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Full text of "Encyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer und alphabetischer Bearbeitung"

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—A 
RECHTSWISSENSCH 
AFTIN 


SYSTEMATISCHER 











HARVARD LAW LIBRARY 


FROM THE LIBRARY 


or 
BRINTON COXE 


GIFT OF HIS SON 


EDMUND JAMES DRIFTON COXE 


Received Feb. 25, 1903 


nr. ent *7 





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Enchflopädie 


Hebtswilfenfbaff 


ſyſtematiſcher und alphabetifcher Bearbeitung. 


Herausgegeben 


unter Mitwirkung vieler Redhtsgelehrter 


bon 


Dr. Franz von Holgendorff, 


o. d. Profeflor der Rechte in Münden. 


Zweiter Theil. 
Bechtslerikon. 
Dritter Band. 

Erfte Hälfte. 


Dritte, durchgehends dverbefferte und erheblich vermehrte Auflage. 





Leipzig, 
Verlag von Dunder &@ Humblot. 
1881. 


Rechtslexikon. 


Herausgegeben 


unter Mitwirkung vieler Rechtsgelehrter 


von 


Dr. Franz von Holtzendorff, 


o. d. Profeſſor ber Rechte in München. 


Dritte, 
auf Grund der neueften Reichsgeſetzgebung vollftändig umgearbeitete und unter 
bejonderer Berüdfichtigung des Verwaltungs: und des Handelsrechts 
bedeutend vermehrte Auflage. 


Dritter Band. 
Erſte Hälfte. 


Pachmaun — Atöckhardt, 





Leipzig, 
Verlag von Duncker & Humblot. 
1581. 


Das Ueberjegungsredht wie alle anderen Redhte für das Ganze und die einzelnen Theile vorbehalten. 
Die Berlagsbuhbandlung. 


Nie: [72,77 HE, 1902 


Vorrede zur dritten Auflage. 


Was den Grundplan und die allgemeine Anlage, insbejondere das Verhältniß 
zum erften, ſyſtematiſchen Theile dev EncyElopädie anbelangt, blieb dieſe 
neue Auflage des Nechtslerifons unverändert. Dagegen erfuhr diejelbe in ihrem 
äußeren Umfange eine erhebliche, in der nunmehrigen Dreizahl dev Bände her: 
portretende Vermehrung und eine jorgfältige Umarbeitung in zahlreichen Einzel: 
heiten. Schon die reichsgejegliche Umgeftaltung des gefammten Prozeßrechts 
und der Gerichtsorganifation mußte auf die Anordnung der Artikel einen weit: 
greifenden Einfluß ausüben, und es darf als ein günftiger Umftand bezeichnet 
werden, daß der Anfangstermin in der Wirkjamkeit der neuen großen Reichs: 
gejeßgebungsakte nahezu mit dem Zeitpunkt zufammenfiel, in welchem die 
zweite Auflage des Rechtslexikons erſchöpft war. 

Abgejehen von dem Prozeßrechte, erſtreckte ſich die dem Nechtslerifon 
gewordene Umgeftaltung und Erweiterung vornehmlich auf die Gebiete des 
Handels- und Verwaltungsrechts, nachdem durch eine von dem Herausgeber 
und Verleger gemeinfam ergangene Umfrage bei Mitarbeitern und Gönnern der 
„Encyklopädie“ ermittelt worden war, welche Mängel der zweiten Auflage einer 
Verbefjerung oder Ergänzung bedürftig ericheinen möchten. 

Noch immer ift jedoch daran feitgehalten tworden, daß das Rechtslexikon 
hauptjächlic die Beftimmung zu erfüllen habe, ſich in der überfihtlichen Dar- 
ftellung des für die NRehtsanmwendung wejentlichjten Materials der Juris: 
prudenz nad) dem Gefichtspuntte thunlichfter Spezialifirung des Stoffes brauchbar 
zu erweiſen, ohne den theoretischen Gefichtspuntten der Nechtsphilojophie und 
der Syſtematik oder der Nechtsgeichichte eine in befonderen Artikelüberichriften 
ausgedrückte Bedeutung beizumeffen. Der Herausgeber konnte keinen Augenblick 
darüber in Zweifel fein, daß troß aller auf die Feſtſtellung diefer Artikel— 
überjchriften angewwendeten Mühe die Abgrenzung des im Rechtslexikon ent- 
haltenen Stoffes ſowol gegenüber den leitenden Rechtsbegriffen der Wiſſenſchaft, 
als auch gegenüber den Bedürfniffen der Praris durch ftreng konjequente Durch— 
führung einer abjtraften Negel nicht zu erreichen jei. Auf dem Boden des 
öffentlichen Rechts insbejondere mußte beinahe überall die Schwierigkeit hervor- 
treten, die rechtlich bedeutjamen Gefichtspunfte der Verwaltung von den 
politiichen Erwägungen der Zwedmäßigkeitsiphäre Scharf zu trennen, um damit 
auszudrüden, daß das Rechtslexikon ein theils enges, theil3 weiter begrenztes 
Gebiet erfüllen joll, al3 jene Staatswörterbücdjer der Vergangenheit, die als 
Encyklopädie der gefammten Staatswiſſenſchaft gelten wollten. 


VI Vorrede. 


Wenn der Herausgeber das Erſcheinen dieſer dritten Auflage, deren Voll— 
endung durch mancherlei nicht vorgeſehene Hinderniſſe verzögert wurde, mit 
größerer Zuverſicht begleitet als frühere Auflagen, ſo berechtigt ihn dazu die 
uneigennützige und ſorgfältige Mitwirkung, welche die Durchführung des im 
Frühjahre 1879 entworfenen Programms bei Herrn Profeſſor Dr. Dochow 
gefunden hat. 

Ein für den Herausgeber unvermeidlicher Winteraufenthalt in Italien 
bedingte zur Verhinderung eines zeitraubenden, der Sache nachtheiligen Brief— 
wechſels zwiſchen den vier betheiligten Perſonenkreiſen der Redaktion, der Mit— 
arbeiterſchaft, der Verlagshandlung und der Druckerei eine Stellvertretung des 
Herausgebers, die Profeſſor Dochow nicht nur während der Abweſenheit des 
Herausgebers übernahm, jondern theilweife auch nad) defjen Rückkehr in Be- 
ziehung auf ſolche Materien fortführte, über welche im Voraus jelbftändig zur 
Förderung der Sache von der Stellvertretung während der Abtwejenheit des 
Herausgebers disponirt worden war. Profeſſor Dochow ift daher neben dem 
Herausgeber bis zur Vollendung des Werkes fürdernd, prüfend, fichtend, beifernd, 
thätig geblieben. 

Es gelang ihm nicht nur, bei dem unvermutheten Rücktritt mancher älterer 
Mitarbeiter, die troß gegebener Zufagen im legten Augenblic fich wegen plötzlich 
eingetretener Hinderniffe abwendeten, dem Rechtslexikon werthvolle neue Kräfte 
in der Mitarbeiterichaft zuzuführen, jondern auch vorhandene Lücken in nicht 
wenigen Ginzelheiten zu ergänzen und Mangelhaftes zu befjeitigen, zumal ex 
gelegentlich jtrengere Kritik walten zu laffen dadurch befähigt blieb, daß er 
unabhängiger geftellt twar gegenüber mancherlei Rückſichten, deren Ueberlieferung 
den Herausgeber ſchwer zu begründender Sammelwerke nöthigt, bei eintretenden 
Erneuerungen ſachliche Jntereffen Hinter perfönliche Schwierigkeiten zurücdtreten 
zu laffen. 

Die verhältnigmäßig weitgehende Selbjtändigfeit, mit welcher die Stell- 
vertretung des Herausgebers in der Durchführung des Artifelprogramms bei 
mannigfachen Einzelheiten verfuhr, war daher dem Fortgange des Unternehmens 
überall förderlich). 

Wofern diefe neue Auflage nicht blos als eine vermehrte, ſondern aud) als 
eine verbefferte anzufehen ift, gebührt den Herren Mitarbeitern und der 
redaktionellen Mithülfe des Herrn Profeffor Dochow ein weit größerer Theil 
der Anerkennung als dem Herausgeber jelbjt, dem es eine angenehme Pflicht 
war, an diejer Stelle feinen Dank auszusprechen. 


Gaftein, 11. September 1881. 


Franz von Holtendorff. 


Inhalt 


des dritten Bandes des „Rechtslexikons“. 


Erite Hälfte: Vorrebe 
Inhalt des dritten Bandes 
Alphabetifche Reihenfolge der Artitel „Bachmann“ bis „Stödhardt”“ , 


Zweite Hälfte: Alphabetiſche ie ber Artikel „Stolgebühren * bis 
Zypaeus 


Ergänzungen und Berichtigungen 


Verzeichniß der Mitarbeiter mit > der von er bearbeiteten 
Artikel . a ; —— 


Sach regiſter 


Verzeichniß der in den biographiſchen Artikeln RER — 
Literaturabfürgungen . i 


vu 
1—798 


. 799—1510 


1511—1534 


1535—1549 
1550—1582 


1583— 1584 


P. 


Pachmann, Theodor Ritter von, 59. XI. 1801 zu Horatitz in Böhmen, 
wurde in Wien juppl. Prof. für Röm. und Kan. Recht, ordentl. Prof. in Olmütz, 
jit 1850 in Wien, 1870 penjionirt und in den erblichen Nitterftand erhoben, 


Katferl. Regierungsrath, 7 11. I. 1881. 

Schriften: Die Verjährung nad) dem —— bürgerlichen Rechte in Oeſterreich, 
Bien 1833. — Lehrbuch des Kirchenrechts (1849—53), 3. Aufl. Wien 1863—66. — Vorſchule 
dei Röm. Rechts, Wien 1858. — Viele Abhandl. in geitiäriften 

git.: Schulte, a ber Quellen, III.a ©. 430. — Neue freie Prefje Nr. 5912 


(12. Febr.), Nr. 5913 (13. Febr.) TZeihmann. 


Padhtvertrag ift diejenige Art der Miethe (ſ. diefen Art.) im weiteren 
Sinne, bei welcher eine fruchttragende Sache zum Zwed der Nutung gegen eine 
Summe Geldes (Pachtzins) überlaffen wird. Die Sache kann auch hier eine körper: 
liche oder unkörperliche jein, 3: B. das Recht auf öffentliche Gefälle (vectigalia), 
(1.16 D. d. V. S. 50, 16); ein Gewerberecht, ein faufmännifches Geſchäft (Seuffert, 
Ach. XVI. 213). Als Gegenleiftung aber ift Hier abweichend von der Miethe 
ftatt des Geldes eine Quote des Fruchtertrages zu bedingen gejtattet (jog. colonia 
partiaria, Theilpacht) (1. 8; 1. 21 C. de loc. 4, 65; Glüd, XVII ©. 333; 
Sintenis, Gem. Giv.R., II. $ 118 Anm. 4). Dadurch tritt die Pacht dem 
Geiellichaftsvertrage nahe (1. 25 $ 6 D. loc. 19,2). Sie bleibt aber nach Gemeinem, 
wie nach den Partikularrechten unter den Regeln der Pacht jtehen (Preuß. ER. I. 21 
ss 264— 266; Sächſ. BGB. $ 1190); nur nach Dejterr. Recht wird fie zur Sozietät 
(Allg. BGB. $ 1103). Die Grenze zwifchen der Pacht und dem Kauf künftiger 
Erzeugniſſe wird dadurch gebildet, daß bei eriterer die erzeugende Sache unverbrauchbar 
fein und dem Pachter zur eigenen Fruchtgewinnung übergeben werden muß. Hier— 
nach ift die Ausbeute eines Bergwerks, Zorfjtiches 2c. nicht zu verpachten, ſondern 
nur zu verkaufen (Gruchot, Beiträge zum Preuß. Recht, I. ©. 469). Für die 
Form des P. gilt nur partffularrechtlich Bejonderes. So verlangt das Preuß. Recht 
bei Verpachtung eines ländlichen Gutes gegen einen Zins von mindejtens 600 Mark 
gerichtliche oder notarielle Form, und bei Eleineren Landpachtungen oder bei jolchen 
anderwweitigen Pachtungen, deren Jahreszins 150 Mark nicht überjteigt, Schriftlichkeit; 
it diefe Form verabjäumt, jo macht die vollzogene Uebergabe den Vertrag auf ein 
Jahr wirkſam (SS 401—407 Allg. ER. I. 21). Die Verpflichtungen der Parteien 
beftimmen fih im Allgemeinen nad den im Art. Miethe entwidelten Regeln. 
Ter Verpächter hat auch hier die Sache in brauchbarem Zuftande zu gewähren und 
die Zaften und Abgaben von derjelben zu tragen (1.4; 1.20 84 C. de agric. 11, 47). 
To begrenzen dies Partitularrechte genauer dahin, daß er bei Verpflichtungen nad) 
einem Anjchlage nur diejenigen zu tragen habe, die nicht vom Grtrage abgezogen 

®. Holgenborff, Ene. II. Rechtslexikon III. 3. Aufl. 1 


2 Pachtvertrag. 


worden ſind, und bei Verpachtungen in Bauſch und Bogen nur die Hypotheken— 
zinſen und die auf Privatrechtstiteln beruhenden fortlaufenden Leiſtungen (Preuß. 
ER. a. a. D. 88 293, 294; Oeſterr. BGB. $ 1099). Wenn nach einem Pacht: 
anschlage verpachtet ijt, jo muß der Verpächter die darin aufgeführten Grundjtüde 
und Gerechtigfeiten gewährleijten, ſowie auch für die Nichtigkeit der Thatjachen, nach 
welchen. darin die Höhe des Ertrages berechnet iſt, einftehen. Dagegen haftet er 
nicht wie ein Verficherer für den Ertrag jelbit. Der Pächter hat hauptjächlich die 
Pflicht, den Pachtzins zu entrichten. Ueber die Verminderung deffelben wegen ein= 
getretener Unglüdställe vgl. den Art. Remiſſion. Durch bejondere Abrede kann 
auc eine DVorauszahlung des Pachtzinjes bejtimmt werden (jog. Pachtvorichuß, 
Pachtpränumeration); entweder jo, daß der Verpächter die Zwiſchenzinſen vergütet: 
dann dient das Geſchäft nur zu feiner Sicherheit; oder ohne dies: dann ift der 
Pachtzins um die Zwifchenzinjen erhöht. In beiden Fällen geht das Geld jotort 
in das Vermögen des Verpächters über, und der Pächter hat im Falle der Auf: 
löſung des Pachtverhältniffes (3. B. durch Konkurs) nur einen perfönlichen Er— 
itattungsanfpruch (condictio causa data causa non secuta, Dejterr. BGB. $ 1102). 
In anderer Weiſe wird für die Sicherheit des Verpächters geforgt, wenn der Pächter 
ihm Werthpapiere oder dal. ala Pachtlaution behändigt, wovon die Zinſen dem 
Pächter bleiben. Dies ift einfache Verpfändung. Endlich fann an das Ausbleiben 
der Pachtpränumeration ausnahmsweiſe auch ein Nücdtrittsrecht für den Verpächter 
geknüpft werden (Seuffert, Arch. VI. 186). Bein Ablauf des Pachtverhältnifies 
hat der Pächter die Sache zurüdzugeben und verjchuldete Verfchlechterungen zu er— 
jegen. Bei Landgüterpachtung wird oft die Rückgabe des Inventars, befonders des 
Nutzviehs nur in Sachen von gleicher Art und Güte vorgejchrieben (j. d. Art. 
Eiſern-Viehvertrag). Als Verichulden gilt es auch, wenn der Pächter Gerechtig- 
feiten des Grundjtüds durch Nichtausübung untergehen läßt (Seuffert, Arch. XIV. 
213). Dagegen bat derjelbe wegen nothiwendiger und nüßlicher Verwendungen einen 
Erſatzanſpruch (1. 19 $ 4; 1. 55 $ 1 D. loc. 19, 2; Seuffert, Arch. XIV. 30), 
nach Preuß. Recht jedoch nur, wenn fie mit Gimwilligung des Verpächters oder in 
Folge obrigkeitlicher Anordnung zur Beförderung des gemeinen Beiten vorgenommen 
worden find (SS 280—282 Allg. ER. I. 21). In die Laften einer erheblichen 
Einquartierung im Kriege jollen fich nach Preuß. Necht Pächter und Verpächter 
theilen ($ 572 a.a. O.). Die Aiterverpachtung it nach Gem., Oeſterr. und Sächſ. 
Necht erlaubt, außer bei Theilpacht, nach Preuß. Recht dagegen ohne Zujtimmung 
des Verpächters nur an einzelnen Rubriken oder Vorwerken einer größeren Pachtung 
($ 314 a. a. O.). Ueber die Rechtsverhältniffe dabei j. d. Art. Aitermietbe, 
Die Aufhebung der Pacht erfolgt, wie diejenige der Miethe, mit dem Ablauf der 
feſtgeſehzten Friſt und in Ermangelung einer jolchen mit dem Nüdtritt eines Theils 
nach voraufgegangener Kündigung. Wird nach Ablauf der Zeit das Pachtverhältnif 
fortgefeßt, jo erneuert ſich der Kontrakt bei fruchtbringenden Grundjtüden auf die 
Dauer eines Jahres in derjelben Weije, wie der frühere bejtand (1. 13 $ 11; 1. 14 
D. loc.; 1. 16 C. de loc. 4, 65; Seuffert, Arch. IV. 238). Nach Preuß. Recht 
ift die Kündigung bei der Pacht in denjelben Fällen vorgejchrieben, wie bei der 
Miethe (ſ. diefen Art.), und zwar muß diejelbe bei beweglichen Sachen in den 
eriten drei Tagen des PVierteljahres, an deifen Schluß geräumt werden joll, bei 
unbeweglichen Sachen jechs Monate vor der Räumung und bei Landgütern und 
Aeckern ſechs Monate vor Ablauf des im Vertrage beitimmten Wirthichaitsjahres 
erklärt werden. Die Fortfegung des Pachtverhältnifies nach Ablauf der Kontrakts— 
zeit wirft nach Preuß. Recht einen neuen Vertrag nur dann, wenn der Verpächter 
auch Handlungen vorgenommen hat, die feine Zuftimmung ausdrüden, 3. B. Ans 
nahme jernerer Zinszahlungen, mehr als vierzehntägiges Schweigen zu der Erflärung 
des Pächter, den Kontrakt erneuern zu wollen u. dgl. m. Die Dauer der Ver: 
längerung beträgt dann in der Regel ein Jahr oder die im Bertrage feſtgeſetzte 


Pacifici⸗Mazzoni — Parius. 3 


Zeit oder bei der Pacht von Landgütern die Wirthſchaftsperiode (SS 269, 406, 
342—344, 325—331 Allg. ER. I. 21). — Innerhalb der Pachtzeit hat jeder 
Kontrahent ein Rücdtrittörecht aus denjelben Gründen, wie bei der Miethe. Doch 
kann der Verpächter öffentlicher Einkünfte wegen Nichtzahlung des Pachtgeldes ſofort 
vom Vertrage abgehen (1. 10 $ 1 D. de publ. 39, 4). Beim Konkurſe des Pächters 
kann, wenn die Uebergabe der Sache noch nicht erfolgt war, der andere Theil vom 
Vertrage zurüdtreten (KO. $ 18), wenn diefelbe aber bereits ftattgefunden hat, 
jowol der andere Theil als der Konkursverwalter den Vertrag unter Beobachtung 
der gejeglichen oder ortsüblichen Frift kündigen (KO. 8 17 Nr. 1). Iſt es da- 
gegen der Verpächter, welcher in Konkurs fällt, jo wird nur durch eine Veräußerung 
der Sache von Seiten des Konkursverwalters der Vertrag in derjelben Weije kündbar, 
wie durch eine Ziwangsverjteigerung (KO. $ 17 Nr. 2). Endlich giebt nach Preuß. 
Reht auch der Tod des Pächters beiden Theilen das Recht, ein Jahr nach dem 
Todesialle reip. nach Ablauf des Wirthichaftsjahres, in welchem der Tod erfolgt iſt, 
unter Beobachtung der gejeglichen Kündigungsfriit von dem Bertrage abzugeben 
(5 366—370 Allg. ER. I. 21). Die Rechtsmittel beider Theile find diefelben, 
wie bei- der Miethe. Doch hat der Berpächter ein gefegliches Pfandrecht nur an 
den Früchten vom Moment der Abjonderung an, welches auch gegen redliche dritte 
Erwerber wirkſam bleibt (1. 7 D. ex quib. caus. 20, 2). Die Fortführung der 
Früchte hinter jeinem Rüden galt als furtum possessionis (1. 61 $8 D. de furtis 47, 2; 
Dernburg, Piandredht, I. $ 37). Nach Preuß. Necht entjteht diefes Pfandrecht 
ihon an den fructus pendentes, weil dieje im Gigenthum des Pächters find; es 
erliicht aber, wenn der Verpächter die Fortführung der Früchte duldet (Förſter, 
Theorie und Praris, IL. $ 136 Anm. 211). Schließlich enthält das Preuß. 
IR. noch eine Reihe von Detailbeftimmungen aus dem Landwirtbichaftsrecht in 
ss 399— 625. 

£uellen u. Lit.: ©. im Allgemeinen bei dem Art. Miethe. Außerdem: Dredhäler, 
Der landwirthichaftliche Pachtvertrag, Halle 1871. — Blomeyer, Pachtrecht und Pacht: 
verträge, Berl. 1873. — Stobbe, Deutjches Privatrecht, III. $ 186, — Dernburg, Preuf. 
Privatrecht, III. $$ 166173. Ed. 


Pacifici-Mazzoni, Emilio, 5 1832 zu Ascoli (Marken), jtud. in Rom, 
wurde Prof. in Modena, jpäter in Rom, Staatsrath und Rath am Kaſſationshofe, 
7 15. VIII. 1880. 

Schriften: Commento al codice civile italiano con la legge romana, le sentenze dei 
dottori e la giurisprudenza 1866 ss., 3. ed. 1875. — Istituzioni di dritto civile italiano 
1867 ss., 3. ed. Firenze 1880. — Studio storico sulla successione legittima dalle XII 
tavole al codice civile, Modena 1870. — La quistione romana, Fir. 1870. — Dizionario 
di legislazione e giurisprudenza civile, commerciale, amministrativa e penale, 1867 ss. — 
Repertorio generale di giurisprudenza civile, penale, commerciale ed amministrativa del 
Regno, Torino 1877 ss. — Giurisprudenza Italiana, III.a Serie (mit Carrara, Gabba, 
Maurizi), Torino 1874 ss. 

git.: A. Pierantoni in Revue de droit international XII. 551. — Archivio giuridico 
XXV, 204. Teihmann. 


Pacius Giulio (Pacio a Beriga), & 9. IV. 1550 zu PVicenza, wurde 
in Genf Prof. und 1576 Bürger, lehrte 1585 in Heidelberg, dann in Sedan, Mont— 
pellier, Padua und Valence, T 1635. 

Er edirte: Instit. I. IV., 1579; Francof. 1583; Amst. 1642; — Corp. jur. civ., Genev. 
1580; und ſchrieb: De jur. civ. difficultate ac docendi methodo oratio, Heidelb. 1586. — 
Erarriogerom 8. legum conciliandarum centariae 3, Spir. 1586, 10 cent. Colon. 1661. — 
Analysis Institutt. Imperalium, 2 1605, zieht von Wassenaer, Traj. 1663, 1686. — 
Dessen libri, Lugd. 1606, zulegt von Wassenaer, Traj. 1662, 1680. — Comm, ad 
4. librum Codicis, Spirae 1596. — er, Lugd. 1617 (?). 

2it.: Jugler, II. 250—269; VL 147 ff., 346 ff. — Berriat St. Prix in der Revue 
de legislation, 1840. — Rivier, Introduction hist., p. 512. — Schulte, Gedichte, III. a 
&.469. — v. Stinhking, Geſchichte der Deutſchen Rechtswifſenſchaft (1880), I. 390—392 u. ö. 

Zeihmann. 
1 * 


4 Padelletti — Paine. 


Poadelletti, Guido, & 1843 zu Livorno, ſtud. in Siena, kurze Zeit Advotat 
in Florenz, ging Studien halber nach Berlin, wurde Profeffor in Perugia, dann in 
Pavia, Bologna, 1874 in Nom, 7 3. VII. 1878 in Montalcino (Toskana). 
Schri n: Heredis institutio ex re certa secondo il diritto romano, im Arch. giu- 
ridico IV. 139—165, 343-—-386 (deutich: Lehre v. d. Erbeinfegung ex re certa, Berl. 1870). — 
Arch. giuridico II. V., VL, VIII, XIL, XIIL, XV. XVII, XVIIL — Teoria_ dell'elezione 
erg (preiägefrönt), Napoli 1870. — Nuova Antologia marzo 1869, maggio 1870, sett. 
871, gennajo, maggio 1874, luglio 1875, gennajo 1878. — Fontes juris italici medii aevi, 
Torino 1877. — Storia del diritto Romano, Firenze 1878 (deutſch von v. Holkenborff, 
Berlin 1879). — Seritti di diritto Pubblico, Firenze 1881 (nad) bem Tode gefammelte kleinere 
re Auguft Wilhelm Zumpt, Zur Erinnerung an jein Leben und jeine Schriften, 
eipz. 5 
git.: Brusa in Revue de droit international X. 445—453. — Arch. storico italiano 
1878, p. 483. — Bruns in ber Sit. BJ.Schr. N. F. I (1878), 525—532, 540. — Nouv. 
Revue a. III. — Revue historique de Monod, VIII. (1878) p. 237. — Cenno necro- 
logico im Arch. giuridico XX. 563. — Revue de droit international VIII. (1876) 703. 


Zeihmann. 


Pagano, Mario, 5 1748 zu Brienza, wurde 1768 Prof. in Neapel, ver: 
folgt wegen feiner liberalen Anfichten, ging ins Exil, nachher Mitglied der proviſo— 
rischen Regierung, 6. X. 1800 hingerichtet. 

Schriften: Consid. sul processo crim., Nap. 1787, 1801; franz. von Hillerin, 
Strassb. 1789. — Ag del codice penale; Teoria delle proc.; Consid. sul proc. crim., 
Milano 1853 (in der Bibl. scelta del foro criminale von Toccagni). — Saggi politici dei 
principij, progressi e decadenza della societä (3), Lugano 1831. — Principij del codice 
penale e considerazioni sul proc. crimin., Lugano 1832. — Opere filosofico-politiche ed 
estetiche, precedute dall’ elogio storico di F. M. Pagano, scritta dal citt. Massa, Capolago 
1837. 


_ 2it.: Nypels, p. 29, 80. — Sclopis, II. 616. — Revue critique 1860 (X VL) 
p. 223. — Brusa, Appunti per una introd. al corso di dir. e proc. penale, Torino 1880 
p. 211. Teihmann. 


Baillet, Alphonſe Gabriel Victor, 5 17. XI. 1796 zu Soifjons, 
debütirte in der affaire Papavoine und wurde bald einer der hervorragenditen 
Advokaten der Jebtzeit, T 16. XI. 1855 vor Gericht. Gr trat auch in den Prozeſſen 
Lafarge, Fieſchi, Firmin Didot Freres auf. Seine Plaidoiries et discours gab Jules 
Le Berquier, Paris 1881 heraus. 

@it.: Michaud. — Gaudry, Barreau de Paris, 1864 II. 585, 592. — Barreau de 
Pinard — Eloge à la rentree des conferences de 1859. — Preface in obigem Werte 
p. L.—LV. — Paillet ou l’avocat, par Lionville, 1880. Zeihmann. 


Bailliet, Jean Baptiſte Joſeph, 5 17. XII. 1789 zw Orleans, wurde 
Advofat in Paris, dann Richter in Orleans, jpäter App.Rath, zog ſich 1851 zurück, 
7 10. IV. 1861. 


Schriften: Legislation et jurisprudence des successions, Par. 1811—23. — Manuel 
du droit francais, Par. 1812; 9. ed. 1836. — Tables anal. et raisonndes des 5 codes, 
Par. 1813. — Consid. sur l’&tat moral de la France, Par. 1815. — Droit public francais, 
Par, 1822. — Diet. univ. de droit francais, Par. 1825. — Codes et lois de la France, 
Par. 1849. 

git.: Michaud, Biogr. universelle, t. 31. Teihmann. 


Baine, Ihomas (Tom Paine), 5 29. I. 1737 zu Thetford (Norfolk), 
ging auf Franklin's Veranlaſſung nad) Philadelphia, für fein Pamphlet Common 
sense mit 500 Pid. durch die Legislatur von Penniylvanten, mit 500 acres durch 
den Staat New-York belohnt, jpäter in England wegen feiner Rights of man ver— 
folgt, nach feiner Flucht in Paris als Franzöfiſcher Bürger mit Enthuſiasmus em— 
piangen, bald jedoch wegen jeiner Abftimmung gegen das Todesurtheil Ludwig's X VI. 
gefangen gejeßt, ging 1802 nach Amerika zurüd, 7 8. VI. 1809 zu New-York. 

Er jchrieb: Common sense, 1776, franz. von Labaume, 1793. — Rights of man, 
1791 (Theorie et pratique des droits de ’homme par Soul&s et Lanthenas, 1791). — 

Age of reason, 1792--1307, franz. 1793. — Agrarian Justice, 1797. 


Palaeottus — Papitwahl. 5 


git.: Biogr. von Cheetham 1809, Garlile 1814, Vale, New-Yort 1841. — Recueil 

de divers écrits de P. sur —— et la lögislation, Par. 1792. — Works by Mendum, 

Boston 1856, — Political Works, Lond. 1861. — &ine deutſche Ausgabe feiner politiichen 

Schriften, Philad. 1876. — Michaud. — Cates, Dictionary, — Raumer, Geld. 

Entw. d. Begr. von Recht, Staat und Politil, 3. Aufl. ©. 105, 112. — Warnkönig, 

Rechtsphiloſophie, 2. Ausg. 1854, ©. 122. — Drake, Dictionary, — 683, 684. 
eihmann. 


Palaeottus, Gabriel, 5 4. X. 1522 zu Bologna, jeit 1546 Prof. des 
Kan. Rechts, 1556 bei der Rota, 1561 in Trient, 1565 Kardinal, 1566 Biſchof 
von Bologna (jeit 1582 GErzbisthum), T 22. VII. 1597. 


Gr jhrieb: De nothis et spuriis, Bon. 1550; Venet. 1572; Francof. 1573. — De- 
eisiones Rotae. — Acta Concilii Tridentini a. 1562 et 1563, edid. Mendham, 1843. 
Lit.: Schulte, Geidhichte, III. a ©. 453, 454. TZeihmann. 


Banciroluß, Guido, 5 1523 zu Neggio, wurde 1547 Prof. Instit. in 
Padua, 1571 in Turin, 1582 wieder in Padua, T 1599. 

Schriften: Consilia, Venet. 1573. — Notitia dignitatum utriusque imperii, Venet. 
1593, 1602; Genev. 1623. — Rerum memorabilium 1. IL, Amberg. 1599, 1607; Lips. 1707; 
franz. Lyon 1617. — Tbesaurus variarum lectionum utriusque juris, Venet. 1610; Lugd. 
1617. — De claris legum —— Venet. 1637, 1655; c. Hoffmanni Lips. 1721. — 
Opera (Thesaurus univ. jur.), Venet. 1584. 

git.: Savigny, III. 54—58. — Nour: biogr. generale, Par. 1862. — Rivier, 5ll. — 
v. Stinging, Geſchichte der Deutichen Rechtswiſſenſchaft (1880), I. 121, 130, 233, 240, 390, 
592, 594. Zeihmann. 


Panisbrief (Brod-, Freßbrief, Laienherrenpfründe, literae panis, vitalitii) 
beißt die Anweifung an ein geiftliches Inſtitut, einer bejtimmten Perfon (dem jog. 
Paniſten, Brödling, Laienpfründer) den Yebensunterhalt („eine Laienpfründe von 
Küchen und Keller jammt allen leiblichen Nahrungen und Nothdürften”) zu ge— 
währen. Gntjtanden aus dem Recht weltlicher Fürjten auf Unterhalt in Klöjtern 
und in Stiftern während ihrer Reifen, übten es diefe und zwar in Deutjchland der 
Deutiche Kaiſer gegen die eben gedachten Inſtitute, die Deutjchen Fürjten gegen 
landjäffige derartige ‚Anftalten aus. Die Ausjtellung der P. durch den Kaiſer, 
welche als ein Refervatrecht deffelben betrachtet wurde, veranlaßte jeit der Reior- 
mation viele Streitigkeiten, da die evangeliichen Stifter diejelben beanjtandeten, 
väter weigerten jich auch die Landesherren (jo namentlich Friedrich der Große) fie 
für ihre Gebiete zuzulaffen. Deshalb veriprach der Kaiſer m der Wahlfapitulation 
von 1790 Art. I. 3 9, daß er dieſes Nejervatrecht nur da, wo es hergebracht jei, 
ausüben wolle. Mit der Auflöfung des Deutichen Reiches haben die P. aufgehört, 
jedoch hat der Reichsdeputationshauptichluß von 1803 $ 58 die damals mit einem 
woblerworbenen und anerkannten Recht verjehenen Paniften durch Zuweiſung einer 
angemefjenen Penfion entjchädigt. 

Lit.: Bonelli, Abhandl. des faijerl. Rechte, Panisbriefe En ertheilen, Wien 1784. — 
Sugenheim, Staatöleben des Klerus im Mittelalter, Berl. 1839, I. 361 ff. — Vgl. weiter 
Klüber, Literatur des Deutichen Staatsrechtes, Erl. 1791. P. Hinihıus. 


Bapillon, Thomas, 5 1514 zu Dijon, Advokat am Parifer Parlament, 
1596 


Gr ichrieb: Libellus de jure acerescendi, 1571.— De directis heredum substitutionibus, 
1616. — Comm. in 4 priores tit. libri I. Digest., 1624 (beibe leßtere in Otto, Thesaurus). 
£it.: Michaud. — Rivier, 501. Teihmann. 


Papitwahl. Das bezüglich der P. geltende kirchliche Recht beruht einmal 
aut der Defreiale Alerander’s III. Licet de vitanda, welche vom dritten 
Zaterantonzil (1179) (ec. 6. X. de elect. I. 6), jodann auf der Defretale Gregor's X. 
Ubi periculum, welche auf dem Konzil von Lyon (1274) bejtätigt wurde (c. 8 
in VI.® de elect. I, 6). Dazu famen jpäter noch ergänzende Beſtimmungen, be= 
jonders dur Clemens V. und Gregor XV., die wejentlich Formalien betrafen, , 


6 Papitwahl. 


jo daß das Geremoniale der P. überaus fomplizirt wurde. — Tür die Zeit vor 
Alerander III. jteht troß des Dunkel, das auf vielen Perioden .jener früheren 
Zeit heute noch liegt, feſt, daß der päpitliche Stuhl unter dem bejtimmenden Ein— 
fluß des Staates bejegt wurde. In der älteiten Zeit wählten zwar nur Klerus 
und Bolt den Biſchof von Rom; jeit Beginn der engen Verbindung zwiſchen 
der Kirche und dem Byzantinifchen Reiche aber übten die Kaifer durch Abgejandte 
einen bejtimmenden Einfluß auf die Papftwahl; ja entichieden wiederholt zwieipältige 
Wahlen von fi) aus; ähnlich weiterhin die in Italien an Stelle der Kaiſer 
getretenen Germanifchen Heerführer und Könige, an deren Stelle dann wieder die 
Byzantinifchen Kaiſer traten. Nachdem dann der päpftliche Stuhl längere Zeit der 
Spielball Römifcher Adelsgeichlechter gewejen war, trat der Papſt durch die Krönung 
Pippin's zum König der Franken (754) in enge Verbindung mit dem Frankenreiche. 
Das letztere ſetzte in kirchenftaatsrechtlicher Beziehung die Byzantiniſchen Traditionen 
fort; die Kirche ihrerfeits jtellte zunächit den Einfluß des Fränkiſchen Staates auf 
die Beſetzung des päpftlichen Stuhles gar nicht in Frage. Seit 824 leijtete der 
Papit vor Empfang der Konſekration Eaiferlichen Gejandten einen Treueeid, wodurch 
juriftifch der entjcheidende Einfluß des Kaiſers in ſignifikanter Weiſe ausgedrüdt war. 
Jahrhunderte lang blieb diejes Nechtöverhältniß bei Beſtand: jowol die Korruption 
in Rom als die Feſtigkeit der Fränkischen und Sächfiichen Kaiſer verhinderten jede 
Aenderung. Heinrich IM. feßte drei Deutiche Päpfte direkt ein kraft des ihm 
formell übertragenen Rechtes, den Papſt nach Anhörung der Wünfche der Römer 
zu ernennen. Ein (noch nicht völlig aufgeflärter) Verfuch Nicolaus’ IL, die Ord— 
nung der P. (Dekretale: In Nomine) jejtzuftellen, hatte feinen dauernden Erfolg, 
icheint aber die erjte Aeußerung der weiterhin immer ftärfer auftretenden päpftlichen 
— geweſen zu ſein, die Freiheit der P. von kaiſerlichem Einfluß geſetzlich feſt— 
zuſtellen. 

Erſt Alexander III. gelang es, aus den inzwiſchen in der Kirche zur Herr— 
ſchaft gelangten pſeudoiſidoriſchen Prinzipien die Konſequenzen für die P. endgültig 
zu ziehen. Seit Gregor VII. hatte die Kirche allen weltlichen Einfluß auf ihre 
Dinge abzuſchütteln geſtrebt; Alexander III. erhob dieſen Gedanken bezüglich der 
P. zum formellen Recht und gab zugleich eine feſtbeſtimmte Ordnung der Wahl, 
welche den nicht jelten höchſt bedenklichen Vorkommniſſen bei früheren Wahlen ein 
Ende machen jollte. Die Dekretale Licet de vitanda bejtimmt: wenn bei der 
Wahl Stimmeneinheit unter den Kardinälen nicht erzielt werden 
fann, dann ift derjenige als rehtsgültig gewählt zu betradten, 
auf den zwei Drittel der Wahlfjtimmen jich vereinigt haben. Wer 
fih in Mißachtung diefer Vorjchrift die päpftliche Würde anmaßt, ift den jchwerjten 
firchlichen Genfuren verfallen. Durch dieje Konftitution wurde einmal der Wahl— 
förper feſt abgegrenzt, fjodann der weltliche Einfluß bejeitigt. Das 
wahlberechtigte Kollegium find nur die Kardinäle: erſt 769 waren die Laien von 
der Wahl ausgeichlofien worden, jeit Alerander III. erfolgte diefer Ausichluß auch 
für den Römifchen Klerus mit Ausnahme der geringen Zahl der Kardinäle. 

Das Kollegium der Kardinäle bat fich entwidelt aus den Presbytern 
der Ghrijtengemeinde zu Rom: aus den Presbytern, die in der älteren Zeit dem 
Biichof, wurden die Kardinäle, die dem Papjt zur Seite ftanden. Die Hardinäle 
bilden jeitdem den berathenden Senat des Papites im firchlichen Regimente des 
Erdkreiſes. Die hiſtoriſche Entwidelung des Kardinalates liegt noch jehr im 
Dunkeln: frühzeitig (im 12. Jahrhundert) läßt fich jedoch jchon die Heute noch 
beftehende dreifache Gliederung in Kardinalbifchöfe, Kardinalpriejter und 
Kardinaldiafone nachweiien. Die Diafonen waren mit der Armenpflege bes 
traut, die Priefter hatten den Gottesdienjt an den Hauptkirchen Roms zu verjehen, 
die Biſchöfe bildeten den Episkopat der Römifchen Metropolitanprovinz. Erſt jeit 
1576 wurde der Karbinalat auf Römische Priefter beichränftt. Die Heutige 


Papitwahl. 7 


Organijation des Kollegiums rührt von Sirtus V. (1587): er bejtimmte die 
Zahl der Kardinäle aut 70 in maximo, darunter 6 Biichöfe (von Dftia, Porto, 
Sabina, QTusculum, Albano, Pränefte) und 14 Diakonen; Diafone und Priejter 
find geweiht auf die Titel Römifcher Kirchen (3. ®. N. N. cardinalis ad S. Mariam 
Majorem). Die Kardinäle werden vom Papjt ernannt, herkömmlich unter gewiffer 
Perükfichtigung der fatholifchen Mächte; nicht jelten erhalten Bilchöfe oder Erz— 
biihöfe auswärtiger Didcefen die Kardinalswürde. Die Ernennung kann auch in 
petto erfolgen, d. 5. der Papſt behält fich vor, den Namen des Ernannten zu einer 
ihm gut fcheinenden Zeit zu publiziren. Die Zeichen der Würde find der rothe 
Out (cappa magna), Purpurkleider (welche nur die Ordensgeiſtlichen nicht tragen) 
und der Kardinalsring; neu ernannte Kardinäle werden feierlich in einem Konſiſtorium 
eingeführt „und empfangen durch die ſymboliſche Geremonie des Schließens und 
Deffnens des Mundes das Necht, an den Berathungen Theil zu nehmen. Die 
Kardinäle führen den Titel Eminenz und haben den Rang Römifcher Fürſten. Im 
Kollegium follen ausgezeichnete Doktoren der Rechte und Magiftri der Theologie, 
vomehmlich aus den Bettelorden, jein. Während der Vakanz des päpftlichen Stuhles 
wird die Regierung durch das Kardinalskollegium, und zwar in erjter Linie durch 
den Kardinallammerlengo geführt. Doch dürfen während der Vakanz nur die laufen- 
den Geichäfte erledigt werden. Daß der Papft aus der Mitte des Kollegiums ge- 
wählt werde, iſt ein ſeit Jahrhunderten (jeit 1378) fejtitehendes Herkommen, eine 
ausdrüdliche Vorſchrift dieſes Inhaltes beſteht jedoch nicht und das offizielle Cere— 
montale Gregor's XV. jet auch die Möglichkeit einer Wahl extra collegium voraus. ' 

Seit Alerander III. ift Zmeidrittelmehrheit der Kardinäle zu einer gültigen P. 
nothwendig und ausreichend. Das Recht, an der Wahl theilzunehmen, fann feinem 
Kardinal entzogen werden, auch nicht durch die jchweriten kirchlichen Genfuren. 
Martin V. ift der einzige allgemein anerfannte Papſt der nicht vom Kardinals— 
follegium, jondern von einem Konzil, dem von Konſtanz, ermwählt wurde. 

Stirbt der Papit während eines ökumenischen Konziles, jo fteht doch die Neu— 
wahl nicht diefem, ſondern dem KHardinalsfollegium zu; das Konzil ift durch den 
Tod des Papftes ipso jure fuspendirt, bis der Nachtolger über die Fortſetzung ent— 
ſcheidet. Dieſe Säbe wurden durch die Const. Cum Romanis Pontificibus ‘Pius’ IX. 
vom 4. Dezember 1869 dauernd dem Kirchenrecht eingefügt. Kein dritter Faktor 
hat ein Recht der Mitwirkung an der P.: ohne Widerjpruch ſtatuirte Alerander im 
Sinn Pſeudoiſidor's die „Kanoniſche Freiheit" der Wahl. So das Kirchenrecht. 
Wir begegnen jedoch in jpäterer Zeit unter dem Namen Exclusiva doch wieder 
einer Theilnahme weltlicher Mächte an der Wahl. Die Excelusiva ſteht in feinem 
hiſtoriſchen Zufammenhang mit den ftaatlichen Nechten der früheren Zeit. Eine 
rechtliche Formulirung hat die Erklufiva niemals gefunden, weder durch Gejeh noch 
durch ein den Griorderniffen des Gewohnheitsrechtes entiprechendes Herkommen. 
Vielmehr befteht diejelbe Lediglich in einer gewiſſen Berüdfichtigung der Wünſche 
einzelner Staaten, deren Maß jedoch völlig von dem Belieben des Wahlfollegiums 
abhängt. Ob die Erflufiva den Staaten oder den monarchifchen Staatsoberhäuptern 
zuftehe, wird beftritten. Die Exkluſiva wird zugeichrieben: Defterreich als dem 
Rechtsnachfolger (?) des alten Deutjchen Reiches; daB Italien Rechtsnachtolger 
Neapels, iſt juriftiich jedenfalls unbedenklicher als die vorbezeichnete Rechtsnachfolge 
Deiterreichs, Jtalien hat jedoch durch das Garantiegefeß verzichtet; Frankreich und 
Spanien; endlich beanfprucht Portugal diejelbe. Die Erklufiva kann fich nur auf 
einen einzigen Kardinal beziehen. Diejelbe wurde im Laufe der Zeiten vom Wahl: 
körper wiederholt berüdfichtigt (jo Dejfterreichs 1828, Spaniens 1830), zu anderen 
Zeiten mißachtet (fo die Spaniſche unter Garl V. und Philipp II). Daß eine gegen 
die eingelegte Erklufiva vollzogene P. rechtlich volllommen gültig, it unzweifelhaft. 
Die Erflufiva dürfte fich im Zufammenhang mit dem nachreformatoriichen Staats— 
tirchenthum entwidelt haben: ihre prinzipielle Vorausſetzung wäre aladann der ſtaats— 


8 Papitwahl. 


rechtlich fatholifche Charakter des berechtigten Staates; diefer prinzipiellen Voraus— 
jegung aber genügt heute feiner der oben genannten Staaten mehr, höchitens 
Spanien. — 

Die Konftitution Gregor’s X. Ubi periculum ordnet das jogen. Konklave 
an. Miederholte Verzögerungen der Wahl (Gregor X. war erft drei Jahre nad) 
dem Tod jeines Vorgängers gewählt worden) veranlaßten Gregor X. zu der Ber 
ſtimmung: Nach dem Tode des Papſtes jollen die Kardinäle zehn Tage auf ihre 
abwejenden Kollegen warten. Nach Ablauf diejer Friſt jollen fie ji im 
Palaſt, in dem der Papſt verftorben, ein- und von allem Verkehr 
mit der Außenwelt abjchließen; das. Gemach, welches fie gemeinfam be— 
wohnen, ſoll nur einen Ausgang haben. Nur Kardinäle, welche das Konklave 
wegen jchwerer Krankheit verlaffen mußten oder welche erjt nach Ablauf der zehn— 
tägigen Friſt eintrafen, haben noch Zutritt. Nach Ablauf von drei Tagen jollten 
die Kardinäle nur mehr je ein Gericht für Mittag und Abend, nach weiteren fünf 
Tagen nur mehr Brod, Wein und Waſſer erhalten. Dieje ftrengen Speifegebote 
Gregor’3 X. wurden jpäterhin gemildert. Vorherige Verfprechungen, Verträge oder 
Eide, die die Wahl betreffen, find nichtig und ſtrafbar. Für den Fall dab der 
Papſt an einem anderen Orte als dem Sitz der Kurie verjtorben ift, haben fich die 
Kardinäle dorthin zu begeben. Iſt aber die Ortſchaft oder die Stadt mit dem 
Interdikt belegt oder in offener Empörung gegen die Römische Kirche, jo muß ein 
nahegelegener Ort gewählt werden, in Betreff deifen dieje Hinderniffe nicht obwalten. 
* Ob Rom unter der königlich italienischen Herrichait als in Empörung gegen die 
Kirche begriffen zu betrachten jei, war beim letzten Konklave im Schoofe des Wahl 
förpers bejtritten; die Wahl erfolgte zwar in Rom, aber unter voller Verwahrung 
aller päpjtlichen Nechte; die Freiheit der P. ift jedenfalls durch die derzeitige 
Italienische Gejeßgebung jo unbejchränft ala möglich verbürgt. (Legge sulle prero- 
gative del Sommo Pontifice e della Santa Sede e sulle relazioni dello stato colla 
chiesa, ſogen. Garantiegefeg vom 13. Mai 1871 Art. 6: „Durante la vacanza 
della sede pontificia nessuna autoritä giudiziaria o politica potra per qualsiasi 
causa porre impedimento o limitazione alla libertä personale dei cardinali. Il 
Governo provvede a che le adunanze del Conclave e dei Conecili Ecumenici non 
siano turbate da alcuna esterna violenza.“) — ®on den angegebenen Formvor— 
jchriitten darf das Kollegium nach ausdrüdlicher Vorſchrift Clemens’ V. fich weder 
ganz noch theilweije dispenfiren, wenn Hierzu nicht ganz bejondere Gründe vorliegen. 
Gregor XV, und Urban VIII. haben (1621—1625) das ganze Geremoniale der P. 
noch bejonderö fodifizirt (Aeterni patris filius und Ad Romanum Pontificem). Die 
Perjonen, welche die Kardinäle mit in's Konklave nehmen dürfen, find nad) Zahl 
und Stand genau angegeben. Nach dem Gintritt in’s Konklave bejchwören die 
Kardinäle die Kirchengejege über die P. Für die Nechtsgültigkeit der Wahl ift die 
Beobachtung der Vorjchriften über Konklave und Klauſur (nicht aber der übrigen 
Trormalien) unbedingte Vorausfegung. Die Wahl erfolgt per inspirationem: 
durch jorortige Ginjtimmigfeit; oder per compromissum: indem die Kardinäle 
die Wahl einigen Schiedsmännern übertragen, die aber einjtimmig gewählt jein 
müffen; oder per serutimium: durch jchriftliche Abjtimmung. Letzteres ift die 
Regel und die Einzelheiten der Abjtimmung find aufs allergenauefte geordnet (vgl. 
Richter- Dove, Kirchenrecht, $ 123 N. 28 die Angabe der einzelnen Akte). Hat 
das erite Skrutinium feine Zweidrittelmehrheit ergeben, jo ift der fogen. Acceß 
geitattet: das Skrutinium wird wiederholt und hierbei ift der Zutritt neuer Stimmen 
zu den bisher jchon auf einen Kandidaten vereinigten gejtattet. it eine gültige 
Wahl erfolgt, jo findet nach erfolgter Annahme, durch welche jorort die Jurisdiktion 
erworben wird, Wechjel des Namens und danach die feierliche Adoration durch die 
Kardinäle jtatt; jodann wird die Publikation der Wahl an's Volk durch den ältejten 
Kardinaldiaton vollzogen, weiterhin gejchieht die Krönung, von welcher die Päpfte 


Paraphernen. 9 


ihr Pontifitat datiren; war der Gewählte noch nicht Biſchof, jo wird er vorher 
feierlich Hierzu durch den Kardinalbiſchof von Oſtia konſekrirt. Sich jelbit einen 
Nachfolger zu ernennen, ift der Papſt nach geltendem Rechte nicht befugt; ob der 
Papit das geltende Recht dahin abändern kann, daß er fich jenes Necht beilegt, iſt 
beitritten, dürfte aber nach der dermaligen Entwidelung des Kanoniſchen Rechtes zu 
bejahen jein. — Endli find noch die Konftitutionen Pius’ VI. und VII. über 
die P. zu erwähnen. Veranlaßt durch die außergewöhnlichen Verhältniffe, in welchen 
Rom und die päpjtliche Curie durch die Napoleonifchen Kriege fich befanden, erließ 
Pius VI. im Jahre 1797 die Bulle Christi Ecclesiae regendae, welche den 
Kardinälen bezüglich der Zeit und des Ortes des fünftigen Konklave alle erforder: 
liche Freiheit zur Abweichung von den beftehenden VBorjchriften gewährte und diefe 
reiheit auch in der Zukunft für jeden Fall gewährt wiffen wollte, wo Unruhen 
im Volke, kriegeriſche Okfupation, Kriegsgefahr oder andere unmittelbar drohende 
Uriachen die kanoniſche Vornahme der PB. gefährden könnten. Pius’ VI. Nachfolger 
Pius VII. wurde daraufhin in Venedig gewählt. Eine zweite Bulle Pius’ VI. vom 
Jahre 1798 Cum nos superiori anno dehnte die Fakultäten, von den firchengejeß- 
hen Vorſchriften abzumeichen, noch weiter aus: der Kardinaldefan allein jollte 
danach berechtigt fein, den Ort des Konklave zu bejtimmen; wenn nur einige 
Kardinäle ſich dafelbjt verjammeln, jollen fie zur Vornahme der Wahl berechtigt 
fein. Pius VII. beftätigte durch die Bulle Quae et quanta cura im Jahr 1804 
die Bullen feines Vorgänger. Die Päpfte des 19. Jahrhunderte Leo XI, 
Pius VII, Gregor XVI., Pius IX, wurden nach den für normale Zeiten 
geltenden Borjchriiten gewählt; ebenfo Yeo XII. nach lebhaftem, befonders von 
dem englischen” Kardinal Manning geführten Kampfe im Schooße des Kardinals— 
follegiums, 

Gigb.: C. 1. Dist. XXI. (Nikolaus II., dazu befonderd die unten cit. Schrift von 
Scheffer-Boichorſt); ec. 6 X. de elect. I. 6 (Alexander III.); c. 3 in VI de elect. 1. 6 
(Sregor X.); c. 2 de elect. in Clem. I. 3 (Elemens V.). — Const. Aeterni Patris Filius 
1624 und Ad Romanum Pontificem 1625 (Gregor XV., Urban VIIL). — Bulle Christi 
Ecclesiae regendae 1797 (Pius VI). — Cum Nos Superiori Anno 1798 (Pius VI.). — Quae 
et quanta cura 1804 (Pius VII) — Const. Rom. Pontificibus (Pius .) 1869 (f. auch 
Richter-Dove, 8. 123 N. 17). — Königl. Italieniſches aa | (fog. Garantiegeieg) vom 
13. Mai 1871 (abgedrudt bei Deisgberg. Zehrb., Anh. IV. Dazu v. Lg Abe in 
kinem Jahrbud für Gejeßgebung, IV. 303 ff. Bluntichli, Die rechtliche Unverantwort: 
lichkeit und Verantwortlichkeit des römischen Papftes, Nörblingen 1872). 

Lit.: Floß, Die P. unter ben Ottonen, Freib. 1858. — Zöpfel, Die P. vom 11. bis 
14. Jahrh., Göttingen 1871. — Cartwright, On papal conclaves, Edinburgh 1868. — 
Sorenz, P. und Kaiſerthum, Berlin 1874. — Scheffer-Boichorſt, Die Neuordnung der 
P. durch Nicolaus II. Straßburg 1879. — Waitz in Forſch. zur Deutichen Geſchichte, IV. 
103 ff.; VII. 404 fi.; X. 614 ff. — Bangen, Die Röm. Kurie. — Jacobjon in Herzog's 
Real:Encyklop., II. 577 (Kardinäle); XI. 98 (P.); Mejer, ebenda, III. 204 (Hurie). — Ferner 
die Enfteme von Philipps, V. SS 246; VI. 261 ff; Schulte, II. $$ 25, 36 ff. und jekt 
beſonders Hinſchius, I. 22 ff. — Die Lehrbücher des Kirchenrecht? von Richter-Dode, 
zz 122 ff.; Mejer, SS 126 ff.; Walter, $$ 126 ff. Born. 


Paraphernen. Mit diejem Griechiſchen Ausdrucd bezeichnet die Rechtsſprache 
im weitern Sinne alles, was eine Ehefrau in einer Ehe nach Dotalrecht extra dotem 
im Vermögen bat. Da das Gut der Frau nur-durch einen bejonderen Willensatt 
derfelben zur Dos werden kann, jo bleibt e& regelmäßig jelbjt dann Paraphernal- 
gut, wenn es der Berwaltung des Mannes überlaffen ift. Daß diejer Römijch- 
rechtliche Sat Gemeines Deutiches Recht geworden, ijt nicht umbeftritten, eine 
Anzahl älterer und neuerer Juriften präfumiren für die Dotalqualität. — In recht— 
licher Beziehung tft der all, wenn die Frau ihr Gut dem Mann anvertraut, ut 
loco paraphernorum apud eum maneat, der erheblichite, und man veriteht deshalb 
m engern Sinne unter P. das außer dem Dotalgut dem Mann von der frau an 
vertraute eigene Gut derjelben. Den Gegenja hierzu bilden die der eigenen Ver: 


10 PBardefius — Parentelenordnnung. 


waltung der rau vorbehaltenen bona receptitia. Zu den lehteren und nicht zum 
Paraphernalgut im engern Sinne gehört, was die Frau dem Mann durch Nechte- 
geichäfte, 3. B. darlehnaweije freditirt. — Für das ihm anvertraute Paraphernal- 
gut haftet der Ehemann als Berwalter, er vertritt jedoch nur wie bei der dos 
diligentia quam suis rebus. Das Rückforderungsrecht ift durch ein geſetzliches 
Piandrecht gefichert. — Was übrigens eine Ehefrau als ihr Eigenthum in Anſpruch 
nimmt, hat fie troß ihres Befiges dem Ehemann und deffen Gläubigern gegenüber 
als ihr Eigenthum zu beweiien. Das ift die Folge der jogen. praesumtio Muciana, 
die von Ginigen mit Unrecht auf das bejchränft wird, was fich im Hauſe des 
Mannes befindet. — Die modernen Kodifilationen, welche wie die Preußifche und 
Sächſiſche auf dem Syſtem des maritalifchen Nießbrauchs am ganzen Vermögen der 
Frau beruhen, Eennen den Gegenja von Dos und P. nicht. An die Stelle des— 
jelben tritt der des eingebrachten und vorbehaltenen Guts, welches letztere in geſetz— 
lich und vertragsmäßig vorbehaltene Gegenstände zerfällt. Das Defterreichiiche Recht 
entipricht dem Gemeinen. Ebenſo fennt das Franzöſiſche Recht in der nicht güter- 
gemeinjchaftlichen Ehe Paraphernalgut der rau, über welches diejelbe frei verfügen 
kann; joweit es im Liegenjchaften bejteht, jedoch nur unter Zuftimmung des Ehe— 
manns oder des Gerichts. 

Quellen: Cod. de — conventis super dote — et — 5, 14. — 1. 51 

g. ER 


D. %4, 1. — Preuß. A R., IL 1 88 205 fi. — Sidi. BEB. SS 1640, 1680. — 
Deiterr. BEB. SS 1237 ff. — Code civ. art. 1574—80. Eccius. 


Pardeſſus, Jean Marie, &11. VIII. 1772 zu Blois, 1800 1830 Prof. 
an der Rechtsſchule zu Paris und ſeit 1821 zugleich Rath am Kaſſationshof, 
T 27. V. 1853. ” 

Schriften: Trait& des servitudes suivant les principes du code civil, ‚Blois 1806; 
8. ed. 1838. — Traite du contrat et des lettres de @hange, Par. 1309. — Elöments de 
jurisprudence commerciale, Par. 1811. — Cours de droit commerciel, Par. 1813-16; 
6. ed. par E. de Roziöere, Par. 1856, 57 (deutih von Schiebe, Lehrb. dee H.R. nad) 
Barbeffus, Leipz. 1838; italien. Venez. 1838), enth. in der 2. ed. 1821 auch: Discours sur 
Vorigine et les progres de la lögisl. et de la jurispr. commerc., jowie Bibliothöque de 
jurispr. commerce. — Collection des lois maritimes anterieures au 18ieme siöcle, Par. 
1828—45 (Bb. I. II. erſchien bejonder® ald: Us et coutumes de la mer, Par. 1847). — 
Memoire sur les difierents rapports, sous lesquels Vüge etait considere dans la legisl., 
Rom. 1838. — Origine du droit coutumier en France, Par. 1839. — La loi Salique, Par. 
1843. — Organisation judiciaire depuis Hugues Capet jusqu’ä Louis XII, Par. 1851. — 
Gr gab Collection des ordonnances des rois de France, tome XXI, 1849; ferner Bre- 
quigny’® und La Porte du Theil’3 Diplomata, chartae, epistolae, leges aliaque in- 
strumenta ad res Gallo-Francicas spectantia, Par. 1846—49, u. die Schriften d’Aguesseau’3, 
Par. 1819, heraus. 

