet, das Intereffe zu erweden: das 
Durcharbeiten eines reichen Materials braucht das Gefühl des Ueberpruffes 
nicht zu ermweden, was bei dem Durcharbeiten einer großen Mafje naturwifjen- 
Ibaftliher Daten nur zu leicht eintritt, jo lange man ihre Bedeutung für ein 
größeres Ganzes des Willens nicht zu erfennen vermag. Das erftere, das 
Sprachliche, fteht mit dem Geiftigen in engiter Beziehung ; das leßtere, das 
was in der Sprache jeinen Ausprud findet, iſt das Geiftige jelbit. So künnen 
wir fchon in diefer einen Beziehung dem Humanismus feinen alten Ruhm nicht 
nehmen, eine der Hauptgrundlagen für jede gediegene wiſſenſchaftliche Bildung 
zu legen, 

Nach den Anjchauungen des Realismus — und er wird in diefer Be- 
ziehung wohl recht haben — ift der Zuſammenhang zwijchen ven Ideen nicht 
immer und ohne weiteres ein getreues Abbild des realen Zi ſammenhanges 
zwiſchen ihren Objecten; die Ideen haben an und für ſich und ohne weiteres 
feine Macht über das, was in Wirklichkeit iſt und geſchieht. Aber doch wird 
jelbft der nüchternſte Realift den Gedanken nicht ganz von fi fern halten 
fünnen, daß ein gewiffer logiſcher Zuſammenhang zwiſchen Begriffen in ven 
Dingen diefer Welt einen, wenn auch wielleiht nur undentlihen Ausdruck finde, 
Er wird dieſem Gedanken, wenn er ihn auch grundjäßlich werwirft, wider Willen 
einen Einfluß auf jeine Weltanihauung verjtattn. Wenn aud) niemand einen 
logiſchen Weltplan genau darzuftellen vermag, jo wird dod die Vorausſetzung 
von dem Borhandenfein eines ſolchen ein vegulatives Princip für das Denken 
bilden. Die verſchiedenen naturbiftoriichen Syjteme werden ja immer noch — 
wenn auch vielleicht nur unmilfentlich und im Geheimen — als Verſuche be- 
trachtet, einzelne Bruchſtücke dieſes Weltplans klarer und bejtimmter vor Augen 
zu legen ; und jelbjt die befannte Phraſe von der Logik der Thatſachen deutet 
hin auf die ftillfchweigende Annahme eines logiſchen Zufammenhanges zwiſchen 


x 


22 
den weltgeichichtlihen Begebenheiten. Mag es indefien hiermit fein wie es 
will, eine läßt fi auf feine Weife in Abrede ftellen: Ueber die Erkenntniß 
deſſen, was ift und geſchieht, erheben fich mit unantaftbarer Autorität die Ideen 
deffen, was jein und geſchehen jollte Niemanden ift e® möglich, den Lauf 
der Dinge und Begebenheiten fortwährend mit Falter Gleichgültigfeit zu ver- 
folgen: unwillkürlich regt fih in jedem — wenn auch nicht im jedem in 
gleicher Stürke und. auf diefelbe Weile — em Urtheil über ven Werth md 
die Würde defien, was er vor fich fieht, ein Urtheil, welches durchaus umab- 
hängig ift von allen felbftiihen Intereffen, von allen Rückſichten auf eigenes 
Wehe und Wohl, welches wohl iüberhört oder mißachtet, deſſen Gültigkeit 
aber auf feine Weife in Abrede geftellt werden kann. Die unbedingte Bered- 
tigung einer idealen Auſchauung der Dinge in diefem Sinne des Wortes faun 
fein vernünftiger Realismus verfennen ; und trog alles Widerjtreites der An— 
jihten und Meinungen, welchen wir täglid vor une jehen, ift die Ueber: 
zeugung unabweisbar, dar eine allgemein gültige Norm jener Beurtheilung zu 
Grunde liege, in deren Anwendung man wohl fehlgreifen könne, welde aber 
an und fir ſich über allem Zweifel erhaben, welde für jeden und im allen 
Füllen gültig iſt. 

Sowohl der einzelne Menſch wie auch ein ganzes Volk gehen unfehlbar 
dem Berberben entgegen, wenn eine ſolche ideale Anſchauung der Dinge in 
ihnen wicht mehr in lebendiger Wirkſamkeit fih regt, wenn das Gewicht der 
ſelbſtiſchen Intereffen fie erftidt, wenn das Streben nad Genuß, von welcher 
Art er auch fein mag, das alleinige Motiv des Wollens und Handelns bilvet, 
anschließend die Gefinnung beſtimmt. Mag dann das materielle Wohlergehen 
vielleicht auch noch gedeihen können — obgleich felbft dieſes mehr als zweifel- 
haft iſt —, die innere Würde ift doc verloren: einem Menfchen, wie einem 
Bolfe, welche nichts Höheres Tennen als Wohlergehen und Genuß, können wir 
feine Achtung mehr zollen. Was nicht zum aufgegebenen Theil des Boltes 
gehören will, muß einen Reſt idealer Interefien in jeinem Innern bewahren; 
der gebilvete Theil der Nation muß fie immer veimer erfafien, in feinem Leben 
zu immer höherer Geltung, zu immer höherer Wirkfamfeit bringen. Eine ge 
junde praktiſche Philofophie zeigt jedoch, daß die Beurtheilung, auf welde vie 
ideale Auffaffung der Dinge fi gründet, unmittelbar gebumden ift am das 
Borjtellen des zu Beurtheilenden und ohne weitere bewußte Bermittelung aus 
ihm jich ergiebt. Sie ift daher durchaus unabhängig von der Art und Weife, 
wie das zu Beurtheilende entftanden it, ja fogar unabhängig von jeiner Mög— 
lichfeit oder Unmöglichkeit. Der edle Menfd wird dadurch nicht weniger edel, 
daß fein Charafter Das Ergebniß einer unter den gegebenen Umſtäuden notb- 
wendigen Entwidelung it; meine Achtung vor ihm wird dadurch nicht ver— 
mindert, daß ich begreife, auf welche Weiſe er das geworben ift, was er iſt. 
Aber ebenjo wahr ift es, daß die Beurtheilung erft dann hervortritt, wenn 
man das zu Benrtheilende in feiner Gefammtheit, gleihmäßig in allen jenen 
Theilen vorftellt ; nicht, wenn man erit auf den einen und dann auf dem andern 
feiner Theile allein oder doch vorzugsweiſe fein Augenmerk richtet: dann mag 
man bie Schönheit oder die Würde der einzelnen Theile, aber nicht die des 
Ganzen erkennen. Die Beurrheilung ift gebunden an das vollendete Bor- 
ftellen des zu Beurtheilenden und tritt nur infoweit hervor, als es zu einem 
ſolchen vollendeten Vorftellen fommt. Der Botaniker, welcher die Staubfäden 


23 
einer Blüthe zählt oder die Formen der einzelnen Theile der Pflanze genau 
aufzufaffen fucht, ver Phyſiolog, welcher eine Einſicht zu gewinnen fucht in 
die einzelnen Borgänge, welde die Entwidelung der Pflanze bedingen: fie 
haben, infoweit fie damit bejchäftigt find, feinen Sinn für die Schönheit ihrer 
Dlüthe. Der Aftronom, welder die Bahn eines Planeten berechnen oder durch 
Beobachtung feftitellen will, darf ſich nicht in die Bewunderung des Sternen- 
himmels verlieren, fondern muß fein Augenmerk auf die Zahlen feiner Rech— 
nung, auf das Fadenkreuz jeines Fernrohrs und feine Pendeluhr richten. 
Daraus geht hervor, daR diejenige Sinnesweiſe, welde darauf gerichtet ift, 
ein zufammengefettes Ereigniß in bie. einfahen Grundvorgänge, aus deren Ver— 
flehtung es hervorgeht, zu zerlegen und die phyſikaliſchen Gefege für fie feit- 
zuftellen, wenig geeignet ift, das Ereigniß aus dem idealen Gefichtöpunfte zu 
betrachten. Soll die Würde oder Unwürde des Seienden und Geſchehenden ſich 
geltend machen, jo muß die phyſikaliſche Auffaffung der Dinge weichen und 
die hiſtoriſche an ihre Stelle treten ; die hiftorijche liegt wenigſtens der ethifchen 
und äfthetifchen bei weiten näher als die rein phyſikaliſche. Hierzu kommt in- 
deffen no ein Andres. Die ideale Weltanſchauung befteht nicht allein in ber 
Würdigung des Seienden und Gefchehenven ; fondern es ift ein wejentliches 
Moment verjelben, daß fie die Ideen dem wirklich Beſtehenden als Norm oder 
Mufter gegenüberftellt. Die Ideen enthalten die Forderung in ſich, daß das 
Beftehende nad ihnen fih richten jollte Die Berehtigung zu dieſer For— 
derung gründet ſich aber ganz allein auf die Würde des in ihnen Vorgeſtellten 
oder Gedachten und iſt durchaus unabhängig von der Möglichkeit oder Unmög— 
feit feiner Verwirklichung. Cie fchlieft außerdem ven mehr oder weniger feften 
Glauben in fi, daß die Ideen auf irgend eine Weife einen beftimmenben Ein- 
fluß ausüben auf den wirklichen Yauf der Begebenheiten. Jenes freie Operiren 
mit Gedanken und Begriffen, welches abfieht von den realen Beziehungen und 
Bedingungen des in ihnen Gedachten, weldes oben als eine Scattenfeite der 
auf rein bumaniftiiher Schulung ruhenden Bildung dargeſtellt wurde, ermeift 
fi) in diefer Beziehung als ein Vorzug derfelben. Das Ideale muß erft im 
freien Denken erfchaffen werben, ehe es als etwas, das Wirflihe am innerer 
Würde Uebertreffendes erkannt werden kann. Die engen Scranten der Wirk: 
lichfeit müſſen befeitigt werben, wenn man fich zu dem Idealen erheben will ; 
nur darf man, wenn man nit in leere und wüſte, durchaus thörichte 
Bhantaftereien verfallen will, fid) nicht auch hinwegſetzen über bie ewigen Nor— 
men des Schönen und Guten. Wenn die Ideen auch feiner Stütze bedürfen 
in der Möglichkeit des von ihnen Geforverten, jo müſſen fie fie doch befiten 
in ihrer eigenen Würde. Und die Spuren von dem Einfluß der Ideen auf 
das Wirkliche, auf welche ein vernünftiger Glaube an ihre Macht allein fid) 
gründen kann, zeigen ſich nicht etwa in den phyſikaliſchen Geſetzen der ein- 
fachen Vorgänge. Ans ihnen könnte ebenſo gut ein vernunftlojes Chaos her- 
vorgeben als das geordnete Ganze, weldes wir vor uns fehen. Die Spuren 
einer Einwirkung vernünftiger Ideen zeigen fich vielmehr erft in der Art und 
Weiſe, wie jenen Geſetzen gehorchend größere Ganze ſich bilden, deren Weſen 
und Entwidelung wir in der Regel nur durch hiftorifhe Geſetze aufzufaſſen 
vermögen. Endlich — und das ift ein Hauptpunft — muß noch hervorge- 
boben werden, dak, wenn oben eme tdealiftiiche Anſchauungsweiſe der Dinge 
als efwas dem Menfchen Unentbebrliches bezeichnet wurde, damit vor allen 


24 


Dingen diejenige gemeint ift, welche ſich auf das Geiftige und das damit in 
enger Beziehung jtehende Ethifche bezieht: Geiſtiges und Ethiſches findet aber 
vorzugsweije jeinen Ausdruck in der Sprade und durd die Sprade ; Sprad- 
ſtudien und die mit ihnen verbundene Lectüre find daher das Hauptinittel, um 
in dem Jüngling ein eingehenves Verſtändniß des geiftigen Lebens zu erweden 
und ihm die Fähigkeit zu geben, fi zu ven auf daſſelbe ſich beziehenven 
Idealen zu erheben. 

Aus dieſen Gründen — denen wir nod mande andere hinzufügen könnten, 
wenn e8 ums nicht zu weit von unjerm jegigen Gedankengang abführen würde 
— müſſen die humaniſtiſchen Studien den Mittelpunkt des Jugendunterrichtes 
bilden. Da aber die aus den realiſtiſchen Studien hervorgehende Welt- 
anſchauung nicht allein factifch vorhanden ift und einen beveutenden Einfluß auf 
das ganze geiftige Leben ausübt, jondern auch — wie in dem Borigen nad) 
gewiejen jein dürfte — ihr Borbandenjein und ihr Einfluß wohlberechtichte 
find; da fie eine nothwendige Ergänzung und ein unentbehrliches Correctiv 
der an den Humanismus ſich anliegenden bilvet: jo muß den realiftifchen 
Unterrichtsfächern in ven Unterrichtsanftalten, aus denen die eigentlich wifjen- 
Ichaftlih Gebildeten hervorgehen ſollen, ein größerer Raum gewährt und eine 
intenfivere Wirkung verſchafft werden, als ed dahin geichehen iſt. Es muß 
biefe Forderung geitellt werden nicht in Beziehung auf Diejenigen, welde ſich 
fpäterhin den realiftiihen Fächern zuwenden — denn für dieſe wird bie noth— 
wendige Ergänzung durch den Realismus fib ſchon von jelbft ergeben —, 
jondern gerade in Bezug auf die, welde ſpäterhin jid allein auf humaniſtiſche 
Studien bejchränfen werben ; aljo in Bezug auf fünftige Geiftlihe, Yuriften, 
Philologen, Philofopben u. j. wm: Es muß Das gerade deshalb gefordert werben, 
damit diejenigen, welden die auf wifjenichaftliher Grundlage ruhende Pflege 
des Geiftigen und Ethiſchen anvertraut ift, auch die Bedürfniſſe ver eine andere 
Bildungsrihtung Verfolgenvden zu erfennen im Stande find, damit fie bie 
Punkte in jenem andern Gedankenkreis aufzufinden vermögen, im denen er 
den ivealiftiichen Anſchauungen zugänglid ift, ja zu ihnen drängt. Geſchieht 
diefes nicht, jo iſt die dringende Gefahr vorhanden, daß jene beiden Haupt- 
richtungen zum Schaden ver Wiffenjchaft und des geiftigen Yebens unjeres 
Bolfes zufammenbangslos auseinanderfallen, daß jede von ihnen verkimmert, 
indem ihr die Wurzeln abgejchnitten werden, durch welde fie aus der andern 
die ihr umentbehrlihe Nahrung ziehen muß. 

Die Löſung der allerdings vecht fehwierigen Aufgabe, wie beide Bildungs- 
richtungen zu dem ihnen gebührenden Rechte kommen fünnen, ohne dod die 
Jugend zu überlaiten, muß denen überlajfen bleiben, welde das Gymnaſium 
aus eigener Erfahrung genauer kennen. Hier mögen im Bezug auf fie nur 
einige wenige Bemerkungen folgen. Der Mathematik, viefer unentbehrlichen 
Borbedingung einer jeden naturwifienjchaftliben Weltanſchauung, it auf unfern 
Öymnafien wohl binreihender Raum gegönnt; ed müßten in dem mathe— 
matiſchen Unterricht derjelben jedoch nod einige Gegenftände aufgenommen 
werden, die jest allgemein von ihm ausgejchlofjen find. in einigermaßen ein- 
geheudes Studium der Phyſik ift heutzutage kaum noch möglich ohne Kenutniß 
ver erjien Clemente der höhern Analyjis. Sie find, wenn man ji auf das 
Nothwendigite bejhränkt, für einen 16—1Sjährigen jungen Mann gewiß nicht 
zu ſchwer zu begreifen, und es bürfte bei zwedmäfiger Methode durch Weg- 


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laffung andrer, weniger wichtiger Saden ohne Vermehrung der Stundenzahl 
für fie die nöthige Zeit gewonnen werben fünnen. Zu dem, was weggelafien 
werden könnte, gehören die höhern (cubifchen) und diophantifchen Gleichungen, 
die Wahrjcheinlichkeitsrehnung, die Kettenbrüche, die Kegelfchnitte (das LUnent- 
behrlichfte von ihnen kann zu Beijpielen für die Differenzial- und Integral- 
rehnung verwendet werben) u. ſ. w. Auch die neuere Geometrie, trog ihres 
jonftigen hohen Werthes, bildet doch zur Zeit no Fein jo umentbebrliches 
Werkzeug zur Auffaſſung natitrliher Vorgänge wie die Grundbegriffe der 
böhern Analyfis. Die Uebungen im Buchftabenrehnen könnten ebenfalls wohl 
mehr eingejhränft werden, als es jett Gebrauch zu fein fcheint: es kömmt ja 
niht daranf an Mathematiker zu bilden, welche ſich in allen Fällen zu belfen 
wiſſen, jondern nur den Schüler in den Stand zu jeben, dem jpätern Unter— 
richte zu folgen. Was den phyſikaliſch-chemiſchen Unterricht anbetrifft, jo find 
die Kenntnifje, welche der Schüler gewinnt, von dem hier feftgehaltenen Ge- 
fihtspunfte aus betrachtet, nur Nebenſache: die Hauptſache ift die Einführung 
in die realiſtiſche Anſchauungsweiſe. Er darf daher nicht zu jpät beginnen, 
damit er lange genug fortgefetst werden kann, und damit er die entgegengejette 
Auffaffung nicht ſchon zu feit ausgebildet vorfindet, obgleich nicht zur verfennen 
ift, daß das rechte Interefje für ihm erft in fpätern Jahren erwacht ; er müßte 
daher wohl ſchon in Tertia beginnen, Um einige Zielpunfte defjelben zu be— 
zeichnen, jo müßte er in der einen Richtung fortgeführt werden bis zu einer 
auf mathematifher Grundlage ruhenden Einficht in die Grundlehren der Mechanik, 
jo daß der Schüler zum Berftänpnif des Geſetzes von der Erhaltung der Kraft 
gelangt, und zu den Elementen der Aftronomie ; in der andern Richtung bie 
zu den hauptfädlichiten modernen Theorien der Chemie in ihrer Berbindung 
mit der neuern Wärmelehre. Cine Hauptjchwierigfeit in Bezug auf den leßten 
Punkt dürfte fein, zu einer Einficht in jene Grundlehren zu gelangen, ohne 
ſich doch zu fehr in chemiſche Einzelheiten zu verlieren. Mit diefen Andeu— 
tungen mag e8 hier jein Bewenten haben: die Ausarbeitung einer recht brauch— 
baren Schulphufit fir Gymnaſien, in welcher vie bier dargeftellten Grund- 
gedanken eine zweckmäßige Ausführung fänden, die außerdem die übrigen Theile 
der Phyſik, Optik und Elektricitätslehre, auch behandeln mühte, wiirde jeden- 
falls feine leicht zu löſende Aufgabe jein. 


Berlag von I. VBacmeifter in Eifenad. 


Deutihe Sprachlehre für höhere Lehranftalten jowie zum Selbftftubium 
nn N Dr. Theodor Gelbe, Kealihuldireltor in Stollberg i. S. Preis 
pr 


Bormwort: Die Mutteriprahe immer mebr und mehr zu pflegen, in beren Verſtändniß tiefer 
einzubringen, deren Schönheiten befler zu erfafien, ift das Etreben ber neueren Zeit. 

Leider vermögen nur wenige das hohe vorgeitedte Biel volftändig zu erreichen, ber größten Babl 
feblen bie hierzu geeigneten Hülfsmittel, Unterricht umdb Lehrbücher. Denn wenn man aud gern 
alte wirb, daß rübrige Geifter eine Anzabl Lehrbücher der deutſchen Sprache geichaffen baben, 
od wirb man doch auch nicht verfennen dürfen, daß einerieitö einige, wie Schleicher, zu bobe For: 
derungen an bie Bildung ber Leſer ftellen, oder bo ben Boden ber jepigen Sprache zu wenia ober 
zu leife berühren, und fomit jedem, der nicht zum Fache gehört, eine leichte und erfolgreiche Benüsung 
ihrer Werke unmöglich machen; tab viele andererfeits wieder zu wenig vom Althergebrachten ſich los: 
zulöfen vermögen, weshalb ein Wihbegieriger feine genügendbe Ausbeute gewinnt, 

Es feblt nad den Erfahrungen, die Verfaſſer als Gründer und Leiter mehrerer Vereine für deutiche 
Sprache und ald Lehrer zu machen Gelegenheit hatte, ein Buch, bas ohne große Anforderungen an 
das Wiſſen zu ftellen, den gegenwärtigen Stand der deutſchen Sprade ſyſtemätiſch und fehlerlos dar: 
ftelt, von biefen Standpunkte aus aber auch meitere Blide in die Vergangenheit und Entiwidelung 
ber. deutſchen Sprade eröffnet und ermöglicht, namentlich den nicht genügend bewanderten Lehrer zum 
Denten und Lernen reizt und leitet, ibm Aufihluß giebt über die Regelmäßigkeiten ſowohl als aud 
über bie a erg der Epradie, ja fogar über un- oder außergewöhnliche Ausdrüde und 
Redeweiſen unjeres Volles, unferer Klaſſiker: ein Buch, das wie dem Lehrer, jo dem reiferen Schüler 
als Grundlage für den beutihen Sprachunterricht im die Hände gegeben werden faun, das aber auch 
vermöge jeiner geſucht einfachen und gemeinverjtändlichen Fafiung von Gebilbeten jedes Starbes als 
treuer und zuverläſſiger Ratbgeber benugt zu werben neeignet erſcheint. 

Namentlih bat mir am Kerzen gelegen, für die Böglinge der Lehrerieminare, welche ja in Ju: 
funft die berufenen Heger und Pfleger der deutſchen Sprade fein jollen, ein Buch zu ſchaffen, welche 
unter der Leitung eines tücdtigen Lehrers ibnen jelbft bei Mangel fremdſprachlichen Unterrichts jene 
grammatiihe Bildung ermögliche, deren fie für ihren zufünftigen Beruf bedürfen, die ein nöthiger 
Schmud jedes Gebildeten ift. 

Diefen Zwred foll vorliegenbes Büchlein verfolgen, es foll aber and dazu bienen, biejenigen, 
welche e8 benugen, zu belehren über bas, was jest als eine Beſſerung der beutichen Spradhe und als 
eine Erleihterung in deren Gebrauche von hervorragenden Männern erftrebt wird, und fomit foll es 
deren been in weiteren reifen Bahn zu brechen bemübt fein. Deshalb ift das Büchlein in Tateimiichen 
Leitern gebrudt, beöhalb hat Berfafler die Echreibweife, welche von ben bebeutendften Gelehrten 
Deutihlands in Berlin aufgeftellt wurde und melde einft die Schreibweiſe des einigen Dentichen Reiches 
werben fol, möglihit in Anwendung gebradt. 

Ob das Bud dieje Ziele zu fördern geeignet fei, ob der Berfafier den rechten Weg eingeichlagen, 
die beften Mittel angewendet hat, das möge ber geneigte Leſer entſcheiden, der Erfolg lehren. 


Deutſche Gedichte. Tine Mufterfammlung für mittlere und höhere Schulen ſowie 
zum Privatgebraudh. Nebft Anhang: Die Bersiehre. — Die Diehtungsgattungen. — 
Die Bildlichkeit der Poeſie. — Kurze Biograpbien der Dichter. Herausgegeben von 
Wilbelm ride. 28 Bogen gr. 8%. Preis broihirt 3.4 0 Pf., gebunden mit 
Titel 3.4 60 PB. 

j ‚Eine Zuſchrift an die Verlagshandlung jagt: „Mit größtem Intereſſe habe ich Einfit genommen 

in Fricke's Gebihtiammlung; es ilt eine reiche, mwohlgeordnete und mit richtigem Geihmad unb päba» 

galigem Blid getroffene Auswahl, die in vortheilbaftefter Weile auch bie neueſte Beit berüdfichtigt. 
er Heraudgeber hat fi bie Aufgabe geftellt, nicht allein den Entwidelungsgang der deutſchen Poeſie in 
einen überfihtlihen Rahmen zu fafien und die Schüler und Schülerinnen mit den bervorragenderen 

Dichtern und deu Gattungen der Dichtung vertraut zu machen: er war auch beftrebt, das Beſte, und nur 

dieſes allein ift gut genug für die Jugend, mit dem Schulgemäßen zu vereinigen. Daß ein ſolches Buch 

auch benen, welche na mit dem Gange und dem Schönften deutſcher Dichtung dur Selbftitubium be— 
fannt maden wollen, joldhen, die aus innerem Drange gern in Boefien fi) vertiefen, eine willfommene 
®abe jein wird, bezweifeln wir feinen Uugenblid. Ber Anhang, welcher die methodiſche und leicht 
faßlihe Darftellung der Bildfichkeit der Poefie, der Vers- und Gattungslehre nebft ben Biographien 
ber Dichter enthält, wird dazu dienen, den Werth biefe® Buches ſowohl für den Privat: wie Schulgebraud 
zu erhöhen.“ — Da es durch das jorgfältigfte —— des Satzes ermöglicht worden ift, Bu 
die reihhaltigfte Sammlung berzuftellen, bürfte das Buch vor älteren ähnlihen Werten entichieden 
den Vorzug verdienen. Inhalts-Verzeichniſſe, alpbabetiih nad den Unfangszeilen der Gebichte und 
Khronologiih nad Dichtern und Inhalt geordnet, erhöhen die praftiihe Verwendbarkeit. 


Sandbud der Allgemeinen Literaturgefhidhte von C. S. Wollſchlaeger. 
Zweite Ausgabe. Preis 4 .A 80 Pf. Elegant gebunden 6 .A 

Der Verfaſſer beabfichtigt mit dem vorliegenden Werte eine kurzgefaßte Ueberficht über die Ge— 
fammtliteraturgeihichte als praltiihes Hülfs- und Nahichlagebuh zu geben, und man muß gefteben, 
daß er die Aufgabe, die er fich geitellt, recht glüdlich gelöft bat. Im Mlarer überfichtlicher Darftellung 
werden bie irgendwie bedeutenden Dichter und Literatur-Erzeugnifje ſämmtlicher Eulturvölfer angeführt 
und nad dem heutigen Stande der Wiſſenſchaft furz unb durchweg treffend charakterifirt, jo daß es mohl 
au beicheiden ift, wenn die Vorrede bervorbebt, es fei vor Allem darauf angelommen ,- ein pafiendet 
Ueberſichts ſchema zu ihaffen. Wir empfehlen das Wert, das troß feiner ſchlichten Art ein ebenfo ſcharfes 
wie anziehendes Bild von dem allmälinen Gange der Geiftesbilbung und Eulturentwidelung ber einzelnen 
Xölfer entwirft, auf'e Beſte. Der Schluß bringt ein ausführliches Namen: und Sacdıregifter. 


Goethe's dramatiſche und epiſche Sauptwerke, kurz erläutert und be- 
er Carl Hobeifel, Gymnafial- Direktor. Preis 2.4 40 Pf. eleg. geb. 


Eine Schrift, die im gebrängter Kürze, in einer leicht faßlichen, auch einem weiteren ge- 
bildeten Z2ejerfreis zuoängti en Form unb Sprache eine eingehende Erklärung unb äftbetifähe 
Würdigung aller poetiihen Hauptwerke Goethe's zujammen enthält, dürfte hoch willlommen fein. 


Melchior Merle's Reimchronik von Eiſenach, Thüringen und Heſſen. Heraus- 
gegeben von Dr. H. Müller, Unterbibliothekar in Marburg. Preis 1 4% 


Nach) einer ungebrudten Handſchrift, vom Herausgeber in der Marburger Univerfitätsbibliothet 
aufgefunden. Ein interefjanter Beitrag zur Thüringijchen, *— Eiſenachiſchen Lokalgeſchichte. 
Die Reimchronik ſtammt aus dem Ende des 16. Jahrhunderts, beginnt die Erzählung aber fa mit 
dem Jahre 450. Sie ift ein reicher Beitrag zur Denkt» und Anichauungsweije jener Zeit, und in Kultur- 
biftoriiher Beziehung find einige Stellen von größtem Werthe. Der Herausgeber bat der Chronik eine 
furze aniprehende Einleitung vorangeſchickt. 


Die Gardinalzjahlen des claffiihen Alterthums (bis 476 nach Chr.). Bon 
C. ©. weitiaiäger Preis 60 Bf. 

Genaue und zuverläjfige, in einem —— Zuſammenhange ſtehende, möglichſt kurze aber auch 
mõg lichſt vollftändige, chronologiſche Ueberſichtstafeln, wiſſenſchaftlich durchgeführt, liefern bier ein durd- 
— —— anzes über die Geſchichte der beiden Hauptvölker des Alterthums, — der Griechen 
un er. 


Genealogiſche Tabellen für die hervortretenden Partieen der Weltge— 
ſchichte. Bon C. S. Wollſchlaeger. Preis 1M 35 Pf. 


Dieſes Tabellenwerk fol eine ſchon oft gefühlte Lüde ausfüllen, indem die Art der Ordnung 
und Wufitellung der dargeftellten Geſchichtsepochen und die notwendige Deutlichfeit der Regentenreihen 
für die Geſammt-Geſchichte der Staaten hier muftergültig gegeben ift. 


Die Zeitreihe der Päpfte His auf die Gegenwart. Gine kurzgefaßte hrono- 
logiſche Ueberficht der Geichichte der Päpfte als biftorifches Hülfsbuch zum Nachſchlagen. 
Bon E. S. Wollſchlaeger. Preis I .A 


Eine kurze Geſchichte der Päpfte, in größter Objectivität und abfoluter Unparteilichkeit. Der 
Bmwed der Arbeit ift ein rein hronologiidhrinftructiver, indem bier bie Reihe der Yäpfte mit 
vollkommen zuverläffiger Genauigkeit aufgeitellt worben ift. 


Beiträge zur Realihulfrage von Prof. Dr, C. Balzer. Preis 30 Bi. 


Die vier Heinen Aufſätze enthalten Urtbeile des Verfaſſers über die Unterrichts - Prüfungs = Ordnung 
von 1859, ihre Wirkung und Weiterentwidelu Berfafler fteht auf dem Boden der unlateiniichen 
Realſchule, ift ein Gegner der Ausdehnung der ealihufberehtigungen und tt in III einen Lehrplan 
für eine Realichule mit neunjährigem Curſus und nad Fächern getheilten Oberclafien vor. IV bes 
ſpricht aus reicher Erfahrung den engliihen, beziehungsweile andern ſprachlichen Unterricht. 


Specimens of English Literature. Engliſche Yectüre für die oberen 
Claſſen höherer Fehranftalten. Herausg. von Prof. Dr. C. Balzer. Preis a Heft 60 Pf. 


Auf diejes Unternehmen möchten wir die Aufmerkſamkeit der Lehrer Ienten, da wir glauben, dab 
ihnen bier ein fehr braudbarer Stoff für den Unterricht im Englifchen —— iſt, Die bisher er: 
ſchienenen 4 Hefte enthalten: I. Bier Kriſen des Papſtthums von Macaulay. Il. Shake— 
jpeare'3 Leben und Werte nach Thomas B. Sham. II. Der Beginn des amerikani— 
ſchen Befreiungstampfes aus dem Bancroft’ihen Werke über bie Bereinigten Staaten. 
IV. Addiſon, VBierzehn Beiträge sum SGpectator aus jeiner Feder. Die Stüde find jämmt- 
lich mit einführenden Einleitungen und jehr guten erflärenden Anmerkungen veriehen und befolgt 
der Serausgeber das jehr praktiihe Spitem, aus umfangreiheren Werten nur einzelne Hauptftüde 
zu bringen, die in fi doc ein abgerundetes Ganze bilden. 


Grundzüge der Poetif. Ein Yeitfaden für böbere Schulen. Bon Dr. Anton 
Dborn. Preis 60 Bf. 


Ein gutes, mit klaſſiſchen Beiſpielen gewürztes Buch, das gründliche Belehrung über die Kunft- 
formen der Boetif giebt. 


Reitfaden der Kirchengeſchichte für höhere evangelifhe Schulen, nebft einer über- 
ſichtlichen Darftelung der wichtigften Unterfcheidungslehren, Bon 3. Tb. Helm: 
fing, Oberlebrer, Zweite Auflage. Preis 1.4 35 Pf. 

Der reihe Inhalt giebt ein Leicht überſchaubares Bild von dem gefammten Gange der Kirchen: 


eſchichte und wird dieje zweite Auflage, gleich der erften, in höheren Schulen ein willflommenes Lehr: 
Buch fein. Der äußerft billig geftellte Preis erleichtert die Einführung. 


Praktiſches Rechenwerk 


von 


A. Koren, unb €. Dorſchel, 
Director der Realſchule I. O. in Gera. Lehrer ber I. Bürgerſchule in Eifenad. 


Eintheilung und Inhalt. 


Die erſte Abtheilung, von C. Dorſchel bearbeitet, umfaßt die 
Rechenaufgaben für den Elementarunterridt. Vierte Auflage. 
I. Heft. Allfeitige Betrachtung u. Anwendung der Zablen von I—20 Preis 40 Pr. 
U. Heft. Allfeitige Betrachtung u. Anwendung der Zahlen v.21—100 Preis 40 Bi 
III. Heft. Allfeitige Betrachtung und rer ber Zablen über 100 Preis 25 Pi. 
IV. Heft. Die Grundrehnungsarten und die Regeldetri mit ganzen 


Zahlenn. Preis 40 pj. 
V. Heft. Elemente der Bruchrechnung ſowohl der gewöhnlichen, 

als auch der Decimalbrüche.. 2 2 22. BPresd Fi. 
VI. Heft. Die Grundrehnungsarten und bie Regeldetri mit ge- 

gewöhnlichen und Decimalbrüden . . . Preis 35 Pr. 


Auflöfungen zu den ſechs Heften der I. Abtbeilung: Auf gaben . 
für den Elementarunterridt . . 2 2 2 220% Preis1.4A0 Fi. 


Die zweite Abtheilung, von A. Toren bearbeitet, umfaßt die Auf: 
gaben für das praftifhe Rehnen: Die höheren Rechnungs: 
arten des bürgerlichen Lebens. 


I. Seit. Decmalbrüde; Berhältniffe. und Porportionen; einfache 
und zufammengefette Regeldetri; Kette; NRepartitions- 
und Mifhungsrehnung - > 2 2 2 2 2 nen 

11. Heft. Aufgaben zur Procent- und Promillerehnung und zu 
ben angewandten procentilhen Rechnungen (Zins— 
rehnung, Diskontrechnung, Rabattrehnung, Termin— 
rehnung, Münzrehnung, Kurs- und Wechfelrehnung) Preis 45 Pi. 

II. Heft. Das Auszieben der Quadrat- und Kubikwurzel; die 
arithmetifchen und geometrifchen Progreifionen; Yoga» 
rithbmen; GHleihungen; Zinſeszins- und Renten— 
vehnung; Kettenbrüche ee a 

IV. Heft. Berehnung ber Raumgrößen; Linien, Winkel, gerab- 
linige Figuren; Kreis, Ellipfe, Parabel, Würfel, 
Prisma; Pyramide; Eylinder, Kegel, Kugel; regel- 
mäßige Köipr . 2. 2m. . N 


Auflöfungen zu den vier Heften ber II. Abtbeilung: Aufgaben 
für bas praktiſche Rechnen. 

Zu Heft I u III IV 
Preis 60 60 80 6 


Die dritte Abtheilung, von A. Loreh bearbeitet, enthält das Hand- 
buch des praftiihen Rehnens . . . 2» 2 2 200. Preis 4A 


= Das ganze Werk ift urfprünglich eine neue Auflage des früheren: „Aufgaben für das praftiide 
Rechnen nebft kurzer Anleitung ge Auflöfung derielben, vom Standpunkte ber Koncentration aus“, nur 
mit der Umänbderung der alten in die neuen Münzen, Maaße und Gewichte des deutichen Reiches und 
mit ber Abänderung, daß die kurze, früher vor den Aufgaben enthaltene Yuseinanderjegung zu einem 
Handbudje erweitert worden ift. 

Die erften ſechs Hefte der erften und die nachfolgenden vier Hefte der zweiten Abtheilung, fönnen 
für eine Realichufe I. und 11. ©., für höhere Bürgerihulen, Gumnafien, Seminarien und ähnlide An 
ftalten vollftändig — werden. Aber auch für die Elementar- und Volleſchulen find die ſechs 
Hefte der erſten und bie erſten zwei Hefte der zweiten Abtheilung berechnet; ja ich glaube, daß auch das 
dritte und das vierte Heft mit Auswahl für gehobene Bürgerſchulen gebraudt werden Lönnen. In ber 
erften Abtheilung fchreitet der Rechenunterricht in anihaulicher Weile vom Einfachften, der Eins, be 

innend, von 1 bi8 20, von 21 bis 100 u. f. w. nach Grube'ſcher Methode fowie nad pädagogiihen 
rundfägen zum Bujammengejegten aufwärts; der Elementarihüler überjieht und bemeiftert den Stoff 
und arbeitet mit Luft und Liebe; die Einheit des Erkennens und des Willens wird erzielt umd 
dadurch in dem Schüler die Kraft entwidelt, ſich jelbftändig weiter zu bilden. Mit der Aut 


Breis 60 Pi. 


Preis 60 Wi. 


Preis 60 Pi. 


faffung und ber Beränberung ber reinen Zahl iſt ſtets die angewandte Zahl — Beiipiele aus dem 
praltiihen Leben, in fo meit biejelben in den Geſichtskreis dieſes Kindesalters fallen und dieſem 
von Interſſee fein dürften, verbunden. Die Aufgaben der zweiten Abtheilung find aus dem bürgerlichen, 
induftriellen und faufmänniichen Leben, aus ber Geometrie, Geographie, Bhnfit und Ehemie genommen 
und in bier Heften Leer Der Stoff if ein, ſehr zweckmäß und führt ben Schüler durch die 
mannigfaltigiten Berhältniffe, theils ihn zur Wiederholung nöthigend, theild ihn für einen neuen Gegen— 
ftand vorbereitend. Die Aufgaben bieten ein reihes Material und Huldigen dem Grundlage: Der 
Rechenunterricht fei vor Allem praktiſch und made tüchtig fürs Leben. Die Rechenfertigfeit ift für jeden 
@ebildeten, welchem Berufe derjelbe auch angehöre, ein ——— Erforderniß. Der große „Philoſoph 
bes Unbewußten“ hat in einer Schrift für das höhere Schulweſen, re de = ebfafiumg „er fih berufen 
efühlt“ bat, gelagt, baß der Rechenunterricht Leine bildende Kraft habe. Nur ihm tit diefelbe unbemwußt ; 
ahverftändige Schulmänner je die formal bildende Kraft defjelben in bie erfte Linie, den Nußen und 
die ginge Shine für jeten Beruf in die ae Sämmtliche eingefleibete Mufgaben find vom Stand⸗ 
punfte der Koncentration aus gewählt und find ficher geeignet, mannichfaches Wiffen zu verbreiten und 
zu befeftigen. Diejelben find nicht, wie in den meiften Rechenbüchern, in joldhe für Ropf- und Ziffer: 
nen getrennt, obgleich auf beide Rechnungsarten Rüdfiht genommen worden if. Man fieht aus allen 
Aufgaben, dab das Rechnen immer Dentrechnen fein fol; das Rechnen nad er und Regel ift 
nicht ausgeſchloſſen worden. Die Zahl der . ift fehr groß, doch ift die Reihenfolge berfelben in 
bei Abtheilungen eine folde, dab ber Schüler fi nie dem Mechanismus hingeben kann; jede neue 
Aufgabe erfordert neues Nachdenken. Bu allen find Auflöfungen für den Lehrer vorhanden. 
Diejelben find bei leichteren Aufgaben ganz kurz und ohne Entwidelung angegeben, bei ſchwereren aber 
mit vollftändiger —— Eini 2 beſonders ben Gleihungen, find die Auflöjungen gleich 
beigefügt; ob das richtig, darüber find die Meinungen verichieden. Heis gibt biejelben, Barde 
nit. Auch bat es wohl einen Sinn, die Bebingungen der Aufgabe und die Auflöſung einmal falf 


anzugeben. 

Das Handbud, bie dritte Abtheilung des Rechenwerkes, ift jedem Lehrer zu empiehlen. Es 
fann fid; Jedermann an demielben über alle weientlichen fälle bes Rechnens in ebenſo praftiicher mie 
wiſſenſchaftlicher unterrichten. Auch den Schülern der Prima und Secunda höherer Schulen, ſowie 
den Böglingen des Seminars, wird dieſes Buch für die Weiterbildung und Wiederholung ein ſicherer 
Führer jein. Bor Allem ift die einfache, Mare, kurze und bündige ———— welche in entwickelnder 

thode bie Grundlage des prafti 2 Rechnens darlegt, zu rühmen. Das Handbuch giebt eine voll= 
ftänbige — ——— praktiſchen Rechnen und geht von den erſten Elementen, wenn auch in mehr 
wiffentchaftlicher eile, aus. Die Urt den Generalnenner zu finden ift allein richtig, wie ichon ber 
berühmte Mathematiler Unger unb in neuerer Zeit Dr. Kober in Meißen in der Beitihrift für Mathe 
matif und Naturwiſſenſchaften von Hoffmann nachgewieſen hat. Die Decimalbrüde find jo ausführlich 
und intereffant behandelt, mie kaum im einem andern praftiihen Rechenwerle Ebenſo richtig ift der 
Bee in der einfachen und Ta Regelbetri, die Kette, die Repartitionsrehnung und 
eſonders bie ein yore welche durch Railonnement und mit Hülfe der Gleichungen, auch der 
diophantiichen, erledigt wird. Das neue Maf-, Münz- und Gewichtsſyſtem ift vollftändig durchgeführt. 
Bei der —— find einzelne Aufgaben nad) dem Pfund à 50 Alth. gerechnet; allein in Haupt- 
lade ift das Kilogramm mit feinen Unterabtheilungen zu Grunde gelegt und ift der Miſchungs⸗, Gold: 
und Silberberechnung demgemäß ein befonderer Abichnitt mit lehrreichen Beilpielen gewidmet worben. 
Sehr klar und einfach ift die Lehre von den Gleichungen. Dielelbe ift in einem praftiichen Rechenwerte 
nothwendig, meil ug Be a und prattifhes Rechnen gegenfeitig unterftüßen jollen. Die diophantiichen 
Aufgaben und ihre Auflöfung mwerben in elementarer und überzeugender Weile durch — aͤtze aus 
ber Zahlenlehre eingeleitet, jo daß dieſelben in einfacher und leichter Weiſe zu löſen ſind. Auch die 
Umwandlung der einen Zahlform in eine andere, die Grenzen der Zahlen ac. werben in den Aufgaben 
und Aufldöjungen ſehr faßlich angedeutet. Es role dann eine ebenio wiſſenſchaftliche wie praftiihe und 
deutliche Auseinanderfepung der Zinieszind- und Rentenrehnung; die beigefügten Tabellen find für ben 
praftiichen Redner von großem Bortheil. Ebenfo deutlih und einfach ift die Darftellung über die Be— 
—— der Raumgrößen. Da die Stereometrie ohne Berechnung von Aufgaben und ohne Fertigleit 
in derſelben nicht vortheilhaft getrieben werden Tann, fo find die über die einzelnen Raumgrößen gegebenen 
Beiipiele und * als ein Vorzug des Wertes zu —— Ebenſo richtig iſt es, daß von den 
Kettenbrüchen zur Darſtellung von Räherungswerthen in Meinen Zahlen Gebrauch gemacht wird. Bon 
großem Intereife für jeden Rechner iſt endlich die Darftellung der geihichtlihen Entwidelung des 
praftiihen Rechnens, wenn auch eine vollitändige Geſchichte defielben nicht erwartet werden konnte. 
So möge denn dieſes Werk, in welchem Wiffenichaftlichteit mit praktiſcher Methode auf’s befte 
vereinigt ift, allen Lehren beftens empfohlen fein und ſich viele neue Freunde erwerben! Drud, Papier, 
Preis ſind fo beihaffen, daß fie dem Berleger zur Ehre gereichen und bie —— bes Rechenwerkes 
auch in dieſer Hinſicht vorzüglich empfehlen. (CEentral -GOrgan für die Intereſſen des Realfdmimelens.) 


— —— ———— — — 


Die 
Gewerblichen Forthildungsſchulen 


Deutſchlands. 
Reiſeſtudien und Reformoorſchläge 


auf Grund eines 
den ügl. Preuß. Minifterien des Kultus und Handels eingereichten Keifeherihts 
ausgearbeitet von 


Dr. Rudolf Nagel, 


RealihulsDberlehrer, Dirigent der gewerblichen Fortbildungsſchule in Eibing. 
Mit 11 Anlagen. 


—ñNi — 





Il faut faire quelque chose. 


Dr. 8 me, 
der rdneten, 
ie Beer. 


Preis 3 Mark, 


. Der Berfafler, jeit 10 Jahren Dirigent einer gewerblichen Fortbildungsſchule, hat Durch Unter: 
Eosune bon Seiten der Königlichen Minifterien des Unterrichts und des Handels Gelegenheit gehabt, 
ie außerpreußiihen deutihen gewerblichen Schulen zu bejuchen. Die Ergebnifje diefer Reiſen 
ftellt er in dem eriten Theile feiner Schrift zufammen, indem er weniger einzelne Schulen, als viel- 
mehr den Charalter ſämmtlicher Schulen eines jeden Landes darftellt und durch einzelne Beiipiele 
dies allgemeine Bild ausführt. Dieſer erite Theil, die Reiſeſtudien, mit neun werthvollen Beilagen, 
welche zum Theil ungedbrudte, ur Theil nur in bejonderen Gelegenheitsichriften oder Beitichriften 
zeritreute Details umfaſſen, beichäftigt fih nebenbei auch mit der allgemeinen Fortbildungsſchule. 
welche überall in Süddeutſchland den Hintergrund für die gewerbliche bildet, nnd giebt genau die Ge— 
fese an, weldhe das Fortbilbungsichulmweien regeln. Es giebt jomit dieſe Reifeitubie jowohl ein all: 
—— Bild deſſen, was in Beziehung auf gewerbliches Fortbildungsſchulweſen in dem nichtpreußiſchen 

eutihland geleiftet wird, und enthält das zur vollitändigen Orientirung über bieie Frage 
für Nichtfachmänner nöthige Material, quellenmäßig belegt, als fie auch für Communen, Vereine, 
welche gewerbliche Schulen errichten wollen, eine erwünichte Ueberjicht über Lehrpläne, Ziele und Koften 
ſolcher Schulen aus den verſchiedenſten Orten Deutichlands bietet. 

Der zweite Theil beichäftigt fi mit dem Auftande der betreffenden Schulen in Preußen, und 
weift nad, daß, mit Ausnahme der 1866 zu Preußen gefallenen Provinzen, welche vorher ſchon ein ge 
orbnietes Fortbildungsſchulweſen hatten, überall jonit die Sache jehr im Argen liegt. Wis Beiipiele 
——— Beſtrebüngen auf dieſem Gebiete in den Provinzen Preußen und Schleſien genaun 
ausgeführt. 

Der dritte Theil umfaßt einen Rückblick über das Vorhergehende, und eripart ſomit benjeniaen, 
weice das Detail der beiden eriten nicht ftubiren, fondern ſich mit einem ganz allgemeinen Ueberblid 
begnügen wollen, dieje Arbeit durch eine überfichtliche Zuſammenſtellung der gewonnenen Reiultate 
und wirft einige Blide auf die Verhältniſſe außerdeutiher Länder. Das Gefammtergebnih ift, daß 
Breußen hinter allen Anderen jo zurüd ift, Daß „etwas geiheben muß.“ 

Der vierte Abichnitt behandelt nun die Sigung des preußiſchen Abgeorbnetenhaufes vom 14. Fe⸗ 
bruar 1877, giebt eine detaillirte Ueberſicht der gehaltenen Reden und weiſt nach, daß die in dem erſten 
Abihnitten ausgeſprochene Anfiht au in den Abgeordneten- und minifteriellen Kreiſen vollitändig —* 
theilt wird. Er giebt ein lebhaftes und intereſſantes Bild davon, wie ſelbſt in den maßgebendſten Kreiſen 
noch ein unſicheres Suchen nad einem Wege an dem als nothwendig erfannten Ziele 
ftattfindet, und wie die Begriffe von der vollftändigen Klärung noch weit entfernt find. 

Zu dieſer Klärung der Begriffe nnd der Feftitellung bes su erreihenden Ziele: 
will nun der Verfaſſer in dem legten Mbichnitte beitragen, indem er feine Wünjche für die Organiiation 
der gewerblichen Fortbiidungsihulen in Preußen ausipriht. Schließlich faßt er diefe Wüniche in Theien 
turz zufammen und bittet, dieſelben nicht ald den einzig rihtigen Weg aufjufallen, den er alio 
gefunden zu haben behaupte, fondern nur als einen ber vielen möglichen Wege, welcher jedenfalls 
befier jei als keiner. Die Theien follen dazu dienen, in ®ereinen oder —— paſſenden Öffentlichen 
Verſammlungen diskutirt zu werden. Sie gehen im Weſentlichen hinaus auf: 

1) Die Bereinigung jämmtlicher gewerblicher Schulen unter dem Refiort des Handels minifteriums. 

2) Die Einführung der obligatorifhen allgemeinen Lehrlingsſchule für alle Gewerte. 

3) Die Einführung ber fafultativ gewerblichen Fortbildungsichulen. 

4) Die möglichſte Begünftigung von kunſtgewerblichen Fachſchulen. 

Der Berfafier will in allererfter Linie zu einer lebhaften Diökutirung diefer hodmwicdtigen 
Frage thatfählihes Material liefern. Die kurze Inhaltöfkizge zeigt ſchon, daß es ihm gelungen ift, 
diejes Material im reihlihiten Maße, geiihtet und Flar, den Leſern vorzuführen. 


— —— —— — 


Pädagogildhe Studien. 


Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein. 
1. Qelt. 
Welcher Antheil gebührt Stunt, Schule und Haus 
an dem Werke der Iugenderziehung? 


Fin Beitrag 


zur 
Berftandigung über Prinzipien der Erzichung 
mit Küdjicht 


auf das demnächſt zur Beralhung kommende preußiſche Unlerrichtsgeſeh. 


Von 


Dr. Guſtav Radtke, 


Prorector an der Fürftenichule zu Pleß. 


„Dah die Jugenderzichung die Hauptiorge für 
den Geſetzgeber jein müfle, darüber ift gar kein 
Zweifel; und bie Staaten empfinden die Bernad)- 
läffigung derfelben zu ihrem Schaden.“ 

Aristot. Polit VII, 1. 


Wien und Jeipzig. 
Berlag von A. Pichler's Witwe & Sohn. 
uhhandlung für pädagogifhe Literatur und Lehrmittel » Anitalt, 






Drud von Filher & Wittig in Leipzig. 


Seinem treuen Freunde 


einfligen Obergeſellen am Gymnafium zu Krotof chin, 


Herrn Franz Wieländer, 


Oberlehrer am Königl, Gymnaſium zu Schneidemähl, 


widmet diefe Blätter in danfbarer Gefinnung 


der Berfafler. 


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Sieber Freund! 


Als ich vor einem Decennium das Glück des perjönlichen Verkehrs 
nit Dir genoß, und Du den braven Walter Berger, auf deſſen Hügel 
jet jchon zum jiebenten Male vie treue Schweiterliebe friſche Blumen 
pflanzte, und mich, uns Anfänger in ver Lehrkunſt, Deiner Freundſchaft 
wiürdigteft, erfuhren wir Jüngeren durch Dich gar manche werthvolle Förde- 
rung jowohl in unjeren wijjenichaftlichen Studien al8 auch namentlich in der 
Klärung und Feitigung unferer päpagogifchen Grundjäge Wenn wir am 
Nachmittage des legten Wochentages den traurig einförmigen Fluren Bojens 
zu entlommen ftrebten und dem erſten Grenzort im lieben deutſchen Vater: 
lande, dem traulichen Freihan mit feinem verlaffenen Schloß im Zopfitil 
und jeinen wenig gepflegten Parkanlagen, zumwanderten, da redeten wir 
am liebjten von der Schule. Wie oft haft Du auf diefen Spaziergängen 
in Deiner verföhnenden Art die Strenge und Herbheit meiner übereilten 
Urtbeile gemilvert, wie oft meiner jugendluftigen doctrinären Neuerungs— 
jucht ven Zügel Deiner Ueberlegtheit und der aus einer reichen praftijchen 
Erfahrung gewonnenen Bejonnenheit angelegt ! 

Ceitden bin auch ich ruhiger geworden. Ob Du bei der Lectüre 
der nachfolgenden Abhandlung, die Dir meine berzlichiten Grüße vom 
Fuße der Dir wohlbefannten Beskiden überbringen joll, gleichfalls dieſen 
Eindrud von mir gewinnen wirft? Du fiebft, daß die Materie, die vor 
Fahren unjeren Unterhaltungen fo oft zu Grunde lag, mich noch immer 
bejchäftigt. Der Schmerz, jehen zu müfjen, wie viele Kinderſeelen theils 
durch faliche Behandlung im häuslichen Kreiſe, theils durch directe 
Bernabläffigung jeitens der Eltern wenn nicht geradezu fittlih zu Grunde 
geben, jo doch ven Adel ver Seele einbüßen, jo daß fie ver Wiffenjchaft, 
dem Baterlande und ven Voealen verloren geben, bat durch die Yänge 
der Jahre, in denen ich jolche Erfahrungen mache, noch Nichts von feiner 
Schärfe verloren. Und als vor ſechs Jahren jene Briefe über Berliner 
Erziehung erichienen, welche wir jeiner Zeit in brieflihem Gedankenaus— 
tausch beipracen, wurde mir immer Earer, daß bier in ver That eine 
wunde Stelle in unſerem Volksthum liege, daß aber eine Heilung nur zu 
finden jei, wenn der Staat jelbjt nicht nur den Unterricht, ſondern auch 
die Erziehung des heranwachſenden Gejchlechtes unter feine Aufficht nehme. 

„Zur Abwehr gegen Frankreich“ jchrieb unfer Berliner College feine 
Briefe. Zwar nicht um die Abwehr eines mit den Waffen in der Hand 


— 


‚\. 
geführten Angriffs handelt e8 fich, wohl aber darıım, daß der von Franf- 
reich nach Deutichland mehr und mehr übergreifenden Bergnügungsjucht 
bei Zeiten entgegen getreten werde. Wer das Volk bei feinen National: 
feften, wer die Jugend bei ihren Beluftigungen ftill beobachtet, dem fann 
e8 nicht entgehen, daß die Umbefangenheit eines kindlichen Lebensgenuſſes 
verſchwunden ift, dab dagegen in erjchredendem Mafe die Zahl derer 
wächit, venen das Vergnügen, und zwar gerade das grobfinnliche, das be— 
wußte Endziel alles Strebens darſtellt. 

In diefer Erjcheinung tritt uns nicht eine Krankheit, wohl aber das 
Symptom einer ſolchen, und zwar einer bevenflihen entgegen. „Nach Ver- 
gnügungen jagt der Menſch“, jagt irgendwo E. M. Arndt, „ver feine 
Freude Hat.“ Wir, denen ſich die Sehnſucht vieler Generationen unjeres 
Bolfes jo wunderbar erfüllt hat, die e8 erleben durften, daß unfer jo 
lange von den Nachbarn verjpottetes Vaterland fich zur erſten Macht ver 
Welt erhob, jollten feine Freude haben? Und doch it e8 in Wahrheit 
jo. Wohl ward unmittelbar unter dem wuchtigen und überwältigenven 
. Eindrud” der großen Ereignifje jo Mancdem das Wort Hutten’8 auf Die 
Lippen gelegt: „O Yahrhundert, e8 ift eine Luft, in dir zu leben!“ Und 
wie von Plate Yactantius berichtet, daß er den Göttern dankte, in Athen 
geboren zu fein, nicht unter ven Barbaren, ſodann dafür, gerade zur Zeit 
des Socrates zu leben, jo mag damals wohl Mancher von zwiefachem 
Danke gegen die Vorjehung erfüllt gewejen fein, daß feine Wiege in 
deutjchen Landen gejtanden hat, und dann, daß er den Aufichwung des 
deutfchen Geiftes erleben durfte. „Aber jene Töne“, jagt W. Baum— 
garten in feinen „Kirchliche Zeitfragen“ (Noftod 1874), „welche ven 
Grund der Seele erfaffen und himmelan heben, wie die deutſche Nation 
fie in den Seiten der fFreiheitsfriege vernommen“, die find dies Meat 
ſchnell verflungen ; man hört fie längft nicht mehr. Und woher dieſes 
raſche Herabfinfen von der Höhe einer großen und jo berechtigten Be— 
geifterung? Liegt der Grund wirklich nur, wie man fich jo gern ſelbſt 
überreden möchte, in der wirtbichaftlihen Galamität ver legten Jahre ? 
Aber was hat doch die ſtudirende Jugend mit der Gefchäftsitilfle und dem 
Rückgang der induftriellen Unternehmungen zu thun? Trotz der jtatt- 
gehabten Erhebung des deutichen Volksbewußtſeins zeigt diefe, in welcher 
jfih ja wohl die Blüthe des nationalen Lebens und der Volfsfraft, wie 
einſt nach den Freiheitöfriegen in der frommen und von idealen Strebungen 
getragenen Burfchenfchaft, abipiegeln jollte, gar wenige Ausnahmen ab- 
gerechnet, einen nur zu bezeichnenden Mangel an Begeifterungsfühigteit. 
„Es ift die allgemeine Mage der Schulmänner, — ich brauche die Worte 
Baumgarten’ 8 — daß die Knaben an Zerjtreutheit und Schläfrigfeit 
leiden, und an drei Hochjchulen haben drei hervorragende Lehrer in den 
legten Jahren öffentlich fich bejchwert über Sclaffheit der academijchen 
Jugend.“ Nach BVergnügungen eilen fie alle, aber jo raffinirt diefelben 
jein mögen, fie fchaffen ihnen feine Freude, Feine Erholung Die über- 
jättigten Knaben anticipiven die Genüſſe der Yünglinge, diefe in ihrer 
Dlafirtheit die der Männer, — und doch die Herzensfreude bleibt fern 
von Beiden. Bald werden fie gleich jenem Berjerfönig eine Belohnung 
dem ausfegen wollen, der ihnen ein neues Vergnügen erfände. 


% 


vo 

Diefe Signatur der heutigen Zeit darf der Patriot, darf der rechte Lehrer 
des Volkes nicht aus dem Auge verlieren. Eind wir nicht im Stande, diefem 
faft- und kraftraubenden Mehlthau ver Vergnügungsſucht entgegenzwiwirfen, 
fo wird bald die allgemeine Stimmung flügellahın und dem Staube zuge: 
wendet ericheinen. Ja mehr noch! Die Vergnügungsſucht birgt die 
ernfteften Gefahren für ven Beſtand ver Nation. As der Römer Fabrictus 
von Cineas, dem Höfling des Königs Pyrrhus, vernommen hatte, e8 lebe 
in Athen ein Mann, ver als Weifer gelten wolle und ver die Lehre auf: 
jtelfe, man müjje alles, was man thue, des DVergnügens halber thun, da 
joll er dem Wunſche Ausoruf gegeben haben, daß doc die Samniten 
und Pyrrhus ſelbſt dies als Wahrheit annehmen möchten, denn dann würde 
der Sieg über ſie um ſo leichter zu erkämpfen ſein. 

Aber wie iſt zu helfen? Wo iſt die Wurzel dieſes uebels? Baum: 
garten jagt richtig: „Der legte Grund liegt darin, daß der Verfehr der 
Volksſeele mit ihrem Gott, dem ewigen und einigen Urquell aller unferer 
Freude, feit lange gehemmt ift. Die ftaatsfirchliche und die Kirchenftaatliche 
Anjtalt, diefe beiden verweltlichten Priejterinnen, anjtatt das heilige Zwie— 
geſpräch zwiſchen Gott und dem Bolf zu vermitteln und zu pflegen, 
hemmen daſſelbe durch ihr unendliches Formel- nnd Ceremonienwefen. Fort 
mit dieſem falfchen Priejtertfum, und e8 wird in ven Seelen wieder an— 
gefacht die Glut der wahren Andacht, und vom Himmel her wird wiederum 
in den Örund der Herzen die Fülle dev Freude fich ergießen. Erjt in 
der Volkskirche, welche Luther's tieffinniges Wort: „Gott und Bolf find 
Correlate“ wahr machen wird, wird die wahre chriftliche Freudigkeit geboren, 
welche die Bolfsjeele mit einer jchöpferiichen Kraft der Begeifterung 
ausrüftet“. 

Die evangelifche Kirche in Preußen Hat nun eine VBerfaffung, die ung, 
jo Gott will, diefem Ziele immer näher und näher zu kommen gejtatten 
wird. Aber joll deshalb ver Lehrer, der die Verantwortung für die rechte 
Erziehung des heranwachſenden Gefchlechts trägt, dieſe Zeit unthätig er- 
warten, in der die Väter ihre Söhne wieder auf den Grund hinweiſen 
werden, auf dem wahre und umvergängliche Freude erblüht? Ach, dieje 
Zeit jcheint zudem noch fern. Denn 


Was einft Troft und Heil den Maffen, 
Ward zur Satung dumpf und ſchwer; 
Diefer Kirche Formen faffen 
Dein Geheimniß, Herr, nicht mebr. 
Zaufenden, die fromm dich rufen, 

Weigert fie den Gnadenſchooß: 
Wandle denn, was Menſchen jchufen, 
Denn nur du bijt twandellos, 


Aus den dunkeln Schriftbuchftaben, 

Aus der Lehr' erftarrter Haft, 

Drin der heil'ge Geift begraben, 

Laß ihn auferftehn in Kraft! 

Laß ibn übers Rund der Erde 
Wieder fluthen frob und frei, 

Daß der Glauben Yeben werde 

Und die That Bekenntniß fer! 


vul 


Flammend zeug’ er, was vereinigt 
Einit der Boten Mund getönt, 
Wie's vom Zeitlicen gereinigt, 
Sich dem Menſchengeiſt verſöhnt; 
Zeug’ ev, bis vor ſolcher Kunde 
Iede Zweifelftimme ſchweigt, 
Und empor vom alten Grunde 
rei die neue Kirche fteigt, 


Wir Lehrer wollen dem vorfichtigen Arzte gleib auch Prophylaxe 
treiben. Es gilt, ven Knaben und Jüngling zu hüten, damit er nicht 
auf jene abſchüſſige Bahn gerathe, die jählings abjtürzt, auf ver es feinen 
Halt mehr gibt; es gilt, den Menſchen gleich von Jugend auf dazu 
anzuleiten, daß jeine Freude und fein Schmerz fi an den rechten Gegen- 
jtänden erweife; denn das iſt nach Plato und Ariftoteles die wahre Jugend— 
evziehung (Plat. leg. II p. 653, Steph. p. 232, Bekk. Aristot. Nic. 
Eth. I, 3, 2); es gilt, in unjerm Volke, das ſich von der grauer Vor— 
zeit ber des Rufes eines warmen Herzens erfreut, die Flamme der Be: 
geifterung für alles Hohe, Schöne und Heilige lebendig zu erhalten. Dazu 
iſt freilich nöthig, dar die Schule ein erweitertes Feld und umfaſſendere 
Rechte für ihre Wirkſamkeit erhalte Daß ich hierbei auf Widerſpruch 
jtoßen werde, weiß id. Der liberale Diefterweg (Päd. Wollen und 
Sollen, 2 Aufl. 1875, S. 233) und der orthodoxe Palmer (Ev. Schulpäd., 
Stuttg. 1853, II, p.,57) find darin einig, daß die Erziehung der Kinder 
ein Hausrecht fei, in das der Staat nicht dreinreden dürfe Aber das 
fann mich in meinem Vorſchlage nicht irre machen. Denn einerjeits 
haben jene beiden Pädagogen eine Auffafjung vom Staate, welche die 
unjrige nicht mehr jein Fann, andrerjeits gebietet die Selbjterhaltung, das 
väterliche Necht infoweit zu bejchränfen, daß der aufwachſende Sohn in 
den Stand gejett werde, die Aufgaben zu löfen, die der Staat ihm ftellen 
muß. Schleiermaher wenigitens, deſſen patristifches Herz von hoher Be— 
geifterung für das Ideal des Staates erfüllt war, fennt einen Fall, in 
dem der Yegtere fi um die Erziehung zu kümmern hat. Er fagt in 
jeiner Erziehungslehre, S. 528: „Der Staat fann einen thätigen Antheil 
an der Erziehung des Volkes nehmen, wenn es darauf anfommt, eine 
höhere Potenz der Gemeinjchaft und des Bewußtſeins derſelben zu jtiften. 
Iſt das gejchehen, jo gibt er fie in die Hände des Volfes, d. h. an die 
Gemeinden, an die Kommunalverfafjung zurüd, die durch ihre Gemein- 
ſchaft mit der Kirche und den wiljenjchaftlichen Verein, deſſen Glieder 
durch fie zerjtreut find, auch intellectuell belebt wird.“ Siehe zu, lieber 
Freund, ob e8 mir, dem Du einft zum Studium Schleiermacer's energiſch 
zuredeteit, gelungen ift, in den folgenden Ausführungen diefen Standpunkt 
Deines Philofophen feitzubalten! In treuer Liebe 


Pleh, im Wonnemonat 1877. 


Dein 
Radtke. 


Inhaltsangabe. 


eite 
1} Die Wandelung in der Auffaffung der Rechte des Staates gegenüber Be 
Einzelnen in unferem Jabrbundert . . . . | 
2) Die Entwidelung der deutihen Schule zur Staaisſchule 
3) Lockerung des Bandes der Familie in dem ſich vervollkommnenden Stantsmefen. 


Familien- und Staatserziehung... 13 
4) Die heutige Familienerziehung — —198 
5) Die Notbwendigleit einer ſtaatlichen Benuffichtigung * —— — 2— 
6) Die Organe des Staates bei dem Wert der Erziebung . . . A: | 


7) Bon den Mitteln der Erziebung, befonbers in den böberen Lebranftalten, Die 
Strafarten . 

s) Zufammenftellung * Grundſat⸗ — ———— die in = — 
Unterrichtsgeſetz Aufnahme zu finden verdienee. 495 


Radike, Welcher Antheil ıc. 1 





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I 


1. 


Die Wandelung in der Auffafung der Rechte des Staates 
gegenüber dem Einzelnen in unferem Jahrhundert. 


Ber Sturm- und Drangperiode, die fib im vorigen Jahrhundert auf 
dem Gebiete unferer Yitteratur abjpielte, folgte in unferem Zeitalter eine Sturm— 
und Drangperiode auf dem Gebiete des öffentlichen Lebens. Wie die erjtere 
gerade dadurch, Daß jie mit der Tradition des Zopfes bredend die Feſſeln 
jener erjtarrten Gefege, die bis dahin gegolten, abjtreifte und für das Subject 
eine jchranfenloje Freiheit in Anfpruc nahm, aus ihrem Schooße die zweite 
Blüthe unjerer Yitteratur gebar, weldye bei aller Wahrung der der Genialität 
und der Originalität zufommenden Freiheit dod die Geifter wieder in die 
Bahn der Kegeln lenkte, freilich der auf geläutertem Geſchmack gegründeten 
und aus dem Studium der alten Klaffifer gefhöpften und zu klarem Bewußt— 
jein gebrachten Regeln, jo haben vor den Augen der Zeitgenofjen die vevolu- 
tionären Beitrebungen in der Politik einen ähnlichen Prozeß durchlaufen um 
ein ähnliches Reſultat in unjeren Tagen gezeitigt. 

Wenn hierbei nun aud unlengbar die Deldenthaten unferes Volkes in 
ven legten Kriegen, die Befreiung defjelben von den das Recht der Selbit- 
beftimmung beſchränkenden Einflüfien der Nachbarn und vor Allem die Wiener: 
aufridtung des deutjchen Reiches als Die greifbarften Zeichen der neuen Zeit 
in Die Augen jpringen, jo ſind dieſe Thatſachen doc für den tiefer im Die 
Betrachtung der zeitgenöſſiſchen Geſchichte eindringenden Forſcher eben nur die 
nothwendigen Folgen der inzwiſchen erfolgten Veränderung des geſammten 
Volksgeiſtes. Dieſe Umgeftaltung hebt mit dem Befreiungsfampfe im zweiten 
Decennium unjeres Jahrhunderts an; ihre Spuren verfolgt man dann in der 
anfünglid) noch wirren Gejtaltung des nationalen und freiheitlihen Gedanfens 
in ber Burſchenſchaft, bis dann der neue Geift in der Mitte unſeres Säcu— 
ums in wilder Yeidenfchaft ausbricht, in der Folge aber durch heilfame ſtaat— 
lihe Einrichtungen auf ein berechtigtes Gebiet gelenkt wird, um ſich hier zum 
Frommen der Nation thätig zu erweiſen. Denn wahrlih, der Segen der 
— Gott Yob! — überftandenen politiihen Sturm: und Drangperiode zeigt 
ſich nur mittelbar in den Waffenthaten und in der jegigen achtunggebietenden 
Stellung unjeres Bolfes nad aufen bin; er liegt vielmehr darin, daß ſich 
aus ihr heraus der einſt verpönte Gedanke der Stantögewalt, oder, wie 
die Gegner der heutigen Entwidelung fagen, der Omnipotenz des Staates, 

1* 


2 


philoſophiſch geiprochen, des. Borrechtes der Allgemeinheit vor den Sonderinter: 
eſſen der Einzelnen geftaltet hat. . 

Denn wenn nad Hegel jedes Kulturvolf, bevor es zur Löſung jeiner 
eigenthümlichen Aufgabe kommt, die Stadien der früheren Kulturwölfer zu 
durchlaufen hat, jo ift es Feine Phraſe, wenn wir behaupten, daR die Deutſchen 
im Yaufe des gegenwärtigen Jahrhunderts aus Hellenen zu Römern geworden 
find, d. bh daß wir uns aus dem politischen Nihilismus, dem Kosmopolitismus, 
zu dem poſitivſten Patriotiemus und aus einem weſentlich fpeculativer Arbeit 
zugemwendeten Volk zu einem energiſchen und praktiſchen berausgearbeitet haben. 
Diefe Umwandlung im Einzelnen zu verfolgen, bietet hohes Intereſſe, liegt 
aber doc zu ſehr außerhalb des Rahmens unferer gegenwärtigen Betrachtung. 
Dennoch ift das Factum felbft für die Grundauffaſſung der bier zu behandeln- 
den Frage nad dem Umfange, in dem ver Schule, d. h. dem vom Staat 
beauftragten Injtitut, die Aufficht über die Sitten des heranwachſenden Ge- 
ſchlechts und deren Erziehung obliegt, jo wichtig, daf Ausgangs: und Endpunkt 
jener Entwidelung einer furzen Charakteriſirung wohl werth erjcheinen. 

Noch vor zwei Menfcenaltern nannte ein tiefjinniger Kenner des Alter: 
thums, der alte Jacobs, Deutjcland das moderne Griechenland. Und mit 
Hecht. Auf allen Gebieten des geiftigen Lebens und Strebens trug unfer 
Bolf die Signatur des griechifchen Charakters mit allen feinen Borzügen, 
namentlich aber auch mit allen feinen Schwächen. Ich mill nicht erjt von der 
damaligen politiihen Zerriffenheit in unzählige Staaten und Staatchen, von 
der Zerflüftung in faftenartig gejchiedene Stände und Parteien reden, jo jehr 
auch gerade diefe Züge an das Hellenenthum erinnern. Jene ſchamloſen Ber- 
väthereien innerhalb der Bürgerjhaften von Speyer, Worms und Frankfurt a/M. 
und jener offene Abfall der Stadt Mainz zu den Franzoſen gegen Ende des 
vorigen Jahrhunderts, die Sympathie jo vieler Deutſcher für die franzöſiſche 
Revolution und jpäter für Napoleon I. find getrene Abbilder der ſchändlichſten 
Ausſchweifungen des griechiſchen Particularismus, haben aber in der Geſchichte 
feines andern Bolfes ein Analogon. Werner „entgegen der Erfahrung, daß 
entjcheidende Ereignifje der Weltgejdichte der diberwiegenden Mehrheit des 
zunächſt betroffenen Volkes dieſelbe Richtung verleihen, ſah man vordem bei 
den Deutſchen wie einft bei den Griechen über die Hauptwendepunfte ihrer 
Geſchichte die tieffte Meinungsverſchiedenheit. Soll id) fie aufzählen? es iſt 
eine lange Reihe! Ueber den Urfpruug des deutſchen Reiches, über die 
Natur der Kaifergewalt, über die deutfchen Kämpfe in Italien, über den Segen 
oder Unjegen der Hausmächte, über die Reformation, über den Dreißigjährigen 
Krieg, über Friedrih den Großen und ven fiebenjährigen Krieg, über Dejter- 
reichs Reformverſuche im 18. Jahrhundert, über feine Reftaurationspolitif 
im 19., über Preußens Beruf in Deutjchland, über Dejterreihs Stellung zu 
beiden waren die Deutſchen völlig getheilter Meinung. Dafür gelten wir 
freilich, wie ebenfalls die Griechen, als das Denker: und Dichtervolf zer 
2Eoyyvr. Eine Nation von Dentern und Dichtern — dem Auslande unge: 
führlich, zufrieden mit dem Looſe des Poeten in Schillers Gericht.“ *) Dieje 


*) Worte Trauttwein’s von Belle aus deſſen Abhandlung „Deutſche Einheit und 
deutſche Uneinigteit. Eine zeitgendffiihe Studie“ in der beutjchen Bierteljahrszeitichrift 
1369, Heft 1,p. 1. Daß ich jeboch die weiteren Ausführungen dieſes Auffages mir 
nicht zu eigen mache, darf ich wohl nicht erſt verſichern. 


3 


doctrinäre Beanlagung, diefe Ideologie unferer Nation erfüllte fie dur alle 
Stände hindurch mit tieffter Verachtung gegen Praxis und Politik. Nur zu 
wahr bezeichnete Yichtenberg feine Landsleute mit dem bekannten Ausſpruch: 
„Der Charakter des Dentjchen liegt im zwei Worten: patriam fugimus,“ 
Aus Luft an imtellectueller Thätigkeit trieben wir Kunſt und Wiffenfchaft, 
aber jede Art praftifcher Verwerthung, aud im Dienſte des Baterlanvdes, hätte 
als Entweihung der Würde „der jchönen Künfte und Wifjenfchaften“ gegolten. 
Diefe legteren und das öffentliche Peben wandelten auf ganz getrennten Bahnen. 
Wohl conftruirten unfere Philofophen auch Staatöverfafjungen, aber wenn man 
diefe hätte im Ernſt in die Praxis irgendwo übertragen wollen, jo würden fie 
wohl wie Plato in dem gleihen Falle von einem ſolchen Unternehmen jelbjt 
in aller Harmlofigkeit abgerathen haben. Die Goethes und die Sciller's, 
die Humboldt's und die Hegel's, die Winfelmann’s und die Wolf’s, von den 
Epigonen gar nieht zu reden, fühlten fi als Gelehrte hoch über vie feſſeln— 
den Grenzen der Nationalität erhaben. Sie wollten viel mehr Menſchen und 
Veltbürger als Deutſche fein. Und in ſolchen Auffafjungen wurde nun auch 
die Jugend groß gezogen. Noch in den vierziger Jahren ftellte ein ſehr ge— 
lehrter Philolog jeinen Secundanern als Thema zur Bearbeitung: Preis des 
Kosmopolitismus; die. Schüler waren angewiefen, das befannte Wort tes So- 
frates, mundanum se esse, zu verherrlihen. Dafür begehrte nunfreilich Jeder jo 
viel perfönliche Freiheit für fich, als faum mit dem Wejen eines Staates verträg- 
lih war. Das Aase Sıwcas galt jedem Familienvater, befonders aber ven 
doctores umbratiei, die Manche heute jehr zur Unzeit in den höheren Schulen 
gern wieder erwecten, al® wirkſame Beihwörungsformel gegen die Störungen 
des öffentlichen Lebens und als die wahre Grundlage zu jeder Glüdfeligfeit, 
der epicureifchen wie ber ſtoiſchen. 

Und nun in der aus folder Schulweisheit und folder Familien-Erziehung 
berausgewachjenen Generation weld’ völlig andere Geiftesrichtung! An die 
Stelle ver Hinneigung zur Specnlation und zur Geftaltung leerer Phantafie- 
gebilve ift auf jeden Gebiete des deutſchen Volksthums nüchterne, praktiiche, 
energifche Arbeit getreten. Neben hervorragender Intelligenz findet der eijerne 
Wille berechtigte Anerkennung. Die kosmopolitiſchen ITräumereien find einem 
euthuſiaftiſchen Patriotismus gewicen. Das in bejchränftem und egoiſtiſchem 
Selbſtſinn erkaltete Einzelſtreben iſt in warme Begeiſterung für das Allgemeine, 
in Luſt am Schaffen und in opferfreudiges Wirken für die weiteren und 
höheren Intereſſen des deutſchen Vaterlandes übergegangen. Auch bei uns er— 
kennt man jetzt wieder nad den Worten des genialen Hiſtorikers Treitſchle 
an, dar es außerhalb der Nationalität werer Kunft noch Wiſſenſchaft noch 
irgend welches geiftige Leben gebe. Dieje legteren find ſich jest durchweg 
ihrer Verpflichtung, für das Voltswohl zu jorgen, bewußt, und ihre Träger 
wollen fich nicht mehr, wie ehedem, in eim einjeitiges und unfruchtbares Studium 
verlieren, fie betrachten es vielmehr als ihre erſte Aufgabe, an der Förderung 
des Vollsthumes nach Maßgabe ihres Vermögens mitzuwirken. Welche Kräfte 
ni thätig gewejen find, um diefe Umwandlung zu Wege zu bringen, läßt 
jih nicht in wenig Worten darthun. Aber den einen Hinweis vermögen wir 
nicht zu unterdrücken, nämlic den, daß es der preußiſche Geift geweſen ijt, 
der jo Großes gewirkt hat. Durd) Friedrih Wilheln den Erften, den jtrengen 
Zuctmeifter der Preußen, ver nad Droyjens ebenjo gründlichen wie geiſt— 


4 
vollen Unterfuchungen jett enblich neben feinem großen Sohne und Nachfolger 
gebührend gewürdigt wird, ift dieſem Volk jenes Pfliht- und Ehrgefühl bis 
ins Mark eingepflanzt worden, das dann der tiefe Denker von Königsberg in 
ein philoſophiſches Syſtem brachte. Hier find die Wurzeln der Neugeftaltung 
des deutſchen Lebens. Die Thaten des großen Friedrich, dann die Nieder: 
lagen bei Jena und Auerſtädt, die Stein’ihe Geſetzgebung thaten das Ihrige 
zu deſſen Erftarfung. Und als num auch in ber Pitteratur mit Klopftod une 
Leſſing, mit den Sängern der Freiheitsfriege und mit den ſchwäbiſchen Dichtern, 
in der Philofophie mit Fichte und Schleiermader eine nationale Richtung 
durchbrach, da war die Grumdlage für das neue deutſche Volksthum gejchaften. 


2. 
Die Entwickelung der deutfhen Schule zur Staaisſchule. 


Sp wird denn auch unſere Pädagogik mehr und mehr eine nationale, 
Nichte hatte die Schule in diefe Bahn zu bringen getrachtet, indem er ale 
oberfte Aufgabe aller Erziehung die binftellte, in allen Herzen die wahre und 
allmächtige Baterlandsliebe, den Enthuſiasmus für das Allgemeine zu entzünden. 
Als nad dem Freiheitskriege das Bedürfniſß gefühlt wurde, an die Stelle ver 
vielen verfchierenen und zum Theil unter fi entaegengefegten Beſtimmungen 
über den VBolfsunterricht, Die in den einzelnen Theilen der preußifchen Monarchie 
in Geltung waren, eine allgemeine Schulordnung zu ſetzen und dadurch die 
nationale Einheit bauen zu helfen, wurde von dem Minifter von Altenftein ver 
Staatsrat Süvern mit der Ausarbeitung eines Promemorias betraut. In diefem 
finden wir die National-Jugenderziehung bereits fefter ins Auge gefaht. Es 
heißt dort: „Jeder Staat wirft durch feine ganze Berfaflung, Geſetzgebung 
und Verwaltung erziehend auf die Bürger ein, ift gewiſſermaßen eine Erziehungs: 
Anftalt. im Großen .. . . Geſetzgeber und Lenker der Staaten, welde vied 
erkannt, ſahen zugleich ein, daß zu einer folhen Nationalerziehung im Großen 
die National= Jugenderziehung vorbereiten ımd des ganzen Werkes Grund legen 
müſſe.“ Der nationale Aufſchwung der Freibeitstriege klingt bier noch mächtig 
wieder. In den fpäteren Seiten ward jenes Ziel mehr und mehr aufaeneben. 
Erit jeit dem Wiedererfteben des deutichen Reiches ertönt der Ruf nach nationaler 
Erziehung, der fo lange verſtummt war, wieder lauter und lauter umd ift jett ein 
allgemeiner geworden. Aber wenn dies jo berechtigte Streben fein Ziel gewinnen 
joll, jo muß aud die Schule felbit, die höhere wie die niedere, eine nationale 
Anftalt werden. Das Eine tft in meinen Augen ein nothwendiges Complement 
zum Anderen, die Staatsfchule die anders nicht zu erfegende Grundlage für 
eine gedeihliche Thätigkeit der Yehrer im nationalen Sinne. Die Schule darf 
nicht mehr ganz oder auch nur tbeilweife im Auftrage der Familie wirken, wie 
Hegel will, anch nicht commmmales Inftitut, wie vielfach heut zu Tage der Tall 
it, nocd weniger firchliches fein, fie muß durch Staatsgeſetze organifirt, die 
Lehrer müſſen ſtaatlich autorifirt, eine gewilfe Mitwirkung aber der Familie, 
der Gemeinde, der Kirche unter ftantliher Aufficht geſetzlich gewährleiſtet fein. 