Lit.: Goldſchmidt, Handbuch des H.R., Bd. I, 2. Aufl., Erl. 1874, ©. 8, 9, 217. — 
Revue critique de legisl. et de jurispr., 1857, t. X. p. 472—474. — Roziere, Notice vor 
der 6. Aufl. d. Cours de droit comm. — Pardessus, sa Vie et ses Oeuvres, par Henr 
Eloy, Par. 1868. — Stobbe, Rechtsquellen, I. 250. — Naudet, Notice hist. lue 
l’Academie, 1855. — Du Saussois, J. M. P., Paris Lyon 1878. — Le tribunal et la 
cour de Cassation, 1879, p. 209—211. Zeihmann. 


Parentelenordnung (Linealgradualiyftem, Th. L ©. 511). Die 
nteftaterbfolge wird im MWefentlichen durch die DVerwandtichaft bejtimmt. Der 
Begriff der Verwandtichait beruht aber darauf, daß zwei Perjonen entweder von 
einander oder von einem gemeinjchaftlichen Dritten abitammen. Um die Verwandt- 
ſchaftsnähe zu beftimmen, rechnet das Röm. Recht nach Graden in der Weiſe, daß 
es die Zahl der Zeugungen zählt, die zwifchen den Perfonen Liegen, deren Berwandt= 
ichaft berechnet werden joll. Die Römifche Erbfolge ift eine Gradualerbiolge injofern 
ala im Allgemeinen der nähere Verwandte dem entfernteren vorgeht. Doch ift dieſes 
Gradualprinzip nie zur reinen Durchführung gekommen, jondern e8 wurde die Erb- 
folge noch durch andere Momente bejtimmt. Nach Juft. Recht gelangt dafjelbe nur 
innerhalb eines entiernteren Verwandtenkreiſes zur vollen Geltung. 


Parentelenordnung. 11 


Soweit die VBerwandtichaft zweier Perſonen zu einander rechtlich maßgebend ift, 
bedient fich auch das Deutiche Recht der Zählung nach Zeugungen. Doch werden, 
wenn die zwei Perjonen von einem gemeinichaftlichen Dritten abſtammen, nur die 
Zeugungen gezählt, die zu einer derjelben vom gemeinjchaftlichen Stammvater herab— 
führen. Sind die Seiten ungleich lang, jo zählt man auf der längeren Seite. 
Geihmwifterfinder, die nach Röm. Recht im vierten Grade verwandt find, find es 
nah Deutichem demnach nur im zweiten Gliede, Oheim und Neffe gleichfalls im 
weiten. Im Gegenjag zum Röm, Recht verfinnbildlicht das Deutſche Recht die 
Verwandtichaft durch den menjchlichen Körper und berechnet fie an den Gliedern 
vom Schultergelent bis zum Nagel der Hand. Diefe Verwandtichaitszählung ift 
durch das Han. Recht zur Beftimmung der Ehehinderniffe rezipirt und weiter aus— 
gebildet worden. 

Für das Erbrecht, wo es fich jtet3 um die Verwandtichaft zweier oder mehrerer 
Perfonen zu einer dritten, dem Erblaſſer, handelt, hat das Deutiche Recht eine be— 
iondere Succeffionsordnung ausgebildet, welche fich nicht an die abjolute Verwandt: 
ihaitsnähe, jondern an die natürliche Gliederung der Verwandtſchaft in engere Ver: 
wandtichaftsgruppen anichließt. 

Der ganze Kreis der Verwandtichait zerfällt in eine Reihe kleinerer Kreiſe, 
welche dadurch gebildet werden, daß fie den nächiten Stammpvater gemeinfam haben. 
Um die Sache möglichit anfchaulich zu machen, ſetzen wir, daß eine verwandtichafts- 
loſe Berfon — wir wollen fie Dankwart nennen — eine Yamilie gründet. Nach dem 
Tode derjelben fünnen nur ihre Abitämmlinge als Erben in Betracht kommen 
(1. Barentel). Soll ein Kind des Dankwart beerbt werden, etwa Walter genannt, 
io fönnen ala Verwandte deflelben in erſter Linie deifen Abjtämmlinge (1. Parentel), 
außerdem aber auch deffen Vater und Gejchwijter auftreten (2. Parentel). Stirbt 
ein-Sohn des Walter, jo fann derjelbe beerbt werden eritens von feinen eigenen 
Abjtämmlingen, zweitens von feinem Vater und deſſen Abjtämmlingen, drittens von 
feinem Großvater und deſſen Abftämmlingen. Alle diejenigen, welche den nächjten 
gemeinschaftlichen Stammvater haben, bilden mit demjelben eine Parentel. Mit 
jeder neuen Generation erweitert fich der Kreis der Verwandtichaft um eine neue 
Tarentel. Sonach jchichtet fich die ganze Verwandtſchaft in übereinanderfolgende 
Gruppen, Parentelen ab, deren erite vom Erblaffer und deſſen Deicendenten gebildet 
wird, während die zweite aus dem Bater defjelben und deſſen Abjtämmlingen bejteht 
und die folgenden der Reihe nach ſtets den relativ nächjten Ajcendenten und deſſen 
Deſcendenz umfaſſen. In analoger Weiſe gliedert fich die Verwandtichaft, welche 
durch die Mutter des Erblaffers vermittelt wird. Die ganze Seitenverwandtichait — 
und das iſt das weſentliche Merkmal des Syſtems — erjcheint demnach als auf: 
gelöjt in Dejcendenzen, welche von den Ajcendenten des Erblafjers ausgehen. Sämmt- 
liche Berwandte fommen entweder als Stammeshäupter oder als Abjtämmlinge in 
Betracht. Die Reihe der Stammeshäupter vom Erblafler angefangen bis zu dem 
älteften nachweisbaren Ahn deifelben bildet den Hauptitof oder Stamm der Ver: 
wandtichaft, von welchem in bildlicher Darftellung die Defcendenten des Erblafjers 
In gerade abjteigender Linie ausgehen, die Kollateralen deſſelben ala Abſtämmlinge 
jeiner Aſcendenten in jchräger Linie ſich abzweigen. 

Die P. iſt nun jene Succeſſionsordnung, zufolge welcher im Erbgang die 
dem Entſtehungsalter nach jüngere Parentel die ältere ausschließt. Es folgt alſo 
im Erbe zunächit die Parentel des Erblaffers, beitehend aus feinen Kindern und 
Rindestindern. Wenn jolche nicht vorhanden, neben dem Vater die Gejchwiiter des 
Grblafjerd und deren Sprößlinge als Glieder der zweiten Parentel. So lange in 
einer Parentel ein erbberechtigter Verwandter vorhanden it, kann niemand aus der 
nächft höheren Parentel zum Erbe gelangen. Der Neffe des Erblaſſers jchließt alfo 
defien Oheim aus, da jener im der zweiten, diefer in der dritten Parentel jteht. 


12 Parentelenordnung. 


Innerhalb derjelben Parentel kommen verichtedene Erbprätendenten nur als 
Deicendenten ihres gemeinichaftlichen Stammvaters in Betracht. Die Verwandt: 
ſchaftsnähe fann in abfteigender Linie nur in einer einzigen Weife, nämlich nach der 
Zahl der Zeugungen, bemefjen werden. Es enticheidet alfo unter den Gliedern der— 
jelben Parentel der Abjtand vom Hauptitode, jo daß das dem Grade nach nähere 
das entierntere ausjchließt. 

Die einzelne Parentel pflegt man wol auch als Linie zu bezeichnen und da 
innerhalb der Linie der Grad den Ausichlag giebt, jo nennt man die P. auch 
Linealgradualordnung, ein Ausdrud, der wegen der Nebenbedeutungen des Wortes 
Linie im Verwandtichaftsbilde zu Mißverftändniffen Anlaß geben kann und anderer- 
ſeits minder durchfichtig ift als jener. Durch die Bezeichnung Yinealgradiyftem 
wollte man die PB. untericheiden von einer angeblichen reinen Xinealordnung, 
welche innerhalb der einzelnen Parentel auf die größere oder geringere Entfernung 
vom Hauptitode gar feine Nüdficht nimmt. Die Eriftenz einer folchen Yinealordnung 
muß geleugnet werden. Mit ihr ift nicht zu vermwechjeln eine Modifikation der 
P., welche durch allgemeine Zuläſſigkeit des Gintrittsrechtes entjteht, kraft deſſen 
die Kinder eines vorverftorbenen Parens in die Erbportion eintreten, die Ddiejer 
befäme, wenn er erben würde. Diejes Eintritts- oder Nepräfentationsrecht hat be= 
grifflich eine Rechnung nach Gliedern oder Graden zur Vorausjeßung, da eben der 
nähere Grad durch den entfernteren repräfentirt wird. Wir haben es alfo auch bei 
einer derartig geftalteten PB. mit einem Linealgradualiyitem zu thun. 

Dad Prinzip der P. findet ſich dermalen im Xehnrechte, ferner in den 
Succeffionsordnungen des Adels, im Lüb. Recht, im Deiterr. BGB., in einzelnen 
Sädji.-Thüring. Kändern, in Schweiz. Rechten (jo namentlich im Züricher Gejegbuch) 
und im Sächſ. BGB., welches die Seitenverwandten von der dritten Parentel an 
nah der PB. zum Erbe gelangen läßt. Die Engliiche Erbfolge in unbemwegliches 
Gut beruht gleichfalla auf der Parentelenfolge. Auch das Indiſche Recht kennt fie. 

Unter den Germaniften ift es eine lebhaft ventilirte Streitfrage, ob die P. 
als das dem Deutjchen Recht eigenthümliche Succeffionsprinzip zu betrachten jet. 
In der Deutichen Rechtswiſſenſchaft ift fie zuerft durch Joh. Chriſt. Majer Ende 
des vorigen Jahrhunderts prinzipiell entwidelt worden. DBereinzelte Angriffe gegen 
das don ihm aufgejtellte Syitem vermochten nicht zu verhindern, daß die P. zu 
allgemeiner theoretischer Anerkennung gelangte. In meuerer Zeit Haben jedoch 
Siegel und Waſſerſchleben den Nachweis geführt, daß die Belege, durch welche 
man bis dahin die P. aus den Quellen begründete, nicht ala durchichlagend gelten 
fönnen. Beide haben zugleich der P. ein anderes Succeffionsprinzip ala das eigent= 
lich deutjche gegenübergeftellt. Waſſerſchleben ignorirt für die Seitenverwandt= 
ſchaft die Neihenfolge der Parentelen und bejtimmt die VBerwandtichaitsnähe blos 
dadurch, daß er den Abitand vom Hauptitode mißt, alfo die Zeugungen vom gemein= 
ichaftlichen Stammvater bis zum Erben herabzählt, mag jener num der Vater, der 
Großvater oder irgend ein höherer Ajcendent des Erblafjers fein. Demnach würde 
aljo beijpielaweife der Sohn meines Oheims von meinem Großoheim ausgejchlofien. 
Siegel will die Zählungsart, die im Deutfchen und Kanonifchen Recht zur Be— 
jtimmung der Verwandtichaft zweier Perfonen dient, auch dann angewendet wiſſen, 
wenn es fi um die Beitimmung der Verwandtichaft mehrerer Perfonen zu einer 
dritten Handelt, die mit diefer nicht denjelben nächiten Stammvater gemeinjchaftlich 
haben, alfo nicht derjelben Parentel angehören. Für die Erbfolge werden ſowol 
von Waſſerſchleben als von Siegel beitimmte Ausnahmen ftatuirt, um ihre 
Berechnungsweife einigermaßen mit den Quellen in Einklang zu bringen. Die 
Kontroverje, welche Siegel und Wajferfchleben gegen ihre beiderjeitigen pofitiven 
Aufitellungen führten, jowie neuere Arbeiten haben dargethan, daß weder Siegel’s 
noch Waſſerſchleben's Theorie Anjpruch auf quellenmäßige Begründung machen 
darf. Andererjeits it das Anſehen der P. wieder gefeftigt und der Verfuch ge- 


Parochiallaſten. 13 


macht worden, jelbige durch unzweideutige Quellenausfprüche geichichtlich zu begründen. 
Abgeiehen von älteren Quellen jpricht für ihren Germanifchen Uriprung die auffallende 
Thatjache, daß fie für England Bladjtone, für Frankreich Pothier, für Deutjch- 
land Joh. Chriſt. Majer völlig unabhängig von einander in fachlich überein- 
ſtimmender Weile zur Daritellung gebracht haben. 

Lit. u. Gigb.: Majer, Germaniend Urverfajjung, 1789; Derjelbe, Teutſche Erbfolge 
ſowohl überhaupt ala insbejondere in Lehen und Stammgüter, 1805 ff. — Griejinger in 
ber Sortiepung von Dany’ Handbuch de3 ap Deutſchen Privatrechts, IX. X. 1822, 
1893. — Dedekind, De ordine succedendi quo legibus et moribus Germanorum .... 
successio . . delata sit, 1822. — Sydow, Erbrecht nad ben Grundjäßen des Sachſenſp., 
1828. — Siegel, Das Deutiche Erbrecht nach den Recdhtäquellen des Mittelalters, 1853; Der: 
jelbe, Die German. Derwandticaftsberechnung, 1853. — Waſſerſchleben, Das Prinzip : 
der rege weni. nach Deutichem, inabefondere Sächſiſchem Recht, 1860; Derjelbe, 
Die German. Berwandtichaftsberechnung und das Prinzip der Erbenfolge, 1864. — Homeyer, 
Tie Stellung des Sachſenſpiegels zur Keil Daun ‚ 1860. — Rive, Bur zoge nad 
dem Prinzip der Euccelfiondorbnung im German. Redt, Jahrb. des ee Deutichen Rechts, 
VI. 197 h. — Lewis in ber Krit. B.J.Schr. für Geſch. und Rechtswiſſenſchaft, IX. 23; 
XIV. ı fi. — HQui r. Brunner, Das Anglonormamniſche Erbfolgeiyftem, ein Beitra zus 
Geihichte der Parentelen:Orbn., 1869. — Waſſerſchleben, Das Prinzip der Grbento B 
1870. — vd. Amira, GErbenfolge und Derwanbdtichaftägliederung nad den altniederdeutichen 
Rechten, 1874. — Kohler, Zur Lehre von der Parentelenordnung, in Puchelt's Zeitichr. 
für Franzöſ. Civilrecht, VI. 171 ff. (1875) und in der Kit. B.JY.Schrift XXIL 13. — 
—— Dad Deutſche Privatrecht in feinen Grundzügen, 3. Aufl. 88 174 -176. — Oeſterr. 
BEL. SS 730 ff., dazu Unger, Syſtem des Defterr. Allg. Privatrechts, VI. 135 Anın. 1. — 
Hendemann, Anklänge des Preuß. ER. an die Deutiche Parentelenordnung. — BGB. für 
Sachſen SS 2043, 2044. — Weimar. Geje vom 6. April 1833. — Ultenb. Gech vom 6. April 
1841. — Gothailces Gefep vom 2. Jan. 1844. — Reuß⸗Greiger * vom 22. Jan. 1841. — 
Reub-Schleiger Gejeh vom 10. Dez. 1858. einrih Brunner. 


Barodiallaften. Die materiellen Mittel, welche zur Erhaltung der Kirche 
als äußerer Anſtalt nothiwendig waren, wurden in der ältejten Zeit der chriftlichen 
Kirche, auzjchließlich von den Gemeindegliedern aufgebracht. Zeugniſſe hierfür finden 
fich in großer Zahl bei den Kirchenvätern, jpeziell bei Cyprian, Zertullian, Hiero— 
nymus. Ganz in gleicher Weile deden die modernen Freikirchen die Kojten ihrer 
firchlichen Organifation (vgl. 3. B. binfichtlich der Schweizerischen Freificchen Gareis 
und Zorn, Staat und Kirche in der Schweiz, II. $$ 48—51 und Urf. XLVII—XLIX). 
Späterhin verlegte fich der Schwerpunft der kirchlichen Temporalien in andere Finanz: 
guellen: eigenes Vermögen der Kirche, Leitungen der Staaten, Stolgebühren und 
andere Abgaben für den Empfang einzelner Eirchlicher Funktionen und bejonders 
Tispensgebühren. Grit in neueiter Zeit Haben die P. in der Form von Kirchen» 
fteuern wieder erhöhte Bedeutung gewonnen. Aus dem älteren Kirchenrecht find P. 
beſonders als Beitandtheil der kirchlichen Baulaft in das heutige Kirchenrecht über: 
gegangen. 

Die P., d. i. die Leitungen der Gemeinde zu kirchlichen Zwecken, Laffen fich 
nach dem geltenden Recht folgendermaßen gliedern: 

I. Vielfach haben fich ganz ſpezielle Laſten der Gemeinden ausgebildet und er: 
halten, jo 3. ®. die Pflicht der Gemeinden, die Umzugskoſten der Geiftlichen (Allg. 
ER. II. 11 SS 406, 409 ff.; Rhein-Wejtph. Kirchenordn. $S 61; Jacobſon, S 96; 
Richter-Dove, $ 2379) oder die Koſten kirchlicher VBifitationen (nicht in der 
fatholiichen Kirche: Richter- Dove, $ 235, wol aber in der evangelifchen: 
ebenda, $ 237, sub II.) zu tragen. Allgemeine Grundjäße bejtehen hierüber nicht 
und partitularrechtlich find die kinjchlägigen Normen überaus verjchieden. 

II. Die Theilnahme der Gemeinden an der kirchlichen Baulaftl. Schon im 
Frankenreiche waren die Parochianen zur Theilnahme an der Baulaft verpflichtet. 
Primär jedoch lag diejelbe auf dem Kirchenvermögen und jalls daffelbe nicht zureichte, 
auf den Inhabern kirchlicher Lehngüter. Gventuell wurden die Pfarrer und Parochianen 
beigezogen, im verfchiedenen Diözeſen aber in jehr verichiedener Weife. Das Triden- 
tinum beitimmte ala Gem. Recht für die katholiſche Kirche: größere Reparaturen 


14 Barodiallaiten. 


find primär aus dem Sirchenvermögen, fpeziell der fabrica ecclesiae (vgl. den Art. 
Kirhenjabrif) zu beitreiten; jefundär haben der Patron und alle, die aus dem 
Gut der betreffenden Kirche Einkünfte beziehen, einzuftehen; an letter Stelle find 
die Parochianen beitragapflichtig („parochianos omnibus remediis opportunis ad 
praedicta cogant quacunque appellatione exemtione et contradictione remota‘, 
ausgenommen nur wenn fie „nimia egestate laborant“), Zu Hand» und Spann— 
dienjten fünnen die Parochianen bei jedem Bau beigezogen werden. Als Parochianen 
gelten nach der Konſequenz des katholiſchen Kirchenrechtes alle Getauften der Ge— 
meinde, und inäbejondere werden auch die jog. Forenſen („possidentes“) nach einer 
. Enticheidung der Congregatio concilii ala beitragspflichtig betrachtet. 

Daß Perjonen, die nicht der Konfeffion angehören, zu den P. beizutragen ver- 
pflichtet find, ift übrigens nicht nur fatholisches, jondern auch vielfach evangelijches, 
ipeziell lutheriſches Kirchenrecht geweſen (vgl. hierüber jpeziel Mejer, $ 64°, aus— 
führlih Richter Dove, $ 142° und für Preußen Jacobjon, $ 57). 

Die kirchliche Baulaft bezieht fich nach katholiſchem Kirchenrecht nicht nur auf 
die Kirchen-, jondern auch auf die Prarrgebäude. 

Das Tridentinum hat aber nur jubjidiär Gem. Recht geichaffen,; primär 
jollten die partifularen NRechtsbildungen maßgebend bleiben (über die Verhältnifie 
in der Erzdiözeſe Köln 3. B. j. die Angaben bei Richter-Dove, $ 3191). — 

Nach evangeliichem Kirchenrecht find in der Regel Patron und Parochianen 
verpflichtet zur Baulaft zu fontribuiren, wenn das Kirchenvermögen nicht ausreicht, 
bzw. wenn nicht der Staat auf Grund der Säfularifationen die Baupflicht über- 
nommen bat. Die partifularrechtlichen Bildungen find jehr verichieden: in eriter 
Linie jollen Herkommen oder Yokalitatuten, eventuell Kirchenordnungen oder Landes— 
gejege ala maßgebend betrachtet werden. 

Die Verpflichtung der Parochianen ift nach evangelifchem wie katholiſchem 
Kirchenrecht eine perionale, kann jedoch partifularrechtlich auch zu einer realen ge= 
worden jein. Filialgemeinden tragen nach dem gleichen Maßſtab bei wie die Mutter: 
gemeinde, falls nicht beiondere Beitimmungen vorhanden find. Bei unio per aequa- 
litatem bleibt jede Gemeinde auch für die Baulaft jelbitändig. — Von der Kirchen 
fabrif ift die Baulaft in der Art zu beftreiten, daß nicht nur die Renten, jondern 
auch das Kapital in Anfpruch genommen werden darf, jedoch mur joweit, daß die 
Fortdauer des Hultus dadurch nicht etwa gefährdet würde. 

Die wichtigjten partifularıeggttichen Beitimmungen find (Richter-Dove, 

z 31923; Schulte, Xehrb., 8 192): 

1) Preußen. Im Gebiete des LR. find maßgebend a) beitehende Ver— 
träge; b) gerichtliche Präjudizien; c) Gewohnheiten, Herkommen, Yofalftatuten; 
d) Provinzialrechte,; e) das Allg. LER. (Das Kan. Recht als jolches it durch das 
ER. befeitigt, wol aber können defien Beitimmungen objervanzmäßig in Kraft ftehen.) 

Nach letzterem ift primär baupflichtig die fabrica ecclesiae, joweit diejelbe 
nicht durch die Dedung laufender Ausgaben aufgezehrt wird, eventuell Patron und 
Parochianen. Immer aber müflen die Yebteren bei Landfirchen die Hand- und 
Spanndienfte thun (Landfirche ift eine Kirche, deren Parochianen Yandleute find; 
find zu einer Stadtfirche auch Landleute eingepfarrt, jo ift die Kirche ſowol Stadt 
als Landkirche). Die Vertheilung geichieht in der Weife, daß bei Landfirchen der 
Patron ?/,, die Parochianen Y/,, bei Stadtfirchen im umgefehrten Maßſtab der Beitrag 
bemeſſen wird. Im Uebrigen erfolgt die Bertheilung wie bei den jonftigen Gemeindelaften. 

2) In Bayern haben die Gemeinden, wenn die KHirchenfabrif nicht hinreicht, 
immer Sande und Spanndienfte zu leisten, anderweitige Beiträge erjt nach der Kirchen— 
fabrif, dem Patron, den am Kirchengut Zehntberechtigten, anderen Kultusſtiftungen; 
zeitweife tritt der Staat ein. 

3) In Württemberg it jeit der Säfularifation der Staat an Stelle der 
Gemeinden eingetreten; primär trägt das KHirchenvermögen die Baulaft. 


Barothiallaiten. 15 


4) Im KHönigreih Sachſen, fowie in Oldenburg und Sahjen-Weimar 
haben die Parochianen einzutreten, wenn die Kirchenfabrik nicht zureicht; ebenjo iu 
ſturheſſen. 

5) In Baden leiſten die Gemeinden Hand» und Spanndienſte, haben Terner 
Ihurm, Gloden, Orgel, Seitenaltäre und Kirchenornat zu beftreiten, eventuell auch 
noch mehr, falls die Kirchenfabrif unfähig ift (Richter- Dove, 8319 N. 23 sub V). 

6) Im Gebiete des Franzöſiſchen Rechtes ift die Unterhaltung der Pfarr— 
gebäude primär Sade der Givilgemeinde (jo nach der Deutichen Praris, anders 
die Franzöſiſche. Dal. ieräber die Arbeiten von Hüffer, die gefammte Literatur 
it citirt bet Schulte, $ 182* und Walter, ©. 608 21. Ueber die Entitehungs- 
gedichte dieſes Rechtsſatzes ſ. die Motive zu dem Preuß, Gejeg vom 14. März 
1880 in Dove und Friedberg, Zeitjchr. für Kirchenrecht, XV. ©. 388. Hier 
find auch die einfchlägigen Franzöſiſchen Geſetze jeit 1789 mitgetheilt.) Bezüglich der 
Kirchengebäude ijt die Givilgemeinde ſekundär, die Kirchenjabrif primär verpflichtet 
(Franzöſ. Dekrete dv. 30. Dez. 1809 u. 14. Febr. 1810). Der protejtantische Kultus 
war durch Geſetz dv. 5. Mai 1806 ausdrüdlicy dem katholischen gleichgejtellt worden. 

Nach dem Gejeg vom 14. März 1845 (j. hierüber Zeitichr. a. a. O. 393 ff.) 
find in den Linförheinischen Iheilen der Preuß. Rheinprovinz bei außerordentlichen 
Bedürfniffen an dritter Stelle auch die Kirchengemeinden verpflichtet. Jetzt ift aber 
maßgebend das Gejeß vom 14. März 1880, das von hoher prinzipieller Bedeutung 
it (die Motive zu diefem Geſetz ſ. Zeitjchr. für Kirchenrecht, XV. 385—403). 

Durch dafjelbe ift die Verpflichtung der Givilgemeinden zur Bejtreitung der 
firhlihen Bedürfniſſe endlich den heutigen Staatsprinzipien gemäß aufgehoben und 
denfelben nur mit jtaatlicher Genehmigung gejtattet, den Kirchengemeinden Zur 
wendungen aus ihrem Vermögen für firchliche Zwede zu machen. Nur joweit die 
Pliht der Givilgemeinden auf privatrechtlichen Titeln beruht, ift fie prinzipiell 
aufrecht erhalten worden. Die Kirchengemeinden haben ihre Bebürfniffe fünftighin 
ſelbſt zu bejtreiten; alle Kirchen und Pfarrgebäude gehen aber aus dem Gigenthum 
der bürgerlichen in das der Kirchengemeinden über, nicht aber freie Pläße, welche 
jene umgeben, Begräbnißpläße und Piarrgebäude, die diefem Zwed nur jetundär 
dienen. Was Givilgemeinden für Pfarrwohnung an Geld» oder Naturalbeiträgen 
bisher leifteten, bleibt unberührt. Forenjen find zu den Kirchenlaften nicht beitrags— 
pflichtig. Die aufrecht erhaltenen Pflichten der Givilgemeinden können von diejen 
legteren nad jechsmonatlicher Kündigung mit dem 25jachen Betrag der Jahres- 
leiftung abgelöft werden; verlangt die Kirchengemeinde diefe Ablöfung, jo muß die 
Givilgemeinde Hierauf eingehen, braucht aber dann nur mit 222, zu fapitalifiren. 
Die Ablöfungsfumme darf in vier Yahresraten, von denen jedoch feine unter 
300 Mark beträgt, abgezahlt werden. Streitigkeiten find im verwaltungsgericht: 
lichen Berfahren auszutragen. 

7) Ueber partikularrechtliche Bildungen im Gebiete des Allg. Preuß. ER. val. 
Schulte, ©. 586% und beſonders Jacobjon, $ 176. 

8) Ueber die Rechtöverhältnifie in den neuen Preuß. Provinzen vgl. 
Richter-Dove, $ 319, ©. 1160. 

9) Neber die jehr fomplizirten und partikulär jehr verjchiedenen Rechtsverhältnifie 
in Oeſterreich ſ. die Nachweifungen ebenda ©. 1157 fi.; Schulte, ©. 579. 

III. Die wichtigste P. bilden heute die Kirchenjteuern (j. darüber diejen Art.). 

Rechtsquellen ad Il.: Trid. Sess. XXI c. 7 de ref. — Allg. Preuß. ER. Th. II. 
Tit. 11 S$ 699—760. — wi Rheinpreußen: Geſetz vom 14. März 1845 (G. S. 163), jebt in 
ber Pan Be erjet durch Geje vom 14. März 1880 (G.S. 225). 

Lit.: u Kirchenrecht, IL. 205, 803. — Mejer, Kirchenrecht, SS 156, 166. — 
Schulte, Lehrb. db. Kirchenrecht, 8 —* — Richter-Dove, Kirchenrecht, 3 319. — 
Balter, Kirchenedht, ss 266, 271, 272. — Bermaneber, Ricchenzeäht, ss 504—519; 


Derjelbe, Kirchl. Vaulaſt, 2. Aufl. Rüniten 1856, bei. 5 24. — Ueber Preußen: 
Jacobion, Kirchenrecht, SS 96, 97. — Heber Bayern: Silbernagel, Kirchenrecht, SS 107, 


16 Parry — Partei, Parteiprozeh. 


113. — Sonft ausführlich über Partikularrehte: Rihter:Dove, a. a. O. — Schulte, 
a. a. D. — Monographien: Mejer, Kirchliche Abgaben, in Herzog’3 Real:Encyflop., 
I. 53. — Jacobjon, ebenda, VII. 636. — Hermann, Zur Lehre von der rechtlichen Natur 
ber Kirchenlaften, in Ztichr. für Deutiches Recht, 18, 33. Zorn. 


Barry, John Humffreys, & 1816, Sohn des hervorragenden Advokaten 
J. 9. Parıy, Q. C., wurde 1856 Serjeant-at-Law, T 10. I. 1880. 
Gr jhrieb: Lord Campbell’s Libel Act (6. u. 7. Vict. c. 96), Lond. 1844. 
git.: The illustr. London News, 1880 Jan. 21. — Academy 1880 p, 46. 
TZeihmann. 


Partei, Parteiprozeß. Soweit ein Nechtöftreit nicht im Anwalts= 
prozeß (j. diefen Art.) zu führen ift, d. h. im Verfahren vor dem Amtsgericht 
und vor dem Yandgericht bei Handlungen, welche vor einem beauftragten oder er— 
juchten Richter oder dem Gerichtsichreiber vorgenommen werden. können, ift die P. 
befugt, jelbjt vor Gericht aufzutreten oder fich, jei e8 für den ganzen Prozeß, ſei es 
für eine einzelne Handlung durch jede prozeßfähige Partei, mithin auch durch einen 
Rechtsanwalt, welcher nicht, wie im Anmwaltsprozeß, bei dem Prozeßgericht zugelaſſen 
zu fein braucht, vertreten zu lafjen. Indeſſen kann das Gericht Bevollmächtigte, welche 
das mündliche Verhandeln vor Gericht geſchäftsmäßig betreiben, zurücdweifen, eine 
Vorſchrift, welche der Winfeladvofatur entgegenwirken fol. Mit Rüdficht auf die 
erwähnte Bejugniß der P. zur eigenen Führung ihrer Sache hat man das Verfahren, 
in welchem fie von diefer Gebrauch machen fünnen, im Gegenja zum Anwaltsprozeß 
nicht gerade glücklich als P. bezeichnet. Das BVBerfahren in Rechteftreitigfeiten vor 
dem Amtsgericht, welches vor Allem den P. bildet, weiſt folgende Gigenthümlich- 
feiten im Gegenjag zum Anmaltsprozeß auf. Zuftellungen und Ladungen können 
in demfelben durch Vermittelung des Gerichtsfchreibers erfolgen (j. d. Art. Zu= 
jftellung). 683 ift ferner der P. geftattet, ihre Klage zu Protokoll des Gerichts- 
ichreibers zu erklären, unter Umftänden fie auch mündlich zu erheben (ſ. d. Art. 
Klage). Der Wechjel vorbereitender Schriftjäße (f. diefen Art.) behufs Infor— 
mirung des Gerichts und des Gegners ijt nicht obligatoriich, ſondern nur jafultativ. 
Die Anträge find bei der Verhandlung mündlich zu jtellen, nicht aus den Schrift= 
jäßen zu verlefen, und das Gericht hat bei derjelben dafür zu wirken, daß fich die 
P. über alle erheblichen Thatjachen erklären, ſowie daß von ihnen jachdienliche Anträge 
gejtellt werden. Insbeſondere gilt eine Urkunde nicht ohne Weiteres wegen unter= 
bliebener Erklärung als anerkannt, vielmehr nur dann, wenn das Gericht die P. zur 
Erklärung über die Echtheit aufgefordert hat. Ferner findet die für den Anwalts— 
prozeß maßgebende Regel, daß der Bellagte die ihm zuftehenden prozeßhindernden 
Ginreden jämmtlich gleichzeitig und auch vor dem Beginn feiner Verhandlung zur 
Hauptjache geltend machen muß, feine Anwendung. Der Bellagte kann daher die 
Ginlaffung auf die Hauptſache wegen folcher Einreden nicht verweigern, wol aber it 
das Gericht auf Antrag oder von Amtswegen befugt, eine gejonderte Berhandlung 
über diejelben eintreten zu laſſen. Gine Ausnahme macht allein die Einrede der 
Unzuftändigkeit des Gerichts. Diefe hat der Beklagte vor der Einlaffung zu erheben, 
weil andererjeits die Kompetenz des Amtsgerichtes als vereinbarte eintreten würde. 
Iſt das Gericht jachlich unzuftändig, jo ſoll es jogar den Beklagten vor der Ver- 
handlung zur Hauptſache auf feine Unzuftändigfeit aufmerlſam machen. Wenn nun 
das Gericht demnächft feine jachliche Unzuftändigkeit durch Urtheil ausſpricht, jo iſt 
die Sache auf Antrag des Klägers, welcher aber vorher bei der Verhandlung zu 
ſtellen ijt, an das Landgericht, bzw. bei beionders darauf gerichtetem Antrag, an die 
(andgerichtliche Kammer für Handelefachen zu verweilen. Nach der Rechtskraft des 
Urtheils gilt der Rechtejtreit ala beim Landgericht anhängig.. Falls in einem beim 
Amtsgericht anhängigen Prozeffe die Unzuftändigfeit deffelben dadurch herbeigeführt 
wird, daß eine Widerklage erhoben, der Klageantrag erweitert oder durch einen 
Ancident-Präjudizialantrag die Feitftellung eines Rechtsverhältniffes verlangt wird, 


Parteivorträge — Partialerneuerung. 17 


io hat die P., welche die jernere Verhandlung vor dem Amtögericht ablehnen will, 
einen Antrag auf Unzuftändigfeitserflärung und auf Verweifung der Sache an das 
Landgericht zu ftellen, ehe fie zur Hauptſache weiter mündlich verhandelt. Mit der 
Rechtskraft des die Inkompetenz ausfprechenden Urtheile tritt dann ebenfalld die 
ſchon Hervorgehobene Folge ein, und es werden in dieſem alle die bisher durch 
das amtögerichtliche Verfahren entjtandenen Koften ala Theil der beim Landgericht 
emachjenen Kojten behandelt. — Die Berweifung von Rechnungs, Augeinander- 
ſezungs- und ähnlichen Sachen, welche im amtägerichtlichen Prozeffe verhandelt 
werden, zu einem bejonderen borbereitenden Verfahren, iſt ausgejchloffen. Abgejehen 
bon Geſtändniſſen und Erklärungen über die Annahme oder Zurückſchiebung von Eiden, 
welche auf Antrag ſtets zu Protokoll zu nehmen ſind, findet eine Feſtſtellung von 
Anträgen und Erklärungen zum Sitzungsprotokoll nur inſoweit ſtatt, als es vom 
Gericht am Schluß der mündlichen Verhandlung, auf welche ein Urtheil oder Beweis— 


beſchluß ergeht, für angemeſſen erachtet wird. 
Gſgb.: Deutſche EPD. SS 74, 75, 456—470. P. Hinſchius. 


Parteivorträge, ſ. Hauptverhandlung. 


Partialerneuerung (Th. J. S. 866). Bei der Einführung des Konſtitutio— 
nalismus in Deutſchland wurde vielfach geglaubt, eine nach dem Ablaufe der jedes— 
maligen Legislaturperiode eintretende Totalerneuerung des Landtags ſetze dieſen der 
Gejahr aus, aller geſchäftskundigen, an parlamentarische Verhandlungen bereits ge— 
wöhnten Mitglieder beraubt zu werden. Ginzelne Deutsche Berfafjungen festen daher 
eine Erledigung jämmtlicher durch Wahl erlangter Site oder doch aller Sitze der 
zweiten Hammer nur für den Fall einer Auflöfung des Landtags feit, führten aber 
Hatt der ZTotalerneuerung des Landtags nach Beendigung einer vollitändigen Legis— 
laturperiode eine in beitimmten Friſten wiederkehrende P. entweder für den ganzen 
Yandtag oder nur für die zweite Kammer oder endlich für alle gewählten Mitglieder 
der erjten und zweiten Sammer ein (Sachen, Baden, Heſſen, Braunjchweig, 
Reuß ä. L.). 

Die P. wird durch die bei Beginn oder Schluß des erſten ordentlichen Land— 
tags innerhalb der einzelnen Gruppen der Landtagsmitglieder vorgenommene Aus— 
looſung vorbereitet. Dieſe erfolgt in Sachſen in der Weiſe, daß derjenige Theil der 
Sandftände, welcher die niedrigjten Nummern gezogen bat, nach dent erften, der mit 
den nächit höheren Nummern ausgeloojte Theil nach dem zweiten und der Reft nad) 
dem dritten ordentlichen Landtage auszufcheiden hat. Die Zahl der Nuszuloojenden 
und demnach auch der neu zu Wählenden ift für jede Gruppe der Landitände in 
der Berfaffung fejtgefeßt: in Sachjen beträgt die Gefammtzahl der auf einmal Aus— 
tretenden etwa ein Drittel aller Mitglieder der zweiten Kammer, in Baden die 
Hälfte der Abgeordneten zur zweiten und der grundherrlichen Abgeordneten zur erſten 
Kammer. Ebenjo tritt in Braunjchweig vor dem Beginne eines jeden ordentlichen 
Yandtages die Hälfte der Abgeordneten aus. Die ausgetretenen Mitglieder können 
überall fofort wieder gewählt werden. 

Die meijten Deutfchen Verfaſſungen haben die P. für die Landitände nicht ans 
genommen, und gewiß mit Recht: einmal ift fie gegenwärtig nirgends nothwendig, 
um der Kammer, bzw. dem Landtage einen Grundſtock parlamentarijch gefchulter 
und geichäftsfundiger Männer zu erhalten, da die Erfahrung Ichrt, daß die Total: 
emeuerung regelmäßig einer größeren Anzahl der bisherigen Abgeordneten die früheren 
Site wiedergiebt. Dann aber kann gerade die Auslooſung eines Theiles der Stände- 
mitglieder die Bedeutendften unter ihnen ihrer Site berauben und jo das Gegentheil 
des von der ganzen Einrichtung erftrebten Zwedes bewirken, und endlich würden bei 
jährlichen Seffionen die durch die P. nothwendig gewordenen Wahlen in allzu kurzen 
Laufen fich folgen, entweder die Wähler ermatten oder die Wahlagitationen per- 
manent machen. Nur da, wo die Zufammenberufung der ordentlichen Landtage in 

v. Holtzendorff, Enc. II. Rechtslexilon III. 3. Aufl. 2 


18 Paruta — Pahpflict. 


mehrjährigen Zwijchenräumen erfolgt, jowie da, wo die Dauer der Abgeordneten: 
mandate eine jehr lange iſt, kann die P. nüßlich fein, um den während derjelben 
zur Herrſchaft —— Anſchauungen eine Vertretung zu verſchaffen. 

Quellen: Baden, Verf. Urk. vom 22. Aug. 1818 8 79. Geſet vom 16. April 1870, 
Art. 7. — Sachſen, Verf. Url. vom 4. Sept. 1831 8 71. Berf.Gei. vom 3. Dez. 1868 
Nr. III. — Heſſen, Geſetz vom 8. Nov. 1872 Art. 48. — Braunfchweig, Gejeg vom 22. Nov. 
1851 88 18, 19. — Reuß &. 8, Verf. SS 53, 54. 

Lit.: Zöpfl, Grundſätze des gem. Deutichen Staatsrechts, 5. Aufl. Bd. II. ©. 234. — 
$: u Zahariä, Deutiches Staat: u. Bundesrecht, 3. Aufl. Bd. I. ©. 633. — ©. Meyer, 
ehrbuch des Deutichen Staatsrechts, Leipz. 1878 S. 37. — Bluntihli, Allgemeines 
Staatsrecht, 4. Aufl. Bd. I. ©. 510, 511. — Held, Staat und Gefellichaft, Bd. III. 
©. 889-891. F. Brodhans. 


Baruta, Paolo, 5 1540 zu Venedig, aus einer Lucca entjtammenden 
Familie, jtud. zu Padua, begründete zu Venedig eine Literarifche Akademie, ging 
an das Tridentiner Konzil, 1588 Mitglied der Sechziger, dann Gejandter bei 
Glemens VIII., 7 1598. 

Schriften: Orazione funebre 1572 (in F.Sansovino, Delle oraz. volgarmente scritte 
da diversi uomini illustri, Lyon 1741 I. 295). — (riustif. de’ signori Veneziani per la pace 
ultimamente conchiusa con il Turco, 1574. — Della perfezzione della vita politica, 1579 
(franz. 1583, engl. 1657). — Discorsi politici 1599 (alles vereinigt in Opere politiche di 
P. Paruta, Firenze 1852). , 

Lit.: Alfred M&özieres, Etude sur les oeuvres politiques de Paul Paruta, Paris 
1853. — Janet, II. 67—74. — Kaltenborn, Borläufer des H. Grotius, 1848, S. 122, 
123. — Sclopis, Storia (1863), II. 535. Zeihmann. 

Basquier, Etienne, 5 7. IV. 1529 zu Paris, ſtud. in Toulouſe und 
Bologna, wurde 1549 Advokat, plaidirte gegen die Jeſuiten, 1588 Deputirter, zog 
fi) 1604 zurüd, 7 30. VIII. 1615. 

Schriften: Le catechisme des Jesuites. — L’interpretation des Institutes de Justinien 
(1847 par Giraud). — Les recherches de la France, Par. 1560, 1581, 1596, 1611, 1622, 
1633, 1685; Orleans 1567. — Oeuvres, 1773. — Oeuvres choisies (par Feug£re), 
1849. — Dialogue des avocats du Parl. de Paris par Loysel, n. ed. par Dupin 1844. 

&it.: Feugtre, Etude sur la vie et les ouvrages de P., 1849. — Mohl, II. 108, 
183, 187. — Savigny, III. 53. — Schulte, Geid., III. a ©. 562. Teihmann. 


Pasquier, Etienne, Franzöfiicher Staatsmann 1767— 1862. 
git.: Favre, E. P. chancelier de France, Paris 1870. Zeihmann. 


Baftoret, Emmanuel, Marquis de, & 25. X. 1756 zu Marfeille, wurde 
procureur syndic des Seinedepartements, wanderte aus, fehrte 1795 zurüd, flüchtete 
bald nach der Schweiz, erhielt zurüdgefehrt 1804 den Lehrituhl des Naturrechts 
am Goll&ege, wurde 1809 Senator, 1826 Minijter, 1829 Kanzler, F 28. IX. 1840. 


Schriften: Quelle a été l’influence des lois maritimes des Rhodiens sur la marine 
des Grecs et des Romains? Par. 1784. — Zoroastre, Confucius et Mahomet, Par. 1787. — 
Moise consider comme legislateur, 1788. — Traite des lois penales, 1790 (deutih von 
Erhard, Xeipz. 1792, 96). — Hist. ee de la legislation des peuples, 1817—37. 

git.: Michaud. — Pinard, L’histoire à l’audience, Par. 1848. — Nypels, Biblio- 
thöque, 7, 66. TZeihmann. 


Baftrengo, Wild. de (Beronenfis), aus Paftrengo, Advotat und Notar 
in Verona, mehrmals Gejandter am Hof von Avignon, F zwifchen 1361 und 1370. 


Er jhrieb: De cr rerum (de viris illustribus), Venet. 1547. 
git.: Savigny, Ill. 32—84; VI. 197, 420. Teihmann. 


Paßpflicht. Die für die niedere Bevölkerung, für die Handwerker und für 
die Juden jchon jeit Jahrhunderten beitehende Pflicht, fich auf Reifen durch amtliche 
Urkunden zu legitimiren, wurde im Yaufe des vorigen und zu Anfang diejes Jahr— 
hunderts unter dem Ginfluffe der zahlreichen Striege und politischen Bewegungen 
diejes Zeitraums auf alle Fremden ausgedehnt. Dieje übermäßige für die Polizei= 


Paůzpflicht. 19 


behörde ebenſo zeitraubende wie für die Reiſenden läſtige Ausdehnung des Pap- 
jwanges juchte man durch den Satz zu rechtfertigen, daß der fremde fein Recht zum 
Eintritt in das Land, zum Durchgang oder Aufenthalt habe und fich daher den 
hierfür don der Territorialgefeßgebung aufgeftellten Bedingungen unterwerfen müſſe. 
Die noch weiter gehende Forderung, daß auch der Jnländer bei feinen Reifen im 
Inlande ſich über jeine Perfon und jeinen Reiſezweck durch einen Pak ausweifen, 
diefen bei jedem mehr als 24ftündigen Aufenthalte von der Polizeibehörde des Ortes 
viftren laffen oder wol gar noch eine Aufenthaltsfarte löfen mühe, wenn er mehr 
ala zwei oder drei Tage am Orte zu verbleiben wünjchte, ließ fich jedoch überhaupt 
nicht rechtfertigen, jondern nur aus Furcht der Regierungen vor revolutionären Um— 
trieben erflären. Diejer Entwidelung des Paßweſens entiprach es, wenn der Mangel 
eine Paſſes oder der Viſirung oder jelbit nur der Yöfung einer Aufenthaltskarte 
Verhaftung, Rücdtransport über die Grenze oder nach dem Heimathsorte zur Folge hatte. 

Alle dieje in dem verjchiedenen Staaten Deutichlands und des Kontinents mit 
verichiedener Strenge gehandhabten Vorjchriiten der Paßgeſetzgebung wurden nad) 
den politischen Bewegungen und revolutionären Erhebungen der erjten Hälfte diejes 
Jahrhunderts regelmäßig verichärftt und bejonders in Dejterreih, Preußen und 
Sachſen mit äußerjter Strenge gehandhabt. Grleichterte man auch die Erfüllung 
der P. im mehrfacher Beziehung, jo vor Allem durch die in der Konvention vom 
21. Oft. 1850 eingeführten Paßkarten und durch die Abjichaffung der amtlichen 
Vila für dieſe, ferner durch die in Preußen 1862 verfügte Aufhebung der Aufents 
baltsfarten und endlich durch die zwiichen Bayern, Württemberg, Hannover und 
Sachſen abgeichloffene Konvention vom 7. Febr. 1865 — die P. jelbjt ift nach 
einem an einer Meinungsdifferen; des Abgeordneten und Herrenhauſes im Jahre 
1862 geicheiterten Verſuche der Preußiſchen Regierung erſt durch das Norddeutiche 
Bundesgeje vom 12. Dft. 1867 aufgehoben worden, welches ſeit dem Gintritt der 
füddeutichen Staaten in das Deutjche Neich auch in dieſen Geltung erlangt hat. 

Nach diejem iſt das Paßweſen für den ganzen Umfang des Norddeutichen Bundes 
in einer den meiſten europäifchen Staaten fonformen Weife dahin geregelt worden, 
dab von den Bundesangehörigen und Ausländern weder beim Ausgange aus dem 
Bundesgebiete noch bei der Rückkehr in dafjelbe, weder während der Reife noc) 
während des Aufenthalts in den Ländern des Norddeutichen Bundes ein Reifepapier, 
wie Paß, Paßkarte, Wanderbuch u. dgl. gefordert werden dürfe, 

Mit der Aufhebung der PB. ift jedoch weder das Necht der Bundesangehörigen 
auf Ertheilung von Päffen und jonjtigen Reifepapieren noch die Pflicht jedes Reijenden, 
ſich auf amtliches Erfordern über jeine Perſon, d. i. Namen, Alter, Stand, Wohnfit, 
Staatsangehörigkeit, auszuweiſen, bejeitigt worden. Aber einmal muß dieje amtliche 
Frage durch einen bejtimmten, eine begangene oder beabſichtigte Nechtsverlegung oder 
eine ſtrafbare Lebensart, wie Yandjtreicherei, gewerbsmäßige Unzucht u. ®dgl. be— 
treffenden Verdacht oder durch irgend ein anderes öffentliches Intereſſe motivirt fein; 
dann muR der Ausweis nicht mehr durch Neifepapiere, fondern er fann auch in 
anderer Weife, 3. B. durch Zeugen oder Briefe, erbracht werden. 

Das Recht, die P. vorübergehend für einzelne Gebiete oder den ganzen Umfang 
des Deutfchen Reiches oder für alle Reifen aus und nach bejtimmten Staaten des 
Auslandes einzuführen, ift dem Bundespräfidium für den Fall gewährt, daß Krieg, 
innere Unruhen oder ſonſtige Greigniffe, wie Epidemien u. dgl., eine Kontrole der 
Reifenden nothwendig ericheinen laſſen. Auch ift von diefem Rechte wiederholt Ge: 
brauch gemacht worden: jo wurde durch Saiferliche Verordnung vom 26. Juni 
1878 für die Stadt Berlin die Pflicht jedes Fremden oder Neuanziehenden, fich durd) 
Pat oder Paßkarte über jeine Perſon auszuweiſen, bis auf Weiteres wieder ein= 
gerührt; ebenio wurden mit Rüdficht auf die befürchtete Einjchleppung der in Rußland 
ausgebrochenen Veit durch Kaiferl. Verordnung vom 2. Febr. und 14. Juni 1879 
die aus Rußland kommenden Reifenden für paßpflichtig erklärt. Endlich iit das 

2* 


20 Patentgeſetzgebung — Paternitätsklage. 


Recht der Polizeibehörde, unter beſtimmten Vorausſetzungen einen Zwangspaß zu 
ertheilen, welcher den Behörden der in ihm vorgeſchriebenen Reiſeroute vorgelegt 
werden muß, durch das Paßgeſetz ebenſowenig betroffen, ala die bisherige Kontrole 
neu anziehender Perfonen und der fremden an ihrem Aufenthaltsorte. 
Lit.: H. Kanngießer, Das Geſetz über das mr mit Erläuterungen, Berl. 1867. — 
Rönne, Staatöreht der Preuß. Monardie, 3. Aufl. Bd. IL Abth. 2 SS 378-380; 
Derieibe Staatsrecht des Deutihen Reiche, 2. Aufl. = I. ©. 117—121. — v. Mohl, 
——— bes Königreichs Würtemberg, 2. Aufl. 280, 282, 283 Note 5. — 
Zahariä, Deutihes Staats: und Bundesrecht, z Aufl. »b. I. S. 301-304. — 
9: Thudihum, Verfafjungsrecht bes Nordd. Bundes, Tübing. 1870, S. 546-552. 
F. Brodhaus. 


Batentgefetgebung, j. Eriindungspatente. 


Paternitätsflage wird in der Regel die gegen den Vater eines Kindes auf 
Anerkennung feiner Vaterſchaft gerichtete Klage genannt. Cine jolche fteht ſowol 
dem Kinde jelbit, als der Mutter deffelben zu, nach Röm. Recht ala praeiudicium 
de partu agnoscendo (l. 3 $ 2 D. de agnosc, lib. 25, 3), außerdem aber auch 
dritten Intereſſenten, z. B. dem Erben oder Gläubiger des Kindes. Die Klage 
des Kindes nennen manche auch Filiationsklage. Andererjeits kann ebenſowol der 
Vater jeinerjeits auf Anerkennung des Kindesverhältnifjes Hagen. Bejondere Sätze 
jtellte bezüglich der Frau, welche fich nach der Scheidung jchwanger fühlt, ein SC. 
Plancianum auf, theile um Frau und Kind gegen Chikane des Mannes, theils um 
diejen gegen Unterjchiebung eines Kindes zu ſchützen (1.1 pr. S$ 4, 14, 15 D. eod.). 
Der Beweis der Vaterſchaft wird erleichtert durch eine Präfumtion, welche fich auf 
die in der Ehe liegende moraliiche Garantie gründet: pater est quem nuptiae de- 
monstrant (l. 5 D. de in ius voc. 2, 4). Danach wird vermuthet, daß das Sind 
von dem, welcher in der Konzeptionszeit Ehemann der Mutter war, erzeugt fei. 
Als Zeit der Empfängniß betrachtet das Röm. Recht die Frift vom 182jten bis 
zum 300jten Tage von der Geburt rückwärts gerechnet, wobei der Tag der Geburt 
jelbjt als erfter gezählt wird (l. 3 SS 11, 12 D. de suis 38, 16; Keller, PBand,, 
$ 410). Das Preuß. Recht Hat auf Grund der Beobachtung, daß ein Kind 
früheitens in fieben Monaten ausgetragen wird, die Friſt auf den Zeitraum vom 
210ten bis zum 302ten Tage eingejchräntt und zählt dabei als eriten den Tag 
vor der Geburt ($ 2 Allg. ER. II. 2; Striethorft, Archiv, Bd. 69 ©. 117). 
Einem dor der Ehe erzeugten, aber in der Ehe (vor dem 182jten Tage derjelben) 
geborenen Kinde kommt nach Röm. Recht die Präfumtion nicht zugute; doch gilt 
ein folches nach Jujtinian’s Neuerung wenigitens dann als ehelich, wenn der Ehe— 
mann es als von ihm erzeugt amerfennt (1. 11 C. de nat. lib. 5, 27; nov. 89 
c. 8$ 1). Das Preuß. Recht dagegen hat die Präfumtion unpaffender Weile auf 
alle in der Ehe geborenen Kinder erjtredt ($ 1 Allg. ER. II. 2). Diefe Auslegung 
it auch durch Plenarbejchluß des OTrib. (Entjch. VII. ©. 73) bejtätigt worden. 
Dawider freilih u. a. Förſter (Theorie, III. $ 219), Hinſchius (RGeſ. über 
die Beurkundung u. ſ. w. $ 22 A. 5 Nr. 1). Die Präjumtion fann nach Gem. 
Recht von jedem ntereffenten durch Gegenbeweis widerlegt und dadurch die An— 
nahme der Paternität aufgehoben werden, nicht blos von dem Ehemann, jondern 
auch von der Frau, dem Kinde oder dritten Perfonen (Seuffert, Archiv, XXII. 287). 
Ob dazu der Beweis, daß die Erzeugung durch den Ehemann unmöglich war (wegen 
Abwefenheit, Impotenz u. j. w.), erforderlich jei, oder ob der Beweis thatfählich 
unterbliebener Beiwohnung genüge, ift bejtritten (l. 6 D. de his qui sui 1, 6), 
muß aber im leßteren Sinne entjchieden werden. Nachweiſe aus der Praris giebt 
Windjcheid, Xehrb., I. $ 56 Anm. 3. Nach dem Wortlaut des Preuß. GB. 
it regelmäßig nur der Are zur Anfechtung der Präfumtion mittels jog. 
Allegitimitätsklage befugt ($ 7 Allg. ER. I. 2). Doc wollen die Meiften auch 
andere Intereffenten zur Klage zulaffen. Förfter, a.a. ©. Dawider Dernburg, 


Pathengeihente — Patriarchen. 21 


Lehrb. III. $43. Weiteres bei Fuchs, Die Rechtsvermuthung der ehelichen Vater— 
haft, Wien 1880. — Abweichend vom Röm. Recht kennt das Gem. und Preuß. 
Reht auch eine P. aus unehelicher Erzeugung. Ueber diefe und über den mit der 
P. oft verbundenen Alimentationsanfpruch vgl. den Art. SIARERE LUG , icht. 


Pathengeſchenke (pecunia lustrica) ſind diejenigen Zuwendungen, welche der 
Pathe, in der Abſicht zu ſchenken, freiwillig macht. Begriffsmäßig müſſen dieſelben 
gemäß 1. 6 C. pr. 6, 61 in die bona adventitia regularia des Täuflings, alſo 
in deſſen Eigentum unter väterlichem Nießbrauch fallen. Cine Ausnahme könnte 
nur jtattfinden, wenn der Pathe jeinem Gejchent eine andere augdrüdliche Beſtimmung 
giebt. Weil jedoch gejchichtlich machgewiefen wurde, daß die P. urjprünglich den 
Zwe Hatten, die Koften der Taufhandlung zu deden, jo wollen Einige bei nicht 
ausdrüdlicher Willenserklärung die Bermuthung dafür ftreiten laſſen, daß die P. 
den Eltern des Täuflings gebühren — mit Unrecht, da der Nachweis fehlt, daß 
jener geichichtliche Vorgang zu einer Wenderung des beitehenden Rechts geführt habe. 
Dies wurde von Welteren dadurch vertheidigt, daß fie die P. als peculium quasi 
castrense erklärten, weil fie gegeben würden „propter aliquam militiam contra 
Satanam“. 

Soweit ſich in Partikularrechten nicht ausdrüdliche Beitimmungen über PB. finden, 
müſſen auch hier die Regeln über den Erwerb der Kinder Platz greifen. Das Preuß. 
Allg. ER. hat dagegen die Frage entichieden, indem es (II. 2 $ 157) die P. im 
Anihluß an die als richtig zu erachtende Anficht des Gem. Rechts dem nicht 
freien Vermögen des Kindes beirechnet. Daher bejtimmt auch eine KHab.Ordre, daß 
das Königliche P., welches für den fiebenten Sohn üblich ift, zu dem nicht freien 
Vermögen deffelben, wie jede andere Schenkung gehören joll. 

Quellen: Allg. F II. 2 $ 157. — Preuß. Kab.Ordre vom 7. Aug. 1821 (v. Kamptz, 


Annalen, Bd. V. ©. 5 
Lit.: — —— der Lehre * den 210 Adventitien, Gießener Ztichr. VIIL 


&. 776 '. — Fitting, —— re — Bangeromw, I. $ 236 Anm. 1. — 
Keller, S 417. — Arndta N Anm. 1. — Biene Treuf,. Privatrecht, II. ©. 598 
Anm. 17. Kayſer. 


Patriarchen hießen in der älteren Kirche ſeit dem 5. Jahrh. die Biſchöfe 
von Konjtantinopel, Alerandrien, Antiochien und Jeruſalem, welche die Oberaufficht 
über eine Reihe zu ihrem Sprengel gehöriger Metropoliten führten, mit diejen 
(Patriarchal-) Synoden für die Regulirung der gemeinjchaftlichen Angelegenheiten 
abhielten, das Ordinationsrecht der ihnen unterworfenen Metropoliten befaßen und 
endlich die höchſte richterliche Inſtanz in Eirchlichen Angelegenheiten für ihre Sprengel 
bildeten. Im Abendlande nahm der Papſt, welcher noch heute offiziell den Titel: 
Patriarcha Occidentis führt, eine ähnliche hervorragende Stellung ein, wiewol der 
Patriarchat hier wegen der Entwidelung des Primats des Römifchen Stuhles nie 
vraftifche Bedeutung gehabt hat. Während Heute in der morgenländifchen Kirche 
der Patriarchat die höchſte kirchliche Würde it, find die Lateinifchen Patriarchate von 
Konjtantinopel, Mlerandrien und Antiochien blos Bisthümer in partibus infidelium, 
deren Träger in Rom beim Papſt refidiren,; nur der ihnen früher gleichitehende 
lateinifche P. von Jeruſalem hat jeit 1847 zwar wieder feinen Si in Jeruſalem, 
aber in feinem Bezirk befinden fich weder ihm untergebene Erzbiſchöfe noch Biſchöfe. 
Die Inhaber der mit der Römifchen Kirche unirten orientalischen Patriarchate, 
1) des Melchitiichen, 2) des Maronitifchen, 3) des Syriſchen Patriarchats, 4) des 
Patriarchats der Chaldäer zu Babylon und 5) des Armenifchen Patriarchats von 
Gilicien nehmen heute die Stellung von Erzbiſchöſen mit (im Vergleich zu den 
abendländijchen) erweiterten Rechten ein. Die P. von Venedig und Liffabon find 
Erzbiſchöfe, die diefen Titel führen. Ebenſo ift der Patriarchat von MWeftindien ein 
bloßer Titel, der an einen höheren Spanifchen Geiftlichen verliehen wird. 


22 Batricius — Patronat. 


Lit: P. Hinſchius, Das Kirchenrecht der Katholiten und Proteitanten, Berlin 1869, 
1. 538 fi. — Hergenröther in Mohy's Arc. VII. 337. — Silbernagl, Berfaffung und 
gegenwärtiger Beltand jämmtlicher Kirchen bes Orients, Yandahut 1865. 
P. Hinſchius. 


Patricius, Fr. Senenſis, & zu Siena, wurde Biſchof von Gaeta, F 1494. 


Er jhrieb: De institutione reipubl. 1. IX., Argent. 1594. — De regno et regis in- 
stitutione 1. IX., Par. 1519, Argent. 1594. 

git.: Schön, De litt. polit. med. aevi, Vratisl. 1838, p. 337. — Mohl, 1. 227. — 
Michaud. — Contzen, Neue Studien, Berl. 1873, S. 136—150. TZeihmann. 


Patronat (Th. I. S. 658, 683) heißt der Inbegriff beitimmter, einer Per: 
fon auf eine Kirche oder ein Benefizium (gewöhnlich ein niederes Amt) zujtehender 
Berugniffe und gewiffer damit verbundener (namentlich Ehren:) Rechte. Die wich— 
tigſte Berugniß, welche aber dem P. auch fehlen kann, ift das dem Patron bei der 
Vakanz der an der Kirche vorhandenen Aemter oder bei der des Benefiziums zu— 
fommende Präſentationsrecht (j. diefen Art.). Des Näheren ijt das Injtitut 
ihon bei der ſyſtematiſchen Darftellung ſowol des katholischen, wie auch des prote= 
jtantifchen Kirchenrechts Th. I. a. a. O. behandelt worden. Hier iſt noch hervor= 
zubeben, daß der P., welcher auch auf dem Boden der katholischen Kirche zu mannig= 
fachen Streitigfeiten zwiichen den Berechtigten und den kirchlichen Oberen geführt 
hat, jeinen mittelalterlichen Uriprung in der prinzipiell haltlojen Vermiſchung von 
öffentliche und privatrechtlichen Berugniffen zeigt, infofern als die nothiwendig den 
leitenden Organen der Kirche zulommende Bejegung der Aemter theilweife ein In— 
dividualrecht gewiffer Perfonen geworden ift. Für die evangelijche Kirche ericheint 
das Inſtitut darum um jo haltlojer, als es der Entwidelung einer jelbjtändigen 
Semeindeverfaffung wejentliche Schwierigkeiten in den Weg legt. Endlich kommt 
tür beide Kirchen in Deutichland, wo das P.recht meiftens ala dingliches an die 
Nittergüter geknüpft ift, noch das weitere Moment in Betracht, daß mit der freien 
Veräußerlichkeit und den Parzellirungen des Grundbeſitzes, jowie dem dadurch her= 
beigeführten Uebergang des Rechts ald Kom-P. auf die Befiger der Abipliffe eines 
berechtigten Gutes der früher meiſtens noch beitehende Zufammenhang des P. mit 
der Familie des erſten Stifters vielfach gelöjt worden ift, alfo auch in Folge der 
Entwidelung der Agrarverhältniffe das Jnftitut immer mehr an innerer Berechtigung 
verliert. Schon Beza hat das P.recht für eine Erfindung des Teufels erklärt, 
ebenſo der berühmtejte ältere Rechtölehrer der reformirten Kirche (Gisbert Voet, 
Politia ecclesiastica lib. III. tract. II. c. 1 SS 3—5) die Unhaltbarfeit des P. 
darzuthun gefucht. Anfang des jeßigen Jahrhunderts hat jener Schleiermacdher 
die Aufhebung defjelben befürwortet und ebenjo haben fich auf der Eifenacher Kirchen— 
fonterenz de8 Jahres 1861, in der eriten Sannoverichen Kammer im Jahre 1864 
bei der Berathung des Entwurfs einer Kirchenvorſtands- und Synodalordnung und 
neuerdings in den Sächftichen Kammern Stimmen im gleichen Sinne erhoben. End— 
(ih erflärt auch die Preuß. Verf. Urk. vom Jahre 1850, Art. 17: „Ueber das 
Kirchen-P. und die Bedingungen, unter denen dafjelbe aufgehoben werden fann, wird 
ein bejonderes Geſetz ergehen“, jedoch ift daffelbe bisher nicht erlaffen. 

Quellen u. Lit.: I. Kathol. Kirche: Tit. X. de jure patronatus III. 38; id. tit. in 
VIto II. 19; in Clem. III. 12. — Conc. Trident. Sess. XIV. c. 12, 13 de ref. — Sess. 
XXV. c. 9 de reform. — Tractatus de jure patronat. clariss. JÜtorum P. I. (Rochi de 
Curte, Pauli de Citadinis, Jo. Nicolai Delphinatis), P. II. (Ant. de Butrio, 
Jo. de Anania, Henr. Boich, Caes. Lambertini), Francof. 1609. — Florens, 
Tract. de antiquo jure zen u. Tract. ad. libr. III. Decret. tit. XXX VIII. de jure patron. 
in opp. ed. Paris. T. Il. p. 78, 249. — Juliani Viviani praxis jus patron. acquirendi 
conservandique illud ac acquirendi modos brev. continens... S. Rotae decisionibus con- 
firmata et ornata et ad singulas materias sec. stylum Rom. Curiae accommodata, Venet., 
1670. — Franc. de Roye, Ad tit. de jure patron. libr. III. decretal., Andeg. 1661; 
Neap. 1763; eiusdem, De juribus honorific. in eccles. libr. II., Andeg. 1661. — Franc. 
de arens, Comment. in singulos canones de jure patron., Rom. 1717 ss, 3 tom. — 


Baetus — Paulſen. 28 


3. inſchius, Zur Geichichte ber Inkorporation und ei A, Feſtgaben für 

Deffter, Berlin 1873, ©. 1. — Oesterley, Diss. de jur. patr. notione ex 
rel —— hausta, Götting. 1824. — Phil. Mayer, Das Patronatörecht, dar⸗ 
geftellt nach Gem. Kirchenrecht und nad) — Derordn., Wien 1824. — 8. Lippert, 
Perjuch einer hiſtoriſch dogmatiſchen Entwidelung der Lehre vom Tatronatärechte, 1829. — 
a ehe Je lleber ben Be 4 und die —— — Erwerbsarten des Patronatsrechts 
nad dem Kirchenrechte, Stmil 189 — Bruno wien Der firchliche P. nach dem 
fanon. Recht, Leipz. 1854. — Hinihius, Kirchenrecht, Bd. 2 ©. 618 und Bd. 3 ©. 1 
bit 98. — O. Mittelstädt, De jure patr., quod reale dicitur, origine, Vratisl. 1856. — 
9. Gerlad, Das Präjentationsrecht auf Parteien, —— 1855. riedle, Aus— 
u Präjentationdrechtes, in Moy, Archiv für fathol. Kirchenrecht, XX .3f. — Guft. 

Hlayer, Beiträge zur Lehre vom Patronatöredite, Gießen 1865. — Glem. Schmitz, 
Ratur und Subjekt der Gräfentation, Regenab. 1868. P. Hinschius, De jure patron. 
regio, Berol. 1855; Derjelbe, Das lan eöherrliche Patronatsrecht, Berl. 1856; Derfelbe, 
Ueber die Succeifion in ‚Patzomatsreäte fäfularifirter geiftlicher Ynftitute, in Dove’ Zeit: 


krift für Kichenredht, I 412 — Schulte, Patronatärechte jäkularifirter Bisthümer, 
Stifter x. in Moy’3 Aedin vl. 215 f.— U. Kathol. und proteftant. Kirchenrecht: 
Sigm. Finkelthaus, Tract. de jure patron. ecclesiastico, Lips. 1639. — Matth. 


Stephani, Tract. de jure patron., Goth. 1639, 1672. — Iſid. Kaim, Das Kirchen: 
patromatäredht, Zeipz., Th. I. 1845; TH II. 1866. — C.H. L. Michels, Quaestio controv. 
de jure patr,, Berol. 1857. — P. Hin] chius, Das Patronatäreht und die moderne Ge: 
ftaltung des Grundeigenthums, in Dove's Ztſchr. }. Kirchenrecht, VII. 1 fi. — IIL Proteftant. 
Rirhenredt: M. Stachow, De jur. can. quod ad jur. patr. spectat in terris pro- 
testantium usu ac non usu, Berol. 1865. — Hellmar, Der P. nad at Randed« und 
Provinzialrecht, Elberfeld 1850. P. Hinſchius. 


Paetus, 5 1512 zu Rom, Advokat und Richter dai., FT 1581. 
Er ſchrieb: "De Judiciaria forma Capitolini fori libri 9, Rom. 1567. — De mensuris 


et ponderibus rom. = aecis. — Variarum lect. liber unus, Venet. 1573. (Gronovius, 
Thes. antiq. rom., 609 ss.) 
gi: — Biographie universelle. Teichmann. 


Päs, Karl Wilhelm, 5 1780, wurde 1801 Doktor, ging nach Kiel, dann 
Brot. in Heidelberg, 1805 in Göttingen, T 1807. 

Schriften: De success. univ. per pactum promissa, Gott. 1801. — Progr. de vera 
libr. feudalis Longobardiei — Gott. 1805. — Lehrbuch des Lehnrechts, herausgeg. 
don öde 1808, 3. Aufl. Gött. 

Bit.: Heyne, De obitu C. W. P. ad Herennium suum, Gott. 1807. — Rotermund 
zu Yöder. Teihmann. 


Bancapalea (Pocapalia), Schüler Gratian’s, wahrfcheinlich auch Lehrer 
des Han. Rechte. Don ihm rührt her die Eintheilung von PB. I. u. III. des 
Defrets, die Hinzufügung von Ouellenbelegen (Paleae), eine Anzahl in den Appa- 
ratus aufgenommener Glofien, eine Summa zum Defrete. 

£it.: Maassen, Paucapalea, Wien 1859. — Schulte, Geidichte, I. 57; Derjelbe, 
Die Talene im Dekret, Wien 1875. — Encyklopädie, ©. 141. Zei ihmann. 


Bauli, Karl Wilhelm, & 18. XII. 1792 zu Yübed, ſtud. in Tübingen 
u. Göttingen, 1820 Sekretär am Oberappellationsgericht übel, 1843 zum Rath 
an demjelben ernannt, jchied 1869 aus, T 18. III. 1879. 

Schriften: Abhandl. * dem Lübiſchen Recht, Lübeck 1837—65. — Lübeckiſche zu us 
fände im Mittelalter, Bd. I. Lübed 1847; U. 1872; IIl. Leipz. 1878. — Geichichte 
Süber’jchen Gejangbücher und TBeneibeitun der gesenmwäztigen, Lub. 1875. — Peter Hey: 
ling (in Warned’a Allg. Miffionszeitichrift, Mai 1876) 

Lit.: Sybel's Zeitihr. Pd. 41 ©. 528530. — Revue historique ar 448, 449. 

eihmann. 


Baulien, Paul Ditlei Chriſtian, & 18. I. 1798 zu Flensburg, jtud. 
in Göttingen, Berlin, Heidelberg und Kiel, 1824 Privatdozent in Kopenhagen, 
1825 außerord. Prof. in Kiel, zog fich 1848 nach Kopenhagen zurüd, T dort 
als Gtatsrath 28. XII. 1854. 

Schriften: De genio et indole jur. antiqui hereditarii Rom., Hafniae 1824. — Ueber 


das Stubium des Nordiichen Rechts im Allgemeinen und bes Däntihen Rechts inabeiondere, 
Kiel 1826. — Meber BVoltathümlichkeit und Staatärecht des Herzogthums Schleswig, Kiel 


24 Pauperies. 


1832. — Lehrb. des Privatrecht3 in den Herzogthümern Schleewig und Holftein (2), Kiel 
1842. — Slesvigsk Rets-Formularbog samt tydsk-dansk Lovkyndigheds-Ordbog (1841), 
Flensborg 1853. — Samlede Skrifter, 1857—59. — Biele Hleinere Abhandlungen in Dänifchen 
und Deutichen Zeitichriften. 


git.: Flor, Omrids af Paulsen’s Liv, i Dannevirke, 1855 Nr. 137, 138. — Ste: 
mann, a Recht und Gerichtäverfaflung im 17. Jahrh. 1855, Vorwort. — Slesvi- 
geren Ch. D. Paulsen’s Livshistorie i Omrids af Dr. H. N. Clausen, Kbhn. 1857. 


Teihmann. 


Pauperies ijt nach der Erklärung Ulpian’sinl. 1$ 3 D. 9, 1 der Schaden, 
welcher Niemandem im eigentlichen Sinne zugerechnet werden kann; nach den XII 
Zafeln wird unter P. die von einem vierfüßigen Thier angerichtete Beichädigung 
veritanden (Bruns, Fontes, p. 21). Nach der weiteren Entwidelung durch das 
Prätorifche Edikt Haftet derjenige, deifen Thier einen Schaden contra naturam sui 
generis angerichtet hat, mit der actio de p. auf Erſatz, von welchem fich jedoch der 
Eigenthümer durch Hingabe des Thieres (noxae datio) befreien fann (Ausnahme 
l. 1815 D.h. t.). Die actio de p. ijt aljo eine Noralflage. (Weber den Streit, 
ob das Petitum nur auf Schadenserfag oder alternativ auf diefen und noxae de- 
ditio gerichtet fei, j. Glück, X. ©. 292 ff, Zimmern a. a. ©. ©. 155 und 
bei Bangerow, III. $ 689, Anm. Nr. 2.) Früher begründete man die actio 
de p. auf die culpa des Gigenthümer® (Thibaut aa. O. I. ©. 221 ff.; 
Glück a. a. D. ©. 287 ff.; Haſſe, Culpa, ©. 18 ff.), während man jeßt wol 
darüber einig ift, daß das Fundament der Klage, wenn auch nicht eine wirkliche 
injuria, jo doch ein Delikt, noxia des Thieres fei. (Auch bei anderen Völkern hielt 
man Thiere einer ftrafbaren Handlung fähig — Grimm, RechtsaltertHümer, ©. 664; 
Geib, Gejch. des Strafrechts, II. ©. 197 ff.) Aus diefer Annahme, welche ſich auch 
ausdrüdlich in den Quellen ausgejprochen findet — fo in l. 1 D.h. t. —, folgt die 
noxae datio jelbjt, das Erlöſchen des Grjaganfpruches durch den Tod des Thieres 
(1.1813 D. h. t.), der Uebergang der Erjaßpflicht auf den Erwerber (noxa caput 
sequitur — 1. 1 $$ 12, 13, 17 D. h. t.), die Bejtimmung, daß, wenn fich zwei 
Thiere gegenfeitig beichädigen, der Erfah für das angreifende wegfällt (1. 1$ 11 
D. h. t.), jowie endlich die Gleichjtellung der P. überhaupt mit den Beichädigungen 
durch Hauskinder und Sklaven (Zimmern, 88 4 ff.). Streitig ift, ob auch für 
wilde Thiere gehajtet wird, was man nach rechtlicher Meinung mit Bezug auf pr. 
I. h. t. für den Fall bejahen muß, wenn ein folches Thier in gezähmtem Zuftand 
contra naturam diejes einen Schaden anrichtet. (Vgl. auch Bruns, Ztichr. für Rechts- 
geich., III. ©. 343.) — für eine Bejchäftigung secundum naturam sui generis 
wird nur im Falle des Abweidens eine durch die actio de pastu geltend zu machende 
Griagpflicht erwähnt. (Gegen Sintenis, $ 127. Anm. 29, Seuffert, $ 480. 
Anm. 3 mit Bezug auf 1. 14 $ 3 D. 19, 5; Paull. sent. rec, 1.15 $ 1; 1. 6. 
C. 3, 35. Vgl. Pernice, Sachbeijhädigung, ©. 222, Ueber älteres Deutjches 
Recht bei Meibom, Deutiches Piandrecht, ©. 198. Partikularrechtlich Haben 
namentlich die neueren Tyeldpolizeigefege für den Fall des Abweidens Beitimmungen 
getroffen; hierüber j. d. Art. Pfändung.) Zritt der Schaden durch die culpa eines 
Menjchen ein, jo gelten die Beſtimmungen der 1. Aquilia, die noch befondere Strafen 
gegen denjenigen fejtjtellte, welcher wilde Thiere an einem gangbaren Ort hielt 
(1. 40 $ 1,1. 42 D. 21, 1 — jet RStrafGB. 8 367 Nr. 11, vgl. auch $ 366 
Nr. 5). 

Dos den neueren Partikulargefegbüchern gehen die meiften bei der P. von der 
Verſchuldung des Herrn aus. Der Cod. Maxim. Bav. jteht no im Ganzen auf 
NRömifch-rechtlichem Boden, hebt jedoch den Unterjchied zwifchen dem contra oder 
secundum naturam sui generis verurjachten Schaden auf. Das Oeſterr. BGB. 
läßt als Grund der Haftung nur culpa eines Menjchen zu und betrachtet jede an- 
dere durch ein Thier angerichtete Beichädigung als Zufall. Bei gleichem Geſichts— 


Paurmeifter — Peculium. 25 


punkte, aber mit Lajuiftifcher Fülle verordnet das Preuß. Allg. LR., daß bei Haus- 
thieren, jowie bei wilden, welche mit obrigfeitlicher Erlaubniß gehalten werden, der 
Gigenthümer aus der vernachläffigten Aufficht haftet. Werden letztere ohne obrig- 
leitliche Erlaubniß gehalten, jowie bei jolchen Thieren, die in Haushaltungen nicht 
gebraucht werden, tritt Haftung auch ohne Schuld ein. Jeder Erfah fällt bei Reiz 
oder eigener Umvorfichtigfeit des Bejchädigten weg. Nah Sächſ. BGB. wird der 
Gigenthümer wilder Thiere von der Haftung nur befreit, wenn der. Bejchädigte den 
Schaden veranlaßt Hat. Bei einer Beichädigung durch Hausthiere kann jich der 
GigenthHümer durch noxae datio nur befreien, wenn er nachweiit, daß er bei der 
Beauffichtigung Nichts verjchuldet hat, wird ganz frei, wenn das Thier dor Erhebung 
der Klage geitorben oder abhanden gekommen ift. Nach Code civil dagegen ijt ge- 
mäß jeinem ausgedehnten Haftungsprinzip der Eigenthümer eines Thieres oder der- 
jenige, welcher fich deſſelben bedient, für allen Schaden verantwortlich. Weder ijt 
ein Unterfchied zwiichen zahmen und wilden Thieren gemacht, noch ob es entlaufen 
it oder unter Obhut des Berechtigten jteht; nur eigene Unvorfichtigfeit des Be— 
Ihädigten oder höhere Gewalt jchließt den Anjpruch auf Schadenserja aus. 

Quellen: Tit. J. IV. 9. — Tit. D. 9, 1. — Cod. Max. Bav. IV. 16 $ 7. — Oefterr. 
en $ 1320. — Allg. ER. I. 6 $S 70-78. — Sächſ. BEB. 85 1560—1564. — Code civil 
art, 

Lit.: Auber den Lehrbüchern de3 Gem. und Part. Rechts noch befonders: Thibaut, 
Verſuche, Bd. II. Nr. 8. — Zimmern, Syſtem der Noraltlagen, 1818, bei. Kap. V. — 
Geiterding, Nachforſchungen, Bd. VI. Abf. 2 (zuerft in der Gießn. Ztichr. Bd. J re ff.) 

a er. 


Paurmeiſter, Tobias, 5 1553 zu Kochſtädt im Halberſtädtiſchen, jtudirte 
m Frankfurt a/D. und Marburg, ging jpäter nach Freiburg im Br., wo er 1581 
legum doctor wurde, dann zum Syndifus de Domkapitels in Halberjtadt gewählt, 
geheimer Rath u. Kanzler am Braunfchweigifchen Hof, comes Palatinus, T 17. VII. 
616. 

Edrift: De jurisdietione Imp. Romani libri duo, Hanov. 1608; Fref. ad M. 1616; 
Helmst. 1670. 

£it.: Mertens, Memoria Tobiae Paurmeisteri, Frib. 1809. — Pütter, Litt., I. 33, 
158. — Ztſchr. f. d. geſ. Staatswiſſ. XXXIII. 442, 458. — Schulze, Einl., 54. — 
dv. Stinging, Geichichte der Deutichen Rechtswiſſ. (1880), I. 671. — Gierke, Job. 
Althuſius, Bresl. 1880, ©. 165 ff. TZeihmann. 


Peck, Peter, Pedius, 5 zu Zierikzee 1529, F zu Mecheln 1589. Er jtud. 
zu Löwen unter Mudäus, lehrte daj. bis 1586 u. wurde in diejem Jahre Mitglied 
des Großen Raths zu Mecheln. Er war ein eleganter Romanijt, behandelte zugleich 
auch Kirchen und Gewohnheitsrecht, und ijt ala einer der Begründer der jeerecht- 
lichen Studien anzufehen. 

Er ihrieb: Parapbrasis in universam legatorum materiam, Lov. 1553. — Commen- 
tarius ad Titt. B. Nautae caupones stabularii; de exercitoria actione; ad legem Rhodiam; 
de incendio ruina naufragio; ad Auth. Navigia C. de furtis; ad Titt, C. de naviculariis, 
de navibus non excusandis; de naufragiis, Lov. 1556 (neu aufgelegt mit Anmerkungen 
von Binnius, 1647). — De amortizatione bonorum a principe impetranda, Köln 1562 
u. m. — De jure sistendi et manuum injectione, quam arrestationem vocant, 1564 u. m. — 
De testamentis conjugum, Lov. 1564 u. m. — Commentarius ad regulas juris canonici, 
Lov. 1564 u. d. — De ecclesiis catholicis aedificandis et reparandis, Lov. 1573 u. m. — 
Tie Gefammtausgaben 1627, 1666 (Antwerpen). — Noch andere Schriften werden ihm zu: 
geichrieben, namentlich Responsa s. Consilia juris. 

Lit.: Die gangbaren Sammelwerte von Swert, Miraeus, Adami, Foppens, 
van der Aa x. — Britz, Mömoire sur l’ancien droit a a in Memoires couronnés 
de ’Acad&mie de Belgique XX. (1847), — Rivier, Patria belgica, III. 102 er 

ivier. 
Peculium ijt ein Zweigvermögen oder Sondervermögen, indem es einerjeit3 ein 
Beitandtheil des patrimonium oder des Vermögens eines pater familias ift, anderer- 
jeits aber dem übrigen patrimonium entgegengejegt wird vermöge feiner Sonder: 


26 Peculium. 


beziehung zu einer der Gewalt des pater familias unterworfenen Perfon. Die 
Neueren pflegen zu den Pekulien jedes in irgend einem Sinne einem Hauskinde ge— 
hörende Vermögen zu rechnen; den Quellen ift aber diefer Sprachgebrauch fremd, 
indem fie ala Stüde de P. die thatjächli” in der Sand der persona subjecta 
befindlichen und ihrer Verwendung unterliegenden Vermögensſtücke bezeichnen. 

1) Seine erjte Erhebung zu rechtlicher Bedeutung verdankt der Begriff des P. 
dem Prätorifchen Edikte, indem diejes die Haftung des pater familias für fontraft- 
liche (und analoge quasi ex contractu entjtehende) Verbindlichkeiten jeiner Hausunter— 
thanen bis zum Belaufe ihres P. ausſprach. P. der persona subjecta iſt das ihr 
vom pater familias zu freier Verfügung überlaflene Vermögen; über jein P. ift dem 
für das Juftinianische und Gemeine Necht allein in Betracht kommenden Hauskinde 
jede ihm faktiſch mögliche Verfügung geftattet; dagegen ift in der concessio peculii 
als jolcher noch nicht enthalten die Vollmacht zu Rechtsakten, zu welchen es der 
Fähigkeit rechtlicher Dispofition bedarf, und auch die generelle Ertheilung diefer durch 
lebertragung der libera peculii administratio ermächtigt nicht zu Schenkungen. 
Indem das Hauskind jein P. mit dem Willen des Vaters thatjächlich ala eigenes 
Vermögen behandelt, hat e8 der Prätor gerecht gefunden, daß umgefehrt der pater 
familias die Schulden der persona subjecta bis zum Belaufe ihres P. als eigene 
gelten lafje. Den Gläubigern des Kindes haftet alſo der Water zwar nicht ohne 
jeinen Willen, jofern von diefem die Griftenz des P. abhängt, aber nicht etwa, 
wie Puchta will, vermöge einer in der concessio peculii enthaltenen Ermächtigung 
zum SKontrahiren, jondern weil vermöge des Zujammenhangs zwifchen Schuld und 
Vermögen in demjelben Maße, in welchem er dem Hauskinde die Behandlung jeines 
Vermögens als eigenen gejtattet, er auch den Gläubigern des Hauskindes gejtatten 
muß, deflen Schulden als feine eigenen zu behandeln. Gnticheidend ift daher der 
Betrag des P. nicht etwa zur Zeit der Obligirung, zu welcher eö an jedem P. 
fehlen kann, jondern zur Zeit der peculio tenus erfolgenden Kondemnation. 

Wie aber das P. rechtliche Bedeutung erlangt durch die Haftung des pater 
familias gegenüber den Gläubigern feines Inhabers, jo erlangen dadurch auch Bedeu— 
tung diejenigen unter Gliedern derjelben familia eintretenden Ihatbeitände, welche 
unter einander Fremden Obligationen begründen. Schließt die Subjeftion des 
Hauskindes in feiner Perſon jowol jede Forderung, als auch jede jpezielle Gebunden= 
heit demjenigen gegenüber aus, deſſen Herrſchaft es fchlechthin unterworfen iſt, jo 
find doch den Gläubigern des Hausfindes gegenüber von rechtlicher Bedeutung die 
im Berhältniß zum pater familias oder zu anderen Gliedern derjelben familia be— 
gründeten naturales obligationes, indem fie den Betrag, bis zu welchem 
der pater familias haftet, ala Naturaliorderungen des Hausfindes mehren und als 
Naturalichulden defjelben mindern. Außerdem ift das Prinzip der Haftung bis zum 
Belaufe des P. dadurch modifizirt, daß dem wirflich vorhandenen P. gleichiteht das 
dolos entzogene, jowie während eines utiliter zu berechnenden Jahres das durch 
Tod oder Emanzipation des Hauskindes weggefallene P. 

2) Zum gemeinen, jeinem Subjefte feinerlei eigenes Recht gewährenden und 
daher auch nicht auf Nechtsfubjekte bejchränften P. gejellte fich in der Kaiſerzeit das 
privilegirte castrense p. des filius familias miles. Ummittelbarer Inhalt des 
zuerft von Auguſtus ertheilten Privilegsg war die Ginräumung lebtwilliger Ver— 
fügung, aus welcher fich vermöge eines Schluffes a majori ad minus die Möglichkeit 
jeder rechtlichen Dispofition unter Lebenden ergab. Indem aber in Grmangelung 
anderweitiger Verfügung des filius familias nach jeinem Tode das castrense p. in 
derjelben Weife ala Eigenthum des pater familias erjchien, wie jedes andere nie dem 
patrimonium entfremdete P., jo war auch bei Yebzeiten des Sohnes durch defjen 
Recht das des Vaters nicht ausgeichlofien, jondern nur zurüdgedrängt, jo daß Die 
rechtliche Dispofition des Vaters in ihrer Geltung bedingt war durch das Aus— 
bleiben einer fonfurrirenden Dispofition des Sohnes. Erſt durch Jujtinian ift das 


Peculium, 27 


eastrense p. gänzlich aus dem Vermögen des Vaters ausgefchieden, jo daB es gleich 
dem Vermögen des Gewaltireien durch den Tod des Sohnes zur Hinterlaſſenſchaft 
defielben wird. Als castrense p. wurde jchließlich jeder Erwerb anerkannt, der dem 
Sohne vermöge feiner militia zufällt, erfolgte er auf Grund eigener Thätigkeit oder 
einer durch die militia motivirten Zuwendung Dritter. Kraft befonderer Beitimmung 
it außerdem castrense p. das von der Ehefrau dem Soldaten tejtamentarijch zu= 
gewendete. Bezüglich) des p. castrense hat der Hausſohn die volle Macht eines 
pater familias, jo daß er inäbejondere vollwirkſame Nechtögeichäfte mit dem Water 
abzuichließen vermag. Der miles erfcheint alfo vermöge jeiner privilegirten Stellung 
im Kaiferlichen Dienite von der vermögensrechtlichen Unterwerfung unter die väter: 
liche Gewalt injoweit entbunden, als jein Erwerb durch feine dienjtliche Stellung 
vermittelt ijt. 

3) Der Gedanke, daß der öffentliche Dienit in gewiſſem Maße von der Unter: 
werrung unter die private Gewalt des Waters entbindet, bat fich in der jpäteren 
Kaiferzeit in weiterem Umfange wirkſam erwiejen für Kaiſerliche Beamte, jodann für 
Advofaten, deren Stellung mehr und mehr eine Vorjtufe des höheren Amtes wurde, 
endlich Für Geiftliche. Nach Analogie des castrense p. unterliegt ihrer freien 
Verfügung als quasi castrense p. ihr dienftlicher oder aus Anlaß des Dienjtes ge— 
machter, bei Geiftlichen ihr jämmtlicher Erwerb. Außerdem ift nach Jujtinian’s 
Beitimmung p. quasi castrense das vom Landesherrn oder jeiner Gemahlin 
Geſchenkte. 

4) Den wirklichen Pekulien, denen der Sprachgebrauch der Neueren ſie beifügt, 
find im ihrer Beziehung zur Perſon des Vaters einerſeits, des Hauskindes anderer— 
jeits geradezu entgegengejeßt die bona adventicia. Eine beiondere Behandlung diejer 
hat zuerit Konftantin eingeführt bezüglich der bona materna, indem er bezüglich des 
von der Mutter feiner Kinder herrührenden Vermögens dem Vater die Verfügung 
über die Subjtanz genommen hat, damit dieje nach feinem Tode ungejchmälert den 
Kindern zufalle.e Daß beim Tode des Vaters das von der Mutter herrührende Ver— 
mögen auf ihre Kinder fich vererbe, war Konſtantin's Zwed, zu deffen Sicherung 
die von ihm angeordnete Beſchränkung des väterlichen Eigenthums als Mittel er- 
ihien. In Berbindung mit diefer Beichränfung des väterlichen Rechts erjchien aber 
im Yaufe der Zeit die jo jchon beim Tode der Mutter rechtlich geficherte Succeffion 
ihrer Kinder als eine unmittelbare Beerbung jener und das Necht des Vaters am 
mütterlichen Nachlafie ala Berugniß der Verwaltung und Nubung eines fremden 
Vermögens, welche aber über das Recht des ususfructus weit hinausgeht. Die 
Rechte der Kinder bezüglich der bona materna wurden ausgedehnt auf alles von 
Mutterjeite anfallende Vermögen (bona materni generis), jowie auf den ehelichen 
Erwerb (lucra nuptialia). Während aber bis auf Yuftinian, abgejehen vom p. 
castrense und quasi castrense, nur ein Erwerb von beitimmten Umfange rechtlich 
dem Hauskind zufiel, hat Juftinian diefe Regel umgedreht und verfügt, daß als 
bona adventicia eigenes nur in Verwaltung und Nußung des Waters jtehendes 
Bermögen des Hausfindes werden jolle jeder nicht vom Water herrührende Erwerb. 
Jedes Recht des Vaters am Erwerbe des Kindes iſt ausgeſchloſſen im Falle einer 
gegen den Willen des Vaters realifirten oder mit der ausdrüdlichen Beitimmung 
feines Ausſchluſſes erfolgten Zuwendung, jowie bei der gejehlichen Beerbung von 
Geichwiftern, indem hier der Vater nicht neben dem eigenen Grbtheile noch einen 
Antheil an dem der überlebenden Geſchwiſter haben joll. 

Das Juftinianische Recht ift demnach Folgendes. Freies Vermögen des Haus— 
iohnes ift das p. castrense und quasi castrense. Im Uebrigen ift fein eigenes 
Bermögen des Hausfindes, jondern gemeines P. (von den Neueren im Gegenjage zu 
den bona adventicia als p. profecticium bezeichnet) aller Enwerb vom Vater her; 
aller übrige Erwerb iſt eigenes aber in der Regel durch das Verwaltungs— und 
Rugungsrecht des Vaters beichränftes Vermögen des Hauskindes. 


28 Penſionsberechtigung. 


In das Gem. Recht iſt die Stellung der bona adventicia unbeſtreitbar über: 
gegangen. Das p. castrense und quasi castrense fommt im Verhältniß zum Röm. 
Rechte weit jeltener vor wegen der jog. emancipatio Germanica, doch fehlt e& an 
jedem Grunde, das Recht jener Pelulien deshalb für veraltet zu erklären; vielmehr 
erhebt fich die entgegengejeßte Frage feiner Ausdehnung auf jonftigen, mit dem Lebens— 
berufe des Erwerbers zujammenhängenden Erwerb. Höchſt zweifelhaft ift es dagegen, 
ob das jog. p. profecticium und mit ihm die actio de peculio noch dem Gem. 
Rechte angehört. Durch Einräumung eines P. behandelte der Römer den mit einem 
jolchen ausgejtatteten Sohn oder Sklaven ala Subjekt eines feiner eigenen Verfügung 
unterliegenden, jeinem wirthichaftlichen Dajein eine gewiſſe faktiſche Selbitändigfeit 
verleihenden Vermögens. Dazu eriftirt aber nicht nur heutzutage wegen der fog. 
emancipatio Germanica faum mehr ein Bedürfniß, ſondern «8 ijt jedenfalls unferem 
Leben die Sitte einer folchen eine gewiſſe wirthichaftliche Selbjtändigfeit begründen 
den Ausjtattung des Hausſohnes fremd, weshalb die concessio peculii ein bei uns 
nie üblich gewordener Akt ift. Andererjeits erleidet die Regel, daß das dem Kinde 
vom Vater Gegebene in deſſen Gigenthbum verbleibt, eine Ausnahme für bie 
zur Begründung einer eigenen Wirthichaft oder zum Zwecke der Abichichtung ge— 
währte Gabe. 

Die neueren Gejeßgebungen behandeln die vermögensrechtliche Stellung der 
Hauskinder verichieden,; während fie aber durchweg jowol ein freies, als ein nicht 
freies Vermögen derjelben kennen, ift ihnen das jog. p. profecticium und die actio 
de peculio durchweg fremd. 

Quellen: Dig. 15, 1 de peculio; 49, 17 de castrensi peculio. — Cod. 6, 60 de 
bonis maternis et materni generis; 6, 61 de bonis, quae liberis... adquiruntur; 12, 37 
de castrensi peculio. — Inst. per quas personas 2, 9. 

Lit.: 1) Ueber das ſog. perulium profecticium: Marezoll, Zeitſchr. }. Eiv.R. u. Proz., 
N. 5. V.(1848) ©. 169 f. — Bellen, Zeiticr. j. HR. IV. (1861) 6, 509 f. — Manbrn, 
Ueber Begriff und Weſen des P. (1869); Derjel — — II. (1876). — Alf. 
Pernice, Xabeo, I. (1873) ©. 121 ff. 380 ff. — 2) Ueber das castrense u. quasi castrense: 
Fitting, Dad castrense p., 1871. — 3) Ueber die bona adventicia: Marezoll, Zeitichr. 
f. Eiv.R. u. Proz, VI. 1883) ©. 92 fi. — Schirmer, Erbrecht (1863), ©. 173 fi. — 4) Für 
dad heutige Recht: Witting, Archiv f. praft. Rechtsw, N. F. XI. (1877) S. 16 fi. — 
5) Außerdem die Lehrbücher von Bangerow, 88 232 ff.; Sintenis, $ 141; Brinz 
(1. Aufl.), $$ 250 ff., und Windſcheid, 88 515 ff. Hölber. 


Penfionsberehtigung. Der $ 69 des Neichögeieges vom 27. Juni 1871 
zählt unter den Arten der Invalidenverjorgung die Penfion auf. Es fieht aljo 
der Gejeßgeber diefe als eine Verforgung für die Zeit an, in welcher in Folge des 
Gintritts körperlicher oder geiftiger Unfähigkeit die Fortſetzung des Erwerbes unter- 
bleibt oder bejchränft wird. Die Pflicht zu einer derartigen VBerforgung kann auch 
aus der Begehung von Körperbejchädigungen oder aus der Verlegung des Haftpflicht- 
geſetzes fließen. In beiden Fällen bezeichnet jedoch das Geſetz die Verforgung nicht 
als Penfion, jondern nennt fie dort Unterhaltung, hier Rente. 

Der zu dieſen verjchiedenen Bezeichnungen führende Unterjchied zwiſchen den 
Arten der Verjorgung liegt einestheild in der Entſtehung der Verjorgungspflicht, 
anderntheild in der Perſon des Empfangsberechtigten. Nur diejenige — und zwar 
lebenslängliche — Verſorgung, welcher ein amtliches Verhältniß des Berechtigten 
und eine in folge oder während der Erfüllung der aus ihm fich ergebenden 
Pflichten eingetretene Unfähigkeit zur ferneren Pflichterfüllung zu Grunde liegt, 
wird Penfion im technifchen und eigentlichen Sinne genannt. 

Die Verbindlichkeit zu ihrer Gewährung ruht entweder auf einem privatrecht= 
lichen oder einem jtaatörechtlichen Titel. Im erjteren Falle gründet fie jih und 
ihr entfprechend auch die Berechtigung auf einen Vertrag, in welchem jowol das 
Recht unter den Kontrahenten fonftituirt, wie die Höhe der Penfion ftipulirt wird. 
Gr ift das Fundament, aus welchem Recht und Pflicht hergeleitet und ein etwaiger 


Penfionsberedhtigung. 29 


Streit entjchieden wird. Hierher gehören ſowol die P. der mittelbaren Staatö- 
beamten, wie die MWittwenpenfionen. Allerdings kann auch bei ihnen ein ſtaats— 
rechtlicher Gefichtspunft auf die Eingehung und den Inhalt der Obligation von 
Einfluß werden, wie 3. B. in Preußen die Penftionsverhältniffe der Bürgermeijter 
einer gewifien Sontrole des Staatd unterliegen, und die Schließung der Verträge 
über die Wittwenpenfion für die Beamten obligatorisch gemacht, auch deren Höhe 
begrenzt, alſo der Kontraftswillfür nicht ganz überlaffen iſt. Allein dieſe Ein- 
wirfung ändert den obligatorifchen Charakter der Penfion nicht. Ruht dagegen die 
Berechtigung auf einem ftaatörechtlichen Titel, nämlich auf der Verleihung und dem 
Antritt eines Staatsamtes, jo ift e8 ebenjo wie bei den Ansprüchen auf Gehalt ver- 
tehlt, ihr einen privatrechtlichen Charakter unterzulegen und diefen in einer remune— 
ratorifchen Schenkung zu finden. Selbjt wenn fich, wie es in dem Erf. des OTrib. 
vom 8. Januar 1858 — Striethorjit, Archiv, Bd. 29 ©. 11 — geichehen, 
die P. nach dieſem Gefichtspunfte fonftruiren ließe, und der Hinweis auf die von 
dem Beamten geleijteten Dienjte dem Griorderniß des $ 1173 I. 11 des Allg. ER. 
genügen könnte, tft dennoch eine derartige Heranziehung eines privatrechtlichen Titels 
nicht begründet. Mit der Verleihung und der Uebernahme des Amtes erwächjt 
neben dem Anspruch auf Gehalt auch der auf Penfion in der vom Geſetz firirten 
und der Privat, wie Staatöwillfür entzogenen Höhe. Die Art der Verwaltung 
des Amtes hat feinen Einfluß auf das Recht; die Qualität der dem Staate ge- 
leifteten Dienfte ift weder überhaupt, noch in Anjehung der Höhe der Penfion von 
Erheblichkeit. Anscheinend verlaffen diejen Gefichtspunft zwei Arten von Penſionen, 
nämlich die im Wege der bejonderen Bewilligung an nicht berechtigte Beamte ge- 
währte und die Invalidenpenfion der Soldaten. Allein auch bei ihnen ift e8 nicht 
dad Privatrecht, welches die Berechtigung begründet, nicht die Rückſicht auf die ge— 
leifteten Dienfte, durch die gleichfam eine freigebige Verfügung des Staates pro- 
dozirt wird, jondern in jenem Falle das amtliche Verhältniß, in diefem die Pflicht 
des Staates, die Folgen der durch die Erfüllung einer Staatöpflicht hervorgerufenen 
beichränften oder ganz bejeitigten Erwerbsfähigkeit zu mildern. 

Die Bedingungen der P., ſoweit fie nicht auf privatrechtlichem Titel beruht, 
find nach den einzelnen Landesrechten verichieden, und ijt diefe Verjchiedenheit durch 
die Reichägejeggebung nicht befeitigt, da fie in die Beamtenverhältniffe der Bundes— 
itaaten einzugreifen nicht befugt ift. Dagegen hat fie in Anjehung der Reiche» 
beamten beiondere Vorjchriften gegeben und hat auch in Betreff der Militärperjonen 
die Materie einheitlich geregelt. Hiernach find zu unterfcheiden die Militär- und 
die Givil-P. und bei der lebteren wiederum das Neichsrecht und das Landesrecht. 

1) Ueber die Militär-Penfionen iſt ergangen das Militärs Benfionsgefeg vom 
27. Juni 1871 — R.G. Bl. ©. 275 — und das Ergänzungsgeſetz vom 4. April 
1874 — R.G. Bl. ©. 25 —. Dieje Vorfchriften regeln jedoch nur neben den In— 
validenpenfionen der Soldaten die Berechtigung der Interoffiziere, der Offiziere und 
der im Dffiziersrang ftehenden Militärärzte. Die übrigen Militärbeamten jtehen 
unter dem Civil-Penſionsgeſetze, deſſen Grundjäße bei jenen mit Rückſicht auf die 
Gigenart des militärischen Dienftes keine Anwendung finden. Der Anipruch ruht 
auf der Vorausjegung, daß der Offizier oder Arzt fein Gehalt aus dem Militäretat 
bezieht, ihm aljo ein vom Neich dotirtesg Amt verliehen worden, und daß eine Un— 
fähigkeit zur Fortjegung des aktiven Meilitärdienftes eingetreten und deshalb jeine 
Verabichiedung erfolgt ift. Er entjteht der Regel nach bei Offizieren und Nerzten 
nach einer Dienjtzeit von 10 Jahren, bei Unteroffizieren jchon von 8 Jahren, aus— 
nahmsweiſe früher, wenn der Grund der Berechtigung in einer in Ausübung des 
Dienftes ohne eigenes Verſchulden erlittenen Berwundung oder Beichädigung liegt. 
Ob ein folder Grund vorhanden, jonach die Bedingungen des Ausnahmeialles vor- 
liegen, hat die oberjte Militärverwaltungsbehörde zu enticheiden. Im Uebrigen ges 
hört zur Geltendmachung des Anspruchs der Nachweis der eingetretenen Dienit- 


30 Penfionsberechtigung. 


unfähigkeit. Er fällt jedoch fort nach vollendetem 60. Lebensjahre, ein Alter, welches 
die Präſumtion der Dienftunfähigkeit begründet. Bei Unteroffizieren bedarf es des 
Nachweifes nicht nach einer 18jährigen aktiven Dienitzeit. 

2) Für die Reichscivilbeamten enthält das Gejeh über die Rechtsverhältnifie 
der Reichöbeamten vom 31. März 1873 — R.G.Bl. ©. 61 — die erforderlichen 
Beitimmungen. Sie machen zunächit die P. davon abhängig, daß der Beamte fein 
Gehalt aus der Reichskaſſe erhält, jchliefen alſo ſolche Beamte aus, die nur ein 
Neben oder Ehrenamt befleiden und nicht jowol Gehalt, ala vielmehr nur eine 
Entichädigung Für die Zeit und Dauer der jeweiligen Dienftleiftung beziehen. So: 
dann untericheiden fie zwiſchen den definitiv und den unter dem Vorbehalt des 
MWiderrufs oder der Kündigung angeftellten Beamten und bewilligen leßteren einen 
Benfionsanjpruch nur dann, wenn fie eine im Bejoldungsetat aufgeführte Stelle ver: 
walten. Sie machen endlich den Anipruch abhängig von dem Nachweis eingetretener 
Dienjtunfähigkeit und einer 1Ojährigen Dienstzeit. Iſt jedoch eritere die Folge einer 
Krankheit oder Beichädigung, welche ſich der Beamte bei oder in Folge der Aus— 
übung feines Amtes zugezogen, tritt ausnahmsweiſe auch bei fürzerer Dienftzeit die 
P. ein. Der Nachweis der Dienjtunfähigkeit wird geführt durch eine Erklärung der 
unmittelbar vorgefegten Dienjtbehörde, daß fie den Beamten zur jerneren Griüllung 
jeiner Amtöpflichten für unfähig halte Wie fie fich die Grundlagen für diefe Er— 
flärung beichaffen will, ob jie insbejondere ein ärztliches Gutachten für nothwendig 
hält, bleibt ihrem Ermeſſen überlaffen. Auch denjenigen Beamten, welche ein zur 
Penfionirung berechtigendes Amt nicht verwalten, kann unter den gedachten Voraus- 
jegungen eine Penfion bewilligt werden. Cine Ausnahmeftellung nehmen ein der 
Reichskanzler, der Präfident des Neichäfanzleramtes, der Chef der Kaiferlichen Ad— 
miralität und der Staatsjefretär im. Auswärtigen Amte. Ihnen erwächit die B. 
bereit3 nach zweijähriger Dienftzeit und ift von dem Nachweife einer Dienſtunfähigkeit 
nicht abhängig. 

3) In den Landesrechten find die Vorausfegungen der P. jehr verichieden. 
Nur in dem Griorderniß der Beamtenqualität des Berechtigten ftimmen fie überein, 
Den reichsgejeglichen Beitimmungen nähern fich) am meiften die Preußiſch-recht— 
lichen, welche durch das Geieh vom 27. März 1872 — Gej.Samml. S. 268 — 
gegeben find. Nach ihnen find nur die unmittelbaren Staatsbeamten, welche und 
joweit fie ihr Dienjteinfommen aus der Staatsfaffe beziehen, penfionsberechtigt, vor— 
ausgeſetzt, dab ihre Anitellung eine definitive und vorbehaltloje ift, oder daß fie, 
wenn auf Kündigung oder Widerruf angejtellt, wenigitens eine etatsmäßige Stelle 
verwalten. Hiernach find die nur interimiftiich oder diätarisch beichäftigten Beamten 
nicht penftionsberechtigt, wenn ihmen auch unter bejonderen Umftänden eine Penſion 
bewilligt werden fanı. Zur Begründung des Anfpruchs gehört der Nachweis ein- 
mal einer 10jährigen, mit dem Tage des Dienftantritts, aljo in der Negel dem 
Tage der Leitung des Dienjteides beginnenden Dienftzeit und jodann einer dauern= 
den Unfähigkeit zur Erfüllung der Amtspflichten in Folge eines körperlichen Ge— 
brechens oder einer Schwäche der förperlichen oder geiftigen Kräfte Von dieſer 
Regel treten nach beiden Richtungen hin Ausnahmen ein. Staatsminifter bedürfen 
des Nachweifes einer eingetretenen Dienftunfähigkeit zur Begründung ihrer P. nicht. 
Auch vor Ablauf von 10 Jahren tritt bei jedem penfionsfähigen Beamten die Be— 
rechtigung ein, wenn der Grund der Dienjtunfähigfeit in einer bei Ausübung des 
Amtes zugezogenen Krankheit oder Beichädigung liegt. Die Dienftunfähigfeit wird 
durch eine Erklärung der dem die Penfionirung nachjuchenden Beamten unmittelbar 
vorgejegten Dienitbehörde nachgewieien, daß fie nach pflichtmäßigem Ermeſſen den— 
jelben zur jerneren Erfüllung feiner Amtspflichten für unfähig halte. Dabei ift jedoch 
nicht ausgeichloffen, daß die über das Gejuch enticheidende Behörde noch andere 
Beweije für die Dienftunfähigkeit fordert. Für die Beitimmung derjenigen Behörde, 
welche als dienjtvorgefegte anzuiehen, ift die Verwaltungsorganijation der einzelnen 


Benjionsberehtigung. s1 


Behörden entjcheidend, aljo bei Jujtizbeamten nicht die Inftanzengliederung. Bei 
Juftizjubalternbeamten vertritt in Preußen nicht die Anftellungsbehörde die Stelle 
der Dienftvorgefeßten, da ſie nicht, wie dieje, in der Lage it, die Amtsthätigkeit 
des Beamten aus eigener Anjchauung zu würdigen. Ganz anders liegt die Sache 
in Bayern. Dort tritt die P. bereits nach Ablauf von drei Dienjtjahren ein, 
und bedarf derjenige Beamte, welcher 40 Jahre im Dienft gewejen, des Nachweifes 
eingetretener Dienjtunfähigfeit nicht. 

Gegenjtand der ®., d. 5. die als Penfion zu zahlende Verforgung, ift nicht 
ein jeft bejtimmter, jondern ein Quotentheil des Dienſteinkommens, der fich eines- 
theild nach der Höhe des Dienjteintommens zur Zeit der Penfionirung, anderntheils 
nach der Reihe der abjolvirten Dienftjahre richtet. Er wächſt mit der Vermehrung 
jenes und jteigt mit diefer. Das auf diefer doppelten Grundlage ruhende Pen— 
jionsjyftem ift nicht überall gleih. Sowol die Berechnung des Dienſteinkommens 
und der Dienjtjahre, wie der Quotentheil find vielfach verichieden. Bei den Militär- 
venfionen bejtimmt der $ 10 des Geſetzes vom 27. Juni 1871, welche Emolumente 
neben dem chargenmäßigen Gehalt und Servis dem penfionsfähigen Dienjteinfommen 
hinzugerechnet werden jollen. Zu ihnen tritt nach S 8 des Gejeßes vom 30. Juni 
1873 — R.G. Bl. ©. 166 — ein bejtimmter Durchichnittsjah des Wohnungsgeld- 
zuſchuſſes. Ebenſo beſtimmt das erjtere Gejeß, welche Zeit zu den Dienftjahren zu 
rechnen, und welche davon doppelt anzurechnen ift. Unter Zugrundelegung diejer 
Vorihriften baut fich das Syſtem dahin auf, daß nach zurüdgelegtem 10. und vor 
vollendetem 11. Dienftjahre die Penfion 2%,, des Dienjteintommens beträgt, für 
jedes weitere Dienjtjahr um Ye, steigt und im Höchſtbetrage °%,, erreicht. Ein 
weiteres Anwachjen findet nicht jtatt. Dagegen kann noch eine Penfionserhöhung 
eintreten, fobald die Invalidität die Folge einer in einem Kriege erlittenen Ver— 
wundung oder Gejundheitsbejchädigung ift. Sie ift bald eine relative, die fich nach 
dem Betrage der reglementsmäßigen Penfion richtet, bald eine abjolute in der Höhe 
von 600 Mark, welche durch die Schwere der erlittenen Verwundung oder Beſchä— 
digung bedingt wird. 

Bei Unteroffizieren ift der Penfionsjag ein bejtimmter, deffen Höhe nur nad) 
dem Dienftalter variirt. 

Bei den Neichscivilbeamten ſetzt fich das penfionsfähige Dienjteintommen zu— 
ſammen aus dem Gehalt, den jejtitehenden Dienjtemolumenten, zu welchen bei Mili- 
tärbeamten der mittlere Stellen bz. Chargenjervis gehört und nach $ 8 des Gef. 
v. 30. Juni 1873, aus dem Durchichnittsfage des Wohnungsgeldzuſchuſſes. Zufällige 
Einnahmen werden nicht mitgerechnet. Bei der Beitimmung des Dienjtalters wird 
die Zeit des aktiven Militärdienftes hinzugerechnet und für jeden Feldzug, den der 
Beamte mitgemacht hat, ein Jahr noch bejonders hinzugejeßt. Auf diefen Grund» 
fügen ruht ein Penfionssyiten, das mit dem für die Militärpenfionen übereinjtimmt, 
jedoch Penfionserhöhungen nicht kennt. 

Die BVerwaltung von Nebenämtern begründet nur dann eine P., wenn eine 
etatsmäßige Stelle ala Nebenamt bleibend verliehen iſt. — Von den Landesrechten 
ſtimmt das in Preußen geltende Syſtem ſowol in der Berechnung des Dienſtein— 
fommens und der Dienſtjahre, wie in der Feſtſetzung der Penſionshöhe mit dem 
reichsrechtlichen überein. Am weitejten weicht von ihm das Bayeriſche Syitem ab. 
Rah ihm wird in den eriten 10 Jahren die Penfion auf "0, in dem zweiten De— 
yennium auf °,o, im dritten und jpäteren auf °/,, des Gejammtgehaltes berechnet 
und nach erreichtem 70. Lebensjahre des Beamten dem Gejammtgehalt gleich geitellt. 
Daß diejes Syitem für den Beamten das günjtigjte ift, Fällt in die Augen. Da— 
gegen führt es als Schattenjeite eine Ueberlaftung der Staatskaſſe mit fich, die jo 
erheblich ift, daß eine Aenderung derjelben zu einem dringenden Bedürfniß werden 
dürfte. — 


32 Benfionsberedhtigung. 


Die Ausübung der P. ift entweder eine freiwillige oder eine gezwungene. 
Es kann der Berechtigte feine Penfionirung entweder ſelbſt beantragen oder fie kann 
wider feinen Willen gegen ihn auögeiprochen werden. Beide Fälle finden fich ſo— 
wol im Reichs-, wie im Landesrecht. Das Geſetz vom 27. Juni 1871 über die 
Militärpenfionen führt den Tall einer unfreiwilligen Penfionirung nicht bejonders 
an, wol aber das Gejeß über die Rechtsverhältniffe der Reichsbeamten vom 31. März 
1873. Nah ihm ijt der Beamte befugt, auf jeine Penfionirung anzutragen, und 
bat jeinen Antrag bei der ihm ummittelbar vorgejegten Dienjtbehörde anzubringen. 
Sie reicht ihn mit, ihrer Erklärung über die Dienftunfähigkeit des Antragitellers der 
oberſten Reichsbehörde ein, welche über ihn definitiv zu entjcheiden hat. Ihre Ent» 
icheidung bedarf der Genehmigung des Kaiſers, wenn der Beamte eine Kaiferliche 
Beitallung empfangen hatte. Im Uebrigen ift fie nach den SS 54 und 155 1. c. 
maßgebend und kann auch, da der Gefegeber die Frage über die Rechtmäßigkeit 
der Penfionirung dem Rechtöwege entzogen und der Berwaltungsbehörde unterbreitet 
hat, im Wege des Prozefjes nicht angefochten werden (Erf. des Neichsgerichts vom 
9. Januar 1880 — GEntih. Bd. I. ©. 34). Dagegen ift über die Höhe des 
Penfionsbetrages der Rechtsweg zuläffig und zur Enticheidung des Rechtsjtreites das 
Landgericht ausfchlieglich zuftändig — S 70 des GBG. —. Stellt der Beamte den 
Penfionirungsantrag nicht, obwol der Fall der Dienftunfähigfeit vorliegt, jo wird 
ihm oder einem ihm zu bejtellenden Kurator von jeiner vorgejehten Dienjtbehörde 
unter Angabe der Gründe erklärt, daß der Fall feiner Penftonirung vorhanden jei. 
Wenn binnen ſechs Wochen gegen dieſe Erklärung feine Einwendungen erhoben 
werden, jo wird angenommen, daß er mit derielben einverjtanden ſei, und ebenjo 
verfahren, als hätte er den Antrag geitellt. Grhebt er Einwendungen, jo beitimmt 
nach Prüfung der Sachlage die oberjte Reichabehörde, ob das Zwangäverfahren fort— 
zuſetzen ſei oder nicht. Bejahendenfalls erfolgt durch einen von ihr beauftragten 
Beamten die Vernehmung der Zeugen bzw. Sadjverftändigen über die von dem Be— 
amten beftrittenen Thatfachen und Angaben, aus welchen die vorgefegte Dienftbehörde 
das Vorliegen jeiner Dienftunfähigkeit gefolgert hat. Nachdem der Beamte oder 
jein Kurator zum Schluß vernommen worden, entjcheidet auf Grund der Verhandlungen 
die oberjte Reichöbehörde bzw. der Kaiſer. 

Diefen Vorfchriften fchließt das Preuß. Landesrecht fich im Allgemeinen an. 
Die Beitimmung darüber, ob und zu welchem Zeitpunfte dem Penfionsantrage des 
Beamten jtattzugeben jei, erfolgt durch den Departementächei, welche bei den mit 
Königl. Beſtallung verfehenen Beamten der Genehmigung des Königs bedarf: die 
Gnticheidung darüber, ob und welche Penfion dem Beamten zufteht, hat der De— 
partementöchef in Gemeinjchait mit dem Finanzminiſter. Während in Anjehung 
jener Beftimmung der Rechtäweg ausgeſchloſſen ift, jteht er dem Beamten gegen die 
letztere Enticheidung in Gemäßheit des Gejehes vom 24. Mai 1861 offen, und iſt 
für den Rechtsſtreit nach $ 24 des Gejehes vom 24. April 1878 das Landgericht 
ausichließlich zuftändig. Im Anjehung des Zwangsverfahrens wird zwifchen richter- 
fichen und nichtrichterlichen Beamten unterjchieden. Bei den lebteren tritt ein dem 
reichsrechtlichen analoges Verfahren ein. Jedoch ift bei erfolgtem Widerjpruch der 
vorgefegte Minifter die entjcheidende Behörde. Gegen jeine Enticheidung fteht dem 
Reamten binnen vier Wochen nach der Zuftellung derjelben der Rekurs an dag 
Staatäminifterium offen. Das Berjahren bei richterlichen Beamten regeln Die 
$$ 56 ff. des Disziplinargefeges vom 7. Mai 1851. Nach ihnen geht die an den 
Beamten oder den zu bejtellenden Kurator zu erlaffende Erklärung von dem direkten 
Vorgeſetzten aus, aljo bei Mitgliedern der Amts und Landgerichte von dem Land— 
gerichtspräfidenten, bei denen der DOberlandesgerihte von dem Oberlandesgerichts= 
präfidenten, und zwar entweder von Amtswegen oder auf den Antrag der Staats- 
anwaltſchaft. Erachtet im lebteren Falle der Vorgeſetzte den Erlaß der Erflärung 
nicht für angemefjen, jo enticheidet über den Antrag des Staatsanwalts der Dis— 


Perez — BPerforation. 33 


jiplinarjenat des Oberlandesgerichts. Im Fall einer bejahenden Entjcheidung des— 
jelben muß der Präfident des Oberlandesgerichts die Erflärung an den Beamten 
erlaffen. Sucht dieſer nunmehr feine Penfionirung nicht innerhalb jech® Wochen 
nah, jo Hat der Disziplinarfenat — event. nach Prüfung der Gegenerflärung des 
Beamten — zu enticheiden, ob dem Verfahren Fortgang zu geben ſei. Bei bejahender 
Gnticheidung wird ein Kommiſſar ernannt, welcher den erforderlichen Beweis zu 
erheben Hat. Sodann jaßt nach vorgängiger Anhörung des Staatdanwalts der 
Tisziplinarfenat Beichluß darüber, ob der Fall der Perfionirung vorliegt oder nicht. 
Gegen ihn giebt es ein Rechtsmittel nicht. Seine Ausführung fteht dem Juſtiz— 
minifter zu, dem er eingereicht werden muß. 