In Preußen ift die Schule eigentlich von jeher eine Staatliche Einrichtung, 
wenn auch die factiſchen Verhältniffe diefen Charakter derſelben vielfach und in 
den verjchiedenen Zeiten bald mehr, bald weniger verdunfelten. 


5 


Schon Karl der Große, der bei der Gründung ſeines Reiches überall mit 
jo glücklichem Tacte und mit jo klarem Verſtändniß für das, was einem Staate 
North thut, verfuhr, machte die von ihm gejtiftete Schule zur Stantsanftalt. 
Durch Einführung eines gewiſſen Schulzwanges gab er dieſem Inſtitut eine 
gejegliche Grundlage. Dem Geifte dieſes vortrefflihen Fürſten jchwebte eine 
allgemeine VBolfsbildung vor. Denn er begriff wie Keiner vor ibn, Wenige 
nach ihm, welche Schätze in dem deutjchen Volksgeiſt ruhten. Da er aber, wie 
noch mehr jeine Nachfolger, ſich genöthigt ſah, als Lehrer Geiſtliche anzuſtellen, 
ſo geſchah, was auch in der Folge immer wieder eintreten mußte, ſo oft auch 
energiſche Staatsmänner die Schule als Staatsinſtitut in Anſpruch nahmen, 
daß nämlich bei dem Mangel eines eigenen Lehrerſtandes ſich die Kirche der 
Erziehung der Jugend bemächtigte.“) Die Kloſter- und Domſchulen des Mittel- 
alters trugen jo gut wie Nichts von ftaatlihem Charakter. Ihre Aufgabe 
beitand ja auch hauptſächlich nur darin, für den geiftlihen Beruf vorzubilven, 
wiewohl ja auch einzelne adlige Kinder im ihnen Bildung ſuchten, die nicht 
dem geiftlihen Amt ſich widmen wollten. **) Luther ***) war der Erfte, der 
die Schulen ausprüdlich als nicht blos kirchliche, jondern zugleich auch ftaat- 
lihe Emrichtung aufgefaht willen wollte. „Man fann die Schulen“, fagt er 
ein Mal, „nicht entbehren. Wenn die Fürften die Unterthanen zwingen können 
auf die Mauer zu fteigen umd zu ftreiten, um wie viel mehr jollen die Obrig- 
feiten nicht die Schulpflicht einführen?“ Unbewußt geht er damit auf ben 
Standpunkt Karl's des Großen zurüd. Doch ftrebt er infofern weiter denn 
diefer, als er den Schulzwang auf die Mädchen ausgedehnt wiſſen will. Die 


*) Hahn, Geld. des Unterrichts, in Franfreihb IL, ©. 13. „Nachdem aber bie 
Schwäche der Nachfolger Karl's des Gr. die letzten Ueberrefte feiner koloſſalen Königs— 
macht batte dabinichwinden lafien, nachdem die öffentlihe Gewalt geſchwächt und ae- 
tbeilt aus den Händen des Königs in die.der Fehensritter berabgefallen war, blieb 
die Geiftlichkeit lange Zeit in fait unumſchränktem Befite des öffentlichen Unterrichts, 
deffen Pflege ihr Karl der Gr. nur unter feiner Oberbobeit anvertraut hatte. Seit 
dem 10, Jahrh. fam das Recht der Staatsgewalt über den Unterricht in Vergeſſenheit, 
um während mebr al8 dreier Zabrbunderte der ausſchließlichen Geſetzgebung der Biſchöfe 
und Fäpfte Platz zu maden. “ 

**) Vergl. u. A. Juſt, Zur Pädagog. des Mittelalters, Heft 6 diejer Pädag. 
Studien, p. 24. 

***) Daß auch jchen lange vor Luthers Mahnung einzelne beutiche Städte, wie 
Heidelberg, Yübed, Hamburg, Breslau, Yeipzig, Braͤunſchweig, 9 Lüneburg, Noftod, 
Greifswalde, Stettin, ja auch Kleinere wie Goldberg i /Schl., um dem in allen Ständen 
damals erwachten Bildunasbedürfnifi zu. entiprechen, Schulen ins Leben riefen, ift be 
fannt. Ja in Nürnberg bildeten die Schullebrer jchon eine Zunft. Im dieien Grün 
dungen iſt allerdings die Wiege der Volksſchule zu ſuchen. Aber vor Luther waren 
diefe Pebranftalten, wenn gleich die Magiftrate mit Schulmeiftern Contracte abſchloſſen, 
doch nur Unternehmungen privaten Charakters. Wie der Krämer, fo lud auc ber 
„Yebhrmeifter“ duch ein Ausbängeichild (fiebe Hechter, Geſchichte des Schulweſens in 
Bafel bis zum Sabre 1589, S. 26) zum Beſuch ein. Erft mit dem von Yutber auf- 
aeftellten Prinzip der Schulpflicht ward ber eigentliche rund der Volksſchule aelent. 
Wenn Balmer (ev. Pädag., Stuttg. 1853, IL, S. 27) berichtet, daß die Lehrer an dieſen 
Schulen ftets leriler waren, und nur einen Ausnahmefall kennt, wo ein Mediciner 
als Schulmeifter berufen wurde, jo ift zu bemerken, daß Diele Ausnabme doch nicht To 
ſelten geweſen zu fein ſcheint. Wenigftens weift die Reibe der Nectoren ber jüngft auf- 
aelöften, ebemals jo beriibmten lat. Schule in Goldberg innerbalb des 1. Jahrhunderts 
ihres Beftebens zwei Mediciner auf. Vergl. meinen Auffa über diefe Schule in der 

Zeitſchrift von Fledeifen-Mafius, Jabrg. 1877, September-Heft. 


proteftantifchen Fürften und Städte folaten befanntlich mit einer bewunderungs— 
würdigen Opferfreudigfeit dem Mahnruf des NReformators, überall Schulen zu 
gründen. Die kurſächſiſche Kirchenordnung vom Jahre 1580 ordnet an, daß 
wo in den Dörfern nod feine Schulen für die Kinder „der arbeitenden Leute“ 
errichtet wären, mit deren Eröffunng alsbald vorgegangen werden jolle „nad 
Rath der Erb- und Gerichtöäherren”. Die Idee der deutſchen Volksſchule wird 
dann von Comenius weiter ausgeführt. Ale Knaben, ohne Ausnahme, auch 
die, welde das Studium ergreifen follen, will er durd die allgemeine Volls— 
ſchule hindurchgehen laſſen, für die er jie vom vollendeten ſechſten bis zum 
zwölften Lebensjahre in Anfpruc nimmt. Und in praftifcher Durchführung 
zeigt jich diefe Idee von der Mitte des 17. Jahrhunderts ab in dem Herzog: 
thum Gotha, wo nad einem damaligen Sprüchwort die Bauern nelehrter waren 
ale anderswo die Städter und Evelleute. Nah dem Schulmethodus des Herzogs 
Ernft L, Gotha 1642, gehören alle Kinder, Knaben und Mädchen, in Dörfern 
und Städten, jobald jie das fünfte Jahr zurücgelegt baben, Sommer und 
Winter der Schule, in der täglih „3 Stunden VBor- und 3 Stunden Nadı- 
mittags unterrichtet werten ſoll; nur Mittwoch und Sonnabend find die Nach— 
mittage frei. Den armen Schulfindern hat die Gutsherrſchaft umſonſt das 
„Syllaben= und Yejebüchlein“ zu geben. Schulverfäumnifje aber werden Seitens 
der Eltern durch Gelpitrafen gebüßt. 

Aber vor Allen haben die Hohenzollern von Anfang an aud auf dem 
Gebiete der Schule ſich als die eigentlichen Erben des Staatsgedankens des 
großen Karl und als die Träger der protejtantifchen Geijtesfreiheit, die ohne 
die Volksſchule nicht beftehen kann, gezeigt. Denn die preußiſchen Regenten 
begnügten ſich jo wenig wie jener Herzog von Gotha, für die ftudirende Jugend 
Selchrtenichulen ins Leben zu rufen und dadurch Vorforge zu treffen, damit 
fein Mangel an geeigneten Kräften zur Befegung der Beamtenpoften eintrete*), 
jondern fie richteten ihr Augenmerf noch vielmehr auf die Elementarjchule und 
damit auf die Erziehung des ganzen Volkes. Schon in der brandenburgijden 
Kirchenordnung vom Jahre 1572 erhalten die Pfarrer und Küfter den Auftraa, 
auf eine entſprechende Belehrung des Volles turd Katechefationen Bedacht zu 
nehmen, Den eigentlichen Grund zur Volksſchule in Brandenburg - Preußen 
legte der große Kurfürft, ver im Jahre 1662 die Verordnung erließ, daß die 
Gemeinden allen Fleiß aufwenden jollten, in den Dörfern wie in den fFleden 
und Städten wohlbeftellte Schulen ins Leben zu rufen. Im feine Fußtapfen 
tritt Sriedrih Wilhelm J. mit dem wohlbelannten Generalſchulplan. Dieſer 
arope Disciplinator des preußiſchen Volkes organifirte troß mannigfacher 
Schwierigfeiten und unter erheblichen Koften die Landſchule als ftaatliche 
Ordnung und bejtimmte als jchulpflichtiges Alter die Zeit vom fünften bis 
zum zwölften Pebensjahbr. „Zum Oberdirectorio muß ein Weltlicher fein“, 
jo lautet eines der eigenhändig vom König gefchriebenen Principia. Wenn nun 





*) Solhen Mangel empfand Kaifer Marimilian I, wie aus folgender Stelle in 
Luther's Predigt: „daß man Kinder zur Schulen halten ſolle“ 1530 (Jenaer Ausg. V, 151) 
bervorgebt: „Ah bab von dem löblichen fbeuren Kaiſer Marimilian hören jagen, wenn 
die großen Saufen drumb murreten, das er der Schreiber fo viel brauchte zu Bot- 
haften und fonft, das er foll gefagt haben: ‚Wie fell ih tbun? Sie wöllen fi nicht 
brauchen laffen; jo mus ich Schreiber darzu nemen‘, Und weiter: ‚Ritter fan ich maden, 
aber Doctor fan ich nicht machen‘.“ 


- 
auch die Schulmeifter in erſter Inftanz unter die Prediger geftellt wurden, fo 
waren dieſe doch unter der Regierung dieſes Fräftigen Königs jelbft recht 
eigentlich Staatsbeamte. Die große Bereutung der Schule fir den Staat 
fonnte am wenigiten-Friedrich dem Großen entgehen.*) Was er für die Hebung 
des Unterrichtswejens und der Volkserziehung gethan willen wollte, finden wir 
am Farjten im Eingange jeines Briefes über die Erziehung ausgeſprochen. 
„Ic liebe e8“, jagt er dort, „diefe Jugend zu betrachten, die unter unjeren 
Augen heranwächſt. Sie iſt die Fünftige Generation, die der Aufficht ber 
jeßigen anvertraut it, eim neues Menſchengeſchlecht, das beranreift, um das 
gegenwärtige zu erjeßen; es ift die Hoffnung und die Kraft des Staates, die 
aut erzogen, jeinen Glanz und feinen Ruhm fortdauern machen fol. Darım 
muß ein weijer Fürſt allen feinen Fleiß darauf verwenden, in jeinen Staaten 
nützliche und tugendhafte Bürger zu erziehen.“ **) Friedrich's Unterrichtsminifter, 
der Freiherr v. Zedlig, unterftüßte feinen König in den auf dies Ziel nerichteten 
Beftrebungen auf das Treuefte.***) Sofort mit Beendigung des fiebenjährigen 
Krieges beginnen FFriedrihb des Großen Sorgen für Wiederaufrichtung des 
durch den Krieg arg verwülteten Volksſchulweſens feiner Provinzen. Bereits 
fieben Tage vor dem Abſchluß des Hubertusburger Friedens, den 8. Februar 
1763, erläßt er am die Kurmärfiiche Kammer den gemefjenen Befehl, nur 
eramimirte und tüchtig befundene Sculmeifter anzuftellen, umd drei Tage vor 
dem Abjchluffe diejes Friedens, am 12. Februar 1763, jchreibt er aus Leipzig 
feinem damaligen Eultusminifter, v. Dandelmann, er habe acht Schulbalter in 
Sachſen angenommen, wovon vier in der Kurmark, vier in Hinterpommern auf 
Aemtern angeftellt werden jollten, und befahl für ihr Unterfommen zweckmäßig 
zu jorgen und fie gegen alle Verfolgung des Neides zu jhüten, damit fie zum 
Berjpiel dienen und fogar die Schulmeifter lehren fünnten, die Jugend befier 
zu unterrichten. Einen Monat jpäter, am 20. März, ordnete er in einem 
Screiben an das gneiftlibe Departement in Schlefien und an den Weihbiſchof 
v. Stradwig in Breslau für die Schulen beider Confeffionen regelmäßige 
Reviſionen von Staatswegen an.z) Den Schlußſtein endlih der Organiſation 
des Volksſchulweſens ſetzte der große König am 12. Auguſt deſſelben Jahres 
mit dem Erlaß des von dem Oberconſiſtorialrath Hecker verfaßten General— 
Land-Schulreglements, das in gleicher Weiſe für alle Provinzen wie für alle 


*) Deſſen Verdienſte um die Volksbildung beleuchtet in klarer und anſprechender 
Daritelluna Dr. Fiſcher, Friedr. d. Gr. und die Volkserziehung. Berlin 1877. 

**) Qeuvr.t. IX, p. 115, ich babe dies, wie die folgenden Citate aus Friedrich's 
Werten der eben genannten Schrift von Fiſcher entnommen. 

***) Siehe Trendelenburg, Friedrib der Große und fein Staatsminifter Freiherr 
von Zedlitz. Eine Skizze aus dem preuft. Unterrichtsweien. Monatsberichte der Aka— 
demie der Wiſſenſchaften zu Berlin 1859, 

T) Der katholiſche Abt Ignaz von Felbiger, der in diefer Provinz ganz befonders 
die wohlgemeinten Abfichten des Königs in Ausführung bracte, erließ i. 3. 1772 eine 
Anftruction für die Pebrer, in der er als erften Zwed der Schule binftellte, die Kinder 
tüchtig zu machen, nützliche Glieder des Staates zn werden. Wie wenig damals bie 
Confeſſion die Schulen voneinander trennte, mag man daraus entnehmen, daß der ge— 
nannte Reorganifator der Tatbolifhen Schulen Echlefiens jelbit das Schullebrer-Seminar 
des evanaeliichen Oberconfiftorialratbes Hecker in Berlin beſuchte und demnächſt auch 
obne den aerinaften Anftand zwei feiner Prüparanden dorthin ſandte, damit fie bie 
neue Unterrichtsmetbode erlernten und nad ihrer Zurüdtunit in Schleſien befannt 
wachten. 


8 
Confeſſionen Geltung erhielt. Dies Geſetz gründet ſich wie ſchon der General— 
Schulplan auf die allgemeine Schulpflicht, die alle Kinder wenn nicht früher 
ſo doch vom fünften bis dreizehnten oder vierzehnten Jahre umfaßt. Wenn in 
demſelben dem Lehrer u. A. die Aufſicht über das Betragen der Kinder auf 
dem Schulwege zur Pflicht gemacht wird, ſo erkennen wir hier ſchon eine Spur 
der Intention, die in der Volksſchule liegt, nämlich vom öffentlichen Volks— 
Unterricht zur öffentlichen Volks-Erziehung überzugehen. Auch das iſt bezeichnend, 
daß dies Reglement verordnet, die Kinder ſollten ſich zum Kirchgang vor der 
Schule verſammeln, von wo ſie geordnet in das Gotteshaus zu führen ſeien. 
Hier habe der Lehrer auf Wohlverhalten und Stille derſelben zu halten, „wie 
dieſe denn bei aller Gelegenheit ſittſam, beſcheiden, höflich und freundlich in 
Geberden, Worten und Werken ſich erzeigen müſſen“. In wie hohem Grade 
aber Friedrich dem Großen die Volksſchule als Staatsanſtalt galt, erkennt 
man aus der Schlußbeſtimmung jenes Geſetzes, die beſagt, daß die Super— 
intendenten und Erzprieſter jährlich die geſammten Schulen ihrer Juſpection 
zu bereiſen und über den Befund an das Ober-Conſiſtorium zu berichten 
haben. „Winkelſchulen, fie mögen von Manns- oder Weibsperſonen gehalten 
werden, follen hierdurch bei Strafe gänzlich verboten fein.“ Eine Mafrenel 
vorzäglich, die Friedrich ara verdacht worden ift, bat fiherlich nicht am weniajten 
dazu beigetragen, die Schule zum Staatsinftitut zu machen. Als nämlich der 
König 1779 auf einer Imfpectionsreife durch Schlefien ſich bitter darüber 
beflagte, daß er für Oberjchlejien feine geeigneten Schulmeifter finden fünne — 
denn bier jaßen nirgends auf den Gitern Männer wie Rochow —, jo wurde 
ihm gerathen, mit invaliden Eoldaten einen Verſuch zu machen. Mit aröfter 
Bereitwilligfeit ging Friedrich auf diefen Gedanken ein, und trog des Wider: 
ſpruchs des Herrn v. Zeblig gelangte ev zur Ausführung. Daß Die pommerſchen 
und märfifchen Jungen bei vdiejen alten Schnauzbärten nicht viel in litteris 
et artibus gelernt haben mögen, glaube ich wohl; daß ihnen aber dafür die 
eiferne preußiſche Disciplin durch diefe alten Soldaten von Kinvesbeinen auf 
anerzogen wurde, war ein Gewinn, der den Nachtheil der geringeren 
intellectuellen Ausbildung im vollften Maße ausglih. Nicht weniger als auf 
die Volksſchule richtete der große König fein Augenmerk auf die höheren 
Schulen. Sogar die Lehrpläne verjelben waren ein Gegenftand feiner Für— 
forge. „Vom Griechiſchen und Lateiniſchen gehe ich durchaus nicht ab bet dem 
Unterriht in den Schulen“ **), ſchreibt er an den Cultusminifter von Zedlitz. 
In der Imftruction für die Ritter-Afademie hebt er bejonders die Nothwendig— 
feit der Bekanntſchaft mit der neueren Gefchichte hervor. „Die Ereignifie feit 
Karl V. wirken bis auf unfere Zeit fort; feinem jungen Mann, ver im bie 
Welt eintreten will, ift es geſtattet, über Thatſachen umumterrichtet zu fein, 
welche mit der Kette der laufenden Welthändel Europas zujammenhängen und 
auf fie einwirken.“) Der nationale Charakter ver Schule ſoll feinen Ausorud 
befonders in der Pflege ver vaterländiſchen Gefchichte finden. „Mag ein Eng: 
länder Nichts von dem Leben ver perfiichen Könige wiſſen, oder die unzählige 


*) Oeuyr. t. XXVII, troisicme partie, p. 255. Diefe Willensäußerung des 
Königs follte uns viel zu denfen neben. Denn fie fommt von dem Regenten, Der 
wiederholt an die Spite der Unterrichtäziele das Ziel aefetst bat, den Knaben ſelbſt— 
ſtändig denken zu lebren. Vergl. Fiſber .©.7. 

**) Qeuvr. t. IX, p. 79, und übntich t. VII, p. 115. 


9 
Menge von Päpften, welche die Kirche beherrſcht haben, mit einander verwechſeln, 
man wird es ihm verzeihen; aber man wird nicht gleiche Nachjicht mit ibm 
haben, wenn er von dem Urſprung feines Parlaments, von den Gebräucen 
feiner Infel und von den verfchiedenen Gejchlechtern der Könige, die in Eng- 
fand regiert haben, Nichts weiß.“ *) Was die Aufficht über die höheren 
Schulen betrifft, fo wurde fie von Zeblig den Geiftlichen als jolhen genommen 
und Fachmännern übertragen, welde der Provinzial Regierung beigegeben 
wurden. Das war alfo der Grumbitein zur Bildung der Provinzial Schul- 
Gollegien, in denen die Möglichkeit für die Einiqung der Schule gegeben ift. 
Auch dürfen wir bier nicht übergeben, daß Friedrich ſich ſogar für die Ber: 
befferung der Erziehung des weiblichen Geſchlechtes auf das Yebhaftefte inter: 
effirte.e Auf der weiblichen Jugend, jo jagt er, beruhe nicht minder bie 
Hoffnung des Staates ald auf den jungen Männern, und daher dürfe der 
Unterriht der Mädchen nicht vernacläjfigt werden.**) Am Flarften aber 
ſprechen fich einerfeits die Beſtrebungen, welche Friedrich und fein Minifter 
dem Unterrichtswejen und ber Bolkserziehung zumendeten, andererſeits vie 
Grundfäge, nach denen Beide die Schule verwalteten, in den geſetzlichen Be- 
ftimmungen des großen preußiſchen Gefegbuches, des Allgemeinen Landrechtes, 
aus, das zwar erft unter Friedrich's Nachfolger die geſetzliche Sanction erlangte, 
aber durchaus von dem großen König veranlakt und in feinem Geijte ent- 
worfen ift. Der zwölfte Titel im zweiten Theile des Allgemeinen Landrechts, 
welcher von den niederen und höheren Schulen handelt, bildet bis auf den 
heutigen Taa die Magna Charta unferes gejammten Unterrichtswejens. 
„Schulen und Univerfitäten find Beranftaltungen des Staates!” Diefer Sag, 
mit welchen der Titel des Landrechts über das Schulweſen anhebt, ſpricht 
jowohl das Recht als die Pflicht des Staates, den Unterriht der Jugend 
als eine feiner wichtigften Aufgaben zu behandeln, völlig Far und unzwei- 
deutig aus. Darım follen „vergleichen Anjtalten nur mit Vorwiſſen und 
Genehmigung des Staates errichtet werden“ ; auch Privat- Schul- und Er- 
ziehungsanftalten find der Auffiht des Staates unterworfen ; ihm liegt es 
ob, vie wilfenichaftliche Befähigung -Derjenigen, welde an öffentlihen, an 
Brivatichulen oder in den Häufern Unterricht ertheilen wollen, zu prüfen 
und feftzuftellen.***) Wo die Beitellung der Yehrer nicht etwa gewiſſen Perfonen 
oder Corporationen, vermöge der Stiftung oder eines befonderen Privilegti, 
zufommt, da gebührt diefelbe dem Staat. Die Vehrer bei den Gymnaſien 
und andern höheren Schulen werben als Beamte des Staates angejehen. 
Sonach „begegnen wir bei Friedrich der conjequenten Durchführung der Anficht 
von der Schule als Staatsanftalt umd der Anwendung politifcher Grundfäge 
anf ihre Behandluna“.+) Jene Fundamentalſätze der landrechtlichen Schul: 
gefeßgebung hält im Wefentliben aud die Verfaſſungsurkunde vom 31. Januar 
1850 feſt, welche den öffentlichen Lehrern die Rechte und Pflichten der Staats- 
diener verleiht. Auch künftig, jo fcheint es, werden die Grundſätze des großen 
Friedrich die Pfeiler bleiben müſſen, auf die ſich die preußiſchen und deutſchen 


*) Oeuvr. t. L,p. 11, 
**) Oeuvr. t. IX, p. 125. 
***) Aus Fiſcher, Friedrich der Gr. und die Bolkserziebung, ©. 36, 
+) Martin Herb, Friedrich des Gr. Beziebungen zur Univerfität. Nectorats- 
rede. Im neuen Reich 1876, I, ©. 761, 


10 

Unterrichtögefege zu ftügen haben werden. In der modernen Zeit ift die 
Intention, ven Umfang des ftaatlichen Einfluffes auf den Unterricht zu er- 
weitern und aud ſchon auf die Erziehung auszudehnen, in einzeluen Der: 
fügungen der Sculbehörden zu Tage getreten. So ift z. D., und zwar mit 
vollem Recht, verordnet, daß die Penfionen der auswärtigen Schüler nur mit 
Genehmigung des betreffenden Schuldirectors gewählt werden dürfen. M 
letter Zeit enpli bat der Conflict mit der katholiſchen Geiftlichfeit dazu 
Aulaß gegeben, nochmals durch ein befonderes Geſetz die Schule als Staate- 
anftalt zu bezeichnen. Den nothwendig gewordenen weiteren Ausbau der 
Staatsſchule erhofft die Nation von dem im der Berfaflungs- Urkunde ver: 
heißenen Unterrichtsgefeg. Wenn daſſelbe dem in der Geſchichte Breußens*) 
deutlich vorliegenden Entwidelungsgange folgt, jo wird es die geſammie 
rendsie in die Hand nehmen und ſomit nicht ſowohl ein Unterrichts als 
vielmehr ein Erziehungsgejeg jein. 

Daß nämlich jenen Beftrebungen und Verordnungen Seitens hervorragender 
Staatsmänner nur der Wunſch zu Grunde gelegen haben jollte, durch vie 
Schule einen beftimmten Grad von Wiffen, einen rein intellectuellen Schat 
zum Oemeingut des Volkes zu machen, ift eine im fi völlig unbaltbare Ans 
nahme. Im Gegentbeil, wie der Wille fort und fort feine Anregung und 
Direction dur Die Imtelligenz erhält, fo bat die Staatsſchule durch das 
Medium der allgemeinen Bolfsbildung auf die Bolksdisciplin eimwirfen wollen. 
Schon aus Luther's Schriften geht dieſe Abſicht unzweidentig hervor. Durd 
die Katecheje follte dem Volke eine beftimmte Richtung nicht nur für das Denken, 
jondern damit auch für das Handeln gegeben werden. Ja wir finden im ben 
Schulorpnungen ſchon ganz beſtimmte Hinweiſungen darauf, daß der Lehrer 
auch das Betragen ſeiner Schüler, und zwar nicht blos das in der Schul— 
ſtube, in den Kreis ſeiner Beobadtung und Aufſicht ziehen foll.**) Das General: 
Scul-Keglement des großen Königs legt, wie wir oben gejehen haben, dem 
Schulmeiſter die Pflicht auf, „ven Kindern nadızufehen, wie jie fid auf dem 
Wege betragen“. Auf dieſe Weije fol der Volkslehrer zu einem Volkserzieher 
werden. Die höheren Unterrichtsanftalten, und zwar nit etwa blos die ſo— 
genannten gejchloffenen, haben es ftets als ihre Aufgabe betrachtet, wicht nur 
zu lehren, jondern vielmehr zu erziehen, und es galt hier von jeher der Grund— 
jaß, daß qui profieit in litteris nee in moribus, is plus defieit quam pro- 
fieit. Für die innige Verbindung, in der nad deutſcher Auffaſſungsweiſe 
Unterricht und Erziehung ftehen, iſt wohl der ſprechendſte Beweis, daß unſere 
großen Schulmänner fib nie darauf befchränften, die Divactif zu verbejiern, 
fondern ſtets aud in der Pädagogik neue Bahnen wiefen und betraten. Die 
Volksſchule trägt unzweifelhaft in fi) die Intention zur Herbeiführung einer 
allgemeinen Jugenddisciplin, die unter ſtaatlicher Autorität und Controle gehand— 
habt wird. Daflir zeugen z. B. die Polizei-Verorbnungen, welde dem Yehrer 
ein Züchtigungsreht für Vergehungen der Schulkinder auch außer der Schule 
zufpreden, jo z. B. bei Fällen von Thierguälerei, Ausnehmen von Neftern u. |. w. 


*) Auch auferbalb Preußens tritt uns bier und da in deutſchen Staaten = 
aleiche Beftreben, nur weniger conjequent ausgeprägt, entgegen. Bergl. I. Klaiber, 
Hohe Karlsſchule. Im neuen Reich 1876, I, ©. 663. 

**) So verbieten fchen bie Schulordnungen des 16. Jahrhunderts, auch die Gold- 
berger des Reector Trobendorf, das öffentliche Baden, ja das Schlittſchuhlaufen. 


11 

Auch im Volksbewußtſein lebt die Vorſtellung von einer Sittenaufficht, welche 
der Yehrer über feine Kinder ganz allgemein führt. Iſt doch der Fall nicht 
jelten, daß Privatleute das Einfchreiten defjelben gegen Ungezogenheiten von 
Schulkindern in Anfpruch nehmen, ferner daß man das Verhalten der Jugend 
in der Deffentlichfeit zum Maßſtab ver Echulvisciplin nimmt, ja daß Eltern 
in bejonders jchweren Fällen den Vehrer um Beftrafung der eigenen Kinder 
angehen. 

Freilich ift das Imftitut der Staatsſchule feineswegs ohne Widerfpruch 
geblieben. Es iſt bekannt, daß dem Brincip der Schulpflicht gegenüber von 
den ertremen Parteien die Parole der Unterrichtöfreiheit ausgegeben wurde. 
Welche Gefahren aber lettere für das Volksthum in jich birgt, dafür iſt Franf- 
reich ein unwiderlegliches Beifpiel, in neuerer Zeit faſt noch mehr Belgien. 
Nicht blos daß es der größeren Zahl der weniger gebilveten und bemittelten 
Eltern an dem rechten Verftändnig für die große Bedeutung eines geregelten 
Schulunterrichts ihrer Kinder gebricht, nicht blos daß leider vielen Eltern auch 
das nöthige Intereſſe für die fittliche Förderung ihrer Kinder fehlt, jo bemäch— 
tigen ſich auch gar zu leicht in Schulconventikeln ftaatsfeindliche Parteien des 
empfänglichen heranwachſenden Geſchlechts zu ihren bejonderen, dem allgemeinen 
Beſten feindfeligen Zweden. Noch entjchiedener aber wird von manden Seiten 
gegen die Berbindung von Unterricht und Erziehung Verwahrung eingelegt 
und insbejondere dem Staate das Recht abgejproden, die Yugenddisciplin in 
jeine Hand zu nehmen. Dieje jeltjame- Auffaffungsweife gehört zunächſt der 
im Eingang charafterifirten Periode des Subjectiviemus an. Die Gitten- 
aufjicht follte nur injoweit dem Lehrer eingeräumt fein, als fie fih aus dem 
Geſichtspunkt des Unterricht-Intereffes mit Nothwendigfeit ergab. Nur den 
Studienbetrieb ftörende Einflüffe fern zu halten, lag ibm ob. Neuerdings ift 
diefe Aftertheorie, nachdem fie in Deutſchland faft ausgeftorben, wiederum über 
das Meer zu ums importirt worden*) und hat, allerdings nur vereinzelt, jogar 
in den Sreifen von Pädagogen Eingang gefunden. Es ift jedenfalls ver Be— 
achtung werth, daß auf der vor zwei Jahren abgehaltenen Conferenz der Direc- 
toren der pommerjcen höheren Yehranjtalten von den Vertretern einer Anftalt 
ven höheren Schulen die erziehliche Aufgabe völlig abgejproden und die Anficht 
aufgeftellt wurde, „es ſei ohne Frage ganz und gar Sache der Eltern, für bie 
ſittliche Ueberwachung ihrer Kinder außerhalb der Schule entweder unmittelbar, 
wenn fie am Schulort leben, oder durch angemejjene Penſionen zu jorgen; die 
Schule habe ihre Zucht auf den Unterricht und die zu demjelben geforderten 
häuslichen Leiſtungen zu bejchränfen und ihre Rathſchläge und Hilfe in ver 
Erziehung zurüdzuhalten, bis die Eltern folhe begehrten“. Doch haben foldye 
Stimmen glücklicherweiſe feinen Anklang gefunden, Nicht blos ift jenes Yehrer- 
Collegium in Pommern mit feiner Auffaffung allein geblieben, ſondern es hat 
audy die Directoren-Conferenz der Provinz Sachſen im Jahre 1874 einftummig 
die Unmöglichkeit ausgeſprochen, die erziebliche Aufgabe der höheren Yehranftalten 
von der umterrichtlien zu trennen. Und was nocd mehr werth iſt, es ift 
die Anficht, daß dem Yehrer audy die Erziehung der Schüler anvertraut jein 
miffje, nicht etwa nur in den Kreiſen der Fachmänner nahezu allgemein feit- 


*) Bergl. Verhandlungen der erften Directoren - Berfammlung in Sachſen, Halle 
1874, ©. 75. 


ſtehend, jondern ſie ift gewiſſermaßen in Fleiſch und Blut des deutſchen Volles 
übergegangen. | 

Denn nun aber aud dem Zuge unferer geſammten geſchichtlichen Ent— 
wiclung gemäß bei uns in Preußen die Aufgabe von Erziehung und Unter: 
richt als eine nothwendig einheitlihe anerkannt wird, wenn damı zweitens, 
da die Schule ſchon jetzt Stantsanftalt iſt, aud die Erziehung zu einer Sache 
des Staates thatfächlic wird, jo gehen dod im Einzelnen, namentlich über 
die Grenzen der Befugnifje des Staates, die Anfichten nod jo weit ausein- 
ander, daß ein fejtes Ziel, nad dem wir bewußt zu ftreben hätten, nod gar 
nicht ins Auge gefaßt ift, demmad die Gewinnung eines pojitiven Rejultates 
nody in weitem Felde zu liegen ſcheint. Wenn daher über dieſe jo wichtige 
Materie, die offenbar eine fundamentale Stellung bei der Conftruction des 
Unterrichtsgefeges inne hat, namentlich gelegentlih der Directoren-Conferenzen 
die Debatte eröffnet wird, jo ift das eine unabweisbare Nothwendigfeit. Cine 
Nothwendigfeit — auch im Hinblick auf die nicht zu leugnende Bernadläffigung 
der Erziehung Seitens ihrer bisherigen Hauptfactoren, der Familie und ber 
Kirche. Iſt mm aber auch durch das Geſetz die Schule zur Staatsanftalt 
gemacht, alfo der erſte Schritt gejchehen, auch die Erziehung, die ja von Unter: 
richt nicht getrennt werden kann, als Sache des Staates in Anſpruch zu nehmen, 
jo find dod die Gonfequenzen noch nicht gezogen, ja es gewinnt oft den An 
ihein, als ſcheue der Staat jelbjt vor denſelben noch zurüd, wenigitens 
beſchränkt er felbft feinen Einfluß auf die Erziehung des heranwachſenden Ge- 
jchlechtes in einer Weiſe, weldhe, wie wir im Weiteren nachzuweiſen gedenten, 
dem öffentlichen Wohle nicht fürderlib if. Der Staat und der ausübende 
Beamte, d. i. der Pehrer, müfjen fi ein feit begründetes und bewußtes Urtbeil 
über die große Aufgabe, die fie nah dem Gejeg bereits übernommen haben, 
bilden, wenn fie anders ſich derjelben gewachjen zeigen wollen. Mit den wei— 
teren Rechten hat der Staat auch jchwerere Pflichten auf fich genommen. Unt 
nod ein anderer Geſichtspunkt ift hier feitzuhalten. „Wie Die Kirche im Mittel: 
alter gerade dadurch ihre Machtjtellung gefchaffen, daß jeder ihrer Diener, ber 
oberjte Kirchenfürſt ſo gut wie der jüngſte Lehrer an.der Domſchule, von der 
Intention derjelben durchdrungen war, jo müſſen aud wir heute, um das 
Staatsideal zu verwirklichen, auf Grund eingehender culturhiftorifcher Studien 
den Zug der Gejchichte verftehen lernen und im Einklang mit deren Rejultaten 
uns eine feſt begründete Anficht über die Aufgabe des Staates umd das zu 
erjtrebende Ziel verjchaffen. Ehe unfere Staatömänner nicht das ſchwierige 
Problen, die Schule in das Gefüge des modernen Staates zwedmäßig ein— 
zugliedern, ebenjo gut zu löſen wifjen, wie die mittelalterliche Kirche es ver- 
jtanden bat, Univerfitäten, Dom- und Kloſterſchulen in ihren Dienft zu nehmen, 
werden wir den jegigen Zwitterzuftand im Stantsleben, der je länger deſto 
drüdender wird, nicht überwinden.“ *) 

Nach Maßgabe unferer Kräfte einen Kleinen Beitrag zur Erreihung dei 
Verſtändniſſes für das, was die deutſche Schule als Staatsinftitut auch auf 
dem Gebiete der Erziehung zu leiften bat, zu liefern, ift unſere Abſicht gewejen. 
Denn mit Rüdjicht auf die demnächſt in der Landesvertretung bevorjteheikven 





*) Sp ungefähr jchrieb mir vor zwei Jabren Herr Prof, Laas in Straßburg über 
diefe Frage, 


13 





Beratbungen über das preußiſche Unterrichtsgejeg, das nicht ohne den ein- 
ſchneidendſten Einfluß auf die Berhältniffe von ganz Deutſchland bleiben Tann, 
pürfen derartige öffentliche Beſprechungen wenigjtens den Anjprud erheben, 
einer patriotifchen Gejinnung zu entjtammen, 


3. 


Lockerung des Bandes der Familie in dem ſich vervoll- 
kommmenden Stantswefen, Familien- und Staats- Erziehung. 


Wenn auch die Entwidelung des einzelnen Menſchen im Diesfeits ihren 
Abſchluß micht findet, wie wir gläubig vertrauen, fo tft ihm doch unleugbar 
die größte Sorge dafür eingepflanzt, daß die irdijche Arbeit, wenn er vieje, 
durch den Tod abgerufen, verläßt, in feinem Sinne fortgefegt wird. Dies tt 
jo jehr der Tall, daß den menjchlichen Geift noch im Augenblid jeines Ab- 
jbeidens neben dem Gedanken an jeine bevorftehende Vereinigung mit Gott 
der am meijten zu bejchäftigen pflegt, welchen Händen er die Weiterführung 
jeines Werkes anvertrauen ſolle. Noch mehr! Die Erreihung irdiſcher Ziele 
kann ihm jo wichtig erjdeinen, daß er am dieſelbe fogar das Leben freudig 
dranfett, in der tröftlihen Gewißheit : 

Wo immer müde echter 
Sinken im blutigen Strauß, 
Es fommen andre Gejchlechter 
Und fechten es muthig aus. 

Hier ift alfo die Quelle der moralijhen Seite des Yortpflanzungstriebes. 
Allein die bloße Eriftenz der Nachkommenſchaft gibt noch feine Gewähr für 
den weiteren Bejtand oder Ausbau unferer Schöpfungen. Dazu gehört viel- 
mehr, daß das heranwachſende Geſchlecht in eine ſolche Verfaſſung gejett werde, 
daß es uns in unſerer Wirkſamkeit dort ablöſen könne, wo wir durch den Ein— 
tritt des Todes oder durch die allmählich ſchwindende Körperkraft und Geiſtes— 
friſche zum Abtreten vom Schauplatz der Thätigkeit genöthigt werden. Bis 
dahin aber wollen wir in unſerer Jugend ſchon Gehülfen der Arbeit ſehen. — 
Nun finden wir im Alterthum überall, daß anfänglich die Familie die Form 
iſt, welche dem einzelnen Menſchen ſeine eigenthümliche Lebensaufgabe anweiſt 
und eine eigen geſtaltete Lebensidee eingibt. Erſt in zweiter Linie wirkt der 
Staat, der den Beſtand der Familie vorausſetzt, beſtimmend auf den Einzelnen 
ein. Was iſt daher natürlicher, als daß in der Familie mit ihren beſonderen 
Traditionen, ihrer beſonderen Lebensauffaſſung, ihrer beſonderen Ehre, ihren 
beſonderen Kulten die Kindererziehung beſchloſſen liegt, alſo eben in der In— 
ſtitution, die ja auch phyſiſch den Fortbeſtaud des Menſchengeſchlechts vermittelt? 
Daher galt es bei den Juden wie bei den Griechen und Römern — ich ſehe 
hier von den beſonderen Verhältniſſen der Kaiſerzeit ab — nicht ſowohl für 
den Staat als vielmehr für die Familie als ein Unglück, wenn der Kinder— 
ſegen ausblieb. Dieſes wurde, je weiter wir in die Vorzeit mit Hülfe der 
erhaltenen Denkmäler zurückgehen, deſto tiefer empfunden. Allerdings trat der 
Staat mit jeinen Geſetzen da ein, wo durd das Ausbleiben des Nachwuchſes 
der Beſtand der Familie gefährdet war, nicht aber in feinem Intereffe, ſondern 


14 

in dem der Namilie, für deren Forteriftenz er zu jorgen hatte. Wooption und 
Yevirats-Ehe waren derartige Einrichtungen, um die in dem einzelnen Geſchlecht 
überfommenen Weihen, Gottespienjte und Opferverpflichtungen auf die Nach— 
welt fortzupflanzen. Denn die Familie ftellt jih in allen Beziehungen als 
die eigentliche Yebensform dar. An fie ergehen die göttlichen Verheißungen, 
fie haben die Verwaltung dar Götterculte, ftellen aljo die Verbindung zwiſchen 
der Gottheit und dem Menſchen ber, in ihnen vererben fich nicht nur politijche 
Rechte und materielle Beſitzthümer ſondern auch amtliche und priefterlide Ver— 
richtungen, Kenntniffe und Fertigkeiten. So gingen, um von dem ägyptiſchen 
und indiſchen SKaftenzwang bier abzufeben, die priefterlihen Vorrechte vom 
Bater auf den Sohn über in den Geſchlechtern der Leviten, der Gephyräer 
und der WPotitier, jo pflanzte ſich in den Dichter- und Künftlerfamilien Griechen: 
lands die Pflege von Kunft und Wiſſenſchaft fort. An die Mitgliedſchaft in 
einer Familie knüpfte ſich das ſtaatliche Bürgerrecht, und in dem pater familias 
fand ſich jedes Familienglied in der Gemeindeverfammlung vertreten. Das 
war die Zeit, wo die Familie das verjüngte Abbild eines Staates und dieſer 
das vergrößerte Bild einer Familie zeigte. Wie der Loy» über den Staat, 
jo berrichte der pater familias über die Frau, die Kinder umd die Sclaven, 
über die Erjtere mehr rrodırızws, d. b. unter Vorausſetzung gleicher Rechte, 
über die Kinder Aacıkızas, über die Sclaven deomorinwc.*) Bei dieſer 
Eigenartigkeit und Abgeichlofienheit der Familien alſo ift es fein Wunder, 
wenn jid die Erziehung der Kinder völlig in ihrem Schooß vollzieht. 

Almählid aber wuchſen die ftaatlih verbundenen Familien mehr und 
mehr zu einer Einheit unter fih zufammen. Während die Familienverbände 
in dem Ctaatsverbande immer merklicher aufgingen, ward dem Staat ein 
eigenthümlicher etuheitliher Charakter in demſelben Grade aufgebrüdt, in 
welchem die Familien den ihrigen verloren. Das wachſende Staatsbewußtſein 
fand feinen Ausdruck auch im der geſetzlichen Feftitellung einer ſtaatlichen 
Beauffichtigung der heranwachſenden Jugend. So in der Soloniſchen Geſetz— 
gebung, in welcher ſich ſowohl Beſtimmungen über das jchuipflichtige Alter 
und die Gegenftände des für jeden Bürgerfohn obligatoriſchen Elementarunter- 
richts finden, als auch eine Sittenaufficht Über die Jugend dem Areopag zu— 
geſprochen wird.** Die Anfäge zu einer Staatserziehung find biernad bei 
den Athenern unzweidentig vorhanden. Im Yaufe der weiteren politifhen Ent: 
widelung blieb zwar die äußere Form der Familie bejtehen, ihres eigenthüm— 
lihen Inhaltes aber und ihres Geiftes wurde fie mehr und mehr beraubt. 
Das Familienleben ging immer mehr in ein öffentliches über, das Familien— 
gefühl erſtarb. Dabei litt die Kindererziehung im der Familie Schaden. Es 
hätte, jo jcheint es, num zwei Wege gegeben, auch für die Folgezeit ein ſtarles 
Geſchlecht heranzubilden; entweder mußte die Familie als folde von Neuem 
gekräftigt werden, oder mit Benutzung der ſchon vorhandenen Anſätze das 
Prinzip der Staatserziehung zur vollkommenen Durchführung gelangen. An 
den erjteren Weg hat damals Niemand mehr gedacht, und es war wohl aud 
ummöglic, der Familie eine neue Grundlage zu ſchaffen, nod weniger möglid, 
die alten, morjc gewordenen Stüten verjelben neu zu feitigen. Einem Yeichnam 


*) Vergl. Aristol. Nie. Eth. VIII, 10, 4 und 5. (cap. 12 bei Better). 
**) Bergl. E. Eurtius, Griechiſche Geſch. I, ©. 275, 


15 
kann man eben nicht neues Leben einbauen. Das andere Heilmittel empfablen 
Bhilofopben und Staatsmänner. Allen die Annahme deſſelben fjcheiterte an 
dem im dieſer Zeit herrſchenden Subjectivismus, der felbjt an den ftaatlichen 
Grundlagen ſchon rüttelte. Wie die Einigung der Griechen zu einer Nation, 
welde der Keim für eine neue, höhere Entwidelungsphaje des Hellenenthums 
hätte werden können, durch die Unfähigkeit dieſes Bolfes, das Ich in der Liebe 
und Hingebung an das Ganze aufzuheben, vereitelt wurde, jo lag es ihrer 
Sinnesart noch ferner, die ſtarre Autorität des Staatsgeſetzes den Kindern 
aeaenüber zur Geltung zu bringen. So blieben denn zwar die aejeglichen 
Beſtimmungen, durch die dem Staat ein Auffichtsrecht über die Sitten ber 
Jugend eingeräumt war, formell beftehen, aber zu einer fraftvollen und heil— 
famen Ausübung diefes Rechtes und zu einer Weiterentwidelung jenes Prinzips 
ließ e8 die allgemeine Ungebunvenheit des griechiſchen Lebens nicht mehr kommen, 
jo nothwendig diefelbe auch für den Beltand des Staates geweien wäre Die 
Pädagogen und Grammatiker wirkten nad wie vor im privaten Auftrag, aber 
es mußte ihnen natürlih von dem Augenblide an die rechte Autorität fehlen, 
da der Familienvater ſelbſt feine Theinahme an der Kindererziehung mehr 
bewies. Und wenn auch wentaftens die Turnſchulen durd den Gymnaſiarch 
eine ftaatlibe Beauffichtigung erfuhren, jo war dod die hier gebotene Bildung 
nur eine äuferliche und Fonnte einer Jugend nicht genug bieten, die zu ber 
Löſung der Aufgabe eines pericleiihen Staates berufen war. Dazu fam,: daß 
die Staatsaufficht je länger je mehr beveutungslos wurde. Den lebten Reft 
von Autorität büfte fie ein, als fie nicht mehr vom Areopag jondern von den 
jährlih vom Volk gewählten Sophroniften geübt wurde.“) Wie hätte wohl 
dies Kollegium mit Erfolg in einem Volke wirken follen, das durch das 
Sophiſtenunweſen der ſchrankenloſeſten Zügellofigfeit anheimgefallen war, und 
dem der Sat als Ariom galt: dewor slvaı, el un rıs daacı vor djuor 
noarısıv, 6 dv Bobkmaa.*) 

Während nım das eben noch hoffnungsreihe Athen aus dem Zuftande 
der höchiten Blüthe, faft ohne jedes Zmifchenftadium, an den Rand des Ber- 
derbens gerieth, und feine berühmten Mauern ımter Flötenjhall von den Pelo- 
ponnefiern eingerifien wurden, richteten fi die Aunen der xadol xayadol 
in allen griechiſchen Landen, auch in Athen felbit, auf einen Staat, zu defjen 
Gunſten foeben das Kriegsglück entichieden hatte, und deſſen Berfaflung auf 
wejentlih anderen Grundfägen berubte als die der anderen helleniſchen 
Staaten. Sparta ſchien feine Probe beftanden zu haben. Hier war jeit Lycurg 
die Staatserziehung in ihrer fchärfiten Ausprägung in Geltung. Die Familie 
batte ja auch nach der Berfaffung des genannten Geſetzgebers bei der völligen 
Sleichberechtigung der Spartiaten feinen einenen Gedanfen zum Inhalt, ımd 
folgerichtia war die Erziehung der Jugend dem Staat übergeben, der eine 
Idee verkörperte, nämlich die der unbedingten Staatshoheit. Schon im Alter- 
thum bat es nicht an Gennern der fpartantfcher Berfaffung gefehlt. Der 
Erfte, der über fie unmuthigen Tadel ergoß, war wohl Pythagoras, der es 


*) Bergl. E, Curtius, Griechifche Geſch. II, S. 137. 
**) Hen. Hell, 1, 7, 12. Das Volk von Atben wollte in dem Prozeh gegen bie 
zehn Feldberren der Arginufen » Schlacht feine ſouveräne Gewalt nicht einmal durch 
die beftebenden Geſetze beſchränkt wiffen: 
Radttke, Welcher Antheil ıc. 2 


16 


für Das aröfte Unrecht erklärte, Kinder und Eltern auseinander zu reifen. 
Heut zu Tage hat man fi fogar gewöhnt, den Berfall des ſpartaniſchen 
Staates gerade aus dem Mangel der Familie, Des bäuslichen Yebens, der häus— 
lihen Anregungen und gemüthlichen Einprüde auf dem Gebiete der Kinder: 
erziehung berzuleiten. Aber man überjieht, daß die Auflöfung Spartas viele 
Jahrhunderte nach Einführung der Staatserziehung erfolgte, ſodann daR einer: 
ſeits die Eriftenz der Familie, andrerjeits der Einfluß der Eltern, nameutlich 
der Mutter, auf die Kinder trog der Ztaatserziehung hiſtoriſch nachweisbar 
it. Iſt Doch das Alterthum voll von Berichten über das Anfehen, das die 
ſpartaniſchen Matronen gleich jehbr bei den Männern wie bei den Kindern 
aenofien, und mehr al& eine Anefvote ift aufbewahrt, aus der hervorgeht, dak 
der Frau in Lacedämon mit viel größerer Ehrerbietung begegnet wurde als 
jonft im griechiſchen Landen. Der Berfall dieſes Staates ıft auf ganz andere 
Gründe zurüdzuführen, vor allem auf den, daß feine Berfaffung zu conier- 
vativ gegründet war, als daß fie, wie es die Erweiterung der politischen Be- 
ziehungen zu den Nachbarſtaaten erheifchte, zeitgemäß hätte verbeflert werten 
können. Im der ſpartaniſchen Stantserziehung aber befenne ih eine, wenn 
auch nicht materiell in allen Theilen, jo doch formal und prinzipiell für ung, 
wie ein Mal beute die Verhältniſſe ſich geftaltet haben, vorbildliche Inſtitution 
zu erbliden. Die Theilnahme der Mädchen an verjelben und die eneratice 
Ausprägung des Staatsgedanfens find Züge, durch welde die jpartanifche Er- 
ziehung in Griechenland einzig daftand, und die unſer Staat bei der Feſi— 
ftellung des Unterrichtsgeſetzes nicht ungeftraft außer Act jeten dürfte Doc 
wir Dürfen die hiſtoriſche Meberficht über den Gang, den Die Jugenderziehung 
bei den Culturvölkern genommen bat, nicht unterbreben und ebenjowenia der 
Darlegung unferer erziehlichen Bedürfniſſe hier vorgretfen. 

Bei der Conjequenz, mit der fib der Staatsgedanfe in Rom Bahn at 
broden und in allen Lebenskreiſen geltend gemacht bat, ſtand wohl zu erwarten, 
daß dort auch Die Erziehung ſehr bald unter ftaatlibe Aufſicht und ftaatlicen 
Einfluß treten würde, wenigftens von der Zeit ab, da das Haus feinen eigen- 
thümlichen Geift verloren hatte und das Bolf in feiner Geſammtheit zum 
Träger der die Geifter beherrjchenden Idee geworden war. Dem war befanntlid 
nicht jo. Nicht als ob die Familie eiferfüctig das Recht der Jugenderziehung 
fi) gewahrt willen wollte, — die Familie entbehrte im Gegentheil im ven 
legten Zeiten der Republik fajt durchweg eines inneren Zuſammenſchluſſes“), 
wie denn ein Mann, der zur den fittlih ernfteren und würdigeren Charakteren 
jeiner Zeit zählt, Cicero, fein Bevenfen hatte, fi ohne triftige Gründe nad 
einem mehr als 30jährigen ebelichen Yeben von feiner Jugendgemahlin zu 
ſcheiden, — nur der Sinn fiir Unterordnung zum Beten des Staates war 
gänzlich erftorben. Die Kaiſer beichränften zwar die patria potestas**), aber 
die Rechte und Pflichten der Kinvererziebung verblieben unverkürzt dem Haufe. 

Sp haben wir nım aejehen, daß es im Altertbum — abgejehen von 
Sparta — zu einer Staatserziehung auf dem Wege der politifchen Entwidelung 


*) Rezeichnend bierfür ift 3. B. Cie. de offieiis II, 23, W, 

*0*) Das römifche Hausrecht, nach dem fein Beamter des Staates ohne Einwilli 
gung des pater familias deflen Haus betreten durfte, fiel ebenfalls erit in ber 
Kaiſerzeit. 


17 
nicht fam, weil 1) zu der Zeit, wo die Familie bie Erziehung an ven 
Staat hätte abgeben müſſen, die Geiſter zu einer Unterordnung unter das 
Allgemeine nicht mehr befühigt waren, 2) weil e8 den damals wirkenden 
Staatsmännern an dem Geſchick zu jchöpferiichen und organifirenden Ihaten 
gebrach, welches nach einem Geſetz der Weltgefchichte nur in Zeiten nationaler 
Kraft gefunden wird. 

Das Chriſtenthum durchgeiſtigte die Kultur der alten Welt, namentlich 
die griechiſche Philoſophie, und das Germanenthum trat als Erbe der Nömer 
in die Weltherrichaft ein. Dieje beiden neuen Vebenselemente begründeten 
durch ihre gegenfeitige Durchdringung ein neues Zeitalter. Für die Geſchichte 
der Erziehung ift das Chriftenthum in vielfacher Hinſicht von höchſter Bedeu— 
tung geworden. Wir betrachten hier nur die Seite der chriſtlichen Erziehung, 
die für die gegenwärtige Betrachtung Intereſſe hat. Das Chriſteuthum jtellte 
alle Menſchen in noch höherem Grade und confequenter, als es der Steicis- 
mus fon gethan, als Eraigos bin, die unter ſich völlig aleichberechtigt find. 
Die Familie wird keineswegs aufgehoben, vielmehr ihre jüttliche Seite mehr 
bervorgefehrt ımd dabei der Frau die gebührende Stellung zugewiefen ; allein 
in ter Gemeinſamkeit des Glaubens und Lebens der erjten Chriſten liegt es 
nothwendig, daß die Abgeichlofienheit der Familie nad Außen fällt. Da un 
alle Menſchen Kinder Gottes find und demnach in gleichen Grave Anſpruch 
auf Erziehung haben, fo ift damit die Grundlage zu dem neuen Prinzip der 
allgemeinen Bolksbildung gegeben. Und da” jegt nicht mehr, wie bei ven 
Griechen und Römern, die Familie ihre bejonvere ſchützende Gottheit beſitzt 
und verehrt, fondern alle Menichen ohne Rüdjicht auf ibre Abjtammung ben: 
jelben einigen Gott anbeten, jo ift aud der Grund gefallen, die Unterweifung 
und Erziehung der Kinder im Schooße der Familien ſich vollziehen zu Laffen. 
So iſt e& denn Karl der Große, wie wir oben ſchon nachwieſen, der zuerjt 
diefen Gedanken einer allgemeinen Erziehung des Volkes durch ftaatliche Ber- 
anftaltung zur Ausführung zu bringen ſuchte. Nach langer dunkler Zeit ift 
es dann wieder Yuther, der das Verſtändniß für Diefe jo wichtige Aufgabe 
des Staates bei Fürſten und Städten wedt, und die Hohenzollern haben 
gerade in ihren hervorragendſten Vertretern diefe Sorge mit dem vollen Bewußt— 
fein ihrer Wichtigkeit in ihrer Eigenſchaft als Negenten für ſich in Anſpruch 
genommen. Wohl uns nun, dag wir heute alle Beringungen erfüllt und 
überall den Boden vorbereitet finden, um die Erziehung der Jugend auf den 
Staat Übertragen zu können, da die Familie in ihrer beutigen Gejtalt die 
ſchwere Verantwortung für Diefelbe allein auf ihren Schultern zu tragen ſich 
keineswegs durchweg mehr fühig zeigt. 

Das öffentlibe Leben unferer Nation nimmt jetzt derartig alle Kräfte 
für ſich in Anspruch, daß alle anderen Intereffen zurücktreten, alle Gemein- 
Ihaften nnd Verbände, die nicht politifher Natur find, an Bedeutung und 
Zuſammenſchluß mehr und mehr verlieren. Ich erinnere an die Zünfte, an 
die wiffenichaftlien Bereinigungen, an die Verbindungen umter den Berufs: 
genofien, jelbft an die Ständennterjchiede, ja jogar am die Gliederungen nad) 
kirchlichem Bekeuntniß, — deren Stüßen und treunende Zchranfen fallen mehr 
und mehr. Hat doc jelbit der Stand viel von jeiner Abgeſchloſſenheit ein: 
gebüßt, ver als ein Staat im Staate mit befonderer Berfaffung, mit eigenen 
Geſetzen, Gerichten und Pebensauffafiungen beſteht, der Ztand ver Berufes 

2* 


18 


folvaten. Hat doch felbit fo feite Bande wie die des Freimaurerordens, die 
Berfolgungen aller Art nicht zu löſen vermochten, der nivellivende Geiſt ver 
Neuzeit gelodert. 

Und die Familie? Auch fie trägt feinen einenthümlihen, nad außen 
abaejchloffenen Charakter mehr. Ihre Befonderbheiten und ihre Privilegien 
find der Reihe nach durch den weiteren Berband des Staates abforbirt worden, 
von der Blutrache und dem alten jus talionis an, Das einft 3. 3. der 
Gründung des Staates fo ſchwer fih einfchränfen ließ, bis auf tie letten 
politifhen Vorrechte, die bis im unfere Tage hinein fid einzelne Familien 
von hohem Adel vem Staat gegenüber zu erhalten gewußt haben. Daher ift es 
fein Wunder, daß auch das Gefühl für Familienehre beute fange nicht mehr ie 
rege mie in früheren Zeiten ift, wo bie ımfittlibe Handlungsweife des Mit: 
aliedes einer Familie diefer im Ganzen einen ımtilabaren Makel zufügte. 
Die Familie gilt überhaupt nicht mehr als die Yebensform, in welcher ver 
Menſch feine nächte Beftummung findet. Es ift ein nicht abzumeifendes Zeichen 
der veränderten Vebensauffaffung, daß von Jahr zu Jahr, und zwar im allen 
Ständen, der Procentfat derer fteiat, Die eine Che gar nicht mehr eingeben. 
Und wenn man beute, und zwar mit Necht, klagt über den Mangel an Häus— 
lichkeit beit Männern und Frauen, fo liegt der Grund zum Theil allerdings 
in der fteigenven Genußſucht ımferer Generation, aber mehr nod in dem 
nicht mehr einzudämmenden Drange in das öffentliche Yeben. Kür vie Ver: 
äußerlichung des Namilienlebens gibt es feinen fchlagenderen Beweis als die 
Einrichtung der heutigen Ramtlienwohnungen, die in den eigentlichen Familien— 
zimmern eine ungebübrliche Vernachläſſigung, in den Geſellſchaftsräumen eine 
maßloſe Verſchwendung erkennen Lafjen.*) Soll ich num noch auf Die in umferer 
Zeit auf der Tagesordnung der focialen Umwälzung ftehende Frage der Frauen— 
arbeit hinwetien ? Jene Worte, die vor vier Dahren der General: Rojtmeiiter 
Stepban im Neichstage bezüglich der Zulaffung der Frauen zu Aemtern ver 
Staatöverwaltung ſprach, welchem ernfteren Charafter, welchem um das Wobl 
des Baterlandes fjorgenden Mann wären fie nicht aus der Seele geſprochen 
geweien? Und doc kann ich mic dem Gedanken nicht verjchliefen, daß alle 
vetardirenden Maßnahmen der Regierung, die etwa in dem Sinne ergriffen 
werden möchten, die Frau auf den Kreis der häuslichen Arbeiten einzufchränfen, 
doch im Grunde wenig helfen werden. Cie werden e8 unjerer Meinung nad 
um fo weniger, als auf gewiffen Gebieten der Staat felbit jenen Grundſätzen 
zuwider handelt. Denn was heißt es anderes, als die Franenarbeit außer dem 
Haufe begünftigen, wenn das Cultusminiſterium die Anstellung von Yehrerinnen 
in immer weiterem Umfange zuläßt? Im wie weit diefe Concurrenz dem 
Intereſſe der Schule dient, ift bier nicht der Ort zu unterfuchen. Wie dem 
aber auch jei, tft denn micht Die Frauenarbeit in gar vielen Familien geradezu 
eine VPebensfrage geworden? Nicht mehr bloß in den arofen Städten arbeitet 
jo mande Hausfrau ftatt für ibre Häuslichfeit fir den Yaren. Da wird die 
Familienküche aufgehoben und jomit der Familtentifh, auf var die Frau Zeit 
gewinne, gleich dem Mann fir den Unterhalt, öfter aber zur Weftreitung von 
Luxusausgaben zu arbeiten; da forgt für die großen und auch ſchon für die 


*) Hierauf macht mit vollem Recht der VBerfaffer der Briefe über Berliner Er- 
ztebung aufmerkſam. 5. 14 und ff. 


19 





Heinen Bebirfniffe an Wäſche und Kleidung nicht mehr die in allen Künſten 
der häuslichen Arbeit wohl unterwiejene Hausfrau, jondern der „billige Yavden“. 
Wer da glaubt, daß dies bedeutungsloſe Kleinigkeiten find, der fennt den ge— 
beimnigvollen Zauber nicht, der für Mann und Kinder gerade darin liegt, 
daß die Handarbeit der Hausfrau unmittelbar den Yamilienglievern zu Gute 
fommt. Und wie anders müfjen auch Mutter und Töchter am Haufe hängen, 
an deſſen Mobiliar fie mit jtiller Freude ihre eigene Thätigfeit nachweiſen 
fünnen! Aber freilih billiger jtellt ji das im Yaden gekaufte Hemd, wenn 
dafür die Zeit der Mutter und der Töchter für die beffer bezahlte Handarbeit 
oder für die Ertheilung von Unterricht frei wird. Wo gibt es dba 
diefer Thatſache gegenüber eine Beredfamfeit, und hätte fie Engelszungen, 
welde die Frauen vermöchte, zu der Sitte ihrer Mütter zurüdzufehren und 
lieber jelbjt die Wäfche für ven Mann und die Kinderanzüge zu fertigen, auf 
den baaren Verdienſt aber zu verzichten? Wer, wie der Verfafler, das Glüd 
gehabt hat, in einer altwäterifhen Familie aufzuwachſen, der mag es wohl 
tief beklagen, daß die heutige Zeit ſich Ddiejes gemüthvollen Zuſammenſchluſſes 
am Familienherve mehr und mehr entſchlagen zu fünnen glaubt, aber dem 
Staatsmann geziemt es, auf die Zeichen der Zeit zu achten und neue wirk— 
ſame Inftitute zu Schaffen, wenn die alten ihre Kraft zu verlieren beginnen und 
ihren Verpflichtungen nicht mehr gerecht werden. 


4. 
Die heutige Familienerziehung, 


Wem entginge es wohl, daß die Tamilienerziehung längft das nicht mehr 
leiftet, was fie zum Wohle des Ganzen zu leiften verpflichtet it? Alle päda— 
gogiſchen Schriften der Yetztzeit find voll von Schilderungen der entweder ganz 
mangelnden oder doc verkehrten Zucht im häuslichen Streife. Schon im Jahre 
1845 Hagte ein um das Volkswohl ernftlich bejorgter Mann:* „Wo tft die 
patriarchalifhe Form unferer Hausväter, wo die Zeit, da ihr Wort noch Geſetz 
war? Fuimus Troes! Wo iſt das Verharren unferer Hausfrauen in ver- 
borgener Zurüdgezogenheit? Aus Frauenzimmern find Frauengafjen geworben, 
wie Abraham a Sancta Clara jagt.“ Und an einer andern Stelle derjelben 
Schrift: „Es fehlt an Müttern. Die befjere Zukunft fommt nur von den 
Müttern.“ Auch Raumer bridt im jeiner Geſchichte der Päragogif**) in 
diefelben Klagen aus und führt die VBernachläffigung der Erziehung des 
heranwachſenden Geſchlechts theils auf die mangelnde Befähigung der heutigen 
Familie für diefe Aufgabe, theils auf das ihr mehr und mehr abhanden 
fommende Interefje für eine gute Kinderzuct zurüd. Selbſt die Schmid'ſche 
Encyelopädie erkennt in einer Reihe einſchlägiger Artikel die Unvollfommenheit 
der modernen Privaterziehung offen an. Und welcher Lehrer wüßte nicht über 
dies Gapitel aus feiner eigenen Praris gar Trauriges zu beridhten? Die 
Einen ſuchen die Berantwortung fir das Förperlihe und geiftige Gedeihen 


— 


*) Scheinert, — des Vollkes, 1845, 
**) Bd. II, ©. 452. 





ihrer Kinder fo zeitig als möglich auf andere Schultern zu wälzen. Nicht 
erwarten fünmen fie es, bis das fchulpflichtige Alter die Uebergabe ihrer Kinder 
in die Pflege und Aufficht der Schule möglih macht und damit im ihren 
Augen die Befreiung von der läſtigen Verantwortlichkeit für das Verhalten 
derjelben herbeiführt. Die große Beliebtheit, deren ſich die Kleinfinderbewahr: 
anftalten, die Spielſchulen und die Kindergärten, Echöpfungen unſerer Zeit, 
zu erfreuen haben, iſt charafteriftifch fir den Begriff, ven fich heute die große 
Mehrheit ver Eltern von ihren Pflichten gegen die Kinder madt.*) Andere 
Väter und Mütter haben eine jo verkehrte Yiebe zu ihren Kindern, daß fie, 
bejeelt von dem Wunſch, diefe nicht zu betrüben, eine jo weitgehente Nachſicht 
gegen fie in Anwendung bringen, daR fie einerjeits feinerlei Genüſſe ihnen 
verjagen, andrerjeits jelbit bei groben Unarten Strafen zu verbängen ober 
and nur ernſtliche Mißbilligung zu äußern ſich nur ſchwer oder gar nicht 
entichliegen fünnen. Wachjen ihnen dam, wie ja umvermeidlich tft, die Kinder 
über den Kopf, dann bitten fie wohl den Yehrer um jeine Mithilfe, erfolgt 
fie aber mit der möthigen Energie, fo macht fid) jofort wieder bei ihnen eine 
Regung der Schwachheit geltend und fie nehmen nun das Kind gegen denſelben 
Vehrer in Schuß, deſſen ſtrafendes Eintreten fie eben noch ſelbſt begehrten. 
Solche Imconfequenz ift ums in unſerer Yehrerpraris nicht nur ein Mal ent: 
gegengetreten. Die Verkehrtheiten jo mander häuslichen Erziehung, welche 
für bloße Ungefchidlichkeiten des Kindes, z. B. wenn es eine Taſſe zericlagen 
hat, die Strafe ftrenger bemißt als für ſchwere fittlihe Vergehen, z. B. für 
Vüge, weldye aus Unfenntnig der Folgen Ungehorjam jtraflos ausgehen läft, 
— dieſe und ähnliche Berfehrtheiten, Die doch das Kind ſchwer ſchädigen, bier 
erihöpfend aufzuführen iſt unmöglich; es muß genügen, hier nur Darauf hin— 
zumeifen. Dazu fommt nun, was die die höheren Lehranſtalten bejuchente 
Jugend anlangt, daß ein erheblicher Theil derjelben jeine private Erziehung 
in Penfionswirthichaften erhält. Daß diefe in verhältnißmäßig feltenen Fällen 
ihre Aufgabe richtig auffaffen und mit Ernſt zu löfen ſuchen, iſt eine all- 
befannte Thatfahe. Die Schule begegnet bier im der Negel theils in Folge 
mangelnden Verſtändniſſes für ihre wohlgemeinten und wohlerwogenen An— 
ordnungen, theils in Folge tadelnswerther Nachgiebigfeit gegen den eimen 


*) Schr ſcharf geht der Verfaſſer der Briefe über Berliner Erziebung mit den 
Kindergärten ins Gericht. „Diefe Anftalten (nämlich die Kindergärten) find noch nit 
alt genug, um die Größe des Bortheils oder Nachtbeils, den fie den Kindern gemäbren, 
ganz ermeilen zu können, nad meinen bisherigen Erfabrungen ift der letztere größer als 
der erftere: ich babe wiederboit wahrnehmen müflen, daß Knaben, welche in der Metbode 
der Kindergärten Jahre laug erzogen worden waren, noch von neun und zehn Jabren 
eine Art Traumleben führten, aus dem fie kaum aufzumweden waren; das Anſchauungs— 
vermögen war fo einfeitig anf often der übrigen Kräfte, namentlich des Berftandes, 
ausgebildet, dak fie zu munterer Aufmerkſamkeit und leichter ſcharfer Auffaffung ganz 
unfäbig waren. — — — Der Ausbrud, den man zuweilen bört, in den gebildeten 
Kreifen feien die Kindergärten nur für Stiefmütter und faule Mütter da, mag bart 
Hingen, trifft aber volltommen die Sade, nur wiirde ich noch binzufügen: und für 
jene eitlen, flachen Gejchöpfe, die Mütter zu beißen Überbaupt nicht verdienen, — — — 
Ich wäre wohl begierig die Antwort zu bören, wollte man folhe Mütter einmal fragen: 
„Im welder Zeit erziebt Ihr denn nun Eure Kinder ?“* Die Notbwendigfeit dieſes 
Inftituts wird ſich trot alledem für unſere Zeit nicht mehr beftreiten laſſen, im ber 
nun einmal viele Mütter die Negierung im bänslichen Kreiſe nicht mebr für ibre erſte 
und liebſte Aufgabe halten. e 


21 

materiellen Gewinn bringenden Penfionär einer heimlichen Oppofition, die um 
jo gefährlicher wirkt, je mehr jie zugleih dem Schüler die Offenheit umd 
Aufrichtigkeit gegen den Yehrer abgemwöhnt und damit das Vertrauen zu ihm 
untergräbt. Endlich ift nicht zu überfeben, daß die höheren Schulen viele 
ihrer Zöglinge aus den unteren Ständen erhalten, die mit ihrem Eintritt in 
die oberen Klaſſen ſich gewiſſermaßen über das geiftige Nivean ihrer Eitern 
erheben und daher Yegteren in den meiſten Fällen eine Achtung einflößen, 
die fie unfähig macht, Das Erziehungswerk fortzujegen. So hört denn gerade 
bei diefer Klaffe von Jünglingen der bejtimmende Einfluß der Erwachſenen in 
einer Periode nahezu auf, wo er am nöthigiten ıft. Wo wir bei afademijch 
gebildeten Männern auf unleidlichen Hochmuth und auf rücdjichtslofe Herzens: 
bärtigfeit jtoßen, da werden wir meiſt den Grund Ddiejer Fehler darin ent: 
decken können, daß Dene, bervorgegangen aus Familien ver unteren 
Stände, in den Jahren des Weberganges zum Dünglingsalter ihre Eltern 
überjaben. 

Das düſterſte Bild von der Art, wie heute die Familie ihre Pflicht, die 
Kinder zu erziehen, auffaßt, entwirft ver Verfaſſer der Briefe über Berliner 
Erziehung, eines Buches, das mit Recht alljeitig die größte Aufmerkſamkeit 
erregt und bei ven praftifchen Schulmännern Zujtimmung gefunden bat. Und 
wenn man vielleicht einzumwerfen geneigt wäre, daß dort ein mifvergnügter 
Pädagoge die Dinge zu ſchwarz anficht und zeichnet, fo leje man, wie ein 
Yaie iiber diefen jelbigen Gegenſtand urtbeilt, ein Laie, dem man jchwerlid) 
den Borwurf wird machen wollen, daß er zu den grümlichen laudatores 
temporis aecti zähle. Gerade Yasfer's Ausführungen über diefen Punkt ver- 
dienen die vollfte Berüdjichtigung.*) Er, wie ver Berliner Pädagoge, fommt 
zu dem Schluß, daß es mit der Zukunft unferes Bolfes übel bejtellt fein 
würde, wenn nicht baldige Abhilfe gegen diefen won Jahr zu Jahr mehr um 
ih frefienden Schaden eintrete. Beide erwarten einen Umſchwung nur dann, 
wenn wir durch die öffentlibe Erziehung die künftigen Bäter und Mütter 
jelbit erjt im eine befjere Richtung gebracht baben werben. 

Wir hören als Dritten noch einen Nationalöfonomen. Felix fagt in 
jeinem Werte „Die Arbeiter und die Gefellfchaft“ **) hierüber Folgendes: „Die 
den höheren Ständen angebörenden Perfonen vermögen es zumeilen gar nicht 
zu faffen, daß arme Handwerker, melde mehr als irgend Jemand das Ihrige 
zu Rathe ziehen jollten, die jorgfame Sparfamfeit und die Mäßigkeit vermiffen 
lafien, melde jie jelbit an ven Tag legen. Die einfade Erklärung fo ſelt— 
jamer Erſcheinungen liegt in dem Umſtande, daß dieſe Perfonen nicht zur 
Sparjamfeit, fondern zum Genuß erzogen find. Das arme Kind eines Ar- 
beiters, deſſen Eltern ſich häufig unmäßig und unreinlid zeigen, miteinander 
hadern, die Zeit vergeuden und gar oft ohne Scheu vor feiner Anweſenheit 
unanftändige Reden führen, kann, wenn überhaupt, nur erſt in der erniten 
Schule des Yebens nach herben Erfahrungen, meist zu jpät, die Eigenſchaften 
würdigen lernen, welde es an feinen Eltern vermißte Darum foll, jo führt 
der Berfafler fort, der Volkslehrer zugleich der Erzieher der ihm anvertrauten 


*) Siebe deſſen Aufſatz über Erziehung und Anlagen in der deutſchen Rundſchau 1, 
**) GEribienen bei Otto Wigand in Yeipzig, 1874. 


22 


Kinder fein, der ſich die Aufgabe zu ftellen hat, ihnen, neben den nothwendigen 
Disciplinen, durch Yehre und Uebung all die fittlihen Eigenſchaften einzuflögen, 
deren fie zu ihrem Lebensglüd nicht entbehren können.“ Nicht blos zu ihrem 
Lebensglüd, füge ich hinzu, jondern vor Allem zum Heile der Gejellibaft, dei 
Staates. Und nun bevenfe man, eimen wie großen Brocentjag unter dem 
heranwachſenden Geſchlecht gerade die Arbeiterfinder bilden, fie, die unzweifel— 
haft in Folge der nicht mehr aus der Welt zu ſchaffenden Frauenarbeit un 
der umleugbaren Yüjternheit der Eltern die jchlechtefte Erziehung genießen. 
Den Erwachſenen wird die ftaatlide Zucht felbft durch die ſtrengſten Geſetze 
nicht zur Gefeglichfeit zwingen, höchſtens zu einer äuferlichen, Die doch im 
Grunde feine ift, auch Feine Stüge des Staates fein kann, das Kind aber 
vermag die Disciplin eines treuen und gejchulten Lehrers jo zu leiten, daß 
es dereinft als Staatsbürger zum Heile des Ganzen die Gejege aus Weber: . 
zeugung vejpectirt. 

Aber bei der fo tief einſchneidenden Wichtigkeit dieſer Aufgabe für die 
Geſundheit unferes Bolfsthums — denn es handelt ſich eben darum, ob unſere 
Nation in derjelben Entwidelungsphaje ihren Lebensproceß abſchließen jolle wie 
die Völker des Alterthums, oder ob fie im Stande ift, durch Gründung neuer 
Inftitutionen, die einen Erjag für die im Yaufe der gejchichtlihen Entwidelung 
gleihfam abgenugten veriprehen, einen höheren Aufjhwung zu nehmen, — id 
jage: in diefer Frage um Sein over Nichtfein darf es uns nicht genügen, wie 
der Berfaffer der Berliner Briefe thut, die Erwartung auszuſprechen, daß es 
der öffentlichen Erziehung gelingen werde, das drohende Verderben zu beſchwören. 
Es gilt vielmehr, pofitive VBorfchläge zu machen und auf eine geſetzliche Rege— 
lung der jegt übel vernachläſſigten Jugendrisciplin in Wort und Schrift hm: 
zuwirfen. Man vergeſſe doch ja nicht, daß gerate bier ein Zuwarten, cm 
Auffhub ver dringlihen Reform ſchwere Schädigungen des Vollsthumes herbei: 
führen muß. Oder wird etwa Das heranwachſende Geſchlecht, das nach über: 
einftimmender Schilderung bejonders in den großen Stäbten und in induftriellen 
Bezirken nit mit der nothwendigen Sorgfalt und pädagogiſchen Einſicht 
im Haufe erzogen wird, nad) menſchlicher Berehnung mehr Geſchick ent- 
falten, jeinerjeits feine Kinder zu erziehen, wenn dazu an daſſelbe die Reihe 
kommt? Man jehe ſich doch ja vor, daß nicht auch auf unfer Voll einft 
pafie, was der römiſche Dichter von dem jeinigen mit wehmüthiger Trauer 
berichtet: 

Aetas parentum, pejor avis, tulit 


Nos nequiores, mox daturos 
Progeniem vitiosiorem.*) 


Die Enten, die dur Hühner ausgebrütet werden, verjtehen das Brüten 
jelbft nicht mehr. 


*) Hor. carm. III, 6, 4b. 


23 


5. 


Die Nothwendigkeit einer ſtaatlichen Beaufſichtigung der 
Kindererziehung. 


Mit halben Mafregeln ift hier nichts zu gewinnen, wohl aber mehr nod) 
zu verlieren. Den Rath, den der Verfaſſer der Berliner Briefe den Eltern 
ertbeilt, bei den Seelenfranfheiten ihrer Kinder den Pädagogen von Fach als 
Hausarzt zu Rathe zu ziehen, — hat er wirflid auch nur einige Ausjicht auf 
Beherzigung und Befolgung bei der großen Menge, ja jelbjt bei den gebilveten 
Vätern? Es bleibt eben nur übrig, daß der Staat, allerdings mit Benugung 
der Familie und anderer Injtitutionen, die im Weiteren zur Bejpredung 
fommen jollen, die Erziehung injofern übernimmt, als er gejetlich gewiſſe Prin- 
cipien fejtftellt, nady denen diejelbe geleitet werden joll. Gemeindeorgane wer— 
den die Befolgung derjelben zu beaufjichtigen haben. Zu diefem Schluß bringt 
mich nicht nur die Wahrnehmung, wie das Haus vielfady Die ihm bisher fait 
ohne Einſchränkung zugefallene Erziehung der Kinder vernadyläffigt, jondern 
aud die Erwägung, daß heut zu Tage bei der Vielgefchäftigfeit unjerer Gene— 
ration die TIheilung der Arbeit fih mehr und mehr vollzieht. Wohl weiß ic, 
daß gerade dieſe großen Gefahren für die Lebenskraft der Nation in ſich birgt 
und daß man ſich daher eher gegen eine weitere Durchführung verjelben ſtemmen 
müßte Allein ein Correctiv für diefelbe hat die Geſellſchaft in der Juſtiz, in 
der Berwaltung des Staates, des Kreifes, der Commune, im Militärwejen, in 
der Kirche und auf fo vielen anderen Gebieten glüdlicd gefunden, da in ben 
genannten Sphären überall jegt neben Fachleuten berufene Laien mit Rath und 
That mitwirkend eintreten. Und wenn id) num empfehle, die Erziehung einem 
Stande, den Yehrern der Staatsjhule nämlich, von Staatöwegen anzuvertrauen, 
jo ift es meine Abſicht durchaus nicht, diefem eine Domäne zu jchaffen, in ber 
er für ſich abgejchloffen und ohne geiftige Befruchtung dur die andern Bes 
itandtheile der Nation arbeite. Wenn aber ſchon Plato im Laches“) die Be— 
merfung macht, daß die Männer jeiner Zeit zu jehr den Geſchäften des öffent- 
lihen Yebens angehörten, als daß fie noch Interefje für die häuslichen Aufgaben, 
infonderheit für die Kindererziehung hätten, jo gewinnt einerjeit® durch dieſe 
Worte die oben des Weiteren gejdilderte ähnliche Erſcheinung unferer Tage 
eine Erklärung, andererjeits wird und das Mittel nahe gelegt, von Neuem 
das Intereſſe für die Yugenderziehung zu erweden. Man made diejelbe zu 
einer öffentlichen Sache, und jofort werden auch wieder alle geijtigen Kräfte jic) 
ihr zuzumenden Antrieb finden. 