Die P. erlijcht durch den Tod des Berechtigten und durch den PVerlujt des 
Amtes, gleichgültig, ob derjelbe die Folge einer disziplinarifchen Beſtrafung ift, oder 
der Verurteilung zu einer Strafe, mit welcher die zeitige oder dauernde Unfähigkeit 
zur Bekleidung öffentlicher Nemter verbunden ift. Ihre Ausübung ruht, wenn oder 
iolange der Berechtigte nicht im Beſitze des Deutjchen Indigenats ift, und wenn 
oder joweit er durch Grlangung einer anderweitigen Anjtellung im Staatädienite 
ein Dienfteintommen erlangt, welches unter Öinzurechnung der Penfion den Betrag 
des früheren penfionsfähigen Dieniteintommens überfteigt. z 

eves. 
Perez, Anton, 5 1583 zu Alfaro, ſtudirte in Brüſſel und Löwen, wurde 


1616 Prof. in Löwen, dann Span. Rath, F 1672. 

Schriften: Institutiones imperiales, Lov. 1629; Amst. 1669; Paris. 1671—82. — 
Praelectiones in Codicem, Lov. 1626; Amst. 1645, 1653; Colon. 1661; Genev. 1740. — 
Jus publicum, Antv. 1657; Francof. 1668. — In 25 libr. Digestorum comment., Amst. 1669. 

Xit.: Nouv. biogr. generale, Par. 1862, Vol. 39. — Rivier, p. 528. — Roditre, 
Les grands jurisconsultes, 1874, p. 336. Teihmann. 


Berforation nennt man in der Geburtöhülie diejenige Operation, mittels 
welcher die Schädelhöhle des Kindes eröffnet und ihres Inhaltes entledigt wird, in 
der Abficht, das Volumen des Kopfes zu verkleinern und jo jeinen Durchtritt durch 
das abjolut oder relativ zu enge Beden der Gebärenden zu ermöglichen. Dieſe 
Operation wurde, wie aus den Schriften des Hippofrates und Geljus hervorgeht, 
bereits im frühen Altertum ausgeübt, aber damald nur nach eingetretenem 
Tode des Kindes; erjt in jpäterer Zeit verallgemeinerte fich ihre Anwendung auch 
bei noch lebendem Kinde und gab dadurch zu manchen religiöjfen und rechts= 
wiſſenſchaftlichen Kontroverjen über ihre Zuläffigkeit Anlaf. So lange man weder 
die Wendung des Kindes auf die Füße noch den Gebrauch der Geburtäzange kannte, 
mußten die Fälle fich häufig darbieten, in welchen dem Geburtähelfer nur die 
Wahl blieb, entweder durch den jogen. Kaiſerſchnitt, d. h. durch die operative Er— 
Öffnung der Gebärmutter das Leben der Mutter aufs Spiel zu jeßen, oder deren 
Yebenserhaltung mitteld der das Kind tödtenden PB. zu erzielen. Durch die 
neueren Fortichritte der Geburtshilfe it gegenwärtig in den überwiegend meijten 
iolhen Fällen ein für Mutter und Kind zugleich lebenserhaltender Ausgang ermög— 
licht, deifen Herbeiführung meijt jo lange angeftrebt wird, wie die Zeichen des fort= 
beitehenden kindlichen Yebens unzweifelhaft deutlich bleiben. Bei gewiffen das Leben 
der Mutter unmittelbar bedrohenden Ericheinungen fann indeß die Fortſetzung folcher 
auf eine natürliche Herausbeförderung des Kindes gerichteten Bemühungen unzuläffig 
werden und ſomit der Geburtshelfer auch heute noch ſich vor die obenbezeichnete 
Bahl geitellt ſehen. Obwol die durch den Kaiferfchnitt bedingte Lebensgefahr jeit 
Ginführung der Liſter'ſchen Wundbehandlung bedeutend verringert ift und daher die 
Enticheidung, foweit fie vom Geburtshelfer abhängt, gegenwärtig weit häufiger 
ala ehedem zu Gunsten diefer, das Kindesleben erhaltenden Operation ausfallen 
dürfte, jo wird doch jeitens der Mutter auch heute noch wahricheinlich in den 
meiiten Fällen die Einwilligung in die Vornahme des Kaiferichnitts verweigert. 

». Holkenborff, Enc. II. Rechtslexiton III. 3. Aufl. 3 


34 Periculum. 


In diefem Falle jowie bei fortgejegter Unſchlüſſigkeit der Mutter 
bleibt dem Geburtshelier feine andere Wahl, als mittel der P. wenigjtens die 
Mutter auf Koſten des findlichen Lebens zu retten, weil er durch Unterlaffung diejer 
Operation beide einem fichern Tode preisgeben würde. Es hat allerdings bejonders 
in Deutichland nicht an hervorragenden Geburtshelfern gefehlt, welche die P. am 
lebenden Kinde unter feinen Umſtänden für gerechtiertigt erklärten, und noch in 
diefem Jahrhunderte haben fich 3. B. Ofiander und Schmidt in jolchen Sinne aus— 
geiprochen, während man 3. B. in England von jeher unbeftritten das Eindliche 
Leben als geringwerthiger im Bergleiche zum muütterlichen behandelt Hat. Unter 
den maßgebendjten Gynäfologen der Jetztzeit herricht dagegen auch in Deutichland 
Uebereinjtimmung darüber, daß unter den oben bezeichneten Umjtänden jowie auch 
dann, wenn die Mutter nicht fähig zur Selbitenticheidung ift oder wenn aus irgend 
welchem Grunde der Kaiſerſchnitt feine Ausficht auf günftigen Ausgang für Die 
Mutter bietet, die P. nicht blos eine erlaubte, fondern eine durchaus gebotene 
Operation jei. Alle Leitende gynäfologiiche Autoren, Scangoni, Veit, Schröder, 
Hohl u. j. w., ſprechen fich nachdrüdlich in dem genannten Sinne aus, der lebt: 
genannte mit dem treffenden Zujaße, daß in diefer wichtigen Angelegenheit dem 
Geburtöhelier feine andere Vorſchrift als diejenige feines eigenen 
Gewiſſens gemacht werden könne. Gegenüber den prinzipiellen Bedenken ſowol 
rechtlicher wie moralifcher Natur, welche man gegen die überlegte Tödtung eines 
Kindes durch die P. erhoben hat, ift vor Allem zu berücfichtigen, daß das Ver— 
fahren des Geburtsheliers gegen das Kind nicht getrennt von dem 
Verfahren gegen die Mutter betrachtet und beurtheilt werden 
fann. Der Arzt ijt verpflichtet, Nichts zu verfäumen, was die Mutter retten kann, 
und wenn dies Rettungswerk nur unter künftlicher Verkürzung des im Wege ſtehen— 
den und unter den gegebenen Umständen doch dem Tode nicht mehr zu entziehenden 
findlichen Yebens möglich ift, jo wird die Hinmwegräumung diejes Hinderniffes zur 
gebieterifchen Gewifjenspflicht. Praktiſch wird die Frage der Zuläffigfeit einer einzelnen 
jtattgefundenen P. nur in den allerjeltenften Fällen einer nachträglichen konkreten 
Prüfung fähig jein, da hierbei eine Menge von Umständen in Betracht kommen 
würde, welche nur dem Geburtshelter jelbit im Momente des Entichluffes und 
Handelns klar vor Augen lagen, einer jpäteren Konftatirung und Abſchätzung aber 
fih mehr oder weniger entziehen. Die Berfolgung eines Geburtshelfers wegen ums 
berechtigter Ausübung der P. Liegt daher thatjächlich faſt außerhalb des Bereiches 
praktischer Vorkommnifie. Nur in dem Falle, daß nachweislich fein jolches Miß— 
verhältniß zwiſchen Umfang des findlichen Kopfes und Weite des mütterlichen 
Beckenausganges bejtanden hätte, welches die Grtraftion des umverjehrten Kindes 
unmöglich machte, würde den Geburtshelfer der moralische Vorwurf und die ſtraf— 
rechtliche Folgewirkung einer Tödtung aus Fahrläſſigkeit treffen. 
git.: Mittermaier, leber die Grenzen und Bedingungen der Straflofigfeit der P., 
im Neuen Ardiv für KHriminalrecht, Bd. VIII, Halle 1826. — 9. F. Meyer, Hat bie 
Mutter oder die Frucht bei einer Kollifion des Lebens mehr Recht auf Schonung von Seiten 
der Kunfthülfe? Würzburg 1845. — Verhandl. der Geſellſchaft für Geburtähülfe in Berlin, 
1846, ©. 24—32 (über die frage, ob man ein lebendes Kind perforiren dürfe oder nicht ?). — 
ente’3 Zeitfchr. für gerichtl. Meb., 1851, ©. 296 ff. — Churdill, Die P. des lebenden 
Fötus, im Dubliner Journal Nr. LI, 1858, ©. 1 ff. — Hohl, Lehrbuch der Geburtshülfe, 
Reipy. 1862. Fintelnburg. 


Periculum (Gefahr) wird von den Quellen in jehr verichiedenen Beziehungen 
gebraucht. Vgl. darüber Ar. Mommſen, Beiträge, I. ©. 237 —241. Vorzugs- 
weife bezeichnet bei Obligationen die Wendung res periculo alicuius est oder p. ad 
aliquem pertinet den Nachtheil, den ein die geichuldete Sache treffendes zufälliges 
Greigniß, insbejondere der Untergang derjelben, für eine Partei zur Folge hat; und 
zwar heißt es jo vom Schuldner der Sache, wenn er durch ihren Untergang nicht 


Perizonius — Permaneder. 35 


befreit wird, jondern verpflichtet bleibt . 9 S 9; 1. 11 pr. D. d. R. C. 12, 1), 
oder bei giveifeitigen Obligationen zwar befreit wird, aber zugleich fein Anrecht auf 
die Gegenleiftung verliert (. 18 1; 1.4 pr. D. h. t.), in Bezug auf den Gläubiger 
dagegen fommt jene Wendung vor, wenn er jeine Forderung ohne Erſatz, insbejondere 
bei zweifeitigen Obligationen auch ohne gleichzeitige Berreiung von jeiner Gegen- 
verpflichtung einbüßt (l. 11 pr. D. eit.; 1.5 $ 7 D. comm. 13, 6; 1.3 pr. D. 
b.t;1.3486D.d. C. E 18, 1). Bol. v. Wächter, Arch. F. civ. Pr. XV. 
Ss. 97—115. Man hat fich vielfach bemüht, die Vertheilung der Gefahr bei allen 
Verträgen auf ein gemeinfames Prinzip zurüdzuführen. Die ältere Theorie glaubte 
als folhes den Satz aufftellen zu können: casum sentit dominus. Jetzt ijt die 
Unhaltbarkeit diefer Formel, gegen die fich namentlich v. Wächter’3 angeführte Abhand— 
lung richtet, allgemein anerkannt. Aber auch die an deren Stelle gejeßten Regeln: 
impossibilium nulla obligatio und casus a nullo praestantur, find zu allgemein 
und unbeſtimmt, um überall eine Grundlage der Entjcheidung abzugeben. Prinzipiell 
fann nur joviel gejagt werden, daß der Gläubiger für eine fafuell, d. 5. ohne Ver: 
ihulden des Verpflichteten unmöglich gewordene Leiſtung, 3. B. bei zufälligem Unter: 
gang eines individuell beftimmten Schuldgegenitandes, feinen Erſatz zu fordern hat, 
infofern aljo das P. trägt. Species perit ei cui debetur. Anders fteht es jedoch 
dann, wenn zufolge Vertrages oder fraft Mora (j. diefen Art.) das P. auf den 
Schuldner übergegangen ift. Bei Genusjchulden Liegt eine Unmöglichkeit jo lange 
nicht vor, als noch Sachen der Gattung, aus welcher geleistet werden ſoll, vor: 
banden find; jo lange trägt daher auch nicht der Gläubiger, jondern der Schuldner 
das P. Für die Fälle, wo die Schuld mit dem Necht auf eine Gegenleiftung ver: 
bunden iſt, enthält das Röm. Recht verjchiedene Regeln. Beim Kauf behält der 
Verkäufer regelmäßig troß Untergangs der Sache feine Forderung auf das Kauf: 
geld; daher heißt es, daß das p. emtoris est (j. den Art. Kauf). Bei der 
Miethe dagegen verliert der Vermiether, dem durch Beichädigung der Sache die 
Gewährung ihres Gebrauchs unmöglich wird, von da ab feinen Anspruch auf das 
Miethgeld; injoern kann man jagen: p. est locatoris (j. den Art. Miethe). 
Für die übrigen jzweijeitigen Verträge finden ich durchgreifende Sätze nicht, weil 
jene meift nicht durch bloßen Konſens verbindlich wurden, und alſo bei fafueller 
Unmöglichkeit einer Leiftung der auf diejelbe Berechtigte feine Gegenleiftung ver: 
weigern, bez. wenn er ſie bereits vollzogen hatte, mit condictio causa data causa 
non secuta zurücfordern fonnte Im heutigen Necht, nach welchem die Verträge 
gumdiäßlich durch Konſens zur Perfeftion gelangen, wendet man mun, je nachdem 
fie fi) mehr dem Kauf oder mehr der Miethe nähern, die für jenen bez. für dieje 
geltende Regel analog an. Andere Meinungen vgl. bei Windjcheid, Xehrb., II. 
s 321 Nr. 3. Auch die neueren Gejeßgebungen haben fein durchgreifendes Prinzip über 
die Gefahr aufgeitellt, brauchen aber den Ausdrudf in demjelben Sinne, wie das 
Gem. Recht (S 95 Alg.LR. I. 11. HGB. Art. 345). Die Regeln find daher bei 
den einzelnen Verträgen anzugeben. Die neuere Literatur verzeichnet Windfcheid 
a.a. DO. Anm. 13. Ed. 
Perizonius, Yacobus (Voorboeck), & 26. X. 1651 zu Dam Sei 
wurde 1681 Prof. der Eloquenz und Gefchichte in Franeker, 1693 in Leyden, T 6 


IV, 1715. 
Schriften: Animadv. historicae, Amst. 1685. — De doctrinae studiis, Lugd. Bat. 
1708. — Opuscula minora, Lugd. Bat. 1740. — Verzeichniß feiner Bibliothet, Leyden 1715. 


vit.: Michaud. — Te Water, Narratio de rebus acad. Lugd. Bat. saec. 18. 
rosperis et adversis, Lugd. Bat. 1802. — Schulte, Geſchichte, III. b 2 — Kramer, 
ogium P., Berol. 1828, Zeihmann. 


Bermaneder, Michael, 5 1794 zu Traunftein, ftudirte in Salzburg und 
Sandahut Philojophie, die Rechte und jpäter auch Theologie, wurde Studienlehrer 
und 1834 Prof. des Kirchenrechts, der KHirchengejchichte ıc. am Lyceum Freiſing, 
jeit 1847 an der Univerfität München, 7 1862. 

5* 


36 Perneder — Bernice. 


Schriften: Die lirchliche Baulaft, 1838, 2. Aufl. 1856. — Handb. des gemeingültigen 
fatholischen Kirchenrechts, 2 Bbe., 1. Aufl. 1846, 2. Aufl. 1853, 3. Aufl. 1856, 4. dherauägeg. 
von Silbernagl) 1865. — Kommentar über Sicherung, Firirung und Ablölung der auf 
dem Zehentrechte laftenden kirchlichen Baupflicht (in der Gejekgebung Bayerns von Doll: 
mann, I. Th. I. Bd. 3. Heft) 1852. — Bibliotheca patristica, 4 Thle. 1841—1844. — 
Annales univers. Ingolst. (al& Fortſetzung des Wertes von Meberer) 1859 (ala Th. V. bes 
ganzen Werkes). 

Lit.: Rektoratörebe 1868 von Stadlbaur, ©. 14 ff. Bezold. 


Perneder, Andreas von Ried, in der Mitte des 16. Jahrh., war Unter: 
richter, jpäter Bayerischer Rath zu München, T bald nad) 1532 (?). 


Schriften: Institutiones.. — Der Lehnrecht kurtze u. —— Verteutschung. — 
Von Straff u. Peen aller u. yeder Malefitzhandlungen (fpäter Halssgerichtsordnung), Ingolst. 
1559. — Gerichtlicher Prozess. Diele Werke herauägeg. von Hunger, 1545 u. öd.; von 
Schrend, 1573, 1578, 1581; neue Ausgaben, auf deren Titel (der ſchon 1583 verftorbene) 
Freymon d. Obernhaufen genannt wird, 1592, 1600, 1614. — Bollftändige Nachricht 
von Zeftamenten und Kodizillen, Frankf. se 1725. 

Lit.: Stobbe, Rechtsquellen, II. 173, 174; Derſelbe, Deutiches Privatrecht, 1871, 
©. 91. — Geib, Lehrb. des Deutichen Strafrechts, Leipz. 1861, 1.286, 287. — Hälſchner, 
Dad Preuß. Strafrehht, Bonn 1855, I. 119, 120. — Archiv des Kriminalrechts, 1836, 
S. 121 ff. — Nypels, Bibliothöque, N. 960, 1284. — v. Stinhing, Geld. der Deutichen 
Rechtswiſſenſchaft (1880), I. 573—579 u. ö. Zeihmann. 


Pernice, Ludw. Wilh. Anton, 5 11. VI. 1799 zu Halle, habilitirte 
jich dajelbit 1821, wurde 1825 ord. Prof., 1830 Genfor für jurift., zeitgefch. und 
philof. Schriften, legte 1844 feine Profeffur nieder und wurde außerord. Negierungss 
bevollmächtigter und Kurator der Univerfität Halle, 1845 Direktor des Halliſchen 
Schöppenſtuhls. 1849 trat er wieder als Profeffor ein, wurde in die erite Kammer 
gewählt, trat dann zugleich von der Univerfität Halle ins Herrenhaus gewählt und 
als Kronſyndikus berufen ins Herrenhaus ein, 7 16. VII. 1861. 


Schriften: De furum genere quod vulgo directariorum nomine circumfertur, Gött. 
1821. — Geſchichte d. Alterth. m. Inftit. des Römiſchen Rechts, 1821, 2. Aufl. 1824. — 
Obs. de prinecipum comitumque imp. Germ. inde ab a. 1806 subjectorum jur. priv. immu- 
tata ratione, 1326. — Quaest. de jur. publ. Germanico, Halle 1828, 2. Ausg. 1831. — 
Comm. qua de jure quaeritur quo principes Hohenloönses tanquam comites Gleichenses 
duci Saxoniae Coburgensi et Gothano subjecti sint, Halle 1835. — Codex juris munici- 
palis Hallensis, 1839. — Rechtsgutachten betr. die Anfprüche ber H. Werner, Grafen von 
Harthaufen, 1840. — Rectägutachten betr. die eventuelle Succeſſion der Sonderburger Linie 
des Hauſes Holftein:Oldenburg, Berlin 1851 (Kopenh. 1863). — gg Peer betr. Rechte: 
verbindungen des im —— Sachſen⸗Altenburg unter dem 29. März 1849 zu Stande 
gefommenen Io9- Givilliften-Bertrages, 1853. — Comm. de singulari — Schaveniae jure 
et conditione hodierna, 1854. — Mem. betr. die rechtliche Stellung der mittelbar gewordenen 
vormals reichäftändischen Fyürften und Grafen in Preuken, 1855. — ————— betr. bie 
bei der h. Deutichen Bunbesbehörde angebrachte Beſchwerde db. fürftl. Geſammth. Heſſen— 
Philippsthal gegen den KHurfürften von Hefien, 1855. — De sancta confoederatione, 1855. — 
Mem. betr. die rechtliche Stellung des gräflichen Haufe Stolberg Wernigerode, 1855. — 
Die ftaatärechtlichen Verhältniſſe des gräflichen Haufes Giech, Halle 1859. 

Lit.: Vernice, Savigny, Stahl, Berl. 1862, S. 3—40. — KHaltenborn, Geſchichte der 
Deutichen Bunbdesverhältniffe, Berl. 1857, Bd. I. 419, 423; II. 426. 


Zeihmann. 


Pernice, Viktor Anton Herbert, zweiter Sohn des Vorjtehenden, 5 14. 
IV. 1832 zu Halle, habilitirte ſich 1856 in Berlin, 1857 Prof. in Göttingen, gab 
diefe Stelle 1862 auf, um im die Dienjte des Kurfürjten von Heffen zu treten, 
rt 21. IV. 1875. 


Schriften: Comm. jur. Rom. duae, Hal. 1855. — Dentirift über die Anhaltifche 
Verfaſſung, Deſſau 1862. — Zur rg 5; ber dv. Warnſledt'ſchen Schrift: Erbrecht des 
rar Schleswig. Holftein, Halle 1864. — Oldenb. Staatäfchrift, Oldenb. 1864. — 

rit. Grörterungen zur Schleswig-Holſteiniſchen Succeffionsfrage, Kaſſel 1866. — Miscellanen 
zur Rechtägefchichte und Zertkritit, Prag 1869. — Verfaffungsrecht der im Neichdrathe ver: 
tretenen Königreiche und Länder der Oefterr.:IIngar. Monarchie, Halle 1872, 
Lit.: Brockhaus. Teichmann. 


Perſonallehn — Berionenjtand. 37 


Perjonallehn. Während das Lehn in der Zeit der Anfänge des Lehn— 
weſens nur ein zeitlich beichränftes Recht des Beliehenen begründete, hat ſich jchon 
früh die Erblichkeit der Lehen zur durchgreifenden Regel ausgebildet, jo daß das 
Gegentheil ala vereinzelte Ausnahme ericheint. Die Lehnserrichtung bezieht fich 
demnach nicht blos auf den erjten Erwerber, jondern faßt auch alle lehnsfolgefähigen 
Nahlommen defjelben in jich, welche in der Inveſtitur deflelben jtilljchweigend mit 
inbegriffen find und daher bei dem Tode des jeweiligen Befigerd nach den Grund 
fügen des Lehnrechts in das Lehn juccediren. Vermöge der befonderen Beitimmungen 
des Lehnkontrakts kann aber auch ein Lehn unter zeitlicher Beſchränkung errichtet 
werden. Gin derartiges betagtes Lehn (Zeitlehn) ift das P., welches nur auf 
Lebenszeit des Empfängers verliehen wird. Am häufigſten erfolgten jolche Ver: 
leihungen an Lehnsunfähige, an Geiftliche und an Frauenzimmer zur lebensläng— 
lihen Berforgung, an leßtere namentlich in der Weiſe, daß die Frau des Bajallen 
ihr um als ein PB. erhielt. 

: Hagemann, Dom P., 1786 (audy in deſſen kleinen juriftiichen RT Aller Th. . 
113). = Gerber, $ 117. — Pe iffer in Weiske's NRechtälerifon VI. 40 


meyer, Syitem des Lehnrechts, Eaclentpirgel, II. 2, 358, insbeſ. 363. 
Heinrid Brunner. 


Berfonenftand (Verbrechen gegen den). Das RStrafGB. faht unter diejer 
Bezeichnung zwei Delikte zujammen: die Veränderung oder Unterdrüdung des 
Familienſtandes (Perfonenjtandes) eines Dritten und die betrügliche Gingehung 
einer Ehe. 

1) Den Gegenjtand des eriteren Delikts bilden alle Yamilienrechte, welche durd) 
eheliche oder außereheliche Geburt, durch Adoption oder Arrogation oder durch die 
Ehe ertvorben werden (v. Schwarze). — Zum Thatbeftande gehört, daß dieje Rechte 
durch „Veränderung oder Unterdrüdung“ ihres Grundes verlegt werden. Die bloße 
Anmaßung fremder Fyamilienrechte gehört nicht hierher. Wenn fie auf rechtswidrige 
Bereicherung gerichtet ift, jo kann der Begriff des Betrugs anwendbar werden. 
Bayern Hatte diejen Fall den Verbrechen gegen den Familienſtand eingereiht. — 
Tie Handlung muß nach dem RStrafGB. gegen den PB. „eines Andern“ gerichtet 
jein. Ob die Ginwilligung deſſelben das Delikt ausjchließe? Die Konjequenz jpricht 
für die Bejahung der Frage. Gleichwol dürfte fie der Stellung und der Faſſung des 
$ 169 gegenüber zu verneinen fein (anderer Meinung: v. Schwarze im Handbuch c. 
Komm.). — Daß die Abficht auf vermögensrechtliche Benachtheiligung des Andern 
oder auf eigenen rechtswidrigen Gewinn gerichtet jei, wird nicht gefordert. Das 
legtere Moment aber bildet nach dem StrafGB. einen Auszeichnungsgrund. Die 
Ausficht auf den rechtswidrigen Wermögensvortheil muß dabei das Motiv der That 
gebildet Haben. — Gin Mittel zur Verübung des Verbrechens wird häufig in dem 
Bewirfen der Herſtellung falfcher öffentlicher Urkunden (insbejondere jaljcher Civil— 
ftandsurfunden) gegeben fein. Baden hatte diefen Fall ausgezeichnet. Es werden 
hier die Beitimmungen über intelleftuelle Urkundenfälihung ($ 271 des StrafGB.) 
anwendbar. — Zur Vollendung gehört die Hervorbringung falſcher Vorſtellungen 
über den P. der betreffenden PBerfon. — Nach Rhein. Recht muß der Strafverfolgung 
die Entjcheidung der Givilftandefrage im Givilverfahren vorausgehen. — Der Haupt: 
fall dieſer Verbrechensart ijt in der Kindesunterihiebung (j. diejen Art.) 
gegeben. 

Deiterreich kennt dieſe Berbrechensart nur als eine Betrugsjpezies. Es ftimmt 
darin mit einigen älteren Gejeßen (vgl. Heſſen 397, 6) und mit der gemeinrecht- 
lichen Doktrin, injofern diejelbe hier die Gefichtspunfte des Betruges und der 
Fälſchung zur Anwendung brachte, überein. 

2) Auch das zweite Delikt enthält eine durch Täuſchung bewirkte Veränderung 
des P. und konnte um deswillen mit dem eriten zufammengeftellt werden. Voraus: 
geſetzt ift eine auf die Vorausjegungen eines Eheſchluſſes bezügliche Täufchung, welche 


38 VPerthes — Pertinenz. 


die abgeſchloſſene Ehe zu einer nichtigen oder anfechtbaren macht. Im Uebrigen 
werden zwei Fälle unterichieden. Die Täuſchung kann ſich auf „ein geſetzliches 
Ehehinderniß“ beziehen — hier wird nicht vorausgeſetzt, daß die Anregung zum 
Abſchluß der Ehe von dem Täuſchenden ausging — oder auf ſonſtige Umſtände. 
Im letzteren Falle muß die Initiative beim Täuſchenden geweſen ſein, und die 
Täuſchung muß zugleich von ſolcher Bedeutung ſein, daß die Gültigkeit der Ehe 
mit Rückſicht darauf angefochten werden kann. In beiden Fällen muß das Ver— 
halten des Täufchenden fich ala ein „argliftiges“ darjtellen, d. h. e& muß darauf 
berechnet gewejen jein, dem Andern die Erfenntniß des richtigen Sachverhalts un— 
möglich zu machen oder etwa auftauchende Zweifel zu erftiden. Den Gegenjaß 
hierzu bildet ein bloßes Daraufanfommenlaffen, ob es der Andere der Mühe werth 
finden werde, fich über betreffende Verhältniffe zu orientiren. — Als Thäter ift 
derjenige vorausgefeßt, der die Ehe mit dem Getäufchten abichließt. — Eine Ber 
dingung der ftrafrechtlichen Verfolgung ift das Vorliegen eines ehegerichtlichen Er— 
fenntniffes, wodurch die Ehe aufgelöft wird; eine jernere der Antrag des getäufchten 
Theiles. Die Friſt zur Einbringung des Antrags läuft von dem Momente, wo 
der Getäufchte von der Täufchung Kenntniß erlangt, die Verjährung von dem 
Momente des Eheabichlufles (anderer Meinung: v. Shwarze). 

Gigb. u. Lit.: RStraf®B. 88 169—170. — Tefterreih 8 2old. — Ungarn $$ 254, 
255. — Belgien art. 3698. — Franfreid art. 345. — v. Holtzendorff, „ Qandbud), 11. 
S. 277—285 (vw. Schwarze). — Tie Kommentare. 

Vertheß, Clemens Theodor, & 2. 11. 1809 zu Hamburg, Prof. zu 
Bonn, T 25. XI. 1867. 

Schriften: Der Staatädienft in — Gotha 1838. — Das Deutſche Staatsleben 
vor der Revolution, Hamb. u. Gotha 1845. — Einverleibung Krakau's, Gotha 1847. — Das 
Dres ätweien der Handwerks ejellen, Gotha 1856. — fFriedr. Perthes' Leben, Gotha 184851, 

6. Aufl. 1872. — Politische ag und Perſonen in Deutichland zur Zeit ber Franzdi. 
Herrichaft, Gotha 1862—69 (I. 3b. herauägeg. von Anton Springer). 


Sein älterer Bruder Friedrih Matthias (1800—1859) Irieb: Die alte 

und neue Lehre über Gejellihaft, Staat und Kirche, Hamb. 1849, 3. Aufl. 1850 
Teihmann. 

Pertinenz einer anderen iſt diejenige Sache, deren wirthichaftliche Bedeutung 
nach der Anjichauung des Verkehres und der durch dieje geleiteten Annahme des 
Rechtes in ihrem Dienste für eine andere Sache aufgeht. Es ergiebt fi) daraus: 

1) Die Rechtsnorm, welche eine Sache zur P. einer anderen erklärt, ift dis— 
pojitiver Natur; was nad) der Anichauung des Verkehres feine eigene Bedeutung 
hat, kann fie doch haben nach der Anfchauung des Einzelnen, und wenn das Recht 
jene Anfchauung des Verkehres ſich ameignet, jo thut es dies nicht im Gegenjaße 
zur Anfchauung des Einzelnen, jondern lediglich wegen ihrer im Zweifel anzunehmen= 
den Uebereinftimmung mit der Anjchauung des Verfehres. 

2) Die Bedeutung der P.qualität erjtredt fih auf das rechtliche Schickſal der 
Sache nur infoweit als dieſes durch ihre wirthichaftliche Bedeutung fich beftimmt ; 
daher theilt die P. das Schickſal der Hauptſache nur injoweit als diejes durch Ver- 
fügung fich beſtimmt; denn Objekt der Berfügung oder des Willensaktes ift die 
Sache in ihrer Eigenjchaft ala Gegenjtand des Bedürfniſſes. Sodann erftredt ſich 
jelbftverjtändlich die Verfügung über die Hauptſache auf die P. nur injoweit als 
ihr Umfang lediglich durch die vom Rechte angenommene Tragweite des Willens- 
aftes ala jolchen fich beftimmt, daher wird 3. B. durch Uebergabe der Hauptjache 
zu Gigenthum oder zu Pfand die P. nicht berührt. Unabhängig von der P.qualität 
ift die Erftredung einer Verfügung auf eine nicht ausdrüdlich genannte Sache, wenn 
nach dem allgemeinen oder im einzelnen Falle anzunehmenden Sprachgebrauche eine 
ihrem MWortlaute nach nur auf eine bejtimmte Sache gehende Bezeichnung andere 
Sachen mit umfaßt; vielmehr macht fid) die P.qualität als ſolche erit dann geltend, 
wenn eine nicht nur dem Wortfinne nach, jondern auch nach jog. logischer Inter— 


Pertinenz. 39 


pretation nicht unter eine Verfügung fallende Sache lediglich wegen ihres Verhält— 
nifieg zu einer anderen Sache von der über dieje getroffenen Verfügung mit er= 
griffen wird. 

Ob nach Römiſchem Rechte dem P.begriffe überhaupt irgend welche Realität 
zukomme, ift bejtritten, jedenfalls jpielt er in ihm feine erhebliche Rolle und wird 
durch feinen eigenen Namen bezeichnet. Die wie von Nebenbeitandtheilen einer 
Sache jo auch von Nebenfachen gebrauchte Bezeichnung der accessio entbehrt jeder 
teten Begrenzung. Wenn jodann neben den bloßen Theilen einer Sache die- 
jenigen eigenen Sachen genannt werden, die man gleichham als bloßen Theil einer 
anderen um diejer willen bat, jo handelt es fich hier um Fälle, wo eine Bezeich— 
nung zwar dem Wortlaute nach nur eine Sache, in dem Sinne dagegen, in welchem 
fie gebraucht zu werden pflegt, einen ganzen Komplex von Sachen umfaßt. Gilt 
J. B. bei einem Hausfaufe ala mitgefauft, twas quasi pars zum Hauſe gehört, jo 
beruht dies darauf, daß wir 3. B. mit der Bezeichnung des Wohnhaufes den ganzen 
Kompler von Sachen mit umfaffen, deren Zugehörigkeit zum Haufe jeine Bewohn— 
barfeit fordert; irgend welcher Unterſchied befteht hier zwijchen wirklichen Stüden 
des Hauſes und den zu feiner Benugung erforderlichen eigenen Sachen wie den 
Schlüffeln nicht; denn die Bezeichnung des Wohnhaujes in ihrem üblichen Sinne 
ichließt dieſe ebenfo unmittelbar in fich als jene, Die Möglichkeit vollends, daß 
ein Grundſtück P. eines anderen jei, aljo nur um des Anderen willen erijtire, it 
dem Römischen Rechte gänzlich fremd und die dafür angeführten Entjcheidungen 
beruhen lediglich darauf, daß gerade bei Grundftüden vermöge ihrer rein zufälligen 
Abgrenzung die Frage leicht auftaucht, wie weit eine Verfügung über Grund und 
Boden reiche; inwieweit fie insbejondere über das allein genannte, vielleicht im 
Sinne des Verfügenden für einen größeren Kompler namengebende Stüd hinaus fich 
eritrede. Dagegen finden fich allerdings Entjcheidungen, nach welchen eine Ber- 
fügung auf bejtimmte nicht genannte bewegliche Sachen fich eritredt, ohne daß be— 
zäglich dieſer eine jtillichweigende Willensmeinung vorläge. Auch hier aber kann 
nicht geſagt werden, daß die eine Sache lediglich um der anderen willen erijtire 
und deshalb deren Schickſal theile; vielmehr ericheint hier nur das Intereſſe des 
Beräußerers am Behalten der Sache im Berhältniffe zum Interefie des Erwerbers 
an ihrer Erlangung jo unbedeutend, daß es wirthichaftlich ala das Normale er- 
iheint, bei der Uebergabe einer beftimmten Sache die andere drein zu geben. Daß 
3 2. die auf einem Gute befindlichen Vorräthe an Stroh und Dünger lediglich 
um diejes beitimmten Gutes willen eriftiren, läßt fich nicht behaupten; wol aber ijt 
für den Veräußerer, der vielleicht gar feine Verwendung für fie hat, ihr Werth fo 
viel geringer als für den am Orte ihrer gegenwärtigen Yagerung fie verwendenden 
Erwerber, daß ohne bejondere Anhaltspunkte die Abficht fie zurüdzubehalten nicht 
anzunehmen iſt. Dagegen erjtredt fich nach Röm. echte die Veräußerung von 
Silbergefchirr nicht auf die dazu gehörigen Futterale; daß aber 3. B. die Veräuße— 
rung eines Schranfes die dazu gehörigen Schlüffel in fich begreift, beruht auf der 
Nothwendigkeit des beitimmten Schlüffels zur Benugung des Schranfes, kraft 
welcher wer ala Gegenstand der Verfügung einen Schrant nennt, in Wirklichkeit 
gar nicht blos 'den Schrank, fjondern diejen nebjt den ihn öffnenden und ver- 
ichließenden Schlüffeln meint. Daß auch hier feineswegs die P.qualität der be— 
ſtimmten individuellen Sache entjcheidet, zeigt fi) daran, daß der Käufer eines 
Schrantes nicht blos die Auslieferung der zu ihm wirklich vorhandenen Schlüffel, 
iondern jchlechthin die Lieferung folcher verlangen kann; ift beim Kaufe fein be— 
ſtimmter Schlüffel demonftrirt, jo ift bezüglich der erforderlichen Schlüffel der Kauf 
ein Genuskauf, indem gekauft iſt der Schrank nebſt der erforderlichen Zahl ihn 
öffnender und verſchließender Schlüſſel, wie daſſelbe im Falle des Hauskaufes gilt. 

So iſt in Wirklichkeit der Begriff der P. dem Römiſchen Rechte fremd, indem 
die auf ihn zurückgeführten Erſcheinungen theils auf bloßer Interpretation der Partei— 


40 Petitionsrecht. 


abſicht theils auf einer vom Standpunkte des Parteiintereſſes aus getroffenen Er— 
gänzung derſelben beruhen. 

Dagegen hat ſich der Begriff der P. mit verſchiedener Ausdehnung ſeines An— 
wendungsgebietes in neueren Rechten eingebürgert, insbeſondere in Beziehung auf 
Immobilien. Die Betrachtung 

1) eines Grundſtückes als eines zu einem anderen gehörenden erlangte rechtliche 
Bedeutung namentlich durch die im Gegenſatze zum Römiſchen Rechte im Deutſchen 
vielfach ſich findende Geſchloſſenheit des Gutes. 

2) Von beweglichen Sachen gelten als P. unbeweglicher allgemein die auf ein 
Grundſtück bezüglichen Urkunden, ſowie vielfach das Gutsinventar, das nach Röm. 
Rechte von der Verfügung über das Gut nicht berührt wird. Die beweglichen P. 
unbeweglicher Sachen theilen konſequenter Weiſe, wie im Oeſterreichiſchen Geſetzbuch 
ausdrücklich anerkannt iſt, gleich den ſonſtigen rechtlichen Schickſalen der Hauptſache 
auch ihre Immobiliarqualität; ohne dieſe Annahme würde nach neuerem Rechte bie 
Veräußerung, insbejondere Verpfändung eines Grundſtücks fi) gar nicht auf jeine 
beweglichen P. eritreden können. P. eines Grundjtüdes können auch Rechte jein 
als P. des Grundeigenthums oder folche Nechte, welche im Zweifel deſſen Schidjal 
theilen, während die Prädialjervituten vermöge der Unmöglichkeit ihrer Abtrennung 
vom praedium dominans mehr als bloße „PB.“ des Grundeigenthums find. Ebenſo 
fünnen mit jonftigen Rechten andere Rechte als P. verbunden jein. 

Als Quellen der P.lehre betrachtet man im Römiichen Rechte namentlih 1. 13 $ 31; 


l. 18 D. de act. emt. 19, 1. — Bon neueren Rechten: Preub. ER. I. 2 88 42 ff. — Züricher 
BGB. 88 476, 477, 479 f. 


git.: v. Wächter, Handb. des Württemb. a II. ©. 242 ff.; Derjelbe, Pand., 
I. ©. 296 ff. — u: 1 bes a. Priv. R. 1. 88 59-55. — Stobbe, Handb. 


des den Priv I. $ 65. — Roth, NA Giv.R., $ 115, 15; Derielbe, Deutiches 
Priv. R., 8 81. — Dernburg, Preuß. Priv. R., I. $ 62. — unte, "Die Lehre von den P. 
1827. — Göppert, Ueber organijche —— 1369, ©. 58-80. Hölbder. 


Petitionsrecht. Man verjteht unter P. die Befugniß, ſich mit Bitten an 
die jtaatlichen Organe zu wenden. Dafjelbe zertällt in das Beſchwerderecht und 
das P. im engeren Sinne. Das Bejchtverderecht bezieht fich auf Rechtsverletzungen, 
auf die Befeitigung eines Unrechts, ganz einerlei, ob dafjelbe durch Handlungen oder 
durch Unterlafjungen herbeigeführt ijt, dem Gebiete des WPrivatrechts oder des 
öffentlichen Rechts, angehört. Indeſſen hat die verfaflungsmäßige Unabhängigkeit 
der Gerichte zur Folge, daß Beſchwerden gegen angeblich von den Gerichten bei der 
Rechtiprechung begangene Rechtsverlegungen nur im tichterlichen Inſtanzenzuge, jei 
es als Beichwerden im engeren Sinn gegen einfache Dekrete, jei es als Rechtsmittel 
gegen Urtheile verfolgt werden fünnen; eigentliche Beichwerden in Juſtizſachen finden 
nur jtatt wegen verzögerter oder verweigerter Juftiz und gegen rechtskräftig entjchiedene 
Straffachen auf Grund des Begnadigungsrechtes, ſofern die Begnadigungsgejuche zu 
den eigentlichen Beichtwerden gerechnet werden können. Derjelbe Grundjaß gilt hin— 
fichtlich der Beichtverden gegen die Entjcheidungen der Berwaltungsgerichtshöte.. Das 
P. im engeren Sinne bezieht ſich auf die künftige Verbeiferung mangelhafter Zujtände, 
veip. auf die Verhütung zu bejorgender Mebelitände Das im Allg. ER. (II. 20 
SS 156, 180) bereits in beiden Bedeutungen anerkannte P. ift auch in der Preuß. 
Verf. Art. 32 ausdrüdlich gewährleiſtet. 

Das P. im weiteren Sinne ſteht an und für fich ohne Rüdficht auf Alter und 
Geichlecht Allen zu, welche die Fähigkeit zur Willenserklärung befigen. Dafjelbe 
kann ebenjowol von einem Einzelnen allein, ala auch in Verbindung mit Anderen 
geübt werden; auch derartige Beamten-Petitionen find geitattet, doch findet das P. 
auf das Heer nur injoweit Anwendung, als die militärischen Gejeße und Disziplinar- 
vorichriften nicht entgegenftehen; auch müſſen bei Mafjenpetitionen die Einzelnen 
wirklich unterzeichnen, Petitionen unter einem Gejfammtnamen find nur Behörden 


Petitionsrecht. 41 


und Korporationen geſtattet. Ob dieſe letzteren ein unbeſchränktes oder ein auf 
ihren Wirkungskreis bejchränktes P. Haben, ijt bejtritten, namentlich ob den Kreis— 
tagen und den Stadtverordnetenverfammlungen, reſp. den jtädtiichen Behörden das 
Recht zufteht, Hinfichtlich allgemeiner Staatsangelegenheiten zu petitioniren, 
Dal. darüber im Allgem. v. Rönne, Staatsrecht, 3. Aufl. Bd. I. Abth. 2 
©. 197 ff.; über das Petitionarecht der Städte v. Rönne, a. a. O., ©. 198, 
und v. Möller, Preuß. rn ©. 86. Stenographiiche Berichte des Preuß. 
Abgeordmetenhaufes 1865, Bd. I. ©. 356 ff. Bd. IV. ©. 295 ff.; über das Petitions- 
recht der Kreistage dv. Rönne, 2 a. O., ©. 546 ff.; v. Möller, Das Necht 
der Preuß. Kreis und Provinzialverbände, ©. 72 ff.; über das Petitionsrecht der 
Provinzialftände v. Rönne, a. a. D. ©. 518; v. Möller, a. a. D. ©. 199. 
Die Petitionen im weiteren Sinne fönnen entweder an die Behörden oder an 
den Landtag (an jedes der beiden Häufer), refp. den Reichstag (Art. 23), oder an 
Korporationen öffentlich = rechtlichen Charakters oder an das Staatsoberhaupt ſelbſt 
gerichtet fein. Die an den Landtag, reip. den Reichstag gerichteten Petitionen haben 
manches Gigenthümliche. Insbeſondere wird den Kommiffionen injofern eine er— 
weiterte Kompetenz beigelegt, als fie an Stelle eines Gutachtens über die formelle 
und materielle Zuläffigfeit einer Petition die Zurückweiſung derfelben in gewiſſen 
Fällen beichließen fünnen; und zwar bejteht nach der Gejchäftsordnung des Herren— 
hauſes die Ginrichtung, daß Petitionen, welche nach dem einjtimmigen Urtheile der 
Kommiffion zur Berathung und Beichlußiaffung im Plenum ungeeignet find, nur 
mit furzer Angabe des Petitums im Kommifftonsbericht angeführt und drei Wochen 
lang im Bureau des Hauſes aufgelegt werden, und als erledigt zu betrachten find, 
wenn jie nicht während diejer Zeit von einem Mitgliede aufgenommen werden, in 
welchem Falle die Kommiffion noch nachträglich berichten muß; nach der Geſchäfts— 
ordnung des Hauſes der Abgeordneten wird der Inhalt der eingegangenen Petitionen 
wejentlich durch eine in tabellarischer Form angefertigte Zufammenftellung jeitens 
der Kommiffion zur Kenntniß des Hauſes gebracht; zur Plenarverhandlung gelangen 
nur diejenigen ‘Petitionen, bei welchen auf eine jolche entweder von der Kommiſſion 
oder von 15 Mitgliedern angetragen wird; geht der Antrag von der Kommiſſion 
aus, jo Hat fie über die von ihr zur Diskuſſion verwiejene Petition Bericht zu er: 
ftatten, geht der Antrag von Mitgliedern des Haufes aus, jo kann entweder eine 
Verweifung an die Kommiffion zur Berichterjtattung oder die Vorberathung im 
Hauſe, reip. die Schlußberathung im Haufe jtattfinden. Ganz analog diefen Ge— 
ihäftsbeftimmungen des Abgeordnetenhaufes find die des Reichstags... Es veriteht 
ich übrigens nach allgemeinen Grundjägen von jelbjt, daß die Staatöregierung durch 
die Meberweilung einer Petition nicht verpflichtet wird, dem betreffenden Beichlufie 
Folge zu leijten, und daß noch weniger dem Yandtage, reip. dem Reichdtage das 
Recht zufteht, durch ein weiteres unmittelbares Eingreifen die geforderte Abhülfe und 
Berüdfichtigung herbeizuführen, dagegen wird man dem betreffenden Haufe die Be- 
fugniß zugeitehen müſſen, Auskunft über das von der Regierung auf Grund der 
Verweifung Beranlaßte zu verlangen (Art. 81, U. 3). Im Reiche ift übrigens 
neuerdings die Einrichtung getroffen, daß dem nächitiolgenden Reichstage eine Vor— 
lage gemacht wird, aus welcher die auf die überwieſene Petition erfolgten Ent— 
ſchließungen zu eriehen find. 
Lit.: v. Rönne, Staatöreht, 3. Aufl. 1869, Th. I. Abth. 2 ©. 193 ff. — > [, Art. 
Beidmerde und Petition, in Bluntichli’ & StaataWört.B., Bd. II. ©. 89 ff.; viii. 
ff. — Melder, Art. Petition, im Staats-Lex. von Rotted und Wilder, 
3 en 3b. XI. ©. 459 ff. — dv. Mohl, Beiträge zur Lehre vom Petitionsrechte in fon: 
fitutionellen Staaten — Völkerrecht Politik, Bd. I 11860] ©. 222 ff). — 
dv. Gerber, Grundzüge, ©. 35; Derjelbe, De er Recht, S. 60 ff. — L. v. Stein, Der: 
waltungslehre, 2. Aufl. "186 ;g, Eh. I. ©. 382 fi., 1 ff. van Bylandt, Over het eght 


van ‚petitie, Gravenhage 1864. — Laband, Ss 2 des Feutfcen Reiche, Bd. 
S. 519. Ernft Meier. 


42 Petrus. 


Petrus de Alliaco (Pierre d’Ailly), 5 1350 in Compiègne, Lizentiat zu 
Paris, dann Almojenier, auf Gejandtichaftsreifen, Kanzler der Univerfität bie 1395, 
Biihot von Ye Puy, dann Gambrai, 1411 Kardinal, auf den Konzilien zu Piſa 
und Konſtanz, T 1425 (?). Bekannt durch Tract. de eccles. potestate. 

Yit.: Ehwab, oh. Gerfon, 1858, ©. 85 fi. — Hübler, Die Konftanzer — 
1867. — Schulte, Geſchichte, II. 401, 402. — Gierfe, Job. Althufius, PBreil. 1880. — 
Zihadert, Peter von Ailli, Gotha 1877. — Revue historique de — 1878, p. 4. 

eihmann. 


Petrus de Ancharano, & gegen 1330 in Toskana, (Antarano), Schüler 
von Baldus, lehrte zu Siena, Bologna, Ferrara, erhielt wichtige Aufträge, 1409 
auf dem Konzil zu Piſa Abg. der Univerfität Bologna, auf dem Koſtnitzer Konzil 
advocatus coneilii und scrutator votorum. T 13. V. 1416. 

Gr jhrieb: Comm. in Decretales, Lugd. 1535—43; Bonon. 1581, 1583. — Lectura 
75 Sexto, Lugd. 1517; super Clementinas, Venet. 1488: Mediol. 1494; Lugd. 1534, 1549, 
1553: Bonon. 1581, 1593 u. A. 

it: Schulte, Geld, II. 278282. Teihmann. 


Petrus Bleienjis, junior, canonicus cancellarius zu Ghartres, verfaßte 
wahricheinlich um 1180 das Speculum jur. can. ed. Reimarus, Berol. 1837. 

git.: Savigny, IV. 433—436 (über P. Bl. —— — Schulte, geräte, I. 207, 
257. — Bethmann«Hollweg, Giv.Prz., Bb. Zeihmann. 


Petrus Jacobi, 5 zu Aurillac, lebte ala Proi. in Montpellier. 

A Er fi Fall 1311 feine Practica aurea, aus ber ber tractatus de arbitris wol nur ein 
uszug ift. 

— Savigny, VI. 37—39. — De Parieu, Etude sur la pratique dorede de Pierre 
Jacobi in Wolowski's Revue de legislation et de — ence, XX. 417—425. — 
v. Stinking, Geichichte der populären Literatur des Römiſch-kanoniſchen en in — 
land, Leipz. 1867, ©. 291, 292. — Bethmann-Hollweg, Eiv.Prz., u 9 S. 

ee 


Petrus Ravennas (Petrus Tomais), & zu Ravenna, dozirte zu Padua, 
Piſa, Greifswald, Wittenberg, Köln, T gegen 1508 in Mainz. 

Schriften: Alphabetum aureum, Colon. 1508; Rothomagi 1508; Lugd. 1511, 
1517. — Repetitio C. inter alia, 1499. — De potestate” pontificis, Albiburgi 1508. — Com- 
pendium juris civilis, Albib. 1503. — Comp. juris canonici, 1504—1506. — Allegationes 
et conclusiones in materia consuetudinum, 1508. — Notabilia dieta, 1508. — Compend. in 
materia — 1508. — Constitutio de statutis, Colon. 1574. — Consilia. — Opusc. 


vari 

TER Stobbe, — - a = 1. ©. 14. — Rojegarten, Geſchichte der Univerfität 
Greifäwald, I. ©. 154-162. — Muther, Aus dem Univerfitäte: und Gelehrtenleben im 
Zeitalter ber Reformation, wir 1866, er 69 ff., 95—128, 371-395. — Muther, Zur Ge: 
Ihichte der Rechtswiſſenſchaft, S 129, 260 fi. — v. Stinking, Geſchichte der populären 
Zit., Leipz. 1867, ©. 147. — Säulte, Geſchichte, II. 403. Zeihmann. 


Petrus de Sampijone, & in Nimes oder Umgegend, lehrte wol 1230 — 60 
zu Bologna. 

Gr ihrieb: Summa decretalium. — Distincetiones. — Lectura in Decret. Innocentij 
IV. — Er verfaßte aud bie Synobdalftatuten von Nimes (1242—72). 

Lit.: Schulte, Lehrbuch bes katholiichen Kirchenrecht, 3. Aufl. 1873, S. 77; Der: 
felbe, Geichichte, II. 108— 110, Teihmann. 


Petrus de Unzola, 5 zu Unzola, wurde 1275 Notar, F 1312. 

Schriften: Aurora novissima, Vincent. 1485. — Zuläße zu dem tractatus unb der 
flos des Rolandinus, Lugd. 1538. — De judiciis, Vinc. 1487. — Apparatus rotularum, 
Vincent. 14%. 

Sit.: v. Stingin % — *— ber populären Yiteratur des Römiſch-tkanoniſchen Rechtes 
in Deutichland, Leipz. 1867, ©. 2%. — Bethbmann:Hollmweg, Eiv. Pu. Bd. VI. S. 198. 

Teichmann. 

Petrus de Vinea (Pietro della Vigna) & zu Capua gegen 1190, der be— 
rühmte, unglüdliche Protonotar Friedrich's II., betheiligt an der Gefehgebung für 
Sizilien, namentlich aber an den Beitrebungen defjelben behufs Gründung einer 


Pfandbriefe, 45 


faiferlichen Kirche, in der Petrus der Vikar des Kaiſers, ein neuer Fels der Kirche 


jein jollte, T nach Blendung wol durch eigene Hand auf dem Wege nad) Pija 1249. 
8it.: G. de Blasiis, Della vita e delle opere di P. de V. Napoli 1860. — Huil- 
lard- ——— Vie et correspondances, Paris 1865. — een 1. 50, 266. — La 


Mantia, Storia della legislazione di Sicilia, Palermo 1866, I 
TZeihmann. 


Bfandbriefe, auch Hypothefenbrieie genannt, find Heutzutage zins— 
tragende, meift auf den Inhaber lautende Obligationen, welche größere Immobiliar— 
kreditinftitute als Schuldner ausstellen in Höhe von Beträgen, für welche fie jelbit 
wiederum hypothekariſch geficherte Gläubiger find. 

Zwei Arten jolcher Kreditintitute find zu untericheiden : 

I. Korporationen von Jmmobiliareigenthümern eines lokal begrenzten Bezirkes. 
Mitgliedsfähig find bisweilen nur die Eigenthümer einer bejtimmten Klaffe ländlicher 
Grundſtücke, 3. B. der Rittergüter, bisweilen aller Güter von einem gewiffen Minimal: 
werthe ab aufwärts, mag für leßtere der gemeine Sachwerth, der jährliche Rein- 
ertrag, oder die Grunditeuer als Maßſtab gewählt fein. Die ältejten diefer „Lands 
Ihaitlichen Kreditverbände“ oder Landſchaften“ gehören dem letzten Drittel des 
vorigen Jahrhunderts an und find eine Schöpfung Friedrich's des Großen. Die 
Verwüftungen des fiebenjährigen Krieges und die Münzreform jtellten in Schlefien 
Antorderungen an den Jmmobiliarkredit, dem die bisherigen Einrichtungen nicht ges 
wachien waren, da entwarf ein Kaufmann Bühring in Berlin den 1767 höheren 
Orts freilich abgewiejenen Plan eines SKreditvereines für Schlefien, auf den alle 
heutigen Immobiliarkreditinjtitute zurüdzuführen find. Saum zwei Jahre jpäter 
entichloß Fich Friedrich der Große auf Veranlafjung feines Großfanzlers v. Garmer, 
die Errichtung der Schlefifchen Landichaft unter unmefentlichen Abweichungen vom 
Bühring’ichen Entwurf zu genehmigen. Die glüdlichen Refultate deſſelben ver- 
anlaßten jehr bald die übrigen Provinzen, aus eigener Initiative gleiche Inflitute 
ju errichten. 

Ihrer wirthichaftlichen Seite nach find die Korporationen Vermittler zwifchen 
dem geldbebürftigen Grundeigenthümer und dem zinsjuchenden Kapitaliften. Auf 
das Geſuch des Grundeigenthümers fertigt? die Korporation früher nad) Vornahme 
der erforderlichen Schritte, wie Aufnahme der Werthtare u. ſ. w. über den begehrten 
oder bewilligten Betrag, in den vom Grumdeigenthümer gewünfchten Appoints 
numerirte Inhaberpapiere aus, welche fie nach ihrer Nummer auf das betreffende 
Grundſtück hypothekariſch eintragen ließ. Auch die Papiere ſelbſt erhielten einen 
diesbezüglichen Spezialvermerf, jedoch ohne direkte Angabe des Grundjtüdeigenthümers, 
umd wurden dadurch zu Jnhaberhypothefeninjtrumenten. Diefe Papiere händigte die 
Korporation dem Gigenthümer des nun pfandbelaſteten Grundftüces entweder zu 
beliebiger Dispofition direft aus, oder fie vermittelte auch noch für feine Rechnung 
den Verlauf an Dritte und übergab ihm dann nur den Erlös. Der P.inhaber ijt 
Gläubiger der Korporation, er darf fich wegen Zinjen und Kapital aber auch direkt 
an das verpfändete in jeinem P. bezeichnete Gut halten; überdies hHafteten noch die 
Grunditüde der gefammten Mitglieder der Korporation jolidariih. Die Korporation 
jog ihrerjeit®? von dem Gigenthümer des Grundftüds Zinfen und eventuell das 
Kapital ein, und hatte jelbjt ein Pfandrecht am Grundftüd, für deffen Realifirung 
ie wejentliche Privilegien zur Seite jtanden. — Später ſchloß die Korporation 
velbft mit dem Grundeigenthümer einen Darlehnsvertrag, ließ ihre Forderung ein= 
tragen, und ftellte num auf Grund defien nhaberobligationen aus. Deren In— 
baber ift lediglich Gläubiger der Korporation, aus dem früheren Ingroflations- 
vermerk auf dem Inhaberpapier ift ein einfacher Vermerk des Inhalts geworden, 
daß die KHorporation es auf Grund einer von ihr erworbenen hypothekariſch 
geficherten Forderung ausgeſtellt habe, der Piandbriefinhaber hat fein dingliches Recht 
mehr amı verpfändeten Grunditüd. Die P., früher beiderfeitig kündbar, wurden im 


44 Pfandbriefe. 


vierten Dezennium unſeres Jahrhunderts für den Inhaber unkündbar. Mit dem 
Darlehn verbindet ſich auch ein Amortiſationsvertrag. Ihre Sicherheit finden dieſe 
landichaftlichen P. vor allem darin, daß erjtens die Korporation niemals unfundirte 
Briefe ausgiebt, zweitens die Hypotheken innerhalb der eriten zwei Drittel des Guts— 
werthes bleiben müflen. Dieſe Landſchaften erijtiren noch; eine unter ihnen gejchloffene 
Vereinigung ſucht die P. börfen- und furstähiger zu machen. 

II. Da die jtetig ſteigende Intenfität des landwirtbichaftlichen Betriebes eine 
jtärfere Anipannung des Immobiliarkredits forderte, aber die landichaftliche Be— 
leihungsgrenze häufig engere Grenzen zog als die hypothefarifche Sicherheit verlangte, 
oder anders die Grundſtücke eine ftärfere Piandbelajtung bei voller Sicherheit der 
"Forderung geitatteten, ferner die Eigenthümer jtädtifcher Grundjtüde und auch ganzer 
Klaffen Ländlicher Grundjtüde von dieſen Kreditinftituten ganz ausgejchloffen waren, 
jo bildeten fich etwa feit der Mitte unferes Jahrhunderts noch andere Jmmobiliar: 
freditinftitute theils auf genoffenschaftlicher Grundlage, theila in Form von Aktien— 
geſellſchaften, alio ſtets Korporationen dritter Perfonen. Namentlich die leßteren, 
die jog. Hypothekenbanken, richten ihren Betrieb ganz faufmännifch ein und er- 
jtreden ihn auf Jmmobilien faft jeder Art. Ihre Hypothekenbriefe tragen ganz die 
vorhin bejchriebene zweite Form der landichaftlichen P. Ihre Beleihungsgrenzen 
find weiter gefaßt, theils unterliegen fie dem freien Ermeſſen des Vorſtandes, fo 
namentlich in Süddeutichland , theils find fie an Quoten der einen oder anderen 
Werthtare gebunden. Der Grumdeigenthümer erhält hier die Darlehnsfumme theilg 
direft baar ausgezahlt, theils auch nur die P. zur eigenen Verwerthung ausgehändigt. 
Dieje Hypothefenbanten geben den Grundeigenthümern kündbare, unfündbare, auch 
Amortifationsdarlehne. Die P. find nur auf Seiten der Bank kündbar, nicht felten 
find fie mit Prämien rüdzahlbar, 3. B. jo daß der Inhaber ftatt des Nominal- 
betrages von 100, den Betrag von 110 zurüdbelommt. P. in höheren Geſammt— 
jummen als dem zehn: und zwanzigiachen Betrage des Aktienkapitals in Umlauf 
zu halten, pflegt diefen Hypothekenbanken verboten zu jein. 

Wie die Mehrzahl der gewerblichen Unternehmungen, jo Haben auch dieje 
Hypothekenbanken unter der legten Gründungskriſis oder den fie begleitenden Um— 
itänden gelitten und leiden zum Theil noch an deren Folgen. Die Gypothefen- 
banken find wie jeder Kaufmann darauf angewielen, ihr Gejchäftsfapital möglichit 
oft und mit möglichit hohem Gewinn — hier Zins und Provifion — umzuſchlagen; 
deshalb kommen fie jajt naturgemäß jehr bald dahin, Hypothefarische Darlehen aus— 
zugeben, ja zu fuchen und entiprechend P. auszuitellen, nur um möglichjt hohe Divi- 
dende vertheilen zu fünnen. Die damalige Preisjteigerung aller Werthobjefte, auch 
der jtädtifchen und ländlichen Grundjtüde, das Sinken des Geldwerthes verleitete die 
Bankvorjtände in zum Theil ganz entichuldbarer Weije, Piandobjefte höher zu ver— 
anjchlagen, höher zu beleihen als der jpätere Rüdgang der Grundjtüdspreife, wie 
jet exit erfichtlich, rechtfertigte. Die Nothwendigfeit, um bei den jeit der zweiten 
Hälfte des vorigen Dezenniums fich immer häufiger einjtellenden Zwangsverkäufen 
der Piandobjekte nicht Ausfälle zu erleiden, die Grundftüde jelbjt zu eritehen, bürdete 
den Hypothekenbanken einen für ihr Grundkapital Häufig zu hohen, jchwer zu ver— 
werthenden Immobiliarbefig auf, und bindet dadurch zum Theil jogar ihre Betriebs 
gelder. Ein Sinken ja bisweilen völliges Schwinden des Geſchäftsgewinnes konnte 
nicht ausbleiben, und bald erwachte auch in den P.inhabern Sorge um die Sicher- 
heit ihrer Forderungen. Die PB. fanden in Folge deijen nicht mehr jo willige Abnahınre 
im Publitum, ja ftrömten zum guten Theil jogar an die Börjen und durch dieſe im 
die Hypothekenbanken zurüd. 

Diefe und andere Uebelſtände veranlakten die Hypothekenbanken jelbit, darauf zu 
achten, wie den Hypotheken- oder P.inhabern größere Sicherheit gewährt werden 
fönne. Zwei Wege zeigten fich, erjtens ihnen durch einen ihre Jntereffen vertretenden 
Piandhalter ein Fauftpiand an den Emiſſionshypotheken zu bejtellen, zweitens geſetzlich 


Pfandlehn — Pfandleihen. 45 


einige Sonderrechte der P.inhaber im Konkurſe der Hypothekenbank zu ſtatuiren. 
Eine Petition der Hypothekenbanken an den Reichstag erſuchte um Regelung der 
Pirage; es kam zu einem Geſetzentwurf, betreffend das Fauſtpfandrecht für P. und 
ähnliche Schuldverichreibungen, welcher an eine Kommiffion verwieſen wurde, jedoch 
in der Seſſion 1876 nicht mehr bis zur dritten Lefung gelangte. Die Regelung der 
Pirage, die inzwijchen eine Tendenz zeigt, fich zu einem Geſetz über die ganzen 
Hybothekenbanken auszudehnen, jteht daher noch aus. 
Ueber die Lit. vgl. Rabe, Sammlung Preußiicher Gejege, Bd. XI. ©. 9 ff. und XU. 
©. 7 ff. (1818 u. 183) und das faft erichöpiende 83 en Goldihmidt 
Rehtäanmwalt und Direktor der Norddeutichen — ad Berlin) Deutihe Hypo: 
thefenbanfen, Kritik und Reformvorjchläge, Jena 1880, ©. 230 ff. — Dazu noch J. Baſch, 
Tas Fauſtpfandrecht für Pfandbriefe und die A npolßstenbanten, Berlin 1880. — Roſcher, 
Rationalötonomit des — (6. Aufl. 1870), S. 133 ff. — Gierke, Dad Deutſche 
Genoflenichaftärecht, Bd. I. (1868) ©. 1068 ff. Baftig. 
Pfandlehn, feudum pignoratitium. Da nach allen Urkunden, welche über 
die Errichtung eines P. erhalten find, unzweifelhaft ift, daß der Gläubiger Vaſall 
wurde, jo konnte darüber nie ein Bedenken auftauchen, daß jenes wol zu unter: 
icheiden jei von der Verpfändung eines Lehns, bei welcher der Piandgläubiger in 
das Lehnsverhältniß gar nicht eintritt. Aber was den Gegenitand der Verleihung 
bildete, war früher jehr beftritten, zumal man den Uriprung des Inſtituts — die 
geliehene Satung des Deutichen Rechts — nicht kannte und einzelne Beltimmungen 
des Langobardifchen Lehnrechts, welche vom feudum pignoratitium nicht handeln, 
auf daſſelbe bezog. Auf den richtigen Weg hätten die Urkunden Hinleiten können, 
welche zum Theil wenigitens an Deutlichkeit nichts zu wünſchen übrig lafjen: bona, 
quae mihi pro 10 m. iure feodi fuissent obligata — obligantur bona 
pro — ut ea teneat iure feodi, quod dieitur Pfandlehen. Das Gejchäft be= 
ftand alſo darin, daß dem Gläubiger ein Gut zur Sicherheit für die Forderung zu 
Beſitz und Genuß als Pfand übergeben und daß er gleichzeitig mit diefem Gute 
beliehen wurde: der Gläubiger wird feines Piandrechts wegen und in Beziehung 
auf das verpfändete Gut Vaſall. Dieſer jebt wol allgemein angenommenen Auf— 
jaffung, daß das zu Pfandrecht übergebene Gut den Gegenftand der Verleihung ges 
bildet habe, ſteht die ältere gegenüber, wonach das feudum pignoratitium ein Zehn 
am Piandrechte gewejen ſei: obiectum huius feudi, lehrt Böhmer, est jus pig- 
noris in re tradita ideoque recte vocatur pignus infeudatum; auch das Preuß. 
Allg. ER. folgt dieſer Theorie, indem es J. 18 8 75 beſtimmt: wenn einem Gläubiger 
das Pfandrecht auf eine zur Sicherheit feiner Forderung übergebene Sache zu Lehn 
verliehen worden, jo heißt es ein P. Die richtige Anficht iſt zuerjt von Gottir. 
Madihn (Miscellen aus allen Theilen der Rechtägelehrtheit, I. Nr. XXXXVI. 
S. 241 ff.) vertheidigt worden, ohne indeß alsbald allgemeinen Eingang zu finden. 
Eichhorn (Einleitung, $ 196) charakterifirte das in den Urkunden erwähnte P. als 
ein twiederfäufliches Lehn, Andere hielten es wenigjtens dem praftiichen Refultate 
nach ganz ähnlich dem Kaufe auf Wiederfauf (vgl. Pfeiffer in Weiske's 
Rechtäler., VI. 399). Allein auch dieje Anfichten find nicht richtig; ſowol nach 
den Quellen des Deutichen Lehnrechts wie nach der jpäteren Praris wurde das P. 
vom wiederfäuflichen Lehn unterjchieden, wie das namentlich Bunde (Syiten, 
s 18 ©. 345 — 351) nachgewiejen hat. Val. auch noch v. Gerber, $ 108; Bejeler, 
s 104 Note 18 und $ 95 Note 6; Meibom, Das Deutfche Pandrecht, — ff. 
rraniiın. 
Pfandleihen im weiteren Sinne find Anſtalten, welche auf Piänder Geld 
leihen ; in diefem Sinne gehören auch die Lombardbanken (ſ. d. Art. Reichsbank) zu 
ihnen. Im engeren Begriff verfteht man jedoch unter PB. öffentliche oder konzeſſionirte 
Anjtalten, welche befugt jind gegen einen entiprechenden Zins Darlehen auf Pränder 
zu geben, und welche gewiſſe Vorrechte genießen, aber auch beitimmte polizeiliche 
Verpflichtungen übernehmen. — Das Kanoniſche Zinsverbot hatte den Nachtheil, 


46 Pfandleihen. 


daß der Aermere für den Fall der Noth in Wucherhände gerietd. Es beginnt daher 
ihon im frühen Mittelalter die öffentliche Wohlthätigkeit mit der Begründung bon 
Banken, welche den geringen Leuten auf Pränder Geld vorjtredten. Nach den Einen 
joll die erite dieſer öffentlichen P. im Jahre 1850 in Salins (Frankreich), nad) 
Anderen etwa ein Jahrhundert jpäter in Perugia auf Anftiften eines Minoriten- 
mönchs entitanden jein, in Deutichland erfolgte die Gründung einer ſolchen zuerſt 
durh Marimilian I. in Nürnberg (1498). Die Bedenken, welche von Kanonijcher 
Seite gegen die Zuläffigkeit diefer BP. erhoben wurden, hörten auf, nachdem unter 
Leo X. das Lateranenfifche Konzil (1514—1517) fich für dieſelbe erflärt hatte. 
Don Italien breiteten fich die P. bald über Flandern, Frankreich und Deutichland 
aus. Die öffentlichen wurden bejonders privilegirt und erhielten den Namen mons 
pietatis nach dem italienischen monte di pietd (das Wort „monte“ bedeutet in 
diefer Verbindung ſoviel wie Maffe oder Bank). Die privaten P. knüpfen an die 
Lombarden, die Bankiers des Mittelalters an; fie bedurften ebenfalls der obrig- 
feitlichen Konzeſſion. 

Die Unterfcheidung zwifchen öffentlichen und privaten P. ift auch im Deutjchen 
Neich geblieben. Die öffentlichen wurden namentlich im vorigen Jahrhundert als 
ein bejonderes Schugmittel gegen den Wucher angejehen und ihre Gründung von 
Staat jelbjt übernommen, jo in Wien 1707 mit einer NReorganifation, in Berlin 
1787. In Preußen regulirte die Kab.Ordre vom 28. Yuni 1826 (Geſ. Samml. 
©. 81) die Grundiäße für die öffentlichen jtädtiichen PB. und die Kab.Ordre vom 
25. Febr. 1834 jtellte ein Reglement für das KHönigl. Yeihamt in Berlin auf. Die 
privaten P. wurden allenthalben der Aufficht der PBolizeiobrigkeit unterworfen und 
fonnten nur mit deren Bewilligung betrieben werden. Ihre Inhaber waren ver- 
pflichtet, öffentliche Regiſter zu führen, dieſelben jederzeit der Behörde zur Einficht 
vorzulegen; fie mußten fich mit dem polizetlich feſtgeſetzten Zinsfuß, welcher jedoch 
den landesüblichen überichritt, begnügen, hatten aber das Necht, die Pfänder nach 
der Verfallgeit ohne vorherige Klage unter polizeilicher SKontrole zu verkaufen. 
Bartitularrechtliche Piandreglements ordneten das Weitere, jo in Preußen das erite 
vollitändige vom 13. März 1787 mit Abänderungen vom Jahre 1801, 1803 u. j. w.; 
in Sannover die Gew.D. vom 1. Auguſt 1847 8 40 und die Min.Bel. vom 
15. Oft. 1847; in Helfen Naffau, Schleswig=doljtein und in den Gebieten des 
Franzöſiſchen Rechts beitanden nur einzelne polizeiliche Verordnungen. In der Regel 
fanden in neuerer Zeit die P. ihre Stelle in den Gew.Ord. (jo auch in Preußen ; 
vgl. ferner das Gejeh vom 22. Juni 1861). 

Auch das neue Deutiche Reich hat ich mit den P. befonders beichäftigt. Schon 
das Bundesgeſetz vom 14. November 1867, welches die Höhe des Zinsfußes bei 
freditirten Forderungen der freien Vereinbarung anheim gab, ließ die Landes— 
bejtimmungen über gewerbliche Yeihanjtalten beitehen. Die Norddeutiche Gew. O. 
vom 21. Juni 1869 8 35 Abi. 2 ließ den Gewerbebetrieb eines Piandleihers ohne 
bejondere Erlaubniß zu, doch konnte derjelbe demjenigen verfagt werden, welcher wegen 
Verbrechen oder Vergehen, gegen das Gigenthum oder aus Gewinnjucht begangen, 
beitraft war. Die Freigebung des Gewerbes hatte jedoch erhebliche Mißſtände zur 
Folge, deren Bejeitigung das RGeſ. vom 23. Juli 1879 anftrebt. Hiernach bedarf 
derjenige, welcher das Gejchäft eines Piandleihers betreiben will, der obrigfeitlichen 
Grlaubniß, welche verjagt werden kann, wenn die Unzuverläffigkeit des Nachjuchenden 
in Bezug auf den beabfichtigten Gewerbebetrieb durch Thatjachen begründet ift. Die 
Grlaubniß darf nicht auf Zeit ertheilt werden (Gew.O. 8 40), der Widerruf ift mur 
geitattet, wenn nachträglich Umftände fich ereignen, welche die Verſagung der Er- 
laubniß gerechtiertigt hätten (Gew.O. 88 55, 143). Auch können die Yandes- 
regierungen bejtimmen, daß in Ortjchaften, für welche dies durch Ortsjtatut (Gew. DO, 
$ 142) jejtgefeßt wird, die Erlaubniß von dem Nachweis des Bedürfniffes abhängig 
gemacht werden kann. Als Piandleiher gilt nach dem Geſetz aber auch der jog. Rück— 


Pfandleihen. 47 


taujshändler, d. h. derjenige, welcher gewerbsmäßig bewegliche Sachen mit Gewährung 
des Rückkaufsrechts ankauft. Die Centralbehörden find befugt über den Geſchäfts— 
betrieb der Piandleiher Vorfchriften zu erlaffen, joweit darüber die Landesgeſetze feine 
Beltimmungen treffen; fie können auch anordnen, wie die Prandleiher ihre Bücher zu 
führen und welcher Kontrole fie fich über den Umfang und die Art ihres Geſchäfts— 
betriebes zu unterwerfen haben. Hiernach find in den einzelnen Staaten zahlreiche 
Verfügungen ergangen, jo in Preußen der Girf.Erl. des Min. des Innern vom 
21. Sept. 1879 (Min.Bl. für die innere Verwaltung ©. 253). Gegenwärtig 
it in der Landtagsſeſſion 1880/81 in Preußen ein Gejeß, betr. das P.gewerbe, ver: 
einbart worden, deflen Publikation am 17. März 1881 erfolgte. Daſſelbe jeht als 
Zinsfuß zwei Pfennig für jeden Monat und jede Mark von Dahrlehnsbeträgen bis 
zu 30 Mark, einen Piennig für jeden Monat und jede diefen Betrag überjteigende 
Mark jet, doch kann wegen jeiner Auslagen der Piandleiher fich ausbedingen, daß 
ihm an Zinjen in allen Fällen mindejtens der Betrag von zwei Monaten gezahlt 
werden müſſe. Für die Berechnung der Zinjen find genaue Borfchriften gegeben, 
fo u. A., daß jeder angefangene Monat für voll berechnet wird. Daneben darf bei 
Darlehen bis zu 50 Mark eine Einjchreibegebühr bis 20 Piennig genommen werden. 
Weitere Forderungen des Piandleihers für Aufbewahrung, Erhaltung des Piandes, 
iowie die Vorwegnahme der Zinfen find verboten und begründen eine erjt in fünf 
Jahren verjährende Nüdforderungsflage. Die Fälligkeit des von dem Pfandleiher ge- 
gebenen Darlehns tritt nicht vor jechs Monaten nach der Hingabe ein; entgegenitehende 
Abreden find nichtig, doch kann der Schuldner früher einlöjen (bis zum Abjchluß des 
Verkaufes jogar), braucht aber alsdann nur die Zinjen bis zum Zeitpunkt der Ein— 
löfung zu bezahlen. Der Erwerb des Piandrechts tritt für den Prandleiher exit durch 
die Eintragung des ihm übergebenen Gegenjtandes in ein bejtimmtes Pfandbuch ein, 
deffen Inhalt gejeglich vorgejchrieben ift. Der Verpfänder erhält einen Piandjchein, 
welcher zwar als Yegitimationspapier gilt, aber im Hinblick darauf, daß einerieits 
die Verpfändung vielfach durch Mittelsperſonen erfolgt und andererjeits fich nun 
einmal ein nicht zu bejeitigender Verkehr mit Pfandſcheinen ohne fürmliche Ueber: 
tragung der Rechte aus dem Piandvertrage eingebürgert hat, ift dem Beſitzer des 
Piandicheins ein gewiſſer Schuß und Gelegenheit zur Wahrnehmung jeiner Rechte 
auch gegen den Verpfänder gegeben, indem bejtimmt worden ift, daß der Verpfänder 
das Piand ohne Rückgabe des Piandicheins erjt nach Ablauf von drei Wochen nad) 
der Frälligkeit des Darlehns einlöjen kann. Der Verkauf des Pfandes erfolgt in 
Abweichung von den bisherigen Vorſchriften ohne einen vollſtreckbaren Rechtstitel 
und ohne gerichtliche Ermächtigung lediglich in öffentlicher Verfteigerung durch einen 
Gerichtsvollzieher oder zugelafjenen Auftionator (Gew.D. 8 36), nicht früher als 
vier Wochen nach Fälligkeit. Die Vorjchriften der (PO. 88 717 Abi. 2, 721, 722 
find in das Geje analog übernommen. Der leberihuß des Erlöjes nach Abzug 
der Schuld und des verhältnigmäßigen Antheils an den Koſten des Verkaufs ijt bei 
der Ortsarmenkaſſe zu Hinterlegen und verfällt derjelben,, ſofern der Berechtigte ihn 
nicht binnen Jahrestrift in Anſpruch nimmt. Nichtbeobachtung der für den Ber: 
fauf gegebenen Vorichriften macht den Piandleiher erjakpflichtig, die Klage gegen ihn 
verjährt ebenfalls in fünf Jahren. Die ftaatlichen Leihanftalten (e8 beſteht nur eine 
ſolche in Berlin) werden von dem Gefet nicht berührt, die Errichtung von P. durch 
Gemeinden und KHommunalverbände bedürfen der obrigfeitlichen Genehmigung, und 
he unterliegen, joweit fie in Zukunft errichtet werden, den Beſtimmungen diejes 
Geſetzes, während daſſelbe auf die bereits beitehenden PB. diejer Art vorläufig feine 
Anwendung findet, aber von dem Minifter des Innern in Anwendung gebracht werden 
fan. — Reichögejeßlich kommen als Strafbeitimmungen noch in Betracht: RStrafGB. 
$ 360 Nr. 12 in der Faſſung des Gefehes vom 26. Febr. 1876 bzw. Gew.D. 
$ 148, wonach P. und Nüdfaufshändler, welche bei Ausübung ihres Gewerbes den 
darüber erlaſſenen Vorſchriften zumiderhandeln, mit Gelditrafe bis zu 150 Mark oder 


48 Pfandprivilegien — Pfändung. 


mit Daft beftrait werden, und $ 290, welcher den öffentlichen Piandleihern eine 
Gefängnißſtrafe bis zu einem Jahre und Gelditrafe bis zu 900 Mark androht, wenn 
fie ihnen in Pfand nen Gegenſtände unbefugt in Gebrauch nehmen. 

Quellen: Reichögeie vom 23. Juli 1879 Art. IV. (R.G. BI. S. 267) und das im Text 
as Preußiſche Gejep vom 17. März 1881. 

it.: Außer den Kommentaren der Gew.D. u. den Lehrbüchern des partifularen Privat: 

und Polizeirechts bejonders 2. v. Stein, Handbud der Berwaltungslehre, 2. Aufl. 1876, 
©. 495, mojelbft fi) noch weiterer Literaturnachweis findet. Kayſer. 


Pfandprivilegien, privilegirte Pfandrechte, ſo nennt man diejenigen Pfand— 
rechte, welchen, abweichend von dem allgemeinen Grundſatz, daß regelmäßig das 
ältere Pfandrecht im Falle der Konkurrenz dem jüngeren vorgeht, nach beſon— 
deren geſetzlichen Beſtimmungen der Vorrang vor den übrigen eingeräumt iſt. Die— 
ſelben rangiren im gemeinrechtlichen Konkurſe in der zweiten Klaſſe der Konkurs— 
gläubiger. In der neueren Theorie iſt ſtreitig, ob die P. ein Vorrecht auch vor 
denjenigen Pfandrechten erzeugen, mit denen belaſtet eine Sache in das Eigenthum 
desjenigen gekommen iſt, gegen den die privilegirte Pfandforderung entſteht. Dieſe 
ſeit Thibaut vielfach bejahte Streitfrage wird doch in der Praxis mit Recht ver— 
neint. Den Piandrechten aus der Zeit des früheren Eigenthümers legt die Praris 
im Konkurſe ein Separationsrecht bei; die Piandgläubiger diefer Art nehmen die 
verpfändete Sache ala Piandieparatiften, Separatiften ex jure crediti aus der ge- 
meinen Konkursmaſſe zur abgefonderten Befriedigung heraus. Zu folchen Pfand— 
jeparatijten wird, wenn auch nicht ohne Wideripruch, der Veräußerer der Sache 
jelbft gerechnet, welcher fich bei der Beräußerung für das rüdjtändige Kaufgeld ein 
Pfand an der Sache vorbehalten hat. ine Mittelmeinung hält für das Pfandprivileg 
aus der versio in rem daran feſt, daß daffelbe joweit privilegirt ift, auch den Pfand— 
rechten aus der Zeit des früheren Eigenthümers vorzugehen. 

Als P. find gejelich anerfannt: 1) das Piandrecht des Fiskus wegen rüdjtän- 
diger Steuern und wegen Kontraktstorderungen. Objelt des privilegirten Pfandrechts 
in leßter Beziehung find jedoch nur die durch den SKontraft erworbenen Güter. 
2) Das Piandrecht des auf Rückgabe der dos gerichteten Anfpruchs, ſofern er von 
der Ehefrau oder deren Defcendenz geltend gemacht wird. 3) Das Piandrecht ex 
versione in rem, für Forderungen, welche daraus erwachien find, daß für die Er— 
haltung, Wiederherftellung oder Anjchaffung der Sache Kredit gegeben ift, ſoweit 
das Kreditirte wirklich zu jolchem Zwecke verwendet worden. 

Die Preuß. und Sächſ. Gefeßgebung erkennen ſolche P., die mit dem Prinzip 
der Greennbarfeit der Piandrechte (Publizität) unvereinbar find, regelmäßig nicht 
an; jedoch werden nach Preuß. Recht aus dem Erlös eines jubhajtirten Grundſtücks 
vor den eingetragenen Neallaften und Forderungen zweijährige Nüdftände aus der 
Deichlaft, den ftaatlichen Grundjteuern und anderen gemeinen Yaften, jowie Lohn— 
rückſtände des ländlichen Gefindes, der Wirthichafts- und Foritbeamten aus dem 
(egten Jahre vorwegbezahlt. Rückſichtlich der Seeichiffe haben handelsrechtlich die 
jogenannten Schiffsgläubiger privilegirte Piandforderungen. Bezüglich des Mobiliar- 
vermögens hat die Deutiche KO. die Beltimmungen über P. antiquirt; nur ſoweit 
die KO. $ 41 gewiſſe Gläubiger den Fauftpfandgläubigern gleichjtellt, kann es noch 
auf die landesgefegliche Regelung der gegenfeitigen Stellung diefer Gläubiger an— 
— u. Quellen: Neuſtetel u. Zimmern, Römiſch⸗rechtliche Unterſuchungen (Abh. 
Nr, 11). — v. Wächter im Archiv für civil. Praxis, XIV. 10. — Dernburg, Pfandrecht, 
IL. s8 152 f.—1.1C.4,1.—128D.49, 14. — 1.5 sqg. D. 20, 4. — Sg, Deutiches 
HEL. Art. 757 ff. Eceins. 


Pfändung it der mach Deutjchem Recht zum Schutze des Grundeigenthums 
erlaubte Alt der Selbjthülie (Selbiterefution), durch welchen Ihiere auf fremden 
Grund und Boden ergriffen und weggetrieben werden (Thier-P., Schüttung) oder 


Pfändung. 49 


Perſonen auf fremdem Boden angehalten werden, eine Sache zum Pfande zu geben 
Perſonal⸗P.). 

I. 1) Nah Gem. Recht iſt Vorausſetzung des P.rechts, daß ein Thier oder 
Menſch auf fremdem Grund und Boden angetroffen wird, nicht noch der Umftand, 
daß von denjelben wirklich ein Schaden angerichtet oder eine Beſitzſtörung begangen 
worden ift (was fich ja oft nicht jogleich feititellen läßt); es wird aljo nur erfordert 
ein dermeintliches, nicht ein wirkliches Intereffe. 

2) Berechtigt, die P. vorzunehmen, ift jeder, der ein rechtliches Intereffe daran 
hat, daß das Betreten des Grundjtüds unterbleibt, alfo nicht nur der Eigenthümer, 
iondern auch der Servitutberechtigte (dieſe beiden eventuell gegen einander), ferner 
der nur obligatorisch Berechtigte, wie der Pächter, bei Gemeindeland in der Regel 
die Gemeindebeamten (Feldhüter). Für den eigentlich Berechtigten kann die Aus— 
übung durch Perfonen erfolgen, welche dazu eine bejondere oder eine in dem Dienft- 
oder Amtsverhältniß begründete Vollmacht haben, nicht durch einen negotiorum 
gestor. Unjtatthait ift die P., wenn der Betreter ein Recht zum Betreten des 
Srundftüds Hatte, 3. B. das Wenderecht, oder der Eigenthümer verpflichtet war, 
das Grunditüd zu umzäunen. 

3) Die P. hat fofort auf dem Grundſtück jelbjt zu erfolgen (auf frifcher That), 
wenn nicht das Recht der Nacheile beſteht. Es ijt erlaubt, dabei die zur Befeitigung 
eines unerlaubten Widerftandes erforderliche Gewalt anzutvenden ; verboten ift nur 
der Erzeß in der Gewalt. Ebenjo darf die PB. feine übermäßige fein, d. h. es 
dürfen nicht unnöthig viele Thiere oder Sachen weggenommen werden. Wendet der 
Geptändete nach erfolgter P. Gegengewalt an, um das Thier oder die Sache wieder 
zu erlangen, jo begeht er die unerlaubte Piandfehrung oder Gegen-P. Der 
Pränder ijt verpflichtet, die Sache aufzubewahren (omnis diligentia in custodiendo), 
er muß dem befannten Gigenthümer des gepiändeten Thieres und eventuell der 
Obrigkeit Anzeige von der PB. machen und das Thier in den etwa vorhandenen 
Pfandſtall ſchaffen laſſen. 

4) Die Vortheile der P. beſtehen darin, daß der Pfänder an der Pfandſache 
ein Retentionsrecht hat und ein Beweismittel für die erfolgte Rechtsverletzung und 
Beſchädigung; einer Beſitzſtörung und der Prätenfion einer Servitut, welche durch 
Verjährung das Recht jelbit entitehen lafjen könnte, wird durch diefen Realproteft 
wirffam vorgebeugt. Der richtigen Anficht nach wird ein dingliches, Dritten gegen- 
über wirfjames Piandrecht aber nicht begründet; nur kann fich der Piändende aus 
dem Piand für feine Schadenserjaganfprüche und das etwaige Pfandgeld, welches 
aus der Buße zu erklären ift und befonders in den Ländern des Sächſiſchen Rechts 
vorfommt, befriedigen, wenn der Eigenthümer der Pfandjache unbekannt ift oder fich 
weigert, feiner Verpflichtung nachzulommen. Die Forderung muß aber immer ge— 
richtlich geltend gemacht werden. Der Gerichtsitand dafür ift begründet am Ort 
der P. (vgl. CRD. $ 32 „Klagen aus unerlaubten Handlungen“, unter welche auch 
die Fälle der actio legis Aquilise fallen — jog. forum delicti commissi). — 

Ueber die Gigen-P. wegen einer Forderung, welche fich am längſten erhalten 
bat ala Recht des Gutsherrn feinen Bauern gegenüber und bei Vorhandenfein einer 
mit der P.flaufel verjehenen Forderung, j. den folgenden Art. und über die P. im 
Civ. Prz. (GPO. 88 708 Fi.) 5. d. Art. Zwangsvollſtreckung. 

I. Unter den PBartifularrehten fennen das Württemb. und das 
Dejterr. Recht nur die Thier-P.; in dem leßteren ift noch bejonders vorgejchrieben, 
daß der Pfänder ſich binnen acht Tagen mit dem Gigenthümer abfinden oder 
Nagen muß, widrigenfalls er das gepfändete Vieh zurückzuftellen hat, was auch dann 
geichehen joll, wenn der Eigenthümer eine andere angemefjene Sicherheit leitet. 

Für das Preuß. Recht find im Allg. LER. ausführliche Beitimmungen ge— 
troffen. Hiernach Heißt P. „die eigenmächtige Befignehmung einer fremden Sache, in 
der Abficht, fich dadurch den Erſatz eines zugefügten Schadens zu verfichern, oder 

d. Holgenborff, Enc. II. Reihtälerifon III. 3. Aufl. 4 


50 Pfändung. 


fünitige Schadenszufügungen und Beeinträchtigungen feines Rechts abzumenden“. 
Zuläffig iſt die P. bei Vieh und anderen beweglichen Sachen, aber nur unter der 
Vorausſetzung, daß der Beichädiger oder Störer unbefannt und umficher ift, oder 
die P. das einzige Mittel zur Sicherung des Beweijes bietet, Mo nur in einem 
„Mothitande”. Dabei ift der Erzeß in der anzumendenden Gewalt und in Betreff 
der zu nehmenden Sachen ausdrüdlich verboten, der Piänder tft zur Anzeige an die 
Obrigkeit verpflichtet, welche den Schaden ſofort zu unterjuchen und abzuſchätzen hat. 
Außer dem Schadenserſatz kann der Pränder „das in den Provinzialgejeßen näher 
beitimmte Piandgeld“ fordern, bei PB. zum Schuß gegen Störungen nur das lehtere. 
MWiderjtand des zu Prändenden und Gegen-P. werden mit Erhöhung des Piandgeldes 
auf das Doppelte bzw. Bierfache geahndet. 

Diefe Beitimmungen und ebenjo die über P. in Schonungen find für das bei 
Meitem wichtigite Anwendungsgebiet der P., die Vich-P., erjegt durch die freieren 
Vorſchriften der Feldpolizeiordn. vom 1. Nov. 1847 und des Gejehes vom 13. April 
1856, welche ihrerjeits wieder im Großen und Ganzen durch das noch weiter 
reichende Feld- und Tyoritpolizeigefeg vom 1. April 1880 außer Kraft gejeßt worden 
find. Dies Gefeß gilt auch für den ganzen Umfang des Preuß. Staates, während 
die FFeldpolizeiordn. im Allgemeinen nur für die landrechtlichen Gebiete Anwendung fand. 

Der 8 77 des Feld- und TForitpolizeigejeßes beftimmt, daß, wenn übergetretenes 
Vieh auf einem Grundjtüd betroffen wird, auf dem es nicht geweidet werden darf, 
dafjelbe auf der Stelle und in unmittelbarer Verfolgung von dem Feld- oder Forſt— 
büter, dem Bejchädigten oder deflen Angehörigen oder Dienftleuten gepfändet werden 
fönne. Außer diefem alle des Weidefrevels ift die Thier-P. noch zuläffig bei 
Uebertretung des $ 10 des Geſetzes, welcher den $ 368 Nr. 9 des RStrafGB. er- 
gänzt. Hiernach ift das Uebertreten auf fremdes Feld nur dann jtraflos, wenn es 
geichieht megen der ſchlechten Bejchaffenheit des Weges oder eines jonjtigen Hinder— 
niſſes. Die P. ift binnen 24 Stunden dem Gemeindevoritand oder der Ortspolizei- 
behörde anzuzeigen; der Gepfändete kann bei dem Givilgericht, bzw. der Verwaltungs: 
behörde und dem Verwaltungsgericht Klage erheben. Wird die P. aufrecht erhalten, 
jo werden die Piandjachen verjteigert und aus dem Erlös die often und die jehr 
detaillirt geregelten Eriaßgelder gededt, der Schadenserfag nur, wenn er binnen drei 
Monaten gerichtlich geltend gemacht ift. Nach $ 17 wird die unrechtmäßige P. mit 
Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder mit Haft beftraft, desgl. die Vereitelung der P., der 
Widerſtand gegen den Piänder (abgefehen von den SS 113 und 117 des StrafGB.) 
und die Wegnahme gepfändeter Sachen (abgejehen von den Fällen der SS 137 umd 
289 des StraiGB.). Damit ift die Kontroverje nicht erledigt, ob die lediglich von 
einem Privaten vorgenommene PB. den Schuß der 88 137 und 289 genießt. Meines 
Grachtens iſt der $ 137, welcher eine amtliche Anordnung vorausſetzt, nicht an— 
wendbar, auch wenn für den Fiskus als Grundeigenthümer gepfändet wird , wol 
aber jtet3 der $ 289, der wohlerworbene Nechte Privater jchüßt, nicht nur Ver— 
tragsrechte (vgl. Oppenhoff, Rechtipr. Bd. VII. ©. 153 und Bd. XI. ©. 290; 
Derjelbe, Komment. zu $ 137 Nr. 2, zu $289 Nr. 7; John in v. Holtzen— 
dorff's Handbuch des Strafrehts Bd. II. ©. 191; Merkel, daielbit S. 837 
und v. Schwarze, Kommentar zu $ 137 Nr. 2). 

Erfolgt die Wegnahme einer Sache, welche nach $ 42 des StraißB. der Ein: 
ziehung unterliegt, jo kann man dieje nicht eigentlich eine P., jondern nur eine Be- 
ichlagnahme nennen (vgl. SS 94 ff. der StrafPD.). Bgl. auch den Art. Beichlag- 
nahme. 

Das Sächſiſche Recht ſchließt Fich dem Gemeinen Recht, wie es oben dar: 
gejtellt worden ift, auf das Engite an. Die P. ift zuläffig auf dem Grundſtück umd 
auf einem an dafjelbe anftoßenden Wege. Der Pfänder ift verpflichtet, von dem 
Gepfändeten ein anderes geeignetes Prand anzunehmen, er kann angehalten werden, 
die Sache bei der nächſten Ortsbehörde zu deponiren, und hat bei der Gerichta- 


Pfändungsklauſel. 51 


behörde Anzeige zu machen; er hat die Wahl zwiſchen Schadenserſatz und einem 
Pfandſchilling von fünf Neugroſchen. Hierfür „haftet die Sache als Piand“. Durch 
die P. wird aljo ein eigentliches Piandrecht begründet, wie denn auch das BGB. 
die P. im Sachenrecht unter der Lehre vom Piandrecht behandelt. 

Im Franzöſiſchen Recht kennt der Code civil die P. nicht. Mafgebend tft 
noh das decret concernant les biens et usages ruraux et la police rurale vom 
28. Sept., 6. Oft. 1791, welches in Tit. II. $$ 12 und 25 dem Grundeigen- 
thümer ein P.recht an Thieren zufpricht. 

Ueber die P. in einign Schweizeriſchen Privatrechtäfodififationen vgl. 
Rägeli, Das Germanijche Selbftpfändungsrecht, $ 30 (©. 74 ff.), ſ. daſelbſt auch 
über die Natur des P.rechts und des Rechts an der gepfändeten Sade (88 31 ff.). 

II. Bon Deutſchen Reichsgeſetzen ift nur zu erwähnen das Geſetz über 
das Poſtweſen des Deutjchen Reichd vom 28. Dft. 1871. Nach $ 17 können ordentliche 
Poften, Grtrapojten, Gitafetten und Sturiere bei Unpaffirbarfeit der gewöhnlichen 
Wege, fich der ungehegten Wiejen und Aecker bedienen, ohne daß Hierbei die P. 
erlaubt wäre ($ 18). Diejelbe iſt auch unzuläffig gegen den Poitillon, der mit 
dem ledigen Geipann zurückkehrt. Das Recht auf Schadenzerjaß ift dem Eigenthümer 


vorbehalten. 

Quellen: Für das Gemeine Recht —* — Grundriß, 88 107 u. 108. — Oeſterr. 
Allg. BEB. z5 1321 u. 1322. — Preu 88 413—465 I. 14 u. 88 180—185 
I. — Treldpolizei: Ordnung vom 1. 1 * (Set :Samml. ©. 376) SS 4 ff., 44, 46 u. 


75 und | dazu das Geſetz vom 13. April 1856 A «Samml. ©. 205). — Feld⸗ und orſt⸗ 
polizeigefeg vom 1. April 1880 (Geſ⸗Samml. S. 230) 88 69 fi. — Sächſiſches BGB. 55 488 
= — —2* * betreffend das Poſtweſen Me das Deutfche Reich vom 28. Oktober 1871 
( 
Lit.: Wilde, Das rer in * er für om —* Bd. J. 1839, 
S. 167 fi. — v. Meibom, Pfandredt, $ 5 ©. Gerber, Deutiches Privat: 
recht, or — Befeler, Ddeulſches 3543 5 — — Deutſches Privat⸗ 
recht, V 70. — Rott, Deutiches —e— W L. S 89. - v. Wahhler, ürtt. 
Brivatredht, * II. $ 61. — Sarwey, Dad Bländungsinftitut ıc., im Mürttemb. Archiv 
für Recht x. J. 2 ©. 8 — Dernburg, Preuß. Privatrecht, Bd. 1.5 123. — Förfter, 
Theorie und a des jreuß Vrivairechis 8. 49. — v. Rönne, Preuß. Staatsrecht, 
2b. II. SS 426 u. 427. — Unger, Syſiem bes Oeſterr. Allg. Privatrechts, Bd. II. 
©. 343. — Nägeli, Das Germaniſche Selbfipfändungsrenht (Züridy 1876). Keil. 


Pfandungsklaufel (Erekutivklaufel) it der einer Vertragsurfunde Hinzu 
gefügte Paffus, in welchem fich der Schuldner bereit erklärt, fich der ſofortigen 
Grefution des Gläubigers zu unterwerfen. Die Formel (autet regelmäßig „mit 
oder ohne Recht“ oder „ohne Geriht“. Die ganze Urkunde heißt dann 
eine erefutorifche oder mit dem aus Italien herübergenommenen Namen instrumentum 
guarentigiatum. Das Inſtitut ift in Italien entjtanden als eine Weiterbildung der 
eonfessio in iure, dann in allen romaniſchen Ländern durch die Praxis der geiſt— 
lichen Gerichte allgemein geworden und in Deutſchland ſeit dem ewigen Landfrieden 
von 1495 rezipirt worden als letztes Ueberbleibſel der früher weit verbreiteten Selbit- 
hülfe. Da es dem Deutichen Volksbewußtſein durchaus entiprach, jo wurde es in 
dem Reichs-Dep.⸗Abſchied von 1600 ausdrüdlich beitätigt, indem daſelbſt ($ 32) be- 
ftimmt wurde, daß aus den „Berichreibungen ohne Recht“ ein mandatum sine 
elausula erlaflen werden jollte und ihnen damit aljo das Recht der paraten Erefution 
zugeiprochen wurde, wie dies Alles Briegleb in jeiner trefflichen Darjtellung der 
Seichichte des Erefutivprozefles ausführt. 

Tennoh Hat dies Necht nicht bis in die neuere Zeit feine gemeinrechtliche 
Geltung bewahrt, jondern nur noch in den Partifularrechten — nach dem Borbild 
des Trranzöfiichen Rechte — gegolten. Vielfach wurde in diefen eine P. auch in 
dem Sinne erfordert, daß auch rechtskräftige Endurtheile nur dann vollitredbar 
waren, wenn fie mit bderjelben verjehen waren (Vollſtreckungsklauſel). Durch die 
ERD. ift für das Deutfche Reich dies Alles obſolet geworden; dieſe erfordert zur 

4* 


52 Biarrer. 


Bollitredung eine Vollſtreckungsklauſel ( KPO. $ 663) und läßt andererieits auch aus 
gerichtlichen oder notariellen Urkunden, welche über einen Anfpruch auf eine be 
ftimmte Geldfumme oder auf eine beitimmte Quantität anderer vertretbarer Sachen 
oder Werthpapiere errichtet find, die Zwangsvollitredung zu, wenn die Urkunden 
mit der P. veriehen find, d. h. wenn der Schuldner fich in der Urkunde der ſofor— 
tigen Zwangsvollftrefung unterworfen hat (ChO. $ 702 Nr. 5). Im Uebrigen 
vgl. den Art. Zwangsvollftredung. 


Lit. u. Gigb.: Briegleb, Neber erefutoriiche Urkunden und Exekutiv-Prozeß (Geichichte 
d. ———— 2. Aufl. 1845. — Pland in Schneider's krit. Jahrbüchern, 1845, 


Bd. 17 ©. 418 ff. — Wilba, a. o. a. D. ©. 190—227. — Renaud, Lehrb. des gemeinen 
Feutichen Eiv.Prz.R., S. 702 ff. — v. Meibom, Pfandredt, ©. 220. — Code de — 
dure civile art. 445 ss. — CPO. 8. Buch (Zwangsvollſtreckung) ſ. oben. Kteil. 


Pfarrer (Th. I. S. 654, 682; parochus, ecclesiae parochialis curatus, 
ecel. par. rector) ijt in der katholiſchen Kirche derjenige Geiftliche mit priefter- 
lihem ordo, welcher vom Bijchof mit der Yeitung der Geelforge in einem der 
fleinften, regelmäßigen Diftrifte der Diözefe, in einer fog. parochia oder Piarrei, 
beauftragt iſt. Wenngleich jein Amt ein jtändiges ift, oder es wenigitens jein joll, 
jo befigt er doch eine jurisdictio ordinaria im eigentlichen Sinne (d. 5. eine 
jelbitändige Yeitungsgewalt für das äußere Gebiet) nicht. Seine Funktionen er- 
ftreden fich zunächſt 1) auf die Ausübung der Seeljorge im engeren Sinne, alio 
Handhabung der Beichte, Spendung der Saframente, Vornahme fonftiger religiöfer 
Alte, wie Benediktionen, Prozeffionen, Ausübung des Predigtamtes, Unterweifung 
der Jugend in der Religion. Sodann hat er 2) nach fatholiichem Recht die Be— 
auffichtigung der Volksſchulen; 3) die Verwaltung des Vermögens der Piarrfirche 
und des Piarrbenefiziums; ferner 4) und zwar früher in vielen Deutichen Staaten 
auch mit beweifender Kraft für dag bürgerliche Gebiet die Führung der Tauf-, Kon— 
firmationd-, Trau- und Todtenregifter (ein Recht, welches aber für das Deutiche 
Reich nach dem RGeſ. über die Beurkundung des Perſonenſtands mit dem 1. Jan. 
1876 bejeitigt worden ift). Die dem P. gebührenden Rechte jtehen ihm zu über 
das Territorium und über die innerhalb defjelben domizilirten Perfonen (quidquid 
est in parochia, est etiam de parochia). Es fann daher einmal ein anderer 
Priefter ohne feine oder des Biſchoſs Genehmigung keine geiftlichen Funktionen in 
der Piarrei ausüben, andererſeits hatte früher jeder Ginwohner die Pflicht, den 
gottesdienjtlichen Handlungen allein in feiner Parrfirche anzuwohnen und diejelben 
fih nur jeitens feines P. leiften zu laffen (fog. Prarrzwang); heute gilt das nur 
noch für gewiffe Akte, die jog. jura parochialia oder piarramtlichen Handlungen im 
engeren Sinne, d. h. für Taufe, Aufgebot, Eheſchließung, öfterliche Kommunion, 
Kranfenölung und Begräbniß. Für die Bornahme einzelner diefer Alte hat der 
P. einen Anfpruch auf beftimmte Gebühren, die jog. jura stolae (ſ. d. Art. StoI!- 
gebühren). Außerdem kommt ihm der Genuß des regelmäßig mit der Piarrei 
verbundenen Benefiziums zu. Die befonderen, dem PB. in Folge des Erwerbes des 
Piarramtes obliegenden Pflichten find 1) die, fpäteltens binnen zwei Monaten von 
der Erlangung des Beſitzes des Amtes das Glaubensbefenntniß und das Gelöbnif 
der Treue gegen die Römische Kirche abzulegen, und 2) die Verpflichtung, an dem 
Sie der Prarrei beftändig Refidenz zu halten. — In der evangelifchen Kirche 
umfaßt das Piarramt, welches hier ebenfalls das firchliche Amt für die kleinſten, 
regelmäßigen Kreife ift, die Predigt des göttlichen Wortes, die Yeitung des Gottes— 
dienites, die Verwaltung der Saframente und anderer firchlicher Handlungen, ferner 
die Handhabung der Kirchenzucht in und mit der Gemeinde; endlich giebt es da, 
wo Presbpterien beftehen, auch zugleich das Recht des Vorſitzes in denſelben. Gine 
eigentliche äußere Leitungsgewalt fommt dem P. nad) protejtantifchem ebenjomwenig 
wie nach fatholifchem Kirchenrecht zu. Jedoch nicht deshalb, weil etwa den höheren 
Behörden (Konfiitorien) kraft göttlichen Rechts die Jurisdiftion zuftände, jondern 


Pfeffinger — Pferchrecht. 58 


weil in Folge der hiſtoriſchen Entwickelung die Leitung der kirchlichen Angelegen— 
heiten in die Hände der Landesherren und der von ihnen deputirten Behörden gelangt 
iſt, endlich auch der Kreis der vom P. ſelbſtändig zu erledigenden Angelegenheiten, 
foren nicht ein vollſtändiger Independentismus der einzelnen Seelſorger und ihrer 
Gemeinden befürwortet werden joll, der Natur der Sache nad) nur ein eng be= 
grenzter fein kann. Bielmehr iſt das Piarramt als jolches infofern ein durchaus 
jelbftändiges, als es das einzige prinzipiell nothwendige in der evangelifchen Kirche 
ft und nicht wie das fatholifche als bloßes Hülfsamt eines anderen (des biſchöf— 
(ihen Amtes) ericheint. Der oben erwähnte Grundſatz: Quidquid est in parochia, 
est de parochia gilt auch in der evangelifchen Kirche, jedoch ift das Prinzip bier 
noh mehr durchbrochen, wie in der fatholifchen Kirche. ©. übrigens ferner Th. I. 
©. 673, 680 und den Art. Kirchengemeinde. 

Quellen u. Lit.: Tit. X. de parochiis III. 29. — Conc. Trident. Sess. 5 de reform. 
c. 2. — Sess. 23 de reform. c. 1; Sess. 24 de reform. c. 4, 7, 18. — Kathol. Kirchen— 
reht: Aug. Barbosa, De officio et potestate parochi, Lugd. 1647 u. d. — Helfert, 
Don den Rechten und —— der Pfarrer, Prag 1832. — Baldauf, Das Pfarr⸗ und De: 
tonatdamt, Gräß 1836, 6 Bde. — Schefold, Die Parochialrechte, Stuttg., 2 Bde. — Seik, 
Das Recht des Pfarramtes der fatholiichen Rechte, 2 Bde. in 3 Thln., Regensb. 1840—42,. — 
P. Hinfhius, Kirchenrecht, II. 291. — Proteftant. Kirchenrecht: J. H. Boehmer, 
Jus parochiale, Hal. 1701. P. Hinſchius. 


Pfeffinger, Johann Friedrih, & 5. V. 1667 zu Straßburg, wurde 
Iniveftor der Akademie zu Lüneburg, Großbritann. Rath, T 27. VIII. 1730. 
Schrift: Vitriarius illustratus h. e. Institutiones jur. publ. Rom. Germ. antehac a 
Vitriario editae, Frib. 1691; Gotha 1698, 1712—1730, 1739 Argifier von Riccius, 1741). 
git.: Jugler, IV. 177. — Pütter, Xitt., I. 2830-282. — Mohl, II. 243. 
Teihmann. 


Pfeiffer, Burd. Wilh., 5 7. V. 1777 zu Kaſſel, wurde 1814 Reg. Rath, 
1817 AGRath dafelbit, ging nad) Lübeck, nach Wilhelm's I. Tode zurüd nach Kaſſel, 
politiich wirffam, T 4. X. 1852. 

Schriften: Vermiſchte Auffäge über Gegenftände des Römifhen und Deutichen Rechts, 
Marb. 1802. — Ueber die Grenzen der Patrimonialjurisdiftion, Gött. 1806. — Mit feinem 
jüngeren Bruder: Napoleon’3 Geſetzbuch nad) feiner Abweihung von Deutichlands Gemeinem 
Recht. Gött. 1808. — been zu einer neuen Gefeggebung für Deutiche Staaten, Gött. 1316. — 

wiefern find die Regierungshandlungen eines Zwiſchenherrſchers für ben rechtmäßigen 

egenten nach deſſen Rücklehr verbindlih? Hann. 1819. — Neue Sammlung bemerfens» 
werther Entjcheidungen des Appell.Ger. Kaflel, Hann. 1818—20. — Praftijche Ausführungen 
aus allen Theilen der Rechtäwifienichaft, Hann. 1825—44. — Dad Recht ber Kriegderoberung 
in Bezug auf Staatäfapitalien, Hann. 1826. — Ueber die Orbnnung ber Re — 

nn. 1826. — Geſchichte der landſtändiſchen aa Se in Kurheſſen, Kaflel 1834. — Das 

utiche Meierrecht (1848), 2. Aufl. Kaffel 1855. — Der alte und der neue Bundestag, Kaſſel 
1851. — Die ran be3 — Kaſſel 1851, 2. Aufl. Gött. 1865. — Zeitſchr. 
für Deutſches Recht, VIII., IX. u. XIII. 

Lit: Hünersdorf in der Zeitichr. für Deutiches Recht, XIV. 432—447. — Kalten: 
born, Gefchichte der Deutichen Bunbesverhältnifie, Berl. 1857, Bd. II. 413. 

Zeihmann. 


Pferchrecht (Hürdenichlag; IH. I. S. 501) iſt das Recht eines Grundſtücks— 
befiger®, zu verlangen, daß eine Schafheerde auf feinen Aedern des Düngers wegen 
in Hürden geftellt werde und daſelbſt lagere; oder das Necht des Gigenthümers 
einer Schafheerde oder des Schäfereiberechtigten, jeine Schafe auf fremden Grunditüden 
lagern zu laffen. Das erſtere erjcheint entweder als ein perfünlicher Anſpruch oder 
als ein Realrecht; das zweite ebenfalls als ein perjönlicher Anfpruch oder als eine 
Prädialjervitut. Dagegen kann weder das eine noch das andere Recht als eine uns 
mittelbare Folge der Weidegerechtigkeit angejehen werden; es kann den Hürdenſchlag 
ohne beionderen Erwerbsgrund weder der Weideberechtigte auf den dem Weiderecht 
unterliegenden Grundjtüden, noch der Gigenthümer der legteren von dem Weide: 
berechtigten beanjpruchen. Zumeilen jteht das P. in der erjteren Bedeutung der 
Gemeinde zu, und dieje überläßt es aladann ihrerjeits in der Regel gegen eine Ab- 


54 Pfizer — Pflittheilsberehnung. 


gabe (Pierchgeld) nach einer beitimmten Reihenfolge allen oder einzelnen zu ihr 
gehörigen Grundbeſitzern. 

Lit. Hagemann, Handbuch des Landwirthſchaftsrechts (Haun. 1807), $ 316. — 
Bülow u. agemann, Pralt. Erörterungen, VII. 18. — Reyſcher, Das — 
Württemb. zn (2. Aufl. Zübing. 1846 ff.) I. ©. 49 ff. — Seuffert's Ard. 
Nr. 181; XVIL Rr. 8 Lewis. 

Bier, Be Achatius, 5 12. IX. 1801 zu Stuttgart, jtud. in Tü- 
bingen, 1827 Oberjuftizaffeffor, ichied 1831 aus, fieben Jahre lang Mitglied der 
Württ. Kammer; bemüht, die Mängel der Bundesverfaffung und die Mißgriffe der 
bundestäglichen Reaktion zur Grörterung zu bringen, furze Zeit Kultusminifter, Mb» 
georbneter in die Deutiche Nationalverfammlung, trat 1851 wieder ala Oberjujtiz- 
rath ein, 1858 in Ruheſtand, F 30. VII. 1867. 

Schriften: Briefwechiel zweier Deutihen, Stuttg. 1831, 2. Aufl. 1832. — Gebanten 
über da3 Ziel und bie ae bes Deutichen Liberalismus, Tüb. 1832. — Ueber die ſtaats⸗ 
rechtlichen Verhältnifſe Württembergd zum Deutichen Bunde, Strahb. 1832 (Antrag vom 
27. Juli 1833, Stuttg. 1833) — —— betr. Bundestagsbeſchlüſſe dv. 28. Juni 1832, Stuttg. 
1833. — Ueber die Entwidelun Hr ntlihen Rechts in Deutichland durch bie Verfaffung 
des Bundes, Stuttg. 1835. as —X der Steuerverwilligung, Stuttg. 1836. — Gedanken 
über Recht, Staat und Skicche, Stuttg. 1842, — Das Vaterland ꝛc., 1845. — Deutichlanda 
—— = Jahre, 1881, — 1851. — Yur Deuiſchen Verfaffungsfra e, Stuttg. 1008, 

Mohl, U. 274, 372. Zune Die Deutiche Nationa verfammlung, II 
98.- — Ru tel, —8 der Deuiſchen nheitsbeſtrebungen bis zu ihrer Erfüllung, Ber 
1872, 1. 279. Teihmann. 


Hflicztipeilöberediuung (Th. I. ©. 462). Den Pflichttheil konnte das 
Römiſche Recht nur als eine Quote der Jnteftatportion auffaffen und beftimmen ; 
denn das Pflichttheilsrecht war die materielle Reaktion des geſetzlichen Grörechts 
gegen eine jchrantenlofe Teftirfreiheit, deren Gebrauch als ebenjo lieblos wie un— 
vernünftig, jomit ala Pflichtwidrigfeit, Mißbrauch erichien. Die Praris des Centum— 
viralgerichts fand für die Größe der Pflichtquote beftimmteren Anhalt in der Fal— 
eidiichen Quart, alfo in einem Viertheil der Inteftatportion. Erſt allmälig entfernte 
fi) die Berechnung des Pflichttheils von diefem Ausgangspunfte, der infofern nicht 
zutraf, als bei der Tyalcidia der Erbe nur Vermächtnignehmern, bei dem Pflichttheil 
der Geſetzeserbe auch dem eingeſetzten Erben gegenüberſtand. Juſtinian war im 
Recht, wenn er jene Pflichttgeilsquart zu niedrig fand, namentlich wo Jemand viele 
Prlichttheilsberechtigte hinterließ, deren Erbportion ſchon an fich geringfügig war. 
Dazu fam, daß in den Pflichttheil mehr eingerechnet wurde als in die Falcidia, 
jener aljo oft geringer ausfiel als diefe. Bei Erhöhung des Pflichttheilmaßes in Nov. 
18 vom Jahre 536 beging jedoch der Kaiſer das erflärliche aber unleugbare Ver— 
jehen, feinem Pflichttheil zwei verfchiedene progreffive Größen zu Grunde zu legen, 
nämlich */, der Intejtatportion, wenn diefe weniger als ein Viertheil des Nachlafjes 
beträgt, ſonſt %/,. Auf der Grenze beider Größen war der logiiche Fehler unver= 
meidlich; man denke fich folgende Skala: Yz, Ya, Ya, He, Yıo, Yız ı. Gleicher 
Vorwurf trifft neuere Gejeßgebungen (ſ. unten). Mit Unrecht wird behauptet, 
Juftinian’s Beſtimmung habe Lediglich Defcendenten, nicht alle Pflichttheilserben, im 
Auge. Werner: der Kaifer, oder gar jchon das frühere Recht, berechne den Pflicht- 
theil kollektiv, d. h. für alle Pflichttheilserben zufammen als Quote des gefammten 
Nachlaffes, und nicht vielmehr diftributiv, d. h. für jeden Einzelnen ala Quote feiner 
Inteftatportion. Die Nichtigkeit der letzteren Berechnungsart ift längft erwieſen, 
namentlich dadurch, daß nach erjterer nicht felten der Pflichttheil größer fein würde 
als die Inteſtatportion ſelbſt; auch der Schein des Gegentheils ſchwindet, wenn 
man bedenkt, daß in dem OQuellenbeiſpiele (mehrere Kinder) beide Berechnungen 
gleiches Ergebniß liefern, was den bequemen aber falſchen Ausdruck begreiflich macht. 
Bei Enkeln iſt die Pflichttheilsgröße noch heute beſtritten: folgerichtig erſcheint die 
Anſicht, wonach zunächſt die Stammtheile der Inteſtaterbfolge allein entſcheiden, 
dann aber die Quote der verſchiedenem Stamme angehörenden Entel ıc. für jeden 
Stamm bejonders zu berechnen ift, alfo verichieden ausfallen fann. Nach gleichern 


Pfordten. 55 


Grundſatz bejtimmt fich der Nicendentenpflichttheil. Immer ergiebt fich die In— 
teftatportion des einzelnen Pflichttheilsberechtigten durch Mitzählung aller derer, 
welche bei geſetzlicher Erbfolge deſſen Miterben fein würden, gleichviel aljo, ob recht= 
mäßig enterbt, ob ihnen Pflichttheilsrecht zufteht; doch gehört nicht hierher die arme 
Wittwe, indem diefer dad Röm. Recht weder Inteftaterbrecht noch Pflichttheil, jondern 
einen außerordentlichen, durch Vorabzug vom reinen Aktivnachlaß zu befriedigenden 
gefeglichen Singularanfpruch beilegt. Iſt jonach des Einzelnen Pflichttheilsguote 
ermittelt, dann ergiebt fich 1) deren reeller Betrag a. aus dem Nachlaßbeitande zur 
Todeszeit, aber b. unter Einrechnung alles defjen, was der Berechtigte aus des Erb» 
laſſes Bermögen von Todeswegen erhält (mach richtiger Anficht auch des durch 
jegliche Anwachfung und Bulgarfubftitution ihm Zufallenden), jowie deifen, was ihm 
mit diefer Beitimmung unter Lebenden ausdrüdlich oder ftillfchweigend (jo Dos, 
Eheſchenkung, Berufsausftattung) vom Ctblaffer zugewendet ift; 2) ob diejer reelle 
Prlichttheil dem Berechtigten irgendwie leßtwillig, aber unverfürzt Hinterlaffen worden. 
Aus leßterem folgt, daß jede Belaftung und Beſchränkung, joweit fie die portio 
debita treffen würde, geftrichen wird, und nur für den etwaigen Weberfchuß fort— 
beiteht. Hierauf bezieht fich die nach dem Marianus Socinus (F 1556) benannte, 
aber bereits im Röm. Recht enthaltene og. cautela Socini, die dem Erblaffer an- 
räth: entweder den Pflichttheil ohne onus, oder mehr und mit onus auf dem 
Ganzen, und ſomit dem Berechtigten die Wahl zwifchen beiden zu hinterlafen. 
An diefer P. Hat die Verſchmelzung des formellen und materiellen Notherbrechts 
durch Juftinian in der Nov. 115 nichts geändert. — Die neueren Gefeßgebungen, 
welche nur PflichttHeilsrecht anerkennen, dafjelbe auf Defcendenten und Aſcendenten 
beichränfen, dieſen den Ehegatten und gewifje öffentliche Anftalten (und zwar bald 
mit PflichttHeilsrecht, bald mit außerordentlichem Erbrecht) zugefellen, haben die 
Ginrehnung in den PflichttHeil im Einzelnen umgeftaltet; jo bringt das Sädj. 
BGB. alle Konferenda der Dejcendenten in Anrechnung. Die Beitimmungen diejes 
Geſetzbuchs, noch mehr als die des Preuß. ER., trifft der Vorwurf übertriebener 
Breite, ferner daß fie bei Defcendenten (der Code civil auch bei Ajcendenten) den 
Fehler der verjchiedenen Duotengröße verewigen. Das heutige Pflichttheilsrecht 
bedarf der Vereinfachung, im Anfchluß entweder an die portion disponible des Code 
eivil, oder (was vorzuziehen) an die durchweg jachgemäßen Bejtimmungen des 
Oeſterr. BGB., welches dem Defcendenten die Hälfte, dem Afcendenten ein Dritt— 
theil jeines gejeglichen Erbtheils zufpricht; nur wäre leßtgenanntes Recht auf Eltern 
zu beichränfen. Dem Ehegatten jollte man feinen Pflichttheil, jondern eine außer: 
ordentliche VBorabzugsquote, bzw. den mangelnden Unterhalt aus der Maſſe ges 
wä 

it. u. Quellen: —— an ber a xc., 88 17 ff. — Schröder, Dad 
Notherbenreht, Abth. I. (1877) S de ff. — Glüd, Bd. VII. u. XXXV. — Wind: 
ſcheid, * u 88 580 ff. — Inst. 2 ‚18.—D.5, 2 — 0.338 — Nov. 18 c. 1. — 
Nov. 89 c. 12'8 3. — Preuß, aus. ER. II. 2 98 391 fi., 501 ff.; II. 1 $8 681 f — Oefterr. 
BEB. 88 762, > 784 f. — ar BER, ss 2564— 2617. — Code civ. . 913 ss. — 
Mommien, Erbr.:Entw., SS 471 ff. Schüße. 