Endlich bejtimmt mid zu meiner Auffafjung von der unumgänglicen 
Nothiwendigkeit der Staatserziehung auch folgende Rückſicht. Bisher gehörte 
das mit 14 Jahren aus der Schule entlafjene Kind, wenn es fein Brot in 





*) Gleich im Eingange des Dialogs gedentt Plato der Erfabrung, die er auch in 
anderen Schriften in Erwägung gezogen bat, daß nämlich viele ausgezeichnete Männer 
ihre Söhne nicht zu gleicher Tüchtigleit erzogen bhätten. Im 3. Capitel beißt es dann 
mit Bezug hierauf: vo Te TWr nolwr ngerrougew, «vrois oyedor rı ravıa 
ovußeiveı, & ovrog Ayeı, zei negi naidas xui radlı idie, ohıywgeisdei 1 xui 
«urshag diurideode. 


24 


eirem fremdem Haufe fich erwerben mußte, der Familie an, in die ed ale 
dienendes Glied eintrat. Das Dienſtmädchen, der Pferdejunge, der Yehrling, 
der Geſelle und der Knecht fogar afen am Tiſche ihres Brotherrn mit umd 
genoffen alte die erziehlihen Anregungen und vor Allem auch die ſittliche Hut 
und Beauffichtigung, welche die Familie den eigenen Kindern zu Theil werden 
lief. Das it inzwiſchen felbft in den Fleinen Städten und auf dem platten 
Yande durdaus anders geworden. Das Gefinde und die Gehülfen aus der 
MWerkftätte jind außer der Arbeitszeit faſt völlig ſich ſelbſt überlaffen. Die 
Pflicht, außer für den leiblichen Unterhalt auch für die fittliche Förderung diejer 
jungen Yeute zu jorgen, ift fat vergeſſen. Höchſtens wird noch auf eime Art 
von Dieciplin im Hauſe felbjt umd bei der Arbeit geſehen, aber bei den Dienit- 
mädchen vielfach aud dies nicht mehr. Was außer ver Wohnung der Dienft- 
herrſchaft geſchieht, das füllt nach faſt allgemeiner Auffaffung nicht mehr 
in das Bereich der Aufficht derjelben. Daß daher Kuaben von kaum 
15 Jahren in unziemlicher Art und außerdem zum Schaden ihrer Geſundheit 
rauchen und unmäßig Spirituoſen genießen, die Straße veritellen, lärmend und 
tobend die öffentlichen Plätze durchſtreifen, das Publikum beläftigen, vie Mäpden 
mit unanftändigen Scherzen anrufen und verfolgen, — wer jieht es nicht, 
ohne ſich über die Ohnmacht der Polizeiorgane zu wundern? Aber das jind 
nicht jowohl die Folgen der neueren, allerdings ja viel zu humanen Straf 
und Bolizeigefege, jondern vielmehr die der heutigen Geſindeordnung. Mit 
dem Zunftzwang iſt auch die Disciplin der Yehrlinge nefallen. Jeder Meiſter 
wird uns das jagen. Mochten immerbin die den Erwachſenen durd die Zünfte 
gezogenen Schranken in viefen Tagen überflüjfig, ja jchädlich geworden fein, — 
für die noch unerwacjene Hanpdwerter-Jugend mußten neue Formen gefunden 
werden, um die diefem Alter jo nothwendige Bevormundung zu ſichern und zu 
regeln. Darf nun der Staat auch fernerhin diefen fo beveutenden Procenjag 
des herammwachjenden Geſchlechts, der fid) mit 14 Jahren, aljo gerade im der 
für phyſiſches und fittliches Gedeihen jo entſcheidungsvollen Periode des Ueber— 
ganges vom Knaben zum Jüngling, jedem erziehlichen Einfluß entzieht, feinem 
Schickſal überlaffen? Darf er auch in Zukunft die ſchon jo grell hervortre— 
tenden Mängel dieſes ungejunden Zuſtandes überſehen? Iſt es nad den bie: 
herigen Erfahrungen gereditfertigt, die fernere Erziehung diefer großen Maſſe 
der Kirche allein zu überlaffen? Oder bat lettere den Beweis gegeben, daß 
fie die Fürforge*) für diefen Theil der jungen Bevölkerung in der rechten Art 
wahrnimmt? Darf überhaupt die Kirche von Staatöwegen zu einer Art von 
polizeiliher Mithilfe zugezogen werden! 

Keine diejer Fragen wird man bejahen wollen. Obſchon man damit notb: 
wendig zur Annahme meiner Propofitionen gedrängt wird, jo babe ih doch 
noch maunnigfachen Wivderjpruch zu erwarten, dem ich von vornherein zu begegnen 
verſuchen will. 


*) Die Geiftlichleit bat für die jungen Sandwerler in ben jogenannten Geſellen— 
und Jüuglings-Vereinen unzweifelbaft viel gethan. Wir kennen Beiſpiele, daß ſich 
namentlich jüngere Geiſtliche mit einer höchſt achtungswerthen Selbftverläugnung und 
mit unberechenbaren Opfern an Zeit, Mübe und Geld die Fortbildung dieſer Jüng— 
linge — ſein ließen. Allein die Lehrlinge ſind ſich völlig allein überlaſſen 
geblieben. 


25 

Zunächſt kaun es nicht auffallen, in einer Zeit, da Alles zu unbedingtem 
Gehorſam und zur Unterwürfigfeit unter den Staat hindrängt, auch das andere 
Ertrem vertreten zu finden: den ſchrankenloſeſten Subjectivismus. Er mwurzelt 
nod) in den Ideen und Beitrebimgen des Anfangs unferes Jahrhunderts. Diejer 
begehrt die Erziehung als ein unveräußerliches Recht der Familie. 

Wilhelm von Humboldt conftruirte gegen Ende des vorigen Jahrhunderts 
in feiner Schrift: „Bon den wahren Grenzen der Wirffamfeit des Staates“ 
eine Politie, in welcher die Staatsmacht auf ein Minimum veducirt iſt: ein 
treues Abbild von den damals ımter den Glebilveten ver Nation herr— 
jhenten Auffafjungen von dem jogenannten Nothſtaat. Selbſt der bejte Staat 
galt in jener Zeit eben nur für ein nothwendiges Uebel. Bon dieſem Stand- 
punfte aus erklärte auch Hegel in feiner zweiten Gymnaſialrede die Zucht der 
Eitten als eine nicht öffentliche Sache, fondern als ein Geſchäft und eine Pflicht 
der Eltern. Im der dritten Rede führt derſelbe Philoſoph aus, daß die Dis- 
cıplin und moraliſche Wirkſamkeit der Schule fih nicht auf den ganzen Um— 
fang der Eriftenz des Schülers erftrede, der nur mit einem Fuß in derjelben 
ftehe. Dieje ſelbſt ift ibm nichts weniger als Staatsanftalt, fie fteht ihm 
zwifchen der Familie und der wirkliben Welt und wirft im Auftrage der 
Familie und auf Grund des ihr von leßterer geſchenkten Vertrauens. 

Diefer Standpunkt mochte jo lange feine Berechtigung haben, als die 
Familie ihrer Berpflichtung, auch für das fittlihe Wohl der Kinder zu jorgen, 
fidh bewußt blieb. Heute aber, wo die Pflichten nicht mehr von Allen geübt 
werden, fünnen auch die entiprechenden Rechte nicht ungeſchmälert belaffen werben. 
Das höhere Imterefie der Geſammtheit erfordert diefe Einſchränkung auf das 
Entſchiedenſte. Wenn man heute itbereinftimmend berechtigte Klagen vernimmt, 
daß die Jugend theils in Genußſucht erſchlaffe, theils — was mehr von dem 
die höheren Schulen nicht bejuchenden Theile gilt, — fittlidy verwildere, jo 
möchte man freilich bei der Gleichgültigfeit, mit der bislang der Staat ſolche 
Schäden binnahm, meinen, daß derfelbe in ver That ein innigeres Interefje 
daran nicht zu nehmen brauche. Aber ift denn der Staat nicht eine fittliche 
Anftalt, Die ohne die Sittlichleit ihrer Angehörigen gar nicht beftehen kann? 
Und mehr nob! Der freiefte Staat braucht ohne Zweifel auch die fittlichiten 
Perjonen. In der abjoluten Monarchie ift der Menfb nur Majchine, nur 
thätig in der Hand eines höheren Willens und bedarf daher nur infoweit der 
Erziehung, daß er gehorchen lernt. Anders im conftitutionellen Staat. An 
die Stelle des knechtiſchen Gehorſams muß bier der freie treten und eine edle 
Bereitwilligfeit, vem Staat alle Opfer an Gut und Blut, am Arbeit und 
Mannesfraft zu bringen. Wie mag man hoffen, bei den jegigen Zuſtänden 
der Erziehung ein jo hohes Ziel zu erreihen? Mit Recht macht der Philo- 
joph Ariftoteles in dieſer Beziehung darauf aufmerkſam, daß das wäterliche 
Sebot nicht jo zwingend ift wie Das Staatsgebot, und daß ver Staat Alle 
ohne Ausnahme über einen Yeiften ſchlagen könne.) Wo das Intereſſe des 





*) Aristot. Nie, Eth. X, 9, 11 und ff. überjett von Ad. Stabr: „Wenn ber 
Mensch, um gut zu werden, fittlich erzogen und gewöhnt werden, und demnächſt bas 
ganze Thun und Treiben feines Yebens ein fittlich gutes jein und er weder mit noch 
ohne feinen Willen das Schledte tbun muß, und wenn alles dies nur geſchehen kann, 
wenn der Meuſch nach einem gewiſſen Bernunftgeieß und nad richtigen Inftitutionen 


26 


Staates mitjpridht, haben wir uns Alle zu fügen. Auf dieſem Grundſatz 
beruhen ſchon jo viele Gejege, die das Recht des Individuums einfchränfen, 
wie das der Schulpflicht und des Impfzwanges, das der allgemeinen Wehr: 
- pflicht, das des Zeugenzwanges u. j. w. Um wie viel mehr Recht hat ver 
Staat dazu, die Feltjegung gewifjer Erziehungsgrundfäge für ſich in Anſpruch 
zu nehmen, da ihm hierzu die Pflicht der Celbjterhaltung recht eigentlich nöthigt! 
Scheinbar jchmwerer wiegt es, wenn mein Borjchlag den Vorwurf erfährt, daß 
nad) ihm die Erziehung einem Inſtitut überantwortet wird, das nur auf dem 
Utilitätsprincip erbaut je. Wo jei die erwärmende, adelnde Idee, in der die 
Jugend an der Hand eines Staatsbeamten heranwachſe? Auch hier tritt ung 
wieder die Vorftellung vom Staate entgegen, die wir oben ſchon zurückwieſen. 
Wo iſt denn eine idealere Grundlage für die Erziehung der Jugend zu finden 
als in der Platoniſchen dixauoovvn, auf welder der Staat beruht? Auch 
in dem chriftlichen Staate weht ein anderer Geift nicht. Oder baben etwa 
jene „chriſtlichen“ Dejuitenjchulen, in denen das Trachten nady Ehre zum Hebel 
jeder geiftigen Anjpannung und Yeiftung gemacht wurde, in einem chrijtlicheren 
Geiſte die Jugend erzogen? Der chriſtliche Geift ijt ja übrigens, Gott jei 
Dank! heute nicht mehr blos hier oder da; er iſt jet ein untrennbarer Be: 
jtandtheil unjerer Eultur, ein Gemeingut des deutſchen Bolfes geworden, jo 
zwar, daß gar viele Männer, die ſich äuferli gar nicht zur Kirche halten, 
mehr von ihm, wenn aud ganz unbewußt, in jid haben als jo mander 
zelotijche Belenntnifchrift. Darum it e8 entweder eine Phraſe oder es verfteht 
ſich von jelbit, dag die Erziehung unjerer Jugend im chriſtlichen Geiſte gejchehen 
muß. In feinem alle darf die von mir vorgejchlagene Staatserziehung als 
in einem Gegenfat zur chrijtlihen ſtehend aufgefaßt werden. 

Endlich höre ich meine Gegner einwerfen, daß ich die Bedeutung ber 
Familie in einer Weije verfenne und herabjege, die den Beſtand des Staates 
jelbjt in Frage ſtelle. Daſſelbe jagte man Yuther nad, als er jein Send» 
ihreiben an die Städte erließ, daß fie chriftlihe Schulen aufrichten jollten. 
„Ein Jeglicher mag jeine Söhne und Töchter wohl jelber lehren und fie ziehen 
mit Zucht.“ Ich antworte mit Yuther: „Da, man fiehet wohl, wie jid's 
lehret und zeucht!“ Sodann weiß ich jehr wohl, daß die Staaten jich jtets 
auf die Familie gründeten. Aber ich erfenne in der Entwidelung der Menſch— 








lebt, welche Kraft baben, fich Geltung zu verichaffen: jo bat zumächit das väterliche Ge- 
bot nicht die dazu erforderliche Stärte und zwingende Kraft, ebenjowenig wie überbaupt 
das Gebot eines einzelnen Mannes, wenn derjelbe nicht König oder jonft eine mit ab- 
joluter Macht bekleidete Perjon if. Das Geſetz dagegen bat zwingende Kraft, denn es 
ift eine Vorjchrift, die fo zu jagen aus der praftifchen Klugheit und Vernunft bervor- 
gegangen ift. Dazu kommt noch eins: wenn es Menſchen find, die unferen Neigungen 
entgegentreten, jo bafjen wir fie, auch wenn ihr Widerftand gerecht iſt, das Gejeg bin- 
gegen, weil es überhaupt nur die Norm für das Rechte und Gute aufftellt, erregt in 
uns fein Gefühl des Widerwillens. In dem einzigen lacedämonifchen Staate, wenn 
man ein paar andere ausnimmt, fcheint der Gejetgeber fih um die Auferziebung und 
die Unterrichts- und Bildungsgegenftände der Individuen befüümmert zu baben, wäbrend 
dagegen im dem meiften übrigen dieſe Dinge völlig verwabrloft find, und Jeder lebt, 
wie er Luft bat, auf gut kytlopiſch richtend über Weib und Kinder.” Die leiten Worte 
enthalten eine Anfpielung auf Hom. Odyſſ. 9. 144. Dieje Worte paffen genau auf 
unjere Berbältniffe. Die Nothwendigkeit geſetzlicher Verordnungen gegenüber der elter— 
lichen Nachſicht, welchen ſich Alle in gleicher Weiſe zu unterwerfen haben, läßt ſich nicht 
ſchärfer darthun. 


27 


beit die Intention, dae Imor rokırızöov mehr und mehr darzuftellen. Und 
wenn bisher die Culturſtaaten aerade in dem Zeitpunkt zuſammenfielen, wo fie 
die Familie abjorbirt hatten, jo ahne ich bier dennoch den Anſatz zur Erklim— 
mung einer höheren Stufe der Vervollkommnung, die allerdings nicht gleich bei 
dem erften Werfuch aelinat, wohl aber dann gelingen könnte, wenn die nöthigen 
Zwiſchenglieder und beffenden Momente durch den Gang der Entwickelung vorber 
geſchaffen find. Diefe mit bewußter Leberlegung allmählich zu Schaffen, betrachte 
ih als die Aufgabe unferer Zeit. Hier mögen wir von dem praftifchen und 
ſtaatsklugen Bolfe der Römer lernen, die zwar nie von der Borzeit über- 
kommene Inftitutionen durch Geſetze aufhoben, aber doch redhtzeitia für deren 
Erſatz durch zeitgemäßere Bedacht nahmen, wenn erftere ſich überlebt zu haben 
ſchienen. 


* 


6. 
Die Organe des Stantes bei dem Werk der Erziehung. 


Es entfteht num die frage, Durch welche Organe der Staat die Erziehung 
zu leiten habe. Als ſolches gilt mir in eriter Pinte die Familie. Erft in 
diefem Einne gefaßt, erhält fie heute ihre rechte Bedeutung. Da die Eltern- 
und die Kindesliebe die erfte Bafis für die Sittlichfeit ift, jo wird fich in ihrem 
Schoofe auch die Erziehung in dem erjten Stadium am glücklichſten vollziehen. 
Bis zum fiebenten Jahre mögen die Kinder beiderlei Geſchlechts aanz dem 
elterlihen Haufe itberlaffen bleiben. Hier jollen fie ſich zunächſt Förperlich ent— 
wideln und aud die eriten geiftigen Eindrüde von der Mutter empfangen. 
Die Eigenart der Eltern mag Gelegenheit haben, ſich bei den Kindern Geltung 
zu verichaffen, damit der Charakter der Staatsbürger vor Einförmigfeit be: 
wahrt bleibe. 

Wo die Erziehung von Eltern unverjtändig betrieben oder aanz vernach— 
(äffiat wird, bat der Waiſenrath unter dem Vorſitz des Gemeindehauptes und 
unter Zuziehung des Geiftlichen des bezüglichen Bekenntniſſes über die einzu: 
ſchlagenden Schritte zu berathen umd zu beichließen. Wenn Rath und Zuſpruch 
fruchtlo® bleiben, jo iſt es dem pflichtmäßigen Ermefjen des genannten Colle- 
giums anheimgeftellt, das Kind anderweitig geeignet unterzubringen. In den 
größeren Städten wird durd Einrichtung von Kindergärten denjenigen Eltern, 
welche durch die Art ihrer Beihäftigung außer dem Haufe von der Beauf— 
fichtiqgung der Kinder abgezogen werden, Gelegenbeit zu bieten jein, dieſelben 
für die Zeit ihrer Abwefenheit von Haufe fremder Obhut anzuvertrauen. 

Erſt mit fieben Jahren tritt das Kind in die Bolfsfchule ein. Wenn 
Colon, Plato und Ariftoteles dies Pebensjahr für den Beginn des Unterrichtes 
anfesten, jo haben wir, die wir nördlicher wohnen, e8 wohl zu überlegen, ob 
das fünf- und ſechsjährige Kind, das bei ums geſetzlich ſchon zum Schulbeſuch 
verpflichtet ift, nicht befjer no won den Anftrengungen des Denkens verjchont 
bleibt.*) Bon dem Eintritt in die Schule ab fol das Kind Feineswegs dem 


*) Wenn Friedrich der Große und ſchon befien Bater die Kinder wenn wicht 
früber, fo doch wenigftens mit bem 5, Lebensjahre für die Schulen in Anfpruch nebmen, 
jo möchte ich bierin ben Verſuch feben, ſchon in möglichft frühem Alter dem Yebrer 


28 


elterlichen Einfluß entzogen werden, wohl aber in ver Schulanftalt eine ſtaat— 
liche Einrichtung rejpectiren lernen. Die Verantwortung für die Erziehung 
des Kindes dem Staate gegenüber rubt auf dem Yehrer, der Fraft jenes Amtes 
überall einzuwirfen bat, wo er das Seelenheil jeines Zöglinges gefährdet jieht. 
Dabei verjtebt es ji aber von jelbit, daß Seitens der Schule eine tactvolle 
Berückſichtigung der häuslichen Verhältniſſe ftattfinden und eine ängſtliche Scho— 
nung der Pietät gegen die Eltern geübt werden muß. De älter das Kind 
wird, deito mehr rüdt der Schwerpunft der Erziehung in die Schule. Dieſe 
aber darf, nicht Durd den Lehrer allein vertreten jein. Den Unterricht zwar 
leitet er allein, die Disciplin aber, foweit fie nicht unmittelbar mit Dem Unter 
richt verwachjen it, gehört einem Collegium, das unter dem Vorſitz des Rectors 
oder Directors aus den VYehrern der betreffenden Anjtalt und aus gewählten 
Bertretern der Gemeinde beiteht. Im Einklang mit den ſtaatlich aenebenen 
Schulgejegen und den erläuternden Anordnungen der berufenen Behörden bat 
diefes nicht nur die jpeciellen Schulordnungen feitzufegen, jondern aud über 
die Beachtung derjelben von Ceiten der familien, der Yehrer ımd ver Schul— 
jugend zu wachen und überhaupt die Schulzucht zu üben. Die Genfuren und 
Berjetungen, die Beſtimmung ımd Abmeffung der Strafen für gröbere Vers 
gehungen, die Anordnungen bezüglich der Schulfejte u. a. gehören vor jein Forum. 
Mit feiner Genehmigung erfolgt mit 14 Jahren ver Austritt des Kindes aut 
der Volksſchule. Dieje Genehmigung ift zu verjagen, wenn die intellectuele 
und ſittliche Reife bezweifelt werden muß. Der aus der Schule entlafiene 
Knabe bleibt, ebenjo wie das in dem gleichen alle befinnlihe Mädchen, zum 
regelmäßigen Bejucd der itberall, namentlich aud auf dem platten Yande ein 
zuführenden Fortbildungsſchulen verpflichtet und beide treten unter den erzieb- 
lihen Einfluß und vie Disciplin des Collegiums der Fortbildungsſchule, in 
welchen dem Yaienelement eine entjprechend ftärkere Vertretung wegen der hinein: 
ipielenden Intereffen der gewerblichen Stände einzuräumen iſt. Cine Stunde, 
für die von diefer Behörde die Zeit feitzufeten iſt, muß täglich mit Ausnahme 
des Sonntags diefem Unterricht gewidmet werden. Derielbe bat die Kenntuniß 
der Organijation des Staates, der Rechte und Pflichten der Staatsbürger und 
der wichtigeren Geſetze zu vermitteln*), Die der vwaterländiichen Gejchichte zu ver- 
tiefen, außerdem in den Städten den Bedürfniſſen der Gewerbe zu Dienen, auf 
dem Pande aber die Disciplinen der Aderbaufchulen joweit als möglich auf: 


einen Einfluß auf die Erziehung des Kindes zu fihern, Denn daf ein Kind in ie 
zarter Jugend dem Unterricht mit Erfolg und, wenn dies, obne Schaden an feiner 
geiftigen und körperlichen Gefundbeit folgen könne, bezweifle ich nach meinen Erfahrungen. 
Sa, ich bin ſehr geneigt, die Erſcheinung, daß es unferer Zeit an berverragenden 
geiftigen Kapacitäten jo ſehr feblt, auf Rechnung des zu früben Schuibefuches zu jeten. 
Was Ariftoteles von den Gefahren zu frübzeitiger Anftrengung des kindlichen Körpers 
durch die gummaftiichen Uebungen jagt, (Pol, VII, 4. Er yag rois "Okuumorixaus 
dio is av 7 TOEIS EVEOL TOUS auroVS verixnroras ardoas re zur neides, dia ro vlovs 
aaxovürras epageide rıjv duvauır uno rar drayzaior yuuraolior.) findet ganz 
enijprechende Anwendung auf zu früh dem kindlichen Geift zugemutbete Anfpannung. 

*) Als ein ganz vorzünliches Lehrbuch fiir diefen Theil des Unterrichts wäre zu 
empfehlen: Deimling, Die Segnungen der menſchlichen Gejellicaft. Populäre Be 
tradhtungen aus dem Gebiete des fittlihen Yebens. Gin Büchlein für das Boll umd 
die Jugend. Strafibura, W. Schauenbura, 1873. Diesbelebrente und noch mebr an- 
vegende Buch jollte auch in feiner Schüler-Yejebibliothet fehlen, 


29 
zunebmen. Der Efementarlehrer wird auf dem Seminar diejenige Vorbiltung 
erhalten müſſen, die ibn für die Ertbeilung dieſes Fortbildungsunterrichts be- 
fühigt.*) Am Sonntag Nachmittag verjummelt fih die geſanmte männliche 
Jugend in Stadt und Yand auf dem Turnplatze, um ſich mit Spielen zu 
beluftigen. Daß diefer bald ver Sammelplag aud der Eltern werden und 
auf dieſe Weije eine wiürdigere Begehung der Sonn und Feſttage im Bolf 
fi anbahnen wird, ift zu hoffen. Für die Mädchen wird ein Induftrieunter- 
richt eingerichtet, der viejelben befähigt, die in der Familie vorkommenden weib- 
lihen Handarbeiten ohne fremde Unterftügung zu fertigen. 

Den Schlußſtein der Erziehung der männlichen Jugend bildet dann ähnlich wie 
einst in Athen die militäriiche Ausbildung zur Vertheidigung des Ihrones und 
Baterlandes. Erft mit der Entlaffung von der Fahne, aljo in ver Kegel mit 
23 Jahren, gewinnt der junge Mann das Recht der freien Selbſtbeſtimmung, 
das Recht, einen eigenen Hausſtand zu begründen, überhaupt die Rechte eines 
Staatsbürgers.**) 


ie 


Von den Mitteln der Erziehung, befonders in den höheren 
Lehranfalten. 


Nachdem wir in großen Zügen die Inftitution der Bolfserziebung ent: 
morfen haben, wenden wir uns fpecieller zur Beſprechung der Erziehung, 
welche die höheren Vehranitalten geben follen. Es fprinat ſofort in die 
Augen, dar den Gymnaſien, infofern fie für die Umiverfitäten vorbereiten, 
die Aufgabe zufällt, die künftigen Führer des Volkes zu bilden. Daran 
folgt, dar es nicht Darauf ankommen kan, die das Gymnaſium beſuchende 
Jugend nad der Schablone nur zum Gehorſam zu erziehen. Schon Aristoteles, 
ver doch die Staatserziebung eingeführt wiſſen wollte, verfennt nicht, daß Die 
Familienerziehung in einem Punkte einen Borzug enthalte, nämlich infofern 
fie individueller jer, denn jene. Der Pehrer bat alfo, um viefen Nachtheil 
möglichft gering zu machen, ftets zu bevenfen, daß der Menſch zu einer Perſon 
gebildet werben foll. Die Intentionen der einzelnen Naturen müſſen infoweit 
berüdjichtigt werden, als ihre Anlage nicht fehlerhaft ift. Demnach wird man 
fih zwar beifpielömeife auf das Nengitlichite zu hüten haben, einem ſich jchen 
früh entwidelnden Ehrgeiz Nahrung zu geben, andererſeits aber wird man 
Anftand nehmen, einen tränmerischen Knaben zu einen willensfräftigen machen 


*) Das verlangt auch Felix, Die Arbeiter und die Gefellichaft, Leipzig 1874, S. 206. 
Beraleihe auch Dr. Jürgen Bona Meyer, Die Kortbildungsichule in unferer Zeit, 
Berlin 1873, Muftergältia ift das Gefet über den Kortbildungsunterricht im Herzog 
tbum Gotha vom 3. Juni 1872. Vergleiche endlih auch Dr. Bict. Böhmert, Arbeiter 
verbältniffe und AFabrifeinrichtungen der Schweiz. 8b. I. Zürich 1873, 

*#), Friedrich der Große betont in jeiner Schrift de l’education (Veuv. t. XXIII), 
daß es Sehr jchädlich wirfe, den jungen Dann zu zeitig zu emancipiren, Er will daber 
den Sobn bis zum 26. Jahre in der väterlichen Vormundſchaft belaffen wiffen. Unſere 
Zeit bat, wir meinen nicht mir Recht, die Entlaffung dev Mündel aus der Bormund: 
ſchaft auf ein weit früberes Lebensjahr zurücdgelegt. 


30 





zu wollen, vielmehr fich bemühen, jene Tränmereien in die rechte Bahn behufe 
Erhebung zu intellectueller Klarbeit zu lenfen. Ne quid invita Minerva! 
Damit wollen wir aber feineswegs einem Glauben an blinden Fatalismus 
das Wort reden. Wo in der Pädagogik diefer herricht, da ift die Wirkung 
des Erzieher beveutungslos und nur, wie fi der hedwerdiente Trendelenburg 
in jeinen Borlejungen über Pädagogik und Divdactif fo treffend äußerte, der 
Refultante in dem Parallelogramm ver Kräfte zu vergleichen. Alſo unter 
möglichſter Berüdjichtiqung der imdividuellen Anlagen lenke man den Knaben 
und Jüngling zur willigen Fügſamkeit in den vernünftigen Willen des Andern; 
zeitig lerne er feinen Eonderwillen unter den des Allgemeinen, des Geſetzes 
beugen. Der rechte Weg zur Erlernung der Kunſt des Befehlens, die ja 


gerade die Gymnaſialjugend fi aneignen fol, führt — das wußte jchen 
das Alterthum — nur durd die Aneignung der Kımft des Gehorchens. 


Den jungen Mann zu befühinen, ſich als dienendes Glied dem großen Ganzen, 
dem er durch Geburt angehört, anzuſchließen, das ſei Ziel der Erziehung. 
Aber wenn auch der Eigenwille überall zu umterdrüden ift, jo doch gewiß 
nicht der eigene Wille. Müſſen wir doch aerade Charaktere zu bilden ſuchen, 
zumal in dieſer Zeit, Die an folchen, wie die landläufige Klage heißt, in dem: 
jelben Grade vor andern Zeiten bittern Mangel leidet, wie fie dieſelben 
gerade vor andern Zeiten braucht. 

Unter den Mitteln mm, die Aufgabe der Erziehung zu löfen/ unter: 
ſcheiden wir directe und indirecte. Unter den erfteren fteht obenan der Unter: 
richt. Diefer muß jo gewiß feine ethiſche Seite haben, wie die Erziehung 
unterrichten fein muß. Abgeſehen auch von der Forderung der Intelligenz; 
und der Gewöhnung an ein confequentes Denken, welche beide den Willen 
nothwendig beeinfluffen, bat auch die Disciplin und die Methode des Unter: 
richt® fir den Schiller ungefähr diefelbe Bedeutung wie der fogenannte Drill 
des Exercirplatzes für die militäriiche Ausbildung. Der Zwang zur Auf: 
merfjamfeit und aeiftigen Thätigkeit verleiht in dem Make fittlihe Kraft, als 
er nicht mehr blos äußerlich geübt wird. Und nicht die Puft am Yernen, 
Wiffen umd Können als an folden darf allein aepfleat werden, viel mehr 
noch die Freudigkeit des Bewußtſeins erfüllter Pflicht. Namentlich von dieſer 
Seite gewinnt in meimen Augen das jogenannte Ertemporale eine pädagogiſche 
Bedeutung. Ber deifen Anfertigung arbeitet der Jüngling mit volliter An: 
ſpannung aller jeiner geiltigen Kräfte und bat nicht nur darzuthun, daß er 
fi einen beftinunten Schatz von Kenntniffen erworben bat, ſondern vor Allem 
daß er fein Pfund, eben dies fein Wiffen, mit Befonnenheit und Geiſtes 
gegenwart anzuwenden und fo feine Sculdigfeit zu thun vermag. Er muß 
das Gefühl haben, nur dann eim nützliches Glied des Schulförpers zu jein, 
wenn er von feinem Willen an der rechten Stelle auch Gebrauch zu machen 
versteht. Daher gilt es mir auch als eine umabweisliche Pflicht jedes Pehrers, 
eben damit er diefe Gelegenheit, erzieblib auf den Schüler einzuwirfen, niet 
verliere, daR er jeine Ertemporalien jelbit zuſammenſtelle, jo zwar, daß er 
im höchſten Make die Concentration des geſammten aeiftigen Vermögens ae 
fegentlich diefer Uebung bei feinen Zöglingen herbeiführe.*) Gedankenloſigkeit, 


*) Diefe Rorbernna ift von jeher von den Gymnaſialpädagogikern aufgeteilt 
worden, fo 3. B. von Nägelsbach. Bergl. Autenrietb, Carl Friedrih von Nägelsbach's 


diefer Mehlthau auf dem friichen Geifte des Jünglings, wird durd Nichts jo 
gepflegt, wie durch Uebungsjtüde, in denen entweder feine rechte Beziehung zu 
dem zeitigen Glajjenpenfum Statt hat, oder überhaupt zu wenig Sraft und 
Aufmerkjamfeit in Anfprucd genommen wird. Je älter der Knabe wird, deſto 
höhere Anforderungen darf und muß das Ertemporale an ſein Leiſtungs— 
vermögen jtellen. 

Demnädft übt der Stoff des Unterrichts durch das Medium des Er: 
kenntniß⸗ und Gefühlsvermögens unzweifelhaft Einfluß auf das Willens- 
vermögen. In diefer Beziehung ift jeit Anfang diejes Jahrhunderts, bejonders 
aber in den legten Jahren, immer dringender eine Neorganijation des höheren 
Schulmwejens in Deutſchland von Männern begehrt worden, deren Patriotismus 
ihren Vorſchlägen ein bejonderes Gewicht verleihen dürfte. Und es ift wahr: 
haben wir unjere Kinder wirklih zur Bollfommenheit des deutſchen Wejens 
zu erziehen, jo wird fid) das Gymnaſium einer Berückſichtigung dieſes Zieles 
auch in der Wahl der Unterrichtsfücher und demgemäß einer theilweiſen 
Aenderung feiner Anforderungen in wiſſenſchaftlicher Hinficht nicht wohl ent- 
ziehen können. Denn die gelehrte Schule gönnt bis jegt dem deutjchen Geiſte 
immer nod wenig Spielraum. Die alten Traditionen, melde ja freilic aus 
einer großen Zeit ſtammen, erweijen ſich mächtiger als der heut ſich erhebende 
Ruf nad nationaler Erziehung. Hat man vordem mit Unrecht dem Gymnaſium 
den jchweren Borwurf gemacht, daß es durch jeine einjeitige und ftarre Be— 
tonung des antifen Claſſicismus jene unjelige Zerrifjenheit der deutjchen Nation 
in Gelehrte und Ungelehrte verſchuldet habe, — ich ſage mit Unrecht, denn 
an melde andere Duelle hätte es wohl die wifjenspurftige Jugend Führen 
jolen? — jo wird man doch heut zu Tage über den Claſſikern des Alter- 
thums die nationalen nicht vernachläffigen dürfen. Ja mehr noh! Wenn 
der Senat der Berliner Univerfität in feinem befannten Gutachten über die 
Möglichkeit der Zulaffung der Realfchul- Abiturienten zu den Univerjitäts- 
Studien dem Knaben eine ideale Richtung eingeflößt willen will, damit er 
nicht jpäter „im materiellen Treiben“ untergehe, jo müſſen wir wiinjchen, daß 
piefe Ideale in erfter Linie aus dem deutjchen Geifte gejchöpft werden. Das 
Studium der deutjchen Geſchichte, Sprache und Yitteratur muß im weiteren 
Grenzen betrieben, der deutſche Auffag der Gradmeſſer der Reife des Abiturienten, 
ver lateiniſche Aufjag gänzlich abgejchafft werden. Die Sprade iſt der Menſch, 
und unzweifelhaft jaugt der Knabe und der Jüngling durch den jelbjtindigen 
Gebrauch der lateinifchen Sprache in den Aufjägen etwas von jenem römischen 
Geiſt in fih auf, der dem deutſchen keineswegs homogen ift. „Zwei Dichter 
haben mein Baterland im Piede einfach und groß charafterifirt: der eine be- 
fang es als das Baterland der Treue, der andere als das Yand voll Yieb’ 
und Yeben. Hat jemals ein Volk, jeitvem die Menjchheit nad Bervolllommmung 
ringt, durch edlere Erſcheinungen bervorgeleuchtet? Yiebe, Treue, Yeben — 
das jind die drei wunderfräftigen, gewaltigen, unzerftörbaren Wurzeln des 
urdeutſchen Niejenbaumes.“ * Dieſer Geift der Yiebe und Treue weht in 





Gymnaſialpädagogik, Erlangen 1862, ©. 110 und fi. Aber die Bedeutung des Er- 
temporale bat am treffendften der verftorbene Director von Ilefeld, Sceibel, in ben 
Berbandlungen der Schlefiichen Directoren - Konferenz von 1867 daralkterifirt. 
*) Kaffner, Die deutſche Nationalerziebung. Berlin 1873, ©. 171. 
Radtke, Welher Antheil zc. 3 


32 


der lateinifchen Sprade und Pitteratur nicht. So mag denn das Herz dei 
deutſchen Jünglings feine den Willen beeinfluffende Begeifterung aus ber 
Pitteratur und Geſchichte jeines eigenen Volkes ſchöpfen. Gewiſſermaßen ein 
Somplement dazu bilde das Studium der Alten, durch welches eine für die 
Ausbildung eines vernimftigen Willens heilfame Klarheit der Gedanken und 
befonnene Intelligenz gewonnen wird. Denn an eine Einfchränfung oder 
gar Abſchaffung der altelaſſiſchen Studien kann Fein Berftändiger denken. Sit 
doc; der geiftige Gehalt der beiden Eulturvölfer des Altertjums zu einem 
Beitandtheil des modernen Germanenthums geworden. 


„Das Leben aller Weltgeſchlechter ſchloſſen 

In unſres wir; wir haben kühngemuth 

Den fremden Geiſt in deutſch Gefäß gegofſſen, 

Die fremde Form durchſtrömt mit deutſchem Blut. 
Da ward, im Ringen tiefer nur genoffen, 

Zum Eigentbum uns das entlehnte Gut, 

Und keine Blume, die mit frobem Glanze 

Der Menichbeit aufging, fehlt in unfrem Kranze.“ *) 


Wollten wir die alten Spraden aus den Gymnaſien weifen, jo würden 
wir bald ums felbjt verlieren, jo untrennbar ift ihre Kenntniß mit dem 
beutjchen Weſen verknüpft. Bergeblid hätten dann die großen Pbilologen 
unferes Bolkes, Fr. A. Wolf und das Diosfurenpaar, Böckh und G. Her: 
mann, die Kenntniß des Alterthums uns ericloffen, vergeblih Schiller un 
Goethe uns eine claſſiſche Pitteratur geichaffen. 

In dritter Linie wirft auf den Menjchen auch ein jubjtantielles Element, 
wie ed Hegel nennt, erziehlich ein. Es ift dies in der Ordnung begründet, 
in der er lebt und nach der er feine geiftige Organiſation bequemt umd richtet, 
inwiefern die Grundſätze mehr als Sitte an ihn fommen und allmählich eigene 
Gewohnheiten werden. Im dieſer Hinficht it nun die Schule ein fittlicher 
Zuftand. „Sie ift eine Sphäre, die ihren eigenen Stoff und Gegenſtand, 
ihr eigenes Geſetz und Recht, ihre Strafen und Belohnungen bat, und zwar 
eine Sphäre, die eine weſentliche Stufe in der Ausbildung des gungen fitt- 
lihen Charakters ausmacht. Die Schule fteht nämlich zwiſchen der Familie 
und der wirflien Welt und macht das verbindende Mittelgliev von jener in 
diefe aus. Das Veben in der Familie ift ein perſönliches Verhältniß, ein 
Verhältniß der Empfindung, der Yiebe, des natürlichen Ölaubens und Zu— 
traueus, es ift nicht Das Band einer Sache, fondern das natürliche Band des 
Blutes. Das Kind gilt bier darum, weil es das Kind ift; es erfährt ohme 
Verdienſt die Yiebe jeiner Eltern, jowie e8 ihren Zorn, ohne ein Recht da— 
gegen zu haben, zu ertragen hat. Im der Welt dagegen gilt der Menſch nur 
das, was er leiftet, er hat ven Werth nur, infofern er ihn verdient. Die 
Schule nun führt den Menfhen aus dem Naturverhältnif der Empfindung 
und Neigung in das Element der Sache. Im der Familie herricht perfönlicer 
Sehorfam und Liebe, in der Schule Pflicht und Geſetz. Der formellen Ord— 
nung halber hat das Kind dies zu thun, Das Andre zu laffen, was fonft 
wohl dem Einzelnen geftattet werden könnte. Nach Andern ſich richten, Zu: 


*) Seibel, Deutſch und Fremd, in „Gedichte und Gebenkblätter”, 5. Auflage. 
Stuttgart 1868. 


— 


trauen zu ſich gewinnen, kurz die ſocialen Tugenden erwachſen in ihren 
Räumen.“ *) e 

Schon der Geift der Schule muß den Zögling in den Schranfen ver 
Beſcheidenheit und Sittfamfeit, der Ordnung und Pflichttreue, des Gehorjams 
und der Fügſamkeit erhalten. Plato jagt fehr richtig, daß für alle Erziehung 
gewilfermaßen die Grumdpfeiler die Beſcheidenheit und der Gehorſam jeien. 
In diefer Beziehung wird darauf die Schule ihr Augenmerk zu richten haben, 
die Unerwachjenen prinzipiell von der Theilnahme an denjenigen Genüfjen und 
Vergnügungen Erwachjener fern zu halten, die am ſich unbedenklich auc der 
Jugend zu geftatten Wären, die aber, weil im Verein mit Erwachſenen ge- 
währt, ihr das umberechtigte Gefühl, viejen gleichzuftehen, mitzutheilen geeignet 
find. Im Kreife der Familie find derartige VBeluftigungen unverwehrt, un: 
ftatthaft aber, jobald fi mehrere Familien zu einer gewiſſermaßen öffentlichen 
Feier zufammen vereinigen, wie dies beijpielömeije bei den Tanzluſtbarkeiten 
geihieht. Die Zuziehung von Schilern, und gehörten fie auch der oberjten 
Clafje an, zu Refiourcen » Ergöglichkeiten halte ih nad) den Erfahrungen, die 
ih darüber gemacht, fiir durchaus ſchädlich. Wie will man bei derartigen 
verfrühten Maßregeln noch boffen, die Jugend vor der Blafirtheit zu be- 
wahren, welde heute allerdings in‘ Folge der durch die übel angebradte, un— 
verantwortliche und geradezu grenzenlofe Nachgiebigkeit gewiffer Eltern und 
jogar einzelner Yehrer verjchuldeten Anticipation der Bergnügungen Erwachſener 
in erjchredendem Maße eingerifien ift und nicht nur die Unbefangenheit des 
finplihen Herzens, den foftbarjten chat des Knaben, ſondern aud die Fähig— 
keit der Begeifterung, der Weihe des Jünglings, zu ranben droht? Mit 
Recht hielten die Römer die sera juvenum aetas für das eigentlihe Ziel 
der Erziehung. Aber aud die alte gute Eitte in der deutjchen Familie ſchloß 
den Sohn, jo lange er Schüler war, von Bällen und Schmanfereien, ja jogar 
vom häuslichen Tifc aus, ſobald Säfte geladen waren. Was thut die moderne 
Eitte dagegen? Als ob die Söhne und Töchter noch nicht gemug Unterhaltung 
hätten, wenn. fie an ben Vergnügungen der Erwachſenen fich betheiligen, 
arrangiren bier und da Familien „von gutem Ton“ noch befondere Kinder- 
bälle. So werden Zierpuppen erzogen, jo wird die natürliche Unbefangenheit 
und Wahrheit zeitig in den jugendlichen Herzen ertödtet, und an deren Stelle 
der Schein und die Phraje groß gezogen. Man bevenfe doch ja, daß „Dies 
die Jahre find, in denen, wie Schiller jagt, der Knabe ſich ſtolz vom Mädchen 
reißt, d. h. nach der Ordnung der Natur die Geſchlechter Nichts von ein— 
ander willen wollen“. „Diefe Orbnung der Natur zu rejpectiren, wäre 
weife, jehr weile.“ **) Wer halb Knabe, halb Jüngling bereits feine Kinder— 








*) Worte Hegel’s, feiner dritten Gymmafialvede entnommen, , 

**) Briefe Über Berliner Erziebung. Berlin 1872, ©. 72. Ueber die Formali— 
täten bei der Einladung zu biefen Feften beiftt es ©. 73: „Man erwartet eine offi- 
zielle Einladung von Seiten der Eltern, und zwar, wo ein folder vorhanden ift, durch 
den galenirten Bedienten mit weißer Salsbinde, da eine Botſchaft durch das Dienft- 
mädchen in ſolchem Falle ſchon als ein arger Formfebler von den Eitern und natür- 
lich auch von den Kindern — Übel genommen würde; damit nicht genug: ift Die in 
Ausficht ſtehende Geſellſchaft von der entiprechenden Größe, jo ift auch jene Form nicht 
mebr brauchbar, man ſchickt durch den Bedienten die litbograpbirte Einladungsfarte!“ 
— „If die Einladung erfolgt, fo werben die Vorbereitungen mit ber entjprechenden 
Wichtigkeit und Gründtichleit betrieben, denn in einem fo glänzenden Haufe können Die 


3* 


— 


bälle mitgemacht hat, der iſt für den Zauber der deutſchen Minne verloren. 
Ihr Eltern, bedenkt es wohl, daß ihr eure Kinder für das höchſte Glück 
unempfänglich macht, welches das Herz eines deutſchen Jünglings oder einer 
deutjhen Jungfrau erheben kann! Daß ihr die ſchönſten Jahre aus ihrem 
Yeben ftreicht, in denen das ftille Sehnen der Liebe zum Lied begeiftert und 
erröthend den Spuren der Geliebten zu folgen zwingt! Aud um den Geuuß 
der herrlichiten Yitteraturfchäge und um die durch deren Lectüre vermittelte 
jugendliche Begeifterung bringt ihr eure Lieben! Oper follte Siegfrieds und 
Chrimhildens Liebe und Kudruns Treue verjtehen, der ſchon im Knabeuröd— 
hen jeine Pflichttänze zu machen gewiejen wurde? 

Noch ımzweifelhafter ift es mir, daß der Beſuch der Schanflofale, auch 
in Begleitung Erwachſener, jchlechterding® zu verbieten ift. Nur, wo die Noth 
zwingt, alfo 3. B auf Reifen, mag man Ausnahmen ftatniren. Wenn nänlid 
Plato e8 dem Erzieher einfchärft, namentli zu verhüten, daß ein Mal ein 
Jüngling einen Alten etwas thun jehe oder reden höre, was mit der Zittlid- 
lichfeit und Schambaftigfeit collivirt, jo wird dieſe Vorſchrift gerade ein unbe 
dDingtes Berbot des Beſuches der Neftaurationen nothwendig machen. Denn 
daß am Biertiſch die reverentia pneris debita beachtet werden würde, wird 
Niemand zu behaupten wagen. In Gegenwart feines Sohnes, jo wird berichtet, 
ſprach der ältere Cato mit ſolcher Vorficht, als ob BVeftalinnen zugegen wären. 
Und Ariftoteles warnt eindringlich davor, die Kinder zu lange den Sklaven 
zu überlaffen, deren Einfluß leicht ein entjcheidender werden könnte. Im unjerem 
Bolfsbemußtjein lebte einft ein ähnliches Zartgefühl, das den Verkehr ver 
Kinder mit den Dienftboten mit Argwohn beobachtete. Heute überläßt die 
Mutter ihren thenerften Schatz gern diejen Händen, um inzwijchen ihrem Ber- 
gnügen nachzugehen oder jogenannten gefellichaftlichen Verpflichtungen zu genügen. 
Doch wir ſprachen von demBeſuch ver Rejtaurationslofale! Alle übrigen Gründe, 
die man für das Verbot defjelben anführt, nämlich daß die Jugend vor Zer- 
ftreuumgen bewahrt werden müſſe, ferner, daß ſie nicht das Recht auf einen 
durd Geld zu beſchaffenden Genuß babe, da jie joldes nod nicht verdiene, 
gelten nur erjt im zweiter Reihe. Für mich ift emticheidend, daß die Be- 
jheidenheit und Schambaftigfeit der Jugend in den Gafthäufern Gefahren 
ausgeſetzt iſt. 


Kinder aus einem fo glänzenden Haufe doch nicht anders als glänzend erſcheinen. St 
ber, Tag des Feftes da, fo beginnen -einige Etunden vor der „befoblenen“ Zeit die 
Toiletten: der Krifeur fommt und kräuſelt den Mädchen die Poden um ben platten 
Schädel, brennt den Knaben das Saar und ziebt den Attachéſcheitel über den jüb 
abſtürzenden Hinterkopf. Daß die Mädchen nicht ohne Blumen im Haar erſcheinen 
dürfen, namentlich wenn ein Tanz in Ausficht ſteht oder geradezu zum Ball geladen iſt, 
verſteht ſich von ſelbſt.“ — „Natürlich erſcheinen die Knaben ganz in Schwarz, die 
Weſte tief ausgeſchnitten, das Jabot friſch getollt und mit den goldenen Knöpfchen ge 
ziert (das faire jabot, ich verſpreche es Ihnen, wird nicht ausbleiben), darunter das 
glatt geſpannte Hoſenbein und der zierliche Lackſtiefel.“ — „Halten Sie es für möglich, 
pſychologiſch möglich, daß die Kinder, welche ſo zuſammenkommen, nun harmlos mit— 
einander wie Kinder ſpielen? Iſt es nicht nothwendig, daß die Gedanken in der Rich— 
tung, in welcher man ſie zwei Stunden zu Hauſe beſchäftigt hat, forttreiben und ſo, 
zumal im Anfang, das Hauptgejchäft fein wird, fich gegenfeitig zu muftern u. |. m.“ 
Wabrlich, wer ein Herz für die Jugend und für das Vaterland bat, wird nothwendig 
darauf geführt werden, daß bier ein vernünftigerer Wille die vom Pfade der Natur 
abirrende Sitte gewaltfam zurechtweifen müſſe. 


— 


Mit ſicherem Tacte verboten die Griechen den jungen Leuten auch das 
müßige Verweilen auf dem Markte. Die ſittlichen Zuſtände der heutigen 
Zeit machen es durchaus nöthig, wenigſtens für die Abendſtunden das gleiche 
Verbot zu erlaſſen. Was den Beſuch des Theaters anlangt, jo empfiehlt es 
ji, der Jugend nur zu den großen Theatern den Zutritt zu gejtatten. Vor 
wenigen Jahren hat der Kronprinz des deutſchen Neiches ein jehr beherzigens- 
werthes Urtheil über die Berliner Lokalbühne aejproden. Auch die Boflen, 
die in den Heinen und mittleren Provinzialftädten aufgeführt zu werden pflegen, 
fündigen derartig gegen Moral und Gejhmad, daß fie eigentlich polizeilic) 
verboten werden müßten. Wenn Väter und Mütter diefelben in Begleitung 
ihrer Söhne und Töchter anjtandslos beſuchen und bis zum Schluß ohne 
Erröthen ausharren können, jo ift damit ein neuer Beweis erbracht, daß der 
Staat ohne Schaden für das Volksthum die Jugenderziehung nicht länger den 
Eltern allein überlaffen darf. *) 

Die Benugung der Leihbibliotheken jeitens der Zöglinge ift mit Rückſicht 
auf die lascive Nomanlitteratur, die in denſelben hauptjächlich vertreten zu fein 
pflegt, gänzlich zu unterjagen. 

Der Beſcheidenheit und Züchtigfeit widerjpricht auch jedes renommiſtiſche 
Auftreten in der Deffentlichkeit. Bier wird jedoch der perſönliche Einfluß 
des Pehrers ohne directes Verbot wohl am weitejten wirkſam jein. Schüler: 
verbintungen, die ihren Grund nicht in wiffenjchaftlihen Studien finden, jind 
ftreng zu unterdrüden. Dagegen ift ein vernünftiger Corpsgeiſt innerhalb 
der lafienverbände forgjam zu pflegen. Cine publiciftiiche Ihätigfeit darf 
dem Schüler ſelbſt dann nicht gejtattet werden, wenn ſich Yehrer finden jollten, 
welche die Redaction und Verantwortung für Scyitlerzeitichriften zu übernehmen 
Willens wären. Ein derartiges Heraustreten in die Deffentlichfeit widerjpricht 
allen gefunden pädagogiſchen Grundfügen. 

Endlich kann es fid) noch fragen, ob die Einführung einer Tagesordnung 
für die ganze Schule oder für die Schüler einzelner Claſſen wünſchenswerth 
erjcheine. Dies verneine ich, jelbft für die unteren Claffen, und zwar erftens, 
weil die Schule nicht ohne zwingende Noth das häusliche Yeben zum Gegen— 
ſtand reglementarischer Beſtimmungen machen joll, ſodann weil wir — uud 
das ift die Hauptſache — einen freien Gehorjam und eine Erziehung zu 
jelbftändiger Arbeit anzuftreben haben. Cine derartige Anordnung dirfte nur 
ausnahmsweife in den unteren Glaffen auf Zeit, über Schüler der oberen 
Claſſen aber nur in ganz befonders qualificirten Fällen als Strafe bei fort: 
geſetzter pflichtvernachläſſigung verhängt werden, und zwar ebenfalls nur auf 
eine kürzere Friſt, um immer wieder die Möglichfeit zu freier Thätigkeit zu 
eröffnen. 

Eine unmittelbare Einwirkung auf die Sittenzucht haben die moralifche 
Belehrung und die Ahndung der Uebertretungen, von denen nun die Rede 
fein wird, 

„Man könnte die erfteren für überflüffig halten, weil bei ſolchem Neben 
und Wiffen häufig alle übeln Yeivenfchaften, Heine Empfindungen und vor- 


*) „Ferner fol das Gejet jüngere Yeute weber bei Spottipielen noch bei Komödien 
als Zuſchauer zulaſſen, bevor fie das Alter erreicht haben, in welchem ihnen geitattet 
ift, bei dem gemeinjchaftlihen Mahl ibren ordentlichen Blat einzunebmen und unge— 
mifchten Wein mitzutrinten.“ Aristol, Polit. VII, 15. 


r 36 


nehmlich moralifcher Eigendinfel Plat greifen können. Es bleibt aber dennoch 
nicht weniger wichtta, nicht lediglich auf die natürliche Entwidelung des Guten 
aus dem Herzen und auf die Angewöhnung durch das Beifpiel ohne Reflexion 
fi) zu verlaffen, jondern das Bewußtſein mit den fittlihen Beſtimmungen 
befannt zu machen, die moraliichen Meflerionen in ihm zu befeftigen und es 
zum Nachdenken darin anzuleiten. Denn an diefen Begriffen haben wir bie 
Gründe und Gefichtspunfte, aus denen wir und und Anderen Recenjcaft 
über unjere Handlungen geben, die Richtungslinien, die uns durch die Manni: 
faltigfeit der Erſcheinung und das unfihere Spiel der Empfindungen hindurch 
leiten. Es ift der Borzug des Selbſtbewußtſeins, daß es ftatt der Feſtigkeit 
des thierifchen Inſtinets einerſeits willkürlich iſt und andrerjeits dieſer Willfür 
aus ſich ſelbſt durch den Willen Schranken fett. Das Feſte und Pindende 
gegen das Unftäte und die Widerfprüce jener Seite find die fittlichen und 
dann noch mehr die religiösen Beltimmungen.“ *) 

Deshalb fcheint es mir höchſt nothwendig, daR der Ordinarius auch ftets 
der Neligionslehrer feiner Claſſe it. Wenn aud oft der Fall eintreten mag, 
daß der Ordinarius die Religionsfacultas entweder gar nicht oder doch nicht 
für feine Clajfe hat, jo wird doch meines Dafürbaltens in feinem Face je 
(eiht von der Unterrichtsberechtigung, die doch nur auf Grund einer beftimmten 
Summe von Kenntniffen erworben tft, abzufehen jein, wie gerade in ver 
Religionswiſſenſchaft. Mir will es ſogar fcheinen, als ob es mit dieſer Die: 
ciplin nicht jo fchleht auf dem Gymnaſium beitellt fein würde, wenn der 
Lehrer auf Einzelheiten der Dogmatif weniger einzugeben in der Lage iſt.“ 
Daß im Allfemeinen gerade Der Ordinarius diejen Unterricht mit dem aröften 
Segen für das Herz und die Kräftinung des vernünftigen Willens feiner 
Zöglinge geben wird, iſt mir unzweifelhaft. 

Der Altmeifter der Pädagogik, Onintilian, aiebt bekanntlich die höch 
beherzigenswertbe Mahnung***), man möge die Zönlinge durch treue Be: 
aufſichtigung anleiten, zu thun, was vecht tft, damit man nicht hinterher gezwungen 
werde, diefelben zu ftrafen, wenn fie Unrecht thäten. Daß das Ziel des 
Vehrers in der Ihat darauf gerichtet jein muß, durch feine geſammte Wirk: 
jamfeit die Strafen unnöthig zu machen, iſt unzweifelhaft. Aber jelbjt ver 
beite Lehrer und felbit die beite Schule vermag ganz ohne Strafen wicht durch— 
zufommen. Und wenn ich jchon geneigt bin, aus dem Umftante, daß ein Pehrer 
häufig zu Strafen jchreiten muß, mir ein ungünftiges Urtheil über feine päda— 


*) Aus Hegels dritter Gymnaſialrede. 

**) Mio weit fih der Lehrer bei folchen dogmatiſchen Klaubereien von den wirklich 
nutzbringenden Betrachtungen verlieren kann, dafür ein Beiſpiel. Hollenberg, Hülfsbuch 
für den evangel. Religionsunterricht in Gymnaften, Berlin bei Wiegand und Grieben, 
gibt zu 8 DI einen Ercurs über die Engel, indem es von ihnen unter Anderem wört— 
lich beifit: „eine geſchlechtliche Fortpflanzung findet nicht Statt." Gerade diefe Materie 
muß wohl einen befonderen Reiz zu weiteren Specenlationen bieten. So ift mir zu— 
fällig befannt, daß ein anderer Religionslehrer die Arten der Engel feine Schüler 
lorafültig unterfcheiden lebrt. 

***) Quintil. inst. orat. 1. 3, 14. Caedi vero discipulos — — minime velim. 
Primum quia = — — postremo quod ne opus erit quidem hac castigatione, 
si assiduns studiorum exactor astiterit. Nune fere neglegentia paedagogorum 
sic emendari videtur, ut pueri non facere, quae recta sunt, cogantur, sed, cum 
non fecerint, puniantur. 


gogiſche Gejchidlichkett und feine Treue im Amt zu bilden, jo erregt in mir 
doch die Prablerei jtrebjamer Collegen, daß fie ganz der jtrafenden Einwirfung 
zu entrathen vermöcdten, nod größere Bedenken über deren  erziehliche 
Wirkſamkeit. 

Die Strafe charakteriſirt ſich als ein gewaltſamer Eingriff in die mora— 
liſche Entwickeluug des Zöglings.) Ihre Anwendung beruht auf dem Satz, 
daß Vitia fugere est virtus et sapientia prima. Aus der Luſt über die 
Beſiegung des Fehlers entipringt dann die höhere Yuft zur Tugend. 

Die Schuljtrafen werden nicht ſowohl auf die Abjchredungstheorie als 
vielmehr auf die Beſſerungs- und Sühntheorie zurüdzuführen fein. Der 
Lehrer muß dur die Strafe beffern wollen, ver Schiiler in ihr eine Sühne 
für jeine Verſchuldung um der verlegten Gerechtigkeit willen erbliden. Aus 
dem erjten Satz folgt, daß die Strafen, die auf einer Neizung des Ehrgefühls 
beruben, mit großer Borficht angewendet werden müſſen. Man bat zwar ge- 
meint, dag man Die niedere Neigung zunächſt nur durch Erregung einer relativ 
höheren Neigung vertreiben müſſe, um jo allmählich den Zögling der fittlihen 
Vollkommenheit, joweit überhaupt dem Menſchen möglich, näher zu führen. 
Die Trägheit z. B. iſt Neigung ver vegetabiliihen Welt, und fo folle man 
dieſe durch Erregung der Nafchhaftigfeit, der Neigung der thieriihen Natur, 
bezwingen, dieſe demnächſt durch Erregung des Ehrgeizes u. j. w. Allein 
dagegen macht mit Recht der verjtorbene Trendelenburg die Anficht geltend, 
daß wo das Böje gedämpft werben folle, es nur durch das Gute gejchehen 
fönne. Der beherrjchende Wille muß von vornherein in eine vernünftige 
Richtung geleitet werden. Aus dem zweiten Saß, daß der Schüler in ver 
Strafe gewifjermaßen eine Reaction des von ihm verlegten Rechts erkennen 
jo, ergiebt ſich, daß Strafen in der Regel nicht erlaffen werden dürfen. Es 
würde in dieſem Falle die jtrafende Ihätigfeit in die Gefahr gebracht, in den 
Augen des Zöglings als willkürlich zu ericheinen und damit die Wirkung 
aufgehoben werden, welche gerade in der Objectivität derjelben liegt. 

Eine dritte Regel jet, daß der Erzieher beim Strafen fortiter in re, 
suaviter in modo verfahre. Daß nur die Milde anf dem Grunde einer 
vernünftigen Strenge Eindruck macht, ift eine alte pädagogiſche Erfahrung. 
In dieſer Beziehung ift zu verfchiedenen Zeiten in verſchiedener Weiſe ſchwer 
gefehlt worden. Bald paarte ji die Strenge mit Grauſamkeit und Roheit, 
Bitterkeit und höhniſcher Freude über den Schmerz des Gezüchtigten, bald die 
Milde mit Schwächlichfeit und mit einem ſchimpflichen Buhlen um die Gunft 
der Schüler. 

Wie die Strafen für öffentliche Vergehen und Verbrechen mit dem Fort— 
jchritt der menſchlichen Entwidelung gelinder werden, jo zwar, daß die Arten 
der Strafen ein getreuer Gradmeſſer für die Cultur des gejammten Volkes 
jind, jo ähnlich auch im Schulleben. Gegen die Prügeliucht eines Chryfippus 
und der Orbilier legte Quintilian Verwahrung ein, gegen die wahrhaft grau— 
jamen Strafen der Scholaftifer, welde in viefen Studien von Yuft „Zur 
Pädagogik des Mittelalters” Abjchnitt V des Weiteren behandelt find, Eras— 


*) Worte Trendelenburg’s in feinen Borlefungen über Pädagogil und Didactif. 
Aus dem Eolleg diejes hochverehrten Meifters — auch ich durfte einst zu jeinen Füßen 
fiten — ſtammt mebr als ein Gedanke, den ich hier vorgetragen babe. 


38 


mus. Bor ihm hatte ſchon Walther von der Vogelweide gefungen: „mieman 
fan mit gerten kinderzuht beherten: den man z’&ren bringen mac, dem tt 
ein wort als ein flac.“ Auch Luther mahnte befanntlih von Grauſamkeit in 
ver Wahl der Erziehungsmittel ab, er verwarf Strafen, die eine ſervile Ge: 
finnung in den Beitraften erzeugen möchten, und wenn er auch ausprüdlicd 
vie Prigelitrafe als nothwendig bezeichnet, jo ſchärft er es doch den Rectoren 
eindringlich ein, die Kinder „höviſch“ zu behandeln. Trotzendorf danegen, 
deſſen Schuldisciplin etwas von dem römiſchen Geiſte in ſich trug, ftrafte oft 
jehr hart in der Art der Kloſterſchulen, nur daß er fein Anjehn der Perſon 
gelten ließ und daher Gelpftrafen ausſchloß, weil durch dieſe die Eltern und ' 
nicht die Kinder betroffen würden. **) Auch daß man fi in feiner Schule 
durch eine mohlgejette Iateinische Nede von der Strafe gänzlich frei machen 
fonnte, ift eine Erbicdaft, die der font fo eifrige Lutheraner ans der Kloſter— 
disciplin angetreten hatte. In den evangeliihen Schulorbnungen des 16. Yabr- 
hunderts jpielt die Ruthe eine große Rolle. Prügelftrafe tritt ein für Wider: 
feglichfeiten, Roheiten, aber aud für Trägbeit und fogar für Ummiffenbeit. 
Ganz beſonderes Jutereſſe bietet die Nordhäuſer Schulordnung vom Jahre 
1583 ***) nicht bloß wegen der entſetzlichen Roheiten der Schüler, die im ver: 
jelben mit Strafen bedroht werden, jondern nody mehr wegen der brutalen 
Weife, in welcher die dortigen Lehrer zu trafen Anweifung erbalten. Wo 
von den Uebungen im Disputiren und Declamiren in Prima und Secunda 
die Rede ift, heißt es wörtlih alfo: „Der Lehrer foll Dem, welder etwas 
Falſches fagt, einen Schmit mit der Ruthe auf die Hand geben.“ Ferner: 
„Ein jeder Lehrer joll Diejenigen, welche ihre Yection nidyt können, alsbald 
ftäupen. Bet der Gorrectur der Arbeiten werden die fehler gezäblt, auf drei 
gehört ein Schilling (d. i. Obrfeige), auf vier zwei.“ Geradezu deprawirend 
mußte aber das im dieſer Schulordnung befohlene Spionierſyſtem wirken. 
Und nad all dieſen wahrbaft rigorofen Beſtimmungen werden jchlieklic die 
Lehrer doch noch ermahnt, ja nicht tyranniich (1) zum handeln, Die Knaben 
nicht bis aufs Blut zu ftäupen, mit Füßen zu treten, bei ven Ohren und 
Haaren aufzuheben oder mit dem Stod ins Geficht zu fchlagen: Strafarten, 
die damals doch vorgefommen fein müſſen, da die Schulordnung es für nöthig 
findet, fie namentlid zu verbieten. Die Strafen der Schulen im 17. Jahr— 
hundert entſprechen noch weniger dem Ideal des Erasmus, daR die pmeri 
liberaliter educandi jeien. Die Scala derſelben ift: Geld-, Ruthen-, Prügel—-, 
Garcerftrafe und Relegation. Gelpftrafe trat flir grammatifalifche Fehler ſowie 
für unentjchuldigtes Ausbleiben aus der Schule und für verjpätete Ablieferung 
der jchriftlichen Arbeiten ein. Auf Rebellion ftand Prügelſtrafe, die, zu ihrer 
Sharafterifirung ſei es gefagt, unter Zuziehung „Fräftiger Männer aus dem 
Volke“ zur Erecntion gelangte. +) Auch die Iefuitenichulen, welche ihr Er: 
ziehungsſyſtem befanntlid) auf die unlautern Triebe und Negungen der Menjhen, 
auf Ehrgeiz, Eelbjtjucht und Eigendünkel, gründeten und daher über die Zög— 


*) Bergl. Durand de Laur, Erasme, III, p. 6. Paris 1872. 
**) Sonft büßten Freie in Geld, was Unfreie mit ihrer Haut bezabiten. 
“r, Abgedruckt bei Bormbaum, ev. Schulordnungen, 1. 
7) Siebe die Schulordnung von Herford, mitgetbeilt von Hölfcher im Programm 
des Gymnaſiums daſelbſt 1874. ©, 13. 


39 


(inge mit großer Zicherheit herrichten, Fonnten doch der Prügelftrafe nicht 
entbehren. Aber durch die Art ihrer Ausführung nahmen fie ihr den letsten 
Reſt fittliher Einwirfung. Nicht der viejelbe verhängende Lehrer, ſondern 
ein zu diefem Behuf bejonders angejtellter Profos vollzog fie. Da ift es 
denn Ratichius, von dem binfichtlic einer liberaleren Behandlung der Schüler 
die neuere Pädagogik ihren Anfang nimmt Er verlangt, daß der Lehrer 
alle Grauſamkeit im der Beitrafung auf das Aengitlichite vermeive. Weiter 
und zwar zu weit geht Yode, der fid überhaupt gegen die Anwendung ber 
Ruthe erklärt und jhon die Kinder wie verftindige Männer behandelt wiſſen 
will. Aehnlich, freilich von einem ganz andern Standpunkt aus, weiſt Aug. 
Herm. Fraucke die Prügelftrafe ab, wenigitens joll fie um geringer Dinge 
nicht angewendet werden. Mit chriftlicher Gelindigkeit und janftmüthtaer 
Zuſprache gedenkt er viel mehr auszurichten als mit Strafen. Ebenſo fah 
das Philanthropin von der Ruthe ab und führte nur folgende Strafen ein: 
1) Verminderung der Meritenpunfte, 2) Berwandlung einer Studienftunde 
in eine Handarbeitsftunde, 3) Einſchließung in ein einfames, Fahles Zimmer, 
während die Genoſſen, dem Beftraften wahrnehmbar, in einem Nachbarzimmer 
geiftigen Arbeiten oblagen. 

Unter dem Einfluß diefer Anftalt, der gar nicht unterſchätzt werden darf, 
hat fi im Schulregiment, wenn aud im Ganzen weniger unter ben praf: 
tiſchen Lehrern, eine bisweilen ins Kranfhafte überjpielenvde humane Richtung 
ausgebilvet, die auch im unſern Tagen gegen jeden Gebraud der Ruthe im 
der Schulſtube anfimpft. Cine bejondere Stärkung erführt fie einerfeits durd) 
die noch immer im lebhafter Erinnerung ftehenven Yorinfer’ihen Klagen, dann 
aber noch mehr dur den Zeitgeift. Dieſer zeigt faſt auf allen Gebieten der 
Staatsverwaltung eine Franfhafte Schwachherzigkeit und eine überaus milde 
Beurtheilung von Bergehungen. Schon ift der Schaden diefer weichmüthigen 
Beftrebungen für das Volfsthum deutlich genug kenntlich geworden. Ich erinnere 
nur an die Erfahrungen, die unjere Zeit mit dem neuen Strafgeſetzbuch, mit 
der jo rücdfichtsvollen Behandlung der Etrafgefangenen, mit dev milden Auf- 
faflung des jogenannten Nctienichwindels, mit der Aufhebung der Zünfte u. ſ. w.. 
gemacht hat. Ein gewiſſer Doctrinarismus macht fich breit, der, weil er auf 
die wahren Bedürfniſſe des Volks, wie ich meine, zu wenig Nüdficht nimmt, 
nothwendig ſchädlich wirkt. So ftreifen denn wirklich Regterunasverordnungen 
an die Grenze des Möglichen, wenn fie die fürperliche Züchrigung ganz aus 
der Schule, ſogar aus der Dorfihule, entfernt willen wollen. In den höheren 
Vehranftalten, vie ſich der nichtsnutzigen Knaben im äußerſten Fall durd 
Relegation entledigen fünnen, mag die Prügelftrafe noch entbehrt werben 
fünnen, nicht aber in der Bolfsjchule, we eine ultima ratio für unbändige 
Koheiten eine Nothwendigkeit ift. 

Eine Disciplinar - Ordnung für die preufifhen Schulen fehlt nod). 
Das in Ausfiht ftehende Unterrichtsgeleg wird hoffentlich auch auf diefem 
Gebiet regelnd eintreten und der Willfür der einzelnen Lehrer und Schul: 
Infpectoren durch Aufftellung allgemeiner Normen über die Schulzucht Grenzen 
jegen. Jedoch da die Strafen gemäß ihrer eigenthümlichen Natur ihre wahre 
Bedeutung erft durch den fie vollziehenden Lehrer erhalten und, wenn "fie 
von Erfolg jein jollen, mit Rückſicht auf die individuellen Eigenjchafen des 
Zöglings in jedem einzelnen Falle gewählt werden müſſen, jo wird man ſich 


40 


gerade hier zu hüten haben, durch Ertheilung zu ſpecieller Borjchriften vie 
Wirkſamkeit des Strafmittels von vornherein aufzuheben. Der Perſönlichkeit 
und dem Gewiſſen des Yehrers und des Pehrer » Collegiums muß ein gewiſſer 
Spielraum gelaffen werden. Aber die allgemeinen Grundfäte wird Das Geſetz 
allerdings aufftellen müffen. Diefe wären wohl folgende. 

Zunächſt verftebt fi von ſelbſt, daß jede Strafe von Grauſamkeit frei 
bleiben muß, und ihre Verbüßung in feiner Weije Gefahren für die geiftige 
oder körperliche Gejunpheit des Schillers herbeiführen dürfe. Hinſichtlich des 
Strafmaßes gelte der Grundſatz weiſer Sparſamkeit, hinfichtlih der Methode, 
daß die Strafe der Natur des Vergehens nah Möglichkeit anzupaffen jet. 
Die. Strafarten alle anzuführen, it unmöglich, da die Individualität des 
Lehrers dieſe jehr verſchieden gejtalten, ihmen jehr verjchievenen Werth geben 
kann. Schon mit dem ftrafenden Blick wird ein guter Yehrer feine Strafen- 
Stala beginnen. Wir reden im Folgenden nur noch von den fünf allgemein 
in den höheren Schulen recipirten Strafmitteln. 


1) Die Strafarbeiten. Bon den meiften Pädagogen unjerer Tage 
werden biejelben beanftandet. Dieſen ſchwebt dabei wohl jener tm früherer 
Zeit weit verbreitete Mißbrauch derjelben vor, der darin beſtand, möglichſt 
geiftloje und langweilige, dazu auch recht zeitraubende Penfen zur Strafe für 
jedes beliebige Vergehen, namentlid auch für Ungezogenheiten, aufzugeben. 
Aber abusus non tollit usum. Die Strafarbeiten find meines Erachtens 
da am Plage, wo ein Schüler fi eine Saumjeligfeit oder Nachläſſigkeit in 
der Erfüllung feiner Pflichten hat zu Schulden fommen lafjen. Die Theorie, 
für jedes Bergehen eine adäquate Strafe feftzufegen, rechtfertigt ihre An- 
wendung in dem angegebenen alle ſicherlich. Aud wohl Für unentſchuld— 
bares Zuſpätkommen mag dieje Strafe ertheilt werden. Andere wollen die 
Sache gelten lafjen, nehmen aber au dem Namen Anſtoß, weil es unpaſſend 
fei, irgend eine Arbeit, die doch dem Schüler ftets eine Quelle der Luft fein 
jolle, als Strafe zu bezeichnen. Wie man inveffen auch eine ſolche Yeijtung 
nennen mag, die durd den Unfleiß des Schlilers nöthig geworden, fie wirt, 
wie Director Kramer in der Directoren = Berfanmlung zu Magdeburg richtig 
bemerfte,*) immer als eine Strafe empfunden werden, und indem der Schüler 
dur fie genöthigt wird, feine Pflicht voll zu erfüllen, trägt fie auch in ber 
That den Charafter einer jolden. Die Strafarbeit ift nichts Anderes als 
die mildefte Form der SFreiheitsentziehung, wie Bormanıı **) in derjelben 
Berfammlung ſagte. Und da bei jeder Freiheitsentziehung gleichzeitig fir 
eine Beihäftigung des Schillers in diefer Zeit nothwendig zu forgen ill, 
diefe Beihäftinung doch aber nicht wohl anderer als geiltiger Art fein Fanı, 
jo würde mit der Ctrafarbeit als folder auch jeve andere Freiheitsitrafe 
fallen müſſen. So wird man denn wohl in verfelben das gelindefte Mittel 
erbliden dürfen, ven nachläſſigen Schüler zur Pünktlichkeit und zu ftrengerer 
Pflichterfüllung zu zwingen. Cautelen allerdings macht diefe Strafart nötbig. 
Nämlich erftens ift von ihr alles Mechaniſche und Geiſttödtende fernzubalten, 


*) Berbandlungen der erften Berfammfung der Directoren der Prov. Sachſen zu 
Magdeburg, Halle, Waifenbaus 1874. ©. 87. 
**) Ebenda ©. 104. 


41 


und ein mehrmaliges Abfchreiben deſſelben Penjums durchaus unftatthaft. 
Zweitens ijt bei’ der Auswahl des Penfums darauf zu achten, daß feine 
Materie verwendet werde, die dem Schüler ein Gegenftand ehrerbietiger Scheu 
oder achtungsvoller Yiebe bleiben ſoll. Drittens darf die Strafarbeit unter 
feinen Umſtänden jo groß bemefjen werden, daß dem Schüler die Möglichkeit 
genommen wird, die laufenden täglichen Arbeiten mit der gehörigen Sorg— 
falt anzufertigen. Endlich überjehe man nicht, daR, wenn jchon die übrigen 
Strafen ſich durch zu häufigen Gebrauch abnugen, dies ganz bejonders von 
der Strafarbeit gilt. 

2) Die Strafe des Nahjigens wird zumädit angewendet werden, 
um den Schüler, wenn er eine Arbeit verjäumt oder in nicht zufriedenftellen- 
der Weiſe gemacht hat, zum nachträglichen, beziehungsweife zum jorgfültigeren 
Anfertigen derjelben anzuhalten. In den leichteren Fällen dieſer Art, z. B. 
bei mangelhafter Präparation auf den Schriftiteller, ungenügender Nachüber— 
jegung u. |. m. wird es wohl genügen, dem Schüler die Arbeit noch ein 
Mal aufzutragen und ihm eine Zeit außerhalb ver Schuljtunden feitzujegen, 
da er fih dem Lehrer gegenüber in deſſen Behauſung darüber auszuweiſen 
bat, wie er jeine Aufgabe nachgeholt habe. 

Die Strafe des Nachſitzens tritt zweitens paffend für leichtſinnige Ueber- 
tretungen ber Schulgejege ein. Denn da die Öejegesverlegung einen Miß— 
braudy der Freiheit imwolvirt, jo iſt als Gegenmittel eine Freiheitsentziehung 
angezeigt. Ueber den Modus der Abbüßung dieſer Strafe dürften noch 
folgende Bemerkungen am Plage jein. 1) Ohne Aufſicht eines Vehrers darf 
dieje Strafe niemals verbüßt werden. Cs it ja befannt, zu welden ſchmutzigen 
Jugendſünden, in einzelnen Fällen auc zu wie verzweifelten Entjchlitiien die 
Einjamfeit Schiller während des Nachſitzens jchon veranlaft hat. Da nun 
dem vielbeichäftigten Yehrer nicht zugemuthet werden darf, behufs ver Inipection 
eines Arreftanten fich noch über die Schulzeit hinaus in der Claſſe aufzubalten, 
jo erſcheint es gerechtfertigt, da Das Nachſitzen in der Wohnung des Lehrers 
erfolgt. Dabei ift aber jedenfalls Vorjorge zu treffen, daß hierbei das Ehr— 
gefühl des Schülers nicht dadurch Schaden nehme, daß er als Delingquent 
den Mitgliedern der Familie des Yehrers begegnet. Wenn man gegen diejen 
Modus des Arrefts eingewendet hat, daß dem Schüler durch venjelben leicht 
das Gefühl abhanden kommen werde, daß es für ihn eine Auszeichnung ift, 
wenn er mit dem Vehrer außerhalb der Schule, namentlich aber in deſſen 
Haufe, zufammenfommen dürfe, jo liegt e8 dod wohl auf der Hand, daß der 
Schiller eine Einladung in das Haus des Yehrers immer noch jehr gut von 
einer Beitellung dahin behufs Erduldung einer Strafe zu unterjcheiden willen 
wird. 2) Ein gleichzeitiges Nachſitzen mehrerer Schüler it möglichſt zu ‚ver- 
meiden. Jedenfalls dürfen nicht Schüler aus mehreren Claſſen, wie dies an 
einigen Anjtalten allerdings üblich geworden it, unter der Aufjicht eines dazu 
bejonders beftimmten Lehrers dieje Strafe verbüßen. Denn das Gefühl der 
Gemeinſchaft vermindert ohne Zweifel erheblih den Eindrud der Strafe und 
ſtumpft zugleich das Chrgefühl ab. 3) Eine entſprechende Arbeit ift den 
nahfigenden Schülern ftets aufzugeben und zu vermeiden, daß fie im biejer 
Zeit einem gefährlichen Hinbrüten anheimfallen. 4) Diefe Strafe muß nad) 
oben hin immer jeltener, aljo in Secunda nur in ganz bejonderen Fällen, 
in Prima aber gar nicht mehr verhängt werden birfen. 


42 

3) Die förperlide Zühtiaung Wie fih zu dieſer Strafe der 
moderne Zeitgeiſt ftellt, ift oben bemerkt worden. Allein jo gewiß der mittel: 
hochdeutſche Dichter Necht hat: Niemand kann mit Gerten Kindes Zucht be- 
bärten, jo gewiß tt es auch, daß allein durd) das Wort noch nie ein Menſchen— 
find gut erzogen worden ift, es auch nicht werden wird, jo lange die menſch— 
lihe Natur diejelbe bleibt. 

Man könnt” erzogene Kinder aebären, 
Wenn die Eltern erzogen wären. 