Dfordten, Ludwig Karl Heinrich von der, & 11. IX. 1811 zu Ried 
im Innviertel, jtud. in Erlangen u. Heidelberg, 1833 Dozent in Würzburg, 1836 
ord. Prof., 1841—43 Appellationsgerichtärath in Aichaffenburg, dann Profeſſor in 
Leipzig an Puchta’3 Stelle 1848—49 Königl. Sächſ. Minister des Auswärtigen 
u. des Kultus, gab in Folge der Kammerverhandlung über die Anerkennung der jog- 
Deutfchen Grundrechte Februar 1849 feine Entlafjung, war dann von April e. a. 
Minifter in Bayern bis April 1859, nachmals Bayer. Bundestagsgejandter in Frank— 
ut a/M., 1864 Borfigender im Bayeriſchen Mtinifterrathe, jchloß 14. VI. 1866 
den Olmützer Allianzvertrag mit Oefterreich, 22. VIII. e. a. aber mit Preußen nad 
Annahme des Schuß- und Trugbündniffes einen günftigen Frieden, 29. XII. 1866 
entfaffen, F 18. VII. 1880. 


56 Pfründe — Philippi. 


Schriften: De praelegatis, Erl. 1832, — Abhandl. aus bem Panbeltenrecht, Erl. 
1840. — Botum über die Erbfolge in Schleawig-Holftein, 1864, (2) Braunſchw. 1865 (franz. 
— 1864). — Studien zu Kaiſer Ludwig's Oberbayer. Stadt- und Landrecht, —— 
875. — Ztſchr. für Rechtsgeſchichte, Bb. XII. 346—430. — Archiv für civil. Praxis XXI. 
©. 6 fi.; XXIV. ©. 108 ff. 

git.: Krit. V.J.Schr. XVII. 460467. — Revue de droit international IX. 299; XI. 
550. — Illuſtr. Leipz. Ztg. Nr. 1941. — Riezler, Geichichte Bayerns, Gotha 1880, Bd. 2 
©. 544. — Klüpfel, Sefhichte ber Deutſchen Einheitäbeftrebungen 1848 -71, Berlin 1872, 
1873. Teichmann. 


Pfründe bedeutet im katholiſchen Kirchenrecht einmal ſoviel, wie Präbende 
(j. diefen Art.), ferner aber das feſtſtehende, unter kirchlicher Autorität mit einem geiſt— 
lichen Amt verbundene Recht des lebenslänglichen Nießbrauches an einem gewiſſen 
Theil des Kirchenvermögens, und da für die‘ Regel mit jedem Kirchenamt (Bene- 
ficium, ſ. diefen Art.) ein bejtimmtes+ Einfommen verbunden jein ſoll, endlich 
auch jo viel wie beneficium. P. Hinſchius. 


Pfyffer, Kaſimir, & 10. X. 1794 zu Rom, wo fein Bater Hauptmann 
der Schweizergarde war, 1798 mit den Eltern nach Luzern heimgefehrt, ftudirte in 
Tübingen 1813, mußte bald (1814) zurüd, um als Vizeverhörrichter u. Redaktions— 
gehülfe (Regierungsfekretär) einzutreten, auch Fürſprech. 1819 erhielt er einen Lehr: 
ſtuhl des Rechts u. vaterländ. Gejchichte übertragen, für welches Amt er fich noch 
in Heidelberg und Tübingen bis 1821 vorbereitete. 1824 legte er die Profefiur 
nieder, hielt aber an der polytechnifchen Anjtalt 1829—36 juriftiiche Vorträge. 
Sehr bald in das politische Leben eintretend, machte er fich um freiheitlichere Ge- 
jtaltung des Staatsweſens höchſt verdient, bejonders auch ala Gejeßgeber feines 
Kantons bis zu den 60er Jahren und durch Mitwirkung bei der Bundesgejehgebung. 
1831—41 war er Obergerichtspräfident, jaß auch 1851—71 im Obergericht, war 
lange Jahre Mitglied d. Bundesgerichts, 1854 Präfident d. Nationalrates. Goch» 
betagt feierte er 1871 fein 50jähr. Doktorjubiläum, F 11. XI. 1875, nachdem die 
Bundesverfafjung von 1874 Vieles verwirklicht, was er ſchon 1831 befürwortet 
hatte. 

Scäriften: De variis caventium pro aliis — Tub. 1821. — Die Bürg: 
fchaft nad) ben * bes Kantons Luzern, Tüb. 1. — Ueber Preßfreiheit und Publizität, 
Luz. 1828. — Zuruf an den eidgen. Vorort Luzern, 1831. — Ueber die iyol en ber neuefien 
Staatöreform in ber Schweiz, Züri 1831. — Erläut. des bürgerl. Geſetzbuchs, 1832—51. — 
Ueber das neue Erbrecht, 1835. — (Mit Baumgärtner) Reden über Bundesreform, 1835. — 
Rechtäfreund für den Sant. Luzern, 1842. — (Mit Zurgilgen) Anleitung zur Führung von 
Unterjuchungen in Strafſachen, 1843 und 1846. — Der Sempacher Strieg, 1844. — 
Dr. 3. R. Steiger und deſſen Staatäprozeh, a 1845. — Meine Betheiligung an ber 
Leu'ſchen Mordgeſchichte, Zürich 1846, Vachtr. 1848. — Aktenmäßige Darftellung merfwürdiger 
Kriminalrechtäfälle, Zürich 1846 (mit Zurgilgen) — Beleuhtung der Ammann'ſchen Unter: 
fuchungsmethode und Betrachtungen über das Strafrehtäverfahren überhaupt, Zürich 1847. — 
Geihhichte des Kantons Luzern bis 1848, Zürich 1850—52, N. U. 1861. — Stanton Luzern 
hiſtoriſch, geographiſch und ftatiftiich geichildert, 1858, 59. — Sammlung kleinerer Schriften 
nebft Erinnerungen aus feinem Leben, Zürich 1866. — Die Stantäverfaffung des Slantons 
Luzern und deren Revifion, Luz. 1870. — Kriminal: und Polizeiftrafgejeßbuch erläutert, Yırz. 
1860. — Da3 Strafverfahren des Kantons Luzern, Luz. 1866. 

Lit.: Dr. Kafimir Pfyffer, Biogr. Skizze, Luzern 1875. — v. Orelli, Rechtsſchulen 
und Rechtsliteratur, Zürich 1879, ©. 69, 102. — Blumer, Handbuch des Schweizeriſchen 
Bundesſtaatsrechts, (2) Schaffh. 1877, I. 70. — Secretan, Galerie, t. a“ 

eihmann. 


Philippi, Joh. Friedrich Hektor, 5 16. III. 1802 zu Hannover, 7 in 
Poppelsdorf bei Bonn in der Nacht zum 1. Januar 1880 als Geh. Oberjuftizrath 
u. Präfident des Landgerichts in Elberfeld. 

Schriften: Die Civilftandägejeße in_der Preuß. Rheinprovinz, Grefeld 1837, (3) Elberf. 
1865. — Die Vormundichaft in der Preuß. Rheinprovinz, Elberf. 1858, (2) 1870. — Verſuch 
über das Hypothelenrecht, Elberf. 1360. — Ueber den Entwurf einer Prozeßordnung in 
bürgerlichen gar Eiberf. 1869. — Zu dem Entiwurfe eines Geſehes über das 
Vormundichaftsweien, Elberf. 1871. Teihmann. 


Bhillimore — Pinto, 57 


Bhillimore, John George, & 1809, Advokat in Oxford, Repetitor des 
Givilrechtse am Middle-Temple, 1852 ins Parlament gewählt, 27. IV. 1865. 


Schriften: Private Law among the Romans. — Introduction to the study and history 
of Roman Law, 1841. — History and Principles of the Law of Evidence, 1840. — History 
of England during the reign of George III, 1863. 

Lit.: Pierer’3 Jahrbücher III. Bd., Altenburg 1873, ©. 418. — Beſt's Grundzüge des 
Beweisrechts, Heidelb. 1851, Bb. XXIII. — Cates, Dictionary, 1867, p. Ar 

eihmann. 


Phillips, Georg J. 5 6. I. 1804 in Königsberg, ftud. in Berlin u. Göttingen, 
promovirte 1824, wurde 1826 Dozent, 1827 Profeffor in Berlin, im Jahre 1834 
tolgte er einem Rufe nach München; nach den auch die Univerfität München jehr 
lebhaft berührenden Vorgängen des Jahres 1848 aber war er durch feine ultra= 
montane Richtung bewogen, einem Rufe an die Univerfität Innsbruck Folge zu 
leiſten. Derjelbe redigirte als Nachfolger von Görres die „Hiftorifch-politischen 
Blätter“. T zu Wien 6. IX. 1872. 


Schriften: Ueber Erb: und Wahlrecht mit beſonderer Beziehung auf das Germaniiche 
Rönigthum, 1836. — Deutiche Geichichte, 2 Bbe., 1832—34. — Die Lehre ber ehelichen Güter: 
* chaft, 1830. — Engl. Reichs- und Rechtsgeſchichte ſeit der Ankunft der Normannen 
066, 2 Bde., 1827. — Verſuch der Darſtellung der Geſchichte des Angelſächſiſchen Rechts, 
1825. — Urfprung des Regalienrechts in Frankreich 1870. — Das Regalienrecht in Frankreich, 
1873. — Abhandl. zur Geſchichte der Univerfität Ingolſtadt, 1846. — Beiträge zur Geichichte 
Deutihlands von 877—936, 1842. — Erörterung: Hat ſeit ber Ufurpation des Deutichen 
Königdthrones durch Arnulph 887 bis zum Auäfterben der Sächſ. Kaiſer die Karolingiſche 
Verfaſſung fortgedauert ?, 1837. — Grunbjähe bed gemeinen Deutichen Privatrechts mit Einſchl. 
des Lehnrechts, 2 Bde., 1. Aufl. 1829, 2. Aufl. 1838, 1839, 3. Aufl. 1846. — Ueber Orbalien, 
1847. — Die Deutiche Königswahl bis aus goldenen Bulle, 1858. — Die große Synode von 
Zribur, 1865. — — 7 Bbe., 1845—1869. — Deutſche Reichs- und Rechtsgeſchichte, 
1. Aufl. 1845, 2. Aufl. 1850, 3. Aufl. 1856, 4. Aufl. 1859. — Die Diözeſanſynode, 1. Aufl. 
1849, 2. Aufl. 1850. — Der Urfprung der Katzenmuſilen, 1849. — Lehrbuch des Kirchenrechts, 
2 Bbde., 1. Aufl. 1859-1862, 2. Aufl. 1871. — Vermiſchte Schriften, 1856—1860 (3 Bbe.). — 
Dad bastifche Alphabet ꝛc., 1870. — Codex Salisburgensis, Beitrag zur Geichichte der Vor— 
Gratianiſchen Nechtäquellen, 1864. 

Lit.: Brantl, Geichichte der 2. M. Univerfität, 1872, Bd. II. ©. 527 Ih N 

ezold. 

Billins, 5 zu Medicina bei Bologna, trat als Lehrer in Bologna auf, ging 
nah Modena, wo er das Bürgerrecht erlangte, T nach 1207. Sigle py u. pi. 

Schriften: Glossae. — Quaestiones. — Disputationes (Brocarda). — Summa ad tres 
libros Codicis. — De ordine judiciorum (gejchrieben nach 1198), 1543 (Pillii, Tancredi, Gratiae 
libri de judiciorum ordine ed. F. Bergmann, Gott. 1842). — De testibus. 

Yit.: Savigny, IV. 312—353. — Bethbmann-Hollweg, Eiv.Prz., Bd. VI ©. 15, 
70-76. Zeihmann. 


Pinheiro-ferreira, Silveitre, & 31. XII. 1769 zu Lifjabon, in ver 
Ihiedenen diplomatischen Stellungen, eine Zeit lang in Brafilien, F 1847 zu Paris. 
Er ſchrieb: Observations sur le Manuel diplomatique du baron Ch. de Martens, Par. 
1827. — Cours de droit public interne et externe, Par. 1830--38. — Notes au Precis du 
droit des gens par M. de Martens, 1832. — Notes au droit de la nature et des gens par 
Vattel, 1832. — Observ. sur le guide ge de M. de Martens, 1833. — In Portug. 
Sprache: Projet des lois organiques du Portugal et la constitution du Bresil, 1832. — 
Opinion et projets conc. le retablissement d’un gouvernement reprösentatif en Portugal, 
532. — Projet de code politique pour la nation portugaise, 1832. — Observ. sur la 
constit. du Brésil et la charte constitut. du Portugal, Par. 1835. — Declaration des droits 
et devoirs de l’homme et du citoyen, Par 1836. — Observ. sur la constitution portugaise 
de 1822, Paris 1836. 

git.: Michaud. — vet Diplomates et publicistes, Par. 1856, p. 5l—70. — 
Vohl, I. 304, 387, 390, 392. — Galvo, (3) I. 96. — Revue un et frangaise, 
IV. 75. eihmann. 


Pinto, Abraham de, 5 27. V. 1811 im Haag, promovirte 1835 zu 
Leyden, wurde Advolat, 1863 Dekan des barreau im Haag, T 25. V. 1878. Gr 
war 40 Jahr Redakteur der Themis, die zahlreiche Beiträge von ihm enthält, u. 


58 Pirding — Piſtoris. 


begründete das Weekblad van het Regt 1839 ff., Mitglied von Geſetzgebungs— 
fommiffionen, Förderer der Sache der Juden. 

Schriften: De causa obligationis C. C. 1131—1133, Traj. ad Rhenum, 1835. — De 
Callistrati Icti scriptis, L. B. 1835. — Handleiding tot bet Burgerlijk Wetboek, 'sGraven- 
hage 1838, (5) Utrecht 1875; tot het Wetboek van Koophandel 1841, (3) Utrecht 1876; 
tot de Wet op de Regterlijke Organisatie en het Beleid der Justitie, 1844; tot het Wet- 
boek van Burg. Regtvordering 1845 u. 1857; tot het Wetboek van Strafvordering 1848; 
tot de Wet op den —— van de vroegere tot de nieeue wetgeving, 1850. — Regterlije 
Organisatie, 1851. — Nederlandsche staatswetten, 1859. — Adviezen, Utrecht 1862. 

git.: Weekblad van het Regt Nr. 4240 vom 30. Mai 1878. — Mr. A. de Pinto, her- 
dacht door Mr. A. A. de Pinto, ’sGravenhage 1879 (Themis, 40. deel, 4. stuk). — Nieuwe 
Rotterdamsche Courant van 5. Juni 1878. — Allgem. Juriftenzeitung von Mayer und 
Stall, 2. Jahrg. Nr. 26, ©. 383, 384. Zeihmann. 


Pirhing, Ehrenreich, 5 1606 zu Sigarten in Bayern, trat 1628 in den 
Jeſuitenorden, lehrte zu Dillingen, war Rektor des Kollegs in Eichftädt, Domprediger 
in Regensburg, T 1690. 

Schriften: De jurisd. et pot. praelat. et rect. eccl. episcopis inferiorum, 1633. — 
De Jure scripto et non scripto, 1644. — De jurisd. et pot. ordin. jud. seu praelati eccl., 
1652; de jurisd., off. et pot. jud. deleg., 1664. — De rescriptis, 1665. — De constit. et 
consuet., 1666. — De renuntiat. benef., 1667. — Univ. jus canonicum, Dilling. 1645, 
1674—78, 1722; Venet. 1759 (Facilis et succincta canonum doctrina, Dil. 1690; Augsb. 
zu: Venet. 1693, 1711). — Apologia s. defensio Caesaris, Ingolst. 1652; deutſch München 


Sit.: Schulte, Geſchichte, IT. a ©. 148. Teihmann. 


Bifanelli, Giujeppe, 5 23. IX. 1812 zu Tricore in Terra d’Otranto, wurde 
im Alter von 20 Jahren Advokat in Neapel, begründete 1840 mit Roberto Savarefe 
eine Rechtäfchule, aus der die hervorragendſten Rechtögelehrten, Advofaten u. Richter 
des Südens Italien hervorgingen, befürmwortete im Neapol. Parlamente von 1848 
Abichaffung der Todesſtrafe und Juryeinführung; flüchtete nach Frankreich, dann 
nach Turin, 1860 Minijter Garibaldi’s als Diktators in den beiden Sizilien, dann 
unter Farini Chef der Yuftiz, 1861 Mitglied des Parlaments, Vertreter d. Politik 
Gavour’s, Profefjor in Neapel. Nach dem Sturze Rattazzi's (1863) bejorgte er die 
Vorarbeiten zum Codice Civile Italiano, deffen Ginführung fein Nachfolger im 
Yujtizminijterium, Vacca, vollzog. Nunmehr wieder in die Advofatur tretend, T 5. 
IV. 1879. 

Scäriftenr Della pena di morte, (3) Torino 1849. — Dell’ istituzione dei giurati, 
Torino 1856. — Del duello, Torino 1859. — (Mit Mancini und Scialo je) Commento 
al codice di procedura civile degli Stati Sardi. — Progetto del Codice Civile, Torino 
1863. — Dei progressi del diritto civile in Italia nel sec. XIX., Milano 1872. 

&it.: Pessina, Opuscoli, 1874 p. 119, 201. — Pacifici-Mazzoni, Istituzioni di 
diritto civile italiano, (2) Firenze 1874. I. 116. — Mittermaier, Erfahrungen über bie 
Wirkſamkeit der Schwurgerichte, Erl. 1865, S. 30, 566, 572. — Geyer, Lehrbuch bes gen: 
Deutſchen Strafprozeßrechts, Leipz. 1880, ©. 216, 217 Note. — La Mantia, Storia della 
Legislazione di Sicilia, Palermo 1874, II. 376 nota 2, 383 nota 2, 385 nota 3, 393 nota 
2. — Brusa, Appunti per una introd. al corso di dir. e proc. penale, Torino 1880, p. 131, 
215. — Luigi Sampolo, Commemorazione, Palermo 1881. Teihmann. 


Piſtoris, Simon, & 28. X. 1489 zu Leipzig, wurde, nachdem er in Pavia 
und Leipzig ftudirt, 1515 Doctor juris u. Professor Codicis, dann Mitglied des 
Oberhofgerichts, 1523—37 Kanzler des Herzogs Georg, trat in das Ordinariat 
zurüd, von 1542 an Kanzler bei Herzog Morik, von Karl V. in den Reichsritter- 
itand erhoben, zulegt „Rath von Haus aus“ in Dienften des Kurfürſten August, 
7 3. XI. 1562. — Gonfilien von ihm in der Sammlung feines Sohnee Mo = 
deſtinus. 

Sein Sohn: Modeſtinus, & 9. XII. 1516 zu Leipzig, ſtudirte in Leipzig, 
Pavia und Padua, wurde Prof. in Leipzig, Kurfürſtl. Rath, Stadtrichter, Bürger- 
meifter, T 15. IX. 1565. 


Pitaval — Pizzamiglio. 59 


Schriften: Index locorum communium (Reusner, Cynosura, I. 131 ss.). — Consilia 
s. responsa juris, Lips. 1586— 88, 1596—99 — Quaestiones c. addit. Schultesii, Lips. 
1599, 1600—1613. — Processus juris opera Ch. Crusii, Magdeb. 1623, 1630. — Responsa 
juris ex bibl. J. B. Mansonii, Jenae 1659. 

Yit.: Vita auct, J. a Beust, Viteb. 1585. 


Sein zweiter Sohn: Hartmann, Bruder des Vorigen, 5 1543, wurde Bei: 
fiter des Oberhofgerichts u. Schöppenftuhls zu Leipzig, dann Mitglied d. Geheimen 
Raths u. Appellationsgerichts in Dresden, 7 1. III. 1601. 

Schriften: Quaestiones juris tam Rom. quam Saxonici, 1579—1593 (1596—98), ed. 
Simon Ulrich P.,, Lips. 1609. — Opera omnia, Lips. 1629, . et Francof. 1679. 

git.: v. Gerber, —— d. funfzigjährigen Profeſſor-Jubiläums v. Wächter's, he 
1869. — Schletter, Zur Geichichte der Saͤchſiſchen Suftigpflege (Beitr. zur Deutichen, inäbel. 
Sãchſiſchen Tr I. 1845). — v. Stinging, Geſchichte dev Deutichen Rechtswiſſen⸗ 
ihaft, 1880, I. 128, 566—570. Zeihmann. 

Bitaval, Francois Gayot de, & 1673 zu yon, wurde 1713 Advofat, 
11743. Belannt durch: Causes celebres et interessantes, Paris 1735 ss.; Bäle 
1747, 1748; deutſch: Erzähl. jonderbarer Rechtshändel, Leipz. 1747—68. Eine 
Fortjegung veranjtaltete der Parlamentsadvofat François Richer (& zu Aoranches 
um 1718, T zu Paris 1790), Amiterd. 1772—88; abgefürzte Samml. Pitaval’g 
(Faits des causes c&l&bres et interessantes, Amsterd. 1757) von fr. Aler. de 
Sarfault (f 1778). Eine Deutiche Ueberjegung des Richerichen Werkes (Jena 
1792—95) wurde von Schiller mit einer VBorrede begleitet. Hitzig u. Häring 
veröffentlichten eine ähnliche Sammlung: Der neue Pitaval, Leipz. 1842 ff. (von 
Bd. 31 ab Herausg. von Vollert). Eine Auswahl aus legterem Werke: Die 
intereffanteften SKriminalgeichichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit, von 


Vollert (2), Leipz. 1872—73. 
git.: Michaud. — Dupin, Prof. d’avocat, II. Nr. 1303. TZeihmann. 


Pithoeus, Franziskus (Pithou), 5 1543 zu Troyes, war Kanzler zu 
Varis, F 1621. Mehr Kanonift als Romanift. 

Schriften: De la grandeur, des droits, pre6&minences des rois et du royaume de 
France, Troyes 1587. — Comm. in 1. libr. Cod.; in Novellas; in Cod. can. veterum ecel. 
rom. ed. Pelletier, Par. 1687. — Liber legis Salicae, 1602 (Glossarium). — Capitularia 
reg. Francorum. — Gr gab mit feinem Bruder Petrus das Corp. jur. can. heraus: c. 
notis Petri et Fr. Pithoeorum ed. le Pelletier, Par. 1687; Lips. 1695, 1705; Aug. Taur. 


1746. 

Sein Bruder Petrus P., & 1. XI. 1539 zu Troyes, ging nach Bourges 
und folgte Gujas nad) Valence, trat beim Parifer Parlament ala Advokat ein, 
entging den Verfolgungen in der Bartholomäugnacht, trat einige Zeit nachher zur 
tatholischen Kirche über, war Generalprofurator zuerjt zu Gayenne, dann zu Paris, 
begab fih, um einer Epidemie zu entgehen, nach Nogent jur Seine, T dajelbit 
1. XI. 1596. 

Schriften: Opera sacra, juridica, historica et miscellanea, ed. Labbe, Par. 1609. — 
Les libertes de Peglise — Par. 1594—1609, in ben Preuves von Dupuy, von Du- 
rand de Maillane, Me&moires de la Ligne t. v., von Dupin, 1824, 1826, ım Manuel 

. 1-92. — Annalium et hist. Francorum scriptores coaetanei XII, Fef. 1596. — Hist. 

rancorum script. veteres XI, Fef. 1596. — Breviatio canonum v. F — Ferrandus, 
1588. — Mosaicarum et rom. legum collatio, Par. 1573. — Leges Visigothorum, Par. 
1579. — Observ. ad Cod. et Novellas, Par. 1589. — Observ. analytiques sur la coutume 
de Paris, 1601. — Karoli et Ludovici Pii capitula s. leges eccles., Par. 1603, 1640. 

Zit.: Mercier, Vita P. Pith., in den Opera, 1609. — Aug. Thuanus vor d. 1. 3b. 
d. eg jur. can. — Ant. Loisel in deſſen Opuscules. — Boivin, Vita, elogia, opera, 
bibl. P. p, Par. 1716. — Gresley, Vie de P. P. avec quelques m&moires sur son père 
et ses fröres, Par. 1756. — Millevoye, Eloge, 1847. — Stobbe, Rechtsquellen, I. 29, 
2, 710. — Maaßen, Geihichte der Quellen, ar 3 1870, ©. XXXVL—XXXIX. — 
Schulte, Geſchichte, III. ©. 564. — vd. Stinging, Geſchichte ber Deutſchen Rechtswiſſen— 
ihaft (1880), I. 328, 738. Teihmann. 


Pizzamiglio, Glemente, 5 zu Codogno im Jahre 1832, jtudirte in Pavia, 
erhielt den Preis für die Arbeit: Dei Giurati in Italia, Milano 1872, zuletzt in 


60 Placentinus — Placet. 


Mailand, T 16. VII. 1872 zu Garnago. Unvollendet blieb eine Arbeit über 
Familienrecht (Studi sui poteri e sui diritti di famiglia im Archivio giuridico 
VIII. 361—380). 


‚2it.: In morte di Clemente Pizzamiglio, Modena, tip. Sociale 1873. — Revue de 
droit international, V. 315. — Brusa, Appunti, 1880, p. 218. TZeihmann. 


Blacentinuß, & zu Piacenza, lehrte zu Mantua, Bologna, Vtontpellier, wo 
er eine Rechtsjchule gründete, jpäter wieder in Piacenza u. in Montpellier, 7 1192. 
©igle P. Pla. Plac. 

Schriften: Glossae. — De varietate actionum, Mogunt. 1530; Francof. 1609. — 


Summa zum Codex, Mogunt. 1536. — Summa Institutionum, Mogunt. 1535. — Summa zu 
den tres libri, Papine 1484. 

git.: Savigny, IV. 244-285, 537-543. — vd. = da Geichichte der populären 
Lit. des Röm.:fan. Rechts in Deutichland, Leipz, 1867, S. 291. — Bethbmann:Hollmweg, 
Giv.Prz., Bd. VI. ©. 19—2%4. — Germain, Ecole de M., 1877. Teihmann. 


Blacet, jus placeti regii, heißt das von der Staatögewalt in Anſpruch 
genommene Recht, von den Grlaffen der geiftlichen Behörden (des Papftes, der Erz— 
bifchöfe und Biſchöfe) vor ihrer Publikation Ginficht zu nehmen und die Ber: 
öffentlichung derfelben zu geftatten, reſp. zu verbieten. Gin folches Recht ift ſchon 
jeitens einzelner Fürſten im Mittelalter geübt worden und jpäter findet fich dafjelbe 
faft in allen Staaten in Geltung. Die fatholijche Kirche hat in dem P. ſtets 
eine Verlegung der ihr nach göttlichem Recht zuftehenden Freiheit gefunden. In der 
Bulle: In coena domini werden daher diejenigen, welche die Verkündigung und Boll: 
ziehung päpftlicher Bullen und Breven verhindern, mit dem Banne belegt, auch 
Pius IX. hat in dem Syllabus vom 8. Dezember 1864 Nr. 28 die Lehre: „die 
Bilchöfe dürfen ohne Grlaubniß der Staatsregierung ſogar apoftolifche Schreiben 
nicht verfündigen“, ala irrthümlich veprobirt, und endlich hat die Konftitution des 
vatifanischen Konzils vom 18. Juli 1870 c. 3 die Nothwendigfeit des P. als 
Bedingung der Gültigkeit päpftlicher Anordnungen verworfen. Nicht dadurch ver- 
anlaßt, wol aber in Folge der überhaupt der fatholifchen Kirche gewährten größeren 
Selbjtändigkeit haben einzelne Staaten da8 P. ganz aufgegeben, jo 3.8. Preußen 
(Berf.Urf. Art. 16) und Oldenburg. Ebenſo ift es in Oeſterreich im Jahre 
1850 und nachmals durch das Konkordat von 1855 Art. 2 bejeitigt worden; jedoch 
hat das Gef. vom 7. Mai 1874 über die äußeren Rechtsverhältniffe der katholischen 
Kirche 8 17 den Bilchöfen die Pflicht auferlegt, ihre Grlaffe (Verordnungen, In— 
ftruftionen, ‚Öirtenbriefe 2c.) zugleich mit deren Publikation der politifchen Landes— 
behörde zur Kenntnißnahme mitzutheilen. In Württemberg hat man daffelbe 
in dem Gef. von 1861 Art. 1 nur für diejenigen Anordnungen fallen laffen, welche 
rein geiftliche Gegenjtände betreffen, diefe müfjen jedoch mit der Verkündigung der 
Staatöregierung zur GEinficht vorgelegt werden. Das Bad. Gef. von 1860 8 15 
und das Königl. Sächſ. Gef. von 1876 SS 2, 3, verlangen das letztere für alle 
kirchlichen Verordnungen, und haben dad P. für diejenigen, welche in bürgerliche 
oder ftaatsbürgerliche Verhältniſſe eingreifen, beibehalten. In Bayern bat man 
dagegen das P. in dem alten Umfange bejtehen laſſen. 

In der evangelifchen Kirche, welche niemals das Auffichterecht des 
Staates und die Uebung des P. beanftandet hat, ift daffelbe viel jeltener zur An— 
wendung gefommen, weil es bei der Vereinigung der höchſten Staatsgewalt und des 
oberiten SKirchenregiments in der Hand des Landesherrn überflüffig war, und nur 
da, wo die evangeliiche Kirche eine volle Autonomie befigt, oder der Landesherr 
einer anderen Konfeffion angehört, von Bedeutung fein kann. In Frankreich iſt das 
P. auch der evangelifchen Kirche gegenüber vorgejchrieben und das vorhin erwähnte 
Bad. Gejeß macht ebenfowenig wie das Bayer. Religionsedift von 1818 einen 
Unterfchied zwiſchen der katholifchen und evangelifchen Kirche. 


Plakatweſen — Platzgeſchäft. 61 


%it.: Van Espen, Tractat. de promulgatione legum ecclesiasticarum ac speciatim 
bullarum ac rescriptorum Curiae romanae (0 p. Lovanii 1753, IV. 123 ss... — A. Müller, 
De placito regio, diss. hist.-can., Lovanii 1877. — —— Grenzen zwiſchen Staat 
und Kirche, Züb. 1872 (f. Regifter unter Placet). — Val. im Hebrigen die Lehrbücher bes 
ſtirchenrechts. P. Hinſchius. 


Plakatweſen ſ. Preßgewerbe. 


Platner, Eduard, 5 30. VIII. 1786 zu Leipzig, wurde 1811 außerordentl. 
Prof, 1814 ordentl. Prof. in Marburg, 1836 Geh. Hofrath, F 5. VI. 1860. 

Schriften: Notiones jur. et just. ex Homeri et Hesiodi carmin. explic., Marb. 1819. — 
Beitr. zur Kenntniß des Attiichen Rechts, Marb. 1820. — Der Prozeß und die Klagen bei 
den Attilern, Darmft. 1824, 25. — De iis partibus librorum Ciceronis rhetor. quae ad jus 
spectant, Marb. 1831. — Ueber Zoleranz, Marb. 1836. — Die bee und ihre Karrilatur—⸗ 
ne in ber gegenwärtigen Zeit, Diarb. 1837. — Ueber die faljche Idealität, Marb. 
838. — Ueber die Individualität, Marb. 1840. — Ueber die Charakterlofigkeit unjerer Zeit, 
Narb. 1841. — Quaestiones de jure crim. Romanorum, Marb. (1836) 1842, — leber Er: 
fenntnib der Voltsindividualität, Marb. 1843. — Ueber den Weltſchmerz, Marb. 1844. — 
Ueber die politiichen Beftrebungen in ihrer Berechtigung und Berirrung, Marb. 1848. — 


leber die Weltanfchauungen in den jüngften Zeitbewegungen, Marb. 1850. — De sententia 
— Marb. 1851. — Ueber bie Gerechtigkeitsidee bei Aeſchſſos und Sophokles, Leipz. 


Lit.: Brockhhaus. — Nypels, Biblioth&que, p. 8, 9, 13, 14. Teihmann. 

arg ee (Th. I. ©. 538). Daffelbe unterjcheidet fi) vom Diſtanz— 
geihäft dadurch, daß bei diefem die Waare dem Empfänger von einem anderen 
Orte überfendet fein muß, wogegen dies beim P. nicht geichieht. Diefer Unterjchied 
it infofern von Erheblichkeit, ala Art. 347 des HGB. nur bei Diftanzgejchäften 
den Empfänger verpflichtet, die erhaltene Waare ungefäumt zu unterfuchen und bie 
geundenen Mängel dem Verkäufer ſofort anzuzeigen, widrigenfalls die Waare als 
genehmigt gilt. Der Art. 347 bezieht ſich alfo nicht auf jolche Fälle, wo die 
Baare fi) an dem Orte befand, an welchem der Verkäufer zur Zeit des Vertrags— 
abichluffes feine Handelsniederlaffung oder feinen Wohnfit hatte, und der Käufer an 
diefem Orte die Waaren in Empfang zu nehmen hatte. Denn dann darf der Ver: 
fäufer jofort bei der Ablieferung und MUebergabe der Waare eine Erklärung des 
Häuferd über deren gehörige Beichaffenheit verlangen, er ift mithin nicht gemöthigt, 
ih der Gefahr einer nachträglichen Beanjtandung der Waare feitens des Käufers 
nad ihrer Ankunft in dem anderen Orte, wohin fie verwendet wird, auszufeßen und 
jeinerjeits den Beweis dafür zu übernehmen, daß die Waare zur Zeit der Abjendung 
empfangsmäßig gewefen jei. (Entjcheid. des ROHG. Bd. II. ©. 82, Bd. VI. ©. 238, 
Bd. XIH. ©. 389, Bd. XXIII. ©. 59. Anderer Anfiht Harries in Grucot, 
Beiträge, Bd. XVI. ©. 886.) Cbenjowenig findet Art. 349 des HGB., wonach die 
Klagen gegen den Verkäufer in ſechs Monaten nach der Ablieferung verjähren, auf P. 
Anwendung (Entich. des ROHG. Bd. XI. ©. 46). Umgekehrt führt das OTrib. 
(Bd. LXII. ©. 200 der Enticheid.) aus, daß auch die Lieferung einer Mafchine, 
welche von den Leuten des Mafchinenfabritanten beim Empfänger aufgejtellt worden, 
als ein P. anzufehen ift. Indeß fieht man doch nicht ein, warum bei P. nicht 
wie bei Diftanzgejchäften der Empfänger verpflichtet fein joll, jeine Ausjtellungen 
dem Geber gleich nach dem Gmpfange anzuzeigen, er damit vielmehr nach jeinem 
Belieben warten fann, vielmehr jpricht das praftiiche Bedürfniß für die analoge 
Anwendung des Art. 347 auf die P. Dies führt auch ein Erkenntniß des Stadt- 
gerichtö zu Berlin vom 19. März 1869 (Buſch, Archiv, Bd. XVII. ©. 290) aus, 
indem es bezeugt, daß in Berlin der Art. 347 für den Verkehr unter Kaufleuten 
auch bei P. maßgebend ift, und Hervorhebt, daß nach $ 53 des EG. für Schleswig- 
Dolften vom 5. Juli 1867 die Art. 347—349 auch für P. gelten (Harries 
n Grucot, Beiträge, Bd. XVI. ©. 887; ebenjo Entich. des ROHG. Bd. IX. 
©. 52; Bd. XIII. ©. 265). 

2it.: v. Hahn und Pudelt, Kommentar zu Art, 347 bee HGB. SS 1 u. 21 fi. — 
THöl, H.R., 88 269 u. 276. — Build, Ardhiv, XVI. ©. 6, 227; XVII. ©. 290; XVIIL 


62 Plenum. 


S. 246; XIX. S. 140; XXU. €. 333, 194; XXIU. S. 1%. — Entid. bee ROHG. VI. 
©. 102, 107, 237, 307; VII. 309; X. ©. 341. — 
v. Kräwel. 


Plenum — GPlenarbeſchluß). Das P. eines Gerichts umfaßt ſämmtliche 
zu demjelben gehörende Richter, einjchließlich der Hülferichter. Ueber die Organi— 
jation des P. jagt das GPG. nur, daß der Präfident (bei den Landgerichten) reip. 
der erjte Präfident (bei den Oberlandesgerichten und dem Reichögerichte) den Vorſitz 
in demjelben führt (GVG. 88 61, 121, 133). Was dagegen das P. des Land» 
gerichts refp. des Oberlandeögerichts zu thun hat, darüber jagt das GBG. nichts; 
jedenfalls dienen die Plenarberathungen diejer Gerichtshöfe niemals dazu, um irgend 
eine die Nechifprechung betreffende Frage zu erledigen. Die Landesgefeßgebung hat 
darüber Beitimmungen zu treffen, immieweit Angelegenheiten der Juftizverwaltung 
oder Difciplinarangelegenheiten durch Beichlüffe des P. zu erledigen find. Dagegen 
find dem B. des Neichsgerichts durch das GBG. beitimmte Funktionen übertragen 
worden, die aber auch mit der Nechtiprechung nichts zu thun Haben. Vielmehr 
beichränten fich die Plenarbejchlüffe auf folgende Tyälle: 

1) Wenn ein Mitglied des Neichögerichts zu einer Strafe wegen einer entehren- 
den Handlung oder zu einer Freiheitsſtrafe von länger als einjähriger Dauer rechts— 
fräftig verurtheilt ift, jo fann daflelbe durch Plenarbeichluß feines Amts und 
Gehalts Für verluftig erflärt werden (GVG. $ 128). 

2) Wenn gegen ein Mitglied des Neichsgerichts wegen eine Verbrechens oder 
Vorgehens das Hauptverfahren eröffnet it, jo kann die vorläufige Enthebung des— 
jelben von jeinem Amte durch Plenarbeichluß erfolgen (GBG. $ 129). 

3) Wenn die Borausfegungen für die Verſetzung eines Mitgliedes des Reiche: 
gerihts in den Ruheſtand vorliegen und dieſelbe nicht beantragt wird, auch einer 
diesfallfigen feitens des Präfidenten ergangenen Aufforderung an das betreffende Mit- 
glied, die Verſetzung in den Ruheſtand zu beantragen, nicht Folge geleiftet wird, jo 
ist die Verfegung in den Ruheſtand durch Plenarbeichluß des Reichsgerichts aus— 
zufprechen (GV. $ 131). 

Bezüglich des Verfahrens ift für die Fälle 1) und 3) vorgeichrieben, daß außer 
dem DOberreichsanwalt, auch noch das Mitglied vor der Beichlußiaffung zu hören ift. 
In dert Falle unter 2) genügt es dagegen, wenn nur der Oberreichsanwalt gehört 
wird. An der Beichlußiaffung bei Plenarenticheidungen müfjen fich mindeitens zwei 
Drittheile aller Mitglieder mit Einjchluß des Vorfigenden betheiligen,; jedoch muß 
die Anzahl eine ungerade fein. Wäre die zur Beichlußfaffung bereite Zahl von 
Mitgliedern eine gerade, jo hat derjenige Rath, welcher zuletzt ernannt ift, und bei 
gleichem Dienjtalter derjenige, welcher der Geburt nach der jüngere * oder, wenn 
dieſer Berichterſtatter iſt, der nächſt ältere fein Stimmrecht (GVG. $ 139). 

Von dieſen Entſcheidungen des P. ſind vollkommen verichieden — Ent⸗ 
ſcheidungen, welche bei dem Reichsgerichte von „vereinigten Senaten“ getroffen 
worden. Die „vereinigten Senate“ ſind ein Organ der Rechtſprechung, welches in 
folgenden Fällen in Thätigkeit tritt: 

1) In den Strafſachen, welche zur Zuſtändigkeit des Reichsgerichts in letzter 
Inſtanz gehören, entſcheidet der vereinigte zweite und dritte Strafſenat als erkennen— 
des Gericht (GVG. $ 138 Abſ. 2). 

2) Wenn ein Givilfenat in einer Rechtsfrage von einer früheren Entjcheidung 
eines anderen Givilfenats oder der vereinigten Giviljenate abweichen will, jo hat 
derielbe die ERBE und Entjcheidung der Sache vor die vereinigten Giviljenate 
zu verweiſen (GIG. $ Ss 137 Abi. 1). 

3) Wenn ein Straffenat in einer Rechtsfrage von einer früheren Entſcheidung 
eines anderen Straffenates oder der vereinigten Strafjenate abweichen will, jo ver= 
weilt er die ——— und Entſcheidung der Sache vor die vereinigten Straf— 
ſenate (GBG. 8 138 Abi. 2). 


Politianus — Politiſche Verbrechen. 63 


In diefen drei Fällen find „vereinigte Senate“ Gerichtöhöfe nicht zur Ent- 
iheidung der ftreitig gewordenen Rechtöfrage allein, jondern zur Verhandlung und 
Entiheidung der Sache jelbit, infoweit diefer Ausdrud für Entfcheidungen des Reiche: 
gerihts überhaupt in Anwendung gebracht werden kann. (Val. StrafPO. $$ 393 
bis 395, CPO. $$ 527—529.) 

In den unter 2) und 3) bezeichneten Fällen find die Entjcheidungen der „ver- 
einigten Senate” an die Stelle der früheren Plenarentfcheidungen (vgl. Kab. Ordre 
vom 1. Augujt 1876 und Gel. vom 12. Juli 1869 über Errichtung dee ROHG. 
$ 9) getreten. Während dieje aber nur die jtreitige Nechtäfrage, aljo eine Voraus— 
ſezung für Erledigung der Sache jelbit, entichieden, erledigen die „vereinigten 
Senate“ die Sache jelbft, und damit implizite auch die ftreitig gewordene Rechtö- 
frage. An die früheren „Plenarentjcheidungen“ erinnert nur noch die Vorſchrift des 
636. F 139, nach welcher die Zahl der Abjtimmenden für die Entjcheidungen der 
„vereinigten Senate“ ebenjo normirt ijt, wie für „Plenarentjcheidungen“ (nämlich 
des Meichögerichts). Durch $ 139 wird ſomit für Enticheidungen der „vereinigten 
Senate“ die Vorſchrift des $ 194 des GBG. modifizirt. Unberührt bleibt aber 
duch das GBG. S 139 die Vorichriit der StrafPO. $ 262, ſoweit dieje letztere 
Beitimmung der Natur der Sache nach überhaupt in Trage fommen fann. 

Quellen find im Zert angeführt. 

Yit.: Bgl. den Art. Gerihiäverfafiung. John. 

Bolitianus, Angelus, 5 1454 zu Montepulciano, freund Xorenzo de 
Medici’s, 7 1494. Großer Philolog; auch für die Rechtswiſſenſchaft thätig. Opera, 
Venet. 1498; Paris. 1512; Basil. 1553. 

Xit.: Savigny, VI. 435—446. — Buonamici, Poliziano giureconsulto, Pisa 1863. — 
Mähly, A. P. Leipz. 1864. — v. — — der Deutſchen Rechtswiſſenſchaft 
(1880), I. 176—178 u. ö. — Mommsen, p. XV. Teihmann. 


Politiſche Verbrechen. Der Ausdruck p. V. wird häufig gebraucht als 
Gegeniag zu dem Ausdrude gemeine Verbrechen. Gejagt joll damit werden, daß 
es Verbrechen gebe, welche durch politiiche Motive veranlaßt werden, während dies 
bei anderen — den gemeinen Verbrechen — nicht der Fall jei. Nun iſt aber für 
die Begriffsbejtimmung des Verbrechens nicht maßgebend das Motiv, aus welchem 
das Verbrechen hervorgeht, jondern es beſtimmt fich der Begriff des Verbrechens, 
wenigitens der Regel nach, durch dasjenige Recht, gegen welches die verbrecherifche 
Handlung gerichtet war. Dies iſt der Grund, weshalb der Ausdrud p. VB. jelbjt 
etwas Schwanfendes und Unbejtimmtes Hat. Denn giebt es jchon einzelne Ber: 
brechen, von denen behauptet werden fann, daß diejelben jaft immer aus politischen 
Motiven begangen werden — 3. B. der Hochverrath — während bei einer großen 
Zahl anderer Verbrechen die Veranlaffung derjelben durch politifche Motive faum 
angenommen werden kann — 3. B. Diebitahl, Betrug, Münzfälſchung, Meineid — 
jo wird doch auch eine dritte Kategorie von Verbrechen aufgeftellt werden fünnen, 
bei deren Begehung politische Motive ebenjo gut vorhanden gewejen jein, wie auch 
gerehlt haben können, wie diejes 3. B. bei den Injurien, bei der Befreiung der Ge- 
fangenen und ſonſt der Fall ift. Dazu kommt, daß einerjeits auch bei denjenigen 
Verbrechen, welche vorzugsweiſe es beanfpruchen dürfen, p. V. genannt zu werden, 
nicht jelten andere als politische Motive obgewaltet haben — 3. B. Eigennutz bei 
Hochverrath oder Landesverratd — und daß amdererfeits diejenigen Verbrechen, 
welche vorzugsweife gemeine Verbrechen genannt werden, mitunter auch wol aus 
politiichen Motiven begangen werden fünnen — 3. ®. der Diebjtahl von Schrift- 
ftüden, um die Pläne des politischen Gegners kennen zu lernen, die Tödtung u. a. 
Denn man troß diejer Unbejtimmtheit des Ausdruds p. V. denfelben dennoch 
nicht aufgeben mag, jo ift der Grund hierfür vielleicht in folgenden Umständen 
zu finden. 1) Die p. DB. haben eine gemeinjame hiſtoriſche Baſis. Dieſe ift in 
dem Römifch-rechtlichen crimen majestatis (Lex Julia majestatis — unbejtimmt, 


17 Politiihe Berbrechen. 


ob durch Gäfar oder durch Auguftus erlaſſen —) gegeben. Diejes umiahte alle 
Handlungen gegen die Majeftät und die Sicherheit des Römiſchen Staates und 
Volles — nad Untergang der Republit auch Verbrechen gegen die Perſon des 
Kaifers, ſowie Verbrechen gegen höhere Staatsbeamte, namentlich” Senatoren und 
Mitglieder des Kaiferlichen Konfiliums und Konfiftoriums. Uebrigens war die Bes 
griffsbeftimmung des Röm. crimen majestatis — (die Yuftinianiichen Imftitutionen 
[4, 18] geben folgende Definition: lex Julia majestatis, quae in eos, qui contra 
imperatorem vel rempublicam aliquid moliti sunt, suum vigorem extendit) 
unbeitimmt, und dieſe Unbeitimmtheit blieb beitehen, troß der 1. 11 D. (48, 4), 
durch welche nur bejtimmt wird, daß nicht Alle, welche vor der lex Julia majestatis 
ichuldig jeten, auch des Todes jchuldig jeien, jondern daß zum Tode nur derjenige 
des crimen majestatis Schuldige zu verurtheilen jei, welcher hostili animo ad- 
versus rempublicam vel principem animatus; ceterum si quis ex alia causa legis 
Juliae majestatis reus sit, morte crimine liberatur. ®Der an fich jo unbeitimmte 
Begriff des hostilis animus beichränft alfo nicht das crimen majestatis überhaupt, 
fondern nur die todeswürdigen Fälle diefes Verbrechens. Die Strafen des crimen 
majestatis find durch die Röm. Kaiſer Arcadius und Honorius derartig auch auf 
die Kinder derer, die fich diejes Verbrechens jchuldig machten, auägedehnt, daß den 
Söhnen jegliches Bermögen zu fonfisziren und denfelben die Erbiähigfeit abzufprechen 
fei — sint postremo tales, ut his perpetua egestate sordentibus, sit et mors so- 
latium et vita supplicium. Den Töchtern wird etwas an Vermögen belaffen, weil 
man annimmt, fie würden in Folge der Schwäche ihres Gefchlechts nicht fo viel 
wagen, wie die Söhne. Die Gehülfen, die Mitwiffer, die Diener der Thäter follen 
ebenjo wie die Thäter jelbit, die Söhne jener Gehülfen ıc., wie die Söhne der 
Thäter beftrait werden. Ueberdem war es, damit die Strafe des crimen majestatis 
verwirft würde, feineswegs erforderlich, daß das Verbrechen zu irgend einem Griolge 
geführt Hatte, da der bloße Wille, jelbit ichon der Gedanke an die That, der That 
ſelbſt gleich geitellt wurde, Dieſes Röm. Geſetz ift in das corpus iuris cAnonici 
(causa 6. qu. 1 can. 22) wörtlich übergegangen und an einer anderen Stelle — 
cap. 5 in VIto (V. 9.) — noch auf diejenigen ausgedehnt, welche gegen die Perſon 
eines Kardinal einen feindlichen Angriff unternahmen. Sodann find diefe Be— 
ftimmungen des Röm. Rechts in die goldene Bulle Tit. 24 (SS 1—17) aufgenommen 
und haben Hier ihre Anwendung auf die Kurfürften gefunden. So waren die Be— 
jtimmungen des fremden Rechts über das Römische Staatsverbrechen aus doppeltem 
Grunde geltendes Recht in Deutichland geworden, einmal wegen der Rezeption 
des Röm. Rechts überhaupt und jodann auch wegen der jpeziellen Publikation diejer 
Beitimmungen durch ein Deutiches Reichsgeſetz, und um jo mehr mußten diejelben 
auch in der Praris Anwendung finden, als die CCC nur eine auf die Ver— 
rätherei bezügliche Beitimmung enthielt (Art. 124: Item welcher mit bösshaftiger 
verretherey misshandelt, soll der gewonheyt nach durch viertheylung zum todt 
gebracht werden), welche noch unbejtimmter war und für die praktische Anwendung 
fich noch weniger empfehlen mochte, als die Vorfchriiten des Röm. Rechte. — Aug 
dem crimen majestatis find nun wenigitens mehrere der jetzt als p. V. bezeichneten 
einzelnen Verbrechen hervorgegangen. Zuerjt — feit dem 18. Jahrhundert — wurde 
aus dem allgemeinen crimen majestatis der fpezielle Begriff der Majeftätsbeleidigung 
ausgejondert. Den Landesverrath hat von dem Hochverrathe das gemeine Deutjche 
Strafrecht überhaupt nicht gejondert, jondern es ift dies erſt durch die Partikular- 
geſetzgebung geichehen, zuerst durch das Preuß. Allg. ER., dem fich dann das Bayer. 
StrafGB. von 1813 anfchloß. Wenn jo die p. V. auch eine gemeinjame hiſtoriſche 
Bafis Haben, jo konnte diefer Umstand doch nicht verhindern, daß nicht bei der 
partifulären Fortbildung des Strafrechts mancherlei DVerichiedenheiten entitanden 
wären. 2) Die p. DB. werden als jolche Verbrechen bezeichnet, welche gewiſſe Be— 
fonderheiten für das gerichtliche Verfahren erforderlich machen; und in diefer Be— 


Politische Verbrechen. 65 


jiefung werden denn auch wol die p. DB. und die durch die Prefje begangenen Ber: 
brechen nebeneinander genannt. Dieſe Bejonderheiten jedoch, die man den p. V. 
für da8 gerichtliche Verfahren vindizirt Hat, find nach zwei Seiten hin bedeutjam 
geworden. Bon der einen Seite wollte man die p. DB. nicht von Gefchtuorenen= 
gerichten abgeurtheilt wiffen — jo ift 3. B. in Preußen, nach voraufgegangener 
Abänderung des Art. 95 der Verf. Urk, durch Gejeh vom 25. April 1853 ein bes 
ionderer Gerichtshof errichtet worden, der jog. Staatsgerichtähof, welchem die Unter: 
iuhung und Mburtheilung ſämmtlicher Fälle des Hochverraths und des Landes— 
verraths, ſowie der Fälle von Thätlichkeiten gegen den König und die Mitglieder 
des Königl. Hauſes, ſowie endlich der feindlichen Handlungen gegen befreundete 
Staaten und zwar ohne Zuziehung von Geihworenen übertragen iſt —, 
von der anderen Seite hat man dagegen die p. V. und die durch die Prefje bes 
gangenen Delikte gerade als folche bezeichnet, welche jchlechterdings immer nur unter 
Nitwirtung von Gejchworenen abgeurtheilt werden fünnen. So hatte beifpieläweife 
in Preußen Art. XIX. des EG. zum StrafGB. (14. April 1851) einzelne Delikte 
(StmiGB. 88 78, 84, 85, 86, 98, 99) „ala p. V.“ den Schwurgerichten zu= 
gewiejen, und das Preßgeſetz vom 12. Mai 1851 ($ 27) beitimmte, daß die mittels 
der Preffe verübten Bergehen, welche mit Freiheitsftrafe von mehr ala drei Jahren 
bedroht jeien, zur Kompetenz der Schwurgerichte gehören jollten. Dieje Beitimmungen 
find dann aber fpäter durch Gejeg vom 6. März 1854 aufgehoben worden. Die 
Verraffung für den Norbdeutichen Bund Hatte Art. 75 für den gegen ben Nord— 
deutichen Bund begangenen Hochverrath und Landesverrath ala Gerichtshof das 
OApp.Ger. zu Lübeck bejtimmt. Dieſe VBorfchrift ift auch in Art. 75 der Berfaffung 
für das Deutiche Reich übergegangen. Da indeflen dasjenige RGeſ., durch welches 
die näheren Beftimmungen über die Zujtändigfeit und das Verfahren des OApp.Ger. 
teitgejeßt werden jollten, nicht erfolgte, jo blieb es bis zum Inkrafttreten des GDBG. 
(1. Oftober 1879) bei dem, was die Verfaſſung des Deutichen Reiches für die Zeit 
bis zum Erlaß dieſes RGeſetzes angeordnet hatte, d. h. es verblieb auch in Betreff 
der gegen das Reich etwa vorlommenden Fälle von Hochverrath und Landesverrath 
det der jeitherigen Zuftändigfeit der Gerichte in den einzelnen Bundesjtaaten. — 
Jest ift durch das GBG. vom 27. Januar 1877 die frage, welchen Einfluß die 
etwaige politifche Bejchaffenheit eines Werbrechens auf das gerichtliche Verfahren 
äußere, in folgender Weiſe beantwortet worden: der Regel nach iſt es für die ört— 
liche und fachliche Zuftändigfeit der Gerichte, jowie für das Verfahren ganz gleich- 
gültig, ob ein Verbrechen oder Vergehen den Charakter eines p. V. Hat, oder ob 
dies nicht der Fall iſt. Eine Ausnahme von diefer Regel enthält nur das GVG. 
s 136 Nr. 1, nach welcher Beitimmung für die Unterfuchung und Enticheidung in 
eriter und letzter Injtanz in den Fällen ds Hochverraths und des Landes- 
verrath3, infofern diefe Verbrechen gegen den Kaiſer oder das Neich gerichtet 
ind, ausſchließlich das Reichsgericht zuftändig fein joll. Hiermit hängt es denn 
ifammen, daß einzelne wenige, durch dieje Vorjchrift nöthig gewordene, das Ver— 
ahren betreffende Beitimmungen in die StrafPO. aufgenommen find (vgl. StrafPO. 
* 184, 176, 484; 6GBG. 88 138, 139). Die Preſſe hat in den Juſtizgeſetzen 
ne beiondere Beachtung nur injoweit gefunden, als nach $ 6 des EG. zum GBG. 
die beſtehenden landesgeſetzlichen Vorſchriften für die durch die Preffe begangenen 
ftrafbaren Handlungen unberührt bleiben ſollen; während im Uebrigen die durch 
die Preſſe begangenen Verbrechen nur dann von den Schwurgerichten abgeurtheilt 
werden, wenn die VBorausfehungen des GBG. S 80 vorliegen. 

Abgeſehen von diejen Fällen, hat der Ausdruck p. DB. feine praftiichen Konſe— 
ouenzen. Es kann daher auch davon abgejehen werden, die einzelnen Strafvor- 
ihriften, die mit diefem Wort etwa zufammengefaßt werden könnten, aufzuzählen. 


— —* hinter d. Art. — — 
ohn. 


angeführte Li 
v. Holgenborff, Euc. II. Rechtäleriton II. 3. Aufl. 5 


66 volitz — Polize. 


Pölitz, Karl Heinrih Ludwig, 3 17. VI. 1772 zu Gmiütthal, wurd 
1795 Prof. der Moral u. Geich. in Dresden, 1803 Prof. philos. in Yeipzig, ging 
noch 1803 nad Wittenberg als Profi. des Natur u. Volkerrechts, 1815 Vroi. der 
Sächſ. Geſch. u. Statiftif ın Yeipzig, 1820 Prof. der Politif u. Staatswiiienichaiten, 
1 27. II. 1838. Gr gab ieit 1828 „Jahrbuch der Geichichte und Staatätunit 
heraus (fortgeiegt von Bülau). 

Schriften: Hanbbud ber Geſchichte ber ſouderänen Staaten bed Rheinbundes, Yeipy | 
1808 —1810; — des Deutichen Bundes, Leipz. 1817, 18. — Die Staatswiſſenſchaften im Lichte 
unjerer Zeit, Zeipz. 1823; neue Aufl. 1827. — Grundtif; für encullopäbiiche Vorträge über 
bie gelammten Etaatäwiflenichaften, Leipz. 1825. — Staatenivfteme Europa’s und Amerite'; 
1826. — Vermiſchte Schriften aus dem Streile ber Geichichte und Staatäwiffenichaften, Meiken | 
1831. -- Staataw. Borl. für bie gebildeten Leſer in —————— Staaten, * EN _ 


— —* Verfaffungen ſeit 1789, Leipz. 1817—25; 2. Aufl. 1833, 34 ; 3. I. 
au 


Lit: N. Retrolo ber Deutichen, Jahrg. XVI. 241 ff. u oht, I. 141, 292, 97, 81; | 
11. 368, 384, 388 — Omptebda, III. 26, 28, 44, 48. Teihmann. 


volize — —— abgeleitet entweder von polliceri [Stobbe] oder von 
politicam, Diejes von polyptychon, zoAdnrvyos (Diez, Weigand]) bedeutet Zettel, 
Schein, techniich aber: Berfiherungsichein, eine Urkunde (Franzöſ.: contrat 
d’assurance — police), welche der Verficherer (die Verficherungsanitalt oder «Ge 
jellichaft ꝛc.) über den Abſchluß eines Verficherungsvertrags ausitellt und dem Per: 
fiherungsnehmer einhändigt. Die P. enthält den tweientlichen Inhalt des Ver— 
ficherungsvertrags theils ausdrüdlich, theils durch Bezugnahme auf die veröffentlichten 
Meglements des Verficherers, auf das Statut der Verficherungsgeiellichaft u. dal. 
und ift im Zweifel jo aufzufaffen, als enthalte fie die ausdrüdliche Beſtimmung, 
des Verficherer übernehme die Aflefurany unter den bei feiner Konzeifion aufgeftellten 
und publizirten Bedingungen, jowie den im Statut genannten Bejtimmungen, All 
dies als lex contractus gedacht und daher hinterher nicht mit Wirkung auf den 
bereits abgeichloffenen Vertrag einfeitig veränderlich. Ungenau redigirte P. find im 
Zweifel gegen den Verſicherer, welcher fie oder die darin angezogenen Reglemente 
abgeiaßt hat, auszulegen (vgl. Gntich. d. ROHG. Bd. III. ©. 86, Bd. IV. ©. 59). 
Das Franz. Recht verlangt unter den bejtimmt vorgeichriebenen Angaben in der P. 
auch jolche über das Gejelljchaitsfapital (j. Bodenheimer a. a. O. ©. 70). Bei 
Feuerverſicherung wird partifularrechtlich Vorlage der P. an ftaatliche Auffichts- 
behörden gefordert; ob die Auäftellung und Uebergabe der P. im Zweifel zur Per 
teftion des Verficherungsvertrags erforderlich iſt, ift Thatfrage, dürfte aber, ohne 
beiondere Anhaltspunkte für das Gegentheil, zu verneinen jein (vgl. Gntich. des 
ROHG. Bd. II. ©. 346, Bd. V. ©. 10, Bd. IX. ©. 382, Goldihmidt x., 
Zeitjchr. für das geſ. H.R., Bd. XV. ©. 610, 611). Ueber die Androhung von 
Nechtsnachtheilen in PB. 5. d. Art. Feuerverficherung. Ueber jog. polices 
d’honneur ſ. d. Art. Seeverſicherung. 

Da das Mecht des BVerficherungsnehmers und bzw. Verficherten aus dem Ber: 
ficherungsvertrage wie Rechte aus Obligationen überhaupt übertragbar ijt, jo kann 
es durch Geifion an einen neuen Gläubiger übertragen werden, ohne daß der Um— 
ftand, daß eine PB. ausgeftellt iſt, weientlichen Einfluß auf das Recht oder die 
Nechtsübertragung bat; denn die P. iſt zunächit nur Beweisurfunde; der im Ver— 
fehre vorhandenen Tendenz, die Verficherungsforderung an die P. zu nüpfen und 
letztere zum Werthpapiere umzugeſtalten, trägt das Allg. Deutſche HGB. in Bezug 
auf die Seeaſſekuranz-P. Rechnung, und zwar dadurch, dat es deren Jndofjabilität 
erflärt, vorausgejeht, daß fie an Order lautet (P. ale Orderpapiere j. OGB. 
Art. 302, 896, 904, 905); alsdann gehen durch das Indofjament (Giro) der P. 
alle Rechte aus dem indoffirten Papier auf den zweiten Nehmer, Indofjatar, über 
und der Verficherer (Nusiteller der PB.) kann ſich nur folcher Ginreden bedienen 
welche ihm nach Maßgabe der P. jelbjt oder unmittelbar gegen den jedesmaliger 
Kläger zuftehen. Bei der Verficherung auf memde Rechnung ift zur Gültigfeit de 






Bolizeiaufficht. 67 


eriten Uebertragung das Indoſſament des Verficherten nicht erforderlich, fondern das 
des Verficherungsnehmers genügend. Da aber auch im Seeverficherungsverfehr die 
Ausftellung einer P. nicht gejeglich obligatorisch it, jondern von dem den Der: 
fiherer allerdings zwingenden Verlangen des Verficherungsnehmers abhängt (Art. 788 
des HGB.), jo kann immerhin auch eine Mebertragung der Forderung des Verficherungs- 
nehmers (ohne P.) mit den gewöhnlichen Wirkungen einer Geffion eintreten und 
dies kann namentlich dann von Bedeutung werben, wenn die verficherten Gegen- 
ftände während des Laufes der Verficherung veräußert werden (ſ. hierüber Art. 904 
u. 905 des Allg. Deutichen HGB.). Es ift zuläffig, daß über mehrere Verſiche— 
rungäverträge eine gemeinſchaftliche P. auögeitellt werde; aladann gelten die 
Verträge als gleichzeitig (HGB. Art. 791). (Ueber Abftempelung der Seeafjefuranz- 
P. in England und Engl. Gebieten in Goldjchmidt zıc., Zeitichr. für d. geſ. H. R., 
Bd. XXI. Beilagenheit, ©. 150, 151.) 

Die P. Heißt tarirte P., wenn der Verficherungswerth auf eine bejtimmte 
Summe (Tare) durch Vereinbarung der Parteien (in der P.) feſtgeſtellt iſt (die 
Zarirung, ſei es, daß fie fich auf den imaginären Gewinn mit erjtredt oder nicht, 
ift jedoch wegen twejentlicher Ueberjegung der Tare anfechtbar). Die B. heißt offene 
P. wenn entweder gar feine Tare in der PB. angegeben oder die Angabe des Ver— 
fiherungswerthes nur proviforisch erfolgte (leßteren Falle auh: „vorläufig 
tarirte“ ®.). Iſt die Ausitellung einer P. vereinbart, jo ift die Verſicherungs— 
prämie nach der darin angegebenen Taxe zu berechnen (Protokolle ©. 4268) und 
gegen Auslieferung der P. zu bezahlen (Art. 816). Iſt eine P. ausgejtellt, jo it 
der Verficherungsnehmer bei einer Seeverficherung für fremde Rechnung (abgejehen 
von einer Spezialvollmacdht) nur dann legitimirt, über die Rechte, welche in dem 
Verfiherungävertrage zu Gunſten des DVerficherten vereinbart find, zu verfügen, ins— 
befondere die Werficherungsjumme einzuflagen zc., wenn er die P. beibringt; das 
Recht auf die Verficherungsfumme ijt demnach zunächſt an die P. geknüpft; nur 
gegen Beibringung der P. hat der Berficherer an die Verficherten zu zahlen und 
bevor der Verficherungsnehmer dem Berficherten die P. auögeliefert Hat, disponirt 
der BVerficherungsnehmer über die Rechte aus dem DVerficherungsvertrage; er ift nicht 
verpflichtet, die P. dem Berficherten oder den Gläubigern oder der Konkursmafle 
deffelben auszuliefern, bevor er wegen der gegen den VBerficherten in Bezug auf die 
verficherten Gegenjtände ihm zuſtehenden Anſprüche befriedigt ijt; dagegen haftet 
aber der Verficherer, wenn er, während ſich die P. noch im Beſitze des Verſicherungs— 
nehmers befindet, durch Zahlungen an den Werficherten oder an deflen Gläubiger 
oder Konkursmafſſe, oder Verträge mit Diejen, das geießliche Vorrecht des Ver— 
fiherunganehmers beeinträchtigt (j. Hierüber Art. 893 u. 894 d. HGB.). 

Quellen: Allg. Deutihes HGB. Art. 302—305, 788, 791, 797, 816, 892—896, 904, 
5. — Preuß. ER. Th. I. Tit. 8 SS 2064 ff. — Code de comm. art. 332 ss. — Boll: 
fändiges Beifpiel einer Seeaſſekuranz-P. aus dem 16. Jahrh. j. bei Benvenuto Straccha, 
Tractatus de assecurationibus (Venetiis MDLXIX. u. jonft). 

Kit: Die Kommentare des Allgem. Deutihen HGB. von Lewis, Makower u. A. zu 
den angeführten Artiteln; ferner Soldigm idt ꝛc. Stich. für u PR 3b. XIU. ©. 81 r 
(Mal) und Bd. XV. ©. 610, 611; die Entich. dee ROHG. Bd. III. ©. 343 ff.; Bb. IV. 
S. 60 ff.; Bd. VII. ©. 189; Bd. IX. S. 130, 234, 370, 379, 387; Bd. XI. ©. 271; Bd. XIV. 
©. 38 und die hinter den Art. Feuerverfiherung, Seeverfiherung u. Berfiherungs: 
bertrag angegebene fit. Auch Gonftant Bodenheimer, Zur Urhbertung über das 
Verſicherungsweſen, Bern 1879. Gareis. 

Polizeiaufficht, eine acceſſoriſche Freiheitsſtrafe, welche nach Verbüßung einer 
anderen Strafe in Wirkſamkeit tritt und in der Entziehung gewiſſer Befugniſſe 
perfönlichen frreiheitögebrauches beiteht. Aus dem Franz. und Preuß. Recht wurde 
fe in das Deutiche Straf®B. übertragen. Die erite Erwähnung der P. findet ich 
im 8. C. vom 28 Floreal XII ($ 131). Die Haute cour imperiale wird danach 
ermächtigt, in Fällen der Freiſprechung „de mettre ceux qui sont absous sous la 
surveillance ou à la disposition de la haute police pour le temps qu’elle deter- 

5 - 


68 Polizelauffidt. 


mine.“ Nachdem auch ein Dekret vom 19 Ventöfe XIII alle entlaflenen forgats 
unter die Aufficht der Ortspolizeibehörde ihres Wohnortes geieht hatte, ergingen 
die ausführlichen Beitimmungen des Code penal von 1810 (art. 44, 45, 46 ss.), deren 
Prinzip darin beitand, daß entlaffene Verbrecher Für ihr gutes Verhalten entweder 
Kaution leiften oder P. erleiden follten. Dies Syſtem ward fpäter vollitändig 
durch das Reviſionsgeſetz vom 28. April 1832 verändert. Die P. befteht in dem 
Verbot, fich an beitimmten von der Regierung bezeichneten Orten aufzuhalten, den 
Aufenthaltsort ohne vorherige Abmeldung zu verlaffen und bindet den davon Bes 
troffenen an eine Zwangsroute. Webertretung diefer Beſchränkungen bildet das Ver: 
gehen der rupture de ban. (Ueber die weiteren Ausführungsmaßregeln: das 
minifterielle Girfular vom 18. Juli 1833.) Die Strafe der P. ift entweder lebens— 
länglich oder zeitlich. Sie tritt entweder ipso jure ein, jo daß der Nichter nicht 
darauf zu erkennen braucht (bei allen WVerurtheilungen zu travaux forces auf Zeit, 
bei detention und r&clusion, banissement), oder fie wird in Gemäßheit des Geſetzes 
vom Richter ausgeſprochen, um den Thäter als gefährlich zu fennzeichnen. Auch bei 
politijchen Verbrechen findet die P. Anwendung (art. 47—50 des Code pénal), 
desgl. bei gewiffen Vergehen gegen das Eigenthum. Aus der Beziehung der P. zu 
den politifchen Verbrechen erklärt fich das aus Anlaß des Staatzftreiches ergangene, 
durch die Regierung der Nationalvertheidigung am 24. Oktober 1870 aufgehobene 
Dekret vom 8.—12. Dezember 1851, wonach allen unter PB. ftehenden Individuen 
der Aufenthalt in Paris und der Bannmeile unterfagt it und rupture de ban (nad) 
dem Code penal im Marimum mit fünf Jahren Gefängniß ftrafbar) ad miniftrative 
Transportation nach Cayenne oder Algier ohne richterliches Erkenntniß nach ſich 
ziehen konnte. Auch das neue Belg. StrafGB. (art. 35) ftimmt im Wejentlichen 
mit den Beltimmungen des Franz. Rechts nach dem Geſetz vom 28. April 1832 
überein. Lebenslängliche PB. kann nur gegen rüdtällige Berbrecher erkannt werden ; 
in allen anderen Fällen ift die P. eine zeitliche, von mindeftens fünf» und höchſtens 
zwanzigjähriger Dauer. Weitere Veränderungen enthält das Franz. Geſetz vom 
30. Juni 1874. Dies Geſetz läßt vier neue Artikel an Stelle der alten art. 44, 
46, 47 48 des Code penal treten. Die Stellung unter P. giebt der Regierung das 
Recht, den Entlaffenen den Aufenthalt an gewiffen Orten zu unterfagen. Ginen 
beitimmten Aufenthaltsort anzumeijen, ift die Regierung nur dann befugt, wenn der 
Sträfling es unterließ, vierzehn Tage vor dem Ende der Strafzeit einen Wohnſitz 
zu wählen. Ohne Autorifation der Regierung kann der Sträfling feinen Aufent— 
haltaort nur von fech® zu ſechs Monaten wechjeln. Das Marimum der PB. beträgt 
20 Jahre, wenn auf Zwangsarbeit, Reklufion oder Detention erfannt wurde; der 
Richter ift nicht mehr gezwungen, auf P. zu erkennen. Auch die Verwaltungs 
behörde kann die Ausführung der P. juspendiren, während ausdrüdlich die früheren 
Streitfragen entjcheidend anerfannt wurde, daß auch durch Begnadigung die Strafe 
der P. aufgehoben werden kann. (S. auch das YJuftizminifterial-Girkular vom 21. Febr. 
1874.) Unzweifelhaft nähert fich das neue Franz. Gefet den im Deutichen StrafGB. 
ausgejprochenen Auffafjungen. 

Die Mehrzahl der Deutjchen Strafgejegbücher hatte die P. als Straimittel 
aufgenommen; am meijten näherte fich das Preuß. Straf®B. von 1851 den ehe— 
maligen franz. Anschauungen, indem das Eintreten der P. wefentlich von dem 
Charakter der jtrafbaren Handlung abhängig gemacht wurde, ohne Rückſicht auf 
Perfönlichkeit des Thätere. Die Meinung der Sacveritändigen und insbeſondere 
der Gefängnibeamten wendete fich indefjen faft einmüthig gegen dieſe Strafart, die 
ala ein Hinderniß gegenüber dem beffernden Erfolg des Strafvollzuges erfannt ward. 
Man erinnerte vorzugsweiſe daran, daß durch P. das Fortkommen entlafjener Sträf- 
linge, und folglich auch deren Befferung erfchwert werde. In Frankreich, wo die 
P. am ftrengiten durchgebildet ift, findet man eine auffallend hohe Zahl von Rück— 
fälligen. In Berüdfichtigung der gegen die P. geäußerten Beſchwerden und in An— 


Polizeiloſten. 69 


ſchluß an das Bayer. StrafGB. von 1861 hat das RStrafGB. der P. eine völlig 
veränderte Gejtalt gegeben. In gewiſſen genau bezeichneten Fällen kann der Richter 
auf Zuläſſigkeit von P. erkennen (bis höchitens fünf Jahr). Nach Anhörung 
der Seiängnikverwaltung kann aladann die Yandespolizeibehörde P. eintreten laſſen. 
Die Wirkungen der P. find: Verbot des Aufenthalts an gewiffen Orten; Befugniß, 
Ausländer aus dem Bundesgebiet zu verweilen; Wegfall der bei Hausfuchungen 
jonft beitehenden Beſchränkungen. Die P. kann jederzeit von der Behörde zurück— 
genommen werden (RStrafGB. 88 39, 40). Als eine, freilich nicht ‘auf Geſetz, 
fondern Lediglich auf der Praxis beruhende Art der P. fann man auch die fitten- 
polizeilich über Liederliche Dirnen geübte Beauffichtigung anfehen. Auch giebt das 
Nahrungsmittelgefe vom 14. Mai 1879 der Polizei nach gefchehener VBerurtheilung 
gewiſſe Auffichtsrechte über die Geſchäftsräume. 
Auch England Hat nach dem Vorgange der Iriſchen Gefängnißreform und 
im Zufammenhange mit dem Beurlaubungsfyitem in jeiner neuejten Geſetzgebung 
die P. eingeführt. Sehr ausführliche Beitimmungen darüber enthält die jog. Habitual 
Criminals act 32 und 33 Vict. c. 99. Ausführlich verhandelte darüber der dritte 
Italieniſche Juriftentag zu Turin im September 1880. 
Lit.: Gouin in der Revue de legislation tom. XII. (1840) P 393. — Chatagnier, 
Du renvoi sous la surveillance de la haute police, Par. 1849. — Humbert, Consäquences 
des condamnations pdnales. — Bertauld, Cours de droit p6nal,,p. 274. — Tröbutien, 
L 245. — He6lie (Nypels), Traite, I. $$ 241 ss. - Ortolan, Yılements de droit penal, 
$ 157. — Fremont, La surveillance de la Haute Police d’Etat, de sa suppression et 
des ınoyens d’y suppleer, Par. 1869. — Renault, Etude sur la loi du 23 Janvier 1874. — 
. Buscon, La surveillance de la haute police, son passe, son present, son avenir, 
Montauban 1878. — Gualtieri Sighele in der Rivista penal IV. 32. — v. Holtzen- 
dorff, On Police Supervision, in den Transactions of the Social Science Association, 
1561. — Schüd, Die Polizeiauffiht in Preußen, in v. Holtzendorff's Strafrechtsztg., 
1863, ©. 436. — Weiß, StrafGB. für das Königreich Bayern, 1863, I. ©.'100. 
v. Holtzendorff. 
Polizeifoften. Wie die Polizei aus der Gerichtsverwaltung, jo find die Koſten 
der Polizeiverwaltung aus dem Syſtem der Gerichtsfojten erwachjen. Die den 
Landesherren verliehene Graiengewalt umfaßte nur den obrigfeitlichen Theil des 
Gerichtsweſens, das „Gerichthalten“ (imperium merum et mixtum), nicht das heutige 
Richteramt — die eigentliche Rechtſprechung —, welche im Mittelalter als ein 
iudicium parium ſich aus den größeren und Eleineren Kommunalverbänden nach 
Herfommen und Gejeh formirte. Das Gerichthalten, einjchließlich der „Friedens— 
bewahrung“ , erichien deshalb im Mittelalter vorzugsweife als Vermögenslaſt, 
als die einzig dauernde Ausgabe des bürgerlichen Gemeinwejens, im Unterjchied von 
der zeitweife jehr hohen, aber doch zufälligen Lajt des Heerbannd. Eben daraus er— 
gab fich die naturgemäße Verbindung der Gerichtsverwaltung mit dem Grund— 
beſitz. Durch die bereitwillige Uebernahine diejer Lajt erhielt der Großgrundbeſitz 
allmählich die Stellung erblicher Obrigkeiten, und ebenjo wurden die Städte durch 
Uebernahme diejer Laften Herren in ihrem Gebiet, Obrigfeiten ihrer Angehörigen. 
Das mittelalterliche, mit einer Naturalwirthichaft verbundene Amtsſyſtem hatte in= 
deſſen die folge, daß in den Gebieten der Landesherren die Koſten diejer Verwaltung 
die landesherrlichen Einfünfte fortfchreitend aufzehrten. Vorzugsweiſe darauf beruhte 
es, daß gegen Ende des Mittelalters die „Gerichtölehne” nicht mehr blos an Bes 
figer großer herrichaftlicher Gebiete, jondern an die Beſitzer einzelner Ritterhufen 
verliehen wurden. Aus der taujendjältigen Berleihung diejer Verwaltung, nament= 
lich im Oſten Deutichlands, ging der „Patrimonialjtaat“ hervor, der in Verbindung 
mit den landjtändiichen Verfaſſungen fich während der Reformationszeit voll entwidelt 
und die Bewohner des platten Yandes in einen Herrenitand und Unterthänigenitand, 
die Bewohner der Städte in ein Aktiv» und Paſſivbürgerthum gejchieden hat. 
In diejer Gerichtöverwaltung ift nach wie vor die Friedensbewahrung 
enthalten, welche jet nach) Vorgang der Reichsgeſetze ald Polizei bezeichnet und, 


70 Polizeitoften. 


umfaffender ala früher, ala Pflicht der Obrigkeit „für gute Ordnung und gemeinen 
Mohlitand zu ſorgen“ aufgefaßt wird. Reichs- und Landespolizeigeſetze erkennen 
es ala Pflicht und Recht der Ortsobrigfeiten an, die nachbarliche Ordnung auch 
durch allgemeine Satzungen zu regeln und auf diefem Wege ihre erweiterten Gewalten 
num auch in die rechtliche Form der „Unterthänigkeit“ auf dem platten Lande, des 
Derhältniffes der „Schußverwandten“ in den Städten zu bringen. Die Tragung 
der Gerihts- und P., war und blieb aber die Vorbedingung aller 
werthvollen Herrihaftsrehte Die P.laft, die fich durch die Vorfchriften 
der Neichd und Landespolizeiordnungen jehr erheblich zu vermehren anfing, blieb 
ein annexum biejer überzahlreichen Stadt: und Gutsobrigkeiten und wurde auch 
durch den Verfall und die Quieszirung der landſtändiſchen Berfaffungen nicht alterirt. 

Aenderungen in diefem Verhältniß find allmählich feit den Zeiten der Franz. 
Revolution eingetreten. Im Weiten Deutichlandse — unter dem Einfluß der Gejeß- 
gebung Frankreichs, des Königreichs Weitialen und anderer Rheinbunditaaten — erloichen 
nicht nur die Patrimonialgerichte, jondern auch das Polizeiamt wurde von dem Großgrunde 
befit und den Stadtlommunen mehrfach abgelöft, oder doch im Namen des Landesherrn 
verwaltet. Auch die P. wurden zum Theil auf die Staatskaffe übernommen; ein 
anfehnlicher Theil indeffen ala eine „hergebrachte“ Laſt den Gemeinden belaffen. 
Im öftlichen Deutichland dagegen war der geichloffene Großgrundbefig mehr geeignet, 
die patrimoniale Gejtalt der Ortsämter beizubehalten. In Preußen hört zwar mit 
dem Jahre 1808 die Patrimonialjuftiz der Städte und der Domänenänter auf, die 
Polizei wird in einigen wenigen größeren Städten durch unmittelbare Staatsbeamte 
auf Staatäkoften verwaltet, in den übrigen nad) den Städteordnungen wenigitens 
ala „mittelbares“ Staatsamt behandelt. Es bleibt indeffen die Regel, daß auch in 
diefen Städten die Verwaltung durch einen von der Staatöbehörde bejtätigten Ge— 
meindebeamten geführt wird und daß die Koften und Einkünfte der Verwaltung der 
Kommune verbleiben. Auf dem platten Lande follte nach dem Plan des Freiherrn 
vom Stein (1808) die Gutspolizei aufhören und durch unmittelbar vom König 
ernannte Beamte (womöglich Ehrenbeamte) erjeßt werden. Dieje weitergehenden Pläne 
ſcheiterten zunächſt an dem Koftenpunkt in der damaligen Finanznoth des Staats. 
Seit 1812 übernahm die Staatöfaffe jedoch einen bedeutenden Theil der P. durch 
die Organifation der Gendarmerie, auf deren Thätigkeit die Polizeiordnung des platten 
Landes bis in die neuejte Zeit vorzugsweife beruht hat. Allein umjomehr legte nun 
der Großgrundbefiß einen Werth auf die Beibehaltung einer gutäherrlichen Polizei— 
gewalt über jeine Dienftleute und bäuerlichen Nachbarn. Die Beibehaltung der 
Patrimonialjuftiz und Polizei erjchten der nach den Freiheitskriegen herrichenden 
Richtung ala ein werthvolles Glement einer „jtändiichen Gliederung“. In dem 
Rahmen diefer Einrichtungen wurden num in den Jahren 1823—28 die neuen 
Kreis und Provinzialordnungen Preußens nach den leitenden Ideen des Kronprinzen 
formirt, und ein „Ritter, Bürger- und Bauerftand“ wiederhergeftellt, joweit dies 
nach den Grundfägen der Stein-Hardenberg'ſchen Reformgeſetzgebung noch mög— 
lich war. 

Die Sturm: und Drangperiode don 1848 war entichlofien, die 
patrimonialen Elemente auch im Polizeiweien gründlich zu befeitigen. Aber noch 
einmal jcheiterte die Ausführung an den Koſtenpunkt. Die in Ausficht geitellten 
Aenderungen der Gemeindelaften erwedten eine lebhafte Abneigung der ländlichen Be— 
völferung gegen die neuen Einrichtungen, auf welche geftüßt, die damalige Preußiiche 
Minifterverwaltung in einer verfaffunggmäßig ſchwer verantwortlichen Weije die 
ichon publizirten Kreis- und Gemeindeordnungen fiftirte, die Kreis- und Provinzial» 
jtände für wiederhergeſtellt erklärte. Bezüglich der P. hatte das Gefe über 
die Polizeiverwalting vom 11. März 1850 ($ 3) die Beitimmung getroffen, 
daß „die Koften der örtlichen Polizeiverwaltung von den Gemeinden zu bejtreiten“ 
find. In der nicht erheblichen Zahl von Städten, in welchen die Ortapolizei durch 


BPolizeiitrafverfahren. 71 


unmittelbare Staatsbeamte verwaltet wird, werden die „Gehälter der von ber 
Staatsregierung angejtellten Beamten” vom Staat, die jonjtigen P. von der Ge— 
meinde getragen (während nach dem Gejeg vom 30. Mai 1820 die Gemeinden in 
diefem Falle nur für die erforderlichen Lofalien zu jorgen Hatten). Auf Grund 
diefer Scheidung hat fich in Preußen eine umfangreiche Verwaltungsrechtiprechung 
(rüher durch Minijterialreffripte, jet auch durch die VBerwaltungsgerichte) darüber 
gebildet, welche Ausgaben zu den perfönlichen, welche zu den jahlichen P. 
ju rechnen find. 

Das zähe Feithalten an der Patrimonialordnung des platten Landes und an 
der Tragung der P. als jtädtifche Gemeindelajt im Oſten Deutichlands hat übrigens 
in ihrem endlichen Erfolg dahin gewirkt, die obrigfeitliche Ortöverwaltung in engem 
Verband mit der Kommunalverwaltung zu belafjen. Das Unhaltbare war nur die 
Behandlung der polizeiobrigkeitlichen Rechte als iura patrimonii. Berwandelte man 
diefe Rechte in eine Pilicht der befigenden Klaſſen der Gemeinde, dieſe Verwaltung 
im Auftrage des Staats mit der vollen Verantwortlichkeit des öffentlichen Amts zu 
übernehmen , jo entwidelte ſich aus der Verbindung der perfönlichen Pflichten und 
Koften des Polizeiamtes mit dem Gemeindeverband ein überaus fräftiges Syſtem 
obrigfeitlicher Selbitverwaltung. Ein folches ift demnächſt aus der Preußifchen Kreis— 
ordnung von 1872 hervorgegangen und hat fich alsbald zu höheren, provinziellen 
Organen der Selbjtverwaltung weiter entwidelt, während die unter dem Einfluß 
der Franzöſiſchen Gejegebung geförderte Trennung des Polizeiamts und der P. vom 
Gemeindeverband zwar eine bequeme, aber unjelbjtändige und der höheren Entwider 
lung unfähige Munizipalverfaffung erzeugt hat. Das vielfach laut gewordene Be— 
freben, die Koſten der Ortäpolizei auf die Staatsfaffe zu übernehmen, beruht auf 
einer kurzfichtigen Anjchauung; denn die P. bilden einerjeits nur einen jehr geringen 
Bruchtheil der Gemeindeausgaben, im Vergleich mit der Armen-, Schul-, und Weges 
lajt, während fie ala Gemeindelaft andererjeit3 unentbehrliche Grundlage für die 
Selbjtändigfeit der Selbitverwaltungsorgane bleiben. Unter allen Inſtitutionen 
älterer Ordnung hat fich die Dezentralijation der kommunalen Laſten ala das 
fonfervativjte Element bewährt, welches die Deutſche Staatsbildung vor einer über- 
eilten Gentralifation bewahrt hat. 


Lit. fehlt, da ber Koftenpunft in den Darftellungen des Polizeirechts ald Nebenfache be» 
handelt zu werben pflegt. Gneift. 


Polizeiftrafverfahren (Th. I. S. 957 ; vgl. auch die Art. Polizeiverord= 
nungen, Polizeifoften). Unter B. ift zu verftehen: die Feſtſetzung einer Strafe 
ſeitens der Polizeibehörden für Handlungen oder Unterlaffungen, welche durch gejegliche 
Beſtimmungen (im weitejten Sinne) allgemein und im Voraus mit Strafe bedroht 
find. Davon zu unterjcheiden ift die Anwendung von Grefutivftrafen, d. 5. Zwangs-⸗ 
maßregeln, durch welche bejtimmte Perjonen zu einer von den Berwaltungsbehörden 
getorderten Leiſtung, Handlung oder Unterlaffung genöthigt werden follen (vgl. 
den Art. Verwaltungserefution). Während bezüglich diejes Verfahrens die 
Yandesgejeßgebung ausfchließlich zuftändig iſt, kann fie ein P. nur innerhalb der 
reichögejeglich beftimmten Grenzen ($ 453 ff. der StrafPO.) anordnen und regeln. 

Die Polizei iſt aus der Gerichtöverwaltung erwachien und bei der Trennung 
der Juftiz und Verwaltung wurde den Polizeibehörden eine Rechtiprechung in Straf= 
ſachen nur inſoweit übertragen, als eine jolche den Gerichten niederer Ordnung zus 
tand. Es hängt alſo, während die Frage, ob Berwaltungsorganen vrichterliche 
Geichäfte zu übertragen jeien, nach jtaatörechtlichen Gefichtspunkten zu enticheiden 
it, der Umfang der etwa zugelafjenen Jurisdiktion gefchichtlich mit der Vertheilung 
der Straffachen an die Gerichte verfchiedener Ordnung überhaupt zufammen. In 
Kom wurde nur über die jchwereren Verbrechen vor den Kriminalgerichten ver- 
handelt, während die Verfolgung der übrigen ftrafbaren Handlungen vor dem Civil— 


72 Polizeiftrafverfahren. 


richter geſchah, entweder durch den Verletzten (delicta privata) oder irgend einen 
Unbetheiligten (actio popularis). In der Kaiſerzeit wurden außerdem Straffachen 
von gewiſſen Polizeibeamten jelbitändig erledigt. So hatte der praefectus annonae 
(vgl. Mommſen, Römijches Staatsrecht, II. 996 ff.) über die geringen Delikte, die 
beim Getreideverfehr und Schiffahrtsbetrieb vorfamen, in einem wahrjcheinlich ab— 
gefürzten Verfahren zu erkennen, ebenſo der praefectus vigilum (vgl. Mommſen, 
©. 1010 ff.) über incendiarii, effractores, fures, raptores, receptatores (1. 3 S 1 
D. 1, 15), wobei er aber in fchwereren Fällen die Verhandlung an den praefectus 
urbi abgeben mußte (l. u. C. 1, 43), deflen ſpäter jehr umfaſſende Kriminaljuriss 
diftion ſich auch erjt allmählich aus einer polizeilichen von geringem Umfange ent— 
wicelt hatte (Mommjen, 1013 ff). — Im Deutichen Strafverfahren unterjchied 
man zwijchen peinlichen und nicht=peinlichen Sachen. Die eriteren (Miffethaten, 
Ungerichte) waren mit Strafen belegt, „die an Hals und Hand gingen“ und nicht 
abgefauft werden konnten, die anderen (Frevel, Brüche) wurden regelmäßig mit Geld 
gebüßt. Nur die Ungerichte wurdrn „in jtrengem Recht“ (vor den Kriminal— 
gerichten), die Brüche im „freundlichen“, „beicheidenen“ Recht (vor den Givilgerichten) 
erledigt. Da man dieje Unterjcheidung mit einer bei den talienern beliebten (in 
delicta atrocia und leviora, vgl. 3.2. J. Clarus, recept. sentent., 1. V$ prim. 
no. 9) identifiziren konnte, jo behielt man fie jowol in der CCC (vgl. art. 104) 
wie in der fpätern Praris bei. Es werden peinliche Strafen: an Leben, Ehre, Leib 
oder Gliedern, den bürgerlichen: Landesverweifung, Gefängniß und Gelditrafe gegen 
übergeitellt (vgl. Carpzow, Practica nova rer. crim. 102 no. 53). ®Die mit 
bürgerlicher Strafe bedrohten Sachen gehörten vor die niederen Gerichte und wurden 
auch prozeffualiich in mancher Hinficht verfchieden behandelt (vgl. Carpzow, 1. ce. 
no. 20— 25). Ein ähnlicher Unterjchied kam auch in der Gejeßgebung zum Aus 
drud, indem neben den peinlichen Gerichtsordnungen, jowol für das Neich wie für 
die einzelnen Territorien, Polizeiordnungen ergingen, in denen eine Reihe von weniger 
bedeutenden Delikten mit Strafe bedroht wurde. Unter Polizei (der Ausdrud 
fommt wol zuerit in $ 40 der Reichsregimentsordnung von 1495 vor, welcher e& 
dem Reichsregiment zur Pflicht macht: Ordnung und Polizei fürzunehmen und die 
Köftlichkeit und Ueberfluß aller Stände zu mäßigen) verjtand man die Friedens— 
bewahrung, die Sorge für Ordnung und gute Sitten. Die Reichspolizeiordnung 
(zuerſt 1530 auf dem Reichstage zu Augsburg erlaffen, 1548 zu Augsburg wieder: 
holt und 1577 durch den Frankfurter Neichsdeputationstag revidirt und gebeflert) 
jowie zahlreiche Verordnungen über Münzen, Handwerk und Handel (vgl. Stobbe, 
Geichichte der Deutſchen Rechtsquellen, II. ©. 200 ff., und Gerjtladher, Handbuch 
der teutjchen Reichögejeße, Th. IX.) konnten freilich nur den Rahmen abgeben, den 
die Landesgefeßgebung im Einzelnen auszufüllen hatte. Es ergingen auch zu dieſem 
Zwecke allerorten zahllofe einzelne Bejtimmungen, durch die nach allen Richtungen 
bin tief in das Privatleben eingegriffen wurde. ine möglichit vollfommene Unter- 
ordnung des Bürgers unter die jtaatliche Bevormundung war das deal des eudä- 
moniſtiſchen Polizeiftaates im 17. und 18. Jahrhundert, der jeiner Pflicht nur zu 
genügen meinte, wenn er die Individualität der Entwidelung befeitigen und die 
Unterthanen auf Schritt und Tritt Eontroliren und zurechtweiien konnte. Dem 
entiprechend umfaßte die Polizei, d. 5. die Sorge für das „Gemeinwohl“, beinahe 
die ganze Staatsthätigkeit und alle Staatsorgane waren mit ihr befaßt, namentlich 
auch die niederen Gerichte. Bei der Errichtung jelbjtändiger Polizeibehörden über- 
. trug man diefen auch einen großen Theil der niedern Gerichtsbarkeit, theild um die 
Gerichte zu entlaften, theils weil man die Polizeivergehen als wejentlich verichieden 
von den friminell jtrafbaren Handlungen betrachtete. Doch war diejer Gefichtspuntt 
keineswegs außjchließlich maßgebend. Man bejtimmte bie Kompetenz der Polizei= 
behörden vielmehr in höchit verjchiedener Weile, indem man dabei Rüdficht nahm : 
bald auf die Höhe der in abstracto angedrohten oder in concreto aufzuerlegenden 


Bolizelitrafverfahren. 73 


Strafe, bald auf den Inhalt der betreffenden Strafvorjchriften, bald darauf, ob die— 
felben von Verwaltungsbehörden ausgegangen waren oder nicht (val. 5. B. Mitter- 
maier, Die Straigejeßgebung in ihrer Fortbildung, I. Beitrag, Heidelberg 1841, 
©. 221 ff.). In Anlehnung an diejen formalen Gegenfaß ijt auch die Frage nad) 
einem materiellen Unterichtede zwischen polizeilichem und Eriminellem Unrecht in der 
Etrafrechtswifienichait vielfach erörtert worden. Man ging dabei zunächſt von der 
Meinung aus, welche den naturrechtlichen Anjchauungen am Ende des vorigen Jahre 
hunderts entſprach, daß jedes Verbrechen die Verlegung eines beftimmten Rechtes 
enthalten müſſe. ine jolche ließ ſich bei vielen ftrafbaren Handlungen nicht aufs 
finden und man machte dad Vorhandenjein derjelben zum unterjcheidenden Merkmal 
notichen Eriminellem und polizeilichem Unreht. So Feuerbach (der freilih in 
feiner Revifion für „Polizeivergehungen“ eine Verlegung der bedingt nothwendigen 
Rechte des Staates, d. 5. derjenigen vorausjeßt, „die zu ihrer wirklichen Grijtenz 
einen Akt der Staatsgewalt als jolcher“ benöthigen), Grolmann und Ähnlih Luden, 
welcher Rechts» und Geſetzes-⸗Verbrechen unterjcheidet, je nachdem ein fubjektives Recht 
verlegt ijt oder nicht und die lehteren als Polizeiverbrechen bezeichnet. Da jedoch 
bier der Kreis der PBolizeiverbrechen ein zu weiter wurde (Feuerbach betrachtet 
als jolche: Landzwang, Wucher, Hazardipiel, Schwören, Fluchen, Zutrinten, Bettelei 
und fämmtliche Fleiſchesverbrechen), jchränfte man von anderer Seite den Begriff 
auf jolche Handlumgen ein, die weder in ein jubjektives Mecht eingriffen, noch die 
Sittlichkeit verlegten, jondern nur wegen der möglichen nachtheiligen Folgen von 
der Geſetzgebung für jtrafbares Unrecht erflärt worden jeien. So v. Wächter und 
ähnlich auh Hälſchner. Daß der Begriff des Werbrechens eine Unfittlichkeit 
notwendig vorausjege, betont namentlich Stahl, der ala PBolizeiübertretungen alle 
Handlungen anjehen will, „welche nicht gegen die zehn Gebote, fondern nur gegen 
die Gebote des Staates find“. Aehnlich hatte Köftlin den in Rede ftehenden 
Gegenjag als den „des an und für fich Unrechten“ und des „Gefährlichen“ hervor— 
gehoben, wobei er jenes als das „wirkliche“, diejes als das „mögliche“ Unrecht be= 
zeichnete. Während Merkel mit jeiner Unterfcheidung des formellen von bem 
materiellen Unrecht fich der Auffaffung Luden's nähert, hat Binding darauf hin— 
gewiejen, daß es Aufgabe des Staates jei, die Rechtögüter vor Verlegung zu ſchützen 
md daR zu diefem Zwecke verboten jei: jowol die Verlegung wie die Gefährdung 
von Rechtsgütern, als auch die Vornahme gewifler Handlungen, die möglicher Weife 
eine Gerährdung jener herbeiführen könnten. Gegen die Bezeichnung diejer Unter: 
iheidung als Verbrechen und Polizeiunrecht verwahrt fih Binding ausdrüdlich. — 
Die Entwidelung der Gejebgebung hat in Deutichland denjenigen Recht gegeben, 
welche, wie Heffter, Bekker, Wahlberg, einen prinzipiellen Unterjchied leugneten. 
Während das Bayerische Straigejeßbuch von 1813 in Art. 2 Abſatz 2 jagte: „Hand— 
lungen oder Unterlaffungen, welche zwar an und für fich jelbft Nechte des Staates 
oder eines Unterthans nicht verlegen, jedoch wegen der Gefahr für rechtliche Ordnung 
und Eicherheit unter Strafe verboten oder geboten find u. ſ. w., heißen Polizei— 
übertretungen,“ unterjcheidet das Strai®B. für das Deutjche Reich, wie jchon das 
Preußische nach Franzöſiſchem Borbild gethan, die jtrafbaren Handlungen nur nach 
der Art und Höhe der angedrohten Strafe. Die Nebertretungen find dabei nicht in 
einen qualitativen Gegenjaß zu den Verbrechen und Vergehen geftellt worden, nament— 
lich finden die allgemeinen Beitimmungen des Straf®B. auch auf jene prinzipiell 
Anwendung, joweit nicht innerhalb der zuläffigen Grenzen landeögejeglich etwas 
Anderes beitimmt it. ine jolche Abweichung der Landesgejege vom Reichsrecht 
ift für Webertretungen jowol wie für Vergehen nur bezüglich der Materien zuläffig, 
welche nicht Gegenitand des RStrafGB. find. — Eine Kodifitation des Polizei— 
ftrafrechts hat neben dem RStrafGB. nur in einigen Ländern ftattgefunden, 3. 2. 
in-Bayern (PBol.StraiGB. vom 10. November 1861, revidirtes vom 26. Dezember 
1871), Württemberg (vom 27. Dezember 1871), Baden (vom 31. Oftober 1861, 


74 Polizeiſtrafverfahren. 


vgl. Art 3 des Badiſchen Einführungsgeſetzes zum RStrafGB. vom 23. Dezember 
1871), Abweichungen von den allgemeinen Beitimmungen des Reichsgeſetzes find 
darin nicht enthalten. 

Auch auf dem Gebiete des Strafprozefies ift eine durchweg verichiedene Behand» 
lung der Verbrechen und Vergehen einer- und der Polizetübertretungen andererjeits 
ihon vor dem Erlaß der Deutfchen StrafPO. in den meilten Territorien befeitigt 
worden. Dabei iſt jedoch nicht auägeichlofien, daß bei leichteren Delikten, aljo 
namentlich bei Webertretungen, ein einfaches Berfahren vor den zujtändigen Gerichten 
angeordnet wird (vgl. 3.8. StrafPD. SS 211, 244, 264 Abi. 5, auch 231, 319, 
447 ff.). Der Grundjaß, daß eine Strafe auch für Polizeidelifte nur von den Gerichten 
verhängt werden kann, war in Preußen durch die Verordnung vom 3. Januar 1849 
eingeführt (vgl. über die hiſtoriſche Entwidelung Förjtemann, ©. 212 ff., bei. 
251— 259) und auch die StrafPO. für das Deutfche Reich jteht auf diefem Stand» 
punft (vgl. $ 13 des GBG.). Es Handelt fich dabei um eine Beitimmung, die im 
Öffentlichen Intereſſe gegeben ift, die aber zugleich einen rechtlichen Anſpruch für 
jeden Beichuldigten darjtellt. Das öffentliche Intereffe ift bei den Leichteiten Delikten 
fo gering, daß es durch andere Rüdfichten verdrängt werden kann, 3. B. durch die 
auf eine Weberlaftung, welche den Gerichten aus der ausfchließlichen Befaßung auch 
mit den geringjten Straffachen erwachien müßte. Der Beichuldigte aber, dem regel- 
mäßig 'an einer fchnellen und mit geringen Koften verbundenen Strafrechtöpflege 
gelegen ift, wird, falls eine geringe Strafe in Ausſicht fteht, das einfachere und 
billigere Polizeiverfahren dem gerichtlichen vorziehen, obgleich das letztere mehr 
Garantien für eine unparteitiche Rechtöpflege darbietet. In diefem Falle können 
Bedenken gegen die Zuläffigkeit der polizeilichen Beftrafung faum obwalten, und es 
ift allen Forderungen auch des Nechtsftaates genügt, wenn nur in jedem Falle die 
Möglichkeit gewährt wird, vor der Vollſtreckung der Strafe die richterliche Ent» 
fcheidung anzurufen. Diefer Auftaffung wollte fich auch die StrafPD. um jo weniger 
verichließen, ala in einigen Staaten, 3. B. Preußen und Baden, mit der vorläufigen 
polizeilichen Strafverfügung gute Erfahrungen gemacht waren. 

Da bezüglich der Einführung diefes Verfahrens hauptjächlich die Bedürfnißfrage 
maßgebend jein muß, jo iſt diefelbe der Landesgefeßgebung (vgl. die Zuſammen— 
jtellung der in den einzelnen Bundesftaaten ergangenen Beitimmungen unten) an— 
heimgejtellt und die StrafPO. Hat nur die Grenzen für die Ihätigkeit jener bejtimmt 
(Buch VI., Abjchn. 2, 88 453—458). 

I Eine polizeiliche Strafverfügung it nur zuläffig bei Webertretungen, und 
auch hier darf die Polizeibehörde im einzelnen falle keine andere Strafe ald Daft 
bis zu 14 Tagen oder Gelditrafe und diejenige Haft, welche für den Fall, daß die 
Geldjtrafe nicht beigetrieben werden fann, an die Stelle der leßteren tritt, jowie eine 
etwa verwirkte Einziehung verhängen. Sleichgültig ift es, ob die Uebertretung durch 
das RStrafGB., ein Reichs- oder Yandesgejeß oder eine Verordnung unter Strafe 
gejtellt wurde, es fommt nur darauf an, daß feine höhere Strafe ald Haft oder 
Gelditrafe bis 150 Mark angedrodt ift. Sind Nebenjtrafen außer der Einziehung 
zuläffig, 3. B. Ueberweifung an die Landespolizeibehörde wie in $ 3623, Abſ. 3 des 
StrafGB., Verluſt der Beiugniß zur Beichäftigung jugendlicher Arbeiter wie in 
$ 150 der Gew.D. u. ſ. w., jo darf die Polizeibehörde diefelben im einzelnen Fall 
nicht auferlegen, wären fie obligatorifch, jo eignete der Fall fich nicht zur polizei- 
lichen Strafverfügung. Auf Haft von mehr al® 14 Zagen fann nur erfannt werden 
bei Umwandlung der verhängten Geldſtrafe, welche nach den in dem fraglichen 
Strafgeſetz aufgeſtellten Grundſätzen, in Ermangelung näherer Beſtimmungen nach 
Maßgabe des F 29 des StrafGB. erfolgen muß. Es kann alſo eventuell an Stelle 
einer Geldjtrafe eine Haft von 42 Tagen treten. — Innerhalb diefer Grenzen ijt 
die Landeögefehgebung nicht bejchränft, fie hat namentlich anzuordnen, welcher Be- 
hörde die Befugniß zum Erlaß der Strajverfügung zuftehe und kann die Kompetenz 


Polizeiftrafverfagren. 75 


derfelben beliebig bejtimmen. In Preußen ift die Beiugniß demjenigen übertragen, 
der die Polizeiverwaltung in einem bejtimmten Bezirke auszuüben hat [vgl. a) S 1 
und b) $ 2], außerdem find in einzelnen polizeilichen Angelegenheiten bejondere 
Behörden zum Grlaß von Polizeiftrafmandaten für zuftändig erklärt. Eine Zu— 
iummenftellung derſelben findet fich bei Dalde, (2. Aufl.) ©. 296 ff. Ebenſo 
werden nur Polizeibehörden im Allgemeinen als zuftändig genannt in Sachſen, 
my Baden (außer den Bezirkspolizeibehörden [a) $ 124] find nach 

$ 127 noch Bahnhofsvorftände und Hafenbehörden wenigſtens zur Feſtſetzung 
4 "Seldftrafen befugt; über deren Verfahren vgl. c) und d)), Medlenburg, 
Altenburg, Anhalt, Schwarzburg-Sondershaufen, Lübeck, Same 
burg. Die Gefege für Weimar, Oldenburg, Braunjchweig, Meiningen, 
Koburg- Gotha, Shwarzburg-Rudoljtadt, Reuß j. L. Bremen zählen 
die zuitändigen Behörden einzeln auf. Auch die Grenzen der Zuftändigfeit find 
verihieden bejtimmt. Abgejehen davon, daß meijtens für Forſt- und Feldrügeſachen, 
bezüglich deren $ 3, Abi. 3 des EG. zur StrafPO. die Anordnung eines be— 
Vondern gerichtlichen Verfahrens zuläßt (vgl. die Art. Forſtſtrafrecht, Forit- 
trafverfahren), ein polizeiliches Straffeftjegungsrecht nicht bejteht, haben nur 
einige Staaten ihren Polizeibehörden die reichsgeſetzlich zuläſſige Kompetenz voll ein— 
geräumt. So Sachſen [ohne jedoch die in beſonderen Geſetzen vorhandenen Be— 
ihränfungen aufzuheben, a) $ 1, Abf. 2, vgl. Walter, ©. 17], Württem- 
berg (jedoch nur bezüglich der Oberämter [a) Art. 14], während die Ortövorjteher, 
iowol bezüglich der Höhe der zu erfennenden Strafen [a) Art. 11) wie der Ueber: 
tretungen, welche ihrer Kompetenz unterjtehen [a) Art. 10), jehr beichräntt find), 
Baden (nur für die Bezirkspolizeibehörden, bezüglich der Bürgermeifter vgl. a) $ 130), 
Altenburg, Anhalt, Schwarzburg-Sonderähaufen, Reuß, Lübed, 
Bremen. Dagegen erſtreckt fich die Befugniß der Polizeibehörden in Preußen 
auf die Feitiegung von Strafen bis zu 15 Mark oder von Haft bis zu drei Tagen, 
a) $ 1 vgl. c), ebenjo in Braunſchweig 8 12, in Oldenburg auf bie 
Feſtſetzung von Geldſtrafen für Die in a) 2 aufgezählten Uebertretungen, in Mecklen— 
burg auf bie in a) $ 9 angeführten Uebertretungen, in Weimar nur für die 
oberen Behörden auf Haft [a) $ 3], für die übrigen auf Gelditrafen und Ein— 
ziehung [a) 5 4] und nicht auf alle Uebertretungen [a) $ 2], ebenfo in Schwarz- 
burg-Rudoljtadt [a) $$ 2 und 3], in Meiningen nur für die Ortö- 
voritände beftimmter einzeln aufgezählter Orte auf Gelditrafe bis zu 60 Mark und 
Haft bis zu 14 Tagen, für die der übrigen auf Gelditrafe bis zu 25 Mark ($ 2), 
in Koburg-Gotha nicht auf alle Uebertretungen und auf Strafen nur bis zu 
60 Mark und 14 Tage Haft, in Hamburg ($ 4) nur auf Gelditrafe, auf Haft 
nur im falle der Umwandlung und bezüglich der im & 361 des StrafGB. an— 
gerührten Webertretungen. 

U. Die polizeiliche Straffeitiegung darf niemals eine endgültige fein, vielmehr 
it ſtets der Antrag auf gerichtliche Entjcheidung zuläffig. Neben demjelben kann 
Iandesgefeglich noch eine Beſchwerde an die vorgejehte Adminiftrativbehörde geitattet 
werden, jedoch nur in der Weile, daß die Ergreifung des einen Rechtsmittels den 
Derluft des andern zur Folge hat. Das iſt geſchehen in Württemberg [a) Art. 20], 
Baden [a) $ 128], Medlenburg [a) $ 27], Hamburg ($ 7). In dem Frei— 
laffen einer ah zwifchen Bejchwerde und Antrag auf gerichtliche Entfcheidung 
liegt feine Berfagung des Rechtöweges, die allerdings unzuläffig wäre. Die gegen- 
veitige Ausschließlichkeit mußte angeordnet werden, weil eine gleichzeitige Verhand— 
lung derjelben Sache vor Juſtiz- und Adminiftrativbehörden, die möglicherweiie zu 
entgegengejegten Entſcheidungen führte, praktisch unzuträglich geweien wäre. Mit 
der Beichwerde ſelbſt beichäftigt fich die StrafPO. nicht weiter, die Stelle, bei der 
he anzubringen, die Friſt, binnen welcher fie einzulegen, die Wirkung derjelben, den 
weiteren Verlauf des Verfahrens haben die Landesgeſetze ausichließlich zu beitimmen, 


76 Polizeiſtrafverfahren. 


vol. Württemberg [a) Art. 20 und 21], Baden [b) $ 17], Mecklenburg 
[a) 88 28—30], Samburg ($ 8). 

III. Der nothwendige Inhalt der Strafverfügung iſt reichagejeglich vorgejchrieben. 
63 gehört dazu: 1) die Feitiegung der Strafe, 2) die Bezeichnung des angewendeten 
Straigejeges, 3) die Angabe der Beweismittel, 4) die Eröffnung, daß der Bejchuldigte, 
ſofern er nicht eine nach den Gejegen zugelaffene Beichwerde ergreife, gegen die Strar 
verfügung binnen einer Woche nach der Bekanntmachung bei der Polizeibehörde, 
welche dieje Verfügung erlaffen hat, oder bei dem zuftändigen Amtsgericht auf ge 
richtliche Entjcheidung antragen könne. Außerdem veriteht es fich von jelbit, dak 
die Strafverfügung datirt und von der betreffenden Behörde unterzeichnet jein muB. 
Landeögejeglich find häufig noch weitere Beitimmungen getroffen. a) Wo eme 
Beichwerde zuläffig iſt, muß auf die gegenjeitige Ausjchließlichfeit der beiden Rechts— 
mittel aufmerfjam gemacht werden. b) In Preußen, Sachſen, Weimar, 
Meiningen, Altenburg, Koburg- Gotha, Anhalt, Schwarzburg: 
Rudoljtadt, Neuß joll die Verfügung einen Hinweis auf den Gintritt der Voll: 
jtredfbarfeit und bei Gelditraien die Angabe der Kaffe, an welche, und binnen welcher 
Friſt zu zahlen jei, enthalten. Häufig ift Landesgejeglich auch die Angabe der Koſten 
bzw. der baaren Auslagen vorgefchrieben, wenn das Verjahren jelbit koſtenfrei iſt. 

Das bei Erlaß der Strafverfügung zu beobachtende Verfahren ift nur landes- 
gejeglich und natürlich nicht einheitlich geordnet. Allgemein ijt nur die Rüdficht: 
nahme auf thunliche Beichleunigung, ohne welche dafjelbe feinen Zweck verfehlen 
würde. Das wäre aber auch dann der Fall, wenn die Straffeſtſetzungen nicht den 
wirklich Schuldigen träfen oder die Strafe in einem Mißverhältniß zu der betreffen 
den Handlung ſtünde. Es muß aljo auf der einen Seite das Verfahren möglichſt 
abgekürzt, auf der andern die Feititellung des Ihatbeitandes in genügender Weile 
vorgenommen werden. Dabei bedarf nun die Polizeibehörde nicht eines wirklichen 
Beweiſes der Schuld, jondern kann fich damit begnügen, daß diejelbe wahrſcheinlich 
gemacht ift (vgl. 3.8. Preußen [a) $ 6). Die Unterwerfung unter die Straffeit- 
ſetzung ift der bejte Beweis, daß diefelbe das Richtige getroffen, und dem Unjchuldigen 
oder dem durch die Strafe Beichwerten jteht ja die Anrufung der richterlichen Ent: 
jcheidung frei. Es iſt aus diefen Gründen in der Regel auch eine mündliche Ver— 
handlung mit dem Bejchuldigten zwar nicht unterjagt, aber auch nicht vorgeichrieben 
worden. Häufig find der Polizeibehörde behufs Vorbereitung der Strafverfügung 
diejelben Berugniffe eingeräumt worden, wie der Staatsanwaltjchait durch S 159 der 
StrafP DO. So 3. B. in Württemberg [a) Art. 18] und Baden [a) $ 126). 
Anwendung von Zwangsmaßregeln wird dabei nur injoweit jtatthaft jein als die 
Landesgejeggebung fie ausdrüdlich zuläßt. Sie dürften jchon deswegen wenig em: 
piehlenswerth jein, weil fie Weiterungen veranlaßten, die mit der dem Polizeiver 
fahren wejentlichen Beichleunigung nicht in Einklang ftänden. In Württemberg 
[b) $ 12, Abi. 2] find gegen ausbleibende Zeugen Ordnungsjtrafen zuläffig. 
Medlenburg [a) $ 15] verlangt eine Verhandlung mit dem Bejchuldigten, zu 
welcher derjelbe vorgeladen und, wenn er fich in dem Bezirke der betreffenden Polizei— 
behörde befindet, auch vorgeführt werden fann. Nach $ 16 können auch Zeugen, 
die jedoch nicht zu vereidigen find ($ 20; jo bezüglich des Verbotes der Zeugenver- 
eidigung beinahe alle Landesgeſetze), vorgeladen und nöthigenfall® gegen fie Die in 
der StrafPO. vorgejchriebenen Zwangsmaßregeln auf Erfuchen der Poligeibehörde 
durch den Amtärichter verhängt werden. In Bremen find ohne mündliche Ber: 
handlung nur Geldjtrafen zuläffig und jedenfalls kann der Beichuldigte, unbeichadet 
des Antrags auf gerichtliche Enticheidung, eine wiederholte polizeiliche Verhandlung 
beantragen ($ 95). Bezüglich der Zeugenvorladung vgl. $ 103. In Hamburg 
fünnen Zeugen unter Androhung einer Strafe bis zu 30 Mark vorgeladen, und 
gegen die Ausbleibenden durch Vermittlung des Amtsrichters die prozeffualen Zwangs- 
mittel angewendet werden. 


Bolizeiftrafverfahren, 77 


Im Einzelnen find hervorzuheben: 

I. Beitimmungen über das Verhältniß der Polizeibehörden zur Staatsanwalt- 
ichaft bezüglich der Einleitung des Verfahrens. Es ift daran feftzuhalten, daß $ 152 
der StrafPO. die Staatsanwaltichaft verpflichtet, das Verfahren einzuleiten, ſoweit 
nicht gefeglich ein Anderes beſtimmt ift. Die Zuläffigkeit eines polizeilichen Ver— 
jahrens an fich ändert daran nichte. Es bedurfte daher bejonderer Vorſchriften, 
wenn die Staatsanwaltichaft verpflichtet ericheinen ſoll, die betreffenden Sachen zu— 
nähft an die zuftändige Polizeibehörde abzugeben. Diejelben können von der Yandes- 
geiehgebung auögehen, ohne daß darin eine unzuläffige Beeinträchtigung des reichs— 
geieglich aufgeftellten Legalprinzipes läge, denn die Zulafiung des Polizeiverfahrens 
jet auch die Zuläffigkeit von Beitimmungen voraus, welche die regelmäßige Anz 
wendung deſſelben bezweden. Grgangen find fie jedoch nur ausnahmsweiſe 3. 2. 
in Sachſen [b) $11], in Medlenburg [b) $ 2], im Gegentheil wird die Polizei- 
behörde Häufig angewiejen ihr Verfahren einzuftellen, wenn fie in Erfahrung bringt, 
dab der Amtsanwalt ein folches eingeleitet hat. So in Preußen [b) $ 3], 
Württemberg [a) Art. 16], Baden [b) $ 5]. Eventuell wird die Verfügung 
wirkungslos, wenn der Amtsanwalt eingejchritten ift, bevor diefelbe dem Befchuldigten 
befannt gemacht wurde. So in Preußen [a) $ 9], Oldenburg [a) $ 2], 
Medlenburg [a) $ 26], Altenburg ($ 9), Koburg-Gotha ($ 10), Ans 
halt ($ 10), Reuß ($ 7). Praktiich werden die Polizeibehörden in der Regel 
durch Anzeigen zunächit mit den Sachen befaßt werden, und in einigen Staaten find 
die betreffenden Organe angewieſen, dienftliche Anzeigen bezüglich zur Strafverfügung 
geeigneter Straffachen an die zuftändige Polizeibehörde zu richten, 3.8. in Württem= 
berg [b) $ 1], Baden [b) $ 1-3], Weimar (S 7). 

II. Berpflichtung der Polizeibehörden zur Erledigung der an fie gelangenden 
Anzeigen. Dem Rechte einer Behörde zum Ginfchreiten in Straffachen entipricht 
regelmäßig die Pflicht, von dieſem Rechte Gebrauch zu machen, e8 fünnen daher die 
Polizeibehörden Sachen, die zu ihrer Kompetenz gehören, nicht ohne Weiteres an 
den Amtsanmwalt abgeben. Nur ausnahmsweiſe ijt ihnen das Recht dazu eingeräumt 
worden, wenn fie eine Sache für ungeeignet zum Erlaß einer Strafverfügung halten, 
i03.®. in Württemberg [b) $ 10], Baden [b) $ 4], Weimar ($ 7). Das 
gegen muß die Uebergabe zugleich mit den entjtandenen polizeilichen Akten ſtets er— 
'olgen: 1) wenn es fich herausftellt, daß die betreffende Handlung nicht zur Kom— 
detenz der Polizeibehörde gehört oder eine höhere Strafe erforderlich ericheint als 
(andesgejeglich den Polizeibehörden zu verhängen erlaubt ift; 2) wenn umſtändliche 
oder mit polizeilichen Mitteln nicht anzujtellende Erhebungen, 3. B. eibliche Ver— 
nehmungen, nothwendig find, 3) mitunter auch wenn der Beichuldigte verhaftet und 
dem Amtörichter vorgeführt ift, 3.8. in Medlenburg [a) $ 18], oder die Straf- 
verfügung nicht ſofort erlafjen werden Tann, 3. B. in Württemberg (b SS 8 
und 4), oder die Sache nicht vorausfichtlich in 14 Tagen erledigt fein wird, z. ®. 
in Baden [b) $ 10], vgl. auch Preußen [b) $ 22]. — An diefem Falle wird 
natürlich gerade fo verfahren, ala wenn die Staatsanwaltjchaft von vornherein die 
öffentliche Klage erhoben hätte. 

III. Wie die Verfügung dem Bejichuldigten befannt gemacht werden ſoll, 
ihreibt die StrafPD. nicht vor. Die Landesgejehgebungen haben in der Regel jo= 
wol mündliche Gröffnung zu Protokoll, in welchem Falle auf Verlangen eine Ab— 
ihriftt ertheilt werden muß, wie Zuftellung einer Ausfertigung durch die Poſt oder 
beiondere Beamte zugelafien. Preußen [vgl. a) $ 3 und über die Modifikation 
des Verfahrens durch die Reichsjuſtizgeſetzgebung Meves, ©. 413, A. 12], 
Praunfchweig, Anhalt, Shwarzburg-Sondershaufen erwähnen die 
Möglichkeit einer mündlichen Bekanntmachung nicht. 