Menn freilid die Schulordnungen proteftantiicher Gymnaſien vordem die 
Prügelſtrafe noh bei Unfleiß und Unwiſſenheit jogar bis im die oberften 
Claſſen in Anwendung bracdıten, jo werden wir fie nur für Roheit und 
grobe Wiverfetlichfeit, und auc nur in den beiden unteren Claſſen, in Anſpruch 
nehmen. Der Stof in der Hand des unterrichtenven Vehrers iſt jchon in 
Serta höchſt verwerflih und mur ein testimonium paupertatis für den 
Docenten. Auch kann es nicht gebilliat werden, wenn beim Unterricht Fleine 
körperliche Züctiaungen mit der Hand fir mangelhafte Antworten, beimiejene 
Unaufmerkſamkeit und Bernachläfftaung im der Körperhaltung angewendet 
werben. Gin derartiges Berfahren verdirbt den Geift der Claſſe und ſtumpft 
auf Jahre bin das Gefühl der Kinder ab. Mas Wieje in feinen Briefen 
iiber engliſche Erziebung binfichtlih ver Anwendung der Priügelftrafe bis in 
die oberjten Claſſen der Schule zu Eton erzählt," darf uns in feinem falle 
zu der Meinung verleiten, als brauchten auch wir nicht jo ängſtlich Die förper: 
liche Züchtigung auf die unterften Claſſen einzufchränten. Denn in England 
ift jene Strafe eben Sitte, und Schleiermacher macht mit Recht Darauf auf 
merffam, daß für die Arten dev Strafe arade die Sitte von entjcheidender 
Bedeutung fein müſſe. Einem Erzieber, der bei ums noch in ven oberen 
Claſſen durch Schläge für das Gute zu gewinnen fuchen wollte, müßten wir 
zurufen: Men das Wort nicht züchtiat, den ſchlägt auch ter Stod nice. 
Schließlich ift noch die Beſtimmung jelbitverftändfich, daf die Strafe der förper: 
lichen Züchtigung wicht von dem Sculdiener, ſondern allein von dem Pebrer 
zur Ausführung zu bringen it. 

4) Auch gegen die Carceritrafe wird neuerdings, namentlich in ben 
Kreifen der Lehrer, Mancherlei, das der Beachtung werth it, geltend gemacht. 
Das jchwerwiegendfte Moment gegen dieſes Strafmittel jcheinen Die anzufübren, 
welche vemfelben ven Charakter einer Gefängnißhaft zuſprechen, Die für Zög— 
(inge nicht angemeſſen fein könne. Democh meine ih, daß fie fir Schüler 
der oberen Claſſen thatſächlich nicht entbehrt werden könne. Jenes Bedenken 
Ihwindet, wenn wir beriüdjichtigen, daR ja die Schüler der oberen Claſſen 
in der That ſchon im einer gewiſſen Periode Des Ueberganges in das öffent: 
fie Yeben stehen. Der Charakter der Schulftrafe muß aber dadurch feſt— 
gehalten werden, daR die Dauer derjelben zwei Stunden nicht überſteigen darf. 


‚ 

*) Wiefe, Briefe über engl. Erziebung ©. 33. „An Eton find ſelbſt Die Zöglinge 
der oberjten Claſſen noch wicht davon erimirt, mit Schlägen beftraft zu werden. Der 
Widerſpruch zwiſchen dem Ertragen diefer Bebandlung und dem reizbaren Selbitgefübl 
des jungen Engländers bat darin feine Löſung: die aenannte Strafe ift eine altber 
fümmliche und geſetzliche; mur der hend-master in feinem vollen Amiskleide vollzieht 
fie und fie bat in der allgemeinen Meinung nichts Beſchimpfendes.“ 


= 


Nur als ultima ratio gegenüber ſchwereren Verletungen ver Schulgeſetze komme 
fie in Anwendung. Nicht in einem verfchloffenen Claſſenzimmer werde fie 
verbüßt, jondern in einen bejonders zu dieſem Zweck beſtimmten hellen und 
gefunden Raume, der zwar jeder Ausſchmückung entbehrt, aber mit Tifch nnd 
Stuhl verjehen it. Der Ordinarius bat dem Schüler eine Aufgabe zur Aus- 
arbeitung zu ftellen, denſelben bei der Arbeit im Garcer zu controliren und 
ihn nad Ablauf der beſtimmten Frift zu entlaffen. Bei diejer wie überhaupt 
bei allen Strafen wird diefer Lehrer es nicht unterlaffen, nachdem fie verbüßt 
it, im geeigneter Weife dur eindringliche Zufprache den beijernden Eindruck 
derjelben zu erhöhen. 

5) Das consilium abeundi ſchließt ſich erforderlicheufalls an die 
Garcerftrafe an, wenn die Wiederholung des Bergehens einen bevenflihen Ein- 
flug auf die Mitſchüler befürchten läßt. Ungehörig dürfte es fein, ein ſolches 
consilium von dem Betroffenen noch unterjchreiben zu laſſen; es erimert 
diefe Form an ftudentifche Sitten ımd harmonirt durchaus wicht mit dem Ge— 
wohnheiten der väterlichen Zucht, welde die Schule ſtets nach Möglichkeit 
nachzuahmen bat. Dagegen find die Eltern ftets von der Mafregel durd 
den Ordinarius in Kenntniß zu feßen. 

Die Entfernung von der Anftalt ift im Grunde feine Strafe mehr. 
Sie tritt ein, wo die Schule nad gewiſſenhafter Anwendung aller ihr zu 
Gebote ftehenden Befjerungsverfuhe ihre Aufgabe als unlösbar erfennt, ſodann 
wo feitens eines Schülers ein verderblider Einfluß auf die Mitjchitler zu 
Tage tritt, endlich wo ein Schiller ſich durch eine unmoraliſche Handlungs— 
weife in den Augen feiner Kameraden jo vergangen bat, daß zu erwarten 
fteht, Diejelben würden ihn ihres Umganges ferner nicht würdigen. Im dieſen 
Fällen ijt es beffer, daß ein Einzelner leide, als daß Viele an dieſem Einzelnen 
ein Aergernig nehmen. Man erweift ja wahrlich nicht ein Mal dem Schiiler 
jelbft, der die Eittengefege in einer ihn entehrenden Weiſe übertreten hat, 
einen wahrhaften Gefallen, wenn man ihn noch länger auf der Anjtalt läßt. 
Denn ift der Geift der Anftalt ein guter, jo ift e8 ganz unvermeidlich, daß 
ih vie Mitjchitler von ihm mit Verachtimg abwenden, und daß er jomit 
einem Zuftand der Vereinſamung anheimfällt, der das Chrgefühl vollends 
untergräbt und nichts weniger als ein Hebel zur Beſſerung werden kann. 
Diefe kann nur eintreten, wo man mit Vertrauen dem Gefallenen entgegen— 
fommt. Dies aber ift mur an eimer andern Anftalt möglid, wo derſelbe ale 
ein homo novus für feine Mitſchüler auftritt. Ich wünſchte, daR er aud) 
feinen neuen Yehrern als ein durchaus Unbekannter entgegentreten dürfte. 
Darum meine ich, daß jede Entfernung im Stillen und ohne Mittheilung an 
die benachbarten Anftalten erfolgen jolle. Ich finde es hart, eine Erelufion 
dadurch zu verichärfen, daß gleichzeitig ausgeſprochen wird, der Entfernte 
dürfe auf Feiner Anstalt je wieder Aufnahme finden. Die Möglichkeit, fich 
zu bejjern, follte man Niemandem, am wenigften einem jungen Menjchen 


An legter Stelle hätten wir nod) von dem Forum zu reden, vor das die 
einzelnen Bergehungen der Schitler gehören, jowie im Zuſammenhang damit 
von dem Umfange der Diseiplinar-Strafgewalt der Lehrer. 

Jeder ordentliche Yehrer wird die Disciplin während jeines Unterrichtes 
voll und ganz in Anfpruc zu nehmen haben. Nur bei fortgejegtem Unfleiß 


44 

und hartnädiger Unaufmerkjamfeit wird er es für feine Pflicht haften, mit dem 
Ordinarius Rückſprache zu nehmen, um ein gemeinjames Einwirfen der Glafien- 
lehrer zu erzielen. Schüler, die in offenbar muthwilliger Art den Unterricht 
jtören, wird er aus der Glafje herausweiſen dürfen. Nach der Stunde aber 
wird er davon aus dem Grunde Mitteilung an den Ordinarius und an den 
Director zu machen haben, weil ein derartiger Borfall für die geſammte Beur- 
theilung und Erziehung des Schülers höchſt wichtig ift. 

Die eigentliche Erziehung des Schülers liegt dem Ordinarius ob. Diejer 
wird, was zum Schaden der Sache heute oft nicht der Fall ift, immer nur 
ein definitiv angeftellter, aljo ein bereits erprobter Yehrer fein. Steht vies 
gejeglich feit, jo werden auch ſchon die Kräfte für die Ordinariate ſich finden 
laffen. Warım z. B. der Matbhematifus nad) dem jegigen Brauch nur aus 
nahmsweije ein Drdinariat verwaltet, iſt nicht einzujfehen. Und ein älterer 
Symmajial- Elementarlehrer dürfte in der Negel eine geeignetere Perſönlichkeit 
für das Ordinariat von Serta oder Quinta jein als eim eben examinirter 
Probe - Candivat. Auch dafür, Daß bier und da der Director ſich von der 
Führung eines Ordinariates entbindet, läßt ſich ein triftiger Grund nicht finden. 
Es muß — das verlangt der Ernjt der erziehlihen Aufgabe der Schule, — 
Grundſatz fein, daß gerade die älteften Pehrer des Collegiums die Ordinariate 
haben. Wie heute wohl ein Streberthum binfichtlichtlih der Stunden in ven 
oberen Claſſen ſich in unerfreuliher Weife an manchen Anftalten breit macht, je 
mag es lieber als eine begehrenswerthe Ehre gelten, Ordinarius einer Claſſe 
zu jein, gleich viel, welde es fei. 

Der Ordinarius hat das ganze Betragen der Schüler feiner Klaffe, ſowehl 
vor den Stunden als aud in denjelben, jowohl im Hauſe als auch auf der 
Strafe, im Auge zu behalten. Ihm liegt die Aufſicht über die Penfionen und 
die Bermittelung zwiſchen Schule und Elternhaus ob. Wie er feine Schüler 
am beiten fernen joll, jo wird ihm auch die ftrafende Wirkſamkeit anzuvertrauen 
jein, wo e8 ſich um Bergehungen gegen die allgemeine Schulordnung handelt. 
Dennod werden jeiner Strafgewalt Grenzen zu ziehen fein, und zwar am 
natürlichjten in der Weiſe, daß 

der Ordinarius für Unfleig und Unaufmerkſamkeit, jowie für Unarten Strof- 

arbeiten und einftündiges Nachfigen verhängen kann. 

Die Disciplinargewalt der übrigen Lehrer und der Gonferenz dürfte je 
zu regeln jein, daß 

1) jeder Lehrer dieſelbe Strafbefugniß gegenüber den in feinen Unterrichts— 
jtunden zu Tage tretenden Vergehungen hat; 

2) die engere Gonferenz, zu der die definitiv angeftellten Anftaltslehrer ge 
hören, nad Anhörung des Ordinarius bejchliegt, wo es ſich um bie 
Beitrafung eines jchwereren, innerhalb der Schulräume verübten Ber: 
gehend handelt ; 

3) der weiteren Gonferenz, der, wie oben $ 6 ausgeführt worden, außer 
den Pehrern der Schule auch gewählte Vertreter der Familien umd ber 
politiihen Gemeinde angehören, die Ahndung der außerhalb ver Schul— 
räume vworgelommenen Bergehungen zufteht. 

Ein Conferenzbeſchluß ift nothwendig, wo eine fürperlihe Züchtigung (mur 
in den beiden unteren Claffen, bei Knaben bis zu 12 Jahren), eine mehr ale 
einftündige Arreftitrafe (in den Mittelclaffen) oder eine Garcerftrafe (mer in 


45 





den beiden oberen Claſſen) eintreten joll; das consilium abeundi und 
die Berweiſung von der Anftalt kann immer nur die weitere Gonferenz 
ausjpredyen. 


8. 


Bufammenftellung der Grundfäße der Erziehung, welde in dem 
bevorſtehenden Unterrichts - Hefe Aufnahme zu finden verdienen, 


Db num die im Borhergehenden wiedergelegten Grundſätze der Erziehung, 
namentlich infofern fie beſtimmend auf die Yebensweife des Zöglings einwirken, 
in einem fogenannten Schulgeſetz, das dem Knaben bei feiner Aufnahme in die 
Hand gegeben wird, niederzulegen feien oder nicht, Darüber herrſcht umter den 
Pädagogen getheilte Anſicht. Bis in die Mitte der fünfziger Jahre haben 
wohl alle Gymnaſien ihren Schülern gedrudte Eremplare der Schulgejege ein- 
gehändigt. Seitdem bat diefer Brauch mehr und mehr aufgehört. Man jagte, 
daß die Folge eines gejchriebenen Geſetzes nur die fein könne, daß zwiſchen 
dem Yehrer und dem Schiller ein Nechten eintrete, ein Verhältniß, das ſich ala 
fittlich nicht erkennen laffe Dazu fomme, daß alle Gejege bejtimmte Zwecke 
ind Auge fahten. Cie jeien daher im Staate notbwendig, da fich hier die 
Zwede vielfach Freuzten. Anders in der Schule, wo nur ein Zweck walte, 
Dem Knaben könne durd das Geſetz der Schule Nichts gejagt werden, mas 
er nicht jchon ſelbſt wüßte. 

Dem ſei nun, wie ihm wolle ; aber eins ift unzweifelhaft: Das Interefle 
des Staates erheiicht, daß im dem Unterrichtsgefeg nicht mur die äußeren Ber: 
bältniffe der Schulen und des Pehrerftandes eine gejeglihe Negelung erfahren, 
die Berechtigungen der verſchiedenen Schulgattungen fejtgeftellt, die Unterrichts— 
gegenftände und die Unterrichtsziele fiir jede Schulcategorie beſtimmt, jondern 
daß vor Allem auch gegenüber der im deutſchen Yanden einreißenden Sitten- 
verwilderung, Püfternbeit und Vergnügungsſucht der Jugend Erziehungs-Grund— 
füge ausgeiproden werden, die für Eltern und Lehrer, ſowie für das heran- 
wachjende Geſchlecht unbedingt und überall maßgebend find.*) Im diefem Sinne 
begehren wir, daß in dem Geſetze 

1) der Staat ſich nit mur die Aufficht über die Schulen und den Unter: 
richt, fondern über die Yugenderziehung im Ganzen zufpreche ; 

2) angeordnet werde, daß Die Jugend im Geijte der Züchtigfeit, Bejcheiden- 
heit und Ordnung erzogen "werden jolle, und daR ihr jomit 

a. der Beſuch von Keftaurationen und Schankſtätten, 

b. vie Theilnahme an öffentlihen Tanzbeluftigungen, 

ec. der Zutritt zu den Borftellungen von Poſſen, 

d. die Benugung von Yerhbibliothefen 

verjagt bleibe ; 


*) Daß mit folchen generellen, für den ganzen Staat geltenden Beſtimmungen 
ein ſchwerer Schlag gegen die Selbftändigkeit der einzelnen Unterrichtsanftalten geführt 
wird, entgebt mir nicht. Allein da eine Regelung der Disciplinar - Berbältniffe den 
einzelnen Gemeinden und Schulen nicht überlaffen bleiben kann, obne die Jugend— 
erziebung und damit Das Intereſſe des Staates zu gefübrben, jo ift dies Vorgehen 
berechtigt. 








46 





3) nähere Beftimmungen getroffen werden, um in ven Schulgemeinden Be— 
hörden ins Leben zu rufen, weldye die Erziehung beauffichtigen, jo zwar, 
daf Die Zahl der von den Familienvätern gewählten Mitglieder weniaftens 
gleich) der Zahl der mitberathenden und mitjtimmenden Yehrer it; 

4) diejen Behörden zugleich die Entſcheidung über Aufnahme in die Schule 
und Entlaffung aus derjelben, die Sorge für die äußeren Angelegenheiten 
der Anjtalt, die Anordnung von Schulfeſten, ſowie namentlid die Straf: 
gewalt iiber die Zöglinge, joweit fie nicht unmittelbar dem unterrichten- 
den VYehrer oder dem Ordinarius zukommt, eingeräumt werde; 

5) von den bisherigen Schuljtrafen die körperliche Züchtigung als Aus— 
nahme Mafregel bezeichnet werde, deren Anwendung in der Volksſchule 
möglichſt einzujchränten, in den höheren Schulen aber nur in den beiden 
unterjten Claſſen jtatthaft fei. 


Pädagogifde Htudien. 
Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein. 


17. Seft. 


Die Lehre 


bon ber 


Schuldisciplin. 


Von 


I. Böhm, 


Kl. Seminarlebrer in Altdorf. 


„Eine Schule ohne Schulzucht ift eine Mühle 
ohne Waſſer.“ Eomenius, 

„Hauptmittel der Erziehung ift der Unterricht, 
ber ftrenge Unterriht, bann bie That oder das 
Erempel und enblich die Disciplin, ohne welche 
feine Gemeinde, fein Haus, fein Staatäwejen, feine 
Schule gedeiht.“ Dieftermweg. 


Wien und Leipzig. 
Verlag von U. Pichler’s Witwe & Sohn. 
Buchhandlung für pädagogiihe Literatur und Lehrmittel » Anitalt. 


Drud von Fiſcher & Wittig in Leipzig. 1877. 


Vorbemerkung. 


Die nachftehende Arbeit ift aus der von dem Verfaffer 1876 bei 
Bed in Nördlingen erfchienenen Schrift: „Die Disciplin der Volksſchule“ 
(11 Bogen) hervorgegangen. Die legtere hat den Zwed, Schuljeminariften 
und angehende Yehrer mit den Grundfägen und der Handhabung der 
Schuldisciplin theoretifh befannt zu machen. In ven vorliegenden 
Blättern wird verfucht, in kurzen Umriffen fowohl die Stellung ver 
Schuldisciplin im Gefammterziehungsgebiete als auch Begriff und Wefen 
verfelben im Sinne der neueren Päragogif darzulegen oder feitzuftellen 
und daran eine Beiprechung der Mittel und der Methode der Disciplin 
anzureihen. Da viele trübe Erfcheinungen des focialen Lebens der Gegen- 
wart bereit zu Anklagen gegen die Schule geführt haben, die Pädagogik 
der Neuzeit ſich aber theoretifch mit der Schuldisciplin verhältnißmäßig 
wenig bejchäftigte, jo hielt der Verfaſſer ven Zeitpunkt für geeignet, eine 
wichtige Frage aufs Neue anzuregen. Wenn dabei die rechten Grenz— 
linien gezogen worden umd fein wejentlicher Punkt unberührt geblieben 
ift, fo dürfte die gedrängte Darftellung dem Verfaſſer nicht zum Vor— 
wurf gereichen. 


Altdorf, im Zuli 1877, 


3. Böhm. 


Inhalt. 


nn 


ei 
1. Einleitung — — 
II. Vom Weſen und Zweck der Schudisciffin . » 2 2 2 nn 4 
Il. Bon den Mitteln der Schuldisciplſiiiin.. en . 


IV. Bon der Methode der Schuldiscihlin . 2 2 m m nn. A 
J. Theoretiſcher Theii. 21 

2. Praktiſcher Theiii. 24 

a. Phyſiſche Gewöhnung.... 24 

b. Geſellige Gewöhnung. . . * 

e. Sittliche Gewöhnung.... rn. fh 
JJ ee ee ee 


— —— — 


I. Einleitung. 


—ñN — 


Deutſche Zucht“, wer ſoll ſie üben? Haus und Schule und wer 
erziehen kann. „Deutſche Zucht geht über alle“ ſang im Mittelalter Walther 
von der Vogelweide. Heute klagt man auch in Deutſchland über Rohheit und 
Zuchtloſigkeit der Jugend. Iſt nun der gute Geiſt, welchen der Minneſänger 
im Liede preiſt, wirklich aus dem deutſchen Hauſe gewichen? Iſt es wahr, 
daß die deutſche Schule nur einſeitig die Intelligenz bildet und Gemüth und 
Willen ſo wenig in Anſpruch nimmt, daß mit dem Steigen der Bildung ein 
Sinken der Sittlichkeit Hand in Hand geht? Es läßt ſich kaum verkennen, 
daß der materialiſtiſche Zug unſerer Zeit, der die öffentlichen Intereſſen den 
Privatintereſſen unterzuordnen ſucht, eine große ſittliche Verwirrung anzurichten 
droht. Auch ſieht man mit Bedauern, daß ſelbſt aus wohlſituirten und ge— 
bildeten Familien Kinder hervorgehen, die der deutſchen Zucht keine Ehre 
machen. Ebenſowenig läßt ſich leugnen, daß es viele Schüler giebt, die ein 
rohes, raffinirtes, unſittliches Verhalten an den Tag legen und damit dem Lobe 
deutſcher Zucht Hohn ſprechen. Aber trotz dieſer „Zeichen der Zeit“ bleibt 
es wahr, daß der Egoismus auch in der ſogenannten „guten alten Zeit“ ſchon 
da war und ſich nur zu oft auf eine ſehr unziemliche, ja ſchauderhafte Weiſe 
geltend- machte. Von der guten alten Zeit bis heute find die Menſchen doch 
im Allgemeinen klüger, geſcheider, einfichtsvoller und befjer geworden. Wie 
bocherfreulich ift e8 heutzutage, aud aus armen und geringen Berhältniffen 
heraus fi viele Männer entwideln zu jehen, welde zu ben Zierden der 
Nation gehören. Die meiften unferer Schulen wollen aud am ganzen Menſchen 
arbeiten, juchen nicht nur die Normen des Sittengejeges zur Erfenntniß zu 
bringen und überhaupt die Einficht zu mehren, jondern aud die Uebereinjtinmung 
des Willens mit der Erkenntniß des Rechten durch Gewöhnung zur andern 
Natur zu machen. Und wahrlich, die weitaus größte Mehrheit der Schul- 
jugend iſt folgſam, beſcheiden und ſittig. Warum aber dann jolde Klagen 
und Anflagen? Weil, wie jhon gejagt, fie zum Theil begründet und berechtigt 
ind; denn es gibt Kinder over Schüler, die fi eine Verlegung der Pietät 
zu Schulden kommen lafjen, daß man ftaunen muß. Die Klagen ftammen aber 
aud) aus der Unkenntniß der Erziehungsgejchichte, aus der verwerflihen Sehn- 
ſucht nach den Mitteln und der Weife der mittelalterlihen Zucht und aus 
der Berleumdungsjucht gegen die Principien der modernen Schule. Die eigentliche 
Urjahe von dieſen theilweiſe berechtigten, aber ſtark übertriebenen Anklagen 
liegt, abgeſehen von den in der Erziehung oder im Unterricht gemachten Fehlern, 
hauptſächlich im Mangel eines getreuen und verſtändigen Zuſammenwirkens 

Böhm, Die Lehre v. d. Schuldisciplin, 1 


2 





der Erziehungsfactoren, bejonders von Hans und Schule und in der Bernab- 
läffigung der Kindererziehung durch viele Familien. Dies dürfte Ber: 
anlajiung jein, die Aufgaben des Haujes und der Schule in Betreff der Zucht 
einer genaueren Unterjuhung zu unterziehen. In dieſen Blättern joll zu: 
vörderjt die Aufgabe der Schulzudt des Näheren bejproden werben. 

Zunächſt dürfte es dabei angezeigt erjcheinen, fi über die Etellung 
zu orientiren, welde die Schulzuht oder wie fie hier genannt wird, Die 
Schuldisciplin im Gejammtgebiete der Erziehung einnimmt. 

Coll der Schuldisciplin innerhalb der Erziehung eine beftimmte Stelle 
angewiejen werben, jo entiteht erjt die Frage, was Erziehung iſt. Nun 
verjteht man unter Erziehung im allgemeinften Sinne alle die Thätigkeiten 
(gleihviel von wem fie ausgehen), welhe den Menſchen abfichtlib und plan- 
mäßig zu befähigen juchen, ver höchſtmöglichen Vollkommenheit in jelbjtbewußter 
Freiheit nachzuftreben. Vollkommen ift nur Gott, deſſen Ebenbild Chriftus 
ift, der in jeiner Perfon umd in jeinem Yeben das höchſte Tugendideal menſchlich 
dargeftellt. Wird ein Menſch zu ftetem Streben nad dieſem höchſten Ideal 
gebracht, dann hat die Erziehung ihren Zwed erreicht. Die vom Erzieher zu 
diefem Behufe ausgehenden, von jeinem Geift geleiteten Thätigfeiten find die 
Erziehungsmittel, als welde wir 

1) die Pflege (zur Förderung des leiblichen Yebens), 

2) den Unterricht (zur Erzeugung der Einjicht) und 

3) die Zucht (zur Einleitung eines mit der richtigen Einſicht überein- 
ftimmenden Wollens) unterjcheiden. 

Denkt man ſich alle diefe Mittel in Anwendung, jo ſpricht man von 
Erziehung im weiteren Sinne Nimmt man dagegen in der Theorie 
eine Scheidung vor, jo erhält man a) die Erziehung im engeren Sinne, 
weldye die Einwirkungen der Zucht auf den Willen und die nicht aufer Acht 
zu lafjende leiblihe Pflege umfaßt, und b) den Unterricht, der auf bie 
Erfenntniß gerichtet ift, wie folgendes Schema zeigt. 

Erziehung im weiteren Sinne. 


a. Erziehung im engeren Sinne, b. Unterricht. 
| 


aa. Pilege. bb, Zucht. 

Faßt man ins Auge, daß die eigenthümlichen Verhältnifje des Menſchen— 
lebens in der Erziehung Berüdjichtigung verlangen, jo kommt man in Hinficht 
auf den Stand und Beruf zur Unterjcheidung einer Erziehung des Bürgers 
und Yandmanns, des Gelehrten und Militärs, des Adels und der Fürſten, 
während man binfichtlid) des Kreijes, in welchem die Erziehung ihre Stätte 
hat, Familien- und Schulerziehung, kirchliche und ſtaatliche Erziehung unter: 
jheiden fann. Familie, Schule, Kirche und Staat find die Erziehungsanftalten, 
welde ihren Einfluß aufbieten, um der Erziehung eine joldhe Richtung zu 
geben, wie fie erjtens ihren jelbiteigenen Zweden eutſpricht, und wie zweitens 
aber auch die Erreihung der allgemeinen Menſchenbeſtimmung es erfordert. 
Die Schulerziehung hat deshalb einerjeits jowohl einen guten Schüler, 
als anderjeits einen guten Menſchen zu erziehen. Sie hat und bedarf dazu 
feine anderen Mittel, als die Erziehung überhaupt, als: Pflege, Zucht 
und Unterricht. Wohl it es zweifellos, daß die Familie, welche als die erite 


3 

und widtigfte Erziehungsftätte gelten muß, welcher im Verein mit ver Schule 
die Hauptarbeit in der Yugenderziehung zufüllt, — daR die Familie die 
Willensrihtung in überwiegender Weiſe beeinflufen, ihre Erziehungsthätigfeit, 
bejonders durch die Pflege und Zucht, zu einer tiefareifenderen Wirkung zu 
concentriren vermag, als die Schule. Allein wie in der Familie Pflege und 
Zucht den Mittelpunft ver Erziehungsthätigfeit bilden, ohne daß der Unter: 
richt ausgeſchloſſen oder entbehrt werden fünnte, ebenfo hat die Schule den 
Unterricht zum Gentrum ihrer erziehliben Thätigkeit, ohne aber Pflege und 
Zucht umberücjichtigt zu laffen oder zu vernachläffigen. Da „gerade ber 
gemeinjame Schulunterricht gibt die beſte Gelegenheit, gejellige Tugenden 
anzueignen, das eigene Behagen dem Wohl des Ganzen unterzuordnen und 
bie Lehren und Forderungen bezüglich der Geſundheit und Sittlichfeit Fennen 
und erfüllen zu lernen. Damit ift aber dargethan, daR die erziehliche Thätigfeit 
der Schule, oder die Sculerziehung, ſich (analog der Erziehung im All 
gemeinen) in Schulerziehung im engeren Sinne und in Schulunterridt 
jheiden läßt. Da die Schulerziehung im engeren Sinne (Pflege und Zucht) 
bier Schuldisciplin (= Schulzucht) genannt wird, fo ift damit zugleich die 
Stellung gefennzeichnet, welche diejelbe im Gejammterziehunsgebiete einnimmt, 
Folgende Gliederung wird zur Veranſchaulichung des Geſagten binreichen. 


Erziehung. 
| 


A. Familien  B. Shu- _C, Kirdlihe D. Staats 
erziebung erziebung Erziehung erziebung 


a. Schulunterricht. b Schulbisciplin 
— Schulerziehung im engeren Sinne. 


aa. Pflege. bb. Zuct, 

Die Anweifung N Erziehung im Allgemeinen gibt die Erziehumgslehre 

oder Pädagogik, die Anleitang zur Schulerziehung die Schulerziehungslehre 
oder Schulpädagogif. Dide hat ſich nun einerſeits mit der Lehre vom 
Schulunterriht, anderjeits fit ver Yehre von der Schuldisciplim zu 
befaffen. Lestere hat Wefen und Zwed ver Disciplin zu erläutern und 
feftzuftellen, die Disciplinarmittel aufjwjuchen, vie Art und Weije 
Ihrer Anwendung anzugeben und überhonpt in die praktiſche Ausführung 
den Blick zur eröffnen. Cine ſolche Anleitung gliedert ſich demnach in drei Theile, 
welche ſich der Schulerziehungstehre folgendermaßen einordnen: 





J 








Hcuferziehungsfehre. 
| 
‘ II. 
Lehre vom Unterricht. Lehre von der Diseiplin. 
— Im. 


Weſen u, Zweck. Mittel. Methode u, prakt. Ausführung. 


Verbürgt die Lehre von der Schuldisciplin noch keineswegs eine gute und 
richtige Handhabung derſelben, da das Discipliniren wie jede Kunſt Verſuch, 
Uebung und Erfahrung fordert, fo leiſtet fie derſelben doch allen Vorſchub. 
Indem fie nämlich mit den auf dem Wege pfychologiſcher Forſchung gefundenen 

1* 


4 


und von der Erfahrung geprüften Gejegen und Regeln bewährter Pädagogen 
befannt macht, fordert fie zur Bergleihung auf und wird fo zum Prüſfſtein 
für die eigene Führung der Disciplin. Eine jolde Theorie ift alfo etwas 
jehr Praftifhes. Sie jagt ja auch immer wiederholt, daß die Jugend nicht 
bloß durch Vpeen, fondern aus dem Yeben heraus für das Yeben gebildet, daß 
das Yeben in der Schule zu einer Schule des Yebens werden und deshalb die 
Schule von dem Bewußtſein durchdrungen fein müffe, daß die Erziehungsauf- 
gabe eine allen Erziehungsfactoren gemeinfame jei, daß beſonders Schule und 
Haus fi die Hände reihen und gegenfeitig unterftügen mitffen, wenn aus 
ihrem Gegenftande der Zudt, dem Kinde, einjt ein tugenphafter und charafter: 
fefter Menjc werden foll. 


II. Vom Wefen und Zweck der Sculdisciplin. 


Wie man für Schulerziehung im engeren Sinne öfters Schuldis— 
ciplin zu fegen pflegt, jo wird biefür auch Schulzucht als gleichbedeutend ge- 
braudt. Allen man ftelt Schulerziehung im engeren Sinne der Schuldis— 
cıplin aud gegenüber und verfteht dann unter Schulerziehbung diejenigen 
Einwirkungen, welde auf die Gejinnung und Gefittung (Erziehung zur Gottes— 
furdht, zum Gehorfam, zur Nächftenliebe ꝛc.) abzielen, unter Schuldisciplin 
hingegen den Inbegriff aller Maßnahmen, wodurd der Lehrer eine gute äußere Zucht 
und Ordnung unter feinen Schülern berzuftellen und zu erhalten ſucht. Ferner 
jest man hie und da für Schulerziehung im engeren Sinne Schulzucht ale auf 
das Innere, und gegenüber Schulpisciplin, als auf das Aeußere ſich be: 
beziehend. Wieder andere unterfcheiden eine höhere und niedere Tendenz 
der Ecdhuldisciplin; die erftere gebt auf das Innere, die legtere auf das 
Aeußere. Erftere entſpricht ungefähr dem, was Herbart Zucht und Stoy 
Führung, legtere dem, was Herbart Negierung und Stoy Polizei 
nennt. Diefe verfchiedenen Auffaffungen und Bezeichnungen, welde alle mehr 
oder minder im Zufammenhange ftehen, möge folgendes Schema veranſchaulichen: 


Schulerziehung im weiteren Sinne. 
| 





A. Schulunterricht B. Schulerziebung im engeren Sinne, 
— Schuldisciplin — Schulzudt. 


a. Schulerziehung b. Schudisciplin 

















l. (Inneres) | —= Schulzjudt 
u — F Aleußeres 
2 a, Schulzucht * b. Schuldisciplin 
" (Inneres) L Aeußeres) 
oder 
3 a. Höhere Sphäre J b. Niedere Spbäre 
Inueres) Aeußeres) 
* 
a. Zucht b. Regierung 
(06 Sta (Inneres) (Aeuferes) 
a a — 
5, a, Führung b, Polizei 


(nad Stov) (Inneres) (Aeußeres) 


5 


Damit ift aber die Verfchiedenheit in der Bezeichnung nod nicht am Ende. 
So wird z. B. das Wort Dieciplin auch ale auf das Innere gehend ge— 
braucht, das Wort Schulzucht aber bin und wieder in der engften Be- 
deutung von Zucht (— Strafe) angewendet. 

Der häufige Gebrauh von Schulzucht ftatt Schulerziebung (im 
engeren Sinne) iſt leicht erklärlich. Abgefehen von den Nebendeutungen, welche 
das Wort Zucht zuläßt, fällt es feiner pädagogiſchen Bedeutung der Haupt: 
ſache nad doch mit Erzieben, Erziehung zufammen Zucht leitet ſich 
gerade wie Erziehung ab von Ziehen Die Zucht ift das Ziehen ves 
Kindes aus feiner Hilflofigfeit, Schwachheit und Unwiſſenheit heraus zur Kraft, 
Vernünftigfeit und Selbitftändigfeit. Das ift aber mejentlih das Erzieben, 
oder Erziehung. Darum ſetzt die Volksſprache für Erziehung der Kinder auch 
den nicht mißzuverſtehenden Ausdruck „Kinderzucht“. 

Wie aber ſteht es mit Schuldisciplin und Schulzucht? Auch 
ſie ſind im Grunde daſſelbe, nur auf verſchiedenem Sprachboden gewachſen. 
Das lateiniſche Wort disciplina bedeutet Unterweiſung, Lehre, auch Wiſſen— 
ſchaft, dann aber auch Regelung des Verhaltens, ſittliche Gewöhnung, 
Zucht. Dieſe Vollſinnigkeit des Wortes enthält zugleich den Hinweis, daß 
der Unterricht ſelbſt Zucht üben könne und ſolle. Daher ſagt Dieſterweg: 
„Schuldisciplin iſt gar nicht etwas Beſonderes, Selbſtſtändiges, ſondern eins 
mit dem Unterricht. Der wahre Didaktiker iſt auch Disciplinator; wer ſich 
recht auf den Unterricht verſteht, verſteht ſich auch auf die Disciplin, wer 
gut unterrichtet, disciplinirt gut. Die Unterrichtsgegenſtände ſind nach alter, 
aber oft wieder vergeſſener Anſicht Disciplinen.“ Hienach könnte es ſcheinen, 
als ob es überflüſſig wäre, von der Schuldisciplin als von etwas Beſonderem 
zu reden, und daß, da der Unterricht die Disciplin (Zucht) von ſelbſt einſchließen 
ſoll, nur von dieſem, dem Unterricht, zu reden ſei. Indeſſen verhält ſich die 
Sache doch wohl alſo: Zwar iſt die Volksſchule zunächſt und hauptſächlich für 
den Unterrichtszweck gegründet und bildet der Schulunterricht auch inſofern 
den Mittelpunkt ver Schulerziehung, da er in feinem letzten Zwecke nicht bloß 
eine ruhende, ſondern eine zum Wollen treibende Erkenntniß des Guten und 
Wahren erzeugen, den Zögling nicht nur zur bloßen Einſicht, ſondern auch 
zur Willensſtärke erheben und ihn helfen befähigen ſoll, die Ziele und Zwecke 
ſeines Lebens und ſeiner Beſtimmung ſelbſtſtändig zu erreichen. Der Schul— 
unterricht, und zwar der erziehende, hat ſomit kein anderes Endziel als die 
Erziehung, iſt aber, wenn auch ein ſehr wichtiges, doch nur ein Mittel 
der Schulerziehung, welche, wie die Erziehung überhaupt, unbedingt noch der 
Zucht und Pflege bedarf. Die treibende Kraft kindlicher Erkenntniß iſt 
nämlich oft noch ſo ſchwach, daß ſie nicht ausreicht, des Kindes Streben und 
Wollen zu leiten und zu regeln. Dazu iſt Selbſtbeherrſchung nöthig, die ſich 
das Angenehme, das den Sinnen Wohlgefällige auch verſagen kann. Dieſe 
will aber durch Uebung erlernt ſein. Dieſe Thätigkeit des Lehrers aber, 
welche es ſtets auf die Bethätigung der rechten Geſinnung, auf die 
Manifeſtation der Lehre in der Handlung abgeſehen hat, welche das vom 
Schüler erkannte Gute an ihm zur Erſcheinung bringen will, ihn anhält, ſo 
zu leben, wie er es als recht und gut erkannt hat: das iſt die ſittliche Ge— 
wöhnung. Nun hat es die Schule aber nicht bloß mit dem einzelnen Schüler, 
ſondern auch mit der Maſſe zu thun. Das Kind ſoll nicht nur thun, was 


6 


ihm behagt, jondern was zugleich. im Intereffe ver Gemeinjhaft liegt. Es 
fol feinen Eigenwillen dem gemeinfamen Wohle unterorbnen lernen. Dieje 
Thätigkeit aber, welche das Veben ver Schulgeſellſchaft jo regelt, daß im ber 
jelben ftets gute Ordnung berricht, der Schüler ſich aefellige Tugenden au— 
eignen und die für den Unterricht erwünſchte Gemüthsftimmung bei ihm Plag 
greifen kann, iſt die gefellige Gewöhnung Die Schule hat aber, da 
jedes Individuum nad der Beſchaffenheit feines Körpers, des realen Trägers 

der geiftigen Zuſtände, eigenthümlich disponirt, da die Yebensweije auf das 
leibliche Wohl und diefes auf die Sefinnungs- und Handlungeweife von großem 
Einfluffe ift, auch auf die leibliche Pflege und die Geſundheit ver Schüler zu achten 
dur die phyſiſche Gewöhnung, melde, jo ferne fie zu einer vernünftigen 
Befriedigung der natürlichen Bedürfniſſe führt, Zucht oder fittlihe Gewöhnung 
if. Dieje nah dreifaher Richtung gehende, jid aber ſtets wechſel— 
feitig durchdringende Thätigfeit, melde die phyſiſche, geſellige und 
fittlihe Gemwöhnung der Schüler bezwedt und zur Erreihung der 
fittliden Idee in der Schule dient, überhaupt auf fittlihe Charakter— 
bildung abzielt, das it Schuldisciplin. Damit ift zugleich angedeutet, daß 
ihr nächſter Zwed, von ver Schule als einer eigenthümlichen Pebensgemein: 
jchaft bedingt und bejtinmt, der tt, den Schüler an das rechte Leben im der 
Schule zu gewöhnen, der fernere aber: durch Anbahmung einer jittlicen 
Charalterbildung denfelben zur Erreihung der allgemeinen Lebenszwedce 
vorzubereiten. Die Aufgabe der Schulvisciplin ift daher, erſtens in fteter Ver: 
bindung mit dem Schulunterricht der Schulerziehung (im weiteren Sinne), d. b. 
ten Sweden ver Schule zu dienen, anderfeits aber im Verein mit allen 
wohlgemeinten Erziehungseinflüffen außer ihr, bejonder® des Haufes, den Zög— 
ling auf ven Weg der jittlihen Freiheit zu führen und diefen jo lange mit 
Geländern, Schugfteinen und Wegweijern zu verſehen, bis jener jelbit ven 
rechten Weg zu finden vermag. In ſteter Verbindung mit dem Unterricht ? 
Gewiß; denn die gegenfeitige Abhängigkeit beider macht ſich ſtets fühlbar. 
Wenn auch die Disciplin in den Unterclaffen, der Unterricht dagegen im den 
Dberclaffen in den Vordergrund tritt; wenn die Disciplin den Unterricht bes 
fördert, indem fie durch äußere Vorkehrungen das Verhalten der Schüler jo 
regelt, daß derſelbe Anfang und fruchtbaren Sortgang nehmen kann, der 
Unterricht hinwieder die Disciplin befördert, indem er die Einſicht und Ideen 
erzeugt, die zu einem fittlihen Verhalten und zum Thun des Guten antreiben: 
jo ergänzen fie ſich doch in Wirklichkeit nur zu einer einzigen Geſammt— 
thätigkeit (der Schulerziehung im weiteren Sinne). Bon diefem Gefichtspunfte 
aus bat Diefterweg alſo vollftindig recht, wenn er ſagt: „Die Disciplin iſt 
eins mit dem Unterricht.“ In der Theorie ift es andere. In der Theorie 
fpricht man mit eben vderjelben Berechtigung von der Disciplin allein, als 
man den Unterricht geſondert behandelt. 

In der auf Seite 4 gegebenen Ueberficht über die verſchiedene Auffaffung 
und Bezeichnung in der Eintheilung der disciplinarifchen Thätigfeit iſt drittens 
die höhere der niedern Sphäre der Disciplin gegemübergejebt. 
Dieje Aufitellung und Gegenüberjegung bedarf vieleiht einiger Erläuterung. 
Aus der bisherigen Darlegung geht zur Genüge hervor, daß die Schulvie- 
ciplin zuerjt das äußere Verhalten der Schüler jo zu regeln, ſolche Ordnung 
herzuftellen hat, daß der Unterricht ermöglicht, die Geſundheit gefhont wird ıc. 


7 


Da das Schulkind in den bier zutreffenden Beziehungen das Rechte aber aus 
eigener Einfiht noch nicht treffen fann, das aus den niederen Begierben ges 
borene Betragen aber die Ordnung der Schulgemeinſchaft ftören, die Geſund— 
beit ꝛc. ſchädigen und ein Gewährenlaffen ver Zukunft des Schülers ſchaden 
fünnte und wiirde, jo ift es nothwendig, daß er durch die höhere Einſicht des 
Lehrers unmittelbar geleitet werde, deſſen Willen unbedingt vollziehen lerne. 
Dieje behütende, gegenwirfende und unterftügende Thätigkeit des Lehrers, bie 
anfceinend mir in der Gegenwart ihren Zweck hat, fennzeichnet Die 
niedere Sphäre der Schulvisciplin, melde Stoy Polizei, Herbart 
Regierung nennt und als eine eigentlich erziehungslofe Maßregel charak— 
terifirt. Das Letztere wird ſich indeſſen nicht feithalten laffen. Denn obwohl 
der nächſte Zwed der niedern Sphäre der Schulvisciplin in ber Gegen— 
wart liegt, fo ift ihr letter Zwed dod die Fünftige Geftaltung der find- 
lichen Berfönlichfeit ; wenn fie gleih nur das äußere Yeben der Schüler 
regelt, jo bereitet fie dody auf das innere vor. Die Maßnahmen der niedern 
Sphäre dienen aljo mittelbar dem eigentlichen Erziehungsinterefie fo lange, 
als nicht ein fittliches Wollen den Schüler zur That beftimmt, find im legten 
Grunde von feiner andern Abficht geleitet, als die Erziehung felbit, find daher 
in Wahrheit Erziebungsthätigfeiten. 

Nun genügt es aber nicht, den Ausbrücen der Sinnlichkeit einen Damm 
gejegt, den Willen des Schülerd dem des Yehrers untergeorbnet zu willen. 
Der Schüler fol frei werben, d. b. es ſoll in ihm ein Wollen entiteben, das 
durch die aus dem jittlihen Ideen geborene Einficht eine beftimmte Richtung 
dauernd erhält, vas als Ausfluß feines ganzen Gedanfenfreifes, als grumb- 
ſätzliche Aeußerung feiner eigenen Perjönlichfeit erſcheint. Die Bildung eines 
ſolch herrſchenden Gedankenkreiſes, der ſich in fittlihen Grundſätzen kryſtalliſirt 
und die Baſis des ſittlichen Charakters iſt, iſt aber, abgeſehen von der indi— 
viduellen Beanlagung, der ſonſtigen Lebenslage ꝛc., vom Reſultate des Unter: 
richts abhängig, Dieſer muß aufklären, belehren, um unrichtige Anſchauungen 
und Urtheile zu beſeitigen, neue richtige Vorſtellungen, Begriffe und Anſichten 
zu erzeugen und den Sinn des Schülers auf das Rechte und Gute zu lenken. 
Da dies aber wieder nicht ſofort gelingen kann, weil der Unterricht die aus 
Umgang und Erfahrung ſtammenden Gedanken nicht ſofort zu verdrängen ver— 
mag, ſo muß zum Unterricht noch eine Einwirkung kommen, welche den Schüler 
anleitet, das einmal erkannte Gute immer wieder und wieder zu thun, bis 
er es aus Gewohnheit und zuletzt aus Grundſatz thut. Die Thätigkeit des 
Lehrers nun, welche den natürlichen Menſchen im Schüler zu beſiegen ſucht, 
die es auf ein auf klarer Einſicht beruhendes energiſches und dauerndes 
Wollen des Sittlichen abſieht, die ein grundjäglid ſittliches 
Handeln anftrebt und einen jittlihen Charafter anzubahnen bemüht 
ift, das it die höhere Sphäre der Schuldisciplin, ift im weſentlichen das, 
was von Herbart mit dem Namen Zucht belegt, von Stoy Führung 
genannt wird. Dieſe augenjcheinlih auf die Fünftige Wohlfahrt des 
Schülers abzielenden Einwirkungen fordern au die Einſicht des Zöglings 
beraus, während die Einwirkungen der nievern Sphäre den unbedingten 
Gehorſam zur Pflicht machen. In der Praris ift eine jolde Trennung nicht 
möglih. Im ihr fließen alle Mafregeln der niedern und höhern Sphäre 
zujammen. Da ihr legtes Ziel im Grunde bafjelbe ift, aud mit im wejent- 


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lichen gleichen, wenn auch in verfchievenem Sinn angewandten Mitteln erftrebt 
wird, jo trennen wir nicht, wie Herbart, die Regierung von der Zucht, jondern 
iprechen bloß von einer niedern und höhern Sphäre oder Tendenz ber 
Schulbisciplin. 

Da drängen fi nun dem erziehenden Yehrer verſchiedene Fragen auf. 
Wie es nämlih anzufangen ift, daß das Kind troß der Einjchränfungen ber 
Disciplin frei handeln lerne? Wann die unmittelbare Willensleitung (niedere 
Sphäre) in den Vordergrund zu treten oder aufzuhören, in welcher Weiſe 
und in welchem Maße ver Unterricht die Willensleitung zu beeinflußen, wie 
und wo dieſem die Zucht der höhern Sphäre zur Seite zu treten babe? Die 
Löſung diefer und ähnlicher Fragen ift ſchwierig und praftiih unausführbar, 
wenn der Pehrer die Individualität des einzelnen Schülers nidt 
fennen und berüdjichtigen lernt, wenn er nicht mit aller Yiebe den Anlagen 
und Bedürfniſſen vefjelben nachgeht, um ihm ben Weg zu jeinem künftigen 
Lebensglück bahnen zu fünnen, wenn er nicht die Kraft bejitt, fremdartige 
Naturen anzuerkennen und richtig zu leiten. Aber ebenjo jchwierig iſt die 
Pöfung, wenn er nicht die Individualität der Maſſe ind Auge fat, ibre 
Schwähen, Eigenthimlichfeiten und Bebürfniffe ftubirt, um, wenn möglid 
und wenn räthlih, nadzugeben oder ebenjo entjchieven entgegen zu treten. 
Eine gute Echuldisciplin ift aber aud nur da denkbar, wo ber einzelne 
Schiller zu dem Bewußtjein fommt, daß er durch jedes Unrecht, das er tbut, 
an feinem innern Werthe verliert und in ber Achtung der guten Menjchen 
finft ; ift nur möglih, wo das beſſere Streben zum Gemeingut der 
ganzen Claſſe wird, wodurch dieje erft das Siegel einer fittlihen Gemein- 
ſchaft aufgeprägt erhält. Die größere oder geringere Schwierigkeit der Löſung hängt 
übrigens zugleih aud von ver Schuleinridhtung der Schülerzahl x. ab. 
So tritt z.B. bei dem Fachlehrerſyſtem, Das in unterrichtlicher Beziehung greifbare 
Vortheile bietet, das erziehende Moment zurüd, weil der Yehrer meift nicht im 
Stande ift, feine Schüler kennen zu lernen, aljo ihre Willensentwidlung nicht ftufen: 
mäßig zu fördern vermag. Zugleich geht, wenn nicht ein Vorſtand die Weber: 
einftimmung ber Yehrer zu gewinnen weiß, die Einheit des Erziehungsgevanfens 
verloren. Aber auch das ftehende Claſſenlehrerſyſtem, nad welchem jährlich 
die Schüler wechjeln, ermöglicht fein inniges Zuſammenleben, weil die Be: 
ztehungen zwijchen Lehrer und Schüler zu bald abgebrodyen werben. Ueber: 
füllte Clafjen hemmen nadı jeder Öinficht die gute Disciplin. Gleihwohl Liegt die 
Urſache des disciplinarifhen Miferfolgs mandmal weniger in der Schwierig: 
feit der Aufgabe, als vielmehr in der Macht der der Schuldisciplin entgegen: 
wirfenden äußern Verhältnifje, oder in dem Mangel disciplinariicher Kraft 
auf Seite des Yehrers, der vor jener zurückſchreckt, obgleich gerade darin die 
Aufforderung liegt, die fittlihe Macht der Schuldisciplin zu fteigern. 

Es iſt ſchon hervorgehoben worden, daß die Schuldisciplin nicht bloß 
dem Schulzwed,. jondern auch dem allgemeinen Lebenszwecke zu dienen, 
nicht bloß den Schüler, jondern den ganzen Menſchen zu berüdfichtigen und 
in diefer Hinficht die wohlgemeinten Erziehungseinflüffe der übrigen Erziehungs- 
factoren zu unterftügen bat, fowie fie binwiederum deren Unterftügung bedarf 
und beanſpruchen kann. Wie ſchon eingangs bemerkt, kommt bier zunächſt 
das Haus als die wictigfte Stätte der Kindererziehung, die Familie, 
in der alle Wurzeln des Pebens, Denkens und Empfindens des Kindes liegen, 


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in Betracht. Der Familie kommt die Pflicht zuerſt zu, die in ihrem Schooß 
geborenen Kinder zu erziehen. Das Haus iſt der Tempel, in welchem der 
Grund zu aller Wiſſenſchaft und Tugend gelegt und die heilige Opferflamme 
eines reinen Herzens entzündet werden fol. Das Haus kann aber dieſer 
Aufgabe nicht völlig genügen. Nicht bloß der Unterricht ift es, den es allein 
nicht genügend zu ertheilen vermag, auch die Zucht des Haujes bedarf, felbft 
im günftigen Falle, der Ergänzung und Erweiterung durd die Schuldisciplin, 
deren Wirkungen durd den Umjtand, daß der Zögling in der Schule handelnd 
an einem feft geregelten Gemeinjchaftsleben mit ven verſchiedenſten Indivi— 
dualitäten aus den verjchiedenften Ständen theil nimmt, iiber das Familienleben 
binausreihen. Indem die Eltern ihre Kinder der Schule zur Miterziehung 
übergeben, machen fie dieſe zu ihrem zweiten Vaterhaus, das fie gleich dem 
erften lieben und werth halten follen. Hochwichtig für die Erreihung der 
gemeinfamen Erziehungsaufgabe ift es nun, daß dem zweifachen Gemeinſchafts— 
(eben, vem das Kind von feinem Schuleintritt an angehört, bei aller Eigenartigkeit 
biefer Lebensfreife, doch die höhere Einheit nicht fehle Dieſe ift leider 
nicht immer vorhanden. Denn obgleih Haus und Schule an demſelben 
Gegenftande der Erziehung, dem Rinde, arbeiten, meiftens denjelben 
Zwed mit im wefentlihben gleichen Mitteln zu erreichen fuchen, fo 
unterfcheiden fie fi Doch oft in den Principien, im Ziele, oder in der Durd)- 
führung, öfters in allem zugleich. 

Iſt das Familienleben wie das Schulleben rechter Art, vom rechten Geifte 
durchdrungen, dann ift das leßtere ein erweitertes Yamilienleben mit vermehrten 
Pflihten. Wo dies Verhältniß ftatt hat, werben die Kinder zu dem Bemuftfein 
fommen, daR fie nur dann aute und fittlihe Menſchen find, wenn fie durch 
(tebevolle Theilnahme und treue Pflichterfüllung das Wohlergehen beider 
Gemeinschaften fördern. Diefes Bewußtſein ſtets mach zu erhalten ift die 
Aufgabe ver! Schuldisciplin in dieſem glüdlihen Falle. Die Zucht des Haufes 
fann ferner zwar von auten Abfichten geleitet, aber e& kann weder Die nöthige 
Intelligenz Inoch die Energie, noch das erzieherifhe Geſchick zu ihrer Aus- 
führung vorhanden jein. Auch bildet ſich bei manden Eltern die Vorftellung, 
daß die Schule mit der Aufnahme der Kinder nunmehr das geſammte 
Erziehungswerf übernehme. Hier wird die Aufgabe der Schuldisciplin ſchon 
eine ungleich ſchwierigere. Wenn die Eltern es noch nicht dahin gebracht 
haben, daß das Kind feinen Willen dem ihrigen unterwirft, wenn fie alauben, 
die Erziehumgsthätiafeit Binde ſich nur an die beftimmten Schulftunden, dann 
alt es, alles aufzubieten, um die innere Theilnahme des Schülers für das 
Schulleben zu gewinnen, in ihm den Gemeinfinn zu wecken und ihn conſequent 
im Gehorfam zu üben, um die Lücken der häuslichen Zucht nad Möglichkeit 
auszufüllen. Wenn aber das Haus gar verbietet, was die Schule ge bietet, 
wenn das Haus für aut erklärt, was die Schule fiir vervderblich erkennt, wenn 
das Haus blind ift fir alle fittlihen Schäden und Mängel und feine Zucht 
ſich mit einem Worte als eine jchlehte, oder als gänzlihe Verwahrlofung 
erweift, dann fitt der Schade tief; denn dann ift die geſammte Charafterent- 
wiclung des Schülers in Gefahr, der Pehrer aber verpflichtet, durch eine zweck— 
mäßige und möglichft energifche Disciplin, unterftügt won feinem Lehrenden 
Wort, in die Schüler feſte fittliche Grundfäge zu pflanzen, um die Folgen 
ver jchlehten häuslichen Zucht nad Thunlichkeit zu paralyfiren. 


10 


Will ver Pehrer aber unterſtützend, berichtigend und paralyſirend auf vie 
Zucht des Haufes hinüberwirken, jo ift ihm, abaejehen von den in Gebrauch zu 
nehmenden Dieciplinarmitteln, bejonders Kenntniß des Haufes mb 
feiner Erziehungsgrundfäte und Erziehungmafregeln von Nöthen, woraus ji 
von felbft die Pflicht ableitet, mit dem Haufe in lebendige Wechjelbeziehung 
zu treten, ſei e& durch Benacrichtigungen, Mittheilungen von Zeugniſſen, 
Einladungen zu gemeinſchaftlichen Berathungen ober durch perfönlice Beſuche 
des Pehrerd. Auf diefe Weife wäre die Möglichfeit, ja häufig vie Wahrſcheinlich— 
feit in Ausficht, eimerfeit® die zwiſchen Schule und Haus beſtehende Weberein- 
ftimmung zu befeftigen oder andernfalls die vermißte Einheit anzubahnen oder 
gar zu erreichen. 

Wie jehr ein ſolches Vorgehen ber Schule zu wünſchen umd zu empfehlen 
ift, fo ift doh Mar, daß in noch viel höherem Grade pas Haus 
die Verpflichtung befißt, einen Anſchluß an die Schule zu 
fuhben. Die Kinder gehören ja den Eltern und ihmen muß Darum am 
meiften daran gelegen fein, daß Diefelben zu fittlihen Menſchen ausgebilvet 
werben. Dit hiezu nun eim einheitlicher Geiſt in der Erziehung nöthig, Te 
mäffen fie mit dem Lehrer in Verkehr treten, da fie wegen der natürlichen 
Bande, durd Die fie mit den Sindern verbunden find und ihre® lang: 
andauernden Erziehungseinfluffes halben im Stande find, dem Yehrer alle 
die Aufſchlüſſe und Mittel an die Hand zu geben, die ihn mehr in den Stand 
jeßen, in der rechten Richtung auf das Kind zu wirken und einer fdhiefen 
Entwicklung vorzubeugen. Steht einmal feit, daß das Haus die Schule in 
der Schuldisciplin unterftügen joll, jo ift gewiß, baf die Eltern aud vor ber 
Schule, ihrer Arbeit, ihren Yehrern, Ordnungen und Eimridtungen Adtung 
hegen und bezeugen müſſen. Einem guten Scitler ift die Schule ein Heilig: 
thum. Wer e& angreift, beipöttelt oder gar beſchimpft, verlegt fein Gemüth, 
bringt e8 in Conflict mit andern Regungen und vaubt ihm einen guten Theil 
der Freudigkeit und des pietätvollen Sinnes, die er außerdem mitgebracht 
hätte. Wenn die Eltern dagegen an Allem, was in der Schule für das Kind 
gefchieht, Intereſſe nehmen, wenn jie jedes die Echule umd ben Yehrer be 
treffende Wort auf die Wage ver Vorfiht legen und mit dem Maße ber 
Klugheit meſſen und felbft eine gute fittlihe Zucht mit allen Ernfte hand: 
haben, dann fördern fie die Schuldisciplin und mit diefer die fittlihe Charakter: 
bildung der Kinder. Wo ſolches Zuſammenwirken ftattfindet, da hören and 
viele Klagen über die Rohheit und Gemeinheit, über die Sittenlofigfeit und 
Berwilderung der Jugend auf, deren Urſachen man gar zu gerne im der laren 
oder verfehrten Schuldisciplin jucht, wiewohl es zweifellos erfcheint, daß bie 
Disciplin der Schule in den weitaus meiften Fällen ftrenger, energiſcher, 
confequenter und noch dazu vernünftiger ift, al® die häusliche Zucht. 

Da eine durch die Schuldisciplin confequent im Gemeinſinn geübte und 
zur Selbſtbeherrſchung herangebildete Jugend meiſtens gute Gemeindebürger, 
ſittlich feſte und entſchloſſene Männer im örtlichen, kirchlichen und ſtaatlichen 
Peben geben wird, melde dieſen Gemeinſchaften hervorragende Dienſte leiſten, 
jo it es Pflicht, auch dieſer Factoren, zur Unterftiigung der Schulpisciplin 
im Intereſſe des Geſammtzweckes ſich folidarifch zu verbinden. reifen ber 
Schuldisciplin dieſe ſämmtlichen Erziehungstreife unter die Arme, legen fie 
ihr nicht Verpflichtungen auf, Die zu erfüllen eben an ihnen jelbit iſt, und 


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beſchränken fie auf der andern Seite die Disciplinargewalt der Schule nad 
Umfang und Maß nicht zu jehr*), jo wird unter treuer Beihilfe des Hauſes 
die Schuldisciplin nicht mur ihre fpeciellen Zwecke leichter erreichen, ſondern 
auch den allgemeinen Yebenszweden nit größerem Erfolg dienftbar werden fönnen. 


III. Von den Mitteln der Schuldisciplin. 


Die Schuldisciplin bat ihrer höhern Tendenz nad) feinen andern Zweck, 
als Gewöhnung an ein vernünftiges und fittlihes Leben, ken 
anderes Ziel, ald dem fittlihen Geifte zur Herrichaft zu verhelfen. Der 
höchſte Disciplinarzwed kann deshalb aud nur durd ein geiftiges Mittel 
erreicht werben, deun Gleiches erzeugt Gleiches. Der Geift des Erziehers 
iſt e8 darum, durch welden die Schuldisciplin allein wahrhaft pädagogiſch 
auf den Zögling wirken kann. Die allgemeinfte Norm des Erziehungsgeijtes 
tft Das eigene Yeben des Erziehers, das erfte und allgemeinite Mittel 
ver Schuldisciplin daher die beifpielgebenvde Perſönlichkeit des Lehrers; 
denn im ihr liegen die Yeitjterne aller Zucht, nämlid Autorität und Piebe 
beichlofien, fie allein vermag durch das lehrende Wort, den Unterricht, zu 
überzeugen. Ohne dieſe in der Perlönlichkeit des Lehrers begründeten Bor: 
ausſetzungen würden die Übrigen Tisciplinarmittel, welche wir die befonderen 
nennen wollen, geringe Wirkung haben. Zu diefen gehören: 1) Berbütung, 
2) Aufſicht, 3) Gewöhnung, 4) Beihäftigung, 5) Gebot und Vor- 
ihrift, 6) Belohnung und 7) Strafe. 

Die wunderbare Macht des Beiſpiels, welde ſchon die Pädagogen der 
ülteften Völker erlannten, beruht auf der Kräftigkeit des Nachahmungs- und 
Ehrtriebes. Das Kind ſucht es andern gleich zu thun. Darum kommt Alles 
darauf an, daß ihm nur das Gute und Nahabmungswürdige entgegentrete, 
zumal daffelbe noch fein jo fittlih ansgebilveres Urtheil befitt, um Gutes 
und Böjes immer unterjcheiden zu können. Die negative Wirkung des böjen 
Beiſpiels kann deshalb verwirren, und wollte der Erzieher aud jagen: Halte 
dich nad) meinen Worten und nicht nach meinen Werfen —, fo wird es metjt 
ih bewahrheiten, daft „Worte bewegen“, aber „Beijpiele binreigen“. Vom 
Lehrer als Disciplinator muß deshalb verlangt werden, daß er au jeine Perjon 
die ftrengiten Forderungen jtelle, um pofitiv zu wirken. Gr muß fi bemühen, 
jeinen Schülern nad jeder Seite als ein Ideal zu erfheinen. Denn wie 
der Yehrer, jo die Schule. „Will der Lehrer in feiner Schule eine gute 
Yebensorbuung jchaffen, jo muß er fie an ſich felbit darſtellen; will er bei 
jeinen Schülern Charakterbildung anftreben, muß er ſelbſt ein Charakter jein. 
Er muß das jein, was feine Schüler werden jollen; er muß die Tugenden 
vorleben, denen jeine Schüler nahleben ſollen.“ (Kebr.) Wie der 
Lehrer, jo die Schüler. Iſt er freundlich und höflich, jo ſind's auch feine 


* Der erziebende Lehrer darf nicht denken, was außerhalb der Schule vorgebt, das 
gehe ibn nichts an, Sein wäterliches Gerz muß ibn treiben, fchlimme Vorkommniſſe vor 
das Forum der Schufe zu zieben. Bei rein polizeilichen VBerfehlungen wird er ſich indes 
nicht obme weiteres zum &erichtädiener berzuneben baben; doc erfordert es micht 
jelten die Ehre der Schule, davon weniaftens Kenntnin zu nebmen, um einer Miederlebr 
entgegenarbeiten zu können, 


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Schüler ; ift er finfter und bart, jo find feine Schüler troßig und roh; ift 
er pünktlich und rechtzeitig in feiner Claffe, jo kommen feine Schüler nicht 
zu ſpät; ift er reinlich und anſtändig gekleidet, jo werben feine Schüler eben 
darnach trachten ; ift er fleißig, trem und hingebend in jeiner Berufsarbeit, je 
hat er fiher aufmerkjame und fleigige Schüler. Darum beift es, mit Auf: 
btetung aller Willenstraft Selbftbeherrihung und Selbſtzucht zu üben 
und fih zum Meifter über ſich jelbjt zu machen. Denn nur dann ver: 
mag der Lehrer jich frei zu machen won den Untugenden der Trägheit und 
Fälligkeit, Unentichloffenheit und Muthloſigkeit, Zornmütbigfeit und Partei: 
lichfeit, von mürriſcher Laune und Miftrauen, nur dann vermag er fi zu 
wappnen mit allen fittlihen Iugenden, mit Gotteöfurdt, Gewiſſenhaftigkeit, 
Keuſchheit, mit Geduld, dieſem goldnen Gefäß, das einen gar künſtlichen Dedel 
bat und nie überläuft; mit Feſtigkeit, die das wohlüberlegte Wort nie wider: 
ruft und ben vorher bedachten Plan nie aus geringfügigen Gründen abändert; 
mit Umſicht, die mit hellem Auge den Kreis der Thätigfeit beherrſcht; mit 
Ruhe, die nie eilt, und mit Eile, die nie rubt; mit Klarheit, dieſer Leuchte 
auf dem Unterrichtswege ; mit Wahrheit in Wort und That, und mit Gerech— 
tigkeit, der unbeitechlihen Richterin. Beſonders find es die vier Garbinal- 
tugenden der Wachſamkeit, Weisheit, Geredtigfeit und Feſtigkeit, 
ohne deren Bejit es dem Yehrer jchwerlich gelingen dürfte, eine gute Discıplin 
herzuftellen umd den Zögling an ibm jelbjt empor zu ziehen. 

Da die Schüler alle Beariffe von Vollkommenheit im Lehrer, ver ihr 
Ideal ift und jein ſoll, verförpert jehen wollen, jo hüte er fi ja, „Eins 
diefer Kleinen zu ärgern”. Er wade über fich, über fein Herz, daß fein 
unreiner Gedanke darinnen Wohnung nehme, behüte feine Pippen, daß fein 
unwahres oder umfittlihes Wort über dieſe Schwelle trete, bewahre feinen 
Fuß, daß er nicht auf unrechten Wegen wandle, feine Hände, daß fie nicht 
ihleht handeln, und fein Aeußeres, daß es weder dem Fluch des Yächerlichen, 
noch der Mißachtung verfalle.e Nie jollten Zweifel über den fittlihen Werth 
des Vehrers im zarten Kinderherz fich regen, nie aber auch fein guter Ruf 
im Bolfe Schaden leiden, da die Liebe umd Achtung, oder der Haft und bie 
Geringſchätzung, die ihm im öffentlichen und häuslichen Yeben zu Theil werden, 
ihre Pichter oder Schatten bis in die Schule hinein werfen. Die Wachſam— 
feit des Vehrers muß aber auc auf jeine Schüler gerichtet fein. Zu dieſem 
Behufe bat der Pehrer Stellung oder Sitz vor der ganzen Elaffe zu nehmen, 
um fie jtets im Ange zu haben. Das Herumwandeln taugt nichts, Er joll 
jehen und bören, wie die Schüler äußerlich fid) halten, was fie reven, thun 
und treiben, ja er muß ihnen ins Herz ſchauen und zu erfahren fuchen, ob 
fie und was fie denfen und wollen, da er fie dann von innen heraus für bie 
geiftige Mitarbeit gewinnen kanu. Ex darf nicht wachen bloß mit dem Polizei: 
auge, mit dem Auge des Geſetzes, jondern aud mit vem Auge der Liebe, 
das die Schüler vor allem Böjen zu behüten und in allem Guten zu be 
wahren bat und alle Urjaden und Umftände, welche aufer den Kindern 
liegen, aber Störungen der fittlihen Yebensorpnung berbeiführen könnten, 
zu bejeitigen oder unſchädlich zu machen ſucht. Wenn darum die hausbadene 
Erziehungstunft gar häufig in dem Satze gipfelt: „Man muß die Augen zu: 
machen und dreinichlagen“, jo gilt für fven Pehrer ver umgefehrte: „Die 
Augen aufmachen und das Dreinjchlagen verhüten.“ Solde Wachſamkeit 


geht aus der Weisheit und Bejonnenheit hervor, welche Ziel und Aufgabe 
Har ins Auge faßt und ftets im Auge behält und zur Erreichung derjelben 
die rechten Mittel anwendet und die richtigen Wege einſchlägt. Das führt 
uns zur dritten Gardinaltugend, zur Geredtigfeit, welche den rechten Weg 
darin erkennt, vom Schüler nur zu fordern, was jeinen Kräften entjpricht 
und jeine Handlungen nur nach ihrem inneren Werth zu beurtheilen, vie 
Thaten nur nad) der Gefinnung, der fie entſprungen find, zu lohnen oder zu 
trafen. Hiezu kommt endlid die Feitigfeit oder Conſequenz, d. i. die 
geiftige und fittliche Kraft, welche alle edlen Ziele entſchieden und ausdauernd 
verfolgt, unbefümmert um das Wohlgefallen oder Miffallen der Menge. 

Wo alle die genannten Tugenden ſich in des Yehrers Perjon vereinigen, 
da wird durch biejelbe ver Schüler mächtig angetrieben, jeine Begehrungen 
und feinen Cigenwillen zu unterdrüden und aufzugeben und fih dem Wunſch 
und Willen des Yehrers unterzuorpnen. Das, was den Schüler hiezu aber 
jo eruſtlich antreibt, iſt die gefühlte überlegene Macht des jtärferen Geiftes 
und Das daraus rejultirende unbegrenzte Bertrauen, die Autorität des 
Lehrers. Dieje Perle in feinem Schmud, diefen Zauberftab für Zucht und 
Orpnung, der das Böje mühelos entwaffnet, kann jich der Yehrer nicht geben, 
er muß Autorität haben; fie ift micht die Frucht eines äußerlichen Strebens, 
jondern folgt aus der innern Würde und Hoheit, der ſich die Jugend ganz 
von ſelbſt unterwirft. 

Es iſt aber nod) ein anderes Etwas, das der beijpielgebenden Yehrer- 
perjönlichleit entjpringt, das der Autorität ergänzend zur Seite tritt und ben 
Schüler mit wunderbar geheinmißvoller Macht bejtimmt, den Willen des Lehrers 
mit aller Freudiglkeit zu erfüllen. Es ift das lebhafte Streben des Schülers 
nad innerer Einheit mit dem Yehrer, die Yiebe zu ihm. Dieje Yiebe kommt 
nicht von ohngefähr, fie muß erworben werden dur die herablajjende und 
heraufziehende Liebe des Vehrers zum Schüler ; denn nur ſolche Yiebe erzeugt 
Gegenliebe. Autorität und Liebe aber müſſen ſich in der Perſon des Yehrers jters 
begegnen, wie fie durd) Vater und Mutter fih in der Familie ergänzen. Da 
num die Yehrer- und Schülerindividualitäten jehr verſchieden find, Die Wurzeln 
und Triebfräfte von Autorität und Liebe aber im Familienleben liegen, jo 
bat die Autorität wie die Liebe des Yehrers gewiffe Grenzen. Ya, fie können 
jeitweife jogar Unterbrehungen erleiden und aufhören, und ift daher ein weiteres 
Mittel nöthig, durd welches die Perfünlichleit des Vehrers überzeugend 
auf den Schüler zu wirken vermag, der Unterricht. Der Unterricht foll die 
Einficht vermitteln, welche den Schüler in Stand jet, aus freier Ueber- 
zeugung jelbitjtändig das zu thum, wozu ihn die Zucht anhält, oder was ber 
Lehrer durch jein Beijpiel ihm vorgemacht hat. Wenn der Unterricht dieſem 
Ziele zuftreben will, jo handelt es ji) weniger um Mittheilung eines bloßen 
Wiſſens, als um Einpflanzung eines jolhen Maßes von fittlihen Ideen, daß 
durd fie der Schüler zum Wollen und Thun des Guten getrieben wird. 
Nun bildet ein folder Unterricht zunächſt die Intelligenz, weil er an den 
verſchiedenen Lehrjtoffen das Denken lehrt, jo daß der Schüler die Dinge 
und Berhältniffe, die ihm umgeben, in ihrem wahren Werthe abwägen und 
beurtheilen lernt. Dieſes Abwägen und Urtheilen ift allerdings noch nicht 
Sittlichfeit, aber die Klarheit des Denkens, die zwingende Macht der Schlüſſe 
wird zur Zucht der Wahrheit, welde den Schüler befähigt, im Sittlichen 


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far zu jeben. Dieſer Unterricht bilvet ven Gedanfenfreis als ein Ganzes, 
läutert und verebelt durch Vorführung reiner Bilder die Fantajie und das 
Gefühl und erzieht, indem er des Schillers Gedanken um beftimmte Dinge 
fammelt und veffen Imtereffe jo in Anſpruch nimmt, daß er mit Lebendigkeit 
die Eindrüde aufnimmt und verarbeitet: zur Aufmerfjamfeit. Da bier- 
nad) der Unterricht durch alljeitige Uebung ver Kräfte die Selbftthätigkeit des 
Schülers anregt und damit die Selbſtſtändigkeit des Charakters, und zwar 
des fittlichen, der ſtets nach freier Entſchließung fittlid handelt, anbahnt, die 
Schuldisciplin aber dafjelbe Ziel nur durch dem Unterricht erreichen kaun, 
ohne ihn zur Dreſſur wird: jo ift der erziehende Unterricht (demm nur 
von ſolchem jpreden wir) im der That das wichtigſte Mittel, das dem 
Vehrer zur Erreihung einer guten Disciplin zu Gebote fteht. Freilich kommt 
wieder alles darauf an, wie ſich die Perſönlichkeit des Lehrers auf diejem 
Gebiete geltend macht. Der Ernit, die Treue und Gemiljenhaftigfeit, womit 
der Yehrer feiner Unterrichtsarbeit nachlommt, dann die eifrige und doch ge- 
duldige Bemühung zur Förderung der Kinder kann dieſen gegemüber wicht 
ohne fittlihe Wirkung bleiben. Die vor den Augen der Schüler ſich voll- 
ziehende Yehrerarbeit ift ein Stüd Yeben, eine fortgehende That, welde vie 
Schüler mit Achtung erfüllen muß. Umgekehrt wird der Mangel an Ernft und 
Treue, werben Oberflächlichfeit oder Ungepuld von Seiten des Yehrers ihm die 
Herzen jeiner Schüler entfremden und gleiche Läſſigkeit bei denjelben hervorrufen. 

Wie ſchon oben angedeutet, bedarf die Schuldisciplin noch bejomderer 
Mitte. Da beim Schulfinde die Erfenntniß, welche das Wollen des Rechten 
erzeugt, ſich ſehr häufig noch nicht worfindet, jo hat der Yehrer zu verhüten, 
daß durch Anjehung des Böjen oder durch die Befriedigung jeder Begierde 
bei dem Schüler ein verfehrtes Wollen entjtehe, daß die Untugend ſich feit- 
jege oder daß er irgend Schaden leide. Die Verhütung und Bewahrung wird 
vornehmlich durd die Aufjicht bewirkt, welder jchon bei der Wachſamleit 
des Yehrers Erwähnung geſchah und worauf bier nur zuräüdgewiejen wird. 

Die negative Wirkung der Verhütung, das VBerhindern der Befriedigung 
der böjen Triebe, Neigungen und Begierden ift aber unzureichend. Es müſſen 
auch Anläffe zur Erregung der beffern Triebe und zu deren öfteren Befrie- 
Digung geboten werden. Dieje Uebung im Guten, welche viejelben Boritel- 
Iungsreihen wiederholt bewegt, ift die Gewöhnung. Sie will das Gute im 
Gedanfenfreis zur Herrſchaft und im der Handlung bis zur Fertigkeit, d. i. 
bis zur Öewohnheit bringen. Inſofern ijt alle Erziehung nichts anderes 
als Gewöhnung. Wir jprechen daher auch in der Disciplin von der phyſiſchen, 
gejelligen und jittlihen Gewöhnung. Gewohnheit ift eine Macht, deren folgen 
durch das ganze Yeben reihen. Yung gewohnt, alt gethan. Beſonders wichtig 
ift die Gemöhnung an regelmäßige Beihäftigung, die einem körperlichen 
und geiftigen. Bedürfniß zugleid entgegenfommt. Wo die Beichäftigung fehlt, 
entjteht Langeweile, da treten böje Neigungen auf, welche unterdrüdt werben, 
jobald der Thätigfeitötrieb richtig geleitet wird. Hiezu bietet zumächft ver 
Unterricht und die damit verbundene Uebung die erjte und bejte Gelegen- 
heit, welche ji durch manche dabei und dazwiſchen zu bejorgenvde Fleine Ge 
ſchäfte, eingeftreute Spiele und Yeibesübungen mehrt. Die andauernde Ge— 
wöhnung an Beſchäftigung entwidelt aber nah und nad im Schüler einen 
nüchternen Zinn und einen bejonnenen Öeijt, welcher die Arbeit als Yebens- 


15 


bedürfniß erfenut und fühlt und vor den Falljtriden bewahrt, im melde 
ber Müſſiggang ſtürzen kann. 

Wenn die Disciplinarmittel mehr oder minder dazu dienen jollen, den 
Schüler dem Willen des Lehrers unterzuordnen, jo it es doch auch nöthig, 
daß dieſer Wille jenem. befannt werde. Nun erfolgt die Willensfundgabe von 
Seite des Lehrers zwar jchon. durch deſſen VBorleben und Beijpiel, fowie durch 
jeine Yehre. Auch in Norm eines Wunſches oder Urtheild vermag er dem 
Schüler jeinen Willen merken laſſen; am entjchiedenjten gejchieht es jedoch 
durh Gebot und Vorſchrift, welche als Mittel der Disciplin gar wicht 
entbehrlich find. Das Gebot, mweldes pofitiv jagt, was das Verbot negativ 
ausdrückt, bezieht ji auf einen einzelnen Schüler und al, während bie 
Vorjchrift allgemeiner Natur iſt und einem Jeden in dem Ganzen gilt, das 
Ganze berückſichtigt. Wie Gebot und Verbot im einzelnen Fall bejchaffen 
jein follen, ift vorher nicht zu beſtimmen und daher dem päbagogijchen Tafte 
des Lehrers zu überlafjen. Im Allgemeinen hingegen läßt ſich gar wohl 
jagen, daß fie den pädagogiſchen Grundgeſetzen, dem Schulzwed, der Yubivi- 
dualität des Schülers umd feinen Verhältniſſen entſprechen, aljo weije und 
beredtigt jein müjjen, jowie fie zweitens dem Schüler klar und deutlich 
zu machen haben, was er zu thun und zu laſſen hat. Wird hiedurch jede 
Ausrede abgejchnitten, jo benimmt ein furzes und beftimmtes Gebot, das 
duch Ton, Blid und Miene verftärft werden kann, jeden Zweifel, ob ihm 
gehorcht werden joll oder nicht. Selten verfehlt es jeine Wirkung, wenn es 
jparjam gebraucht wird, d. h. wenn es nicht zu häufig auftritt und micht zu 
viel auf einmal verbietet, jo daß dem Schüler immer noch Gelegenheit zur 
freiwilligen Bethätigung des Guten bleibt. — Alle dieſe Forderungen gelten 
au für die das gejammte Schulleben betreffenden allgemeinen Disci- 
plinarvorjdriften, welde vielfach auch mit dem zweideutigen Namen „Schul- 
gejege“ *) benannt werben. Weber den Werth oder Unwerth verjelben, mehr 
aber um die Form als die Sache, ift ſchon viel hin und ber geftritten worben. 
Während die Einen gejchriebene oder göbrudte Disciplinarfagungen für 
wünjchenswerth, ja jogar für nothwendig halten, jagen die Andern, daß die 
Perſönlichkeit des Yehrers und jein lebensfrifhes Wort jene völlig 
überflüffig machen müſſen, wo aber vie perjünlihe Darftellung des Geſetzes 
fehle, weder gejchriebene noch gebrudte Disciplinarvorichriften etwas: nützen. — 
In ſolchen Schulen nun, in denen von nur einem Vehrer die ganze Disciplin 
abhängt, in denen Unterricht und Diseiplin von einer Perfon ausgehen, aljo 
in den Volksſchulen und Vorſchulen der höheren Yehranftalten, muß die Ord- 
nung und Disciplin im Yehrer realifirt jein. Hier find darum. gebrudte 
oder gejchriebene Gejege unnöthig, ja jogar nachtheilig. Im höheren Schulen 
dagegen, an denen verjchievene Lehrer an einer Claſſe thätig find, in. welchen 
auch reifere Schüler fi befinden, bei denen der perjünlide Gehorfam gegen 


*) „Schulgeſetze“ im Sinne der Disciplinarvorichriften, Satzungen, Statuten, 
nennt man die von dem. Lehrercollegium feſtgeſetzten Beftimmungen, nach welchen die 
Schüler ber betreffenden Schule ihr Berbalten einzurichten baben; cbenjo die mündlich 
gegebenen Befeble eines Yebrers, die allen Schülern gelten. — „Schulgeſetze“ 
find aber auch die von den gejeßgebenden Factoren eines Staates vereinbarten Be— 
ftimmungen über die Redtöverbältniffe der Schulen, Lehrer, Schulgemeinden ꝛc. Yebtere 
fommen bier nicht in Betracht. 


16 

die Autorität des Yehrers zum Gehorjam gegen das dem Schüler in irgend 
einer äußern Form entgegentretende Geſetz ſich entwickeln joll: im jolcen 
Schulen jind bejtimmte Disciplinarjagungen jehr geeignet, die Disciplinar- 
zwede zu fördern, da fie den Schülern einen gejeglihen Sinn eingewöhnen, 
der jie vor jittlihen Berirrungen bewahrt, da fie auch von den Yehrern als 
eine über ihnen ftehende, die Einheit berjtellende Gewalt anerkannt werden 
und jelbjt von den Eltern zu beachten find. Noch immer dürfte hervorzu- 
heben jein, daß ein ſolches Disciplinargejeg möglichjt wenige, nur auf das 
Schulleben bezüglihe Beftimmungen in möglichſt anſchaulicher und verjtänd- 
licher Form („Du ſollſt!“) enthalten, daß es durch Borlejen am Anfang 
eines jeden Semejters den Schülern befannt gegeben, vejp. in Erinnerung ge- 
bracht und darauf gejehen werben jolle, daß die Schulorpnung nad und nad) 
zur fejten Sitte werde, an welde die Neneintretenden mehr durch das Bei- 
jptel der älteren Schüler, als durch die Furcht vor dem Geſetz gewöhnt werben. 

Wenn der finnlihe Hang des Schülers den Inhalt des ihm gegebenen 
Gebotes oder Gejeges verbunfelt, dann wird es nöthig, den Schüler zu reizen, 
fi über jeine Neigungen und Begierben zu erheben umd ihn für treue Pflict- 
erfüllung zu erwärmen. Dies fann durd die jtufenmäßige Anwendung eines 
pojitiven Disciplinarmittels, durch die Belohnung gejheben. Wirkt ſchon 
eine freundliche Miene, ein liebevoller Blid oder Winf anregend auf Herz 
und Gemüth fleiner wie großer Kinder, jo jteigert ih die Wirkung be 
deutend, wenn ber Lehrer jeine Zufriedenheit mit dem bisherigen Verhalten 
in Worten ausſpricht, aljo Lob jpendet, oder zugleih die freundliche Zu— 
muthung macht, den betretenen Weg auch in Zukunft einzuhalten, d. h. eine 
Ermunterung gibt. Lob wie Ermunterung müfjen in wenige, kurze Worte 
gefaßt jein und dürfen wegen der aus der Gewohnheit folgenden Abſchwächung 
nicht zu häufig gebraucht werden. Thut fih eim Schüler durch die Soli- 
dität jeined Verhaltens und Fleißes unter jeinen Mitſchülern bejonders ber- 
vor, jo laun der Yehrer das Yob zur Ehrenbezeugung fteigern, wobei er 
aber jehr vorfichtig jein muß, damit die am fidy zu billigende Befriedigung 
des Ehrtriebes nicht ſchädlich werde, die Ehrliebe ſich nicht in Selbſtgefällig— 
keit, Ehrſucht und Ehrgeiz verkehre. Dies ift beionders bei der Anweijung 
von Ehrenpläßgen (Clafjen- und Bank-Erſte) und bei der Webertragung von 
Ehrenämtern (Monitoren, Helfer) zu beachten. Hiebei gejchieht auch der 
Yocation Erwähnung. Die Yocation, oder die Placirung der Schüler nad) 
der Yeiftung, welche gegenwärtig noch in den meiſten niedern Schulen üblich 
iſt, hat auch zahlreiche Gegner. Dieſelben ſagen, es ſei unrecht, die meiſt auf 
der Begabung beruhende Leiſtung zum Maßſtab des Schülerwerthes zu machen 
und nicht auch Fleiß und Verhalten auf die Rangordnung beſtimmend wirken 
zu laſſen. Da die gerechte Durchführung auf viele Hinderniſſe ſtoße, ſo thue 
man beſſer, von dieſer Locationsweiſe abzuſehen, dagegen innerhalb der Claſſen 
nach dem Alter oder Alphabet zu lociren. Die Freunde der erſteren Art 
hinwieder bezeichnen die Location nach der Leiſtung als eine äußerſt praktiſche, 
das Streben und den Eifer anregende und die Rangordnung des Lebeus, in 
welcher auch der Tüchtigſte den erſten Platz erhalte, gut vorbildende Maß— 
regel. Da es nun aber ſicher keinem Zweifel unterliegt, daß kurzſichtige, 
ſchwerhörige, plauderhafte Kinder ꝛc. nahe dem Lehrer, die größeren Schüler 
nach hinten zu ſetzen, die würdigſten zu Bank- und Claſſen-Erſten zu machen 


17 


find, jo ift eine reine und vollftändige Yocirung nad) der Yeiftung ſchwer aus— 
zuführen. Wo aber nady diefem Princip gehandelt wird, hüte man fi vor zu 
häufigem Platzwechſel, da derjelbe der Ordnung Eintrag thut. Dies gilt aud) 
von dem jogenannten Certiren, welches pädagogiſch auch deswegen nicht zu 
rechtfertigen it, weil die Schägung und Ehrung der Schülerperjönlichfeit nad) 
einer Leiſtung in einem einzelnen Fache eine höchſt einjeitige, wechſelreiche und 
zugleich ungerechte werben kann. 

Endlid wäre der eigentlihen Belohnung zu gebenfen, die in Haus 
und Schule, bejonders aber in Inftituten eine zu häufige und oft unzwedmäßige 
Anwendung findet. Dit fie bei Heinen und ſchwachbegabten Schülern eine ge- 
wiß zuläjlige Reizung der geringen Kraft, jo wirkt fie hingegen bei eigen- 
finnigen und faulen Kindern in der Regel nachtheilig, da dieje nur ber Ge— 
ichente halben geboren und fleißig werben. Sollen aber Belohnungen, die 
auf alle Fälle mit der zunehmenden Entwidlung der Kinder fi verändern 
und jeltener werben müſſen, der Sittlichkeit nicht hinderlich werden, jo dürfen fie 
nicht Zwed, jondern die Folge guter Handlungen jein; and ſoll nicht ihr 
materieller Werth die Lohuſucht erregen, fondern die Geſinnung des Gebers 
dem Schüler freude bereiten. Darum it auch die jejuitiihe Pädagogik, 
welche Prämien und WPreife zum Zwechk der Pflichterfüllung ftempelte, und 
durch die Art ihrer Bertheilung den Hochmuth und Egoismus in maßlojer 
Weiſe förderte, Dagegen die Tugend eben jo jehr verumreinigte, ganz ver- 
werflih. Wenn dagegen zur Anerlennung des Fleißes und guten Verhaltens 
einzelnen Schülern ein geeignetes Lernmittel geſchenkt, der Claſſe zu gewiſſen 
Zeitabſchlüſſen (Ende des Schultages oder der Woche) eine Geſchichte erzählt 
oder ein Spiel gelernt, oder mit ihr hie und da ein Spaziergang gemacht 
wird, jo iſt eine joldhe Belohnung gewiß von guter Wirkung und beshalb 
nur zu billigen. Tie allgemein giltige Negel für die richtige Anwendung 
ver Belohnung: Belohne jelten, mäßia, pajjend und gerecht — darf 
natürlih auch bier nicht außer Acht gelaffen werben. 

Der Belohnung als pofitives Disciplinarmittel fteht eim negatives, die 
Strafe, gegenüber. Wenn weder die Autorität des Lehrers, nod die Yiebe 
zu ibm, nody die Ueberzeugung beim Kinde die Unterorbung feines Willens 
unter den des Lehrers vermögen, jo muß es durd die Strafe erfahren, daß 
ſich der Yehrer den Gehorſam auch zu erzwingen vermag. Die Strafe ift 
aljo die Reaction gegen den Ungehorſam, gegen das Böje überhaupt. Dieſe 
Reaction geftaltet fi) aber anders auf dem Nechtögebiet des Staates als in 
ver Schule. Dort wird die Strafe ald Sühne betradhtet, melde Bedeutung 
ihr in der Erziehung nicht zukommt, wiewohl das Moment der Sühne auch 
in ber pädagogiihen Strafe erſcheint. Denn ift das Gewiflen des Kindes 
erwacht, jo fordert es jelbjt eine Sühne; ift dies nicht der Fall, jo wird durch bie 
Strafe das Bewußtſein im Rinde rege, daß jein Wille fi der Vernunft, dem 
göttlichen Willen unterwerfen müſſe. Im diefer Anerkennung der ewig giltigen 
Bernunft liegt die Berföhnung des Kindes mit den objectiven Mächten. Soll der 
purd die Strafe bewirkte Schmerz ein gejegliches Verhalten bewirken, jo iſt fie 
ein Abjhredungsmittel,, Der eigentlihe Zwed ver pädagogiſchen Strafe 
muß aber die Bejjerung jein. Zunächſt freilich bezwedt fie nichts anderes, 
als dem Kinde den vergejlenen Inhalt des Gebots und Verbots oder der Vor— 
ihrift ind Bewußtjein zurückzurufen, dadurch aber jein Gewiſſen zu weden und 

Böhm, Die Lehre v. d. Schuldiseiplin. 2 


18 


es an feine Pflicht zu erinnern. Von dem durch die Strafe wieder ind Ge— 
dächtniß gerufenen Inhalte des Gebots und dem dadurch aufs Neue erwachten 
Pflichtgefühl geht darum erft die Befjerung aus, während die Strafe an fid 
nur ein gejegliches, wicht aber ein ſelbſtbewußtes, fittlihes Handeln bewirkt. 

Die Strafe, die fih der Art des Fehlers möglichſt genau anzuſchließen 
hat, entzieht dem Kinde entweder ein Gut, d. h. Beſitz, Genuß, Ehre, oder 
fügt ihm ein Uebel zu durch Beihämung, phyſiſchen Zwang oder finnlicen 
Schmerz. Daraus ergeben fi die verfchiedenen Arten der Strafen, als 
Ehren-, Freiheits- und förperlide Strafen. Wird dem Kinde ;. B., 
das ſich gerne des Beifalld guter Menſchen erfreut, der des Lehrers entzogen, 
es von ihm dagegen getabelt, jo fühlt es ſich beſchämt und gejtraft am jeiner 
Ehre, befonders wenn dies vor der ganzen Claſſe geſchieht. Die in der Kegel 
verhängten Ehrenftrafen, wie Stehenlaffen am Plage, an der Thür, im ver 
Ede, Alleinfigen, Entziehung eines Ehrenplages ꝛc., find für die Schüler meift 
gelinder als die Freiheitsftrafen, da bei Kindern das Ehrgefühl dem Freiheits— 
gefühl noch nicht die Wage hält. Der Bewegungstrieb ift im Schüleralter 
fo mächtig, daß die Freiheit der Bewegung als ein hohes Gut gefühlt, ihre 
Entziehung als ein großes Uebel empfunden wird. Die Schuldisciplin bringt 
meift das Nacerbeiten zu Haufe oder im Schulzimmer, Schulzimmerarreft, 
Ausſchluß von Spaziergängen x. in Anwendung und zwar entweder gegen 
faule Schüler, oder foldhe, welche die Freiheit durch Streitfucht und Drbnunge 
wibrigfeiten auf dem Schulwege mißbrauchen ꝛc. Die förperliden Strafen, 
welche in der Schulvisciplin früherer Zeiten eine leider viel zu bedeutende Rolle 
fpielten, find nad dem Auftreten Rouſſeau's und der Philanthropiften oft 
gänzlich verurtheilt worden. Im der That muß eim tüchtiger Yehrer den 
meiften Schülern gegenüber die körperliche Strafe entbehren können; dagegen 
müſſen den Ausnahmen gegenüber, bei welchen entweder die Erziehumgsfehler dee 
Haufes nachwirfen und ſchlimme Neigungen zu Tage fördern, oder das täglich 
umwogende Peben zu auffallenden Ausfchreitungen verlodt, energifche Strafen 
und nöthigenfalls auch förperliche Züchtigung Anwendung finden dürfen. Ale 
Beitrebungen, dieſes Zuchtmittel der Schule gänzlich zu entziehen, beruhen auf 
Unfenntni der Entwidlungsverbältniffe der Jugend, find nur Beweiſe falſcher 
Humanität, die nicht der Kinder Beſtes fucht, oder Ausflüffe der Selbſtſucht, 
welche jede Fleine Unannehmilichkeit vermieden wiſſen will, ohne zu bebenfen, 
daß daraus fpäter größere entjtehen. Freilich muß won dem Pehrer erwartet 
werden, daß er bei der Förperliden Züchtigung vorſichtig, maßvoll und 
human zu Werke gehe, daß er alle Strafarten ımterlaffe, welche gegen die 
wahre Menjclichkeit verftoßen (Obrfeigen, Maultaſchen, Stoßen, Aneinander: 
jtoßen der Köpfe ꝛc.) und mehr im einen ruffifchen oder türkiſchen Straffoder 
gefucht werden. Die körperliche Züchtigung wird im niederen Claffen, deren 
Schüler noch zu fehr von finnlichen Eindrücken beherrſcht werden, häufiger An- 
wendung finden dürfen, als in oberen Clafien, wo fie durch andere Mittel und 
Strafen zwedmäßig erjegt werden kann umd muß. Der ftrafende Yehrer bat 
da immer aufzufchauen und zu erwägen, wen er vor fid) hat. 

Jede vernünftige pädagogifche Strafe hat ſich aber nicht bloß der Art, 
jondern auch dem Grade des Vergehens anzufchließen. Das Schulleben bat 
nun in der Beftrafung beftimmte Steigerungsarade ans Licht gebradt, 
nämlich die Strafen mit Geberden, Worten und mit der That. it ein 


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Schüler unahtfam, nachläſſig, zeritreut, fo genügt, wenn die Kinder gewöhnt 
find, die Augen auf den Yehrer gerichtet zu haben, ein Blid, eine Miene, 
ein Winf, eine kurze Stille, ein leichtes Klopfen ꝛc., erjteren an feine Pflicht 
zu erinnern. Iſt das Geberdenfpiel erjchöpft, jo tritt das Wort ein, indem 
man den Namen des Schüler an die Wandtafel jchreibt, oder ihn laut 
ausſpricht. Yaffen die Schüler die richtige Haltung aus dem Auge, jo ges 
nügen die kurzen Worte: „Hände!*, „Füße!“, melde ſtets eine Erinne- 
rung jind, um des Schülers befjeres Ich zu wecken. Mit ernjter VBorftellung 
juht dann die Ermahnung zum Guten zu bewegen und die Abmahnung 
vom Böfen abzuhalten. Die Warnung macht auf die fchlimmen Folgen auf: 
merkſam, welche eine Nichtbeachtung der Gebote nach ſich ziehen könnte, während 
die Drohung dieſe ımangenehmen Folgen in fichere Ausfiht jtellt. Die 
Drohung kann ſich erfüllen im Tadel, der das Fehlerhafte und Unziemliche 
in dem Berhalten des Schillers ins Licht ftellt, im der Rüge oder im Ber- 
weis, melde das Unpaffende und Unrechte in feinem Betragen ihm in nod) 
beftimmteren Worten vorhalten. — Alle Strafen des Wortes find fteigerungs- 
fähig, jofern fie nämlid unter vier Augen, vor allen Mitſchülern, vom Lehrer 
allein, vom Schulvorſtand oder vor dem gejammten Yehrercolleginm ausge: 
jprodhen werden fünnen. Eine Steigerung bis zu Schelt- und Schimpfworten 
it damit aber nicht gemeint. Der rechtzeitige Gebrauch eines entjprechenden 
Kraftausprudes joll zwar nicht abfolut verworfen, dabei aber doch größte Vor— 
jiht empfohlen werden, da durd derartige Zungenjchläge der Lehrer nicht mur 
leicht verlegt, jondern auch jeine Worte ſelbſt entwerthet, fi lächerlich oder 
gar verächtlich macht. — Fruchten ftrafende Worte nicht, jo folgt die That. 
Die mildefte Beftrafung mit der That dürfte das Aufftehen und Stehen- 
bleibenlajjen auf dem Plage fein, das z. B. bei Plaudern und Unacht— 
jamfeit angewendet wäre. Das Stehenlaſſen aufer der Bank iſt unbe- 
quemer, daher eine Steigerung, bejonderd wenn auf ſtramme Haltung des 
Stehenden gejehen wird. Bei Unverträglihen, Unreinlihen und Gewohnbeits- 
Ibwägern iſt das Alleinfigen auf einige oder längere Zeit von guter Wirkung. 
Einer eigentlihen Strafbant fünnen wir das Wort nicht reden, weil jie uns 
zu züchtlingsmäßig vorfommt. Die Einzeichnung eines Tadel ꝛc. in regelmäßig 
den Eltern zur Sicht zu bringenden Cenſurbüchlein wird vielfadh mit Erfolg 
als Strafe angewendet. Häufiger wird das Nachſitzen verordnet und 
empfiehlt jih, wenn der Schüler entweder die Schulzeit jelbjt oder die häus— 
lie Vorbereitungszeit nicht treulic angewendet hat, bei mangelhaften Yeijtungen 
im Memoriren, in jchriftlihen Arbeiten, aber aud, wie ſchon erwähnt, wegen 
vorgefommener Unarten auf dem Schulwege. Ueber eine Stunde jollte das 
Nachſitzen nie dauern, audy nicht über die Eſſenszeit, wenigſtens nicht in jolden 
Schulen, die ihre Schüler täglich zum elterlichen Tiſch entlaffen. Am zweck— 
mäßigften werden die Nachjiger zweifellos vom Lehrer ſelbſt beaufjichtigt und 
beichäftigt. Auch thut er jehr wohl, wenn es möglich, die Eltern oder Pfleger 
der Schüler von deren Zurüdbehaltung in der Schule in Ktenntniß zu jegen. 
Iſt das Nachfigen durch Trägheit, Flüchtigkeit und Ungewifjenhaftigfeit in der 
Arbeit veranlaft, jo lafje man nicht loder, bis der Schüler ſie nad der Schule 
ganz ordentlich gefertigt hat. Solche Arbeit ift ein Segen. Hat der Schüler 
ein Wort falſch gejchrieben, jo mag er es ſechs bis zwölf Mal richtig jchreiben. 
Solche Strajarbeit ift zu billigen und hat einen Sinn, dagegen die Arbeit will- 
2% 


20 





fürlib als Strafe für andere Berfehlungen gebrauchen, ift eine ſündliche Ent- 
weihung derjelben. Das ſtrafmäßige Memoriren des 119. Plalms, eines jehr 
langen Geſangbuchliedes, das 100Umalige Nieperichreiben eines Wortes over 
Satzes hat pädagogiſcher Aberwitz erdacht. — Eine jehr empfindlibe Strafe 
ift auch die Entziehung eines Ehrenamtes als Folge des Vertrauensmißbrauchs 
oder schlechter Führung. Die energifchite Strafthat iſt die förperliche Züch— 
tigung mit der Ruthe oder dem Stod. Sie ift oft mißbraucht worden, aber 
wer ftraft, weil er liebt, und würde lieber nicht ftrafen, wenn ihn die Yiebe 
nicht zwänge, der wird ſich die ultima ratio des Stodes nicht unbedingt ent- 
winden lafjen. 

Die verſchiedenen Strafgrade find geeignet, die verſchiedenſten Umnluftge: 
fühle zu erzeugen, was ber Strafe eine hohe Bedeutung verleiht. Dabei 
darf man ſich aber nicht der Meinung bingeben, daß die Anwendung ber 
Strafen gerade im der oben angegebenen Reihenfolge geſchehen müſſe, daR 
ein ftarfes Mittel erſt dann gebraucht werden bürfe, wenn alle vorhergehenden 
ihwäceren ſchon in Benugung waren. Der Lehrer muß vielmehr jeden 
einzelnen Fall beurtheilen und darnadı das entſprechende Etrafmittel, aud 
wenn es ein ftarfes wäre, auswählen. Allein er darf nicht immer gleich das 
jtärfjte Mittel anwenden, da er fonft bei der Wiederverfehlung des Schülers 
die Strafe nicht fteigern fönnte. Reicht darum der Blid, jo jpare er das 
Zeichen, genügt das Anfchreiben des Namens, fo nenne er ihn nicht laut, wirft 
die Warnung, jo unterlaffe er das Droben, bilft der Verweis, jo verzichte er 
auf jedes weitere Strafmitttel. Zugleich vergeffe er nie, daß die Strafmittel 
eigentlih Heilmittel fein und zur Heilung dienen follen, daR fie aber feine 
Unwerfahnittel find und daß daher neben der Natur und Art des Fehlers auch 
die Natur des Schülers berüdfichtigt werden muß. Die Strafe iſt natür— 
(ib und am wirkſamſten, wenn fie dem Schüler ald die natürliche Folge 
jeines Thuns oder Laſſens erſcheint. Dies wird aber nur der Fall jein, wenn 
die ruhige Ueberlegung und gerechte Erwägung fie beſtimmt bat 
und wenn fie, obwohl empfindlich, mit Mäfigung ausgeführt wird, 

In ſolchem Falle ift die Strafe vernünftig. Die vernünftige Strafe 
erjcheint uns aber als ein der ftarfen und reinen Yiebe in die Hand gegebenes 
unentbehrliches Disciplinarnuttel, um den jubjectiven Willen der böhern Ber: 
nunft unterzuorpnen. Nur da, wo unverninftig, leivenfhaftlid und übermäßig 
geftraft wird, tritt die Strafe in einen Gegentor zur Piebe und verfehlt ihre 
gute Wirkung. 

„Der Bater ftraft fein Kind und fühlet ſelbſt den Streich; 
Die Härt' ift ein Berdienft, wenn Dir das Herz iſt weich.“ 
(Küldkert.) 


IV. Von der Methode der Schuldisciplin. 


Die Methode der Schuldisciplin hat eine theoretifhe und eime praf- 
tifche Seite. Nach der erfteren ziehen wir die Momente der Methode 
und die Grundfäge des methodiſchen Stufenganges im den Kreis 
unjerer Ueberlegung, nad der anderen die praftiibe Handhabung oder 
das Berfahren der Schuldiseiplin. 


21 


1. Theoretifher Theil. 


Die Auswahl der Disciplinarmittel und die Reihenfolge, in der fie zur 
Aufnahme kommen follen, bildet das erfte Moment der Methode, den Gang 
der Disciplin. Im ange derſelben muß, objehon wir es mit einem zur Geiſtig— 
Feit beftimmten Weſen zu thun haben, doch zuvörderft das natürliche Yeben 
berücfichtigt, fein Träger, ver Schüler, jo weit möglich zur Einſicht in feine 
natürlichen Bedürfniſſe und in die Art ihrer vernünftigen Befriedigung geführt 
werden. Fällt diefe Aufgabe, welche wir die phyſiſche Gewöhnung nennen, 
auch zumeift den Eltern zu, fo bat doch auch die Schule für das leibliche 
Wohl ihrer Schiller nach Möglichkeit zu forgen, da von der gefunden Entwidlung 
ver leiblichen Organe die der geiſtigen abbängig ft. — Der Aufenthalt und das 
jelbftthätige Auftreten des Schülers in der Schulgemeinfchaft hält ferner Die 
Forderung mit eingeichloffen, dar derſelbe ſich in die vechte Beziehung zum 
Pehrer und feinen Mitſchülern, ſowie zur geſammten Schulgeſellſchaft jegen, das 
rechte gejellige Verhalten beobachten, ſich ver gemeinſchaftlichen Intereſſen halben 
in die Ordnung des Scyullebens überhaupt und fpeciell beim Unterricht einfügen 
lerne. Die Anleitung zu ſolchem Berhalten nennen wir gefellige Gewöhnung. 
Phyſiſche und gefellige Gewöhnung find nur Durchgangsſtufen. Der Schüler 
ſoll nämlich ſchließlich dahin geführt werden, fein leibliches und gefelliges Yeben 
nad der Idee des Wahren, Guten und Schönen jelbft zu beftimmen, damit 
mit Hilfe eines durd den Unterricht gebildeten feften Gedankenkreiſes der fitt- 
liche Charakter angebahnt werde. Dies ift die fittlide Gewöhnung, wo— 
mit der Gang fein Ende erreicht. 

Als das zweite Moment in der Methode der Disciplin erfcheint die Form, 
oder die für die Aufnahme und Verarbeitung geeignete Geftaltung der Die- 
ciplinarmittel. Sie fordert eine ftete Rückſichtnahme auf den Entwidlungsftand 
und die Individualität, befonders auf das Seelenleben des Schülers. Die 
Form ift eine innere und äußere Die innere Form ift entweder Anſchauen 
des Beifpiels, Vorftellung des im Moment VBerlangten und Ueberlegung 
der Borfchrift. Die äußere Form, in welder die Disciplinarmittel an den 
Schüler herantreten, ift gegeben in Gebot und Verbot, Vorſchrift, in ver 
Strafe, die die Befolgung erzwingt, und im Rath, der nur an die freie 
Ueberzeugung appellirt, durd die der Schüler ſich felbft bejtimmen ol. 

Das dritte Moment in der Methode der Disciplin iſt die Weiſe, welche 
den Schüler innerlich geneigt machen foll, die dargebotenen Mittel felbitthätig 
zu verarbeiten. Diefe Geneigtheit, welde nur dem rechten perfönlichen Ver— 
hältniß zwifchen Lehrer und Schüler entjpringt und anf der geaenfeitigen 
Achtung und Piebe beruht, ift fo innerlicher und individueller Natur, daß fie 
ih deshalb mehr als die andern Momente der äußeren Darjtellung entzieht. 
Die rechte Weife ift das alücdlihe Product des rechten Pehrer- und Sciiler- 
geiftes, welches dem Schüler zur geiftigen Einheit mit dem Yehrer verbilft 

Wo die Methode diefe drei Momente, den richtigen Gang, die richtige 
Form und Weife, aleichzeitig entfaltet, da ift die Disciplin von erziehlicher 
Kraft. Es wäre darım auch wichtig, Diefe Momente genauer zu beſprechen. 
Allein bezüglich der Weife wurde ſchon angedeutet, daß fie fid ihrer Inner: 
lichkeit wegen weniger zur äußeren Darftellung eignet, da fie im Wefen und 
Charakter der Lehrerperſönlichkeit mit einbejchloffen iſt; hinfichtlih der Korn 


22 


aber ift zu bevenfen, daft fie ſchon fortwährend bei ver Beſprechung der Die: 
cipfinarmittel in Betracht fam. So bleibt denn nur noch übrig, uns mit dem 
Gange in der Methode der Dieciplin genauer zu befchäftigen, wobei ja die 
zwei vorgenannten Momente micht unberührt bleiben werben. 

Die Disciplin fol den Willen des Schülers methodiſch bilden, fo daß 
in dem letteren ein mit dem Sollen übereinjtimmendes Wollen erzeuat, das 
Sinnliche dem Geiftigen, das Gemeine dem Edleren, das Niedrige dem Höheren 
untergeorbnet, alfo ein edler und feiter Charakter angebahnt wird, der im 
Gefühl und Bewußtſein feiner Menfchenwürde, in voller Freiheit des Willens 
dag Gute um des Guten willen vollbringt. Die Löſung diefer Aufgabe ae 
bört freilid nicht nur der Schule, dieſe Erziehungsarbeit reicht vielmehr weit 
über die Schule hinaus und führt im irdiſchen Peben gar nidt bis an das 
(nichts deftoweniger ſtets zu erftrebende) Ziel, das da heißt Volltommenbeit. 
Bon den erjten Willenstrieben bis zu der anzuftrebenden Willensfreibheit ift 
ein langer Weg, befett mit Hinderniffen aller Art, vie jelbft den erfahrenen 
Erzieher oft rath- und muthlos maden. Ya die Hindernifje find oft fo zahl: 
reih und mächtig, daß er Gewalt und Zwang anwenden muß, um fie unfcäb- 
(ih zu machen. Aber gerade da fraat es fich, weil Zwang und freiheit ſich 
nicht miteinander vertragen, wie weit der Erzieher Zwang ammwenden darf, 
damit das Kind, troß der Unterwerfung feines Willend unter den des Er- 
ziehers, doch frei handeln lerne, wie weit er in den natürlichen Entwidlungsgang 
eingreifen, wie weit er beftimmend und leitenb dabei einwirfen darf oder fol. 
Wie die Entwidelung des menjchlichen Geiftes in Vereinigung mit dem Leibe 
zu einer Perfönlichkeit ftufenweife vor ſich geht, fo auch die Entwidlung des 
Willens. Dort find die Entwidlungsitadien durd Das Kindes-, Knaben: und 
Jünglingsalter abgegrenzt, bier treffen die Stufen der Willensbildung im 
Allgemeinen damit zufammen. Diefe Stufen finden ſich daher aud im Gange 
der Methode der Schuldisciplin und lafien ſich mit den Hilfszeitwörtern des 
Modus: „müjfen, follen und wollen“ fehr entjprechend bezeichnen. 

Auf der Stufe des Müffens, auf welcher das geiftige Peben noch in der 
Natürlichkeit befangen ift, hat der Erzieher den Kampf gegen die Herrſchaft der 
Natur negativ zu eröffnen dur Fernhaltung alles Gemeinen und Schlechten. Die 
dazuıtretende pofitive Einwirkung hat den Zögling durch die Anſchauung des 
Guten, durch das Berfpiel, zur Nachahmung zu veizen und ihm Gelegenheit zu 
Ichaffen, das Gute zu thun. Verhütung des Böfen und Reizen und Drängen zum 
Guten ift Gewöhnung an unbedingten Geborfam. Diefe beveutente 
pädagogiſche Einwirkung, welche ſich zumeist auf die noch nicht ſchulpflichtige Jugend 
eritredt, hört aber mit der Erreichung des jchulflichtigen Alters noch nicht auf, 
wenn auch von da an nach und nad ein Gehorſam von höherem Werthe gefordert 
wird. Die aus der Gewohnbeit des Müſſens maſchinenmäßig entftandenen Hand: 
lungen find noch feine Aeußerungen fittlicher Freibeit. Das Kind war nicht frei, 
auch der Knabe ift es nicht, aber der Jüngling foll frei werden. ‚Im fchulpflichtigen 
Alter befindet fich der Knabe nun auf der Mittelftufe des Sollens. Hier ver: 
zichtet der Lehrer zum Theil auf die unmittelbare Willensleitung, er wendet ſich 
zugleih an den aufmachenden Berftand des Schülers, reizt ihn zur Ueberlegung 
und gibt ihm Befehle, die er befolgen fol. Der Wille des Schülers wird umter 
das Geſetz gerban, das den Gehorfam zur Pflicht macht, was man ge: 
ſetzliche Zucht nennen kann. Vergißt er feine Pflicht, übertritt er das Geſetz, 


23 


fo verfällt er im Strafe, die dem Geſetze Nachdruck verfchaffen, ihn zum Gehorfam 
zurücdführen fol. Der geſetzbiche Gehorſam, zu welchem die im Schul- 
(eben fih von jelbit einftellenden Pflichten hinreichend Gelegenheit geben, iſt 
aber nod nicht höchſtes Erziehungsziel. Die Zufälligfeit der Entſchlüſſe des 
Knabenalters ſoll nad und nad ven auf feiten Grundſätzen rubenden, im 
ganzen Gedanfenkreife begründeten Entjchlüffen weidhen, das Sollen foll zum 
wirflichen, felbitbewuften Wollen werden. Dies die Aufgabe der Erziehung 
auf der dritten Stufe der Willensbildung, die vornehmlich das Jünglingsalter 
umfaßt. Hier muß der Erzieher den Zögling auch gewähren laffen, ihm 
nicht befehlen, was durch deſſen freien Entjchluß zu erreichen if. Der Zög— 
ling wird freilih nod gar manchmal das Böfe thun und das Gute unter: 
faffen. Je mehr aber die Einficht bei ihm wächſt, daß das durd freie Selbit- 
thätigfeit wollbradhte Gute höheren Werth befitt, als dasjenige, das er auf 
Befehl ausführt, deſto mehr geftatte man ihm Freiheit im Handeln. Gleich— 
wohl darf die erzieherifche Einwirkung noch nicht aufhören. Jetzt ift ed 3.2. 
an der Zeit, die erzieherifhen Maßnahmen mit Gründen zu belegen, dem 
Zögling zu rathen, ihm eine Perfpective in die edlen Abfichten des Erziehers 
zu eröffnen und die inneren Folgen zu beobachten, welche die Handlungen des 
Zöglings auf dieſen felbft haben. Diefe Mafnahmen, welde die Gewöh— 
aung an den freiwilligen und freudigen Geborfam ausmachen, wollen 
es am Ende der Periode dahin bringen, daR der Zögling feiner Menſchenwürde 
gemäß handelt, daß er ſich aus freier Meberzeugung, d. h. auf Grund feines Ge— 
wiffens für das wahre Wohl des eigenen Ich, wie für das der gefanmten 
Menſchheit entjcheidet. — Wird der Zögling fo in der Zucht des Gehorfams er- 
zogen vom abjoluten „Du mußt“ (unbevingter Gehorfam) zum fategorifhen „Du 
ſollſt“ (geſetzlicher Gehorfam) bis zum freien und freudigen „Ich will” (freier 
Gehorſam), — fo wird er der Freiheit entgegengeführt, die da recht frei macht. 
Denn dann gewinnt das Sittlihe im Zöglinge die Oberherrfhaft und dann 
fann er getroft hinaustreten in die weite freie Welt der Verſuchungen und 
Kämpfe. Kehr, Pär. Blätter 1875, pag. 176.) Aus dem Ebengefagten 
erhellt, daß die Gewöhnung vornehmlich in der Vorſchulzeit, Die geſetz— 
libe Zucht befonvers während dev Schufeit, die Gewährung aber haupt- 
fählih im Jünglingsalter auftritt. Daraus darf nun aber nicht gejchlojien 
werden, dak Gewöhnung und Gewährung auf der Stufe der gejeglihen Zucht, 
aljo während der Schulzeit, gar feinen Platz finden follen. Die Gewöhnung 
hört mit dem Eintritt des Kindes in Die Schule ja nicht auf, fie ift neben 
der gefetlichen Zucht noc immer nöthig, fie tritt mit ihr nur auf eine Höher- 
itufe und erreicht ihren Gipfelpunft auf der dritten Stufe, Bei der Gewöh— 
nung hingegen ift das Gefet nicht entbehrlich, wie letzteres wieder eine Be— 
Ihränfung durch die Freiheit finden muß. Deshalb darf auch während der 
Schulzeit, in welcher der Zögling hauptjächlic unter dem Gejege fteht, Das 
Element ver Freiheit nicht fehlen, da diefe jenes erft erträglich macht; beim 
der Pehrer joll nicht bloß als Herr erfcheinen, fondern auch Vater fein. Daft 
auf der Stufe der Gewährung endlich auch das Gefeg zur Anwendung kommen 
muß, iſt ſelbſtverſtändlich, da der Zögling auf diefer Stufe ſich ja gewöhnen 
joll, es aus freiem Willen zu erfüllen. So fann dann weder die Gewöhnung, 
nod die gejetliche Zucht, nody die Gewährung auf irgend einer Stufe entbehrt 
werden, wiewohl jede dominirend nur auf einer Stufe auftritt, und es find, 


A 


obgleih Gewöhnung und geſetzliche Zucht auf der legten Stufe gegen bie Ge- 
währung zurüdtreten, Zucht und Gewährung im Grunde doch nur bie höheren 
"Stufen der Gewöhnung. Alle Disciplin ift daher wie alle Erziehung Ge- 
wöhnung, weshalb wir auch im Gange der Disciplin, den drei genannten 
Stufen entſprechend, phyſiſche, gefellige und fittlihe Gewöhnung unter: 
jcheiden. — 

Diefelben treten ſchon ſämmtlich in der Vorfchulzeit ein; aber da das 
Haus über die Mittel der leiblichen Pflege vorzugsweiſe verfügt und bie 
meifte Urſache und Gelegenheit zur phyſiſchen Gemöhnung hat, jo tritt 
diefe hier dominivend auf. Sobald das Kind in die größere Gemeinfchaft der 
Schule verfett wird, tritt die gejellige Gewühnung in den Vordergrund, ohne 
daß die phyſiſche Gewöhnung verabfäumt, oder bie fittlihe Gewöhnung, bie ja 
die höchſte Thätigkeit im Gange der Schulvisciplin bildet, vernachläſſigt merben 
dürfte; im Gegentheil joll die gejellige Gewöhnung die fittliche einleiten, 
begründen, da lettere ihr Ende dod nur im jpätern Leben haben Fann. 

Die Parallele zwiſchen den Stufen der Willensbildung und dem Gang 
der Schuldisciplin möge folgendes Schema veranſchaulichen. 


I. Stufe GVorſchulzeit). I. Stufe (Schufzeit), III. Stufe (Fünglingsalter). 















Stufen der (| We. Supt | 0 | @e- | zu | @e Ge | gudt | oe | 
Willens |‘ wöhnung währung Jwöhnung währung | wöhnung wäbrung 
bildung. Müfen | Sollen | Wollen | Vüfien | Sofen | Wollen | Müfien | Sollen | Boten 














Gang der Boyfiihe Geſellige Sitttiche| Phyfiche| Gefeige | Sitttiche Vhyſiſche Geſellige Sittlide 
Disciplin. Kay Gewöhnung _ Gewöhmung Gewöhnung | 

Dies find die drei gewiljermaßen von der Natur jelbjt veranftalteten 
Stufen der fittlihen Entwidlung des Menfhen, welde von der Sculdisciplin 
auch immer feſt im Auge behalten werden müſſen. Stufenmweife vom Sinn— 
lihen zum Geiftigen auffteigend ift die [este Sproſſe der Stufenleiter, die 
Summa aller visciplinarifchen Beftrebungen Die, daß der Schiller, die nied— 
rigen Triebe beherrſchend, in ſelbſtbewußter Freiheit dem göttlihen Vorbild der 
Vollfommenheit, das uns in Chriftus gegeben, ähnlich zu werben fuche. Liegt 
die Erreichung dieſes Zieles auch in der Ferne, jo wäre es doch fälſchlich zu 
alauben, daß der Zögling nicht ſchon in der Schulzeit für folche rein geiftigen 
Intereffen empfünglid wäre. (Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, ſo 
werdet ihr nicht in das Himmelreich fommen.) Vielmehr manifeftirt ſich auf jeder 
Entwidlungsitufe ein Hinaufrüden zu dem Höheren und Epleren und ein böberer 
Aufſchwung des Geiftes, ein unaufhaltfamer, wenn auch unbewußter Drang, 
welcher als das Gefühl eines befjeren Seins den Menſchen auf feinen Lebens— 
Ihritten begleitet, bis er zur völligen Cultur gelangt. 

2. Praftifcher Theil. 

Nach den bisherigen Darlegungen umfaßt die Handhabung der Schul- 
bisciplin die phyſiſche, aejellige und fittlihe Gewöhnung. 

a. Die phofifche &ewöhnung ift Pflege und wird zur Dieciplin, fobald 
es fi um eine dem Kinde bemufte Angewöhnung handelt. Da nun alle 
phyſiſchen Yeiden ımd Schwächen aud die geiftige Thatkraft lähmen, mährend 
förperliche Friſche und Geſundheit jede geiſtige Anftrengung erleichtern, Froh— 


25 


finn erzeugen und den Muth und die Willenskraft erhöhen, fo bat die Schule 
im Imtereffe einer harmonischen Ausbildung und der allgemeinen Wohlfahrt 
die Erziehung des Körpers zur Geſundheit, Kraft und Gewandtheit ſich ernit- 
lich zum Ziele zu ſetzen. Dies ift um fo ımerläflicher, als bei umnferer ge: 
fteigerten Cultur und iiberfeinerten Sitte mit ihrer einfeitig materiellen Rich— 
tung der Geift übermäßig ausgebeutet und dadurch die Geſundheit geſchädigt 
wird. Auch die Schule bat in diefer Beziehung gefehlt, und es ift deshalb 
jebr erfreulich, daf die Erkenntniß davon bei Pehrern und Schulbehörden mehr 
und mehr einfehrt. Die Wirkſamkeit ver Schule ift nach diefer Richtung zwar 
eine befchränfte und faft immer nur eine inbirecte ; immerhin kann fie Manches 
thun, um den Schüler zu gewöhnen, feinen Peib zum willigen, geſchickten und 
gefunden Träger des Geiftes zu machen. Dies fann indireet gefchehen durch 
Belehrung der Schüler über den menſchlichen Körper, feine Organe und Be- 
bürfniffe und bie richtige Art ihrer Befriedigung, z. B. über die Nahrbaftigfeit 
und Verdanlichfeit der verfchiedenen Nahrungsmittel, iiber den Werth der Mäßig— 
feit und die Nachtheile der Unmäßigkeit, über die möglihen Folgen eines zu 
falten Trunkes oder ftarfer Zugluft bei Erhigung, über die Schädlichkeit zu 
enger Kleidung ꝛc. Das Belehren ift aber unzureichend ; der Yehrer muß bie 
Schüler auch fo zu gewöhnen fuchen, daß fie im finnlichen Genuſſe ihre 
Ruhe und Freiheit nicht verlieren. Daber dürfen die Schüler nicht während 
de® Unterrichts eflen, fondern in einer Zmwijchenpaufe ihren Imbiß in Ordnung 
verzehren, bei Spaziergängen dürfen fie nur bie nöthigen Erfrifchungsmittel 
genießen, damit nicht der Wirthshausbeſuch als der Zweck des Ausflugs an- 
gefehen wird sc. Der Pehrer halte ferner ftrenge darauf, daß fie alle gegen 
die größere Kälte ſchützenden Kleivungsftüde, als Krägen, Mantel, Shawls :c., 
beim Eintritt in das warme Schulzimmer ablegen, beim Wegaange aber wieder 
anziehen, daß die Knaben ihre Halsbinden nicht zu feſt knüpfen, die Mädchen der 
Landſchulen die in manden Gegenden üblihen Kopfeinhüllungen weglaſſen. — 
Ein fruchtbares Feld für die Disciplinare Thätigfeit des Lehrers eröffnet die Ge— 
wöhnung an Reinlichkeit, die fomohl im Intereſſe der Geſundheit als der Sitt- 
fichkeit liegt, da, wie Rückert ſagt, die äußere Neinheit das Unterpfand eines reinen 
Herzens ift. Da gilt es nun zunächſt, ein fauberes und freundliches Schul— 
local in binreichender Größe und gefunder Page zu befommen und die Schüler 
anzuleiten, e8 fammt dem Mobiliar vein zu erhalten, die Subfellien zu 
Ihonen ꝛc. Das Ganze muß Wohlbehagen entgegenwehen ; darum feine Fahlen 
Wände, fondern hübſche Bilder, die den Schönheitsfinn wecken und nähren. 
Im ſchönen reinlihen Schulzimmer follen aud die Schiller reinlich, rein ge: 
waschen, gekleidet, gekämmt ꝛc. fein. Ihre Schulfahen, Tafeln, Hefte und 
Bücher müſſen jie gewöhnt werden, rein zu halten und baben ſich deshalb 
wöchentlich einer Mufterung des Yehrer® zu unterwerfen. Vorſicht und Klug— 
beit (megen der Yeichtwerleglichfeit der Mütter) mit Confequenz gepaart kann 
viel erreihen. Die Schüler follen aber au in reiner Puft leben und leben 
lernen, weshalb die ſchlechtgewordene Stubenluft möglichft oft durch frifche Zugluft 
erjettt werben fol, ohne aber die Kinder ſolcher in fchänlicher Weife auszufegen. 
An Falten Tagen wieder ift für eime rechtzeitige und möglichſt gleichmäßige 
Erwärmung der Schulräume zu forgen. Das durch die ftete Sorge des Lehrers 
ermöglichte Wohlbehagen, das die Schüler beim Athmen in reiner, gejunder 
und richtig temperirter Yuft empfinden, wird jie veranlaffen, jest und jpüter 


26 


zu Haufe der dumpfen Zimmerluft eim entiprechendes Ventil zu geben, ver 
Prutbige zu entfliehen und ber Schädlichkeit des Puftzuges wie ber Ddirecten 
Dfenwärme fich zu entziehen. — Zur förderung des leiblichen Gedeihens ae- 
hört ferner das rechte Verhältniß zwifdhen Bewegung und Rube Das Be: 
dürfniß nach Bewegung, dem einigermaken durch Das Aufheben der Hände, das 
Aufftehen ꝛc. entgegengefommen wird, iſt damit noch lange nicht befriedigt, vie 
Anftrenguna des Stillfigens damit nicht aufgewogen. Es müſſen daher auf 
allen Altersftufen geordnete Yeibesübungen betrieben werben, fei es durch die 
Beihäftiaung der Kinder im Garten, dur Spaziergänge, Bewegungöſpiele, 
Baden, Schwimmen, Eislauf oder das Turnen, weld letzteres felbit bei fchlechtem 
Wetter und in Ermangelung befonverer Turnräume in den Freiübungen zur 
Noth im Schulzimmer geihehen kann. Wo die entjpredenden Räumlichkeiten 
vorhanden find, treten ſelbſtverſtändlich auch Ordnungs- und die geeigneten Ge- 
räthübungen binzu. Der vernünftge Betrieb der Yeibesübungen, der jede Ueber: 
anftrengung ausſchließt und die Individualität möglichſt berüdjichtigt, fördert 
aber nicht nur die Gefunpbeit und Kraft, ſondern verleiht dem Körper auch 
Gewandtheit, gewöhnt an Anftand, Muth, Geiftesgegenmwart und, indem der 
Schiller ih als Glied eines Ganzen fühlen und deſſen Geſetzen ſich fügen 
lernt, an Gemeinſinn. Zwiſchen ven Yeibesübungen hat ein entiprechenver 
Wechſel ftattzufinden, auch find wie bei aller Arbeit rechtzeitige Erholungspaufen 
und nad der Ermüdung Ruhe nöthig. Die befte und gründlichſte Ruhe ver: 
bürgt freifihb nur gefunder Schlaf, den die Schule nicht gewähren fann ; aber 
dag nad der Bewegung folgende Sigen der Schüler tft doc ein Ausruhen, 
befonders wenn die Subfellien mit zwedmäßigen Nüdlehnen und Fußſchemeln 
verfehen find. Immerhin bat dieſes Ruhen nur relative Bedeutung. Denn 
auch beim Eigen dürfen wir die förperlihe Haltung nicht überfeben. Wir 
fordern ein freies Eiten, mır von der Rücklehne aeftütt und dulden fein faules 
Hineinliegen auf die außsgebreiteten Armknochen, nicht Das grobe Stützen des 
Kopfes mit der Hand oder aar mit beiden, nicht das normalwidrige, Bruſt 
ımd Augen fchädigende Vorbiegen des Dberleibes und Kopfes beim Schreiben, 
ebenfo wenig eine fehlerhafte Federhaltung. Manchem Pehrer find jolhe Dinge 
zu Mein; allein in der Disciplin haben auch diefe Fleinen Dinge ihre Be: 
deutung, und wir halten jeve Bernadläffigung darin für unverantwortlid. Da 
darf man nie müde werden in dem Kampfe genen die Macht der Trägbeit, 
die an den Kindern immer wieder bervortritt; denn darin liegt eben auch ein 
fittlihes Moment in der phyſiſchen Gewöhnung, daß die Jugend auf ibren 
Peib achten und in der Tugend der Celbftbeherrichung fih üben lernt. — Zur 
phufifchen Gewöhnung gehört auch die vielfeitige Hebung der Sinne des Leibes, 
ver Schuß vor deren Weberanftrenaung und fonftigen ſchädlichen Einflüſſen, 
ſowie die Gewöhnung, fich vor denfelben felbit zu fehügen. So ift zur Schema 
der Sehfraft die allzu arelle Abwechslung von Picht und Schatten zu verbüten, 
der Eintritt des zu arellen Sonnenlichtes dur mattgraue oder grüne Rouleaur 
zu verhindern, das Nahehinfhanen auf Drud und Schrift ebenfo wenig zu 
dulden, al® eine zu große Anftrengung im Weitjehen; der Gebraud zu blaffer 
Tinte ift zu verunmöglichen, eine unzweckmäßige Aufftellung der Subjellien zu ver: 
meiden, Bücher mit zu kleinem Drud find zu verbieten ꝛc. Auch der Gebörfinn 
bedarf der Beachtung. Gemwaltige Einprüde, übermäßiges Schreien, Zug am 
offenen Fenſter, Ohrenreißen ꝛc. können ebenfo gewiß nachtheilig wirken, als 


27 


Päffigkeit in der Reinhaltung des Gehörorgang, das Hineinbohren mit Stift und 
Federhalter. Ueberhaupt gelten für alle Sinne die Grundfäge: Keine leberreizung, 
feine Berfältung, fortgefegte Reinlichkeit. Befonders bebürfen aud die Nerven, 
melde die Sinnesthätigfeit dem Geifte vermitteln, der Schonung, Damit das 
Gehirn nicht überreizt werde. Alfo Feine zu frühe Aufnahme in den Schul: 
unterricht, feine Ueberanftrengung bei demfelben, aud nicht durch die Aufgaben. 
Die phyſiſche Gewöhnung bat Acht auf das aanze leibliche Yeben ver Schüler, 
auch auf die Kranfheitterfheinungen, da der Lehrer die Gefunden vor 
Anftekung zu bewahren hat und die Schüler anleiten muß, ſich felbft wor 
Schaden zu behüten und nöthigenfall® rechtzeitig ärztliche Hilfe in Anſpruch zu 
nehmen. Bet all diefer Borficht ift eine Verweichlichung des Körpers zu ver: 
bitten, da diefelbe leicht jener Peltbeule der ftummen Sünden der Selbſtbe— 
fledung Vorſchub feiftet, vor welden der Lehrer feine Schüler durch alle 
Mittel, aud dur die ftramme Körperdisciplin zu bewahren ſuchen muß. 

It die Eimwirfung des Lehrers in Hinſicht der phyſiſchen Gewöhnung 
auch oft nur eine indirecte, fo ift jie troßdem eine jehr notbwendige, und wenn 
mit Treue und Confequenz geübt, eime fehr fegensreihe, da der Schüler zur 
vernünftigen Führung feines Yeibeslebens kommt und damit fehon theilweiſe 
der aefelligen und jittlichen Gewöhnung vorgearbeitet wird. 


b. Die gefellige Gewöhnung. Wie die phyſiſche Gemöhnng darauf 
abzielt, daß das Kind feinen Peib als Tempel des Geiſtes anfehen lerne und 
fih in leiblicher Beziehung an das rechte Veben gewöhne, fo bezwedt die ge— 
jellige Gewöhnung das rechte Leben in der Gemeinfhaft der Schule 
und zwar zumächit wegen der Schule Soll die Schulgemeinichaft ein lebens— 
voller Organismus fein, fol der Unterricht und die Erziehung in berfelben 
gedeihen, fo muß Ordnung in berfelben berrihen. Wie die „heilige Orb- 
nung, die fegensreiche Himmelstochter, die das Gleiche frei und leicht und freudig 
bindet“, uns itberall in der uns ummebenden Natur ala feite Geſetzmäßigkeit 
vor Augen tritt, wie auf ihr jede Art des gefelligen, birgerlichen und ftaat- 
(ihen Lebens ruht, jo muß auf ihr aud das Peben der Schule bafirt, fo muß 
fie auch das Fundament des Schullebens fein. Das Zufammenfein einer Mafle, 
bejonders einer großen, von 80, 90 und mehr Kindern macht eine fejte gefetliche 
Ordnung unbedingt notbwendig. Die Menge wird zum Zweck des Unterrichts nach 
Altersklaſſen und Kenntnißſtufen gegliedert und diefe Theilung ermöglicht auch die 
Durchdringung der Maffe mit dem beherrfchenden Willen und Wort, obwohl 
das Gedeihen der Pehrerarbeit auch wieder davon abhängt, daß er die getheilten 
Häuflein zweckmäßig zu vereinigen weiß. Wo mehrere Pehrer fih in die vor: 
handene Maſſe ver Schüler theilen, vereinfacht jich diefe Arbeit, während in 
der einclajfigen Schule, in welcher fieben bit acht Jahrgänge vereinigt find, 
die Kraft eines einzigen Mannes aufs Aeuferite angefpannt wird, auch bei nur 
50 Schülern. Die Mafnahmen der Schulvisciplin in Betreff ver gefelligen Ge— 
wöhnung gehen aljo auf Heritellung und Erhaltung der Schulordnung dur Ein- 
gewöhnung der Schüler in dieſelbe. Dies trifft im wefentlichen mit dem zu— 
ſammen, was Herbart unter Regierung verfteht. — 

Nun ift eine gute Ordnung nur da, wo alles am rechten Orte und 
zur rechten Zeit gefchieht. Der Drt, ver bier in Frage fommt, it das 
Schul: oder Clajjenzimmer. Ales in demfelben muß am rechten ‘Plage, 


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auch dem Schüler fein beftimmter Platz angewieſen fein, den er nicht ohne 
Erlaubnik verfaffen darf und fir deſſen reinliches und ordentliches Ausieben 
er verantwortlich ift. Alle diejenigen Schüler, welche der Rückſicht, Aufficht 
und bejonderen Nachhilfe des Lehrers bedürfen, werden auf die vorderen Pläte, 
die übrigen Schüler, foweit fie nicht Bank-Erſte find, auf die hinteren Bänke 
verwiejen. Die Banf-Erften find Ordnungsgehilfen, die den Pehrer in allerlei 
fleiner Arbeit und Handreichung zu unterjtiigen, überall mit autem Beijpiel 
voranzugehen, über die Ordnung in ihrer Bank zu wachen, die Unordentlichen 
zu mahnen haben ꝛc. Am meiiten wirft auch bier das Beifpiel des Lehrers, 
der deshalb auf feinem Tiſch, im Schranfe u. f. w. gute Ordnung balten muß. 

Die Ordnung verlangt, daß alles auch zur rechten Zeit aefchehe. Aus 
diefem Grunde muß der Lehrer der Erfte in der Schule fein. Er hat ſich 
eine Viertelſtunde vor Schulanfang im Schulzimmer einzufinden und darauf zu 
halten, daR jeder fommende Schüler artig und freundlich arüßt, ſich rubig an 
jeinen ihm zugewieſenen Platz jest, jeder gewaſchen und gekämmt erjcheint und 
dar die Banf-Erften ihre Geſchäfte beforgen, wie er felbit Alles fir den Schul: 
anfang vorbereitet. Derjelbe beginnt nad dem letten Glockenſchlage in altebr- 
würdiger Sitte mit einem weibevollen Aufblit zu Gott durch Gefang md 
Gebet. Während deſſelben darf fein Schüler in die Schule treten. Nach 
demfelben müſſen fie, die Hände auf den Subfellien, ſich ruhig niederjegen, 
auf feinen Befehl die Pöfungen der Hausaufgaben ruhig vorzeigen sc. Wen 
die Abtheilungen, welche er zunächſt nicht umterrichtet, ſchnell beſchäftigt worden, 
jo beginnt der Unterricht. Zwiſchen den einzelnen Unterrichtsjtunden 
treten Pauſen ein. Den Stundenſchluß kündigt der Pehrer au. Darauf 
ziehen die Schüler, wenn es die Naum- oder Witterungsverhältniffe geſtatten, 
auf ein gegebenes Zeichen paarmeife in den Hof over auf den Spielplats, öfters 
unter fröhlichen Geſang. Wer irgend ein Bedürfniß zu befriedigen bat, bat 
jofert wegzugehen, um thunlichht bald wieder bei Spiel und Uebung zu er: 
ſcheinen. Fünf Minuten darnach beginnt in gleicher Ordnung ver Rückzug 
Die zwiſchen die zweite und dritte Stunde fallende, S—10 Minuten währente 
Paufe wird ebenfo ausgenüßt ; bier kann auch der mitgebrachte Imbiß verzehrt, 
ber Durft geftillt, können die Blumen am Schulfenſter begoffen werden. Bei 
ſchlechter Witterung werden in Ermangelung einer Turnhalle oder eines Spiel: 
faales nur die Schüler entlaffen, welche auf die Abtritte wollen. Sie haben 
ſchnellmöglichſt wieder zu erſcheinen, um fi an dem im Schulzimmer auszu— 
führenden Turnübungen zu betheiligen. Die Ordnungsgehilfen haben unter— 
deſſen mit dem Lehrer Alles für den folgenden Unterricht geordnet, der nun 
ohne Verzug beginnen kann. Ende gut, Alles gut. Auch die Schule muß 
ordentlich zu Ende gehen. Fünf Minuten vor Stundenſchlag wird das Zeichen 
zum möglichſt geräuſchloſen Zuſammenpacken und Aufräumen der Schulſachen 
gegeben, darnach geſungen und gebetet. Nun werden die Kleidungsſtücke, Mäntel, 
Hüte, Mützen ꝛc., ausgetheilt; wenn Alles fertig, giebt der Lehrer das Zeichen 
zum Weggang. Der vom Schulzimmer oder Schulhof aus den ſich zerſtreuenden 
Schülern nachgeſandte Blid des Lehrers hält die Gewiſſen wach und verhütet 
viele Unarten. Der Pehrer macht hierauf im Claſſenzimmer feine Einträge in 
das Tage-, Cenſur- oder Individuenbuch, die Oronungsgebilfen öffnen bie 
Fenſter, wenn fie nicht der Nachfiger wegen, die der Lehrer am beften felbit 
überwacht, geſchloſſen bleiben müffen ꝛc. 


29 

Ordnung it ganz bejonvders aud während des Unterrichts nöthig ; 
bier müfjen die gejelligen Tugenden ver Ruhe, Stille, Aufmerkjamteit, 
Berträglichfeit, Schweigjamfeit, des Fleißes und des Gehorſams in fteter Uebung 
ftehen. Rube und Stille ift des Schülers (wie des Bürgers) erſte Pflicht. 
Wil der Yehrer fie heritellen und erhalten, ſei er zuerſt jelbit fein ftille, äußerlich 
und innerlich, in Haltung, Rede und Gemüth, und darnach fordere er das Gleiche 
von den Schülern. Die Schüler müfjen ſich zuſammennehmen, ihre Glieder be- 
herrſchen und jelbit das leiſeſte Geſchwätz vermeiden lernen. „Achtung!“ „Richt euch! * 
oder „Rührt euch!“ iſt auch das Commando im der Schule. Wo damit. nicht 
ſchnell Ruhe hergeſtellt ift, it der Lehrer gewöhnlib an das Geräuſch ge- 
wöhnt, wie der Müller an das Rädergeklapper. Das iſt ſchlimm, denn ohne 
die äußere Stille kehrt beim Kinde nicht leicht Die inmere ein, welde mit der 
Aufmerkſamkeit fo nahe verwandt iſt; ohne die äußere Stille iſt ein frucht- 
bares Unterrichten nicht leicht denfbar. Halte ja der Lehrer jeine Worte für 
zu gut, um fie einem Haufen unaufmerkjamer Kinder vorzufagen, halte er nad) 
dem Commando lieber jtill unter jcharfer Beobachtung der Kinder ; fie werben 
dann im der Kegel auch ftil. Die innere freiwillige Aufmerkjanfeit und ver 
Fleiß werden durch einen guten und lebendigen Unterricht erreicht. Der 
Wechſel in Unterricht und Uebung und in den verjchiedenen Gegenftänden, die 
Friſche, Munterkeit und freudige Thätigfeit des Yehrers regt fonder Zweifel 
die Selbitthätigkeit des Schülers auf das wohlthätigfte an. Stille, Aufmerk— 
ſamkeit und Fleiß lajien fid) aber nicht denken ohne Gehorjam Wie Ruhe 
die erfte, jo iſt Gehorſam die ftete Pflicht des Schülers, nicht mehr der unbe- 
dingte, jondern der durch das Geſetz und die Borjchrift geforderte. Das ganze 
Schulleben iſt Gewöhnung an Gehorſam; denn täglich, ſtündlich, ohne Unter- 
laß erfährt der Schüler, daß er nicht thun darf, was ihn gelüftet, ſondern 
nur das, was das Geſetz vorjchreibt und erlaubt um des Schulzweds willen. 
So lernt die Jugend unter wohlgehandhabten Gejeten die gejeglihe Ordnung 
ihäßen und ehren. Daß man es in der Schule mit Kindern und mit päda— 
gogiſchen Geſetzen zu thun bat, darf natürlich, wenn nicht Recht zum Unrecht 
werben fol, nicht überjehen werden. Wie die erwähnten gefelligen Tugenden, 
jo ift aud ver ſprachrichtige mündliche Wechſelverkehr eine nothwen— 
dige Bedingung für erfolgreichen Unterriht. Die Kinder müjjen in der Schule 
hochdeutſch ſprechen und ven Dialect überwinden lernen; fie jollen ſich ge— 
wöhnen, nicht zu haftig, nicht unrein oder in üblem Sculton, weder zu leiſe 
noch zu laut zu ſprechen, dagegen ſich jtets feſt und ſicher, lautrein, deutlich, 
vernehmlich und richtig accentuirt ausprüden, wie man in gebildeten Streifen 
zu thun pflegt. Soldes Mühen der Schüler wird zu einer Zucht der Rede 
und ift von um jo größerem Erfolg begleitet, je mehr ver Lehrer felbjt mit 
gutem Beijpiel voran geht. Die Süddeutſchen mögen im dieſer Beziehung 
von den Norddeutichen lernen. 

Beim Unterridt jelbit find je nad der Unterrichtsform, dem Unter: 
richtsmittel oder dem Unterrichtsgegenjtand verſchiedene Maßnahmen ver ges 
jelligen Gewöhnung nöthig. So hat der Yehrer bei der mittheilenden Unter: 
richtsform nebenbei über das Verhalten und die Aufmerkfamkeit der Schiller 
zu wachen, bei der entwidelnden Yehrform die Frage an die ganze Claſſe zu 
richten, um alle zur Thätigkeit zu reizen, und erjt hernad) einen einzelnen 
Schüler zur Beantwortung aufzufordern. Wer die Antwort weiß, hat den Zeige 


30 

finger der rechten Hand aufzuheben, darf aber weder einjagen, noch ſich unanftändig 
hervordrängen. Der Yehrer muß die Schiiler mit dem Familiennamen in nicht 
merfbarer Reihenfolge aufrufen. Cs foll kein Schüler fiher werben, aber jeder 
(wenn möglich) gleidhoft daran fommen. Der Aufgerufene hat fich ſchnell und leife 
zu erheben, ruhig und gerade zu ftehen, laut und deutlich, im den umteren 
Claſſen immer in vollftändigen Sätzen zu antworten und darnach fich ebenjo 
leife wieder zu jegen. Iſt die Antwort ausgeblieben, jo mag der Lehrer fid 
doch immer jelbjt fragen, ob nicht im feiner Frageftellung die Urjache Liege. 
Glaubt er diejelbe in der Unruhe und Unaufmerkjamfeit ver Schüler zu finven, 
jo halte er ein wenig inne, gebe ein Zeichen mit der Hand oder Klingel, ver- 
(tere fi aber nicht in lange Moralpredigten, die nur die Zeit frejfen und 
Aerger bereiten. Beim Gebraudh der Unterridtsmittel tt feſte Gemöb- 
nung dur Takt und Commando der Disciplin jehr förderlich. Bücher, Tafeln, 
Hefte ꝛc. werben z. B. in drei Zeiten von der Bank vorgenommen und eben- 
jo wieder zurüdgelegt. AU ſolch Heine Arbeit wird durch den Takt von 
wirrem Durdeinander befreit umd zu einer durch Maß und Ordnung ver- 
ihönten Ihätigfeit erhoben. Betreffs der Unterridtögegenftände möge 
nod erwähnt jein, daR der Religionsunterricht jene höhere Stimmung erzeugen 
joll, weldye disciplinäre Einjhreitungen, bejonders körperliche Züchtung, über- 
flüffig macht. Beim Schreiben gibt die richtige Haltung des Körpers, die Ver: 
theilung der Hefte, ihre Lage, das Einſchlagen in Schmußveden, das Löſchblatt, 
die Feder und ihre Haltung, die Schiefertafel nnd ihr Zubehör x. fortwährene 
Anlaß zu feften Angewöhnungen. Beim Leſen haben die Schüler das Buch gerade 
vor ſich hinzulegen, den Kopf nicht zu jehr zu beugen, wicht mit dem Finger auf 
dem Buche nadyzufahren, aber ftets fiber machzulefen. Beim ftilen Rechnen dürfen 
weber Yippen noch Finger ſich bewegen; das Rejultat ift auf Commando 
niederzujchreiben. Beim Zeichnen ift vor Beginn des Unterrichts das Material 
zu prüfen, das Plaudern und Umfeben zu verpönen; beim Turnen ift auf 
jtramme Ordnung zu halten und feinerlei Orpnungswidrigfeit zu dulden x. 
In Summa: Der Lehrer thue Alles, was das Zuſammenleben und den Unter: 
richt fordern, und verhindere Alles, was fie jtören könnte. 

Wo der Yehrer jo conſequent auf Ordnung und Pünktlichkeit hält, da 
bildet ib beim Schüler ein Sinn für Reinheit, Schönheit, Ordnung und 
Gejegmäßigkeit, der nicht nur für die Erreihung des Schulzweckes die beite 
Garantie bietet, fondern für's ganze Yeben wohlthätig wirft; denn jo ge 
wöhnte Kinder werden einftens auch orbnungsliebende, pünktliche Menſchen 
und braudbare Glieder der Gemeinjchaften, in die fie ſpäter eintreten. 

e. Die ſittliche Gewöhnung. Durch die jittlibe Gewöhnung ſoll 
der Schiller zum freien Gehorfam, zu einem jittlihen Yeben erhoben 
werden, in welchem er, den höchſten fittlichen Ideen folgend, all jein Thum 
in freier jittliher Geſinnung vollbringt. Wo zwijchen der idealen Einficht 
und dem Willen ſolche Uebereinftimmung exriftirt, da it Tugend; wo ber 
Wille allen Reizungen und Yodungen zum Trotz das dennoch ausführt, was 
der rechten Einficht entipricht, da ift innere Freiheit; und wo ſtets eine 
jolde Gemüthöverfafjung und ein ſolches Gefammtjtreben ſich offenbart, da ift 
jittlide Charakterfeftigfeit. Dies höhere Ziel läßt die Schuldisciplin 
bon bei ver phyſiſchen und gefelligen Gewöhnung nicht aus den Augen, ob- 
gleich jie nur Durbgangsitufen für vie fittlibe Gewöhnung bilden. Ebenſo 


31 
bereitet der Unterricht die fittliche Bildung vor und unterjtütt fie ſtetig. Bei 
der einheitlichen Natur des Menjchengeiftes nimmt der rechte geijtbildende und 
erziehende Unterricht für ſich auch dem jittlichen Willen vielfah in Anjprud) ; 
denn die Aufmerkſamkeit ift, wenn auch einerjeit® von der Perfon des Lehrers, 
anderjeitd dody von dem Willen des Schülers bedingt. Aufmerken iſt jchon 
eine fittlihe That, Aufmerkjamfeit eine Tugend. Nun läßt ſich aber das 
Wollen des Guten gar nicht denfen ohne die Erkenntniß defjelben. Gerade 
aber die Eimfiht bat der Unterricht durch Verarbeitung des dargebotenen 
Wahrheitd- und Wilfensftoffes zu bilden und den Gedankenkreis zu erweitern 
und zu läntern, damit der Zögling die Dinge der Welt und die Berhältnifie, 
in denen er lebt, nah ihrem Werthe richtig ſchätzen lerne und damit Die 
rechten Neigungen, Borftellungen, Begriffe und Grundfäge in ihm entjtehen, 
welche den böjen Trieben und Neigungen fein Aufjtreben geitatten. Sollen 
die fittlihen Grundjüge dem Zöglinge aber, zum fittlihen Gejege, zum Ge— 
wiſſen, joll die reine Yiebe zum wahrhaft Guten die Richtſchnur jeines Handelns 
werden, jo muß einerjeits der Erzieher das Sittengejeg in jeiner Perſon dar- 
jtellen,; anderjeit® der Zögling aber auch auf die Stimme hören, welde ihren 
Ausgang über dem Erzieher und in ihm nur ihren Durchgang bat, auf das 
göttlihe Gejet. Denn „jol der Menſch für fein irdiſches Dajein eine umer- 
ſchütterliche Stütze feines Friedens, ein unmandelbares Ideal feiner Moralität, 
eine helle Yeuchte jeines Geiftes erhalten, jo müſſen wir ihn zu  jeinem 
Schöpfer hinführen und mit dem Anker des Glaubens ausrüften“. (Dittes.) 
Eo gehen denn diefe Drei immer zufammen: Erkenntniß des Rechten und 
Guten, Freiheit des Willens, es zu vollbringen, in dem Verhältniß, in 
welden wir und Über die Macht des blinden Naturtriebes erhoben haben, und 
Verantwortlichfeit für unjer Thun und Laſſen. Welches ift nun die Auf- 
gabe der fittlihen Gewöhnung, wenn fie fittlihe Freiheit und Charafterfeitig- 
feit anftrebt?: Der Kampf gegen alle Untugend, die Förderung aller Tugend. 
Da gilt es alfo nicht nur zu verhüten, zu hemmen und niederzuhalten die dem 
Sugendalter eigenen Fehler, wie: Unbedachtſamkeit, Vergeßlichkeit, Yeichtfinn, 
Nachläſſigkeit, Muthwillen, Unordnung, Ungeduld, Zerſtörungsſucht, Unreinlich— 
fit, Geſchwätzigkeit, Ausgelaſſenheit ꝛc., ſondern auch energiſch zu kämpfen 
gegen die Fehler des Gemüths, welche eigentliche Verſtöße gegen die ſittlichen 
Vorſchriften find, als: Eigenſinn, Ungehorfam, Lüge, Betrug, Angeberei, Un— 
verträglichkeit, Unhöflichkeit ꝛc. Zu dieſer negativen muß aber auch die poſi— 
tive Sittengewöhnung treten und allen den Tugenden Raum geſchafft werden, — 
welde in dem fittlidereligiöfen Charakter gleihjam als Grund- und Edpfeiler 
bervorragen. Wir rechnen biezu: Gottesfurdht und Yiebe zu Gott, BVater- 
landsliebe, Gehorſam, Gewifjenhaftigkeit, Selbſtbeherrſchung, Wahrhaftigkeit, 
Wohlanſtändigkeit, Keufchheit, Höflichkeit, Beſcheidenheit und Dienſtfertigkeit ꝛc. 
Die poſitive und negative Seite der ſittlichen Gewöhnung werden in der Praxis 
einander vielfach begleiten, neben- und miteinander wirken, ja bisweilen in ein- 
ander fliegen, da man faum zum Gehorjam, zur Wahrhaftigkeit, Wohlanftän- 
digkeit wird ermahnen fünnen, ohne vor derem Gegentheil zu warnen, und 
umgefehrt. Wir halten daher die pofitive und negative Eittengewöhnung 
nicht weiter auseinander und beſprechen nur im Kürze, wie zu dem obenge- 
nannten Tugenden binzuleiten ift. — Aus der Gottesfurdt und Liebe zu 
Gott, zu welchen eine lebendige Gotteserkenntniß führt, emtwidelt ſich vie 


32 

ganze Reihe der übrigen Tugenden. Daher ſuche der Lehrer durch feinen ge- 
ſammten Unterricht den Schüler zur Erkenntniß Gottes und der ewigen Wahr: 
heiten zu führen, lehre fie, um Gottes Tegen zu beten und für jenen Schutz 
zu danken, made fie auf Gottes Werfe und Gaben in der Natur und Menichen- 
welt aufmerkſam, leite fie zur Selbſtprüfung an, zur Bethätigung der Eltern: 
und Nächſtenliebe und zeige ihnen, daß er jelbit in der That Gott über alle 
Dinge fürdte und liebe. 

An die Gottesfurdt reiht fib die Baterlandpsliebe, wozu die Schule 
triebfähige Keime einfenfen kann, wenn fie aud erjt im Jüngling und Mann 
zur vollen Imnigfeit und Stärke reifen. Da gilt es zuwörberft, in der Schule 
edlen Gemeinſinn zu pflegen, die Schüler mit den Eigenthümlichkeiten und 
Schönheiten des Baterlandes, mit feiner Gejchichte und den Großthaten feiner 
Väter umd Helden im Unterrichte, jowie jpeciell an den patriotiſchen Feſttagen 
befanmt zu machen, befonders aber den Schülern ſelbſt vorzuleuchten mit einem 
ſich lebendig bethätigenden patriotifhen Gefühl. Der Gehorfam, die Grund- 
tugend, in welder Paulus die ganze Eittenlehre für Kinder zujfammenfaßt, ſoll 
auf der Stufe der fittlihen Gewöhnung zur berzliden Bereitwilligfeit werden, 
den Eigenwillen ver befjeren Einficht unterzuorbnen. Die Pflege des Geber: 
ſams ift zugleich die bejte Schule ver Gewiſſenhaftigkeit, die es darauf 
abjieht, daß der Schüler das Böſe flieht umd das Gute thut, nicht bloß um 
der äußern Folgen, jondern um des Gewiſſens willen. Aber des Yehrers ge 
wiſſenhafte Pflichterfüllung in allen Dingen muß als nabahmungswürdiges 
Beifpiel den Schüler zu Gleihem reizen. Die Selbſtbeherrſchung joll 
dem ftürmijchen Heer der Leidenſchaften Schweigen gebieten, die Trägheit zu 
Fleiß und Anftrengung ftacheln, den fleiſchlichen Yüften und Gedanfen, Worten 
und Werfen widerftehen, eigenes und fremdes Gut in Ordnung halten und 
achten. Auch bier ift das Beifpiel des Pehrers das beite Disciplinarmittel. 
Eine Hauptaufgabe der fittlihen Gewöhnung ift die Pflege ver Wahrhaftig- 
feit, die fi nicht bloß im eigentlihen Worte, fondern im Meiden alles bloßen 
Scheins beweift und es in Wort und That auf Weſen und Wahrheit anlegt. 
Ein wahrhaftiger Sinn, ein wahrheitjebendes Gemüth ift wie der gejcliffene 
Spiegel, ver jeden Einblid wahr ımd wirklich zurüdgibt, ift wie ein eherner 
Schrein, dem man fein Bejtes anvertrauen kann. Wahrhaftigkeit und Redlich— 
feit find die Eigenjchaften, die wie feine andern die Grundbedingungen zum 
Gedeihen eines jeden Erziehungswerfes bilven, ohne die fein guter Einfluß auf 
den Zögling möglich, feine Hoffnung auf Erfolg denkbar iſt. Der Wahrbaftig- 
feit gegenüber fteht das große Yafter der Unaufrihtigfeit und Yüge/ 
Sie iſt die Nictübereinftimmung der Worte des Mundes mit den Gedanten 
des Herzens, ein Verhüllen der Wahrheit zum Zweck der Täuſchung und eine 
der am jchmwerften zu befiegenden Untugenden, namentlich in der Zeit des 
Knabenalters. Cie äußert fih als Verftellung im Ausweichen gegenüber dem 
nah Wahrheit forjchenden Blid oder Wort, im VBerbergen der Wahrheit und 
im Behaupten der Unwahrbeit. Die pſychologiſche Urſache der Yüge kann in 
der allzulebhaften Yantafie des Kindes, in Leichtſinn, Zerjtreutheit und Un: 
überlegtheit, in Ehrgeiz, Eigennuß und Gewinnſucht, oder in Argliſt und Bos— 
heit begründet liegen ; anderjeits können auch die Fehler der praftifchen Er- 
ziehung die Schuld am der Yigenhaftigleit der Kinder tragen, wenn z. B. bie 
Eltern es jelbit mit der Wahrheit nicht genau nehmen oder die Kinder mit 


33 


Haus- und Nothlügen geradezu an das Lügen gewöhnen, wenn die Umgebung 
dem lügenhaften Kinde ſtatt Abjchen gar eine Art Wohlgefallen bezeigt. 
Ebenſo nachtheilig it eine zu große Veichtgläubigkeit, ein unnöthiges Fragen 
und Mißtrauen, ſowie allzugroße Strenge und Härte gegenüber den Kindern, 
Wie ift mm jenen in der Kindesnatur jich geltend machenden Neigungen und 
Verſuchungen zur Lüge entgegen zu wirken? — Sprudeln aus allzulebhafter Fau— 
taſie neben allerlei Bildern auch Spiel- und Scherzlügen hervor, ſo ſehe man 
ruhig zu, ſo lange es beim Spielen und Scherzen bleibt. Tritt hingegen eine 
böſe Abjicht irgendwie und wo an den Tag, fo mache man dem Spaß mit 
ernjtem Ton ein Ende und fordere die Wahrheit. (Ueberhaupt feine Erhitzung 
der Fautaſie) Kinder, die aus Leichtjinn und Serjtreutheit lügen, müſſen 
zunächit an Ordnung und Ueberlegung in ihrem Denfen, Reden und Handeln 
gewöhnt werden; auch laſſe man ihnen einmal die Folgen ihres unordentlichen 
und zeritreuten Weſens fühlen. Bon dem Yügen aus Ehrgeiz wird das Kind 
durch tete Gewöhnung an Bejcheidenheit, Arfpruchlofigkeit und Redlichkeit am 
meijten zurückgehalten. Man lobe nicht zu viel und dulde fein heimliches Zu— 
tragen und übles Nachreden. Auch gegen Yügen, die aus Gewinnfuht und 
Eigennutz jtammen, hat fi die Disciplin meist worbeugend und bewahrend zu 
verhalten. Darum vermeide man ein zu oftes Belohnen, lege den Kindern 
nahe, daß das mit Fleiß und treuer Arbeit erworbene Gut einen höhern Werth 
beißt, als das auf unvehten Wegen erlangte, man trete allen Keimen und 
Spuren von Luft an betrügeriihen Mitteln zu gewinnfüchtigen Zwecken, allen 
kleinen Schachergeſchäften, Geldſpielen zc. bejtimmt entgegen und ahnde derartige 
Berirrungen aufs ftrengite. Dem Lügen aus Aralift und Bosheit gegenüber 
it ein Anhalten zu freundjchaftlicher Liebenswürdigleit, Gefälligkeit, Nachgiebig— 
keit, Eintracht und offenherzigem Sinn, ſowie eine vertrauens- und liebevolle 
Behandlung am rechten Plage. Zänkiſches Gerede und ımverträgliches Neden 
find ebenjowenig zu dulden, als häßliches Auflagen. Yegteres ift der Jugend 
jelbft ein Gireuel. Soll ver Dieciplin nicht die Schuld der Lügenhaftigkeit der 
Kinder zugemeffen werten, jo jtehe der Lehrer jelbjt zu jeder Zeit und an 
jedem Ort in der Wahrheit, ja er nehme nicht bloß ſich, ſondern feine ganze 
Umgebung, feine‘ Familie und die Schülergemeinihaft in ftrenge Zucht der 
Wahrheit. Das Kind joll merken, daß „Wahrheit über Alles“ geht und feine 
Berlegenbeit jo groß fein fünne und dürfe, um ſich durch dieſelbe in die noch 
größere Schande der Ummahrbaftigfeit ftürzen zu laffen. Er heiße darum nie 
eine Aeußerung gut, wenn jie nicht Strenge auf Wahrheit beruht, er jet nicht 
leichtgläubig und laffe ſich nicht täuſchen. Beſonders hüte er ſich, durch Die 
Art des Ausforſchens und Verhörens oder durch übermäßige Zumuthungen den 
Schüler zur Lüge zu treiben. Wenn endlich das Kind Vergehen und Fehler 
nicht verheimlicht, ſondern offen geſteht, ſo übe er Milde und bezeige freund— 
liche Rüdjihtnahme, damit es den Muth gewinnt, auch im ſchwereren Fällen 
die Wahrheit zu befennen. Sucht e8 aber feinen Fehltritt zu leugnen, jo jtrafe 
er umerbittlih, damit es erfahre, daß das Vergehen durd die Lüge ſich nur 
noch fteigere. Dede Strafe aber, fei jie Tavel, Ehrenſtrafe oder körperliche 
Züchtigung, ſoll von den Ausdruck innerlihen Abſcheu's vor dem Lafter der Lüge 
einem boshaften und freden Lügner gegenüber begleitet fein. — Zur Strafe muß 
aber auch die Heilung fommen und um jo beharrlicher verfucht werben, je tiefer 
die Sünde wurzelt. Das erjte Mittel hiezu ift, den ſittlich Kranken, denn ein 
Böhm, Die Lehre v. d. Sculdisciplin, 3 


34 

folder ift der Lügner wenn auch nicht Jeder, der gelogen har, chen ein 
Lügner genannt zu werben verdient), im‘ ernten ftillen Angenbliden auf fein 
Unrecht mit furzen aber fräftigen, zur Selbitprüfung auffordernden Ermah- 
nungen umd Warnungen binzuweifen und auf ven Werth eines quten Namens 
aufmerffam zu machen. Sodann bedenke ver Yehrer immer, var Das Yafter 
der Lüge nicht ausgerottet werden fann, ohne daß die Reinigung Des Herzens 
erftrebt und erzielt wird. — Der fittlihen Gewöhnung liegt auch die Pflege 
der Wohlanftändigfeit ob, melde der auf innerer Sittlichkeit beruhende 
Ausdrud der Achtung und Ehrerbietung gegen die Mitmenſchen wie gegen ſich 
jelbft if. Da nun bei Schülern ſich nicht vorausjegen läßt, daß ihr äußeres 
Berhalten ſchon durch ihr Inneres requlirt wird, jo ift gleichzeitig auch von 
Außen nad Innen zu wirken, wie das fchon bei der phyſiſchen und gejelligen 
Gewöhnung beiproden wurde. Bei ver fittlihen Gewöhnung erwächſt dem 
Lehrer die Aufgabe, über alles Wohlanftändige die Schitler zu belehren, ven Sinn 
für alles, was ſchön iſt, lieblich und wohl lautet, anzuregen, jeinen tiefen Ab: 
ſcheu wor der Rohheit zu äußern und fie zu ftrafen, vor allem aber in jeiner 
Perſon und Haltung ein Mufter edler Wohlanftändiafeit zu neben. Im weiteren 
Sinn gehört zur Wohlanftändigfeit aub die Schamhaftigkeit, dieſe zarte 
Wächterin der Unſchuld, melde im der zarten Scheu vor allem, was ver 
Keuſchheit entgegen ift, befteht. Sie ift zu weden umd zu nähren durch 
Belebung der Gottesfurht, Schärfung des Gewiſſens (Reinhaltung und Ab: 
bärtung des Körpers) und treue Wachſamkeit. Auch die Höflichkeit und 
Beſcheidenheit gehören hieher. Beide Tugenden jollen befonders vie 
Jugend zieren. Die Höflichkeit hat nur fittlihen Werth, wenn fie auf wahre 
Achtung der Menfchenwürde und auf ungebeuceltes Wohlwollen gegründet it, 
während vie Beſcheidenheit auf dem Bewußtſein der Unvollfommenbeit ent: 
Ipringen muß. Zur Einübung diejer Tugenden bietet ſich dem Lehrer, ſowohl 
was das Verhalten der Schiller ihm gegenüber, als ihr Verhalten unter fic, ſowie 
gegen die Erwachſenen überhaupt anbetrifft, vielfache Gelegenheit. Ebenſo aibt das 
täglihe Zuſammenleben genügenden Anlaß, die Tugenven der Danfbarfeit, Ge: 
fälligfeit und Dienftfertigfeit, der Nächſtenliebe und Barmberzigfeit 
zu üben oder ihre Uebung zu empfehlen, denn die liebende Rückſicht auf Andere 
fordert, auch zu fuchen, was des Andern ift, ſich ſelbſt unartigen Mitſchülern gegen: 
über verträglich, freundlich, verſöhnlich und zuvorfommend zu erweijen. 
Enplid fordert vie Demuth, ſich nicht am Andern zu meflen, jondern an 
der eigenen Aufgabe, ſich nicht am feinen Leitungen zu jptegeln, wie man es 
ſchon jo herrlich weit gebracht, jondern an jeinem Ideale, nur ſich um jo ernſt— 
licher „Streden nad dem, Das da vornen iſt“. (Strebel, Schmid, Encyelopä— 
die VOIL) — Wollten wir alle die hier genannten und nicht genannten jüt- 
lihen Tugenden, wie Sich vdiefelben unter der pflegenden Hand des Lehrers 
herausgeftalten jollen, in’s Einzelne gehend bejprechen, jo würde uns Dies zu meit 
führen. — Es genügt hen, nod einmal mit allem Nachdruck bervorzubeben, 
daß die Schuldisciplin beftändig auf die Bildung, Veredlung, Stärkung umt 
Bewahrung des ganzen fittlihen Menſchen Bedacht nehmen muß. 

Da die fittlihe Gewöhnung den Schüler zum freien Gehorfam, zur inneren 
Freiheit führen ſoll, fo erübrigt nur nod, die Schuldisciplin unter dem Geſichts— 
punkte der Freiheit zu betrachten. Im Schulleben fteht der Schüler zumeiſt 
unter der geſetzlichen Zucht. Soll viefelbe nicht zur Herrichaft des tonten 


35° 


Buchjtaben führen, jo muß auch das Clement der Freiheit belebend, veredelnd 
und ergänzend hinzutreten. Nun glauben wir zwar, im Verlauf unjerer Dar- 
legung genugjam hervorgehoben zu haben, daß das gejegliche Yeben felbit von 
der Freiheit durchdrungen fein müſſe, daß der Zwang nicht tödten, nicht bar- 
bariſch ſein dürfe und daß die Yiebe der Peitjtern der Disciplin zu fein und 
zu bleiben babe, wenn anders eine fittlide Atmoſphäre in der Schule, 
ein guter Gemeingetjt unter den Schülern entjtehen jol. Nicht weniger 
haben wir verſchiedenen zwiſchen das gejeglihe Schulleben hineinfallenden 
Momenten der freiheit, wie den Zwiſchenpauſen, patriotijchen Feſttagen ꝛc. 
dad Wort gejproden. Und doch müfjen wir bier nod einiger Momente ge- 
denken, melde dem gleihmäßig dDahinfließenden Schulleben neuen Zauber ver- 
leihen, einen Born der freude und des frifchen fröhlihen Muthes öffnen und 
das Band der Liebe zwijchen Lehrer und Schiller feiter fnüpfen. „Yiebe aber 
it des Gefeges Erfüllung.“ 

Nennen wir das zuerit, was das Poetiſchſte im Schülerleben, das eigent- 
liche Ideal von Schülerglüd it, die Ferien. Auf fie freuen jich auch die 
bejten und fleigigiten Schüler. Das Freiheitsgefühl offenbart ſich bier in ber 
unjchuldigiten Geftalt. Innerhalb ver Ferien kann jeder Schüler feinen Lieb— 
lingsneigungen nachgehen, nad jeiner Art zeichnen, lejen, ſchreiben, kann Wald 
und Feld durchſtreifen ꝛc. Schließlich wird dies der Schüler auch fatt, und 
gerne fehrt er wieder zurüd zur ftrengen Arbeit und Disciplin der Schule. 
Eben ſolche Lichtpunkte im Alltagsleben der Schule find die Schulfeſte, mit 
denen die Schule des Mittelalters viel freigebiger war. Beifpielöweije nennen 
wir von jenen mittelalterlihen Schulfeften das Gregoriusfeft, die Maigräfen- 
fahrt oder das Maienfeft, das Ruthenfeſt. Wenn von den Velten, womit eine 
längft begrabene Zeit das Moment der Freiheit und Porfie in das Schulleben 
zu bringen wußte, wenig mehr übrig und das Verſchwundene nicht zu bedauern 
it, jo ſollen doch auch unjern Schülern ſolche Lichtpunkte nicht fehlen, weldye 
das Einerlei der geiftigen Arbeit und gejetglihen Zucht angenehm unterbrechen ; 
die Sonne der Freude joll ein oder zweimal im Jahre auch recht hell in unfere 
Schulen ſcheinen. Derfelbe Gedanke bejeelte Salzmann, als er in feinem Kartoffel- 
feſt, Plünverfeft u. dgl. feinen Schülern ein Gaudium bereiten wollte, derfelbe Ge— 
danke jegt ficb in neuer Weife fort in den localen Sculfeiten, die als Mai— 
feſte ꝛc. noch vielfach üblich ſind. Beſonders aud) die patriotifchen Gedenltage, 
der Tag von Sedan, des Landesherrn und des Kaiſers Geburtstag ſind 
als ſolche Feſttage von der Schuldisciplin zu berückſichtigen. — Das Moment 
der Freiheit muß ſich endlich auch in der Individualität des Lehrers 
und Schülers geltend machen dürfen. Der Erſtere darf deshalb nicht ge— 
hindert jein, ven Ton anzugeben, der ihm ſelbſt gegeben ift. Er muf auch mit 
Humor, der natürlich auf fittlichem Boden zu fußen hat, und mit heiterem Scherz 
die Stimmung auffriihen Dürfen, wodurch er nur den Schülern menjchlich näher 
tritt. Letztere müfjen hingegen in der Arbeit, in freiwilliger Hilfeleiftung. ꝛc. 
nach ihrer Art in gewiſſen Grenzen frei handeln dürfen Wo das ift, entjteht 
ein guter, ein fittliber und freier Geift in der Schule. 

Das wären die drei Stufen im Gange der Echuldisciplin, melde, won 
Sinnlihen zum Geiftigen aufiteigend und fid) immer gegenjeitig ergänzend, mit 
den bejprochenen Mitteln ven Schüler auf eine jolde Tugendhöhe erheben 
ſollen, von welder aus er mit freiem Blid und feiten Willen nadı weiteren 

3% 


36 





Zielen ſchauen fan. Diefe ſchwere Aufgabe weiſt nochmals auf Die große 
Wichtigkeit ver Yehrerperjönlidkeit bin, welde Anfang und Ende einer 
guten Schuldisciplin fein fol. 

Stellt nämlid der Lehrer in jeinem ganzen Wefen einen ſittlichen Menſchen 
mit feiten Charakter dar; ſorgt er ſtets mit vwäterlihem Sinn für das leib- 
lihe Wohl feiner Echüler ; führt er fie mit Ernft und Milde zu geſetzlichem 
und ordentlihem Verhalten ; lehrt und nährt er die Tugend, befämpft und 
verwehrt er die Untugend mit der Strenge, welde der Sonnenblid ver Yiebe 
mildert: fo wird die Schule eine glüdliche Heimftätte, ein Paradies für die 
Kleinen, an welches fie fid) nod in fpäteren Zeiten mit Dank und Liebe er- 
innen. Wo aber die Kinder im Lehrer fein Ideal finden, wo ver Yehrer 
feine Geduld, feine Liebe, feinen Ernſt, feine Aufopferungsfähigfett für feine 
Schüler beſitzt: da fehlt die ftarfe Eiche, an der die jungen Geifter zur Tugend: 
höhe empor Flimmen fönnen. 


„Epheu und ein zärtlihd Gemütb 
Heftet ih an und grünt und blüht; 
Kann es weder Stamm noch Mater finden, 
Muß es verdorren und muß verichwinden,“ 
(Gorthe.) 


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V. Nachtrag. 


Hei allen Bölfern des Alterthbums finden fi Beftimmungen vor über 
Zweck, Mittel und Weije der Kinderzucht. Diefelbe war dort allgemein auf Furcht 
und Strafe gegründet. Auch im Mittelalter, in welchem das Princip ber 
Weltentſagung herrſchte, war dies noch der Fall. Im den damaligen Schulen 
regierte der Stod mit Allgewalt, Faften und Kaſteiungen gehörten zu ben 
Schulftrafen. Mit der Reformation begann auch in ver Schulzudt fidy ein 
humanerer Geiſt zu offenbaren. Yuther ſelbſt fpricht gegen die unmenjchlice 
Zucht. Trogendorf, der praftiih die Ehre zum Princip der Zucht zu maden 
fi betrebte, ward in diefer Richtung überboten durch die Jeſuiten, melde 
diejes Feld im ungerechtfertigtem Maße anbauten. Das damit verbundene 
Spionirſyſtem und die Forderung unbedingten Gehorfams führten zu einer 
geiftigen Tyrannei, welche alle Jugendluſt umd jedes beifere Gefühl ertödtete 
und das Recht der Imdividualität vernichtet. Auf eimen richtigeren Stant- 
punft ftellte fid) der den Pietijten verwandte große Comenius, welder Bflan- 
zung chriftliher Zucht als ein Werk der Liebe und Weisheit bezeichnet, das 
nur allmählid eine Beflerung herbeiführen kann, den Schüler zur freiwilligen 
Pflichterfüllung anleiten und Ruthe und Badel überflüſſig maden fol. Francke 
hält das Gebet fir das wichtigfte Zuchtmittel. Da feine geiftlofen Nachtreter 
aber die Kindesnatur völlig verfenmen und die Jugend durch das einfeitig 
veligiöfe Princip zu einem freudelofen Dafein verurtheilen, jo drüdt ihnen die 
durch die Regungen des kindlichen Eigenwillens bereitete Täuſchung Stod und 
Ruthe zum zu häufigen Gebrauche wieder in die Hand. Da dedt Rouſſeau 
die BVerfehrtheiten der unnatürlichen Erziehung auf, bringt das Recht der 
Subjectivität gegenüber dem Objectiven und Hiftorifhen zur Geltung, fordert 
und zeigt, daß bei der Zucht der Natur des Kindes entipredende Mittel in 
naturgemäßer Weife zur Anwendung kommen müſſen. Seine Ideen fuchen die 
Philanthropiften mit allem Ernte zu verwirflihen. Setzen fie der Einfeitig- 
feit der förperlichen Zucht auch die einfeitige Anfenrerung des Chrgefühls gegen- 
über, welche beflagenswerther Larheit in der Zucht die Wege bahnte, jo maden 
fie im Streben nad menjchlicher Glüdjeligfeit doch die Schulen zu beiteren 
Eiten der Gejundheit und des Frobfinns und werben liebevolle Väter umd 
Freunde der Zöglinge. Ihre humanen Beitrebungen fpiegeln fih auch in ven 
aus diefer Zeit ftammenven, meiſtens treffliben Vorſchriften über die Zucht, 
welche einen wefentlihen Fortiehritt befunden. Aber erft am der Grenze des 
18. und 19. Jahrhunderts, als PBeitalozzi den in der Menjchennatur liegenden 
Trieb entwideln, von der Anſchauung zur Erkenntniß, zur Selbſtthätigkeit umd 
durch diefe zur Selbitftändigfeit erheben wollte und als Hauptantriebe zum 
Guten und Rechten weder die Furcht, noch die Strafe, fondern das Wohl- 
wollen und die Liebe bezeichnete: erft da tritt eine große Veränderung zwiſchen 
Unterrit und Schulzudt ein. Die bisherige Lernſchule joll zu einer Dehl- 
ichule, der ganze Gedankenkreis des Schülers foll gebildet werden, der Unter: 
richt anregend, erziehend wirken, d. b. die rechte Gefinmung ſchaffen, die Zucht 
aber den Unterricht umterftiigen und in der Handlung, im Thun des Guten 
üben. Beide, Zucht und Unterricht gehören zufammen, die Zucht wird Schul: 
disciplin. Es ift der Mühe werth, einzelnen Ausjprücden hervorragender » 


39 


Pädagogen der Neuzeit nachzugehen, um die gegen früher veränderten An: 
ſchauungen über Schuldisciplin zu conftatiren. 

Ep jagt Schleiermacher: „Strenge Regelmäßigfeit, verbunden mit 
einer gewiffen Milde in ver Handhabung der Zuchtmittel ift der mejentliche 
Charakter, durch den die Schule Einfluß auf die Geſinnung baben muß. Es 
muß bier als Canon aufgeitellt werden, daß alle rectificirende Thätigkeit ver- 
mieden werden kann, wenn die unterſtützende Thätigkeit zur rechten Zeit ge: 
übt ift. Die förperlihe Strafe muß and aus der Volksſchule verſchwinden; 
man fan es als einen Maßſtab ihrer fittlihen Fortbildung anfehen, in wie— 
weit fie die fürperlichen Strafen entbehren fann, ohne daß darunter die Ord— 
nung leidet; nur infofern fi) in der Bolksjchule der Charakter des Gemein- 
weſens als Gejetlichfeit abjpiegelt, gehören Gejege und Strafen zuſammen.“ — 
(Sean Paul Richter jagt den Eltern: „Strafe falle nur auf das fchuldige 
Bewußtſein und Kinder haben anfangs, wie Thiere, nur ein unſchuldiges. 
Die Ruthe wenden wir jdrleht an, wenn wir fie hernach zum Stock ver- 
dichten laffen. Jene follte diefen entbehrlich aemadıt haben. Sogar die Ruthe 
jollte nur als Paradigma und Thema der Zuknnft aebraucht werden, wonach 
die bloße Drohung predigt und zurücweilt,“)—- Stepbani: „Um den Menjcen 
dahin zu bringen, daß er feinen Willen nach dem Sittengejege und den Negeln 
der Klugheit zu leiten in den Stand gefegt wird, muß die Schulzucht dahin 
reformirt werden: a) Man halte and das Kind für einen ganzen und nicht 
für einen °/, oder 7/,; Menſchen umd behandle es mur als ein freies Weſen. 
‚b) Die Sittlichfeit foll dem Menſchen weder eingeprügelt, noch durch Auf: 
regung der Ehrliebe in ihm erzeugt werben, fondern fie joll Frucht der Frei— 
beit und dev inmern Anerkenntniß ihres eigenen Werthes fein. e) Ein fitt- 
licher Sinn kann der Jugend nicht fowohl aelehrt, als ihr vielmehr eingeübt 
werden. d! Die Schule werde nicht bloß als eine Yehranftalt, ſondern auch 
für ein fittlihes Gymnaſium, als eine Borſchule zum fittlihen Leben für Die 
bürgerliche Welt angeſehen.“ — Sailer: „Wervdet felbit beſſer, bald wird's 
auch mit der Jugend beſſer ſein. Der Yebhrer ſei Allen Alles, den Kindern 
ein Kind, um fie zu Männern zu bilden, Er wiſſe ftrafender Ernft zu fein, 
wo er Yüge, Diebjtabl, Bosheit entdeckt, und erbeiternde Liebe, wo ver Fleiß 
feines andern Spornes und die Ordnung feines ftrafenden Zügels bevarf ; 
regiere die Beſſeren durch Blide, die Schlechteren durch Verweiſe, die Schlunmiten 
durd Strafe; dulde feine Unreinlichfeit an den Kindern und jehone die Scham: 
baftigfeit, wede den Wetteifer und unterdrüde die lobhaſchende Eitelkeit... .. 
er ftelle ihnen das Gute an dem Bilde feines Lebens dar und laffe fie nach 
vollbrachtem Tagewerk ihrer munteren Jahre froh werden und nie auf den 
Einfall gerathen, als wenn der Schulmeiſter — Zuchtmeiſter wäre.” — Her: 
bart zerleat, wie ſchon früher geſagt, die erziehende Thätigfeit in Regierung, 
Unterricht und Zucht. Die Negierung bat die Kinder in Schranken zu halten, 
der Unterricht die Einficht zu vermitteln, die Zucht den fittlihen Charakter zu 
bilden. — Harniſch nennt die Schulvisciplin Schulzucht und als Züchtigungs— 
mittel: Beſchämung, Abjonderung, Entziehung von Rechten und Genüſſen, 
mmittelbare Belenung mit unangenehmen Dingen, als Nacarbeiten, Ein: 
jperren ꝛc. und förperlice Züchtigung, welde nur in mäßigen Streichen auf 
den Rüden oder das Geſäß beitehen ſoll.“ — Diefterweg fchreibt in feiner 
erſten pädagogijden, 18920 erjcienenen Schrift: Ueber Erziehung überhaupt 


40 

und über Schuldisciplin insbefondere: „Hauptmittel der Erziehung iſt ver 
Unterricht, der ftrenge Unterricht, dann die That oder das Erempel und endlich die 
Disciplin, ohne welche feine Gemeinde, fein Haus, fein Staatöwefen, keine Schule 
gedeiht.“ Diefes treffende Wort des umvergeklihen Pädagogen haben wir als 
Motto diefer Abhandlung mit vorgejegt. Im einem Auffage in den „Rheiniſchen 
Blättern” von 1830 klagt Diefterweg über die Ausgelaſſenheit und Zuchtloſigkeit ver 
Jugend; er hält eine angemeffene und conſequente Zucht zum Gedeihen der Schule 
für nothwendig. „Doc müſſe“, fagt er, „unter den Kleinen Heiterkeit und Froh— 
finn vorherrfchend jein. Das heitere Kind lerne doppelt, und nur dad gehe ins 
Yeben über, was man fröhlich lerne. Durch körperliche Züchtigung ſei noch 
nie ein Kind ein guter Menſch geworden. Deshalb miütje der Lehrer darnadı 
jtreben, des Stodes ganz entbehren zu können. Körperliche Strafen ſeien ım 
Hausregiment viel zuläffiger als in der Schule Wehe ver Schule, in welder 
der Stod regieren muß, aber wehe aud derjenigen, in welder er nie und 
nirgend die ultima ratio jein darf.“ — Gräfe beitimmt die Schulzudt als 
diejenige Thätigfeit der Schulerziehung, durch welde die Schüler zur Frömmig— 
feit, zum Gemeingeifte uud zu einem praftifhen Sinne gewöhnt werden jollen, 
fo lange fie nicht im Stande find, fich ſelbſt mit Einfiht und Selbſtthätigkeit 
dazu zu beftunmen. Die Mittel der Zucht find: Geſetze, Gebote, Erinnerung 
und Ermahmmg, Drohung, Strafe und Belohnung. Durd die Schulzucht 
joll die Freiheit des Schülers nicht umterbrücdt werden; nur die Willkür jell 
fie überwältigen und die Selbftfucht beſchränken, den Willen aber im jeiner 
Richtung zum Bernünftigen und Guten ftärken und die Freiheit in ihrer Ent: 
-widlung befördern. 

Aus den angeführten Citaten geht zur Genüge hervor, 1) daß die Schul- 
pisciplin gegen früher aanz entſchiedene Fortfchritte zur Humanität machte, und 
daft zweitens der Begriff derſelben ſich allmählich beitimmter herausgeftaltete. 
Verſchiedene Pädagogen haben diefes Feld, das wir in vorliegenden Blättern 
wohl in allen feinen einflußreichiten Momenten üiberblidt, theoretiſch weiter be: 
arbeitet, in neuerer Zeit oft auch nur berührt. Neben Artikeln verſchiedener päda— 
gogiſcher Fachblätter und verſchiedenen pädagogiſchen Werken lagen dem Ver— 
faſſer bei Abfaſſung dieſer Schrift, ſowie bei der Bearbeitung ſeiner „Disciplin 
der Volksſchule“ beſonders nachfolgende literariſche Hilfsmittel vor: Dieſterweg. 
Rhein. Blätter. 1830. — Dittes, Erziehungslehre. — Dittes, Methodik ver 
Volksſchule. — Dobſchall, Grundſätze der Schuldisciplin. — Fröhlich, Päda— 
gogiſche Baufteine I und II. — Hennig, Die äſthetiſche Bildung in ver Volls— 
ſchule. — Kahle, Grundzüge der evangeliichen Volksſchulerziehung. — Kebr, 
Praris der Volksſchule. — Kellner, Aphorismen. — Kern, Grundriß der Päda— 
gogik. — Kruſe, Schuloisciplin. — Yargadier, doltfhultune, — Dtte, 
Geſammeltes und Eigenes. — Palmer, evangelifche Pädagogik. — Kein, Päda— 
gogiſche Studien 1. und 2. Heft. — Rüegg, Pädagogik. — Schmidt, N, 
Geſchichte der Pädagogik. — Schmid, Enchelopädie, VIIL Bd. — Schütze, 
Schulkunde. — Schumann, Yehrbud der Pädagogik. — Zeller, Lehren ver 
Erfahrung. — Zerrenner, Grundſätze der Schuldisciplin. — Ziller, Grund: 
(egung zur Pehre vom erziebenden Unterricht. — Die Regierung der Kinder. — 
Jahrbuch des Vereins für wiſſenſchaftliche Pädagogik. — Vorlefungen über 
allgemeine Pädagogik. — Waitz, Allgemeine Päragogif, herausgegeben von 
Profeſſeor Willmann. — 


VNädagogiſche Hfudien. 


Herausgegeben von Dr. Wilhelm Rein. 


18, Seft. 


Die 
r 
Erzichunasfdule. 
Zugleih eine Einführung in die wiſſenſchaftliche Pädagogit. 


Getrönte Vrelsſchrift. 





Von 


Dr. Guſtav Zroͤhlich. 


Preuß. Schulinſpeetor und Rector der Simultanſchulen zu St. Johann a. d. Saar 
und zu Jägersfreude. 


Der erziehende Lehrer findet in der Moral und 
der Biyuchologie zwei fichere Xeitfterne; der eine 
. beleuchtet das Biel, der andere den Weg. 


Wien und Seipzig. 
Berlag von U. Pichler’s Witwe & Sohn. 
Buchhandlung für pädagogifhe Literatur und Lehrmittel + Anftalt. 


Drud von Fiſcher & Wittig im Leipzig. 1877. 


VDorrede, 


— — 


Eine langjährige Wirkſamkeit als Lehrer und Leiter verſchiedener 
größerer Schulanſtalten, das eingehende Studium der wiſſenſchaftlichen 
Pädagogik nach Herbart, Ziller, Stoy, Kern, Willmann, Strümpell u. A. und 
eigenes längeres Nachdenken und Forjchen über das Endziel ver Schulen, 
welche ſich nicht eine Fach- oder Berufsbildung zur befonderen Aufgabe 
geftellt haben, führten mich dahin, die Schulen vom Stanbpunfte ver, 
Erziehung aus, d. i. der abfichtlihen und planmäßigen Bildung 
eines CHarakters, aufzufafjen, ven Unterricht als einen erziehenden zu 
betrachten, alle Schuleinrichtungen und Tätigkeiten, die Veranſtaltungen 
des Lehrers, ja, das ganze Schulleben als Mittel und Wege zur Bildung 
eines auf das Wahre, Gute und Heilige gerichteten Charakters anzufehen, 
und eine mehrjährige Erfahrung lehrte mich, daß die bezeichneten Ideen 
fih mit Erfolg in die Praris überführen laſſen. 

Meine erjte Arbeit nach diefer Richtung hin, „ver erziehende 
Unterriht im Lichte der wiſſenſchaftlichen Pädagogik“, — 
reichte ich zu der legten, von Herrn Morit Kleinert in Dresden aus- 
gefchriebenen Preisbewerbung ein, und einer von den neun ausgejetten 
Preifen wurde auch ihr zu Theil. 

Genannte Abhandlung erjcheint nun Hier als bejondere Schrift und 
zwar mit den zur Entwidelung meiner Ideen und Principien erforderlichen 
Erweiterungen und AZufägen. 

Cine umfangreichere Arbeit über .vie Erziehung im engeren 
Sinne oder die unmittelbare Einwirkung auf die Charafterentwidelung 
der Jugend, fowie iiber die den erziehenden Unterricht und die Schulzucht 
vor Störungen fehügende Regierung der Finder (Disciplin), behalte ich 
mir noch vor. 

Die vorliegende Schrift kann gleichzeitig dazu dienen, den Lehrer auf 
einem leichten nnd kurzen Wege in die Hallen der wiſſenſchaftlichen 
Pädagogik einzuführen, da ich mich bemühte, deren wichtigfte Lehren ein- 
fach, furz und fahlich, ohne doch der wiſſenſchaftlichen Strenge und Schärfe 
etwas zu vergeben, darzulegen. Sch denke, ver Leſer wird mir dies 
danken; denn wer einmal in ven erhabenen und fejten Dom ver philo- 
ſophiſchen Erziehungslehre eingetreten ift umd fich in ihm orientirt und 


IV Borrebe. 


beimifch gemacht hat, der will in den fchwanfenden Bauten der Vulgär— 
pädagogif fich nicht mehr vecht erbauen und fich nicht mehr an den ber 
fündigten Lehren befriedigt fühlen. Bietet doch in der That die wiljen- 
ichaftlihe Pädagogik ein feſtes Princip, auf das fie mit Hilfe der eracten 
Piychologie ficher weiter baut, und gelangt fie fo zu jcharf bejtimmten 
Lehren und fauberen Begriffen; hier hat alfo der Lehrer, der Erzieher 
foliven Boden unter den Füßen. Das Princip iſt ferner ein ethiiches, 
und der Unterricht wird fonfequent als Hauptfaftor zur Anlegung eines 
edlen Charakters aufgefaßt‘ und bearbeitet. Die anzuwendenden Mittel: 
Lehrpläne und Lehrgänge, Methoden und Lehrformen, die Mafregeln ver 
Zucht und der Regierung, alle haben dieſes moralifche Endziel im Auge 
“und fußen .vurchgehends auf den Lehren der Piychologie. Anders bei ver 
gewöhnlichen Erziehungslehre. Faſt jever Pädagog oder jeder pädagogiſche 
Schriftſteller verfolgt hier ein anderes Princip, wenn er überhaupt ein ſolches 
jtreng durchführt. So wird aufgejtellt: Das Princip der vor wiegenden 
Teibesfultur: „Mens sana in corpore sano“ (Montaigne); - das der 
Naturgemäßheit: „Der Menjch iſt von Natur gut; alle Kultur it ver 
derblich“ (Roufjeau); — ein eudämoniftifches Princip: „Beförderung des 
Glücks und ver Brauchbarkeit fürs Leben“ (Philantropen: Baſedow, 
Campe, Salzmann, Wolfe); — ein humaniſtiſches: „Wahre Menſchlich— 
feit“ (Humanität, Humaniften: Herder, Niethammer, Lefjing u. AU); — 
ein pietiftifhes: „Srömmigfeit und Gottfeligfeit“ (Spener, 
Franke, Zinzendorf); — ein theologiſches: „Gottähnlichkeit“ 
(Schwarz) und „Divinität“ (Göttlichkeit) oder Erziehung zum Abbilde 
des göttlichen Seins (Graſer); — ein realiſtiſches und fpecielle Berufs— 
bildung fürs Leben; — ferner idealiftiihe: „Vollfommenheit und 
harmonische Ausbildung“ (Niemeyer, Otto, Wiesner); Kraftbildung, 
allgemeine Menjhenbilpung (Beitalozzi und feine Schule); Selbit- 
thätigfeit im Dienfte des Wahren, Schönen und Guten 
(Diefterweg); — ein formales: „Die Erziehung zur Selbit- 
bildung“ (Denzel und Braubad); — ein rationaliftifches: „Ver— 
nünftigfeit, Aufklärung, Verſtandesbildung“ (Krug, Johannſen); — ein 
pofitio chrijtlihes: „Heritellung des durch die Sünde verloren gegangenen 
Ebenbildes Gottes“ (Palmer). Andere Pädagogen ftellen noch andere, 
meiſt unbejtimmte Begriffe al8 Enpziel der Erziehung hin. 

Noch ſchwankender, als die Erziehungsziele find nun die Erziehungs- 
mittel, weil jedes Lehrbuch fi auf eine andere Piychologie ftügt, 
manches wohl auch ganz vdiefer Stüße entbehrt. Die meijten jegen in 
der Piychologie noch die alte Lehre von ſelbſtändigen Seelenver- 
mögen voraus, eine Theorie, welche für den Erzieher gänzlich unfruct- 
bar iſt, da fie die Procefje des geiftigen Wachsthums nicht erflärt, Räthſel 
ſchafft, wo feine find, natürlich Zufammenhängenves zerreißt, da, wo wir 
Regeln verlangen, uns nur Regellofigkeit zeigt, ja, weil diefe Theorie 
ganz auf einem alten piychologiihen Vorurtheile beruht, indem im ber 
Seele nicht jelbjtändige Kräfte und Vermögen, ſondern nur Gewebe und 
Geflehte von Vorjtellungen, Gefühlen und Begehrungen, ſowie Thätig- 
feiten und Procejje unter dieſen Seelengebilven ſich finden umd die 
jogenannten Seelenvermögen durch die Unterfuchungen ver eracten 


Borrebe. v 


Piychologie fih nur ald leere Allgemeinbegriffe erweilen. ever 
Schriftiteller der Vulgärpädagogik hat fo faft feine eigenen Begriffe und 
jeine eigene Terminologie, und, wenn man mehrere verjelben ſtudirt, jo hat 
man ganz verjchievdene Gedankengebäude, vielfach mit unbewiefenen Be— 
hauptungen vor fih; dadurch kann man nur vweriworren, nicht aber 
Elarer im Geifte werden, man erhält nur Anfichten, feine Gewißheit. 

Möge diefe Schrift zur weiteren Entwidelung des deutichen Schul: 
weſens umd zur wahren Förderung der Jugendbildung mitwirken, ſowie 
dazu beitragen, der wiljenjchaftlichen Päpagogif mehr und mehr Freunde 
zu erwerben! 


St. Johann a. d. Saar, im September 1877. 


Dr. Guflav Fröhlich. 


Inhalt. 


Vorrede 
I. Die — —— ie EHEN und — — 
II. Der erziehende Anterricht .. . 
1. Werth und Weſen des erziebenden sterne 
2. Fehrftoff und Lehrform des erziebenden Unterrichts . 
3, Thejen über den erziebenden Unterricht . 
III. Rurze Belprehung der anderen Eartoren der Schulerziehung: — Zudt 
und Schulleben 
IV. Unterritsbeifpiele 
J. Behandlung eines Marchen⸗ 
2. Behandlung einer bibliſchen Erzählung . 


1. 
Die Erziehungsfchule überhaupt, ihre Einrichtung und ihr Segen. 


Diefe Schrift jucht einen Beitrag zum Aufbau und zur Geftaltung der 
„Erziehungsſchule“ zu geben. Es entjteht mm zuvörderſt die Frage, 
was unter einer jolden Schule zu verjteben jei. Eine Erziehungsichule oder 
eine erziehende Schule ift, wie bereits in der Vorrede angedentet, eine ſolche 
Anftalt, welche die religiös-fittlihe Charafterbildung der Jugend als das 
Haupt- und Endziel verfolgt und in Hinfiht auf Organifation, Unterricht, 
Zucht, Disciplin, Geift, Wirken und Veben jo beichaffen iſt, daß im dem 
werdenden Menſchen vor Allem ein edles Gemüt) und ein jittlicher Wille 
angelegt wird. Man wird aljo die Jugend durd die Pflege höherer Jutereſſen 
und die dadurd bewirkte Hemmung der Begierden und Leidenſchaften ent- 
wildern, den ganzen Oedanfenfreis jo bearbeiten, daß ihm reine Geſinnung 
und edles Wollen entiproffen, Gotteserfenntnig und Gottesfurcht im Die 
jugendlichen Seelen pflanzen, ſittliche Einſicht umd fittlihes Urtheil weden, 
Mufterbilder der Tugend vorführen, die Zöglinge zur Befolgung göttlidyer 
und menſchlicher Gebote anhalten, und jo Gottes Ebenbild im Menſchen 
berauszubilden juchen, genug, die ganze Anftalt, um mit Herbart zu veben, 
zu einer befeelten Gejellihaft oder zu einem moralijiden 
Inſtitute erheben, ähnlich, wie feiner Zeit unjer Dichter Schiller vie 
dentihe Schaubühne in eine moraliihe Anjtalt umwandeln wollte. 

Eine meitere, ſich hier num aufdrängende Frage ift die: ob es micht 
richtiger fei, oder ob es wenigſtens micht genüge, die Schule als eine bloße 
Vehranftalt zu geftalten, als ein Imftitut, welches allen Wifjen und 
Denten zu pflegen, alfo durch Unterricht im abjichtliher und planmäßiger 
Weife nur den Gedankenkreis anzubauen und zu erweitern habe? — 
Da wir dieſe Frage entjdieden vermeinen und vielmehr in der Erziehungs: 
ihule Die als Ideal zu erftrebende wahre Schule ver Zufunft 
erbfiden” müffen, jo tritt an uns Die Aufgabe heran, die Forderung, 
Erziehbungsihulen einzurichten, zu rechtfertigen. 

Wohl hat es ſchon nicht geringen Werth, wenn eine Schulanjtalt nur 
Wiſſen, Kennen und Können pflegt, Schüler von Kenntnig und Intelligenz 
heranbildet, wenn fie alfo eine bloße Unterridhtsanftalt it; denn dieſe 
Rejultate dienen dem praktiſchen Leben, und Thorheit, Stumpfſinn, geiftige 
Mindheit und Gedankenloſigleit drüden den Staubgebornen wieder zum 


Staube nieder. Es dürfte gerade im umjerer Zeit, in welcher noch Maſſen 
Fröhlich, Erziehungsichule. N 


2 

des Bolfes in blinden Aberglanben jeufzen und von ultramontaner Herrſchſucht 
der bebauernswerthen geiftigen Armuth ziemlich ſtarke Dofen vernunfneidriger 
Lehren zugemuthet werden, feineswegs als eine geringe Gabe der Schulen 
anzufehen fein, wenn ſie Intelligenz und folgerichtiges Denken fördern, jo das 
göttlihe Gejchenf der Vernunft zu Ehren bringen und dem ewig Blinden 
des Lichtes Himmelsfadel leihen. Wir ftimmen darım Adam Smith mit 
ganzem Herzen zu, wenn er jagt: „Die Unwiſſenheit ift die theuerſte Sache 
im Lande“, und ebenjo Thomas Arnold, wenn er behauptet: „Wenn man 
das Bolf in Unwiſſenheit erhält, jo braudt man ſich über jeine Brutalität 
nicht zu wundern.“ 

Ebenjo pflichten wir unjerm verehrten Fürften Bismarck aus voller 
Ueberzeugung bei, wenn er fi nody vor Kurzem folgendermaßen ausiprad: 
„Der Staat hat jett der Kirche gegenüber feine verlorenen Pofitionen wieder 
und kann weiterhin auf Grund der gegebenen Geſetze ji auf die Dereufive 
beichränfen. Im diejen Kämpfen füllt insbejondere der Schule 
eine wichtige Aufgabe zu; von ihr wird eine langjame 
aber jihere Wirkung ausgehen“ „Gegen Marpingen und Lourdes 
reichen wir mit anderen Mitteln wicht aus, mit den Gensdarmen gar nicht, 
da fann nur von der Schule die Heilung ausgehen.“ *) 

Allein wir meinen, dak die Schulen doch noch einen ungleich höheren 
Werth erlangen, daß fie zu vollfommmeren Anftalten erhoben werden, wenn 
fie nicht nur als Yehr-, fondern auch als Erziehungsanftalten wirken; fie 
bilden dann nicht nur einfeitig die intellectuelle Seite des Menſchen, ſondern 
den ganzen Menſchen. 

Wir geben ferner zu, daß vor Allem die mangelhafte Ausbildung der 
Eltern in den Schulwifjenicaften das Bedürfniß nah Schulen wedte und jie 
ihuf. Da aber eines weifen Gejeßgebers Augenmerk jein muß, bei Aufftellung 
verjchiedener, niederer und höherer, Ziele die höchften erreicht zu Teben, jo 
wird er aud die Schule gern feinen höheren Plänen dienſtbar machen. 
Erziehung iſt aber das höhere Ziel, weldes das wiedere, Die durch Unterricht 
erftrebte Erkenntniß, mit einschließt, da Unterricht ein Mittel zur Erziehung it. 

Die eigenthümliche Natur der wichtigiten Erziehungsfactoren, das Weſen 
des Unterrichts ımd der Schule, die hohen Aufgaben, welde die Moral und 
die Kultur unferer Zeit zur Löſung ftellen, jo wie unfere Lebensverhältiſſe 
und manche nachtheilige Einflüſſe unſeres Zeitgeiftes auf die Jugendbildung 
fordern mit gebieterifcher, Nothwendigkeit, daß alle Schulen, welche nicht 
jpeciell zur Vorbereitung auf einen beſtimmten Beruf dienen, als Erziehungs: 
ſchulen eingerichtet umd geftaltet werden. Richten wir unfer Nachdenken auf 
jeden diefer angedeuteten Punkte nod einige Momente. 

Wohl kann man die wichtigen Thätigfeiten oder Factoren der Erziehung: 
Unterridt, Zudt und Regierung in thesi tremmen, jedoch ‚nicht in 
praxi. Die Zucht muß ſich auf das wichtigſte Erziehungsmittel, den Unter: 
richt, gründen, alfo mit ihm Hand in Hand gehen, und der Unterricht birgt 
einen Reichthum von erziehlihen Elementen in fih, welche die Zucht weiter: 


*) Worte aus einem Gejpräche, welches Fürft Bismard am 26. Juni 1877 in 
Kiffingen mit ſechs würtembergiſchen Geiftliben des Kocerthales gepflogen. Bergl. 
Nr. 44, Jahrg. 1877 des „Daheim“, ©, 717. 


3 
führt. Der Unterricht dringt tief im die Werkftätte der Geſinnungen, be 
jonders aber jede Religions- und jede Gefchichtsitunde übt Gewalt über die Herzen 
der Jugend, und die Negterung tft die äußere Stüße und Hilfe des Unter: 
richts. Die Natur des Unterrichts verbietet darum, ihn von der Zucht amd 
‚der Regierung abzulöfen und ihn etwa allein dem Lehrer und legtere ben 
Eltern zu übertragen ; eine derartige ftrenge Trennung könnte nicht ftattfinden, 
ohne das Gelingen des wichtigen Erziehungswerfes gänzlich in Frage zu jtellen. 
Sa, ein Unterricht ohne ihm begleitende Zucht und Disciplin ift bei Un- 
miündigen kaum möglid. Cine Schaar von Kindern, ja jelbft nod von 
Jünglingen kann man gar nicht unterrichten, ohne daß nicht reichlich und 
täglih Fälle einträten, in denen der Lehrer Disciplin und Zucht üben muß, 
wenn er nicht einer unmoraliſchen Lauheit besichtigt werden joll. 

Wenn der Religionsunterrict dem Lehrer die Verpflichtung auferlegt, die 
Schüler über die Wahrheitsliebe, die Gerechtigkeit, die Friedfertigkeit, das 
Wohlwollen und die Dankbarkeit zu belehren, jo kann er dies nicht mit Erfolg 
than, wenn er nicht ſelbſt als Vorbild diefe Tugenden üben, fie im Leben 
feiner Schüler fürdern und Yüge, Ungerechtigkeit, Streitiuht, Haß und Un— 
danfbarfeit befämpfen wollte. Der Lehrer fann nicht edle Männer und Frauen 
vor den Geift der Schiller führen und ſie werherrlichen, ohne gleichzeitig die 
legteren zur Nachahmung der Tugenden jener zu ermuntern; er kann nicht in 
einem Wugenblide den Segen der Gejegmäßigfeit in der Natur und im 
Staatsleben preijen und im anderen Momente das gejegwibrige Leben und 
Treiben der Schüler gejtatten. Mit Recht erklärte darum die Konferenz der 
Directoren höherer Schulen in der Provinz Sachſen i. 3. 1874 einftimmig, 
daR es unmöglich jei, die erziehblihe Aufgabe der höheren Lehranftalten 
(und wir jegen hinzu, „auch ver mittleren und niederen“) von ber 
unterrichtlichen zu trennen. 

Das ganze Schulleben enthält weiter, wenn es rechter Art ift, einen 
Reichthum veredelnder, den Charakter ſtählender Momente Es 
ift darum ficher etıte Berkennung der Natur der Schule, wenn man annimmt, 
daß fie in erjter Linie Unterrihtsanftalt und als folde auch Er- 
ziehungsanſtalt jein müſſe; umgekehrt ift der Sat ridtig: „Die Schule 
it zuerſt Erziehungsanitalt und folglich auch Unterrichtsanftalt.“*) Denn die 
Schule jol im Zufammenleben von Schülern und Lehrern eine bejeelte 
Geſellſchaft, ein fittliches Gemeinwejen daritellen, welches den Uebergang 
vom Familienleben zu dem jtaatlihen und gejellihaftliben Yeben der Erwachſenen 
bildet. In der Familie gilt nämlich das Kind als ſolches, von allen Seiten 
wird ihm ohne Weiteres Yiebe und Zutrauen entgegengebradht; in der Schule 
dagegen, wo ftrenge Ordnung, Pflicht und Gejet walten, findet nad Hegel 
nur das wirkliche Berbienjt der Ninder Anerkennung. „Die Schule ift eine 
Sphäre“, jagt derjelbe, „die eine wejentliche Stufe in der ganzen fittlihen Aus- 
bildung des Charakters ausmacht.“ **) Im diefem Gemeinleben, im Strome 
der Schule muß feftitehen, wer nicht fallen will, jo feftigt ſich der Charakter, 


*) „Es iſt eine Verkehrung des Princips, die Schule als Unterrichtsanſtalt müſſe 
auch Grziehungsanftalt fein, jondern die Schule muß als Erziebungsanftalt auch Unter- 
richtsanftalt fein.” Graſer, Dirinität. 3. Auflage, J. ©, 251, 

**) Hegel in feiner dritten Gymnaſialrede. 


1* 


4 

welcher ſich nad Goethe nicht, wie das Talent, in der Stille des Hauſes, 
jondern im Strome der Welt vollendet; im Schüler wird Theilnahme für die 
Geſellſchaft erwedt, und er lernt der fittlihen Aufgaben wichtigite und ſchwerſte 
(öfen, jeine geſellſchafthichen Pflichten zu erfüllen. Dieje Seite ver 
Erziehung fehlt entſchieden dem Wamilienleben, weldes vermöge jeines 
engen Stilllebens nicht jo der Charakterbildung dient, als das Schulleben. 
Die Erziehung in der Familie muß darım durd die Er- 
ziehbung in der Schule ergänzt werden; die Schulen find dann 
Gehilfen der Familien; folglid müflen fie Erziehungsan- 
ftalten ſein. 

Allerdings ift die Familie die natürliche Erziehungsftätte, fie it Die nad 
einer dur Jahrtauſende alten Erfahrung geheiligte, göttliche Urerziebungs- 
anftalt, und eine gebildete familie bleibt für alle andere Er- 
ziehung im Schulen und Privatinftituten, Beflerungshäufern, Kinder- 
gärten u. ſ. w, das ewige Muſter. Cie ruht auf ber Viebe, kann die 
Individualität der Zöglinge kennen lernen und berüdjichtigen, und es ſtehen 
ihr viele wirffame Erziehungsmittel zu Gebote; das Kind wird in der Familie 
cioilifirt und zum Eintritt in eine größere Lebensgemeinſchaft vorbereitet u. ſ. w. 

Demnad muß der Schwerpunkt der Erziehung allerdings den Familien 
verbleiben, und es wäre zweifelsohne ein thörichtes Beginnen, ihm in die 
Schulſtuben verlegen zu wollen, wie neuerdings von pädagogiſchen Schrift: 
ftellern vorgejchlagen worden ift. 

Eine gebildete Familie, welche nicht ganz verkehrte pädagogiſche Begriffe 
hat und die Kindererziehung nicht vernachläffigt, legt ganz entichieden den 
Grund zur Gemüths- und Charafterbildung des Zöglings, und der Schule 
liegt die Pflicht ob, auf dem von den Eltern bereits gelegten 
Tundamente weiter zu bauen, in dem Falle aber, wenn ein foldes 
nicht vorhanden, oder gar die jugendlide Seele vom Unkraute des Böjen 
überwuchert ift, die Lücken auszufüllen und die Saat des böſen Feindes zu 
tilgen (wie in dieſer Schrift weiter unten näher erörtert ft). 

Wie nun bei jeder Erziebung die Bildung der Einſicht, vie Er— 
fenntniß der erfte und wichtiafte Factor ift, weil nad) den Yehren ver 
eraften Piychologie das Vorftellen, die Erfenntniß das Primäre, das 
Gefühl und der Wille aber erſt das Sekundäre und nicht, wie der Philoſoph 
Arthur Schopenhauer fälſchlich behauptet, der Wille das Gentrale im Menſchen 
it: — je muß alſo auch in der Sculerziebung die Bildung dee Ge— 
danfenfreifes, d. i. der Unterricht, die erite und wichtigſte Funktion, 
das Fundament der Willensbildung ſein. Mithin muß die Schule deshalb, 
weil fie in erfter Yinie Erziehungsanftalt ift, auch Unterrichtsanftalt ſein. 

Das Haus kaun alſo das Schulleben feiner erziehlihen Einwirkung 
wegen gar nicht entbehren, aber aud der Klaſſenunterricht in der Schule 
hat vor dem Einzelunterrichte in den Familien ganz beventende Vorzüge. 
Eine Klaſſe mit 40 Schülern gewährt nicht jenem Schüler etwa nur 1/,, des 
Unterrichts, mit Nichten! Bei einem guten Schulunterrichte wird nit ein 
Schüler nad) dem andern, ſondern werden alle zugleich unterrichtet; ein 
titchtiger Lehrer ertheilt nicht Einzel-, ſondern Klajjenunterridt. Die 
Kaffe ift audy nicht eine Summe einzelner Yernender, jondern ein orgauiſches 
Ganze jelbitthätiger ftrebender Geifter, won weldem jeder Schüler ein lebendiges 


5 


Glied ift. Alle betheiligen fi gemeinjam an Ciner Gevanfenarbeit; die 
Geijter reiben ficd) aneinander; der gute Geift, der im ganzen Chore lebt, 
reißt auch den unterften Schüler mit fort und wedt Wetteifer und Nach— 
eiferung, und das Nejultat einer Schulftunde fommt der Gejammtheit zu 
Gute, Kraft der Wahrheit, welde Dieftermweg irgendwo einmal ausge— 
Iproden hat: „Das Denken tt weniger ein Produkt des Individuums, als 
das der Gattung“ — Dieje Vereinigung zu Einem Zwecke, diefe Ge- 
ſammtarbeit einer Klaſſe ift durchaus eine jittlich-ernfte Thätigkeit umd birgt 
eine tief in die Seele greifende Kraft. Wie arm und todt erſcheint dagegen 
der Einzelunterricht, in welchem der Schüler nur das gewinnt, was er allein 
zu erwerben vermag! Wenn darum von Glücksgütern begünftigte Eltern 
ihren Kindern den Schulunterricht durch Privatunterricht mehr als zu erjegen 
alauben, jo irren fie. Die erziehlihen Momente im Schulleben, die An: 
regung und den geiltigen Neichthum des Klaffenunterrichtes fünnen fie durd) 
den Unterricht eines Hauslehrers nicht erjegen, wenn man auch zugeben muß, 
daß der Einzelunterricht auf die Individualität eines Schülers mehr eingehen 
und der Lehrer ſich «jcheinbar) dem Schiller mit ungetheilterer Hingabe 
widmen kann. 

Weiter gebieten auch die Moral und unſere ganze Kultur, die Schule 
nicht als bloße Yehranftalt, jondern als Erziehungsanftalt aufzufaffen und zu 
geitalten. Unſer Staatsleben, die ganze Gefellichaft ruht auf den ftarfen 
Säulen der Religion und Moral; wer joll fie unter der Jugend aufrichten, 
wenn es nicht die Anjtalten des Staates und der GSejellihaft, vie Schulen, 
thun, welde nicht nur Gehülfen der Familie, jondern aud die Mandatare 
des Staates und der bürgerlichen Gefellichaft find? — Stellen wir aber ven 
Schulen die Aufgabe der Erziehung, jo ftellen wir ihnen ein höheres Ziel, 
welches das nähere, das Willen und Können, mit einfchlieft, weil die Tugend 
ohne einen gewiſſen Grab von Intelligenz jchlechterdings unmöglich ift, ja 
geiftige Kraft und Regſamkeit das fichere Fundament der Tugend bilden. Die 
Schulen verlieren mithin durch die ihmen geitellten pädagogiidhen Aufgaben 
nicht, fondern gewinnen und tragen weit mehr zur Verbreitung wahrer Kultur 
bei, als wenn fie nur Lernſchulen find. Bedenkt man ferner, daß der 
werdende Menih 8, 10 bis 12 Jahre lang, aljo den größten Theil feiner 
Jugendzeit, in den Schulzimmern vwerlebt, und daß die große Schaar aller 
Lehrer ihre aanze Lebenszeit und Lebenskraft ibren Schülern weiht, jo wäre 
es doch bevauerlih, wenn dieſe Schulzeit und die reichen Kräfte der Lehrer 
nur zur Entwidelung des Talentes und eines reihen Willens, welche ebenjo 
oft mit Charafterlofigfeit, Yieverlichfeit und Bosheit gepaart fein fünnen, und 
wicht gleichzeitig and zur Bildung des Gemüthes und Willens verwendet, wenn 
nicht zugleich auch im die kindliche Seele Ehrfurcht vor dem Heiligen, Yiebe 
zu dem Wahren und Schönen und Begeifterung für das Gute gepflanzt würden! 

Die Moralität verleiht den Adel der immeren Reinheit und geiftigen 
Geſundheit, der geläuterten und im Gott gejtählten Gefinnung, und zwingt 
meist der Welt mehr Achtung und Anerkennung ab, als bloße Genialität. 
Nicht Das, was ein junger Menſch lernt, jondern Das, was er wird, 
jeine ganze Perjönlichkeit, die moraliihe Würde, iſt das bejjere Theil, das 
Eine, welches Noth thut. Die Geſchichte der Pädagogik lehrt auch, daß die 
Schulen nur dann wirkſame Factoren des Lebens waren, wenn ſie ſich ein 


6 


ſittliches Urbild ſetzten und ernftlich daſſelbe zu realifiren ftrebten. Die 
alljeitige Ausbildung des Zöglings kann nur gedeihen, wenn man nicht ein- 
ſeitig auf ibn einwirkt; aber eine Yernichule gewährt nur eine eimfeitige Ein: 
wirkung, höchſtens nur imtellectuelle und äftheriiche Bildung, alſo eine halbe 
Bildung, während der Zögling der erziebenden Schule ein ganzer Menſch wirt. 

Daß Die Forderung, Erziehungsichulen zu gründen, gerade in unjeren 
Tagen ihre vollwuchtige Berechtigung bat, dies bezeugen erwähnter Maßen 
auch mande Auswüchſe unjeres Jeitgeiftes. Wenn wir nun aud) 
in die Klagelieder Mifvergnügter, welche unjere Zeit als die ſchlechteſte ver- 
danımen, die Eittenverderbnii als das Produkt der Verbreitung der Willen: 
ſchaften und Künſte anfehen, diejen ihr Diadem rauben und ihmen Umkehr 
gebieten möchten, wicht mit einjtimmen können, weil man zu allen Zeiten über 
Unmoralität geklagt, das goldene Zeitalter immer weit binter ſich, in 
nebelbafter Ferne grauer Borzeit erblidt hat, und es ein thörichte® und ver- 
gebliches Beginnen jein dürfte, die Kultur wieder zurididrauben zu wollen; 
wenn wir ferner das viele Gute, welches in unjerer Nation ſich offenbart, 
den Fleiß, den Forichungseifer, die Strebjamfeit, die Wohlthätigfeit und Barm- 
berzigfeit, die Humanität namentlich auch gegen Verbrecher, den Patriotismus 
und Anderes, keineswegs verfennen wollen: — beflenungeadhtet läßt ſich doch 
angeſichts der Statiftit der Verbrechen und Vergehen, namentlich in unjeren 
großen Städten und den Induſtriebezirken, die Mißachtung göttlicher und 
menjchlicher Gebote nicht ableugnen. Die vielen Morde, Diebftähle und 
Räubereien, die Mefieraffairen, vie Meineive, die Yiederlichkeit und Völlerei, 
die allgemein verbreitete und in großartigem Maßſtabe betriebene Fälſchung 
der Nahrungsmittel und andere abſcheuliche und ntederträchtige Betrügereien 
im Gejchäftsleben bezeugen, var Yeben und Eigenthum des Nächiten, Wahrheit 
und eigene Ehre nicht immer heilig gehalten werben, und es jcheint, ala ob 
ein ehrbarer, jittliber Wandel gering geachtet werde, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit 
und Biederfeit, einfache, alte löbliche Sitten und patriarchaliiche Zuftände all 
mählich aus der jeßigen Generation ſchwänden. Bielfad iſt das Yeben unierer 
Zeit mehr auf Schein, als auf wahres jittlihes Sein berechnet ; das Gründer- 
thum, das ausichweifennde Yeben maucer Grofftädter, das überall zu Tage tretende 
materielle Einnen und Treiben jollten uns warnen vor den Gefahren eines in 
Eudämonismus verfintenden Genuflebens, weldes mit Tannhänſer dem Motto 
huldigt: „Nur im Genuß erfenn’ ich Liebe!” — Die Unehrlichfeit, die Untrene 
und Unzuverlüjfigfett, denen wir unter dem minnlichen und weiblichen Dienit- 
perfonal und Geſinde begegnen, Die veftructiven Tendenzen des Socialismus 
zeigen uns aud die umteren Stände in feinem erfreulicheren Yichte. Gott 
wolle verhüten, daß allmählich auch bei uns, wie in Amerifa, wo jelbit Fabriken 
für Diebeswerkzeuge eriftiren, das materielle Streben die Oberhand gewinnt, 
das Streben, nur Geld zu erwerben, Reichthümer aufzufpeichern, einem Größen— 
wahne nachzujagen und ven Götzen der Habjucht, der Ehrſucht Hekatomben zu 
opferu, gleicyviei ob mit erlaubten oder unerlaubten Mitteln ! 

Wenn die Väter Herlinge eſſen, jo it es fein Wunder, wenn ben 
Kindern die Zähne ftumpf werden. Auch unfere Jugend läßt in Bezug auf 
ihr ſittliches Verhalten Mandyes zu münjcen übrig, So läßt ih eine 
Stimme im Schulblatte für Heſſen jegt folgendermaßen vernehmen: „Es 
geht ein Nothichrei durch die Yehrerwelt. Aus allen Theilen unjeres engeren 


7 

und meiteren Vaterlandes mehren ſich die Klagen über die zunehmende Zudt- 
(ofigfeit unferer Schuljugend. Ungehorſam, Widerfeglichkeit, “Pietätlofigfeit 
gegen die Pehrer nehmen in ſehr bedenklicher Weiſe zu. Däber macht ſich eine 
Empfindlichkeit von Seiten der Kinder ſowohl, als auch der Eltern gegen jede 
Strafe, jelbit gegen ben gerechteſten Tadel bemerkbar, wie man dies früher 
nicht gefannt bat. Die meisten Eltern wollen von der Schule als Erziehungs: 
anftalt nichts mehr willen und erbliden in jeder ernten Zurechtweiſung ihrer 
Kinder einen Eingriff im ihre Elternrechte. Sie ſuchen den Zweck ver Schule 
in bloßer Berftandesbildung, in der Aneignung von Keuntniſſen und mancherlei 
Geſchicklichkeiten. Bon einer fittlichreligisjen Bildung ihrer Kinder, von einer 
Gewöhnung zur Ordnung, Pünktlichkeit, Wohlanftändigfett und zum Gehorſam 
haben ſie faum nod eine Ahnung. Daher auch die vielen Klagen der Eltern 
über ſolche Yehrer, die es mit der Erziehung noch ernſt nehmen und jtreng 
auf Zucht und Gehorſam halten. In Städten ift es bierin viel ſchlimmer, 
als auf dem Yande u. j. wm.“ *) 

o Der Magiftrat in Nürnberg bat jeßt (Juli 1877) folgende Bekannt— 
machung erlaflen: „Da im neuerer Zeit die leider nicht ungerechtfertigten 
Klagen über das jittenloje, rohe und unbotmäfßige Gebahren 
der heranwachſenden Jugend und insbeiondere der Schul: 
jugend fich mehren, jo jieht fid) die Bolizeibehörde, nachdem wegen der von 
der Schule zu geichebeuden Einwirkungen auf die ihr amvertraute Tugend 
durch Korrejpondenz mit den Schulbehörden das Geeignete geſchehen und aud) 
wegen vorfommender roher Nusjhreitungen auf öffentlicher Straße 
die Bolizeimannichaft zum energiichen Einjchreiten angewieſen ift, veranlaftt, 
Eltern, Vormünder und fonftige der Erziehung der Jugend obliegenden 
Perfonen recht dringend aufzufordern, auch ihrerfeits nach Nräften der 
emporwudhernden Rohheit und Sittenlofigfeit der Jugend 
entgegenzuarbeitenden und die Schule in diefer Richtung zu unterftügen. Nicht 
minder ergeht an alle erwachienen Berjonen, welche für dag Heranwachſen 
eines gejitteten, geiſtig und Förperlid gebildeten Geſchlechtes 
Intereſſe fühlen, das Erjuden, gegen wahrgenommene grobe Unarten der 
Schuljugend auf der Straße und namentlih gegen ältere Perſonen 
mahnend und warnend einzujhreiten.“ 

Bor Allem it der Jugend eine ideale Richtung zu geben, daß ſie nicht 
im materiellen Treiben untergehe. Wer joll dieſe Aufgabe löjen? Die bejjern 
Familien und vie Schulen, und ganz bejonders die Schulen, weil 
leiver auch unſer Samilienleben bin und wieder manche Schattenjeiten 
zeigt oder wenigjtens ber Jittlichen Erziehung der Jugend nicht immer günftig ift. 

Die große Ausdehnung des induſtriellen und merkautilen Yebens; Die 
ausgevehnte Anwendung des Princips der Arbeitstheilung, verbunden mit 
Fabrikleben, an dem leider bie und da auch die Frauen, jelbjt die Kinder 
theilnehmen; der überhandnehmende Pauperismus u. U. beeintrüchtigem das 
Familienleben bier in geringerem, dort in höherem Grade, genug, unjere 
ganzen gejellichaftliben Zujtände find der Art, daß fie die jhönen Familien— 
bande aufzulöfen drohen over jelbit das Schließen des Ehebundes nicht für 
opportun erflären. „Die Ehe ift nicht mehr modern!“ jagt eine Soubrette in 


— — 


*) Bergl. Nr. 25 der Allg. d. Lehrerztg. von Sonntag, den 24. Juni 1877, S. 415, 


8 

einem modernen Puftipiel. Im den beiferen Familien ailt es jetst wicht mehr für 
anftändtg, das Gefinde und die Gehilfen am Familientiſche und Familienleben 
theilnebmen zu Affen, und jo entbebren fie auch der fittlihen Auffiht une 
Einwirkung der Familie. Unjere Zeit it zu geichäftsvoll, zu geräuſchvoll 
und zu jorgenvoll, als daß die Jugenderziehung in ihr beſonders aebeiben 
jollte. Mander Maun führt ein öffentliches Yeben oder verwendet alle jeine 
Kräfte auf feinen Beruf, der ihn fern vom Haufe ruft, und mande frau 
führt ein Leben in ven Geſellſchaften; häusliher Sinn, Sparjamfeit und 
Mäßigkeit Fehren oft auch dem einfachen Handwerker den Rüden; manchen 
Eltern fehlen auch vie richtinen pädagogiſchen Begriffe, anderen die Zeit und 
Luſt, fih erfolgreich ihren Kindern zu widmen. 

Wenn man nun alaubte, das verlorene Paradies, die entſchwundenen 
patriarchaliſchen Zuftände durch Gejege und Gewaltmaßregeln, durch geiftine 
Umkehr, Hemmung von Wilfenichaft, Kunſt, Induitrie, Handel u. j. w., genug, 
der ganzen Kultur wieder zurüderobern zu fünnen, jo irrt man jehr; es 
wire dies eine Siſyphusarbeit; and eine Nüdkehr zur blofen Natur, in pas 
Dunfel des Urwaldes, zu den einfahen Zuftänden der Wilden oder unjerer 
Urahnen, A laRouffeau, wäre weder räthlich noch möglid. Durch Vernichtung der 
Kultur müßte die Menjchbeit auch ihrer Segnungen verluftig geben ; fein ver: 
jtändiger Gärtner haut aber einen ganzen Baum um, wenn er deffen Dornen und 
wilde Schoffen entfernen will, weil er dann auch gleichzeitig deflen Blüthen und 
Früchte mit zerftörte. Auswüchie der Kultur fann man nur wieder 
durch Kultur-Mittelund Kultur-Inftitutiomern heilen. Wenn 
mande Familien Fiir die Augenderzichung Lücken und Mängel zeigen, jo muß 
man legtere demnach durch Erziebungeinftitute, Kindergärten und Schulen zu 
bejeitigen juchen, ohne dabei die Entwidelung der Intelligenz zu hemmen. Hierin 
ltegt die kulturhiſtoriſche Bedeutung und Miffion ver Schulen. 

So body die intellectwelle und äſthetiſche Bildung zu jchägen ift, jo wenig 
it fie allein doch ſchon Die wahre Bildung und der alleinige Weg 
zur höheren ivilifation einer Nation und der ganzen Menjchheit. 

„Hab' ih des Menſchen Kern erft unterſucht, 

Sp weiß ich auch fein Wollen und fein Sandeln“, 
jagt Schiller im Wallenftein; diefer innere Kern des Menjchen, welchem alles 
Wahre und Schöne, alles Gute und Pöblihe entſproßt, ift aber eine 
vernünftige Religiöſität und echte Eittlihfeit. Nah dem 
Zeugniffe der Gefhichte geht ein Volt mit dem beginnenden Sittenverfalle 
jeinem Verderben entgegen. „Die menſchliche Berjönlichkeit *, heißt es in 
einer vor Kurzem erjchienenen Schrift, „zum wahren Bilde Gottes, zum 
Organe des göttlihen Willens und alle Kultur zum Mittel für das Höchſte, 
das Neid Gottes, zu machen, — das ift das wahre Bildungsiveal.“ „Die 
Aufmerkfamfeit unferer Zeit ift auf Yernen, Kennen, Wijjen und 
Können gerichtet, und ſie vergißt, daß das Alles mur zu einer hohlen 
Aeuferlichkeit führt, wenn die Ausgejtaltung eines cdaraftervollen Lebens mit 
draſtiſchem, auf Entſcheidung dringenden Wahrbeits-Eindrud verjäumt wird.“ * 





*) Niemann, Ueber wahre und faliche VBolfsbildung, Bielefeld und Yerpzia, 
Velhagen und Klafina, 1877, ©. 24. 25, 


9 

Unjere großen deutſchen Männer, wie die Philofophen Kant, Fichte, 
Hegel und Herbart, Staatömänner wie der Freiherr von Stein, 
Dichter wie Yejfing, Herder and Schiller u. v. A., haben die Tugend 
oder das beharrliche Streben nad Sittlichkeit als des Menſchen erhabenſtes 
und ſchönſtes Ziel hingeftellt und dadurch aller Menichenbildung das wahre 
Ideal gezeichnet. „Das ganze Daſein“, jagt der Weiſe von Königsberg, 
„it ein Neid ver Zwede.“ „Die in der Natur ſich vollziehenden Zmed- 
gedanfen find Ideen, die der Menſchenwelt gejetten Zwede jind Ideale.“ 
Kant, Fichte und Herbart haben den EUudämonismus, d. h. die Yehre 
oder Denkweiſe, welche vie eigene Glüdjeligfeit des Menſchen, jein Wohl: 
bebagen zu jeinem Hanptzwede und zum höchſten Beweggrunde aller Pflichten 
macht, eifrig befämpft und als höchſte Beſtimmung des Menſchen, ala 
„höchſtes Gut“ das Gute oder die Reinheit der Gefinnung und Güte des 
Willens, die Uebereinftimmung des Willens mit dem Sittengeſetz bezeichnet. 
Leſſing ſtellte die Reinheit des Herzens, welde die Tugend um ihrer 
jelbit willen zu lieben im Stande ift, als das Ziel bin, nad welden das 
Menjchengeichleht zu ringen und zu ftreben habe. Herder ruft aus: „Was 
helfen alle Wiffenihaften ohne Sitten! alle Kenntnifje ohne Gemüthsbildung!“ 
und unjerem Dichter Schiller iſt „das Leben der Güter höchſtes nicht, der 
Uebel größtes ihm ſomit — die Schuld“. Das firtlihe Ideal darf mau 
hiernach wohl ala ven Kern und Stern, das Centrum des Lebensziels 
bezeichnen. 


Allen Nicht - Fahichulen, gleichviel ob niedere, mittlere oder höhere, 
ift darıım, weil alle Menſchen zu einem ethiſchen Ideale fähig und berufen 
find, die erhabene Miffion geworden, ein ſolches zu realifiren. In dieſer 
moraliihen Aufgabe find vie Schulen gleih, nur durch die engere oder 
weitere Peripherie des Kennens und Könnens, weldes ſie gewähren, von 
einander unterſchieden. 


Bergleihen wir nun mit dem gezeichneten Ideale die Wirklichkeit, 
d. b. die Beihaffenbeit und Wirkſamkeit aller Schulen, jo muß man allerdings 
befennen, daß Diejelben noch gar Mandes zu wünſchen übrig laffen. Wir 
beitreiten keineswegs, daß viele Schulen unjeres Vaterlandes aud auf das 
anftändige und fittlihe Verhalten der Schiller mit achten; die in jeder Klaſſe 
geführten Cenfurbücer legen ja davon Zeugniß ab, daß die Lehrer aud) 
dieſe Seite menſchlicher Bildung nicht ignoriren. Aber fie ift ihnen doch 
nicht das Höchfte, nicht das A und DO; bie fittlihe Charakterbildung iſt · der 
Anstalt nicht als Prinzip geſetzt und wird nicht fonjequent durdhgeführt ; der 
Unterricht ift nach Stoffauswahl, Anordnung und Durcharbeitung nicht ftreng 
pädagogiſch angelegt, daR er ein erziehender genannt werben fünnte, ber 
Verkehr der Schüler unter fih umd mit den Lehrern, das ganze Yeben und 
Weben in der Anftalt, die Disciplin find nicht fo geitaltet, daß ein dauerndes 
Streben nah Sittlichfeit fi ergäbe und nothwendig ſich ergeben müßte. 
Gar viele Schulen betrachten eben ala die Hauptiahe die Mittheilung 
alänzender Kenntniffe, das Einprägen einer beftimmten Summe von Willen, 
die Vorbereitung zu einer gewiffen ‘Prüfung, heiße fie nun Abiturienten=, oder 
Freimilligenprüfung, over ſonſt wie, genug, viele Schulen find nicht nad 
pädagogifchen Grundſätzen eingerichtet. 


10 


Was gerade diefe pädagogiſche Geftaltung ver Schulen betrifft, ſo fine 
merbwürdiger Weite im Großen und Ganzen die niederen Schulen den höheren 
um einen Schritt voraus, eben weil die legteren den höchſten Werth uf 
Kenntniffe und Fertigkeiten legen, feien dies num ſolche der hiftoriichen und ſprach— 
lihen, oder der mathematiich - naturwifienichaftlihen Seite, und weil ben 
Yehrern der höheren Schulen eine ausreichende theoretiſche und praktiſch-päda— 
aogiiche Bildung nur jelten zu Theil wirt. Gewichtvolle Stimmen haben ſich 
darum in biefer Beziehung ſchon mahnend vernehmen laſſen. So jagt Ziller*): 
„Das dentſche Bolfsjhulwefen bat jeit 1748 jeine Seminare.“ „Im 
Allgemeinen verdanft das Volksſchulweſen den Seminaren, fowie den jeit 
Peſtalozzi jich werbreitenden Beſtrebungen für die Methodik des Unterrichts ven 
Aufihwung, den es jeitdem genommen bat, vorzüglich aud die Gewandtheit umd 
Geſchicklichkeit, eine große Maffe zu beleben, und nicht blos denjenigen unter 
den Schülern, mit dem man fich unmittelbar bejchäftigt, jondern alle ın das 
Intereſſe des Unterrichtes hereinzuziehen. 

Das böbere und bejonders das gelehrte Erziebungsidul: 
wejen hat dagegen bis jeßt mit wenigen wirflicen Ausnahmen ver Bor: 
bilduna feiner Yehrer durd pädagogiſche Seminare entbehrt.“ „Der Beruf ver 
Yehrer an den höheren Erziehungsanftalten fordert gewiß nicht blos ein Unter: 
weifen in einem biftorifch-grammmatiichen oder einem naturwilfenjchaftlich-matbe: 
matiſchen Fache, ſondern zugleidh eine pädagogiſche Wirkung; denn er 
nimmt während eines großen Theiles von der Erziehungszeit der für die 
höheren Stände fi ausbildenden Jugend, bei der für vie gelehrten Stände 
bejtinnnten Jugend ımgefähr 9 Jahre bindurd, den bedeutenditen Theil ihrer 
Kraft und Zeit in Anſpruch. Nichtsdeſtoweniger verſchaffen ſich die Lehrer der 
höheren Erziehungsanſtalten vor Antretung ihres pädagogiſchen Geſchäfts durch— 
gängig keine theoretiſche Kenntniß von demſelben, und ſie übernehmen die Ver— 
pflichtung, Unterricht zu ertheilen, ohne mit den Mitteln eines zweckmäßigen 
Unterrichtes zureichend befammt zu ſein.“ „Bei ihnen ſchläfert Die faule Tra— 
dition das Bedürfniß pädagogiſcher Vorbereitung ein“, „und ſie nehmen deshalb 
in der Klaſſe der höher Gebildeten eine Ausnahmsſtellung ein, Die ſich um ſo 
mehr befeftigt, weil es in ihrem Kreiſe oft fait als ein Ehren- 
punkt gilt, fein pädagogiſches Imtereije zu zeigen und fid 
um pädagogiide Fragen und Unterfubungen nicht zu 
kümmern“ „Wie fie durchgängig ver pädagogiſch-theoretiſchen 
Borbildung entbehren, jo erhalten fie auch Feine vegelmäßige Anleitung zur 
praftiiden Borbereitung für ihren Beruf.“ „Und nidt anders tft 
es bei den Inſpektoren aller Schulen. Denn fie treten durchgängig 
gleichfalls in ihr Amt ein, obme ſich dafür ſpeziell geſchickt gemacht zu haben. 
Höchſtens, daß fie ſchon vorber Yehrer waren, die ihr Geſchäft auch bejorgten, 
ohne dafür genügend vorbereitet zu fen. So kommt es denn, daß kaum in 
irgend einem anderen Stande die Zahl der Stümper, Piufcher und Quad— 
jalber fo groß ift, ale in dem der höberen Erziehungslehrer und der Schul: 
injpeftoren in Bezug auf pädagogiſch-didaktiſche Bildung, und eine Folge davon 
iſt, daß die Kunſt ver Methode an den höheren Yehr- und Erziehungsanftalten 


*) Ziller, Grundlegung zur Lehre vom erziebenden Unterricht. Leipzig, Pernitsich, 
1865, S. 19% ff. 


11 

nicht aleihen Schritt gehalten bat mit der fortichreitenden fachwiſſenſchaftlichen 
Ausbildung der Yehrer, daß das höhere Schulmefen jonar binfichtlich des 
pädagogifhben Werthes jeiner Yiteratur hinter dem Volksſchul— 
wejen zurüditeht, daß namentlid die Lehrgegenſtände ꝛc. bis jetzt nur 
wenig nad pädagogiſchen Gefichtspunften bearbeitet find u. ſ. w.“ 

Diefes ſcheinbar harte Urtheil, welches Ziller vor 12 Jahren über die Lehrer 
an Öyinnafien und Nealichulen, jowie die Schulinfpeftoren in Bezug auf ibre 
pädagogiſche Bildung nnd Wirkſamkeit füllte, dürfte noch heute vielleicht mehr 
als ein Körnlein Wahrheit enthalten. Hielt es doch Profeffor Dr. Stop, 
einer unſerer Hauptvertreter der wiſſenſchaftlichen Pädagogik und des erziehen: 
den Unterrichts, nicht für überflüjfig, über venjelben Gegenftand eine Anzahl 
Theſen aufzuftellen und fie in einer Konferenz von Profefjoren und Yehrern 
an höheren Schulen zu Bonn, am 28. Mat 1876, zu vertheidigen. Diele 
Ihejen lauten in ihrer zweiten Bearbeitung nah No. 26 ver „Allgemeinen 
Schulzeitung vom Profeffor Dr. Stoy*, Jahrgang 1876, folgendermaßen : 


Die pädagogische Bildung für das höhere Lehramt. Vierundzwanzig Chefen 
von Dr. 8 B. Stoy. Zweite Bearbeitung. 


Tbefe I: Die pädagogische Bildung der in das Yehramt an ben höheren Schulen 
eintretenden jungen Lehrer — Kandidaten — ift anerlannter Maßen in manıiglacher 
Hinficht mangelbaft. Schreiende Uebelftände fordern dringend auf, Mittel und Veran— 
faltungen zur Abhülfe zu fuchen, 


Theſe 2: Diefe Mangelbaftigkeit tritt 
theils im Unterrichte, 
theils in der perſönlichen Behandlung der Schüler in Disciplin und Er— 
ziehung zu Tage. 
Theſe 3: Die Mängel im Unterrichte Können 
nicht ſowohl Die Durch Verordnung und Sitte feftgeftellte ſtuſenmäßige Gliederung, 
als vielmebr die in die Hand der Eimzeinen gelegte Methode und Technik in 
der Behandlung der Unterrichtsjtoffe betreffen. 

Theſe d: Diefe Mängel in Metbode und Technik zeigen fich nicht minder beim 
lateiniſchen und griecbiichen, als beim deutſchen, franzöfifchen und enalifchen, als beim 
aefchichtlichen und geographiſchen, matbematbifchen und naturwiſſenſchaftlichen Unterrichte: 
Diefelben find fammt und fonders Verſtöße gegen Die geiftige Natur 
der beftimmten Mitersftufe der Klaſſen überbaupt oder gegen die der 
einzelnen Schüler-Andividbualität insbefiondere, 

Tbeſe dr Diele Berftöhe bängen nicht zufammen mit einem geringeren oder 
aröferen Maaße von Fachwiſſen: Diefelben haben wielmebr ihre Quelle 

tbeits in der Beichaffenbeit der unverarbeitet gebliebenen Gedankenſtoffe aus 
den alademiſchen Borlefungen, 

theils in emem Mangel an Verſtändniß und Einficht im die Zwecke und Mittel 
des Ilnterrichts und in die Schülernatur, 

theils im der Regelloſigleit einer nicht Durch pädagogiſche Selbſtbeobachtung 
und Beurtheilung durchdrungenen und regierten Lehrpraxis. 

Theſe 6: Auch Die Verftöße, in der dieciplinariichen und erzieblichen Behandlung 
der Schüler entſtammen benjelben Duellen, vorzugsweiſe aber den beiden lettgenannten, 


12 


nämlich einem Mangel an pädagogiicher Einficht eines — und an pädagogiſcher Selbit- 
regierung anderentheile. 


Theſe 7: Somit ergeben fih drei Arten won Beranftaltungen zur Abhülſe. Es 
alt, den künftigen Lehrern an böberen Schulen Gelegenbeit zu bieten: 


a) Im Allgemeinen zu einer gründticheren Berwertbung und Verarbeitung der 
akademischen Vorlefungen, 


b) im Befonderen zur Gewinnung pädagogiſcher Einficht, 


ce) zur Aneignung einer von Selbftbeobachtung und Benrtbeilung durd- 
drungenen Praris, 


Thefe 8: Die Gelegenheit zu einer eingebenden wiffenichaftlichen, Leineameas 
aber zu einer fogenannten ſchulmäßigen Verarbeitung der afademifchen Vorleſungen zn 
bieten, ift eine dringende Aufgabe für die akademiſchen Fachſeminare. 


Theſe 9: Pädagogiſche Einficht wird nicht durch Mittbeilung von einzelnen Ber 
erdnungen, Inftruftionen und fpecielle Anweifungen, fondern nur dur Einführung in 
ein geordnnetes Ganze wobl begrimndeter Sätze und ihre Folgerungen gewonnen, 

Theſe 10: Zur Erzeugung einer pädagogischen Einficht find erforderlich: 

a) Borlefungen über pädagogiibe Eneyklopädie und Metbodologie, Über allge 
meine und biftoriiche, über Gymnaſial-Pädagogik, 

b) Verarbeitung der Vorträge in Abhandlungen und Diskuffionen, 

ec) Ergänzung und Erläuterung der pädagogischen Lehren durch einzelne Lehrverſuche. 

Theſe 11: Die Mittheilung der pädagogiſchen Wiffenihaft ift Aufgabe der 
Universität und erfordert eine ganze Lehrkraft innerbalb der philoſophiſchen Facnttät. 

Thefe 12: Die Erläuterung und Unterftüßung der pädagonifchen Vorträge durch 
Abhaltung und Beobahtung von einzelnen Lehrverſuchen ſchließt ſich als umentbebrlice 
Ergänzung an den Vortrag und gehört fomit felbftverftändfih in die akademiſche 
Studienzeit gerade fo, wie für tbeologifche und medieiniſche Studien derartige 
Inftitutionen längft beftehen und ſich bewähren, 

Thefe 13: Eine Bermweifung diefer einzelnen Lehrverſuche in alademiſche Kad- 
feminare fiir Gefhichte, Philologie, Mathematik, Naturwiflenfchaft würde bie Wiffen 
Icbaftlichteit ebenfowohl der pädagogischen als der fachwiſſenſchaftlichen Studien ſchädigen 

und ift ſomit ein für allemal abzuweiien, 

Tbefe 14: Zur Gewinnung einer von der päüdagogiſchen Einficht durchdrungenen 
Rraris ift erforderlich: 

a) Ertheilung eines zufammenbängenden Unterrichts in mehreren Lebrfäcern, 

b) genaue auf bidaftifche Anweifung gegründete Borarkeit, 

ec) Verarbeitung ber eigenen und fremden Praris in eingebender wiſſenſchaft 
licher Beurtbeilung. 

Anmerk.: Die Beichräntung ber Anleitung zur echten Lehrpraxis auf Ertbeilung 
einzelner Brobelectionen und Hofpitiren bei Mufterlebrern oder wohl gar au 
eine von Beiden ift für den Hanptzweck erfolglos, außerdem in mebrfacher Hinſicht 
ſchädlich. Ein Gleiches gilt von dem fogenannten „PBrobejabre”. 

Thefe 15: Die Nebungen in zufammenbängendem Unterrichte ſollen in der Kegel 
erſt nah dem Schlufi der akademiſchen Studien nnd nad beftandenem Eramen 
pro facultate eintreten, 


13 


Anmerkt.: Motive zu Ausnabmen Können liegen in einem allgemeinen oder 
befonderen Notbftande, d. b. in ber Febrernotb, oder der Bebürftigkeit bes Einzelnen, 
welche zu ber weit unglnftigeren Lehrpraxis in Privatftunden nötbigen würde, 


Theſe 16: Als ein zwedentiprechendes Feld für die Uebungen in zuſammen— 
bängendem Unterrichte kann nur Die im päbagogiichen Geiſte geleitete Lebungs- 
Thule gelten, 

Tbefe 17 : Die bobe Beftimmung der Uebungsſchule muß darin gefucht werben, daß 
dieſelbe nicht jowobl der Zurichtung der Kandidaten für befondere Lehrfächer oder Lehr— 
ftufen oder Yebrgänge dienen folle, als wielmebr ber Erzeugung eines pädagogiichen 
Dentens, Füblens und Wollens, d. b, einer allgemeinen vädbagogiihen Bildung, 
welche zum fpäteren Eintritt in jede fpecielle Schulpraris befäbigt. 


Tbefe 18: Die günftigfte Bedingung für die Gewinnung einer allgemeinen 
pädagogiichen Bildung bietet Die Uebungsſchule offenbar dann, wenn diejelbe 
a) von einer beftimmten Schulkategorie nicht einzelne Klaffen, Sondern ein alle 
Stufen einschliekendes Ganze barftellt, 
b) in ibrem Yebrplan die allem erziebenden Unterrichte gemeinfamen Elemente 
in einfachiter Geſtalt Darbietet, 
ec) durch den geiftigen Standpunkt ihrer Schüler den Yebrer zur totalen Umge 
jtaltung der eignen Dent- und Redeweiſe ernergiich nötbigt und doch 
d) dur die Einfachbeit in Gedantenbau und Gemütbszuftänden diefer Schiller 
den Erfolg des, Yebrens wie ber perfönlihen Behandlung erleichtert. 
Theſe 19: Die genannten vier Bedingungen für eine normale Uebungsſchule 
finden fib in volllommenftem Maße vereinigt in der Elementarſchule. 


Theſe 20: Vom praftiichen Gefichtspuntte aus muß noch befonders geltend 
gemacht werden, daß 

a) die Herftellung eines pädagogiichen Uebungsfeldes im einer Elementarſchule 
mit vielen Schwierigkeiten nicht zu fümpfen bat, weiche an andere Kormen 
der Uebungsſchule ſich beten, 

b) die Wirkſamkeit der angehenden Lehrer mit größerer Sicherbeit auf Achtung 
und Dank der Schüler und ſomit auf wichtige Hülfen und Ginflüffe 
rechnen kann, ß 

e) für die anziebende und gemütberfüllende Macht der Elementarſchule in der 
Yebensgeichichte vieler nambafter Pädagogen Beweiſe liegen, 

d) in der Elementarſchule auch für Leitung der Yebrerfeminarien und die Schul 
aufficht die zwedentiprechendfte VBorbildung zu finden ift, 

Tbefe 21: Unter den veridiebenen Stätten, an denen die Einrichtung einer 
ſolchen Webungsichule fih ermöglichen läßt, ift Die Univerſitätsſtadt die zweck— 
mäßigite, fowohl um der pübagogiichen als um ber übrigen wiſſenſchaftlichen Fort— 
bildung willen, 

Theſe 22: Demnach ergeben ſich als die Anftalten, welche die verfchiedenen Anf- 
gaben der böberen Schulbildung durch ein Syſtem von Mafregeln zu löſen baben, zwei 
Seminarien, ein tbeoretiiches und ein praftiiches, 

Theie 23: Aus der Natur der Sache ergiebt ſich eine Vereinigung beider An— 
ftalten unter einer einzigen Direktion als die ziwedentfpredende Form, d. b- das päda— 
gogische, in eine untere und obere Abtheilung ſich gliedernde, Gefammtieminar, 


14 
Theſe 24: Die umfangreide und tiefe Sorge für eine tbeoretifche und praktische 
Bildung. der Fünftigen Yebrer an böberen Schulanftalten kann nur einem im bieler 
einzigen Arbeit feine ganze Yebensaufgabe findenden Scminardirector, dem Profeſſor der 
Pädagogik, übertragen werden. 
Jena, 17. Juni 1876. 


Führen wir noch ein Citat aus einer der neueften Reformſchriften an, 
aus Clem. Nohl's „Ein nener Shulorganismus. Zugleich Kritik 
des gejammten Schulwejens. Neuwied und Yeipzig, 1877. Heufer.“ — Wenn 
auch diefe Schrift Nohl's — und, fo weit fie ums bekannt geworben find, aud 
die ihr vorausgegangenen fünf andern von berjelben Tendenz — das Princiy 
der fittlihen Erziehung als Maßſtab au die Schulanftalten nicht anlegt, ſondern 
praftifch jein will und fi auf den Boden der Erfahrung ftellt, jo legt ver 
Verfaſſer dod der Erziehung, wie fie die Schulen geben jollen, Wertb kei, 
und im jeiner fünften Schrift macht er Vorſchläge für Univerfitätseinrichtungen, 
durch welche die fünftigen Yehrer während ihrer Studienzeit jowohl im Lehren 
als aud „im Erziehen für ihren [hwierigen und verantwortungs: 
vollen Beruf auf das eingehendite und gewifjenhaftefte geprüft werden follen.“ 

Im neueſten Werte, „Ein neuer Schulorganismus“, jagt er Seite 6 
und 7 bei Beſprechung des Unterrichtsgefetes wörtlihb: „Der Entwurf ves 
Unterrichtögejeges wird, jo weit er die Elementarjchule und Das mit ihr in 
Verbindung Stehende betrifft, bei der größeren Zahl der Elementarlehrer eine 
verftändige Prüfung finden. Dieje wiſſen nämlich, was ihren Auftalten un 
ihnen jelbjt Noth thut, weil jie dort auch in den Stand geſetzt worden jint, 
aus der Praris für ihre Weiterbildung den rechten Gewinn zu ziehen. 

Sollen aber auch die Abſchnitte des Unterrichtsgejeges, welche die innere 
Einrihtung höherer Yehranftalten betreffen, der Kritik der Sadverftändigen 
unterbreitet werden, jo fann die weit überwiegende Mehrheit ver 
wiſſenſchaftlichen Lehrer, wie wenig aud im Wilgemeinen an dem 
beiten Wollen derjelben gezweifelt werden darf, auf den Namen „Sad: 
verftändige* Leider feinen Anſpruch maden Es werden ja bie 
auf der Univerfität ihre Ausbildung zum wiſſenſchaftlichen Lehramt juchenven 
Studirenden hier weder in der Materie des Unterrichts, nod in der Yehr- 
und Erziehungsfunft unterwiejen, auch die Praxis kann diefen Mangel nur 
zum kleinſten Theil wieder gut madyen, und deshalb gehören Pehrer: 
und Pädagogen in dem eigentlihen Sinne des Wortes auf 
Gymnaſial- und Realanftalten niht zur Regel, fondern zu 
den Ausnabmen Schulbalter und Etundengeber jind nod 
lange feine Yehrer und Erzieher Ich babe viejen Uebelſtand in 
meinen beiden Schriften „ Mängel und Mißſtände im höheren Schul— 
weſen“ und „Pädagogiſche Seminare auf Univerſitäten“, ein— 
gehend beſprochen und warte immer noch auf Widerlegung.“ Mebr be: 
friedigt den Berfajjer in diejer Hinſicht das Elementar- 
ihulmwejen. „Die Elementarſchule“, jagt er Seite 18, „ift, wenn 
aud feine vollfommene Anftalt, jo doch unter den verfhierenen 
Vehranjtalten eine der vollfommenjten.“ 


Die Mittheilung vorftehender Citate könnte den Yejer zu der Anficht 
verführen, als ob wir die niederen und mittleren Schulen in Hinſicht der 
Durchführung des Princips der jittlihen Charafterbildung bereits für voll 
fommen bielten, dem jei ferne! Obwohl ihre Yehrer meiſt eine anerfennens- 
werthe pädagogiſche Bildung genießen und in Folge dejjen dieſe Schulen meiit 
pädagogiſcher angelegt und eingerichtet find, muß doch nod Vieles gefchehen, 
bis jie das Ideal erreihen. As Schulen, in welchen das Princip der Er- 
ziehung jtreng durchgeführt wird, nennen wir vor Allem die Yeipziger Semi— 
narübungsichule des Herrn Prof. Dr. Ziller, die Dr. Barth'ſche Privatichule 
in Yeipzig und die von Dr. Stop in Jena geleitete Lebungsichule des dortigen 
pädagogiſchen Seminars; ferner die mehrklajlige Schule des Hauptlehrers 
Dörpfeld zu Wupperfeld-Barmen. 


Wodurch kann nun eine Schule zu einer Erziehungsſchule erhoben 
werden? Wir antworten, durch Viererlei: 


1) Durdy einen erzichenden Unterricht; 


2) durd eine angemejjene Schulzudt, d. h. die unmittelbare Einwirkung 
auf das Gemüth umd den Willen der Jugend, in der Abjicht, zu bilden; 

3) durd ein von religiöſen umd fittlihen Ideen durchdrungenes, edlen 
Sitten umd feinen Formen bulvigendes Schulleben, und 

4) durch einheitlihes Zujammenwirfen von Haus und Schule und 
Mitwirlen ver Namilienväter bei der Schulverwaltung. 


In Nachfolgendem behandeln wir eingehend namentlich den eriten Punkt; 
die anderen berühren wir nur kurz, indem wir uns ihre ausführliche Beſprechung 
noch vorbehalten. 


I. 
Der erziehende Unterricht. 


In pädagogiichen Kreiſen begegnen wir nicht jelten dem Begriffe: „Er- 
ziehender Unterricht“; er liegt jozujagen auf dem YVebenspfade ver 
Pädagogen und Schulmänner, jo daß namentlidy denkende Meifter der Schule 
ibm durchaus nicht auszumeichen vermögen. Wenn ein Bewerber um eine 
neue Stelle jeine Probelection vollendet bat, jo lehnt ihn der Yeiter der Schule 
bisweilen deshalb ab, „weil der Candidat feinen pädagogiſchen Unterricht er: 
theilen könne“; und führt ein Schulvorfteher einen Yehrer in fein neues Amt 
ein, jo legt er ihm ans Herz, „fortwährend ven erziebenden Unterricht zum 
Dbjekte jeines Denkens und Strebens zu erheben“. Kine Mutter, welde 
hoben Werth auf die Kindererziehung legt, verlangt von ihrer Gonvernante, 
„daß Nie ihrem einzigen Töchterchen doch einen erziehenden Unterricht ertheilen 
möge, weil ihrem Ninde eine befonders gute Erziehung zu Theil werden jolle“. 
Es erjcheinen ſchon während einer Reihe von Jahren „Blätter für erziebenvden 
Unterricht“; ja, auf die Bearbeitung dieſes pädagogiſchen Thema werben 


16 
bereits Preife geſetzt. So lautet die jüngjte Preisfrage des evangeliſchen Con- 
fiftortums ın Württemberg: 

„Wie muß der Unterricht beichaffen jein, um erziehlih zu 
wirfen? und fann die erziehlidhe Aufgabe der Volksſchule ſchon 
durd einen guten Unterricht gelöjt werden?“ 

Eicher hat der erziehende Unterricht nicht nur im der Yehrerwelt, jonbern 
auch in weiteren Kreifen bereits eine nicht geringe Schar von Anhängern; 
freilich ein einfeitiger Kanfmanı oder Gewerbsmann verlangt von jeinem 
Sohne nur Kenntniß und Uebung der Buchführung, des Geſchäftsſtils, des 
kaufmänniſchen oder gewerblichen Rechnens und der Handelögeograpbie, er ver: 
langt nur ein beftimmtes Maß von Wiffen und Können, indem er von 
pädagogiſchen Unterrichte abjtrahirt. 

Es ift gewiß fein Wunder, daß diefe Idee im der püdagogifchen Welt 
endlich Wurzel faßt und die Herzen bewegt; denn ihr Vater, der Philoſoph 
und Pädagog Johann Friedrih Herbart, führte fie ſchon vor 72 Jahren in 
die Päragogif und die pädagogiſche Praris ein und beleuchtete fie näber. Ju 
ver Einleitung zu feiner „Allgemeinen Pädagogik, aus tem Zwed der 
Erziehung abgeleitet, Göttingen, Rower, 1806*, fagt er Seite 17 ff.: „Ich 
geitehe gleich hier, feinen Begriff zu haben won Erziehung ohne Unterridt,; 
jo wie ich rückwärts, in diefer Schrift wenigſtens, feinen Unterricht anerkenne, 
der nicht erzieht.“ — „Um ven allgemeinen Gedanken: Erziehung durd 
Unterricht mehr hervorzuheben, verweilen wir bei dem entgegengejegten: 
Erziehung ohne Unterricht! Beifpiele davon fieht man häufig.“ — „Ti 
Erziehung durch Unterricht betrachtet als Unterricht alles dasjenige, mas 
irgend man dem Zögling zum Gegenftande der Betrachtung macht.“ ‚In 
jenem „Umriß pädagogiſcher Vorlefungen“ jagt Herbart 8 57 
weiter: „Bon ſolchem Unterrichte (der ein mütliches Willen oder eine ver: 
langte Sefchidlichfeit beibringt) wird hier nicht geredet, fondern nur vom er- 
ziehenden Unterricht.“ 

Wohl ift es gewiß ganz löblich, daß Diefe Idee in Die Pädagogik und 
Schulkunde eingeführt worden ift und fie angewendet wird; aber das Schlimme 
bei der Sache ift, daß man felten eine bündige und genügende Antwort erbilt, 
wenn man fragt: „Was tft denn erziehender Unterriht? Worin bejtcht 
jein Weſen? Wie ift er beihaffen? Welche Zwecke verfolgt er, melde Mittel 
wendet er an, und im welcer Norm ift er zu ertbeilen?“ „Bei diefen Fragen 
wird Alles ftumm im reife ringsum.“ — Nun gibt es zwar voluminöſe 
gelehrte Bücher der philoſophiſchen Päragogif über unfern Gegenftand, aus 
denen man fid Raths erholen könnte; allein es ift nur Schade, daß fie eben 
zu umfangreib und gelehrt find, daß ihmen die edle Einfachheit und Faßlich— 
feit abgeht und man fich dur die Vorhöfe der Gelehrjamteit erit mühſam 
hindurcharbeiten muß, bevor man ins Allerheiligite dev Erfenntniß einzudringen 
vermag. 

Es dürfte darım wohl feine undankbare Aufgabe jein, einmal viefem 
Thema näher ins Auge zu ſehen und den erziehenden Unterricht jorgfältig zu 
betrachten ımb zu unterſuchen, worin jein Wejen und jein Werth bejteht, wo— 
durch amd wie er ausgeführt wird? ımd zwar namentlid zu dem Bebnfe, 
um die Kefnltate des Forſchens in einfadber, ſchlichter Weije dar: 
zulegen und fie dadurch mehr zum Gemeingut aller Yehrer, befonders auch 


SL 


der jüngeren, zu erheben. Da ver in Rede ftehende Beariff von ver willen: 
ſchaftlichen Pädagogik (d. h. von der Erziehungslehre, welche aus einem Syſtem 
logiſch Turchgebilveter, aus ficheren Principien abgeleiteter und erfahrungs— 
mäßig durchgeprüfter Begriffe über die Erziehung des Menſchen beſteht) zu 
Tage gefördert worden it, jo müſſen wir ibn auch, jedoch unbeſchadet ver 
Faßlichkeit der Darftellungsweife, mit dem Nichte dieſer Pädagogik näher 
beleuchten. 


1. Werth und Weſen des erziebenden Unterridte. 


Die höchſte Aufgabe der Erziehung befteht nad der wiſſenſchaftlichen 
Pädagogik darin, den Zögling zur Sittlichkeit oder zu dem bebarrliden 
Streben nah Tugend zu führen; da nun die LSittlichfeit wejentlid im 
Willen Liegt, jo können wir auch jagen, e8 joll dem Willen, d. b. dem Wollen 
und Nichtwollen der ‘Berfon, ein ſolches feites Gepräge aufgedrückt werben, daß 
es unter gleichen Berhältuiffen dasjelbe bleibt und das erfannte Rechte und 
Gute, jelbjtthätig zu vollziehen ftrebt. Ein foldes Gepräge des Willens heift 
ein jittliber Charakter, und im ihm liegt das Ideal der Perſönlich— 
feit. Die Heranbilvung eines folhen, Charakters im Zöglinge iſt vie höchſte 
Aufgabe des Erziehers, weil fie den Menſchen auf die erhabenfte Stufe der 
Ausbildung und Beredlung führt und Intelligenz, Gemüth, Gejhmad, Reli: 
gioſität, jelbft einen Fräftigen und gefunden Körper, als dienftwilliges Glied des 
Geiſtes, genug, alle hohen und niederen Seiten der Menfdyenbildung voraus- 
jet und einſchließt. Auf den Willen des Zöglings können wir im der ange: 
denteten Richtung nun im zweifacher Weiſe einwirken, nämlid 1) unmittel- 
bar, wie 3. B. durch Lohn, Tadel, Strafe, Vorbild, Liebe, Aufficht und 
Autorität des Erziehers, durd Ermahnung und Warnung, den Umgang 
mir guten Menſchen, durch Berhütung und Hemmung der Affefte und Yeiden- 
ihaften, burd ein edles Familienleben und ein gefittetes Schulleben u. j. w. — 
d. i. durch die Mafregeln der Zucht, als den Inbegriff der einheitlichen 
Grundſätze, Ziele und Mittel, welche die eigentlihe oder unmittelbare Er— 
ziehung betreffen. Da indeß der Wille aus dem Gedantenkreije des Zöglings 
hervorgeht, jo kann man 2) auch dadurch mittelbar bilvend auf ihn ein— 
wirfen, daß man den Gedankenkreis jo bearbeitet und gejtaltet, daß ein 
fittlicher Wille aus ihm refultirt: — dies gejchieht eben durch den erziehen— 
den oder pädagogifben Unterricht, ven Hauptfactor der Erziehung, 
vie mittelbare Erziehung. Diejer Unterricht jteht gegenüber dem nicht 
erziehenden oder nicht pädagogiihen. Wenn ein junger Mann zum 
Fähndrich- oder Freiwilligeneramen, oder zum Eintritte in eine Handelsſchule 
vorbereitet wird, jo handelt es ſich nur um Aneignung eines bejtimmten Maßes 
von Willen und Können, höchſtens nod um einen gewiffen Grad von Denk— 
fübigfeit; jomit haben wir einen Unterricht vor uns, der den Willen nicht ver- 
edelt, d. i. einen nichtpädagogiihen, feinen Erziehungsunterrict. Ein nicht 
pädagogiſcher Unterricht jteht nicht im Dienfte der fittlihen Charakterbilpdung ; 
er pflegt Senntniffe und Wertigfeiten nur als Selbſtzweck oder zur Erreichung 
eines außerhalb des Zöglings liegenden Zwedes, zum Cintritte im gewiſſe 
Berufe und Gefellichaftstreije, alio des Erwerbs und Fortkommens wegen, 
orer aud wohl aus Yiebhaberei. Solche Schulen, welche dieſe eimjeitige 
Bildung vermitteln und in ein beftimmtes, abgearenztes Gebiet des Willens 

Fröhlich, Erziehungsichnie. > 


18 

einführen, find Berufs- over Fachſchulen, wie 3. B. die Bergwerks- und 
Forſtſchulen. Diejen jtehen gegenüber die Erziehungsſchulen, welden 
die Gejtaltung des Gedanlkenkreiſes, die intellectuelle — nur als Mittel 
oder Vorſtufe dient, einen ſittlichen Charakter anzulegen, Humanität, allgemeine 
Menſchenbildung zu vermitteln. Die Fachſchulen verfolgen untergeordnete 
Zwecke, welde nicht in dem Zöglinge liegen, fie beabfichtigen eine jpecielle 
Bildung, eine Unterweifung in beftimmten Studien und Geſchiclichkeiten. Die 
Erziehungsſchulen Dagegen wollen eine allgemeine, d. h. eine allen Menſchen 
gemeinjame Bildung vermitteln, ihr Unterricht iſt auf den einen höchſten 
Zwed beredinet, Tugend und Glauben, als die religiöie Form der Sittlichkeit, 
zu pflegen. 

Der erziehende Unterricht ift eine Konjequenz aus dem Bearifie der Er: 
ziehung. Reine Wiſſenſchaftsanſtalten, Schulen für bloße Gelehrſamkeit Lienen 
außerhalb diejes Begriffes, fie find ſomit feine Erziehungsichulen. 

Eine Fachſchule befteht aus Yehrern md Yernern, aus Stunden: 
baltern und Schülern, eine Erziehumgsjchule dagegen aus Erziebern 
und Zöglingen — 

Wir nannten oben den Unterriht den Hauptfactor der Erziehung. 
Er iſt Das wichtigſte Erziehungsmittel ımd muß bei der Erziehung über: 
wiegen, weil dur ihm namentlich der fittliche Charakter in dem Zöglinge au- 
gelegt wird. Ein jittliher Charakter ift ein dauernder Gemüthszuſtand, 
ein folder kanu aber nur durch einen herrſchenden Gedankenkreis geichaften 
werben, und dieſer iſt eben vorwiegend nur ein Produft des Unterrichts. 
„Man bat“, fagt Herbart, „nur dann die Erziehung in feiner Gr: 
walt, wenn man einen großen und in feinen Theilen innigit 
verfnüpften Gedankenkreis in die jugenblihe Seele zu bringen 
weiß, der das Ungünjtige der Umgebung zu überwiegen, das 
Günſtige derſelben in ſich aufzulöſen und mit ſich zu ver— 
einigen Kraft befigt.“* — Erſt die Reformation ſchuf wahre Erziehungs— 
ſchulen, ſelbſt die kirchlichen Schulen vor der Reformation waren mehr oder 
weniger Fachſchulen. Erziehungsſchulen im beſten Sinne ſollen nun alle Volle-, 
Stadt- und Bürgerſchulen, die Mittel-, höheren Töchter-, die Realſchulen und 
Gymnaſien fein und werben. | 

Jetzt entiteht die Frage: „Was it denn aber Tugend?" Dieje beant- 
wortet die Moral oder Ethik, indem fie fagt: Gut und recht handelſt 
du, wenn dein Handeln den jittliben Ideen oder Mufterbilvern, melde 
in allen gejunden Geiſtern übereinftimmend find und in Allen mit unmittel— 
barer Evidenz ein anerfennendes äfthetiiches Urtbeil erweden, entfpricht, nämlich 
den Ideen 1) der Bolltommenbeit, 2) der innern Freiheit, 3) de 
Wohlwollens, 4) des Rechts und 5) der Vergeltung. Nac der erften 
Idee joll dein Wille ein jtarfer fein, dar er im Stande it, finnlihe Be 
gierden, Affekte und Yeidenjchaften, jowie Berſuchungen von außen zu über- 
winden; nach ber zweiten follft du ſtets mach deiner eigenen bejjern Ueber- 
zeugung handeln, aljo fittlic frei fein; nad der dritten im unegoiſtiſcher 
Hingabe das Wohl aller Menſchen fördern, oder, wie das Chriſtenthum lebrt, 
alle Menſchen von ganzem Herzen lieben; nad der vierten Idee jollit bu 


*) Allgemeine Padagogik, ©. 58. 


19 


Streit vermeiden, friedfertig fein und gejeglic handeln und Jedem geben und 
laſſen was ibm gebührt, und nach der fünften Wohlthaten vergelten, Geredhtig- 
feit itben und Unrecht zur Beitrafung bringen. 

Dieje fünf urſprünglichen Ideen können als Yeitfterne der Sittlichkeit 
and auf mehr als eine oder zwei Perſonen, auf eine Gejellihaft ange- 
wendet werben, welcde auf einem Boden zujammen lebt, und dann entjtehen 
die fünf abgeleiteten over geiellihaftlihen Ideen. 1) Aus ver 
Idee des Rechts entteht die einer Nehtsgejellihaft; 2) aus ber Idee 
der Vergeltung die eines Lohnſyſtems (Anftalten zur Beitrafung der Ver— 
bredien x. umd zur Belohnung des Guten); 3) aus der Idee des Wohl— 
wollens die des Berwaltungsiyftems (Beförderung des Wohlſeins durch 
Berwahrung und Vermehrung ivdiiher und geiftiger Güter); 4) aus der Idee 
ber Vollfommenheit die des Kulturſyſtems (Pflege der Kraftäußerungen 
in Hinficht auf deren Energie, "Ausbreitung und Zujammenwirkung); uud 
5) aus der Idee der inneren Freiheit die Ideen ver bejeelten Ge ell- 
ſchaft (im ihr entjpriht der gemeinihaftlibe Wille einer gemein- 
ihaftliden Einjiht). Zu einer folden bejeelten Geſellſchaft fih auszu- 
bilden, joll das Ziel aller menſchlichen Bereinigqungen: der Familien, der 
Gemeinde, des Staates, der Kirhe und der Schule jein, und die Ber- 
bindung aller dieſer bejeelten Geſellſchaften bildet das Reich Gottes, das Ziel 
der ganzen Menjchheit.*) 

Habe ich aber in dieſer Weiſe das Rechte und Gute erfannt, oder eine 
Einſicht von ihm gewonnen, jo ijt damit dasſelbe jedoch noch nicht in den 
Willen übergegangen; es fragt ſich vielmehr weiter: Wie fünnen aus 
dieſer Erkenntniß, diefer Einſicht, welche dod im Vorſtellen, Urtheilen 
und Schließen, alſo aus Denkproceſſen beſteht Strebungen, Entſchlüſſe, 
Vorſätze, alſo Willensacte oder ein Wollen entſtehen? Auf dieſe 
rein philofophiihe Frage antwortet die Seelenlehre: Der Uebergang von der 
Erfenutniß zum Willen wird durch jenen höheren Grad des Vorſtellens, bie 
gemüthliche, alfo unegoiftifhe Hingabe an das Erfannte und Vorgeftellte bewirkt, 
welhe Interefje heißt. Aus diefem erhabenen Gemüthszuſtande, einem 
dauernden, mit Gefühl verbundenen Streben, geht das Wollen eben jo ficher 
berver, wie die Pflanze aus dem im Keimen begriffenen Samenforne, wie bie 
Frucht aus der aufgeblühten Knoſpe. 

Bloße trodene Bearbeitung des Gedanfenfreijes giebt höchſtens In— 
telligenz; der mit Imtereffe verbundene Gedankenkreis übt aber Einfluß 
auf das Wollen aus. Das Intereſſe it für den Unterricht ein Seelenzuftand 
von hervorragender Wichtigkeit; e8 zu erzeugen und zu ftärken, muß der An— 
fang und das Ziel alles guten Unterrichts fein; denn ein vollftändig ausge: 
bildetes Intereſſe jchließt auch inneres Bedürfniß, Luſt und Leichtigkeit 
bei den geiftigen Thätigfeiten und Beichäftigungen mit ein. 

Wir müfjen diefem Karbinalbegriffe ver wiſſenſchaftlichen Pädagogik, dem 
Intereſſe, mithin jegt etwas näher in's Auge ſehen und ihn genauer 
unterfuchen. 

Man jollte meinen, dar zur Erzeugung eines ſittlichen Willens nur 
das ſittliche Intereſſe, das Intereſſe für die ethifchen Ideen genüge; allein 


*) Bergl. Herbart, Allgemeine praftiihe Philoſophie, Göttingen, Danckwerts. 


7% 


20 


es gibt noch andere Intereſſen, welche auch unegeiftiich find, zum geiltigen Be: 
ſitzthume eines gebildeten Menſchen gehören und feine Sittlichkeit bedingen, 
indem fie ihn entwildern, d. b. vom Rohen, Niedrigen und Gemeinen ab: 
lenken und zum Ideale binleiten, oder wenigftens ein reiches und wielfeitiges 
Wollen fördern, deſſen jungfräulihen, fruchtbarem Boren die Tugend entjproßt : 
— ſolche Intereffen find die für Religion, Wilfenfhaft und Kunſt. Das 
Schöne ift ja die Vorhalle zum Tempel des Guten, da beides etwas Wohl: 
gefälliges iſt; aus Dem Gebiete der religiöfen Geſinnungen feimt und jproft 
die Tugend hervor, und die Intelligenz iſt die Vorbetingumg des jittlichen 
Charakters. Die Pädagogik empfiehlt darım den Anbau und die Pflege 
folgenter ſechs verſchiedenen Arten des Intereſſes, nämlich: 


1) das empiriſche, 

2) das ſpeculative, 

3) das äſthetiſch-moraliſche, 
4) das ſympathetiſche, 

5) Das foctale, gutereſen der Theilnahme (bes Herzens). 
6) das religiöſe, 


Intereſſen der Erkenntniß (des Kopifes). 


— — 


Jetzt fragt es ſich: Was haben alle dieſe gelehrten Namen, dieſe termini 
techniei, die wir dem Leſer ſchlechterdings nicht erſparen können, zu bedeuten? 

Wenn ein Kind die mannigfaltigen Gegenſtände der Erfahrung, alſo 
Sachen und Begebenheiten, aufzufaſſen und ſo ſeinen Beſitz an Keuntniß der 
Thatſachen mit Eifer zu vermehren ſtrebt, jo iſt die Wißbegierde ober 
dag empirifhe Intereſſe thätig; Dies ift 3. B. der Fall, wenn ver 
Yehrer dem Kinde eime Erzählung oder ein Märchen, eine Fabel, ein Gerict 
vorträgt, ihn eine Borftellung vom Schnee, vom Gewitter, von einer Rofe, 
vom Schulhauſe, von einem Yama, von Abraham, Odyſſeus, Barbarofia, Ro: 
binfon, von einer Familie oder einer Gemeinde beibringt, jo daß ‘der Zögling 
diefe Gegenjtände als Bilder, als concrete Grundlage in ſich aufnimmt, ohne 
jie aber einem eingehenden Denken zu unterwerfen. 

Geſchieht dieſes Yegtere, frage ih nah dem Cauſalitätsverhältniß, dem 
Bedingenden und Beringten (Grund und Folge, Urſache und Wirkung, Zwechk 
und Mittel), frage ih: wodurch? moher? woraus? was entiteht aus dieſem 
oder jenem? warum? was folgt daraus? wozu? womit? alfo 5. B. wodurch 
entfteht der Schnee? wodurch das Gewitter? — wozu dient das Schulhaus? 
— warum fing Robinfon Yama? — melde Mittel wendete Robinfon an, 
um mac jeiner Heimath zurücdzugelangen? — aus welden Gründen unter 
nahm Barbarofja mehrere Züge nady Italien? — — jo tritt eine denkende 
Betrachtung der Objecte ein und ich juche fie im ihrer gegenjeitigen Ab- 
hängigfeit und ihren Beziehungen zu einander fennen zu lernen: — es iſt 
das jpeculative Interejje (das Denken) in Wirkjamteit. Betradte 
ich die Natirrgegenftände mit dem Mafftabe des Schönen und die Menjcen 
mit dem des Guten; umterjuche ich 3. B., wie die Farben und formen ber 
Roje jo zuſammenpaſſen, daR fie in uns MWohlgefallen erregen; unterjcheide 
ih in den Handlungen Abraham's oder Odyſſeus Das Rechte vom Unrechten, 
das Gute vom Böen, fälle ih Urtbeile über den Werth ihrer Handlungen, 
jo iſt das äſthetiſche und moraliſche Intereſſe (ver Geſchmack und 
das ſittliche Urtheil) rege. Da nun eine ſittliche Handlung das höchſte Wobl- 


— 


gefallen in uns weckt, jo kann man beide Intereſſen auch kurz mit dem Aus— 
drude äſthetiſches Interefje im weiteren Sinne bezeichnen. 


Das empirifche, das jpeculative und das äſthetiſche Intereſſe vermehren 
unfere Einſicht, wir dürfen fie darum zujammen Interejjen ver Er- 
fenntniß nennen. 


Wird in uns durch wirklichen oder idealen Umgang mit bejeelten (Menden) 
oder bejeelt gedachten Wejen (Ihieren) Theilnahme für fie erwedt, hängt unfer 
Herz an ihnen, z. B. an der Roſe, am Lama, an Robinjon, an Abraham, an 
Odyſſeus, jo ift das ſympathetiſche Interefje in uns lebendig (Theil: 
nahme oder Mitgefühl). Wird dasjelbe jo erweitert, daß es ſich auf eine 
menſchliche Bereinigung, z. B. die Familie, die Gemeinde, die Schule, 
ven Staat u. ſ. w. bezieht, jo entiteht Gemeinjinn, Biürgerjinn, 
Patriotismus, oder das gejellihaftlihe (Jociale) Interefje Wenn 
wir unjere Abhängigkeit von einem höchſten Weſen und unjere Ohn— 
macht ihm gegenüber, ſowie die Sehnſucht nad der Verwirklichung unferer 
Ideale durch höhere Hilfe empfinden, wie 5. B. Abraham, als er einen 
Altar baute, jo ift das religiöſe Iuterejje (ver Glaube, die Liebe und das 
Vertrauen der Menſchen zur Gottheit oder die Frömmigkeit) in Wirkjant- 
feit. Das ſympathetiſche, jociale und religiöfe Intereſſe erweitern und ver- 
tiefen unfer Herz, fie find darım Intereſſen des Herzens oder der Theil- 
nahme. Die Interefjen der Theilnahme find für die Erziehung der Tugend 
von bejonderer Wichtigkeit; denn von der Theilnahme eines guten Herzens ift 
ed nur ein Kleiner Schritt zum Wollen des Guten. 

In jedem körperlich und geiftig gefunden Menjchen find num alle dieje In- 
terefien — wenigſtens in der Anlage — vorhanden, d. h. es liegt in Jeden 
die Möglichkeit und Fähigkeit zu ihrer Erzeugung vor, fie bedürfen nur der 
angemejjenen Entwidelung; und bei einem nicht einfeitig unterrichteten umd 
verkehrt erzogenen Menjchen find alle dieſe Intereſſen zujammen und gleichmäßig 
thätig, und zwar auf allen Bildungsitufen, auch ſchon bei dem jüngeren Kine. 
Wer die Kinderwelt genau kennt und fie beobachtet, dem wird es nicht ent- 
gehen, daß ſchon das jehsjährige Kind feine Urtheile fällt und Schlüſſe bilvet 
und gern venft, d. i., daß es jpeculatives Intereſſe zeigt, und ebenjo vegen 
ſich aud die anderen Intereſſen. Es ift nun die Aufgabe des Lehrers und 
Erziehers, alle Interefjen im Gleichgewichte zu erhalten, oder in's Gleichgewicht 
zu bringen. Alle die genannten Intereſſen jollen wie Strahlen von einem 
Brennpunkte, dem Ich, ausgehen und in ihm ſich wieder fammeln. Sinv 
alle diefe Iuterefjen gewedt, jo erhält ver Zögling aud) jene Selbjtthätigfeit, 
welche zum jpäteren Selbjtunterridte, dem Ziele alles guten Unterrichts, 
unbedingt nöthig it. Unterrichten heißt ja auch, einem Schüler den nächſten 
Weg zu feinem Selbjtunterrichte zeigen. 

In dieſer Mannigfaltigkeit der Intereffen bejteht mim die Vielſeitig— 
feit des Intereſſes, und wir dürfen jett beftimmter jagen, daß der Unterricht 
dann ein erziehbender ift, wenn er den Vorftellungsfreis des Zöglings fo 
geftaltet, daß im ihm jene, der Vielfeitigkeit des Interefjes entjpringende Selbit- 
thätigfeit erzeugt und durd fie die Berwirflibung ver fittlihen Ideen begründet 
wird, ımd daß die Aufgabe des erziehenden Unterrichts darin befteht, den Ge— 
dankenkreis des Zöglings jo anzubanen und zu erweitern, daß Dur vie Er- 


22 


wedung und Pflege des vielfeitigen Intereſſes die fittlihen Ideen verwirklicht 
werten. 

Daß ein folder Unterricht bedeutenden Werth bat, fpringt jest von 
jelbft in die Augen. Wie ſchon angedeutet, fucht derſelbe die Geiſtesthätigkeit 
des Zöglings nicht nur zu vermehren, jondern aud zu veredeln, nicht mur 
geiftige Nräfte zu erzeugen und zu ftärfen, ſondern aud) auf das Edle umd 
Mitrdige zu richten. Wir bilden mithin durch Erziehungs-Unterricht nicht erwa 
kluge Bielwilfer, kalte Berftandesmenichen, jondern einfihtsvolle, wahrhaft gute, 
für alles Pöblihe und alle Tugend empfängliche und begeifterte Zöglinge ; 
Menſchen, welche Kopf und Herz auf dem rechten Flecke haben, und entzünden 
in ihnen einen hohen Reichthum geiftigen Pebens: — darin befteht ver Werth 
des pädagogiſchen Unterrichts. Ihn zu realifiren, tft die pädagogiſche Miſſion 
des VYehrers. 

Eine weitere wichtige Frage ıft nun die: Wodurch und wie wirb biefer 
Unterricht herbeigeführt? Die Antwort führt ung befonders auf ven Stoff 
und Die Form des Unterrichts. 


2. Lehrſtoff und Yehrform des erziehenden Unterricht. 


Die erziehenten Momente im Unterrichte können entweder in dem In— 
halte des Unterrichts, oder in feiner Form, oder in beiden liegen. Eine 
nähere Unterfuhung ergiebt, daß zum erziehenden Unterrichte ſowohl eine gute 
Auswahl und eine pallende Verknüpfung des Vehritoffes, als auch eine 
zwedmäßige Sliederung und Bearbeitung (Methode) und envlich eine 
pafjende Art der Darbietung oder Mittheilung desſelben Lehrform 
im engeren Sinne) gehört, Es wird dies näher in die Augen fallen, wenn 
wir folgende vier Behauptungen begründen und näher erörtern. 

a) Ein erzichender Unterricht flellt die fittliden Ideen in den 
Mittelpunkt des Unterrichts; weil jedoch nadte Ideen, trodene, ab» 
jtracte Sittenlehren, moralifirende Worte das Intereffe der Kinder nicht 
zu erweden vermögen, jo muß der jittlihe Inhalt ihnen in Fonfreter 
Grundlage, d. h. in Geſtalt von biftoriihen Dbjecten, wie fie bie 
bibliiche und Profangeſchichte und die Dichtung enthalten, dargeboten werden. 
Diejer geicichtlihe Stoff, alfo 3. B. für die zarte, nod von reger Fantaſie— 
thätigfeit beherrſchte Jugend Die Fabeln, Märchen und Sagen, für reifere 
Kinder hiſtoriſche, bibliſche und andere Erzäblimgen (3. B. Robinſon) ftellt 
ethiſche Verhältniſſe in faßlicher Weiſe dar und iſt völlig geeignet, alle In— 
tereſſen des Kopfes (empirifches, ſpeculatives und äſthetiſches) und des Herzens 
(ſympathetiſches, jociales und religiöſes) anzubahnen (vergl. oben Abſchnitt Il, 1 
diefer Schrift); darum ſoll diefer hiftorifche Yehrftoff al® Träger von mora= 
liſchen Gefinnungen in das Centrum des Unterrichtes geftellt werden und eine 
bommmirende Stellung einnehmen. Da das Sittliche nur duch die Hilfe eines 
höchſteu Weſens realifirt werden fann und die Tugend ihre Stüge in der 
Religion findet, die gejchichtlichen Stoffe aber, namentlich die biblifche Geſchichte, 
reliatöje Ideen und Yehren enthalten, jo tritt jpäter die eigentliche Neligions- 
lehre hinzu, ja der Yehrer kann fi aus ven, von bearbeiteten hiſtoriſchen 
Penſen abgeleiteten religiöien Lehren feinen Katechismus jelber zufammenitellen. 


23 


Diefer fittlihe Unterricht, den man mit Nüdjiht auf jeinen Zweck, 
Bildung der Gefinnungen, aud Gefinnungsunterricht nennen kann, 
beginnt fofort beim Eintritte des Kindes- in die Schule, indem Fabeln, Märchen 
und pafjende Erzählungen, dann biblifhe Gejchichten u. ſ. w. den Kindern ge— 
geben und mit ihnen behandelt werden. Das Kind lernt aus ihnen z. B. die 
Yiebe und Dankbarkeit gegen die Menjhen, den Gehorſam gegen Eltern und 
Lehrer, die Verträglichkeit mit den Gejchwijtern und Gejpielen, es lernt 
Wahrheitsliebe und Ehrlichkeit, genug, alle firtlihen Gebote und Berhältniffe 
fennen, und Vorftellungen von Gott und Gefinnungen gegen ihn werden in 
Das zarte Herz der Jugend gepflanit. 

Damit nun aber dieje religiössfittliche Richtung wicht vereinzelt im Geijte 
jtehe, Damit fie in demfelben die Herrichaft erlange, durd andere Borjtellungen 
geftügt umd getragen werde und damit alle Borftellungen des Geiites eine 
Einheit, ein organijbes Ganze bilden: — fo müſſen 

b) die übrigen Lchrfloffe und Fächer des Unterrihts an den 
Gejinnungsunterricht ſich möglichſt anſchließen, ihn ergänzen; 
überhaupt müſſen alle Kenntniffe unter einander mögſtlichſt verfnüpft 
werden. Wir entjcheiden und damit für die Goncentration, das Wort 
nicht im pedantiichen, jondern im rechten Sinne genommen. Sie tft die Ver: 
einigung des Meannigfaltigen zur Einheit in der Seele des Zöglings, um 
durch die Einheit des Bewußtjeins eine volle Perjönlichkeit heranzubilden und 
dem Gefinnungsunterrichte durch die Verbindung mit anderen Stoffen höheren 
pädagogiſchen Werth und pſychiſche Kraft zu verleihen. 

Sollen in der Seele der lernenden Jugend nit Zerſtreuung, Zweifel, 
Zwiejpalt und Unruhe eintreten, jollen Denfen und Thun nicht ein Doppel: 
leben führen; jollen ſich im werdenden Menjchen nicht mehrere geiftige Mittel- 
punfte bilden, joll aljo der innere Dienih aus Einem Guſſe fein: — fo muß 
Goncentration des Unterrichtes jtattfinden, weil die Einheit des Bewußtſeins 
durch die Mannigfaltigfeit und Berjcdhiedenartigfeit dev Bildung ſtets bedroht wird. 
Tiefe Einheit wird aber dadurd erzielt, daß das Manniafaltige in ver Perſon 
Eine reibenförmige, wohlgeordnete Borjtellungsmajfe bilver, 
in welder das Biele mit einander verſchmolzen und verwebt ift, Ein Syſtem 
von Borftellungen, in dem das Ich feinen Ei bat. Ohnehin it alles 
Einzelne und Bereinzelte in der Seele, alles vom Uebrigen abgetreunte Wiſſen 
werth- und wirkungslos, frommt in feiner Hinficht, dient weder dem Yeben, 
uch der Wiſſenſchaft, mod der Bildung des Gemüths und Willens. Nur 
ein Ganzes tit frudbbar, aud im Unterrihtee Cs muß darum in den 
verschiedenen Studien und Stadien des Willens ein Zuſammenhang ftattfinden ; 
Das Einzelne muß als organijches Glied einen größeren Ganzen, einer längeren 
Reihe von Bildungsmitteln angehören; dann ergiebt fid eine Gejammt- 
wirkung Die einzelnen Kräfte müſſen fi zu einer vollfommenen Total- 
fraft vermählen, welde dann als Produkt den höchſten Totaleffekt giebt. 
Tiefe ÖOejammtwirfung, diejer Totaleffeft wird eben bewirft 
durd die GConcentration. 

Unjer Geiſt befteht nämlich aus BVorftellungen und befommt Zuwachs 
nur durch Elare Borftellungen und ihre Vereinigungen zu Gruppen und 
Reihen, die fid) weiter zu Vorftellungsfreijen und endlid durch Verbindung 
der Borjtellungsfreife unter einander zu Borftellungsmajien erweitern. Aus 


— 


dem Vorſtellungsleben entſtehen ſodamm Gefühle, Streben, Gemüth, Sittlichkeit 
und Charakter. Ein wahres geiſtiges, ein reiches inneres Leben erwächſt aber 
nad den Lehren ber eracten Pſychologie dann nicht, wenn die Borjtellungen 
einzeln neben eimander liegen, wie die Körner eined Weizenhaufes. Alle 
Vorſtellungen müſſen vielmehr en organiſches Ganze, ein vielver- 
flochtenes Gewebe bilden, und unjer Geift muß fie beberrihen, muß 
im Stande fein, fie raſch anf einander zu beziehen und nach verjchiedenen 
Richtungen zu durchlaufen, dann wird Bhantafie, Denken, geiitvolles Weſen, 
Umficht, Geranfentiefe, genug, geiftige Kraft und geiltiges Peben entzündet. 

Alſo nicht in der Maſſe der Borftellungen, fondern in ihrer paſſenden 
Berfnüpfung, ihrer Beberrfhung liegt das wahre geiftige Yeben, 
jenes Yeben, das auch die Grundlage der Eittlichfeit bilvet, da geiltiger Stumpf: 
ſinn die Sittlichkeit befanntlich ausſchließt. 

Erwähnt jomit 3. B. das Märden vom Rothkäppchen (in der Elementar: 
Hafje) den Wald, jo wird bier im Anſchauungsunterrichte eine Borbeſprechung 
des Walres vorauszuſchicken fein und im Schreiblefeunterricht kann dieſes Wort 
auch zur Behanvdelung kommen. Die Erwähnung der Großmutter wird zur 
Behandelung der Familie und die des Wolfes zur Befchreibung desfelben führen. 
Auch der bereits behandelte und ver neue Stoff läßt fid vielfach auf einander 
beziehen. Iſt in der Gefchichte von Arminius die Rede, fo wird eine Be— 
ichreibung des alten Deutſchlands damit zu verbinden fein. Der geſchichtliche 
Stoff iſt durch paſſende Gedichte zu beleben und umgekehrt, die Dichtungen 
ſind Durch geſchichtliche Facta zu illuftriven. 

In den Sprachſtunden ift der bereit® behandelte Stoff zu Auffägen zu 
verarbeiten u. ſ. mw. 

Ausprüdlich bemerkte ich bier aber, daß man die Comcentration aud) bis 
zur Pebanterie treiben und übertreiben kann und daß es alſo auc eine falſche 
Goneentration giebt. Man kann nämlicd einen Stoff jo lange peitichen {wie 
Münchhauſen weiland einen Fuchs, bis diefer aus der Haut fuhr!), daß nur 
der Pelz zuletzt noch übrig bleibt. Es iſt indeß unweiſe gehandelt, ein Princip zu 
Tode zu reiten! Eine falſche Concentration iſt es, wenn man alle Lehrfächer irr 
und wirr durch einander wirft und, um Jacotot’8 Orundfag: „Alles iſt in 
Allem“ zu malträtiren, zur Carricatur zu entftellen, in einer Lehrſtunde vom 
Sunderiken auf's Tauſendſte kommt, beim Tiſchtaſten anfängt und beim 
Känguru aufhört. 

Ergo: Nicht pädagogiſchen Pele-mele! Jedes Lehrfach bietet eine gewiſſe 
Gattung, durch ihren Inhalt verwandter Vorſtellungen, die zuſammen ein 
Gewebe bilden. Dieſes iſt in Sauberkeit für ſich zu halten und nicht mit 
falſchen Fäden zu durchſchießen; aber von dieſem Gewebe aus dürfen und 
ſollen Fäden zu anderen GSheweben gezogen werden, fo daß fi, wie Goethe im 
Fauſt jagt, wenn man einen Faden bewegt, auf einmal taufend Fäden regen. 
Somit find die Yehrftoffe und Fächer wohl unter einander zu verbinden; doch 
joll jeder Yehrgegenftand auch feine Selbjtändigfeit wahren, eine gewiſſe Ge⸗ 
dankenprovinz anbauen, dergeſtalt, daß, wenn in der Rechenftunde Sperling: 
und Tauben zufammengezählt werten, deshalb doc feine Naturgeſchichte 
getrieben werde, 

Was den Pehritoft jelbft betrifft, jo muß derſelbe natürlicher Weiſe immer 
jo beſchaffen fein, daft er fr die fragliche Bildungsſtufe fih eignet und fübig 


25 


ift, irgend ein Imterefje im Kinde zu erweden. An leeren Trivialititen jollen 
Zeit und Kraft der Jugend nicht vergeudet werben. Da aber das Intereſſe 
vor Allem an ven Sachen, weniger an Formen ımd Zeichen hängt, ie 
muß im erziehenden Unterrihte die Beihäftigung mit Sachen die über— 
wiegende fein. 


e) Ter erziehende Unterricht zerlegt die zu gebenden Borjtellungs- 

maffen im Fleinere Ganze (methodiihe Einheiten) und bearbeitet 

dieje eingehend, indem er.nad den Geſetzen der Perception und 

Apperception das Neue auffafien läßt und in das Alte (vie bereits 

erworbenen Borftellungen) einordnet [Ölieverung (Artieulation’ und 
Bearbeitung des Vehrftoffes.] 


Wenn die Kinder dem Lehrer zugeführt werben, je ift ihre zarte Seele 
bereits feine tabula rasa, d. b. feine unbefchriebene Tafel mehr, fonvdern viele 
Borftellungen find ſchon, wenn and nur flüchtig, unbeſtimmt und ungeordnet, 
in dieſelbe eingezeichnet; und das Neue, welches wir dem Kinde bieten, birat 
meiſt einige ſchon befannte Elemente .in fi, oder findet wenigſtens Anklänge 
in der Eeele. Dem Yehrer liegt darum die Aufgabe ob, den bereits vor— 
bandenen Borftellungsfreis zu erforſchen, zu zeraliedern, zu berichtigen und 
zu orbnen und das Neue in demfelben an die gehörige Stelle einzufügen nnd 
jo die alten Vorftellungen zu modificiren. Wollte ih den Kindern z. B. eine 
Boritellung vom Yama geben, fo muß ich ihmen vie bereits befannte Vor— 
jtellung Ziege ins Bewußtſein zuriidrufen und diefe jo bearbeiten, daß Die 
Borftellung Yama gewonnen wird. Die Voritellung Baradies kann dem 
Kinde nur dadurch zugänglich gemacht werden, daß es die einer befannten 
ihönen Gegend in fich hervorruft und modificirt. Dieſer wichtige pinchiiche 
Vorgang beift Apperception, d. h. die Bildung neuer Borftellungen aus 
den bereits befannten und Umarbeitung der eriteren, während die Aufnahme 
völlig neuer Vorftellimgen Perception genannt wird. , Beide Fuuectionen 
geben bei allen Menſchen ganz nach denjelben Gejegen vor fid, und der Yebrer 
bat diefe behufs Erzeugung klarer und richtiger Vorftellungen jorafültig 
zu beachten. Da in der Seele das Neue immer ſchon befaunte Elemente oder 
Anklänge vorfindet, fo ift ftrenggenommen jedes Yernen und Weiterlernen nur 
ein Apperceptionsprocen, d. b. ein pfychologiiher Vorgang, durch melden 
eine Aſſimiliriung des Aufzunehmenden an das Vorhandene bewirkt wird, 
Außerdem ift noch zu berücdfichtigen, daß der finpliche Geijt nicht eine Vor— 
ftellungsmaffe auf einmal aufnehmen und geiftig verbauen kann; jedes dar- 
gebotene Ganze ift darum im feine Theile zu zerlegen und jeder iſt einzeln 
genan und allfeitig zu betrachten, 

Die Zergliederung der über einen gewilfen Gegenſtand bereit& vorhandenen 
Vorftellungen können wir Analyſe, die Hinzufügung des Neun Syntbefe 
nennen. Beide Functionen jollen fih nah dem Früheren noch auf concretem 
Boden bewegen und eine richtige Kenntniß des Einzelnen vermitteln. 

Diefer erfte Schritt bei Behandlung eines Mannigfaltigen giebt uns alfo eine 
Menge Harer Einzelworftellungen (Klarbeitsftufe) Nun wächſt aber unfer 
Geift beſonders dadurch, daß wir das Verwandte in den Borjtellungen zufammen: 
fafien und Allgemeines, db. Begriffe, Geſetze, Regeln und Grund— 


26 


ſätze daraus abftrahiren. Dafür jorgt der nächte Schritt im Unterrichte. Man 
erinnert deshalb die Echüler an bereits befannte Fälle oder Beifpiele, welde 
zu denjelben Begriffen oder Gejegen u. ſ. w. gehören, läßt dieſe ableiten 
und die Schüler im Gebrauch diefer Begriffe üben. Dieſen zweiten Schritt 
fönnen wir den der Vereinigung des Vielen (Ajfociation) nennen. Die 
Etufe der Aſſociation it das Turnier der Fantaſie; es werben Com— 
Ginationen gebilvet, Vergleiche angeftellt u. f. w. Nun -müffen die gewonnenen 
Nefultate aber auch geſammelt, zufammengeftellt, georbnet und mit bereits Be- 
fanntem in Reiben gebradht und mit Etifetten verjehen werben, wie vie 
Büchſen eines Faches in einer Apotheke, und ähnlich, wie die Fachwiſſenſchaften 
die Begriffe ordnen (Syftem — 3. Schritt); endlich ift 4) das Syſtem in 
anderer Ordnung zu durchlaufen und durch Anwendung bdesfelben zu be 
feſtigen Gebrauch). 

In ſolche Stufen ſoll man alſo ein kleines Unterrichtsgaunze einen Ab— 
ſchnitt zerlegen und es im etwa zwei bis drei Lehrſtunden durcharbeiten. Frei— 
lich nicht jeder Stoff kann und joll jo ausführlich behandelt werden, ſondern 
vor allem der Stoff, der ein Mannigfaltiges darbietet (alſo z. B. eine 
gejchichtliche Erzählung, ein Gegenjtand der Geographie oder Naturkunde), aus 
welhem der Zögling Begriffliches ableiten kann. 

Jede diefer vier Stufen übt eine gewilfe Art der Gedankenbewegung 
oder geiftigen Thätigkeit, z. B. die erfte Stufe das Vorſtellen, vie 
zweite die WFantafiethätigfeit; das Syſtem übt das Abjtrahiren und Begriffe: 
bilden u. ſ. w. 

Verſuchen wir, ein Beiſpiel folder Bearbeitung zu geben! Angenommen, 
einem etwa zehnjährigen. Knaben wäre in der Geometrie bereits der Begriff 
„Körper“ bekannt, und ich wollte nun an einem vierjeitigen Prisma von 
Holz die Begriffe: Fläche, ſenk- und wagerechte Fläche, Kante, ſenk- und 
wagerecdhte Kante, Eckpunkt entwideln, jo wirde ſich diefe methodiſche Einheit 
in folgende Stufen zerlegen laſſen: 


A. Stufe der Klarheit. a) Analyſe. Erforichung deſſen, was die Schiller 
bereits vom Priema im Bezug auf feine Form willen, 3. B. daß es trei 
Ausdehnungen, jehs Seiten und zwölf Kanten hat u. ſ. m. 

b) Syntheſe. Genaue Betradytung des Einzelnen, d. h. jeder einzelnen 
Fläche und Kante des Prisma. Jede Fläche begrenzt den Körper und läft 
ih nad zwei Zeiten bin meſſen. Die zwölf Kanten begrenzen die Flächen 
und laſſen fi nur nad einer Seite meſſen. Die acht Eckpunkte begrenzen die 
Kanten und haben feine Ausdehnung, Stellung der Flächen und Kanten 
zu einander (wagerechte, ſenkrechte. 

B. Affociation. Bejchreibung anderer Prismen, welche dem Zöglinge 
bereit aus jeinem Yeben oder der Heimathskunde befumt find, z. B. eines 
Balfens, einer Mauer, eines Badjteins; dann eines Würfels von Papier, 
eined breifeitigen Prisma von Ölas. Hier muß ter Schüler vom Stoffe, 
der Größe, der Farbe und anderen zufälligen Merkmalen abjehen, um ven 
reinen Begriff der Form: Fläche, ſenkrechte Fläche, Yinie u. j. w. zu gewinnen. 

C. Spflem. Ein Körper hat drei Ausdehnungen. Cine Fläche ift vie 
Grenze der Körper, eine Yinie die Grenze ver Fläche und ein Punkt bie 
Grenze der Yinien ine Fläche hat zwei Ausdehnungen, eine Yinie eine, ein 


27 


Bunt? feine. Eine ſenkrechte Fläche ift u. ſ. w. u. f. mw. Bildung der Begriffs- 
reihe: Körper, Flächen, Yinien md Punkte. Bergleic des Syitems 
mit dem gedrudten Lehrbuche oder Yeitfaben. 

D. Beherrſchung und Gebrauch des Spflems. Durdjlanfen vesjelben 
in anderer Ordnung, 3. B. vom Punkte aus bis zu den Körpern. Begriffs: 
reihe: Punkt, Yinie, Fläche, Körper. — Entſtehenlaſſen der Yinien durch Be— 
wegung der ‘Punkte, der. Flächen durch Bewegung der Linien, der Körper aus 
Flächen. Beantwortung von Fragen. Befteht ein Körper aus Flächen? und 
warum nicht? Beſteht eine Fläche aus Yinien, eine Linie aus Punkten? Nach— 
weten der Beariffe an dem Schulzimmer. Zeichnen. 

Da die Artikulation des Unterrichts, d. h. die Gliederung desſelben in 
die bezeichneten vier Formalſtufen, für eine gründliche Bildung von hober 
Wichtigkeit ift, jo geben wir nod ein zweites Beifpiel und zwar aus ber 
teutichen Grammatik. 

AS Biel wird aufgeltellt: ein meues Glied des erweiterten Satzes, 
nämlid das Object, kennen zu lernen, nachdem die weientlihen Satztheile, 
Subject und Prädifat, und außerdem noch das Attribut bereits bekaunt find. 


A. Stufe der Rlarheit. a) Analyfe Betrachtet Die in dem Leſe— 
ftüde „Die Pflanzen und das Licht“ vorgefommenen Sätze in Bezug anf ihre 
Satztheile: 

1) „Die Pflanze liebt das Licht.“ 

2) „Die Pflanzen genießen des Lichts.“ 

3 „Die Blumen find ihr (der Sonne) zugewendet.“ 

4) „Cie Frieden an der Mauer bin.“ 

5) „Sie freuen fid über das Licht.“ 

Ihr kennt bereits das Subject und das Prädikat, nennt fie! Im erjten 
Sag iſt „Pflanze“ das Zubject und „liebt“ das Prädikat, im zweiten Pflanzen 
u. ſ. w. Die heißen num die nadten einfachen Säge? Die Pflanze liebt. Die 
Pflanzen genießen u. j. w. Betrachtet dieje Süße, was füllt Euch dabei auf? 
(Seid Ihr befriedigt, wenn ich dieſe Furzen Züge ſpreche? Darf id fie 
ichlieren?) Die Säge find noch nicht fertig, find noch nidt ganz Es fehlt 
in Ihnen nody Etwas, was nothwendig da ſein muß. Welcher Sastheil giebt 
noch feinen vollftändigen Einn? Das Prädifat. Zu welden Satztheilen ge- 
hören alfo die Wörter, welche in den erweiterten Sätzen nody beigefügt find? 
Zu den Prüdifaten. Was find es für Wörter? Hauptwörter und Fürwörter. 

b) Syntheſe. Ihr feht, die Wörter „lieben“, „genießen“ u. |. w. 
geben allein nod feinen vollſtändigen Sinn; es fehlt noch die Angabe des 
Gegenſtandes, der geliebt, der genofjen wird. Diefer Gegenitand muß noth— 
wendig noch beim Prädikate ftehen. Es tft dieſer „Licht“, „des Yichts“ u. ſ. m. 
Da nun diefer zum Prädikate nothwendig gehörende Gegenftand, auf melden 
das Prädikat ſich Hinrichtet oder bezieht, dasſelbe ergänzt, jo nennen wir 
im Ergänzung oder Object. Die Objecte find: Yicht, Des Yichtes, 
ihr (der Sonne), an der Mauer, über das Licht. — Sie ergänzen die Prädikate: 
liebt, geniehen, find zugewenvet u. j. w. Fragt jest nach dem Dbjecte im 
eriten Satze. Wen liebt die Pflanze? Im zweiten u. ſ. w. Weſſen ge 
nießen die Pflanzen? Wem find die Blumen zugewendet? Da das Object 
einen Gegenſtand bezeichnet, jo muß es was für ein Wort fen? Was iſt es 


28 


im dritten Sage für ein Wort? (ihr). Was im 4. und 5.? Hauptwolt mit 
Verhältnißwort. 

B. Affociation. Nun nennet bekannte verwandte Beiſpiele aus anderen 
Leſeſtücken. Aus dem Yejejtüde: „Göttliche Fürſorge“ von Sartorius werben 
genannt: „Die Leute heifen es (das Kraut) Reſeda.“ Nennt das Prädikat ! 
heißen. Welche fragen entiteben? Wen heift man Reſeda? Es (bass 
Kraut); und melden Namen giebt man ihm? over wie heißt man es? 
NRejeda Es und Reſeda find Ergänzungen, weil jie den Gegenjtand 
nennen, auf welden das Heißen ſich bezieht und jo den Sinn desfelben ver- 
vollftändigen. Es find zwei Ergänzungen auf die Fragen men? und was? 
Weitere Säte des Yejeftäds find: „Der Geruch ver Blürhe übertrifft alle 
Würze.“ „Diejes Kraut befucht ein Schmetterling.“ — Objecte und zwar mit 
Beifügungen find: Würze und Kraut. 

Nennet Beijpiele aus der Erinnerung: 1) Robinſon entfloh den Eltern. 
2) Er war denjelben nicht gehorfam. 3) Der Kranke bedarf des Arztes. 
4) Napoleon gab den tapferen Soldaten den Orden der Ehrenlegion. 5) Joſeph 
war Benjamin ähnlich. 

Dieſe Säge werden bejprocden. Auf welde Frage jtcht das Object im 
eriten Sage? Auf die Frage wem? Was bezeichnet es? Eine Perjon. 
Ebenſo im zweiten und vierten Sage. — Wie viele Ergänzungen hat der vierte 
Sag? — Zwei; eine auf die Frage wen? bezeichnet die Perjon, und eine 
auf die Frage wen? die Sache. — Was für ein Wort ift das Prädikat im 
zweiten und fünften Sage? — Giaenfchaftswort (mit Hilfezeitwort). Im ven 
übrigen Sägen? Thätigfeitswort. 

C. Hpflem. Zuſammenſtellungen und Ordnungen der gewonnenen Unterrichts: 
rejultate. Wir kennen bis jeßt vier Arten der Sabgliever des ermeiterten 
Satzes: Subject, Prädikat, Attribut und Object. Die Prädikate bedürfen, 
wenn fie Thätigkeits- oder Eigenfchaftswörter find, oft no der Objecte, vd. b. 
folder Haupt oder Fürwörter, welde den Gegenftand bezeichnen, der zur Ber- 
vollftindigung des Sinnes nothwendig nod zum Prädikat gehört, oder auf 
welche dasſelbe ſich binvichtet. Das Object kann entweder ein Haupt« oder eu 
Fürwort jein, oder ein Hauptwort mit einem Verhältnißworte; es kann fteben 
im Wenfall (vierten Fall), oder im Wemfall (pritten Fall), oder im Weilenfall 
(zweiten Fall. Ein Prädikat kann auch zwei Objecte haben, das eine im 
dritten Tall, Das andere im vierten. Das Prädifat im Wemfall bezeichnet 
die Perjon, das im vierten Fall die Sache. Nur wenn zwei vierte Fälle 
jtehen, bezeichnet ein vierter Fall die Perſon. Ein Object kann wieder durch 
eine Beifügung näber beſtimmt werben. 

D. Anwendung und Einübung des gewonnenen begrifflihen Materials. 
— Suchet alle Ergänzungen aus einem (pallend gewählten) Leſeſtücke! Welche 
ftehen im zweiten Falle, welche im dritten alle? u. ſ. w. Bilder Sätze, in 
denen Berfonergänzungen vorkommen; desgl. mit Sacdergänzungen. Bilder 
Sätze, in denen das Brädifat ein Zeitwort mit Ergänzungen, ferner in denen 
es ein Eigenſchaftswort mit Objecten ift! — Bildet Säte mit folgenden Zeit- 
wörtern: tragen, geborchen, geben 2c.; ferner mit folgenden Eigenſchaftswörtern: 
bedürftig, ergeben, ſtolz ꝛc. Macht in folgenden Sätzen die Ergänzung 
zum Subject: Napoleon eroberte Italien (Italien wird von Napoleon 
erobert) u. ſ. w. 


* 


29 


Wird in ähnlicher Weife der Lehrſtoff gegliedert und verarbeitet, erhalten 
tie Kinder Flare, ftarfe, bleibende Einzelvorjtellungen und bejtummte Begriffe, 
jo entſteht Yernfreudigfeit und Eifer und fomit ein reges und dauerndes In— 
terefie für die Objecte, und der Unterricht erzeugt als Grundlage für ven 
ſittlich-religiöſen Charakter den Reichthum des Geiſtes. 

Sind die Schüler in einem folhen Gange und einer jolben Durcharbeitung 
des Stoffes längere Zeit geübt, To laſſen ſich fpäter bei reiferer Auffaſſung 
tiefe vier formalen Stufen raſcher durchlaufen und kürzer behandeln. 


d) Ein erziehender Unterridt wendet endlidh ein piydo- 
logifh richtiges äußeres Berfahren bei der Mittheilung des 
Lehrſtoffes an. 


Führte uns Punkt e) in das Reich der Methode, d. h. des ftreng 
geſetzmäßigen und nothwendigen Ganges oder der feſt betimmten Richtung, den 
der Unterricht zu gewiffen, klar gedachten Ztelen nimmt, jo führt uns Punkt 
A) in das Gebiet der Yehrformen, als der äußeren Berfahrungsmetjen oder 
der Geftaltung der Darbietung des Unterrichtsftoffes ; beite Gebiete, Methoden 
und Yehrformen, find wilfenschaftlich ftreng zu trennen. 

Methoden und Pehrformen find wichtige Producte der Pſychologie; über 
fie giebt e8 darum fo gewiß ein allgemein giltiges Geſetzbuch, fo gewiß als 
alle menfhlihen Seelen in ihrem Vorftellen, Denken, Fühlen und Wollen im 
Allgemeinen von denjelben Geſetzen beherriht werden. Zur Behandlung eines 
gewiſſen Stoffes giebt es eine beitimmte Methode und Pehrform, welche alle 
Pädagogen fir zweckmäßig erfennen. Wie falſch ift es alfo, zu jagen: 
„Der Pehrer ift die Methode; jever Lehrer bilde fich feine eigene Methode!“ 
Mit nichten! Jeder Yehrer hat mur ein Anrecht, feine eigene Manier zu 
haben, im Webrigen ſteht er unter dem allgemeinen und ftrengen Code de la 
methode, wie eimft alle Franzofen unter dem Code Napoléon. Methoden 
giebt es eigentlich mr zwei: 1) die analytifche, welche den bereits vor— 
handenen Gevanfenfreis des Zöglings zerlegt oder erläutert und ihn 
dabei zugleich vervollſtändigt, berichtigt und ordnet ımd fo den geiftigen Boden 
zur Aufnahme des Samens bereitet, und 2) die ſynthetiſche oder er= 
meiternde, welde den Geift über feine gegebenen Grenzen hinausführt, alfo 
neuen Samen jtreut. 

Die fonthetifhe Methode kann nun wieder zerfallen: a) in die dar— 
ftellende, welcde, wie 3. B. in Gefcichte und Geographie meiftens geſchehen 
muß, neue Begebenheiten oder Einzelvorftellungen von Sachen vorführt, ober 
b) in die entwidelnde, welche aus eimer vorliegenden Grundlage neue 
Begriffe, Gefege und Negeln erzeugt und gewinnt (wie z. B. in der Geometrie). 

Alle diefe Methoden find aut an dem Orte, wo fie bingehören, und 
namentlich räumt der erziehende Unterricht dem entwidelnden Verfahren 
die möglichjt größte Ausdehnung ein, weil es höhere Intereſſen, namentlich 
das Speculative, anzuregen vermag. 

Was nun die PYehrformen betrifft, fo unterjcheidet die willenjchaftliche 
Pädagogik deren vier: 


30 


1) Die deiktiſche (vorzeigenve), 

2) die akroamatiſche, welche in einem 
ununterbrodenen Bortrage des Pehrers befteht, 

3) die dialogiſche oder katechetiſche, 
welche im freien Geſpräche zwiſchen Lehrern 
und Schülern beſteht, Es findet ein geiſtiger Wechſel— 

— verlkehr zwiſchen Lehrern und Yernen- 

4) die heuriſtiſche, welche durch Stellen pen ftatt. 
von Aufgaben und Zielpunften die Site 
zum Selbſtſuchen auffordert. 

Melde dieſer vier Lehrformen empfiehlt der erziehende Unterricht? Cinen 
Mafftab zum Meffen ihrer Qualität haben wir an der Erregung der Selbit- 
tbätigfeit, weil diefe die Beringung ift, ımter welcher erft die Yernthätigfeit 
in Gemüth und Willen übergeben kann. Offenbar muß von dieſem Geſichts— 
punkte aus auf allen — niederen, mittleren und höheren — Stufen des 
Unterrihts die heuriſtiſche Yehrform, und nächſtdem die dialogiſche, 
eine Ddominirende Stellung einnehmen. Pſychologiſch richtig verführt man bei 
ihrer Anwendung, wenn man Die Zöglinge zur Erringung einer Erkenntniß 
denſelben Weg - führt, den der menſchliche Geiſt früher einſchlug, als er die 
Wahrbeit zum erjten Male entvedte, d. i. wenn man genetijch verfährt. 

„Heuriſtiſch“ und „genetijch“ find ſchwerwiegende Worte, die mit 
goldenen Yettern über jede Schulthür zu jegen find! Nicht abitracte Refultate 
einer Wiſſenſchaft find als fertige Wahrheit au die Jugend beranzubringen, 
jondern diejelben find von den Schülern, und jcheinbar auch von den Yehrern, 
zu juchen. Nach Diefterweg wird man ja nur ftarf im Geifte durch Wahr: 
heiten, welche man ſelbſt gefunden, geſchaut und gedacht bat; nad feiner Anlicht 
ftärft nicht die angeerbte, traditionelle Wahrheit, ſondern nur die jelbit 
erworbene; und nach Ziller*) erwärmt aud Das, was man fidh jelbit er: 
worben und zur bejtimmten Ueberzeugung burdgebilvet bat, das Gefühl 
Demnach joll der Schüler die edle Freude des eigenen Suchens und Arbeitens 
genießen lernen. 

Auch die anderen Pehrformen haben ihren relativen Werth, d. b. jie jind 
löblib am paſſenden Orte. So iſt bei dem barftellenden Unterrichte im ber 
Gejhichte und beim Zufammenfafien einer längeren Gedankenreihe, beim Zu— 
fanımenjtellen eines Syitems behufs Gewinnung der Ueberfiht der akroamatiſche 
Unterricht geboten. 

Daß man zuvörderſt immer den inpuctiven Weg, d. b. vom Concreten 
zum Abftraften gebt, dabei möglichſt anſchaulich, alfo veiftifch (worzeigend, 
verführt und die Einzelvorftellungen fo durdbildet, daß daraus Die 
höheren Begriffe hervorgquellen, daß man ferner erſt ſpäter — nad der Ge— 
winnung eines Hleineren oder größeren Syſtens — aud vom Olymp der All: 
gemeinheit wieder zum Befonderen herniederfteigt, bedarf wohl Feiner beſonderen 
Erörterung mehr. Man laffe fih durch die befannte Regel ver Wulgär- 
pädagogif: „Bom Einfahen zum Zufammengejegten“, eine Regel von 
jehr zweifelhaften Werthe, nit zur Berwechfelung der Anfangsgründe 
mit den Elementen des Unterrichts verleiten! Das Concrete (die Anfangs— 


| In beiden ift der Lehrer allein 
| thätig. 


*) Borlefungen Über allgemeine Pädagogik. Yeipzig, Matthes (Schilde), 1876, 827. 


31 





gründe) ift immer ein Zufanmengefegtes; erſt durch Analyſe und Abftraction 
gelangt man zu den Elementen, dem Einfachen; aljo von der Erfceinung zu 
einfachen Procefien, vom Körper zur Fläche, von der Figur zu Pinien, von 
diefer zum Punkte, vom Sage zum Worte und deſſen Formen, vom Worte zu 
den Yauten u. j. w., das tft der pſychologiſch richtige Gang des Unterrichts. 

Ein ferner ſehr wichtiger Punkt bei der Behandlung des Unterrichtsitoffes 
iſt die Uebung. Sol nämlid aus dem Interefje das Wollen hervorgehen, jo 
muß das Wiſſen des Zöglings ſich in das Können verwandeln, und dies 
geſchieht nur durch ein wahres, aljo ein der Biychologie entjprechendes Ueben, 
d. h. durch die öftere Wiederholung einer Thätigfeit mit dem Zwecke des Er- 
lernens; zur Uebung gehören unter Anderem auch die jogenannten Repetitionen 
und das Memoriren. Durch tichtige Uebung lernt der Schiller die technifchen 
Ecmierigfeiten überwinden und fommt zum freien Gebrauch der Kraft. Abge— 
ſehen Davon, daß die Uebung den ſchnellen und fiheren Gebrauch einer Fertigkeit, 
3. B. des Leſens, Schreibens, Rechnens, Zeichnens, für das fpätere Peben 
werthvoll macht, jo ift auch eine wahre Uebung in der Reihe der Hilfen für 
den erziehenden Unterricht ein beacdhtenswerthes Glied. Sie darf weder ein 
bloßes Mecdanijiren, noch ein todtes Abrichten,  fondern muß ein geiitwolles 
und geiftbilvendes Thun fein, weldes auf dem Intereſſe und der Freude am 
Lernen ruhen ſoll. 

Faſſen wir jetzt die Erörterung über unſer Thema in Theſen zuſammen. 


3. Theſen über den erziehenden Unterricht. 


N) Der nicht erzichende Unterricht ik cin ſolcher, welcher nur das Wiſſen 
und Können des Ichülers als Selbſtzwech, oder ad hoc befördert, ohne auf die Bildung 
des Willens Rückſicht zu nehmen. 


2) Der erzichende oder pädagogifdhe Unterricht dagegen if der Anban und 
die Geſtaltung des Gedankenkreifes des Döglings, um durch die Pflege des vielſeitigen 
Interelfes einen filllich religiöfen Charakter heranzubilden. 

3) Ibm zur Ichte muß die Zucht gehen oder die Erziehung im engeren Sinne, als 
die unmittelbare Einwirkung auf den Willen des Böglings zur heranbildung eines 
fitlic -religiöfen Charakters (durch Beifpiel, Strafe, Umgang 1c.). 

4) Die Vorbedingung und Stütze des erziehenden Unterrichts und der Bucht if die 
Regierung oder die Pflege der mittelbaren Tugenden (— bewußtlofer Gewöhnungen), 
wie der Ordnung, der Reinlihkeit, der Pünktlichkeit, des Fleißes, des Auf- 
merkens, des Btillfihens, des äußeren Gehborfams, wodurch Störungen von 
Unterricht und Bucht ferngehalten werden (Disciplin). 

5) Ein erziebender Unterricht kann und fol anf allen Unterridhisfinfen, aud 
fdyon in der Elementarklaffe, Rattfinden. 

6) Demfelben find die religiöfen und filtlihen Ideen das Eentrum feiner 
Thätigkeit. 

T) Er führt der Jugend die fittli = religiöfen Lehren durch wertbovolle ge- 
ſchihtliche und poctifhe Stoffe, welde im engen Anſchluſſe an die kindlide Ent- 
wickelung fortfdjreiten, in concreier Geflalt vor, 


32 





8) Dirfer werthwolle, klaſſiſche Erzählungsſtoff (Fabeln, Märden, Legenden, Parabein, 
Gedichte, biblifhe Geſchichten, Menſchen- und Feitbilder aus der Weltgeſchichtt), deßen Kr- 
handlung den Gefinnungsunterridht bildet, il durd geographiſchen, naturkundlichen 
und mathematifhen Unterricht, fo wie dur die ſprachlichen Fächer und die Fertigkeiten zu 
ergänzen, zu Rüben und zu Iragen (Ergänzungsunterridt). 


9 Es finde eine Eoncentration des Unterridts, d. h. cine Verbindung der nicht 
gefhichtlihen Fühler unter einander und mit dem Gefinnungsunterridte behufs Vereinigung 
des Mlannigfaltligen zur Einheit im Bewnßtfein des Zöglings fatt. Es giebt aud cine 
falſche onceutration, weldye das Princip übertreibt, ale Fächer chaotiſch ducdeinander- 
wirft und die relative Selbländigkeit der Lehrfächer ganz anfhebt. 


10) In formaler hinſicht muß auf jeder Unterrichtstufe dem ſynthetiſchen 
Gange ein analytiſcher vorausgehen. Der analytiſche Unterridt bearbeitet den 
geiligen Boden zur Aufnahme des Menen, d. b. er zergliedert, berichtigt und ordnet die 
über das neue Unterrihtsobject bereits bekannten Vorfelungen; der ſyuthetiſche 
füet fodanı den neuen geifligen Samen In deu fo bearbeiteten und zubereiteten Boden ein. 


Sehr zu empfehlen ih die genetifhe Methode, welche daranf beruht, daß die Ent- 
wickelung einer Jade durch die Entwirkelung des Begriffs reproducirt wird, daß die Darftellung 
zeigt, wie die Sacht bervorgebradt wird. 


11) Der erzichende Unterricht freitet bei jedem meuen kleinen Abfdnitte (jeder 
methodifhen Einheit) im folgenden vier formalen Stufen fort: a) Stufe der 
Klarheit (d. h. genaue Vorflelung des vorliegenden Einzelnen); b) der Affociation 
(Anführen bereits bekannter, verwandter Fülle und Beifpiele); c) des Inkems (Bu- 
fammenfcllung des gefundenen Begriffliden und Allgemeinen und Ordnen desfelben in Reihen), 
und d) der Alcihode (Ergänzung, Anwendung und Einibung der Unterrichtsrefnitate ; 
Durdjlaufen der Reihen im verfhiedeuer Ordnung 1c.). 


19) Für den erziehenden Unterricht find die wichtigen Lchrformen, d. h. die 
äußeren Geflaltungen der Darbietung des Unterrictsfoffes: die Deiktifche (vorzeigende), 
die dDialogifhe, vor Allem aber die heuriflifhe. Aud die acroamatifde £ehr- 
form hat am gehörigen Orte ihren Werth (relativer Werth der Lehrformen). 

13) Widtig für einen erzichenden Unterricht if ein den Lehren der Pſychologle ent- 
ſprechendes, vom felbfihätigen Intereffe des Zöglings getragenes Heben. 


III. 


Kurze Beſprechung der anderen Factoren der Schulerziehung: 
Regierung, Zucht und Schulleben. 


Aus unſerer Darlegung dürfte wohl erhellen, daß der erziehende Unter: 
richt auch kenntnißreiche und in den Wertigfeiten woblgeübte 
Schüler bildet, aljo nad ven gewöhnlicden Anforderungen des Yebens ein 
„guter“, ja, daß er das Ideal des Unterrichts üt, daR ferner ber 
erziehende Yehrer der Meifter der Schulmänner ift, der, um dieſes Namens 
würdig zu fein, auch feinen, ven Wiſſenſchaften entlehnten Unterrichtsftoff völlig 


33 


beherrſchen muß und gewiß mit feiner Yehre aud eine wäterliche Zucht und 
Disciplin verbinden wird. 

So beantworten wir die oben in Abjchnitt IT viefer Schrift ſchon er- 
wähnte Preisfrage des mwürttembergifhen evangelifhen Confiftoriums in ihrer 
zweiten Hälfte („ob durch den Unterricht die erziehlice Aufgabe der Volks— 
ſchule ganz gelöft werden könne?“) ſchließlich nod dahin, daß dieſe Yöjung der 
Unterricht allein nicht zu bewirfen vermag, fondern die Schulzucht, das 
geeignete Schulleben und die Regierung (Disciplin) noch hinzutreten 
müſſen. Wir wollen in legterer Hinfiht nur Einiges andeuten. 

Die Regierung der Zöglinge ift wohl von der Zucht zu unter 
ſcheiden. Die erftere ‚ift nicht eigentliche Erziehung, da fie nur mittelbar und 
propädeutiſch dem Erziehungszwede dient, indem fie den Zögling jo lange dem 
Willen des Erzieherd unterwirft, als erjterer nod feinen moraliſchen Willen 
haben kann. Die im Zöglinge auftretenden Begierden, durch welche der Unter: 
richt, die Schulzucht und das Schulleben in ihrer Wirkfamkfeit gehindert werben 
könnten, jollen ferngehalten oder überwunden, der für die Wirkſamkeit der ge- 
nannten Crziehungsfactoren günftige Geifteszuftand bereitet und bewußtloſe 
Gewöhnungen, als mittelbare Tugenden, nmamentlihd aber Gehorjam 
gejchaffen werden. Die Regierung tritt ſchon vor der eigentlihen Erziehung 
ein und begleitet fie jo lange als Nothbehelf, bis die vernünftige Erkenntniß 
und der moralifhe Wille des Zöglings fie als überflüſſig erjcheinen laſſen. 
Ihre Mafregeln beftehen vor Allem in Beſchäftigung (Spiel und Arbeit), 
ferner in Aufſicht, Einführung einer genauen Ordnung und feiter Sitten, 
in Befehl und Strafen; fie wird durch Autorität und Yiebe unterftügt. 

Die Zucht dagegen ift eine das Innere des Zöglings direft gejtaltende 
und umgejtaltende Thätigfeit des Erziehers. Ihre Mittel und Hilfsmittel 
find: Das Vorbild der Schüler, die Piebe, Autorität und zeitweife eintretende 
Aufficht der Lehrer, der Verkehr der Zöglinge unter einander, die Schule ale 
fittlihes Gemeinwefen, Hemmung der Affecte und Peidenihaften durch ablentende 
Beichäftigungen und Spiele der Schüler, Schulfeite, Spaziergänge und Reiſen, 
ob, pädagogiſche Beitrafungen und Belohnungen, Ermahnung, Lektüre, Schul: 
andachten und der Beſuch des Gottesvienftes, genug, fie beftehen in Allem, 
was zur Anlegung und Pflege eines fittlic) = religiöfen Charakters unmittelbar 
dient. Das Schulleben muß diefe Mafregeln dadurch fürdern, daß in ihm 
Frohſinn und Heiterkeit, die treuen Begleiter der Tugend, einfehren, und der 
Geift der Gottesfurcht, der Yiebe, des Friedens und der Sittlichfeit Die ganze 
Anftalt durchwehe und ein feines, anftändiges Verhalten fie ziere und ſchmücke. 

Gewiß, es iſt eine herrliche Aufgabe, dem Wejen des pädagogiſchen Unter: 
richts nachzuforſchen und eine Erziehungsjchule zu ſchaffen und zu leiten, und, 
wenn eine Nation ſolcher Schulen fähig und werth ift, jo ift es die deutſche; 
jie darf auch im diefer Hinficht hoffuungsvoll der Zukunft entgegenjeben. 

Wir fonnten in unferer Erörterung des jchwierigen und umfangreichen 
Thema freilih nur auf die wichtigften Punkte hinmeifen, keineswegs basjelbe 
erſchöpfen. Wir find zufrieden, wenn wir dem Leſer einige Fingerzeige ertheilt, 
die Gefichtspunfte, welche maßgebend jein dürften, bezeichnet und jein päda— 
gogiſches Nachdenken angeregt haben. 

Die gegebenen Gefihtspunfte und Fingerzeige werben aber von der 
Moral und Piyhologie gelehrt. So gelangen wir alfo alien wieder 

Fröhlich, Etziehungsſchule. 


34 


zu unferem Motto: „Der erziehende Fehrer findet in der Moral 
und in der Pſychologie zwei fihere Leitfierne; der eine be- 
leuchtet das Ziel, der andere den Weg.“ 


IV. 
Unterrihtsbeifpiele. 


Wir geben zur Berbeutlihung unjerer Borfchläge über ben erziehenden 
Unterricht noch einige Beifpiele, und zwar über einen wichtigen Theil desfelben, 
die Behandlung des geihichtlihen Materials als Concentrationsftoffes. 


1) Behandlung eines Märchens. 


Nachfolgendes Märden, „die fieben Geislein“, wird fi unferes 
Eradtens für Kinder von 6 bis 8 Jahren, aljo für die Elementarklaſſe, zur 
Erzählung und weiteren Betraditung gut eignen. 


Die fieben Geislein. 
(&. ©. 38 ff. in Soeflmann.) 


A. Es ift einmal eine alte Geis gewefen, bie hatte fieben junge Zidlein, und 
wie fie einmal fort in den Wald wollte, bat fie gefagt: „Ihr lieben Zidlein, nehmt 
euch in Acht vor dem Wolfe und laßt ihm nicht herein, fonft ſeid ihr alle werloren.“ 
Darnach ift fie forigegangen, 

B. In einer Weile rappelt Etwas an der Hausthüre und ruft: „Macht auf, 
macht auf, liebe Kinder! Euer Mütterlein ift aus dem Walde gelommen!“ Aber bie 
fieben Geislein erfannten’8 gleih am der groben Stimme, daß das ihr Mütterlein nicht 
war und haben gerufen: „Unfer Mütterlein hat feine fo grobe Stimme!” und haben 
nicht aufgemacht. i 

Nah einer Weile rappelt's wieder an ber Thüre und ruft ganz fein und leije: 
„Macht auf, macht auf, ihr lieben Kinder! Euer Mütterlein ift aus dem Walde 
gelommen!* 

Aber die jungen Geislein gudten durch die Thärfpalte, ſahen ein Paar ſchwarze 
nn * riefen: „Unſer Mütierchen hat keine ſo ſchwarzen Füße!“ Und haben nicht 
aufgemacht. 

Wie das ber Wolf, denn er war es, gehört bat, iſt er geſchwind hin in die Mühle 
gelaufen und bat die Füße ins Mehl geftedt, daß fie ganz weiß geworden find, Danadı 
{ft er wieder vor bie Thüre gekommen, hat die Füße zur Spalte hinein geftedt und 
wieber ganz leife gerufen: „Macht auf, macht auf, ihr lieben Kinder! Euer Mütterlein 
ift aus dem Walde gefommen!“ 

Und wie die Geislein bie weißen Fühe gefehen haben und bie leife Stimme 

ebört, ba baben fie gemeint, ihr Miütterlein —8* und haben geſchwind aufgemacht. 
Aber kaum haben fie aufgemacht gehabt, fo iſt der Wolf hereingeſprungen. Ad, wie 
find ba die armen Geislein erſchrocken und haben ſich verſtecken wollen! Eins iſt unters 
Bett, eins unter ben Tifch, eins hinter ben Ofen, eins binter einen Stuhl, eins binter 
bie Thür, eins im einen großen Milchtopf und eins in ben Ubrlaften geſprungen. 
Aber der Wolf hat fie alle gefunden und zufammengebradt. Hernach ift er fortgegangen, 
bat fich in den Garten unter einen Baum gelegt und hat angefangen zu jchlafen. 

C. Wie hernach bie alte Geis aus dem Walde zurückgekommen ift, bat fie das 
Haus offen gefunden und die Stube leer; da bat fie gleich gedacht, jet ſei's nicht 
geheuer, unb hat angefangen, ihre lieben Zicklein zu juchen, fie bat fie aber nicht finden 


35 


fönnen, wo fie auch gefucht und fo laut fie auch gerufen bat, es bat keins Antwort 
gegeben. Endlich ift fie in den Garten gegangen; ba bat der Wolf noch gelegen unter'm 
Baum und bat geichlafen und geſchnarcht, daß alle Aefte gezittert haben; und wie fie 
näber zu ibm gekommen iſt, bat fie gefeben, daß etwas in feinem Bauche gezappelt hat. 
Da batte fie eine Freude und dachte, ihre Geislein eben wohl noch. Jetzt ift fie 
geihwind hinein ins Häuslein geiprungen, bat eine Scheere geholt und bat dem Wolfe 
ben Bauch aufgeihnitten, ba And ihre Geislein eins nah dem andern alle beraus- 
geiprungen und baben alle noch gelebt. Darnach hat die Alte gefhwind fieben Wadel- 
fteine gebolt, bat fie in des Wolfs Bauch geſteckt und biefen wieder zugenäbt. 


D. Als der Wolf munter wurde, hatte er Durft und ift an den Brunnen gegangen, 
um zu trinlen; aber als er einen Schritt gegangen ift, da haben die Wadelfteine in 
feinem Bauch angefangen zufammenzufchlagen, und ba bat er gelagt: 


„Ras rumpelt, 

Was pumpelt 

In meinem Baud? 

Ih bab gemeint, ich hab’ junge Geislein drein, 

Und jetst find’s nichts als Wackelſtein'!“ 

Und wie nun ber Wolf an ben Brunnen gelommen ift und hat trinfen wollen, 

fo haben ihn die Wadelfteine bineingezogen, und er ift ertrunfen, Und die alte Geis 
ift mit ihren Zidlein vor Freude um ben Brunnen berumgetangt. 


Damit die Kinder das Märchen verftehen und fih von allen in denſelben 
“ vorkommenden Gegenftänden die rechten Borftellungen bilden; damit der aus 
demjelben gezogene fittlihe Gehalt von anderen Kenntniffen ergänzt, geſtützt 
und getragen werbe, muß eine Beiprehung der Dbjecte vorgenommen werben, 
von welden die Kinder feine Hare und fichere Borftellung haben, und bamit 
bei der Erzählung der geſchichtliche Faden durch Erläuterungen nicht zerrifien 
und baburd die Spannung und das Intereffe nicht beeinträchtigt werden, muß 
diefer Ergänzungsunterriht vor der Mittheilung der Erzählung 
ftattfinden, alfo eine Borbejprehung fein. Da viefelbe an den vorhan- 
denen Borftellungsfreis der Kinder anfnüpft, diefen zergliedert, berichtigt und 
ordnet, alfo im Wefentlihen in einer Analyſe befteht, jo nennen wir ihn 
analytifhen Unterridt. Das Märchen jelbit ift das Neue, der Same, 
welcher in den bereits bearbeiteten Boden ver kindlichen Seele eingeftreut wird; 
e8 giebt aljo der Bildung einen Zuwachs und eine Erweiterung — Syntheje; 
wir dürfen aljo die Mittheilung desjelben ſynthetiſchen Unterricht nennen. 


Analpfe. Diefer analytische Unterricht findet in den für Naturkunde (An- 
Ihanungsunterriht) angefegten Stunden ftatt. Der VYehrer jagt etwa zu den 
Kindern: „Ich will Euch, Liebe Kinder, ein Märchen, vie fieben Geislein, 
erzählen. Damit Ihr dasjelbe verfteht, will ich die Dinge, welche in demſelben 
vorfommen und Euch noch nicht genau befannt find, jett erſt mit Euch be- 
Iprehen.” — Es find zu befprehen: Die Ziege, der Wolf, das Mehl und 
die Mühle, die Thür und die Stubengeräthe (Bett, Tiſch, Dfen, 
Stuhl, Milchtopf, Uhrkaften), der Garten, der Baum, die Wader- 
fteine und der Brunnen. 

Die Beiprehung erfolgt nun im ähnlicher Weife, wie das in den meijten 
Schulen im Anfhauungsunterrichte geſchieht; nur ift zu beachten, daß be- 

3* 


36 

ſonders lebendige, charakteriftiihe Züge der Naturgegenftände, welde im 
betreffenden Märchen vorkommen, auch als Ausgangspunkte fir die Betradhtung 
dienen und befonders hervorzuheben find. Solde Züge find z. B. vom 
Wolfe: Er hat eine grobe Stimme, heult, gebt, wenn er Hunger bat 
in die Ställe u. dgl. — Bon der Ziege ift hervorzuheben: fie medert, frift 
gern das Yaub und Gras des Waldes. Die Fleinen Ziegen: fHlettern gern 
auf alle Gegenjtände, hüpfen in bie Gefäße (ven Milchtopf) u. |. w. — Kommen 
die Gegenftände in verjchiebenen Märchen vor, fo treten fie meijt in anderer 
MWeife auf, und fo findet ein Fortſchritt im ihrer Befchreibung ſtatt. Im 
vorliegenden Märchen erjcheint z. B. der Baum befonders als Schatten gebende 
Pflanze; in einem andern kommt die Frucht mehr zur Betrachtung. — Hier 
erfcheint uns der Wald als Weideplag, in einem anderen Märchen (Sternthaler) 
als Schuß gegen Wind und Wetter. Dies giebt Beranlaflung, die Beſchreibung 
der Naturgegenftände allmählich zu erweitern. — Gegenftände, welche bereits 
in früheren Unterrichtöftunden beſchrieben worden find, werden nur furz wieder: 
holt. So find z. B. die Stubengeräthe unferes Märchens bei Bejchreibung 
der Schul» und Wohnftube gewiß ſchon im Anſchauungsunterrichte in den 
eriten Schulwochen vorgekommen; man braucht alfo nur kurz auf das Dage- 
wejene binzuweifen. Ebenſo find die Thür, das Mehl und die Mühle, der 
Garten und der Wald in früheren Märden bereits näher betrachtet worden. 
Es bleiben alfo hier befonders zur Betradhtung noch übrig: die Ziege, ber 
Wolf, der Baum, der Brunnen und die Waderfteine. 


Befhreidbung der Hansziege. 


Die Ziegen gehen gern in den Wald, um Paub und Gras zu freſſen; 
dort Hettern fie an den Bergen umber ꝛc. Sie rupfen das Futter mit den 
Schneidezähnen ab und zermalmen es mit den Badenzähnen. Betrachtung ihrer 
Theile nah der Orbnung: Kopf, Hals, Rumpf oder Leib und Gliedmaßen. 
Am Kopfe befinden fich zwei Augen, zwei Heine Ohren, Ober- und Unterfiefer, 
meist zwei Hörner. Unten am Sinne ift ein Bart. Statt der Arme bat die 
Ziege zwei VBorderbeine ꝛc. An den Füßen bat fie zwei Zehen, die mit Schuhen 
verjehen find ꝛc. An der Hausziege bemerkt man noch ein großes Euter, in welchem 
die Milh enthalten ift. Die Beine find dünn; der Schwanz ift Hein. Gie 
hat ein Kleid von langen zottigen Haaren. Zu erwähnen find noch: ihre 
Nahrung, ihre Jungen, ihr Nugen, ihre Farbe ſchwarz, weiß), ihre Stimme 
(Medern), ihre Eigenfchaften (ſpringen, hüpfen und Klettern gut mit den dünnen 
Beinen, find munter und muthig). 


Der Wolf. Der Wolf, ein Thier fo groß wie ein Fleiſcherhund, wohnt 
im Walde, kommt aber, wenn er fehr hungrig ift, im die Wohnmtgen ber 
Menſchen und in die Ställe. Er frift Menſchen und Thiere, bejonderd gern 
verzehrt er Schafe und Ziegen. Er beißt fie mit feinen fräftigen Zähnen todt. 
‚In feinem Maule hat er oben zwei und unten zwei lange Reifzähne, dann 
noch Yüden- und Höderzähne. Weitere Beichreibung der Theile des Wolfes 
nach dem befannten Schema: Kopf, Hals, Yeib und Gliedmaßen. Er hat eine 
fegelförmig vorftehende Schnauze, einen grauen, ſchwarzgefleckten, unten weiß 
ausjehenden Pelz, einen langen, zottigen Schwanz und ftruppige Haare. An 


37 





feinen Vorderfüßen find fünf, an den Hinterfüßen vier Zehen. Seine Stimme 
ift ein Heulen. Nahrung, Junge ꝛc. 

Der Baum. Ein Baum, den die Kinder gefehen haben, ift nah Wurzeln, 
Stamm, Aeften, Zweigen und Nebenzweigen, Blättern, Blüthen und Früchten 
zu befchreiben. 

Wackerfteine over Wackelfteine find rundliche Bafaltfteine (worzuzeigen). 
Sehen ſchwarz aus, find feft ac. 

Die bejchriebenen Gegenftände müfjen die Kinder vorher in natura (auf 
Spaziergängen), oder wenigftens in guten Abbildungen angefchaut und, wenn 
möglich, beobachtet haben. 

Der Brunnen. Bejchreibung eines Schöpfbrunnens, der bier gemeint ift. 

Syntheſe. Weil die Kinder das Märden nicht auf einmal faſſen und 
merfen können, wird basjelbe in Abjchnitte zerlegt; die Erzählung in Abſchnitten 
regt Erwartungen an und befördert jo die Spannung. Man fann 
unſer Märden in die mit A, B, C, D bezeichneten vier Abjchnitte theilen. 
Jeder derjelben bildet eine methodiſche Einheit, .‚d. h. ein für fich nad 
den befannten Formalftufen zu behandelndes kleineres Ganzes. In ven für den 
Gejinnungsunterricht beftimmten Stunden ift das Märchen zu erzählen, und ver 
fittliche Gehalt desjelben hervorzuheben. Hierbei werden natürlich die Thiere 
des Märchens als Perſonen angefehen. 

Wir geben hier in Bezug auf den Geſinnungsunterricht nur einige Winke, 
da dieſelben für denkende Lehrer genügen werden. 

Die Lehren dieſes Märchens dürften ſein: 

a) Eine liebevolle Mutter warnt ihre Kinder vor Ge— 
fahren, belehrt und ermahnt ſie zur Vorſicht. Die alte Ziege war eine 
ſolche gute Mutter, Beiſpiele aus andern Märchen werten geſucht (Affociation). 
Eine ſolche war die Mutter der Spinnerin. Beijpiele aus dem Yeben bes 
Kindes. 

b) Jedes Kind joll feinen Eltern geborden Dies thaten 
die jieben Geislein. Das faule Mädchen in den drei Spinnerinnen gehorchte 
der Mutter nicht u. ſ. w. 

e) Die Kinder jollen vorfidhtig ſein. Dies waren die fieben 
Geislein; fie wurden aber durch die größere Klugheit des Wolfes bezwungen. 

d) Du barfjt und ſollſt vi, wenn du angegriffen wirft, 
vertheidigen. 

Nothwehr. Die Geislein befanden fih dem Wolfe gegenüber in 
Nothwehr. 

e) Du ſollſt niht lügen und betrügen (wie der Wolf). 

f) Wer (wie der Wolf) Unſchuldige (die Geislein) tödtet, ift 
ein Böſewicht. Das Böſe wird beitraft. Fünftes Gebot. 

Diefe Pehren find an Beifpielen zu verdeutlichen. Einfache Bibelſprüche 
find anzuſchließen. 


2) Behandlung einer biblijden Erzählung. 


Auch bereits das alte Teftament enthält vortrefflihe Elemente zur Jugend— 
bildung. Es handelt fih nur darum, die herrlihen Schäge der Bibel in bas 


38 


Leben der Jugend überzuführen, d. i. die Gefhichten zwedmäßig zu wählen 
und in geeigneter Weije zu behandeln. Wir wählen zur Behandlung die in 
ſittlicher Hinficht lehrreihe Erzählung von: „Abraham und Fort“, welde 
ſich, wie alle Geſchichten aus der Patriarchenzeit, für Kinder von O— 11 Jahren 
eignen bürfte. 


Abraham und Lot. 
(Koblraujid, Die Geſchichten und Lehren der heiligen Schrift, Ar. 7.) 


A. Abrabam war ſehr reih an Bieh aller Art, an Knechten und Mägpen, und 
an Silber und Gold. Auch Lot, der mit ibm zog, hatte viele Schafe und Rinder unb 
Knechte und Geelte. So wohnten auch zu der Zeit bie Kananiter und Pberefiter im 
Fande. Und das Land fonnte fie beide zufammen nicht ertragen; denn ihre Herden 
waren zu groß, als daß fie hätten bei einander bleiben und dieſelbe Weideftraße zieben 
tönnen, Und es war immer Zank zwifchen den Hirten über Abrabam’s Bieb und 
zwifchen den Hirten über Lot's Bieb, 

Da ſprach Abraham zu Lot: „Lieber, laß nicht Streit fein zwiſchen mir und bir 
und zwifchen meinen unb beinen Hirten, benn wir find Gebrüder. Stehet dir nicht 
das ganze Land offen? Lieber, fcheide dih von mir. Willſt du zur Linken, jo will ic 
zur Rechten; ober willft bu zur Rechten, fo will ich zur Linken.“ 

Da bob Lot feine Augen auf und befab die ganze Gegend am Jordan; fie 
aber war, ebe denn Sodom und Gomorra zerftört wurden, ſehr waflerreih, wie ein 
Garten Gottes, gleih dem Lande Egypten. Alfo ermwäblte fih Lot bie ganze 
Gegend am Jordan und z0g gegen Morgen, und fie fchieben Einer von dem Anbern. 
Abraham wohnte im eigentlichen Lande Kanaan, welches der Herr feinen Nachkommen 
zu geben verfproden hatte; er durchzog e8 in bie Länge und Breite und fchlug zuletzt 
fein Gezelt im Eichenhaine Mamre auf, ber bei Hebron ift, und baute dem Herrn 
daſelbſt einen Altar. 


Lot aber wohnte in dem Thale des Jordan und in feinen Städten, und feine 
Gezelte erftredten fih bis gen Sodom, Die Leute von Sodom aber waren böfe und 
fündigten fehr wider ben Herrn, 

B. Nach dieſen Gefhichten begab ſich's, daf vier fremde Könige (Babylonierkönige, 
denen die Bewohner von Kanaan tributpflichtig waren) einfielen in bas and, zu 
plündern und Beute zu macen, und famen in das Thal Siddim. Da zogen aus ber 
König von Sodom und vier verblindete Könige mit ibm, und rüfteten fich, zu ftreiten 
wiber jene im Thale Siddim; und das Thal Siddim hatte viele Quellen von 
Erpbarz. Aber die Könige von Sodom und Gomorra wurden bafelbft gefchlagen und 
fielen in die Napbtba-Gruben, und was überblieb, flob auf das Gebirge. Da nabmen 
die Keinde alle Habe zu Sodom und Gomorra und alle Speife und nahmen auch mit 
fih Lot und feine Habe, denn er wohnte zu Sodom, und zogen bavon. 


C. Da kam Einer, der entronnen war, und ſagte e8 Abraham an, berba wohnte 
im Haine Mamre des Amoriterd, des Brubers von Eslol und Aner; dieſe waren mit 
Abrabam im Bunde. Als nun Abraham hörte, daß feines Bruders Sobn gefangen 
war, waffnete er feine Anechte, dreibundert und achtzehn, in feinem Haufe geboren, und 
jante den Keinden nach bis gen Dan, und theilte fih, fiel des Nachts über fie mit 
feinen Knechten und ſchlug fie, und jagte fie bis gen Hoba, im Norden von Damaskus, 
und bradte alle Güter zurück, dazu auch Lot, feinen Bruder, mit feiner Habe, und auch 
die Weiber und das Bolt. 

Als er nun wieberfam von der Schlacht der vier Könige, ging ihm entgegen ber 
Könia von Sodom in das Königstbal. Und Melchiſedek, König von Salem, trug Brot 
und Wein bervorz und er war eim Priefter Gottes, bes Höchften, und fegnete ibn und 
ſprach: „Geſegnet feift du, Abraham, dem höchften Gott, der Himmel und Erbe be 
fißet; und gelobt ſei Gott, ber Höchfte, der deine Feinde in beine Han‘ gegeben bat.“ 

Da ſprach der König von Sodom zu Abrabam: „Sieb mir die Leute zurüd, die 
Güter behalte dir.“ 

Aber Abrabam antwortete: „Ich bebe meine Hände auf zu Iebova, dem höchſten 
Gott, dem Herrn bes Himmels und der Erde, daß ih von Allem, was bein ift, nicht 


39 


einen Faden, noch einen Schubriemen nehmen will, daß bu nicht fageft, du babeft 
Abraham reich gemacht, ausgenommen, was bie Knechte verzehrt haben; und bie Männer 
Aner, Estol und Mamre, die mit mir gezogen find, bie laß ihr Theil nehmen,“ 


Wenn unfer Geift nur durch Aufnahme klarer, deutlicher BVorftellungen 
einen Zuwachs von Bildung erlangt, fo muß in allen Unterrichtsfähern, auch 
in der biblischen Geſchichte, auf die Klarheit und Deutlichleit der Vorftellungen 
bingearbeitet werben. 

Unfere biblifche Gefchichte führt den Geift der Kinder an einen fernen 
Drt und in eine ferne Zeit, alfo im umbefannte geographifhe und Fultur- 
hiftorifche Verhältniffe; damit nun der Unterricht von Erfolg begleitet fei, muß 
vor der Mittheilung der Erzählung, als Borbereitung, den Kindern ein 
Bild der genannten Berhältniffe gegeben werben, auf welchem das Verſtändniß 
der Gefchichte ruht; wenn nicht in anderen vorausgehenden Erzählungen das 
Erforderliche bereits gegeben wurde. 

Diefer Ergänzungsunterricht würde etwa Bejchreibungen ent= 
halten: 1) der Gegend (bes Schauplakes der Geſchichte), 2) des No- 
madenlebens, 3) der Brunnen ımd 4) der Waffen und ver Kampfes— 
weife der damaligen Zeit. 

Wir geben über jeden diefer Punkte einige Andeutungen. 

a) Das Pand Kanaan. Wollt Ihr, liebe Kinder, die lehrreichen Ge— 
ſchichten, welche ich Euch jeßt (von Abraham und Pot) erzählen werde, verftehen, fo 
müßt Ihr Euch mit mir in ein weit, weit von uns nach Morgen zu gelegenes Land, 
nah Ranaan, im Geilte verjegen. Che Abraham zu demjelben gelangen 
konnte, mußte er über einen großen Fluß und durch eine Wüſte reifen. Im 
Norden enthält das Pand Kanaan himmelhohe Gebirge, im DOften und Süden 
vesjelben liegen weite, öde Santmwäüften. Bon Norben nad Süden ziehen ſich 
durch das Pand ebenfalls viele Gebirge, aber von geringerer Höhe, melde nad) 
Weften hin zu einer großen Ebene fi abdachen, welde dann von einem großen 
Meere begrenzt wird. Die ganzen Gebirge enthalten viele herrliche geſegnete 
Thäler,; von Norden nah Süden durchzieht aber dasjelbe ein ſchönes, nach 
Süden zu immer breiter werbendes Thal, in welchem ein Fluß, der Yordan, 
fließt, der von den nördlichen Bergen fommt. Diefes Land ift ein fehr 
warmes Land, ift ſehr fruchtbar und fhön, war früher noch weit fruchtbarer und" 
ſchöner, als jett. Im den reichen, lieblichen Thälern gab es prächtige Weiden 
mit fußlangem Grafe, blumige Wiefen und geſegnete Felder. Dort wuchjen 
an ben Flüſſen berrlihe Sträucher von Dleander; e8 gab lieblihe Haine von 
ſchönen Datteln und ftarfen Eichen; die Hügel waren mit blühenden Rofen- 
gebüſch bevedt; an den Bergen wuchs ber Delbaum, und der Weinftod rankte 
fich, mit armlangen Trauben behangen, an anderen Bäumen empor. Das Land 
war nur zum Theil angebaut, ein großer Theil beftand noch in unbenugten 
großen Weideplägen. Bewohnt war ed von verfciedenen heidniſchen Bölfer- 
ſtämmen, 3. B. von den Kananitern, Pherefitern und Amoritern. Die Ober- 
häupter oder Fürften einer oder einiger Städte werben in der Bibel Könige 
genannt. Südlich vom Jordan, da, wo früher Sodom und Gomorra, jetzt 
aber ver Salzjee (das todte Meer) liegt, war die Gegend bejonders ſchön, 
wafferreih ıumd fruchtbar. In derfelben (im Thale Siddim) ſprudelten Quellen 


40 


von einem harzigen Dele Naphta), ähnlich unferem Petroleum. Menjchen 
und Thiere konnten in diefem warmen Pande den größten Theil des Jahres 
bei Tag und bei Nacht im freien leben ; fie bedurften nur leichter Wohnungen. 

b) Das Nomadenleben. In dem ſoeben geſchilderten Yande nährten 
fih im alter, grauer Zeit, als umfere Geſchichte ſich zutrug, viele Yeute nur 
von Biehzucht; fie wohnten nicht mehr, wie es in noch früherer Zeit von 
manchen Menjhen geſchah, unter freiem Himmel, oder in aus Zweigen ge 
flochtenen Hütten, fondern in Zelten und führten ein Wanderleben. Nod 
heute giebt es im fernen Morgenlande, wie auch in anderen Erbtheilen, viele 
folder Hirten» und Wandervölfer — Nomaden. Es wird euch freude be- 
reiten, wenn id) euch etwas von dieſen Zelten und dem Hirtenleben 
erzäble. 

Die Zelte waren oben nicht jpig und mit Schnüren ausgejpannt, wie 
unjere Soldatenzelte, ſondern vieredig, glatt oder leicht newölbt. Sie wurden 
von Pfählen, die in die Erde gefchlagen waren, getragen; auf biefen befanden 
fi) quer liegende Stangen, welde oben an die Pfühle befeftigt wurden. Das 
Dad beitand aus Thierhäuten, oder dichtem Tuche. Dieje Teppiche wurden 
aus Baum- oder Thierwolle, aus Haaren der Kameele und Ziegen, jpäter erit 
aus Hanf, Flachs oder Seide gewebt oder neflodhten. Die Zelte veicherer Peute 
zerfielen in mehrere Theile; im dem einen derjelben hielten jid) die Bedienten 
auf (oft wohl auch das Vieh), im zweiten der Hausherr und bie Kinder, im 
dritten die Frauen. Im den Zelten befanden fih nicht Stühle, Tiſche und 
Betten, wie in unſeren Stuben und Kammern, jondern große Deden aus Yeder 
oder Stroh; ſchöne wollene Teppiche bei den Reicheren. Diefe Deden wurden 
auf den bloßen Rafen gelegt, und man feßte ſich auf fie mit untergejchlagenen 
Beinen. In dem Zelte befanden ſich nur wenige Geräthe: lederne Schläuche, 
Keffel, Töpfe zur Aufbewahrung von Waſſer, Milb u. ſ. w., Körbe, Kaften 
oder haarene Säcke zur Aufbewahrung trodener Waaren; eine Handmühle, 
Waffen u. f.w. Die Speifen und Getränfe waren: Kuchen, Mil, Butter, 
Käfe, Früchte, Wein ꝛc. 

Die Thiere, welche die Hirtenfürften Kanaans zogen, waren Schafe und 
Ziegen, Rinder, Ejel und Kameele (das Kameel ift furz zu befchreiben, wenn 
es zum erjten Mal in der Erzählung auftritt); Pferde befaßen fie nicht. Damit 
diefe Thiere immer im Freien leben fonnten, zog man im heißen Sommer auf 
‚bie fühleren Gebirge, in der fühleren Regenzeit in die wärmeren Thäler. — 
Abraham, Yot, Iſaak, Jakob waren Befiter vieler Taujende von Thieren, fie 
befaßen mehrere hundert Knechte und Mägde, waren Hirtenfürften Ein 
Lagerplatz derjelben enthielt viele Zelte, die den Anblid eines Heimen Dorfes 
gewährten. (Abbildungen vorzuzeigen.) 

Fortzug der Karawanen. Abbruch des Zeltes. Die meiſten Gegenjtände 
werben auf die Kameele und Eſel gepadt. — Das dringendfte Bedürfniß für 
die Nomaden und ihre Heerden iſt bei der Hige des Klima das Waller. 
Darum find wichtig: 

e) Die Srunnen. Ste waren gegraben, theil® um lebendiges Waſſer 
zu erhalten, theil® um Regen- oder Scneewafjer zu ſammeln. Letztere, 
Cifternen genannt, liefen, um fie vor der Sonnengluth zu ſchützen, oben 
trichterförmig zu und waren mit einem Steine bevedt. Oft hatten vie Brunnen 
die Geſtalt eines Bergſchachtes; man flieg entweder auf Stufen hinunter ober 


41 
zog das Waffer mit Gefühen herauf. Wegen der Brunnen entftand oft Streit 
zwijchen ben Hirten. 

d) Die Waffen der Nomaden waren meift andere, als fie jegt unjere 
Soldaten haben ıfeine Fenerwaffen), ſie beftanden namentlih in Hirtenftäben, 
die iiber die Schultern gelegt getragen wurden, und Reulen; ferner in hölzernen 
Bogen und Pfeilen, Spießen und Schwerter. Man kämpfte mehr einzeln, 
Mann gegen Mann ꝛc. 


Srfinnungsunterricht. In befonderen, dem Gefinnungeunterrichte ges 
widmeten Stunden wird, nachdem das bibliſche Yebensbild in angedeuteter 
Weiſe vorbereitet ift, dasjelbe den Kindern etwa in drei Abſchnitten (A, B, ©) 
vorgeführt. Die Erzählung muß in einfacher, verſtändlicher Form erfolgen. 
Die Kinder erzählen jeden Abjchnitt möglichſt jelbftändig mit ihren eigenen 
Worten wieder. Nur Sprüche von ausgeprägter Yehrbedentung (wie z. B. 
bier: „Yieber, laß nicht Zank jein zwiſchen dir und mir; willjt du zur 
Rechten“ u. ſ. w.), jo namentlich auch die Ausſprüche Chrifti, find genau in 
bibliſcher Form einzuprägen und wiederzugeben. Nachdem die Erzählung 
richtig aufgefaßt tt, wird der fittlihe Inhalt derjelben dargelegt. 

Wir geben bier wieder nur einige Fingerzeige, welche der Lehrer leicht 
weiter ausführen kann. 


Sittlihe Lehren aus Abſchnitt A. 


a) Meide den Streit. Befolge den Wahlſpruch Abraham's: 
„Lieber, laß niht Streit fein zwiſchen mir und bir.“ 

Der Streit mißfällt Anderen unter allen Umftänden; Gott und unfer 
Gewiffen gebieten, Frieden mit Allen, namentlid mit Freunden und Ber: 
wandten, zu halten (fittlihe Ioee des Rechts. — Abraham ift fittliches Vor— 
bild. Andere Beifpiele aus der bibliihen Gejhichte und dem Veben des Kindes. 
Aſſociation.) 

b) Sei nicht eigennüßig. Die Liebe ſuchet nicht das Ihre. 
— Wer nur auf ſeinen Vortheil denkt und nicht auch den des Anderen im 
Auge hat, iſt eigennützig, wie Lot. Der Eigennutz mißfällt Allen und iſt 
ſittlich verwerflich. Andere Beiſpiele von Eigennutz. Dem ſtehen gegenüber 
die Liebe, das Wohlwollen, welche dem Nächſten geben, was ihm nützlich 
und gut iſt. (Sittlihe Idee des Wohlwollens.) 


Aus Abſchnitt B, 


a) Du folljt nicht ftehlen, d. b. dir nicht wiberrechtlich fremdes 
Eigenthum aneignen. Das Bentemahen, Plündern der Babylonierfönige ift 
Diebjtahl. Andere Beijpiele aus der biblifchen Geſchichte oder dem Peben. 


b) Du ſollſt nit tödten, d. h. Anderen das Leben nicht wifjentlid, 
und umrechtmäßiger Weile nehmen. — Der Krieg ift Streit im Großen; er 
ift, wenn er ohne Beranlaffung, ohne Ankündigung geſchieht, ſittlich verwerflich. 
Nur der Bertheidigungsfrieg ift als Nothwehr erlaubt. 


42 


Aus Abſchnitt C. 

a) Du darfft und follft dich, wenn bu angegriffen wirft, 
vertheidigen. Die Nothwehr Lot's) und bie Bertheidigung deiner Freunde 
(wie Abraham that) find fittlich erlaubt, bezitglich geboten. 

b) Du follft deinen Nädften lieben, wie did felbft. 
Abraham war nicht eigennüßig, fondern liebevoll, ja edelmüthig gegen Pot. 
Seine Hilfsleiftung befundete das Wohlwollen gegen Lot und gefüllt darum 
allgemein. 

e) Sei dankbar! — Meldijevek bringt ald Ausorud jeines Dankes 
den ermatteten Sriegern Speife und Trank zur Erquidung. Diefe Dant- 
barkeit gefällt unbedingt und ift darum fittlihe Forderung. (Sittliche Idee 
der Vergeltung.) 

di Sei jo ehrlich, wie Abraham, der von Melchiſedeck's Eigenthum 
nicht einen Faden noch Schuhriemen behielt, obwohl er dur feine Zurück— 
eroberung bes Eigenthums Anfpruh auf dasſelbe gehabt hätte (ee 
des Rechts.) 

Belehrungen über die Bildung des Staates könnten bier noch an— 
gereiht werben. Abraham hatte ein Gemeinweſen, eine Art Meinen Staates, 
in bem er das Amt bes Fürften, Gefeßgebers und Richters übte. — Staaten 
ſchließen Bündniffe mit einander, wie der König von Sodom mit den 
vier anderen Königen. 

Für den Lehrer ift noh zu beahten: Abraham handelte nad 
jeiner inneren Meberzeugung (Idee der innern Freiheit); fein Handeln war 
kräftiger als das Pot’, er Fümpfte fogar des Nachts (Idee der Vollkommenheit); 
er bradte das Unrecht zur Beitrafung, indem er die vier Babylonierfünige 
befämpfte und jchlug (dee der Vergeltung). Aljo ift er ein Mufter nad 
allen fünf ſittlichen Ideen (der innern Freiheit, ver Vollkommenheit, des Wohl: 
wollens, des Rechts und der Bergeltung; ſiehe oben Abjchnitt IL, 1) und 
fomit ein vollfommenes ethifches dent. 


Berlag von 3. Barmeifter in Eifenad. 


1 


Deutſche Sprachlehre für höhere Lehranſtalten, ſowie zum Selbſtſtudium verfaßt 
von Dr. Theodor Gelbe, Realſchuldirektor in Stollberg i S. Preis 3.4 60 Pf. 


Deutfhe Shufzeitung: Hier liegt wirflich etwas Neues vor, — und wir verfidern — dies Neue 
ift gut! Der Berfaffer jagt: ‚Namentlich bat mir am Herzen nelegen, für die Böalinge der Lehrer: 
feminare, welde ja in Zukunft die berufenen — und Pfleger der deutſchen Sprache fein ſollen, ein 
Buch au Ihaffen, welches unter ber Leitung eines tüchtigen Lehrers ihnen jelbft bei Mangel fremd- 
ſprachlichen Unterrichts jene arammatiiche Bildung ermögliche, deren fie für ihren zukünftigen Beruf 
bebürfen, die ein nötbiger Schmud jedes Gebilbeten ift.”“ Das Werf enthält nur die Wortlehre, ein 
2. Theil, die Saplebre, foll folgen. Auf bem Grunde der Geſchichte ift diefe Spradlehre aufgebaut, 
Mar, licht, verftändlich, auch dem, ber des Alt: und Mittelhochdeutichen nicht Herr ift. Mit einem Worte: 
es ift ein vortrefflihes Buch, das fiherlih gar bald in ben böberen Lebranftalten, namentlih in 
er Seminarien, Eingang finden wird. Die Orthographie ift die von der Berliner Conferenz vor— 
geichlagene. 


Die EHemniger Zeitung: Eine ausführlichere „Deutihe Sprachlehre“, auf die wir unfere 
Lefer aufmerffam zu machen nicht verfeblen wollen. Verfaſſer niebt bier ein reiches Material und giebt 
es in einer Maren, leicht fahlihen Weile. Zurückgehend auf frübere Spradftufen, insbefondere das 
Alt- und Mittelbochdeutiche, wie andere verwandte Spraden, 4. B. das Engliſche, und in fortwährender 
Berüdfihtigung der jo wichtigen Volksdialekte erflärt er auch das jetzt nicht oder faum mehr Verftänd- 
liche und bietet jo nad allen Seiten hin Belehrung und Anregung. Wenn wir nun weiter noch hinaus 
fügen, daß das Wert durhaus nicht im trodenen Lebrtone, fondern faft ımterbaltend, weil überall 
Interefjantes bringend, geſchrieben ift, jo möchte wohl unfere warme Empfehlung des Buches gerechtfertigt 
fein. Gewiß jeder ®ebildete, der ſich für unfere berrlihe Mutterſprache ernftlich intereffirt, wird mit 
Nugen und Bergnügen bas Buch gebrauchen, insbefondere aber wirb e8 Lehrern, bie, ohne ſelber eigent- 
lihe aermaniftiihe Studien gemacht zu baben bez. in Ermangelung fremdſprachlichen Unterrichts ſich 
—— — dem Gebiete der deutſchen Sprache weiter orientiren möchten, die erſprießlichſten Dienſte 

ten können. 


Beitung f: d. 856. Anterridtswefen Deutfdlands: Obſchon Fein Mangel an „deutſchen Sprad- 
Iehren‘’, fo baben wir bod die vorlienende mit Freuden begrüßt, weil fie fir jeden, der nicht Beruf 
oder Mufe hat, ſpezielle germaniftiihe Studien zu machen, von bedbeutendem Werthe ift und jelbft dem 
Germaniften von Fach manchen Dienft leiften wird. Der Hauptvorzug ber Arbeit beftebt nämlich darin, 
daß fie durchaus auf dem Boden der heutigen Sprade ftebt, den gegenwärtigen Stand berfelben bar» 
ſlellt und denfelben nicht von einem früberen Zeit oder beſchränkten fubjeltiven Standpunkte aus kon⸗ 
ftruirt. Nicht daß Rüdhlide in die Bergangenbeit unferer Sprade fehlten, im Gegentheil bie früberen 
Lautftufen find in ausgiebigſter Weiſe berüdfihtigt; aber indem Berfafier überall neben bas beite 
Schriſtdeutſch unferer Periode die von feiner „wiſſenſchaftlichen““ Regel angefränfelten Vollsdialekte 
ftellt, zeiat er vor allem das lebendige Walten des lebendigen Epracgeiftes und bie Hinfällinfeit mancher 
fogenannten Regel, die jenen Geift in „ſpaniſche Stiefeln‘‘ jchnüren möchte, im Grunde ſich aber nur 
ohnmädtig zeigt, das organlid Gewordene zu erflären, oder wohl gar mwirfliche Auswüchſe patronifirt. 
Daß die Arbeit bei aller Öründlichkeit des ‚‚trodnen Tons“ fich begeben, wird ihren Werth nur erhöhen. 


Deutfhe Säule: An auten deutichen Spradlehren haben wir feinen Mangel, aber fo anziehend, 
durchſichtig, Mar und dabei grünblich wie das vorliegende, find ſehr wenine geichrieben. ze Berf. dem 
Bude eine ſprachgeſchichtliche Grundlage gibt, gewinnt man in das Wachlen und Entwideln der heutigen 
Sprade Einfiht, lernt das Veftehende ald Gemworbenes würdigen und erhält über vieles Aufſchluß, 
worüber die gewöhnlichen, fchematifirenden Spradlehren fein Wort verlieren. Beſonders werthvoll ift 
bie genaue Angabe des Geſchlechts und der Dellination der Eigennamen, bie Ken ug Das heutigen 
Konjugation und Deklination u. ſ. w. Betreff der Wortichreibung folgt ber Verfaffer der Berliner Kon- 
ſerenz, da er jeinerjeits mitwirten will, eine gleichmäßige, wenn auch nicht immer er. e Wort⸗ 
Ichreibung einzubürgern. Diele Schreibung ift .. in der That der durchaus ungeihidhtlihen Lautſchrift 
vorzuziehen, denn auch die Schreibung if nicht Willkür, ſondern hat ihr Geſetz der aeihichtlihen Ent: 
widlung. Borliegendes Buch möchten wir allen Lehrern als anregendes, aufflärendes und geiftig 
erfriihendes Studium beſtens empfehlen. Es ermüdet nicht, fonbern reizt zum Weiterleien, ba es ſtets 
nur da& weſentliche hervorhebt, und dieſes Har und fahlich ausipricht. Mehr jolher Bücher! Das bringt 
uns weiter, denn es ftellt ein deal auf, wie Grammatif zu fchreiben und zu lefen ift. 


Elderfelder Zeitung: Der Dilbumgegang unjrer höheren Stände hat bisher die Grammatik ber 
Mutterſprache über Gebühr vernadhläffigt. Wir iprechen und ichreiben Deutih, ohne uns der Gründe 
bewußt zu fein, warum wir gerade fo iprechen und jchreiben. Die Folge war, daß bis in die 20er Jahre 
dieſes erleuchteten Jahrhunderts eine wiffenichaftlihe Grammatit, eine Grammatik, welche aud die Ent» 
widelung der Sprache berüdjichtigte, umbefannt war. Germaniftiihe Studien begannen erit damals. 
Die Beichäftigung mit alten deutihen Dichtungen, vorzugsweiie mit Mittelbochdeutih, drang in weitere 
Kreife, auch im die Schule ein. Die Germaniften verwarfen die deutſche Schrift, die hergebrachte Ortho- 
rapbie, und fo wurben auch andere aufmerfjam auf der Mutteriprade Werth und Reihthum. Noch 

ute aber fehlt viel daran, daß alle, die zu den Gebildeten ſich rechnen, einige Kenntniß von der Gram— 
matif der Mutterſprache haben, Verſtändniß beſitzen für die Beſtrebungen zur Reform ber ag re 
und deraleihen. Während andere Nationen Grammatik und Wörterbuch als unentbehrlihe Stüde jeder 
Bibliothek auch des Privatmannes mit Recht betrachten, dürfte der Fall ziemlich felten fein, da beide 
in dem Bücherihag eines deutichen Mannes ober einer deutihen Frau eine hervorragende Stelle haben. 
Das wird ſich mit der Zeit ändern, denn zur deutfchen Einheit gehört auch Einheit der Sprade und bes 
Sprachgebrauchs. Die Dialecte haben ihren hoben Werth, aber die Sprache der gebildeten Stände muß 
mehr und mehr eine werben. Ich will mid für diesmal darauf beihränten, eine neue Grammatik zu 
empfehlen, bie vermöge ihrer Haren, einfachen Sprache geeignet iſt, auch weiteite Kreiſe in uniere Mutter» 
ſprache gründlich einzuführen, die bewußt von dem Berfaiier für dieſen Ywed geichrieben und beftimmt 
ift. Dr. Theodor Gelbe, ein befannter Germaniſt, hat die Formenlehre in einem Bande von 220 Seiten 
für dieſe Bwede und für die Vebürfnifie der Lehrerbildungsanftalten und der Schüler in den oberen 
Klaflen höherer Schulen erichöpfend behandelt, und wird eine Saplehre folgen laſſen. Das Bud wird 
bierburh warm empfohlen. 


) 
Praktiſches Rehenwert 


von 


A. Corey, " €. Dorfchel, 


Director ber Realſchule I. ©. in Gera. * Lehrer ber I. Bürgerihule in Eiſenach. 
Eintheilung und Inhalt. 
I. Abtheilung. Rehenaufgaben für den Elementar- 
unterricht. Vierte Auflage. 


I. Heft. Allſeitige Betrachtung u. Anwendung ber Zahlen von 1—20 Preis 40 Bf, 

1. Heft. Allfeitige Betrachtung u. Anwendung der Zahlen v.21—100 Breis 40 Bi. 

11. Heft. Allſeitige Betrachtung und Anwendung ber Zablen über 100 Preis 25 Pf. 
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als auch der Decimalbrüche . . Preis 25 Pf, 

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gewöhnlichen und Decimalbrühen . . Preis 35 Pf. 

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und zuſammengeſetzte Regeldetri; Kette; Repartitions— 

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linige Figuren; Kreis, Ellipſe, Parabel, Würfel, 

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für das praktiſche Rechnen. 


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III. Abtgeilung. Handbuch des praftiichen Rechnens. Pr. 4.4 


Das Zehnerzahlſyſtem. — Die vier Species, Grundrechnungsarten oder Grundoperationen 
mit ganzen unbenannten Zahlen. — Primzablen, zuſammengeſetzte Zahlen, Maaß 
der Zahlen, Faktoren, größtes gemeinſchaftliches Maaß und kleinſtes Vielfaches. — 
Die gemeinen Brüche und die vier Species in denſelben. — Die Deeimalbrüche und 
die vier Species in benjelben. — Die benannten Zablen, Refolviren und Rebuciren 
und bie vier Species mit benannten Zablen; chronologiſche Addition und Suptraction ; 
Zerfällungsmetbode oder wälſche Praktik. — Berbältniffe und Proportionen, — Ein- 
fache Regeldetri. — Zuſammengeſetzte Regeldetri. — Kette. — Geſellſchaftsrechnung 
ober Repartitionsregeln. — Miſchungerechnung. — Procentrechnung. — Einfache und 
zuſammengeſetzte Zinsrechnung. — Diskontrechnung. — Rabattrechnung. — Termin— 
rechnung. — Münzrechnung. — Wechfel-, Kurs-, und Aktienrechnung. — Potenziren 
und Radiciren; Ausziehen der Quadrat- und Kubitwurgel — Die Brogreifionen. — 
Die gemeinen oder Briggsihen Logarithmen. — Gleichungen vom erften und 
zweiten Grade mit einer und mehreren Unbefannten ; diopbantifche oder unbeftimmte 





Gleichungen. — Gleichungen, bei denen vorzugsweife die Logarithmen zur Anwendung 
fommen. — Die, Zinfeszinsrehnung oder zufammengejeßte Zinsrehnung unter An- 
wendung ber Gleihungen und Logarithmen. — Rentenrehnung unter Anwendung 
von Logaritbmen. — Berehnung der Raumgrößen (Linien, Winkel, gerad» und 
frummlinige Figuren, eben- und frummfläcig begrenzte Körper). — Kettenbrüche. — 
Tafeln zur Zintessine- und Nentenrehnung. 


— Dr. Fröhlich in St. Johann ſchreibt am 7. Juli d. J.: „Bei diefer Gelegen- 
beit will ih Ihnen auch noch meinen Dank ausiprechen, daß Sie mich auf das „Lorey— 
Dorſchel'ſche Rechenwerk“ ſ. 3. aufmerffam gemacht haben. Nachdem basjelbe von dem 
biefigen Yebrertollegio und mir eingehend geprüft worden war, wurbe e8, wie Ihnen 
betannt, vor ca. 2 Jahren in die hiefige, von mir eingerichtete und geleitete, aus 
21 Klaffen beftebende Simultanſchule, ſowie in die aus 3 Klaffen beftehende Simultan- 
ſchule zu Jägersfreude eingeführt, und darf ich nach den either gemadten Erfabrungen 
wobl behaupten, daß fragliches Wert dem gefammten Rechenunterrichte mit großem 
Erfolge als Grundlage dient. Wie ein Blid auf den behandelten Stoff lehrt, tft der— 
jelbe nach methodiſchen Grundſätzen auf die einzelnen Stufen vertheilt; auch bafirt 
fonft die ganze Anlage und Durcharbeitung des Materials durchaus auf rationelleu 
Principien. Ein mechaniſches, geiftlofes Verfahren kann nah dem Rechenwerke von 
Lorey-Dorſchel fjchlechterdings nicht Plab greifen. Bevor die einzelnen Operationen 
vorgeführt werben, fucht dasſelbe worerft auf anſchauliche Weife den Schülern einen 
Begriff der Zahlen des fraglichen Gebiets zu vermitteln, geht dann in genetifher Ent- 
widelung weiter, jo Daß das Folgende mit Notbwendigleit aus dem Borbergebenden 
fi ergiebt, und buldigt überall der beuriftiichen Lehrform. Miündliches und jchriftliches 
Rechnen find mit Recht jo verbunden, daß das erftere, ald Bafis, dem leßterem immer 
vorausgebt. Das Handbuch, welches eine vollftändige Theorie der gefammten praktiſchen 
Arithmetik enthält, giebt dem Lehrer eine inftructive Belehrung für den Unterricht, wie 
zur eigenen Fortbildung, und, da dasjelbe auch die Buchftabenrehnung, Algebra, jowie 
die Yogarithmen 2. in den Kreis feiner Betrachtung zieht, jo wird das Werk fiher aud 
in Mittel:, Gewerbe- und Realfchulen, ferner in Gymnaften und bejonders in Lehrer— 
bildungsanftalten mit Erfolg eingeführt werden können. 

Eine weitere Verbreitung des Wertes wird fonach zweifelsohne der Sugendbildung 
nur zur Förderung gereihen, und wünfche ih nur, daß Ihr Verlag uns Pädagogen 
noch mebr derartige, wirklich gediegene und praktiſche Hülfsmittel bieten möge. Ich 
empfehle das Buch wo und wie ih nur kann, und glaube damit der Schule einen 
Dienft zu erweifen.“ 


= Die erfte und zweite Abtheilung vorliegenden Rechenwerkes enthält die Hufgaben, welche ſich 
in den Händen der finder befinden follen, Die beiden erjten Abtheilungen müſſen in Realicyulen, höhern 
Bürgerjhulen und Mittelſchulen durchgearbeitet werden, während die » Heite der eriten Abtheilung und 
bie beiden erften Hefte der zweiten Abtheilung Material für die einfache Bolls- und Bürgerichule liefern. 
Die Aufgaben geben vom Einfahen zum Zuſammengeſehten, jo dan der Elementarſchüler den Stoff 
überjehen und mit Leichtigkeit bewältigen kann, Sie verleiten nit zum Medanısmus, jondern fordern 
überall dad Nachdenken heraus, jo daß die formale Bildung zwar ihren ihr zufommenden PBlag ein- 
nimmt, aber der praftiihen Rechenfertigkeit nicht hindernd in den Weg tritt, fondern vielmehe durch 
das erzielte Verſtändnig dieſelbe im jeder Weile jörberr. 

Die Aufgaben aus der zweiten Wbtheilung find aus dem bürgerlichen, induftriellen und kauf— 
männifchen Leben, aus der Geometrie, Geographie, Phufit und Chemie entnommen. Sie wollen den 
Schüler fürs praftiihe Leben vorbereiten und führen ihn ein in die mannigfachſten Berhältmiffe. Kopf— 
und Bifferrehnen ıft nicht getrennt, doc ift auf ‚beide Rechnungsarten ſiets Rüdjicht genommen. Es 
liegen ſich noch viele Vorzüge diejer Aufgabenfammlung anfubren, doc) fol nur noch eins erwähnt werden: 

Das Rechenwert jest das gewöhnlihe Rechnen mit ber Algebra in die engfte 
Verbindung, jo daß eins das andere unterftügt; wodurd erftdem Schüler der JZwed 
und ®erth der Algebra zum ridhtigen Berftändniä lommt. 

Dad Handbuch, mweldes die 3. Abtheilung des Rechenwerkes enthält, giebt Aufſchluß über alle 

le des Rechnens in eben ſowohl praftifcher ald auch in willenihaftiicher Weile. ever Cm wird 
n bemjelben einen treuen Führer bei feinem Rechenunterrichte finden und beionders dürfte es folchen zu 
empfehlen fein, die in diefem Face weitergehende Studien machen wollen. 


Magazin für Lehr - und Lernmiltel. 


= Bir können dies vorliegende Wert nicht nur —— Prüfung, ſondern auch nach der 
gemachten und geſammelten Erfahrung bei dem praktiſchen Gebrauch in den verſchiedenſten Schulklaſſen, 
bon ber einfachſten Volksſchule bis zur erſten (gehobenen) Bü für Stadt und Land nur jehr 
warm empfehlen. Man merkt ed dem Buche bei Dar geitellten Aufgabe an, daß nicht nur jehr tüchtige 
und erfabrene Schulmänner dies Wert gearbeitet haben, fondern daß fie uns auch eine Arbeit, auf reiche 
und — Erfahrung im Schulleben geſtützt, mit großem Fleiße und Geſchick bearbeitet, darbieten. 

s iſt theils die vierte, theils die dritte Auflage, der Aufgaben für das praktiſche Rechnen ꝛc.“ 
Es ſchien aber richtig, eine vollftändige Umarbeitung des ganzen Wertes vorzunehmen, die jet in dem 
st und der Aufgabeniammlung vorliegt. Einige Jahre angeftrengten Fleißes waren erforderlich, 
um ben fortgelegten Plan in jeinem vollen Umfange durdyzuführen. 


Die erfte und zweite Abtheilung bes Rechenwerkes enthält die Aufgaben, melde fi in der Hanb 
des Schülers befinden jollen. Die ſechs Heite der erften und die nadfolgenden vier Hefte der zweiten 
re ug Bari und müffen in einer Realichuie oder höheren Bürgerichule, ſowie in ftädtiihen Bürger- 
ihulen Mittelſchulen) vollſtändig durchgearbeitet werden. Uber aud für die einfache Bollsſchule und 
für Burgerichulen find vie ſechs Heite der erften und die eriten ge Hefte der zweiten Abtherlung mit 
großem ugen zu gebrauchen. Sämmtlihe Aufgaben follen den Schüler durch Denkrechnen, Kopfrechnen 
und Anſatz alle Blasien des Rechnens willenihaftlid und praktiſch zu löjen befähigen. Die Aufgaben 
find jo ausgewählt, daß fie in erjter Linie die formale Bildung, in zweiter den Wugen fördern. Reben 
der formalen Bildung, die der Rechenunterricht den Schülern gewähren joll und muß, verjäumt das Bud 
aber auch nicht, für die praftiihe Rechenfertigteit zu jorgen, ohne wieder hierbei nur nad gewiſſen 
Schablonen zu verfahren, umd gerade hierdurch zeichnet fi das Wert jo vortheilhaft vor vielen hundert 
andern Nechenwerten aus. Das Handbuh ift fur alle Lehrer beredinet, welche jih wiſſenſchaftlich und 
araktiich befähigen wollen, dieſen jo ihwierigen Unterrihtsgegenftand nicht im mechaniſchen, jonbern in 
entwidelnder und geiitbildender Weiſe ertheilen zu können. Weionders empfehle ich dies Werft den Semi- 
nariften der O:berllafien, ſowie dem jungen Lehrer im Amte, der fi für das zweite Eramen oder für 
das Eramen für ing oe vorbereiten will, zum eingehenbiten Studium. erade in dieſem Fade 
halten jo viele jüngere Lehrer eine weitere Fortbildung nicht für nöthig, daher iſt e# denn auch ge- 
fommen, dab im verflofienen Jahre eine fo ar Zahl von den Eraminanden beim Staatsegamen 
—— Examen) in Preußen und andern deutſchen Staaten eo werden mußten, ba jie im 

echnen nur jehr mangelhafte Kenntniffe und Fertigkeiten beſahen. Den Schülern der Sekunda und ber 
Prima der Realihulen und Gymnafien wird Died Bud für die Weiterbildung und Wieberbolung ein 
fiherer Führer fein. Da fich viele Aufgaben, welche fi auf das praftiiche Leben beziehen, 3. B. auf 
Phyfik, Geometrie ꝛc. — nicht ohne einige Ktenntniffe und Uebungen in den Gleichungen auflöien lafien, 
jo hat der Berfafier die Gleihungen vom eriten und zweiten Grade mit einer und mehreren Unbefannten, 
die unbeftimmten oder diophantiſchen Gleichungen, bie Erponential= und logarithmiſchen Gleichungen in 
Kürze, aber klar und fahlih entwidelt und —— Für die Zinſeszins- und | find 
beiondere Tafeln bis zu drei Decimalftellen den betreffenden Aufgabenheften und dem Handbuche beige: 
geben. Die Auflöjungen zu allen Heften find für den Lehrer vorhanden, aber es ilt Fürſorge getroffen, 
dag fein Schüler im Beſitz biefer Hefte buch die Buchhandlung fommen kann. Die Auflöfımgen find bei 
leichteren Aufgaben ganz kurz und ohne Entwidelung gegeben, bei jchwereren aber mit vollftändiger 
Entwidelung. Die mr der Aufgaben ift eine fehr große und mannigialtige, fie ift nicht allein aus ben 
Berufdarten und praltiihen Berbältniffen des Lebens, jondern auch aus Geometrie, Geographie, Phnfit, 
Chemie ꝛc. gewählt. Die Reihenfolge der einzelnen Aufgaben ift mit großer päda —* isheit jo 
feftgeiegt, dag der Schüler ſich nie dem Mechanismus hingeben kann; jede neue Aufgabe erfordert neues 
Nacdenten. Das Denkrechnen und jofern es die dabei vorlommenden Zahlen erlauben, tritt das Kopf⸗ 
rechnen überall in den Vordergrund. Die Äußere Ausftattung des Buches gereicht bem Herrn Verleger 

r größten Ehre. Möge denn bie Wert, das fofort nach dem Erſcheinen in vielen Schulen —— 
and, ſich noch viele neue Freunde erwerben. Die Herren Kollegen an höheren, wie an Bürger: 
Boltsihulen made ic; nochmals auf dieje fleibige und tücdhtige Arbeit aufmerkſam. Thuring. Ihulztg. 


= „Beiten Dant für freundliche Ueberjenbung bes Lorey’ichen Buches, in welchem ich mit großem 
Interefie eine gute Anzahl Kapitel bereit? durchgelejen habe. Soweit alö ih die Sache zu beurtheilen 
im Stanbe bin, enthält das Wert eine vorzügliche Arbeit, die einer weiten Verbreitung werth ift. Das 
83 iſt nicht, wie ich vermuthete, eine methodiſche —— zur Unterrichtsertheilung, ausſchließlich 
r den Lehrer beftimmt; es giebt vielmehr eine vollftändige Theorie der gelammten praftiihen Arith— 
metit, es ift im eigentlichen Sinne ein vollftändiges, auf wiffenidhaftliher Grundlage auferbautes Lehrbuch 
des praltiihen Rechnens, in jeinem ganzen Umfange für Xehrer und Schüler glei brauchbar und werth— 
voll. Es ijt daher meiner Anficht nach zur Einführung im mittlere und obere Klaſſen höherer Schulen, 
in welder dergleichen Unterrichtämittel jtets ein Bedürfniß find, vorzüglich geeignet. Insbeſondere 
dürfte es für Gumnafien, Realihulen, Gewerbeſchulen, Lehrerbildungsanftalten eine willtommene Gabe 
fein. Es wird für biefe Anftalten um jo brauchbarer, als es bei aller wiſſenſchaftlichen Grünblichteit 
doch wiederum einfach gehalten und für die betreffenden Schülerabtheilungen leicht fahbar ift. Der 
Ausdrud ift knapp, und anbererjeit# doch auch wieder jo ausführlich, da das Buch jelbit auch zum 
Selbftftudium geeignet ift. Und was dem Werke noch eine befondere Friſche verleiht, das ift der prafttiche 
Gejihtspuntt, von dem aus dad Ganze behandelt ift. Nirgends macht fich die todte Formel breit. Wo 
fie auftritt, da gewinnt fie jojort Leben, Bedeutung, Intereſſe durch die Anwendung, die von ihr ge- 
madt wird. Sie eriheint überhaupt nur da, wo fie zur Löſung intereflanter praftiich-wichtiger Probleme 
ein geeignetes Mittel ift. Ich denfe,, wenn in einer höheren Lehranftalt das Buch mit den Schülern 
tũchtig durdhgearbeitet wird, jo werben biejelben durch dieje Arbeit zu einer jo gründlichen prattiſch⸗ 
mathematiihen Durchbildung gelangen, wie jie befier nicht gewünſcht werden fanın. 
Das Handbuch ift namentlih auch für Seminariften und Volksſchullehrer berechnet und denſelben 
zu empfehlen, damit dieje ſich nicht nur immer in den erften Elementen bewegen. x. Piel. 


S Hier liegt endlich, die erften Hefte fchon in neuen Auflagen, ein Rechenwerk vor, welches nad 

richtigen methodiſchen Grundjägen, nad einheitlihem Plane, von zwei tüchtigen Schulmännern bearbeitet, 
das ganze weite und große Gebiet des Rechnens von den elementarften Anfängen bis zu den höheren 
Rehinungsarten des bürgerlisen Bebens, wie aud die Flächen» und Sörperrehnung umfaßt, und jo 
van wir, dab ſchon in dieſer Beziehung mir dieiem Werke dem MHaflenreihen Schulanftalten, ganz 
eſonders aber denen, bie in ſich Elementar» und Mittelichule vereinen, wie auch den Seminarien ein 
ei Dienft erwiejen ift. Diejer Dienft würde aber illujoriih fein, wenn das Wert nicht alle den 
nforderungen entipräde, die in Bezug auf Inhalt und Methode geftellt werben müſſen. Aber auch 
dies iſt der Fall. Die Aufgaben find kurz, prägnant, dem Leben entnommen, ohne trivial zu fein, be 
rüdfichtigen die verſchiedenen Disziplinen des Unterrichts, wie Geographie, Geſchichte, beionders aber 
bie Geometrie, mathematiſche Geographie, Witronomie, Phyſit, Ehemie ꝛc. Haben wir uns auch bei 
dieſer oder jener Aufgabe gefragt: warum + der Hr. Verf. wohl gerade dieje gewählt und nicht eine 
andere, und wie wir glaubten, paflendere? jo wiſſen wir noch recht qut — Ref. bat 17 Jahre lang den 
geiammten Unterricht im Rechnen und in ber Mathematif an einem preuß. Seminare ertheilt — daß 
um Gubtilitäten nit zu rechten ift. Im Uebrigen zollen wir dem Werfe unjeren beionderen Beifall; 
es ift eine —— Arbeit, die wir warm empfehlen, namentlich aber auch zum Studium und 
jur Hebung denjenigen Lehrern, welde das Examen für Mittelihulen machen wollen. 


Deutfche Schulzeitung. 


— Das ganze Wert ift urfprüngtid eine neue Auflage bes früheren: „WUufgaben für das praktiſche 
Rechnen nebft kurzer Anleitung zur Aufldfung berjelben, vom Standpuntte der Sloncentration aus“, nur 
mit der Umänberung ber alten ın die neuen Münzen, Maaße und Gewichte des deutichen Reiches und 
mit der Abänderung, baf die kurze, früher vor den Aufgaben enthaltene Auseinanderjegung zu einem 
Handbuche erweitert worden ift. 


Die erften ſechs Hefte ber erften und die nachfolgenden vier Hefte ber zweiten Abtheilung, können 
für eine Realſchule I. umd II. O., für höhere Bürgerfchuten, ®ymnafien, Seminarien und ähnliche Ans 
ftalten vollftändig ee werden. Aber auch für die Elementar- und Bollsichulen find die ſechs 
Hefte ber erften und bie erften zwei Hefte ber zweiten Abtheilung berechnet ; ja ich glaube, dab aud) das 
dritte und das vierte Heft mit Muswahl für gehobene Bürgerſchulen gebraudt werden können. In ber 
erften Mbtheilung fchreitet der Rechenunterricht in anihaulicher Weile vom Einfachſten, der Eins, be- 
gen: von ı bi8 20, von 21 bis 100 u. ſ. w. nad Grube’icher Methode ſowie nad) pädagogiſchen 

rundjägen zum Bujammengejegten aufwärts; der Elementarihüler überfiehbt und bemeiftert den Stoff 
und arbeitet mit Luſt und Liebe; die Einheit ded Erkennens unb des Willens wird erzielt und 
dadurch in dem Schüler bie Kraft entwidelt, fich jelbitändig weiter zu bilden. Mit der Wuie 
faiiung und der Veränderung ber reinen Zahl ift ſtets die angewandte Zahl — Beiſpiele aus dem 
—— — Leben, in ſo weit dieſelben in den Geſichtskreis dieſes Kindesalters fallen und dieſem 
bon Intereſſe jein dürften, verbunden. Die Aufgaben der zweiten Abtheilung find aus dem bürgerlichen, 
induftriellen und faufmänniichen Leben, aus der Geometrie, Geographie, Bhofit und Chemie genommen 
und in vier Heften geordnet. Der Stoff ift ein jehr zwedmäniger und führt den Schüler durch bie 
mannigfaltigiien Berbältniffe, tbeil® ıhm zur Wiederholung nöthigend, theils ihm für einen neuen Gegen— 
ftand vorbereitend. Die Aufgaben bieten ein reiches Material und huldigen dem Grundjage: Der 
Rechenunterricht jei vor Allem praktiih und mache tüchtig fürs Leben. ie Rechenfertigkeit ift für jeden 
Gebildeten, welchem Berufe derjelbe auch angeböre, ein dringlides Erforberniß. Der große „Bhilofoph 
bes Unbewußten“ hat in einer Schrift für das höhere Schulweien, zu deſſen Abfaflung „er fi berufen 
efühlt“ Hat, gelagt, dab der Rechenunterricht feine bildende Kraft Habe. Nur ihm ıft dieſelbe unbewußt; 
achverjtändige Schulmänner fegen bie formal bildende Seraft defielben in die erite Linie, den NRugen und 
bie Unentbehrlichkeit für jesen Beruf in die zweite. Sämmtliche eingefleidete Aufgaben find vom Stand» 
puntte der Koncentration aus gewählt und find ſicher geeignet, mannichfaches Wiſſen zu verbreiten und 
zu befeftigen. ®Diejelben find nicht, wie in den meıften Rechenbüdern, in jolde für Kopf- und Ziffer— 
ai getrennt, obgleih auf beide Rechnungsarten Rüdjiht genommen worden ift. Man fiebt aus allen 
Aufgaben, dab das Rechnen immer Denkrechnen fein fol; das Mechnen nah Anſatz und Regel iſt 
nicht ausgeihloffen worden. Die Zahl der Aufgaben ift jehr groß, doch ift die Reihenfolge derjelben in 
beiden Abtheilungen eine jolhe, daß der Schüler fih nie dem Mechanismus bingeben kann; jede neue 
Aufgabe erfordert neues Nachdenken. Zu allen Heften find Auflöjungen für den Lehrer vorhanden. 
Diejelben find bei leihhteren Aufgaben ganz fur; und ohne Entwidelung angegeben, bei ſchwereren aber 
mit vollftändiger Darlegung. inigen Aufgaben, bejonders den Gleichungen, find die Auflöſungen gleich 
beigefügt; ob das richtig, darüber find die Meinungen verihieden. Heis gibt dieſelben/ Barde 
nicht. — hat es wohl einen Sinn, die Bedingungen der Aufgabe und die Uuflöſung einmal falf 
anzugeben. 

Das Handbud, bie dritte Abtheilung des Rechenwerles, ift jebem Lehrer zu empfehlen. Es 
fann ſich Jedermann an demielben über alle mwejentlihen fälle des Nechnens in ebenjo praftiiher wie 
wiſſenſchaftlicher Weile unterridten. * den Schülern der Prima und Secunda höherer Schulen, ſowie 
ben Böglingen des Seminars, wird dieſes Buch für die Weiterbildung und Wiederholung ein ſicherer 

übrer jein. Bor Allem ift die einfache, Mare, kurze und bündige eg year welche in entwidelnder 

ethode die Grundlage des praktiſchen Rechnens darlegt, wu rühmen. Das Handbuch giebt eine voll» 
ftändige Anleitung zum praltiihen Rechnen und gebt von den erften Elementen, wenn auch in mehr 
wifienichaftliher Weile, aus. Die Art den Generalnenner zu finden iſt allein richtig, wie ſchon ber 
berühmte Mathematiker Unger unb in neuerer Beit Dr. Kober in Meißen in der Zeitihrift für Mathe— 
matit und Naturwiffenihaften von Hoffmann nachgewieſen hat. Die Decimalbrüche find jo ausführlich 
und interefiant behandelt, wie faum in einem andern praftiihen Rechenwerke Ebenſo richtig ift der 
Bweitep in der einfachen und zufammengeiegten NRegelbetri, die Kette, die Kepartitionsrehnung und 
efonders die Miſchungsrechnung, welche durch Ratjonnement und mit Hülfe der Gleichungen, auch der 
diophantiihen, erledigt wird. Das neue Maß⸗, Münz- und Gewichtsſyſtem ift vollftändig durchgeführt. 
Bei der Miihungsrehnung find einzelne Aufgaben nad dem Pfund a 50 With. gerechnet; allein in Haupt- 
ſache ift das stilogramm mit feinen Unterabtheilungen zu Grunde gelegt und ift der Miſchungs-, "Bold: 
und Silberberehnung bemgemäß ein beionderer Abichnitt mit lehrreichen Beilpielen gewidmet worden. 
Sehr Mar und einfach ift die Lehre von den Gleihungen. Diejelbe ift in einem praßtäihen Redenwerte 
nothwendig, weil fi ne. und praftiihes Rechnen gegenjeitig unterftügen jollen. Die ——— 
Aufgaben und ihre Aufloſung werden in elementarer umd überzeugender Weile durch einige Säge aus 
der Bableniehre eingeleitet, 9. daß dieſelben in einfacher und leichter Weiſe zu löſen ſind. Auch die 
Umwandlung ber einen Zahlform in eine andere, die Grenzen der Zahlen ꝛc. werden in ben Aufgaben 
und WUuflöfungen ſehr faßlich angedeutet. Es folgt dann eine ebenfo wiſſenſchaftliche wie praftiihe und 
deutliche YAuseinanberfegung der — und Rentenrechnung; die beigefügten Tabellen ſind für den 
prattiſchen Rechner von großem Vortheil. Ebenſo deutlich und einfach iſt die Darſtellung über die Be— 
—— der Raumgrößen. Da die Stereometrie ohne Berechnung von Aufgaben und ohne Fertigkeit 
in derjelben nicht vortheilhaft getrieben werden kann, jo find die über die — Raumgrößen gegebenen 
Beiipiele und Aufgaben als ein Borzug bes Wertes zu bezeichnen. Ebenſo richtig iſt es, daß von den 
Kettenbrüdhen zur Darjtellung von Räherungswerthen in Heinen Bahlen Gebrauch gemadt wird. Bon 
großem Interejje für jeden Rechner ift endlich die Darftellung ber geihichtlihen Entwidelung des 
praltiichen Rechnens, wenn auch eine vollftändige Geſchichte beffelben nicht erwartet werden konnte. 

So möge denn biejes Wert, in weldem Wiſſenſchaftlichlkeit mit praftiiher Methode auf's beite 
vereinigt ift, allen Lehren beftens empfohlen jein und ſich viele neue Freunde erwerben! Drud, Papier, 
Preis jind jo beihaffen, dad fie dem Verleger zur Ehre gereichen und die Einfüh des Rechenwertes 
auch in diefer Hinficht vorzüglich empfehlen. (Eentral- Organ für die Intereffen des Üealfdulmelens.) 


= Durd) bedeutende Reichhaltigkeit zeichnet fich das Lorey-Dorſchel'ſche Wert aus. Die I. Abtheil., 
von Dorſchel bearbeitet, umfaßt die Rechenauſgaben für den Elementarunterridt. Dem gejammten —18 
unterricht in höheren Schulanftalten ſoll die 11. Abtheilung. von Lorey bearbeitet, dienen. Die Iil. Ub- 
theilung endlich, ebenfalld von Lorey, erläutert in wifjenihaftliher und praftiicher Weije die Grundlagen 


bed geſammten Rechenunterrichts und ift ben Rechenlehrern und Soldhen, welche aus bem Rechnen ein 
rivatitubium maden wollen, beftimmt. 3 ift eine werthvolle Gabe, welde die als tüchtig in ihrem 
che längſt befannten Berfaffer allen Rechenlehren dargebracht haben; wir wünfchen ihr die tefte 
erbreitung. (Allg. dentfhe Eehrerzeitung. ) 
— Der Kecenlehrer einer fünfclaffigen gegliederten Volksſchule jchreibt der Er — 
—* der Einführung der ſechs Hefte der J. hie, unb der erjten Heite der II. Abtbeilung: 
„Wenn ich auch nicht gerade Aniprühe auf irgend welche Tragweite ıneines Urtheild bezüglid; der 
Rechenbuchfrage machen fann, mic auch nicht auf öffentlihe Mecenfionen in —* Brauche einlaſſen will, 
jo kann ich doch ehrlich jagen, bie —— des Lorey-Dorſchel'ſchen und die Vergleichung mit anderen 


Rechenwerken haben mid) bewogen, bier für L-D. einzutreten, und wünſche ich im Intereſſe der Päda— 


gogik, daſſelbe möge fi rajch einen recht großen Streis Anhänger gewinnen.“ 


Seit dem Erſcheinen des fertigen Werkes, Anfang 1876, bereits eingeführt in: 


Apolda, Dubweiler, Eiſenach, Gera, Giehen, Gotha, Großobringen, Hörbe, Jena, St. Johann, 
Lobenitein, Ludwigshafen, Mühlhaufen ijTh., Oldisleben, Bösned, Reudnitz, Rieſa, Ruhla, Saars 
brüden, Saarlouis, Straßburg VE., Turin, Wien, Weimar, und zwar in Realihulen, Töchterſchulen, 
Seminarien, Bräparanden>Anftalten, höheren Bürgerihulen, Kortbildungsihulen und Vollsſchulen, 
mwodurd die alljeitige Güte und Vrauchbarkeit bes Wertes wohl am beften gelennzeichnet ift. 


Die Geometrie der Volksſchule. Anleitung zur Ertbeilung des geometriichen 
Unterrihts in Stadt» und Landichulen, durchweg auf das Princip der Anſchauung 
gegründet. Bearbeitet von A. Pikel, Seminarlebrer in Eiſenach. Mit in den Tert 
u. Figuren — Dritte Auflage, Ausgabe I. Für Lehrer und zum Gebraud in 

eminarien. Preis 1 .M 35 Pf. — Ausgabe 11. Ein Merk: und Wiederholungsbud für 
die Hand der Schüler. cart. 45 Pf. — Anhang. Geometrifhe Rechen: Aufgaben. Erſte 
Auflage. Preis cart. 30 Pf. 
Für die Befiger der 1. u. 2. Auflage von Ausgabe I ber Geometrie, ſowie für Diejenigen, welde 
die Geometrifhen Hechen= Aufgaben allein gebrauchen: 
Auflöfungen zu ben Geometrijhen Rechen - Aufgaben. Preis 15 Pf. 


Die Gediegenheit dieſes Wertes, die es in Beit zu einem der beliebteften Lehrmittel machte, 
fennzeichnet fih am beften durch die große Anzahl Orte, in denen bereits Einführung erfolgte, jo daß 
wir und jeder weiteren Empfehlung enthalten können. Bereits eingeführt in: 


Alfeld, Alsfeld, Altenburg, Wltenefien, Altona, Anclam, Annaberg, Apolda, Aſchaffenburg, 
Aurich, Barby, Baugen, Belzig, Bensheim, Berent, Berlin, Bernitabt, Bielefeld, Biihofswerda i. ©. 
Biihofswerder, Blantenhain, Vleicherode, Bonn, Borbed, Borna, Bradwede, Braunſchweig, Bremen, 
Breslau, Caſſel, Ehemnig, Ehur, Eolberg, Eöln, Eöthen, Erimmitihau, Danzig, Darmftabt, Döbeln, 
Dramburg, Dresden, Dudweiler, Duisburg, Eiſenach, Erfurt, Efien, Frankfurt a. M., Hrauenitein, 
Freiberg, Friedberg, Geiſa, Glauchau, Gleiwig, Glücksburg, Gohlis, Böppersborf, Goslar, Gotha, 
Greifswald, Gr. Debeleben, Großenhein, Grün, Habelſchwerdt, Hamburg, Hanau, Hannover, Heiligenftabt, 
Hildburghaufen, Hildesheim, Hohenftein, Homberg, Hoerde, Ilmenau, St. Johann, Ihzehoe, Kiel, Kirchberg, 
Klagenfurt, Klingenthal, Köien, Leipzig, Lichtenfels, Limbach, Lindenfels, Löbau, Lüneburg, Buzern, 
Magdeburg, Meiningen, Meißen, Mettmann, Mitau, Mittweida, Mühlhaufen i. E., Mühlhauſen i. Th., 
Neuftadbt im Odenwald, Norden, Oldenburg, Dihas, Osnabrück, Ottweiler, Paſſau, Plauen, Brag, 
Prenzlau, Radegaft, Raftatt, Raftenburg, Riga, Rochlitz, Ronneburg, Saarbrüden, Saargemünd, Saar- 
louis, Salzungen, Schmallalden, Schneeberg, Schwarzenberg, Schweinfurt, Siegen, Siegburg, Soeft, 
Stargard, Stettin, Sulzbach, Tauberbiſchosheim, Trarbach, Tetihen, Weimar, Wien, Witten, Wolien- 
büttel, Worbis, Würzburg, Zittau, Bihoppau, Bülz, Zürich, Zwidau, Zwönitz. 


Anweiſung zum elementaren Lefe und Shreibunterricht für Yebrer und 
Yebrerinnen, jowie zum Gebraude an Seminarien, Bon A. Pidel. 1.4 20 Bi. 


Diejes Schriften will kurzer Hand auf dem Gebiete des elementaren Lejeunterrichts orientiren 
und einfad; und ficher in die Lehrpraris einführen. Es enthält daher in einem allgemeinen 1. Theile 
eine furze, überfichtlihe Darftellung der einzelnen Lejelehrarten, wie fie nad und nad im Unterrichte 
zur Geltung gelangt find , und fovann in einem bejondern II. Theile die Vorführung eines jpeciellen 
Unterrichtöverfabrens bis in die Heinften Details, das fih in der Schule feit Jahren bereits bemährt 
bat. Der angebende Lehrer gelangt auf dem Wege der Anihauung am fiherften, kürzeſten und gefahr 
lofeften zur — Selbſtändigteit und Sicherheit im unterrichtlichen Thun. Er macht Erfahrungen 
an * Hand eines Führers und bleibt fo vor den Nachtheilen des bloßen Probirens und Experimeutirent 
bewahrt. 








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