IV. Zu beilimmen, wann die Strafverfügung vollitredbar wird, iſt Sache 
der Landesgejehe. Es geichieht: 1) wenn die Friſt zur Einlegung der Rechtsmittel 


78 PVolizeiftrafverfagren. 


unbenußt verjtrichen iſt und Wiedereinjegung in den vorigen Stand nicht zuläſſig 
ericheint, oder die ergriffene Beſchwerde (wo dieſelbe zuläffig) verworfen wurde; 
2) wenn der Beichuldigte den Antrag auf gerichtliche Enticheidung zurüdgezogen 
(vgl. $ 456, Abi. 2 der Straf} DO.) bzw. auf die erhobene Beichwerde verzichtet 
hat (ausdrüdlich hervorgehoben in Württemberg a) Art. 22 Nr. 3). Braun: 
ſchweig ($ 14, Abichn. 2) jchreibt eine Vollftrefbarerflärung durch den Amts— 
richter vor. Auch die z. B. in Sachſen [b) $ 4], Württemberg [a) Art. 22], 
gegebene Beitimmung, vgl. Preußen [b) $ 22], daß ausdrüdliche Unterwerfung 
die Verfügung vollftredbar mache, verftößt nicht gegen das Reichsgeſetz. Wenn auch 
ein jolcher Verzicht auf richterliche Enticheidung in der Straf} OD. nicht erwähnt üt, 
jo liegt doch fein Grund vor, warum ein ausdrüdlicher Verzicht weniger wirkſam 
jein jollte, ala ein jtillichweigender durch Verftreichenlaffen der Antragsfriſt. Bezüg- 
lih der Einlegung von Rechtsmitteln ift ein jolcher in $ 344 der StrafPD. aus 
drüdlich zugelaffen, und wenn man dieſen Paragraph auch nicht direkt anwenden 
fann, weil der Antrag auf gerichtliche Enticheidung fein Rechtsmittel im Sinne der 
StrafPO. ift, jo wird man doc) daraus entnehmen können, daß die StrafPO. die 
Abkürzung einer Friſt durch ausdrüdlichen Verzicht nicht prinzipiell verwirft. Für 
die Zuläffigkeit jprechen fi) aus: Löwe, ©. 883 Nr. 5; Keller, ©. 490 Wr. 10; 
Puchelt, ©. 768 Nr. 8; Voitus, ©- 405 ff.; dagegen Meves, S. 418, weil 
die Zuläffigkeit eines folchen unwiderruflichen Verzichtes vom Gejeßgeber ebenio be 
züglich der Strafverfügung hätte hervorgehoben werden müflen, wie das beim amts- 
richterlichen Strafbeiehl in $ 449, Abi. 2 der Straf DO. geichehen jei. Man 
wird mindeftens ebenjogut den entgegengefegten Schluß machen fünnen. Weil die 
StrafPO. beim amtärichterlichen Strafbefehl, wo fie den Eintritt der Vollſtreckbar— 
feit erwähnt, den Verzicht auf Erhebung des Ginipruchs zugelaffen hat, würde das 
bezüglich des Antrags auf gerichtliche Enticheidung ebenfalls geichehen jein, wenn 
nicht die Beftimmung darüber, zugleich mit denen über den Eintritt der Vollſtreck— 
barfeit bei der Strafverfügung, der Yandesgejehgebung hätte überlafjen bleiben jollen. — 
Die Vollftrefung erfolgt regelmäßig durch die Polizeibehörde im Verwaltungswege; 
in Medlenburg [a) $ 31], Weimar ($ 12), Meiningen ($ 5), Koburg: 
Gotha ($ 8), Shwarzburg-Rudolftadt (S 8), Neuß (SI 5 und 6) be 
züglich der Haftjtrafen durch Bermittelung des Amtögerichtes,; in Braunfchweig 
(S 14, Abi. 2) wird die Verfügung wie ein gerichtliches Urtheil vollftredt. — 
Zweifelhait ift, was geichehen joll, wenn die auferlegte Gelditraie nicht beigetrieben 
werden fann und eine eventuelle Umwandlung derjelben in Haft von vornherein 
nicht ftattgefunden bat. Die Annahme, daß S 463 der StrafPO. analoge Ans 
wendung finde, aljo die Umwandlung nachträglich durch das Gericht, ohne Prüfung 
der Verfügung jelbft geichehen könne, wäre unjtatthaft, da $ 463 nur von dem 
Etrafbejcheide, nicht auch von der polizeilichen Strafverfügung ipricht, welche der 
Gejegeber doch nicht einfach überjehen haben kann. Aus demjelben Grunde kommt 
auch $ 491 der Straf PD., der fich nur auf gerichtliche Urtheile bezieht, nicht in 
Betracht. Ebenſowenig verjteht es fih, wie Schider (I.©. 91 Nr. 5) meint, von 
jelbit, daß die Polizeibehörde eine jolche Umwandlung nachträglich vornehmen könne. 
Darin läge eine Beeinträchtigung des Beichuldigten, dem jo der Rechtsweg abge: 
ſchnitten würde, welchen er vielleicht bejchritten hätte, wenn eine Strafummwandlung 
in der Verfügung enthalten gewejen wäre. Darum ift auch die Beitimmung des 
Gejees für Hamburg ($ 13) zu mißbilligen, daß die Umwandlung, ohne Ber: 
mittelung der Gerichte, ftets erjt dann gejchehen ſolle, wenn fich die Geldſtrafe faktisch 
nicht hat vollitreden laſſen. Sie verftößt, wenn nicht gegen den Wortlaut, jo doch 
gegen den Sinn der StrafP DO. Thilo (S. 503 Nr. 7), Dalde (S. 296 Nr. 3), 
Voitus (S. 411 ff.) wollen der Polizeibehörde das Necht einräumen, eine neue 
Straiverfügung zu erlaffen, ebenjo für Preußen Oppenhoff (S. 630 Wr. 24). 
Dabei wird jedoch zu untericheiden fein, ob die betreffende Handlung zur Zeit der 


Polizeiitrafverfahren. 79 


zweiten Strafverfügung verjährt ift oder nicht, mit anderen Worten ob der Zeit: 
raum zwiſchen den beiden Verfügungen mehr oder weniger als drei Monate betragen 
würde, Nur im lehtern alle wäre der erneute Erlaß ftatthaft und die betreffende 
Verfügung jo zu behandeln, ala ob vorher eine jolche noch gar nicht ergangen. 
Meves (S. 415 ff.) hält das begangene Verſehen für nicht mehr verbefjerlich und 
meint, der Bejchuldigte könne gegen eine neue Verfügung den Einwand der ſchon 
erfolgten Feſtſetzung erheben und laufe Gejahr, wenn er denjelben unterließe, daß 
innerhalb der Berjährungsfrift beide Verfügungen an ihm zur Bollftrefung gebracht 
werden könnten. Natürlich müßte in der zweiten Verfügung die Aufhebung der 
eriten ausgefprochen werden, aber jelbit wenn das unterbliebe, könnte fich der Be— 
ihuldigte immer noch gegen eine Doppelvollitrefung mit den Mitteln jchüben, die 
gegen ungerechtiertigte Polizeimaßregeln überhaupt zuläffig find. Der von Meves 
getürchtete Einwand aber wäre in jedem Fall unerheblich, da er entweder an die 
vorgeſetzte Behörde ginge, welche ihn als unbegründet zurückweiſen könnte, oder fich 
als Antrag auf gerichtliche Entjcheidung darjtellte, in welchem Falle das Gericht 
ohnehin in der Sache jelbjt zu erkennen hätte. 

V. Bezügli der Wirkung jteht eine volljtrefbar gewordene Strafverfügung 
dem rechtäfräftigen Urtheile gleich, das ftaatliche KHlagerecht ift durch diejelbe ver— 
braucht. Eine Ausnahme findet nur injofern jtatt, ala die Staatsanwaltichaft auch 
nah rechtskräftig gewordener Polizeiverfügung die öffentliche Klage erheben kann, 
wenn die betreffende Handlung, richtig betrachtet, feine Webertretung, jondern ein 
Verbrechen oder Vergehen darftellt. Der Grundjaß non bis in idem, den die 
StrafPD. zwar nicht ausdrüdlich aufitellt, aber unzweifelhaft ftillfchtweigend aner- 
fennt, Steht dem nicht entgegen. Seine Anwendung beruht auf der Annahme, daß 
bei der eriten Berhandlung ein Zuſammenwirken der Staatsanwaltichaft und der 
Gerichte jtattgefunden habe, aljo dafür, daß feine rechtlich erheblichen Gefichtspunfte 
überjehen wurden, Garantien gegeben jeien. Diejelben fehlen bei dem Polizeiver- 
jahren, welches darum auf ein bejtimmtes enges Gebiet bejchränft wurde. Eine 
Ueberichreitung deijelben Führt zur Aufhebung des Verfahrens, falle es zur gericht- 
lichen Verhandlung kommt, und es ijt dann gerade jo, als jei in der Sache jelbit 
noch nichts geichehen. Sollte das anders fein, wenn die richterliche Prüfung durch 
ausdrüdlichen oder ftillichweigenden Verzicht des Beichuldigten ausgeichloffen wird, 
jo räumte man damit dem Bejchuldigten einen jonft unerhörten Ginfluß auf das 
ftaatliche Klagereht, und der Strafverfügung eine über ihren Inhalt weit hinaus— 
gehende Bedeutung ein. Mehrere Landesgeſetze enthalten entiprechende Beitimmungen, 
J. B. Preußen [a) $ 8], Württemberg [a) Art. 24], Medlenburg [a) $ 31], 
Beimar ($ 13), Meiningen (S 7), Altenburg ($ 8), Koburg=- Gotha 
($ 9) Schwarzgburg-Rudolftadt ($ 10), Reuß ($ 7), aber auch wo diejelben 
iehlen, muß aus inneren Gründen ebenjo entichieden werden. So auch das Reichs— 
gericht (vgl. Urtheil vom 2. Juni 18805. Rechtſprechung II. ©. 17, Enticheid. II. 
©. 217), welches andererjeits anerkennt (vgl. Urtheil vom 7. Juli 1880, ſ. Buchelt, 
©. 707 Nr. 4), daß die innerhalb der polizeilichen Zuftändigfeit verhängte Strafe 
wegen der gleichen Webertretung nicht nochmals von den Gerichten ausgeiprochen 
werden darf. Nicht unbedenklich ift die in den erwähnten Landesgejegen, mit Aus— 
nahme von Preußen, Württemberg, Medlenburg, weiter enthaltene Be— 
ftimmung, daß folchen Falls eine gezahlte Gelditrafe zurücerftattet, verbüßte Haft 
voll angerechnet werden müſſe. Für Preußen will Oppenhoii (©. 635 Nr. 4 
zu $ 8) auch ohne gejeliche Beitimmung ebenjo entjcheiden. Die Zurüderftattung 
der Gelditrafe kann unzweifelhaft angeordnet, nicht aber auch der Richter angewieſen 
werden, eine vollzogene Haftjtrafe in Anrechnung zu bringen. Sicher wenigjtens 
dann micht, wenn das betreffende Delikt reichsrechtlich mit Strafe bedroht ift, in 
welchem alle allein die reichsrechtlichen Grundjäge auch über Anrechnung verbüßter 
Strafen zur Anwendung gelangen dürfen. Praktiſch würde es ohnehin große Schwierig— 


80 Polizeiitrafverfahren. 


feiten machen, daß ein geſetzlicher Maßſtab fehlt, nach welchem Haft auf andere 
Freiheitsſtrafen angerechnet werden könnte, aljo dem richterlichen Gutdünten über 
laſſen werden müßte, das Verhältniß zwiichen beiden von Fall zu Fall zu ermitteln. 
Da Reichsrecht durch Landesgefee nicht abgeändert werden kann, wird man, joweit 
jolches in Betracht kommt, die angeführten Geſetze für unverbindlich halten müſſen 
und bei dem endlichen Urtheile feine Rücdficht auf die in Folge der Polizeiverfügung 
verbüßte Strafe nehmen fünnen. So auch Meves (S. 414, Anm. 14), welcher 
meint, nöthigenfall® habe der Givilrichter darüber zu enticheiden, wer den Verur— 
theilten wegen der erlittenen Haft entichädige. — Wenn eine Polizeibehörde ihre 
Zuftändigkeit üiberfchreitet, jo ift ihre Verfügung nichtig und muß von der vorgefeßten 
Behörde aufgehoben werden, an welche fich der Beichuldigte auch dann noch wenden 
fann, wenn die Friſt zur Stellung eines Antrages auf gerichtliche Entſcheidung be= 
reits abgelaufen iſt. Alsdann kann jedoch das Gericht mit der Sache nicht mehr 
befaßt werden, auch nicht, wie Keller, ©. 490 Nr. 9, will, durch Einwendung 
gegen die Zuläffigkeit der Straivollftredung. $ 490 der StrafPO. ift unanwend- 
bar, weil er fich nur auf gerichtliche Entſcheidungen bezieht (vgl. Löwe, ©. 833 
Nr. 2e). 

VI Schließlich enthalten die meisten Landesgejege Beitimmungen über die 
Verwendung der eingegangenen Gelditraien und die Vorſchrift, dat bezüglich Art 
und Anzahl der ergangenen Strafverfügungen Tabellen nach bejtimmten Formularen 
anzulegen und den vorgejegten Behörden von Zeit zu Zeit einzureichen find. 

Wenn mun eine Strafverfügung nicht vollitrefbar geworden, jondern ein Ans 
trag auf gerichtliche Enticheidung geftellt ift, fo find nur noch die reichögejeßlichen 
Vorichriften maßgebend. Gemäß derfelben kann ein jolcher Antrag angebracht werden: 
1) bei der Polizeibehörde, welche die Verfügung erlafien hat, 2) bei dem zuftändigen 
Amtögerichte, und zwar jchriftlich oder mündlich. In lehterem Falle muß die An— 
bringung entweder durch ein Protofoll des Gerichtsichreibers (S 454, Abſ. 1) oder von 
der Polizeibehörde in der landesgejeßlich vorgejchriebenen Form bekundet werden, vgl. 
4. B. Preußen [a) 8 5], Württemberg [b) $ 15], Braunjchweig ($ 13). 
Nach den Beitimmungen in: Preußen [b) S 5], Sadien [b) $ 8], Alten= 
burg (86), Weimar ($ 11), Oldenburg [a)$4], Shwarzburg-Rudol-= 
ſtadt ($ 7), Reuß ($ 4) Haben fich die Behörden von der Stellung des Antrages 
gegenjeitig zu benachrichtigen. Der Amtsanwalt braucht einen jolchen nicht anzunehmen, 
muß den angenommenen aber jofort an die Polizeibehörde oder das zuftändige Ge— 
richt gelangen lafjen. — Daß auch der gejeliche Vertreter des Beichuldigten und 
der Ehemann zu jelbftändiger Antragitellung befugt jeien, ift zwar im Gejeße nicht 
ausdrücklich gejagt, entipricht aber der progeffualiichen Behandlung dieſer Perſonen 
durchaus. Der analogen Anwendung des $ 340 fteht nichts im Wege, wenn auch 
aus demjelben direkte Folgerungen nicht gezogen werden können, da der fragliche 
Antrag fein Rechtsmittel im Sinne der StrafPO. ift. Nach $ 4 des Geſetzes für 
Meiningen fann auch der Amtsanmwalt auf gerichtliche Entjcheidung antragen. — 
Die Zuftändigkeit des Gerichtes bezüglich der Antragjtellung ift nach den allgemeinen 
Grundjägen zu beurtheilen. Eine Beichränfung auf das Gericht am Sit der Polizei» 
behörde, die Meves (S. 417) annimmt, ift durch keine gejegliche Vorfchrift geboten. 
Sie wäre jchon um deswillen unangemeffen , weil es die Anbringung des Antrags 
erichwerte, wenn der Beichuldigte fich nicht in jedem Falle an das Amtögericht jeineg 
Wohnort? wenden dürfte. Die Verhandlung jelbjt kann darum doch vor dem Gericht 
jtattfinden, in deſſen Bezirk die Polizeibehörde ihren Sit hat, da diefelbe die Akten 
zwar an die zuftändige Staatsanwaltichaft abgeben muß, natürlich aber unter 
mehreren zuftändigen die Wahl Hat. Die Aktenüberſendung, für welche Hamburg 
($ 7, Abi. 2) eine vierrwöchentliche Friſt läßt, muß geichehen, ohne daß Die 
Polizeibehörde, falls der Antrag bei ihr gejtellt wird, befugt wäre, die Rechtzeitig 
feit deffelben oder die Berechtigung des Antragftellere zu prüfen. So Thilo, 


Bolizeiftrafverfahren. 81 


©. 504 Nr. 4, Meves, ©. 417, Anm. 17, anderer Meinung: Löwe, ©. 884 
Rr. 4, der jedoch, im Fall der Beichuldigte der polizeilichen Entjcheidung wider: 
ſpricht, ebenfalla die Sache dem Amtsrichter überlaffen will. Dochow hat jeine 
über ausgeſprochene Zuftimmung zu Lömwe’s Meinung anfcheinend fallen Lafjen 
(vgl. 1. Aufl., ©. 236 und 2. Aufl., ©. 238 mit 3. Aufl., ©. 279); vgl. auch 
Yitus, ©. 397 ff. — Bis die Alten der Staatsanwaltichaft eingereicht find, 
fann die Verfügung zurüdgenommen werden, fpäter nicht mehr. Die Anficht Thil o's, 
©. 504 Nr. 2, daß eine folche Zurüdnahme im Einverftändniß mit der Staats— 
anwaltichaft zuläfftg jei, jo lange die Sache dem Amtsrichter noch nicht vorgelegt 
it, hat im Gefe nicht den mindejten Anhalt. Erfolgt die Zurüdnahme, über deren 
Statthaftigkeit die Landesgeſetze Anweiſungen geben können (vgl. Preußen [c) II. 1], 
VBürttemberg [b) $16] — nur wenn die Verfügung unbegründet war), jo wird 
dadurch weder die Erhebung der öffentlichen noch der Erlaß einer neuen Verfügung 
ausgeichloffen. — Gegen die VBerfäumung der Antragsfriſt ift ein Gefuch um Wieder- 
einfegung in den vorigen Stand zuläffig. Ueber dafjelbe, welches auch bei der 
Polizeibehörde geftellt werden kann (nothwendig wegen $ 45, Abi. 2), entjcheidet 
der Amtärichter nach den allgemeinen Grundſätzen. Daß auch $ 47 entiprechende 
Anwendung finde, wie Löwe (S. 885 Nr. 2 zu $ 455) und Thilo (©. 505 
Nr. 2) wollen, wird man bei dem Schweigen des Gejeßes, welches in $ 455 die 
übrigen von der Wiedereinfegung handelnden Paragraphen einzeln für anwendbar er= 
färt, nicht annehmen dürfen. Die StrafPO. will die Beitimmungen über die Voll- 
ftreefbarfeit der Strafverfügung und darum auch die über den Einfluß der Wieder- 
einfegung auf jene der landesgejeglichen Regelung überlaffen. In Württemberg 
(a) Art. 22] iſt $ 47 für anwendbar erklärt worden, ebenfjo Oldenburg [a)5$1]; 
two ausdrüdliche Beitimmungen fehlen, werden die allgemeinen Grundjäße der be= 
treffenden Gefeßgebung zur Anwendung fommen müflen. — Wenn der fragliche An- 
trag an den Richter gelangt, jo hat derjelbe nur die Rechtmäßigkeit eventuell die 
Segitimation des Antragitellerd zu prüfen und muß dann einen Termin zur Haupt— 
verhandlung anberaumen. Bis zum Beginn derjelben kann der Antrag zurüd- 
genommen werden, aladann tritt die Verfügung wieder in Kraft ($ 456, Abi. 2). — 
Der Einreichung einer Anklageſchrift oder einer Entjcheidung über die Eröffnung des 
Hauptverfahrens bedarf e& nicht ($ 456, Abſ. 1), da erjtere durch die polizei= 
lichen Akten erjegt wird, und leßtere nicht abgelehnt werden kann, wenn der Antrag 
rechtzeitig gejtellt ift. — Das Berfahren in der Hauptverhandlung, bei welcher die 
Staatsanwaltichaft mitwirken muß, als habe fie die öffentliche Klage erhoben, weicht 
von dem gewöhnlichen nicht ab. Daß der Angeklagte fich dabei nur durch einen mit 
schriftlicher Vollmacht verjehenen Vertheidiger vertreten laſſen kann ($ 457, Abi. 2), 
entipricht Lediglich den allgemeinen Beitimmungen der 88 231 und 233. Gein 
Gricheinen wird als regelmäßiger Fall vorausgefegt und er muß entjprechend den 
Beitimmungen des $ 231, Ab. 2 geladen und gegen den Ausbleibenden, auch wenn 
er durch feinen Bertheidiger vertreten ift, verhandelt werden. Cine Regelung 
des Verfahrens in diefem Tall von der Yandesgefeggebung zu erwarten, wie 
v. Schwarze, ©. 590 zu $ 457, will, dürfte weder ftatthaft noch nothwendig fein, 
da die allgemeinen Beftimmungen der StrafPO. anwendbar find ($ 457, Abi. 1) 
und volltommen ausreichen; vgl. gegen v. Schwarze auch Voitus, ©. 408 ff. 
Tie gegen das jchöffengerichtliche Urtheil zuläffigen Rechtsmittel find die gewöhn— 
chen, namentlich ift Wiedereinjegung in den vorigen Stand, entiprechend $ 234, 
jzuläffig. Much $ 235 kann angewendet, d. 5. ein perjönliches Erjcheinen des An— 
geflagten vor Gericht angeordnet werden. — Das Gericht kann die verhängte Strafe 
betätigen, den Angeklagten freifprechen, ihn zu einer leichtern oder härtern Strafe 
verurtheilen, es ift an die Strafverfügung nur infofern gebunden, als fich das Urtheil 
auf dieſelbe That wie jene beziehen muß. Was in Zweifelsfällen als „diejelbe 
That“ anzufehen jei, muß nach den allgemeinen Grundjähen beurtheilt werden. 
dv. Holgendorff, Enc. II. Rechtälerifon 111. 3. Aufl. 6 


82 Polizeiitrafverfahren. 


Findet das Gericht, daß bezüglich der fraglichen That die Polizeibehörde zum Erlaß 
einer Strafverfügung nicht befugt war, wobei die Landesgeſetze zu berüdfichtigen find, 
jo wird die Verfügung aufgehoben ($ 458). In der Sache jelbjt darf dann auf 
feinen all erfannt werden, auch dann nicht, wenn die That des Angeklagten zur 
Zuftändigfeit der Schöffengerichte gehörte. Das betreffende Urtheil fann durch Be 
rufung angefochten werden, es präjudizirt die Staatsanwaltichaft bezüglich der Er: 
hebung der öffentlichen Klage in feiner Weife. 

In Defterreich beiteht jowol ein eigentliches P. wie ein jog. richterliches 
Mandatsverfahren (val. SS 460—462 der StrafPD.). Das erftere ift von den 
Gerichten unabhängig, es fennt ala Nechtsmittel nur den Rekurs an die vorgefehte 
Behörde. Die Regelung der Zuftändigkeit wie des Verfahrens ijt nicht einheitlich 
geichehen, weder für den ganzen Staat noch für einzelne Länder, es bezieht ſich 
jedoch nur auf die nicht in dem allgemeinen Strafgefee enthaltenen Gejeßesüber: 
tretungen (vgl. Lienbader, ©. 267 ff.). Das Mandatöverfahren iſt eine befondere 
Art des Verfahrens in Uebertretungsfällen (SS 447 ff.). Xebteres findet vor den 
Bezirkögerichten jtatt und weicht in mancher Beziehung von dem gewöhnlichen ab, 
jo kennt es 3. B. feine Vorunterfuchung, feine Verhandlung über die Berjegung in 
Anklageitand ($ 451), in der Negel feine DVBereidigung der Zeugen ($ 453), indem 
an Stelle des Eides der Handſchlag tritt, und läßt ausnahmsweiſe ein Kontumazial- 
verfahren zu ($ 459). Das Mandatsverfahren bejteht in einer Strafverfügung, 
deren Inhalt ungefähr der polizeilichen der Deutichen StrafPO. entipricht, und 
gegen welche innerhalb von acht Tagen Einſpruch erhoben werden kann, der den 
Eintritt des ordentlichen Verfahrens herbeiführt (S 462). Sie erfolgt auf Antrag 
des mit den ftaatsanwaltlichen Verrichtungen betrauten Beamten, wenn von einer 
öffentlichen Behörde gegen einen auf freiem Fuß befindlichen Bejchuldigten auf Grund 
ihrer eigenen dienftlichen Wahrnehmung eine Gejegesübertretung angezeigt wird, 
welche im Geſetz mit Arreft von höchitens einem Monate oder nur mit einer Geld» 
jtrafe bedroht ift. Es fann durch diejelbe nur Arreſt von höchſtens drei Tagen 
oder eine Gelditrafe von 15 Gulden verhängt werben. 

so. StrafPD. für dad Deutiche Reich SS 453458. Vol. Hahn, Materialien, II. 
©. 49 (Entwurf SS 381-385), 288 (Motive), 1123 ff., 1429 ff., 1647 ff. (Berhandlungen der 
Reichsjuſtizkommiſſion) — Preußen mit Ausnahme des Oberlandesgerichtd: Bezirkes Köln: 
a) Geſetz über die vorläufige Straffeitiegun * Uebertretungen v. 14. Mai 1852 (Gej.Samml. 
©. 245); b) Reglement 3. Ausführung —* eſetzes (Min.Bl. ©. 259); c) Allgem. Verfügung 
vom 15. Sept. 1879 betr. die Belanntmachung der Minifterien ber Juftiz und des Innern 
über dad Verfahren bei der vorläufigen Steafeehung wegen lebertretungen (Juſt. Min. Bl. 
©. 361); d) Gejeh vom 26. März 1856 über die Nubungen und Laften aus der vorläufigen 
Straffeftiegung wegen Uebertretungen (Gej.Samml. S. 225). — Sadjen: a) Gejeh das Ber: 
fahren in Verwaltungäftraffachen betr. vom 8. März 1879 (Gef. u. Verorbn. Bl. vom Jahre 
1879 ©. 87); _b) Verordnung zur Ausführung dieſes Gefehes vom 15. Sept. 1879 (Gef. u. 
Perordbn. Bl. S. 351). — N a) Geſetz dv. 12, Aug. 1879 betr. Aenderungen des 
Landespolizeiftrafgejeges vom 27. Dez. 1871 x. A. 9 ff. (Reg. Bl. ©. 153 ff.); b) Verfügung der 
Minifterien der auswärtigen pie und des Innern betr. die Vollziehung des Geſetzes 
vom 12. Aug. 1879 (Reg.Bl. ©. ff.) — Baben: a) Geſetz vom 3. März 1879 die Eins» 
führung der Reichsjuftizgefege betr. SS 124 ff. (Gef.- u. Verordn. BI. ©. 116 ff.); b) Verordnung 
vom 11. Sept. 1879 das Polizei- und Finanzſtrafverfahren zc. betr. (Gei.Bl. ©. 618 fi.); 
ce) Verordnung des Handelaminifteriums v. 29. Sept. 1879 (Gei.BI. Nr. 49); d) Verordnung des 
Minifteriums der finanzen vom 25, Oft. 1879 (Ge. BL. Nr. 53 88 62 ff). — Medlen: 
burg: Schwerin eg übereinjtimmend): a) Verordnung zur Ausführung der 
StrafPD. v. 28. Mai 1879 $8 836 (Reg. Bl. ©. 333 ff.); b) Verordnung betr. die Inftruftion 
der Amtsanwälte in Betreff der einer polizeilichen Strafverfügung unterliegenden Ueber— 
ee vom 28. Mai 1879 (Reg.Bl. 377 fi.) — Sadjen-Weimar: a) Gefeß über bie 
polizeilihe Straffeftiegung vom 12. April 1879 (Reg.Bl. 1879 ©. 153 ff.); b) Minifterial- 
bekanntmachung das polizeiliche — betr. vom 5. Juli 1879 (Reg. Bl. 
©. 383); c) Minifterialbelanntmadung die Polizeiftraftabellen betr. dv. 9. Juli 1879 (Req.Bi. 
©. 397). — Oldenburg: ig betr. die Befugniß der Polizeibehörden zum Erlaß von 
Strafverfügungen x. vom 25. März 1879 (GeſBl. Bd. XXV. Stück 19). — Braun: 
ſchweig: Gele die Ausführung der Deutichen Prozekordnungen betr. vom 1. April 1879 
85 12—15. — Sadfen:Meiningen: AG. zur Deutichen StrafPO. vom 17. Juni 


Poltzeiſtunde. 83 


1879 88 1 ff. (Samml. der landesherrlichen Verordnungen Bd. 22 ©. 105 — Sadjen: 
Altenburg: * die polizeilichen Strafverfügungen betr. vom 8. Mai 1 5 (Geſ.Samml. 
&. 152 fi). — Sachſen-Koburg-Gotha: Geſetz die — + Verfügung der 
Poligeibehörden betr. vom 7. April 1879 (Gef. Samml. ©. 145 ff.). — Anhalt: Seleh betr. 
die anderweitige Einſchränkung ber N der Penn x. vom 38. März 
1877 55 4—13 (Gej.Samml. Bd. 8 (1878) 300 fi.) — Schwarzburg: ‚Rudolftabt, 
8) Geſetz bie 5; eiliche Sirafefiehun und Strafanforderung betr. vom 28. März 1879 
Geſ. Samml. S ff.); b) Verordnung bie Führung von Verzeichnifſen über die von den 
Verwaltungs: . Gemeindebehörben rg Straffälle betr. (Gej.Samml. ©. 392). — 
Shwarzburg:-Sondershaujen: a) — das den Verwaltungsbehörden zuſtehende Straf: 
—*— srecht betr. vom 17. Mai 1879 SS 1 ff. Geſ. Samml. S. 109 ff.); b) Inſtruktion vom 

5. Auguft zur Ausführung dieſes Geſezes (Geſ. Samml. S. 185 ff... — Reuß jüngere 
Sinie: Geſetz das ET und ———— betr. vom 22, Febr. 
1879 (Geſ. Samml. Bd. 20 ©. 32 ff.). — Lübed: a) Verordnung die Ausführung der 
Straf PO. betr. vom 3. ehr. 1809 At 3 (Sammlung der Lübediihen Verordnungen und 
Velannt machungen ©. 33ff.); b) er für Strafbefugnifie der ——— v. 20. März 
1561 55 12, 26 (Samml. 1861 ©. 15 ff), — Bremen: Gefeß betr. die Ausführun = 
Deutichen Droyehgeiete x. vom 25. uni 1879 SS 94—98, 102, 103 (Geſ. Bl. ©. 213 ft.) — 

Hambur eſetz betr. das Verhältniß der Derwaltung zur Rechtspflege vom 23. April 
En 88 215 (Gei.Samml. I. Abth. Nr. 15). 

Lıt.: 1) Bezüglich de Gegenjapes — friminellem und polizeilichem Unrecht: Bekker, 
Theorie des heutigen Deutſchen Strafrechts, ©. 115 ff. — Binding, Die Normen und ihre 
lebertretung, Bd. I. S 30 ©. 179 ff. (reiche Siteraturangaben Anm. 304 ff). — Feuerbad, 
Revifion ber Grunbfähe und Grundbegriffe des pofitiven peinlichen Rechts, Kap. 885 Bd. Il. 
S. 219 ff.; Derielbe, Lehrbuch des peinlichen Rechts, 3 432. — Grolmann, ne 
der Rriminalrechtswiffenichaft, S 365. — Heffter, Lehrbuch des Deutichen "Strafr 
331. — Dälichner, _Spftem des Preußiichen Strafrechtes, B.1l © 1,6; Derie 
im Gerichtsſaal 1869, S. 96 ff.; Derielbe, Dad gem. Deutiche Strafrecht, BI. ©. Fi — 
Köſtlin, Neue Revifion der Grundbegriffe be3 Kriminalrechts, ©. 692 ff.; Derfelbe, 
Spftem des > Deut en 1 Gtrafrehtö, s 13817 fi. — Mertel, Kriminaliftiiche Abhand: 
* J. ©. 95 ff. — Hugo Meyer, Lehrbuch des Deutichen Strafrehts (2. = ), 8 25 
€. 136 ff.; Motive zuın — em StrafGB. für ben Nordd. Bund, 1869, ©. 185 ip 
1870 (ed. Kortkampf), © 6 ff. — Stahl, Die Philoſophie des Rechts, Bd. m Abth. 2 
ſ. 693 ff. — v. Mädhter, Da fal. Sächfiiche u. das —— Strafrecht, ©. 299 ff. — 
Bahlberg, Das Prinzip der Indivibualifirung im Strafrecht, 123 ff. — 2) — 
des P.: a) Yür dad Deutiche Reich: Dohomw, Der RStrafhrz. —* Aufl.), S. 277 fi. — 
Gever, Lehrbuch des — Deutſchen StrafürzR., = 876 fi. — Meves in v. Holken: 
dorff, Handbuch des Deutichen Same, D»d. II. 407 ff. — Voitus, FKontroverfen 
betr. die StrafPD. und das GBG., 397 ff. — Sie Kommentare zur StrafßO. von 
vd. Bomhard und Koller, Dalde, le Löwe (1. Aufl.), Puchelt, v. — — 
Thilo, Voitus bei den SS 453—458. — b) Für bie einzelnen Territorien: Dede: 
Förftemann, * ipien des Preußiſchen Polizeirechts. — Oppenhoff, Die Preußiichen 
Geſetze über dad münd iche und öffentliche Verfahren in Samen x. — Sadien: Walter, 
Tas im Königreich Sachſen geltende P. — Württemberg: Schider, Das Polizeiftrafrecht 
und PB. im Be eih Württemberg. — Die neue Juftizge ehgebun im KHönigreih Württem: 
berg. Amtliche Ausgabe. — Baden: Strafrecht, bearbeitet von Eugen v. Seyfrieb und 
Fed. Freiherr v. Neubronn — Medlenburg: v. Amsber erordnnungen zur Aus: 
führung ber — djuſtizgeſehe. — Weimar: Stagatsverträge, Gele che und Verordnungen zur 
Ausführung ber — im Großherzogthum Sach — ——————— land: 
feld, Die Braunfchweigiichen Ausführun sgeſetze zu ben a y Sir Defter: 
ih: Lien bacher, Das Deiterreichiiche Boligeiftzafrecht, 4. Aufl. v. Billenthal 

Bolizeiftunde. Eine Schlußjtunde für öffentliche Wirthshäuſer (gegen das 
Rachtſitzen) findet fich in den Städten Deutichlands jchon jeit dem 14. Jahrh. 
angeordnet, theils aus Rüdfichten auf die Erhaltung der Nachtruhe (v. Maurer, 
Städteverfafjung, II. ©. 157), theils aus dem lurußpolizeilichen Gefichtspunfte 
(Keutbold, Sächſ. Verwaltungsrecht, S. 275). Auch das heutige Recht hat die 
P. nicht aufgegeben; doch ijt die Regelung meijt provinziell reip. Lokal verjchieden. 
(Für Preußen vgl. $ 6, e des Geſetzes über die Polizeiverw. vom 11. Mär; 1850 
und die Verordn. vom 20. Sept. 1867 für die neuen Landestheile; für Bayern die 
Berordn. vom 18. Juni 1862, Reg.Bl. ©. 1388, und dazu Art. 2, 4 des 
Tol.StrafGP.; für Königr. Sachen Polizeiordnung vom 22. Juni 1661 Tit. 19; 
ir Württemberg Berfügung des Min. des Innern vom 2. Dez. 1871, Reg.Bl. 
©. 302.) Gin bejonderes Glodenzeichen (nach älterem Nechte: Bierglode, Wein- 

6* 


84 BPolizeiverordnnungen. 


glode, Rathsglocke) ift zum Gintritte der P. nicht mehr erforderlich (Verfügung des 
Preuß. Min. des Innern und der Polizei vom 7. April 1839); andererſeits er 
ſtreckt fich leßtere nur auf Schankgäſte, nicht auf Privatgäfte (OTrib.Erf. vom 25. 
Juni 1879) und Quartiergäfte (Oppenhoff, zu $ 365 N. 3), nicht auf die den 
Reifenden dienenden Eifenbahn » Reftaurationslofale und auf die Lokale geichlofjener 
Gejellichaiten (Württemb. Verfügung $ 2), dagegen auf die von einer gejchloffenen 
Gejellichait unter Aufhebung des allgemeinen Zutrittsrechts ermietheten Lokalitäten 
eines Wirthshauſes, mindeſtens jofern die Ermiethung feine ftändige ift (Plenar- 
erfenntniß des Bayer. oberiten Gerichtshofs vom 28. Juli 1875; Stenglein, 
Zeitichr., Bd. 5 ©. 42 der neuen Folge). Wer in einer Schankſtube oder an einem 
Öffentlichen VBergnügungsorte über die gebotene P. hinaus verweilt, ungeachtet der 
Wirth, jein Vertreter oder ein Polizeibeamter ihn zum Fortgehen aufgefordert hat, 
wird mit Geldjtrafe bis zu 15 Mark bejtrait; der Wirth, welcher das Verweilen 
jeiner Gäfte über die gebotene P. hinaus duldet (über die an den Wirth zu jtellenden 
Anforderungen vgl. Oppenhoff, Nr. 7; v. Schwarze, Nr. 4; Bayer. Erf. vom 
20. Nov. 1875; Samml., Bd. 5 ©. 516), wird mit Gelditraie bis zu 60 Marl 
oder mit Haft bis zu 14 Tagen bedroht (RStrafGB. $ 365). — In Dejterreid 
erfolgt die Feitjegung der P. (Sperrjtunde) entweder für das ganze Kronland oder 
eine einzelne Ortichaft und entweder allgemein oder für eine bejtimmte Zeitperiode. 
Polizeiftrafe trifft den Wirth auch dann, wenn er feine Lofalitäten zur beftimmten 
Stunde nicht jchließt, die Gäfte erit, falls fie, obgleich der Wirth von einem Sicher: 
heitsorgane bereits fruchtlos an die Erfüllung jeiner Pflicht Hinfichtlih der P. 
erinnert worden ift, fich nach diefer Stunde aus jenen Lokalitäten auch dann nod) 
nicht entfernen, wenn ein Sicherheitsorgan die Aufforderung hierzu unmittelbar an 
fie jelbft gerichtet hat (Minifterialverordn., betr. die Feitiegung der P., vom 3. April 
1855, R.G.BL. N. 62). — Auch in Frankreich lokale Regelung; dagegen in Eng: 
(and allgemeine durch die Licensing Act von 1874. Leuthold. 

Polizeiverordnungen. Der weite Umfang und die geſetzähnliche Wirkung 
der P. im heutigen Verwaltungsrecht jteht im Zujammenhang mit jehr alten Ver: 
hältniffen der Deutichen Reichs- und Landesverfaffung. In den Nemtern der Karo— 
lingiichen Verfaſſung lag von Haufe aus die Berugniß, als Obrigkeit zu gebieten 
und zu verbieten und die Gebote durch eine Zwangsbuße (muleta) zu erzwingen, die 
nach der Höhe des Amts (ala Königsbann, Herzogsbann, Grafenbann, Schultheifen- 
bann) verichieden abgemefjen war. Aus dem Recht des Zwangsgebots im ein— 
zelnen Fall folgte das Recht des Zwangsgebots für alle Fälle gleicher Art, alſo 
das Verordnungsrecht, von welchem jchon die Kapitularien der Karolingiſchen 
Dynajtie den ausgiebigjten Gebrauch gemacht haben. Nur zu jolchen Verordnungen, 
durch welche das hergebrachte Volksrecht (einfchließlich des hergebrachten Gerichts: 
verfahrens) geändert werden jollte, bedurfte e8 der Zuftimmung der optimates terrae, 
um diejen Verordnungen auch in den Volfsgerichten die Folgeleiftung zu fichern. 
Die consensu optimatum erlafjenen Verordnungen haben die höhere Autorität einer 
„lex“, durch welche auch die lex terrae abgeändert werden fann. Da die Ge: 
richte über den freien Mann nur in einem judicium parium secundum legem 
terrae Recht jprechen, jo übertrug fich derjelbe Grundjag auch auf die Verord— 
nungen der Landesherren, und ſchon auf dem Wormſer Reichötage von 1231 
wurde der folgenreiche Satz anerfannt, daß die domini terrae constitutiones vel 
nova jura facere non possunt, nisi meliorum et majorum terrae consensus pri- 
mitus habeatur. In Deutfchland wie in England haben fich im Laufe der Jahr— 
hunderte diefe berathenden Notablen (meliores) fpäter zu Parlamenten, bzw. Land— 
itänden formirt, woraus der Begriff der parlamentarifchen Geſetze, als der „Ver— 
ordnungen mit Zuftimmung der Landesvertretung“ hervorgegangen ijt. 

Der Erlaß allgemeiner Friedensgebote, welche feine Aenderung des 
Volksrechts enthalten, lag hiernach von Haufe aus im Gebiet des KHönigl. Wer- 


Polizeiberordnungen. 85 


ordnungsrechts. Wenn dennoch wichtige Erlaſſe dieſer Art consensu optimatum 
ergangen find, jo beruhte dies nur darauf, daß die praktiſche Wirkſamkeit ſolcher 
Gebote vor allem von der Mitwirkung der mächtigjten Reichajtände abhängig war, 
deren Beiltimmung eben deshalb werthvoll und ſchwer entbehrlich erfchien. Analog 
war die Stellung der Herzöge und anderer domini terrae, wenn jie ala Gerichts- 
obrigfeiten Frriedenägebote erließen. Wenn ihre Landespolizeiordnungen und Landes— 
polizeigejeße häufig consensu der Landſtände erlaffen wurden, jo geihah es, um 
ihre praftiiche Wirkfamkeit zu fichern. Grundjäßlich nothiwendig war dieje Zus 
ftimmung nicht, und in diefem Gebiete um jo weniger, als die meijten diefer Gebote 
auf Beichlüffen des Reichstags beruhten, deren Ausführung den geiftlichen, weltlichen 
Fürsten und anderen Reichaftänden auf dag nachdrüdlichite zur Pflicht gemacht war, 
jo daß die große Mehrzahl jener Erlaffe fich nur ala Ausführungsmaßregeln 
der Reichsgeſetze daritellen. Die umfaffende Ueberficht der landjtändijchen Ver— 
faffungen, wie fie namentlich Moſer giebt, läßt nirgends einen fejten Grundſatz 
über die Betheiligung der Landitände an P. erkennen, die vielmehr durchaus un— 
gleichmäßig, von Zeit- und Ortöverhältniffen abhängig ericheint. In den Eleinen 
Territorien, wo fich feine landjtändifche Verfaſſung entwideln konnte, ſowie in den 
großen Territorien, wo die Landſtände ſeit dem dreißigjährigen Kriege in Ruheſtand 
traten, blieb ohnehin nichts übrig, als den landesherrlichen Verordnungen legis 
vicem beizulegen, jo weit der Landesherr durch die Bezeichnung, durch den Inhalt 
und durch die feierliche Verkündung den Willen ausſprach, daß ein Erlaß als eine 
lex in perpetuum valitura gelten jolle. 

Die lebendige Quelle für die zahlreichen Normen der Polizeigewalt war und 
blieb Hiernach nicht jowol die formelle Geſetzgebung als das Verordnungsredt 
der Obrigkeit. Durch die zahlreichen Verleihungen der Gerichtölehne an Sandesprälaten, 
Städte, Korporationen, Nittergüter, ging das Verordnungsrecht auch auf die unteren 
Stufen des Patrimonialjtantes über, und wurde zwar den Gutsobrigkeiten hier und 
da bejtritten, in der Praris jedoch meiſtens durchgejekt. 

Nach der Weiſe der Ausführung jcheiden ſich nun aber die Polizeinormen 
nach Vorgang der Reichögejeße in zwei ſcharf geichiedene Klaſſen, welche ich mit 
den Ausdrüden Poligeiftrafnormen und Polizeiverwaltungsnormen icheide. 

Die Polizeijtrainormen richten fich direft an die Unterthbanen, und 
umfaffen jolche Maßnahmen, bei denen es zur Erreichung des polizeilichen Zweckes 
austührbar erjcheint, bejtimmte Handlungen oder Unterlaffungen der Unterthanen 
unmittelbar und unbedingt zu gebieten oder zu verbieten, jei es mit Androhung 
einer bejtimmten Geldbuße oder Daft, jei e8 mit unbeftimmter Verweiſung auf 
obrigfeitliche Ahndung (arbiträre Strafe). 

Die KHlaffe der Polizeiverwaltungsnormen dagegen richtet fich nicht an 
die Untertdanen, ſondern an die jubordinirten Obrigfeiten, macht denjelben die 
Durchführung bejtimmter Aufgaben zur Pflicht, und kommt demgemäß durch Aus— 
führungsdefrete nach vorgängiger Prüfung des Einzelfalls zur Geltung. Das Eng- 
liche Verwaltungsrecht hat diefe Ausführungsdefrete unter dem Namen orders, das 
neuere Deutjche Verwaltungsrecht unter dem Namen „Polizeiverfügungen” zu einem 
Hauptgebiet der Verwaltungsgerichtsbarfeit gejtaltet. 

Die Ausführung der Polizei ſtraf normen dagegen gejtaltete fich, analog der 
fummarifchen Strafjuftiz, für geringere Straffälle. Als der praktiſch wichtigjte Ge- 
fihtspunft erichien dabei die Frage, wer die Koſten zu tragen, und wer die Bußen 
und jonftigen Einkünfte beziehen jollte. In dieſem Sinne wurden die Polizetjtrafs 
fülle im der Regel zur jurisdietio bassa gerechnet, und bildeten ein regelmäßiges 
annexum der Stadtgerichte und patrimonialen Orlöobrigkeiten, bei denen dieſe 
polizeilichen Yunktionen nach alter Weije ala ein Bejtandtheil des Gerichts blieben. 
Als demnächſt mit dem Fortſchreiten des gelehrten Richterthums auch dieje Eleinjten 
Juftizftellen allmählich mit einigermaßen vechtsfundigen Gerichtshaltern bejegt wurden, 


86 | PVolizeiverordnnungen. 


zeigten fich doch jo große Schwierigkeiten einer angemeffenen Bejegung und Geſchäjts— 
führung, daß man jchon aus diefem Grunde die Juftigbürgermeiiter in den Städten, 
die rechtöfundigen Juftitiarien in den ländlichen Gerichten auf die eigentlichen Juſtiz— 
fachen bejichränfte in dem Umfang der Kompetenz der alten Schöffengerichte. In 
dem eriten Stadium der „Irenmung der Juſtiz don der Verwaltung” blieben des— 
halb die Polizeiftraffälle gewöhnlich bei der laufenden Polizeiverwaltung zurüd. 
Erit allmählich begann man auch die Polizeiftraffälle von der Verwaltung zu 
trennen und den ordentlichen Gerichten in vereinfachtem Verfahren zu überweiſen. 
Im 19. Jahrh. ift dies die Regel geworden, in Preußen vollitändig durchgeführt 
und num auch in die Reichsjuftigverfaffung übergegangen. Für das ganze Gebiet des 
Polizei ftrafrechts bieten nunmehr die ordentlichen Gerichte die genügende Rechtes 
fontrole dar, ohne daß es dafür einer befonderen Verwaltungsgerichtsbarfeit bedurfte. 

Inzwiſchen hat fich durch die neuere Organifation der Staats- und 
Gemeindeverwaltung eine förmliche Stufenleiter des Polizeiverordnnungsrechtes 
gebildet. 

1) Bon Oben nach Unten umfaßt das Tandesherrliche Verordnungsrecht 
die das ganze Landeögebiet umfaffenden Polizeinormen. Die regelmäßig wieder: 
fehrenden, durch längere Praris feftgeftellten Normen find jedoch zu Polizeigefegen 
fonfolidirt, die Hauptmaffe derfelben, ſoweit wie möglich, zu „Polizeiftraigejeßbüchern“ 
fodifizirt. Daneben bejteht nur ein ergänzendes Gebiet von „PB.“ fort, joweit nicht 
die Yandesverfafjung alle Strafandrohungen auf den Weg der Geſetzgebung verweiſt. 
Aber auch im letzteren Falle bleibt noch ein erheblicher Raum jowol für Aus— 
führunmgsverordnungen, wie für ſolche P., deren Grlaß in den Polizeijtraigeiegen 
ausdrüdlic vorbehalten ift. Dies Landeäherrliche Verordnungsrecht kann auch 
den Gentralbehörden und Oberbehörden überlafien werden und bildet dann kraft 
einer potestas delegata neue Polizeiftrafnormen, für welche die Landesgeſetze ge- 
wöhnlich ein Marimum der Strafandrohungen feſtſetzen. 

2) Bon Unten herauf haben die Stadtmagijtrate, Gutsobrigfeiten 
und andere Lofalbehörden ihr aus alter Verleihung der Gerichtälchne her— 
rührendes Verordnungsrecht beibehalten, welches nunmehr der jtaatlichen Oberaufficht 
unterliegt und von den oberen Staatsverwaltungsftellen au® tam confirmandi quam 
supplendi et corrigendi causa fontrolirt wird. Das Verordnungsrecht beruht bier 
nicht auf einer potestas delegata, jondern subordinata. 

Bei diejer Entwidelung von Oben herab und von Unten herauf ijt häufig ein 
Zuftand hervorgegangen, bei dem den mittleren Provinzial» und Kreis— 
behörden das Wolizeiverordnungsrecht fehlt oder nur in ſehr beichränftem Maße 
zufteht. In neueren ſyſtematiſchen Organifationsgefegen wird dieſe Lücke oft ergänzt 
und allen Behörden ein ftufenweifes Verordnungsrecht innerhalb ihres Zuftändigkeitä= 
bereich& beigelegt. 

Es iſt daraus ein jehr mannigjaltig gegliedertes Polizeiverordnungsrecht hervor- 
gegangen, vermöge defien neben dem Grundftod des gejeglich firirten 
Polizeiftrafrechts noch jehr zahlreiche Bezirfs-, Kreis» und Orts-P. bejtehen, 
welche namentlich in Preußen eigene Sammlungen für jeden Regierungsbezirk bilden, 
in Gejtalt von Orts-P. aber fich jo gehäuft haben, daß eine Sammlung und Ueber: 
ficht derjelben zur Unmöglichkeit wird. Diefe Mannigfaltigkeit beruft auf wirklich 
vorhandenen bejonderen Bedürfniffen, zum nicht geringen Theil aber auch auf der 
alten Neigung zu ftatutarischen Befonderheiten. Im letzten Menſchenalter tritt mit 
Recht die Tendenz hervor, das Polizeirecht in möglichit weitem Maße zu kodifiziren, 
oder doch gejeglich zu firiren, das danebenftehende Verordnungsrecht auf untergeordnete 
Gebiete und geringe Strafmaße zu bejchränten und gewiſſe Formen der Beihließung 
und Publikation dafür feſtzuſetzen. 

Für die Gerichte entftehen aus diefem Gejchäftsfreis mancherlei Zweifel und 
Streitfragen. Es entjteht der Schein, als ob Hier eine gejeßgebende Gewalt durch 


Pölman — Pönalflagen. 87 


blos erefutive Staatsbehörden, ja durch jehr untergeordnete Organe der Selbitver- 
waltung, geübt würde. Allein diefe polizeilichen Normen ftehen in der Wirklichkeit 
niht nur auf dem Boden des Verordnungsrechts und feiner Delegation. Sie 
haben legis vicem nur, injofern ala fie bindende Normen für Entjcheidungen der 
Gerichte bilden und in gejegähnlicher Weife publizirt werden. Der Grundcharafter 
der Berordnung tritt aber hervor in dem Recht der oberen Staatsbehörden, die Ver— 
ordnungen der unteren zu ſuspendiren oder aufzuheben und in dem Recht der Gentral= 
inftanz, alle Berordnungen diefer Art außer Kraft zu jegen. Die Gerichte haben 
darüber zu befinden, ob die Behörden innerhalb ihrer Zuftändigkeit und den gefeglich 
vorgejchriebenen Formen entjprechend die Verordnung erlaffen haben, nicht aber über 
dad Bedürfniß und die Angemefjfenheit der Verordnung ſelbſt. In der Auslegung 
diefer Polizeinormen urtheilen die Gerichte jelbjtändig und erfüllen damit die 
dunftionen einer DVBerwaltungsgerichtsbarfeit ebenjo in diefem Gebiete des Polizei- 
rechts wie in den analog geitellten Gebieten des Zoll-, Steuer- und Regalrechts. 

In Preußen inöbejondere war zwar durch das Allg. ER. II. 13 8 6 der 
Erlaß allgemeiner ®. für ein „Majeftätsrecht“ erflärt: den Bezirks» und Orts-P. 
aber (dem Bedürfniß dieſes zufammengejegten Staatsweſens entjprechend) ein breiter 
Spielraum gelaffen. Das Gejeg über die Polizeiverwaltung vom 11. März 1850 
und die neuen Gejege über die Verwaltungsreform jeit 1872 geben feſtere Normen 
bezüglich der Gegenjtände, der Zuftändigfeit und der Publikation diefer Klaſſe von 
Verordnungen. In Bayern, fowie in den Deutichen Mittel- und Kleinjtaaten, 
war es in Folge des Eleineren Gebietsumfanges und der gleichartigen Verhältniſſe 
möglich, das Polizeirecht in erheblich weiterem Umfang zu fodifiziren, dagegen das 
Gebiet der P. möglichit einzufchränten. 

Lit.: v. Rönne, Preuß. Staatöredht, I.a $ 16. — Pözl, Bayer. Verwaltungsrecht, 
z8 83, 156. — v. Mohl, Württemb. Staatöredht, I. 212. — Gneift, Rectäftaat, 2. Aufl. 
1879, ap. V., VI Gneift. 


Pölman, Albert, war Advolat in Königsberg Mitte des 16. Jahrhunderts. 


Er gab heraus: Die neun Bücher des Magdeburgiichen ober Sächſiſchen Rechts 
(Distinctionen genannt), Magdeburg 1547 (Ortloff, Das Rechtsbuch nah Diftinktionen 
Sammlung Zeuticher Rechtäquellen], Jena 1836) und ſchrieb: Das laufende Urtel 1558, 
dnigsb. 1563. — Der ganze Prozeh bes ordentlichen Gerichtes in bürgerlichen Sachen, 
ſtönigsb. 1566, 1610. — Ein furzer Unterricht, wie fi) Bürgermeifter zc. im ihren Aemtern 
halten tollen, Königsb. 1577, 1600. — Handbud, darin zu = ori was fich bei Gericht zu: 
trägt, Wittenb. 1570. 

Lit.: Stobbe, Redtäquellen, I. 427. — SHampk, JYahrbb. Bd. XXIII. ©. 178; 
Bd. XXVL ©. 272. Teihmann. 


Pönalklagen find diejenigen privatrechtlichen Klagen oder Forderungen, denen 
der Beklagte ausgejeßt ift zum Zwecke der Beitrafung einer von ihm zu verant- 
wortenden rechtäwidrigen DBerlegung des Klägers. Die actiones poenales werben 
entgegengefjeßt den detiones rem (sc. actoris) persequentes. Während nämlich andere 
Klagen nur injomweit auf eine Schädigung des Bellagten ausgehen, ala das von 
ihnen gewahrte Intereffe des Klägers nicht ohne jene ſich befriedigen läßt, ift das 
von den Strafflagen geltend gemachte Interefje des Kläger gerade das der Be— 
ftrafung oder der Schädigung des Beklagten; gleich allen Privatllagen exiſtirt alfo 
auch die Strafflage um des Klägers willen, dem ihre Ginräumung die Vergeltung 
jeiner Verlegung durch eine Schädigung des Bellagten zugefteht. Gegenjtand der 
P. ift ausnahmslos eine Geldleiftung; die Schädigung des Verletzers an feinem Yeibe 
oder jeiner Freiheit, welche noch die zwölf Tafeln in gewiffen Fällen dem Verletzten 
zugeftehen,, ift nicht nur im neueren Rechte abgefommen, fondern Hat wol auch nie 
den Gegenjtand einer privatrechtlichen Klage gebildet. Die P. ift verichiedener 
Natur nach der Natur der durch fie geahndeten Verlegung. Iſt es die unmittelbare 
perfönliche Verlegung und nicht die pekuniäre Schädigung des Gläubiger, welche 


88 Pönallklagen. 


geahndet wird, jo iſt die Klage eine jog. actio vindictam spirans, jo daß fie lediglich 
feiner perfönlichen Genugthuung dient und daher nicht ala Beitandtheil jeines Ber: 
mögens auf feine Erben übergeht. Dagegen ift diejenige pekuniäre Schädigung des 
Verletzers, welche jelbit eine jolche vergilt, zugleich eine pekuniäre Entichädigung des 
Verletzten, und es ift dem Begriffe der P. durchaus nicht weientlich, dem Verletzten 
außer jener Entjchädigung noch eine pefuniäre Bereicherung zu gewähren. Der Be: 
trag der Gelditrafe ift bei der perjönlichen Verlegung willfürlich; nach den zwölf 
Zateln beruht er auf gejeßlicher, nach dem prätoriichen Edikte auf richterlicher 
Zaration innerhalb des durch den Verletzten geforderten Maßes. In den Haupt» 
fällen petuniärer Schädigung beruhte dagegen das Maß der fie ahndenden Schädigung 
des DVerleers auf dem Grundjage der Talion. Bei der Schädigung durch An— 
eignung oder beim furtum ergab diejes Prinzip die poena dupli, bei der Schädigung 
durch Zeritörung oder beim damnum iniuria datum den einfachen Betrag des zer: 
jtörten Werthes. Wie aber dort nach dem prätoriichen (die Kapitalftrafe der zwölf 
Tafeln abichaffenden) Edikte die Ertappung auf der That, jo begründete hier nach 
der lex Aquilia die Ableugnung im Prozefle eine Verdoppelung des Schuldbetrages. 
Gleich der actio furti manifesti ging auf das Vierfache die Klage aus dem zu 
iniuria, furtum und damnum iniuria datum binzutretenden vierten und leßten der 
fanonijchen Privatdelifte des damnum vi hominibus armatis coactisve datum. Indem 
es fich Hier darum Handelte, nicht blos die Schädigung des Verlegten, jondern die be— 
jonders gefährliche Art ihrer Vollziehung durch Zujammenrottung und Waffengewalt 
zu ahnden, traf diejes Delikt die höchite Strafe, indem es zur vierfachen Entſchädigung 
verpflichtete, ohne Rüdficht darauf, ob die fremde Schädigung wie beim furtum mit 
eigenem Vortheile verbunden geweien. Daß das Delikt als jolches neben der Forderung 
der Strafe eine zweite auf Entichädigung des Verlegten gehende Forderung begründe, 
iſt ein dem Römiſchen Rechte gänzlich fremder Gedanke, und wenn dem fur gegenüber 
neben der actio furti die condictio furtiva aufgefommen ift, jo darf nicht überjehen 
werden, daß diejelbe keineswegs jedem durch das furtum Gejchädigten zuſteht, jowie daß 
ihre Bezeichnung und Behandlung als condictio fie überhaupt dem Kreife der Delikts- 
Hagen entrüdt. Wenn aber Juſtinian's Injtitutionen die actio vi bonorum rap- 
torum als actio mixta bezeichnen, quia in quadruplo rei persecutio continetur, 
jo gehen fie damit von der Anomalie der neben der actio furti beitehenden con- 
dietio furtiva als dem Normalen aus, indem jene gemiichte Natur lediglich darauf 
gegründet wird, daß in der Strafe des Vierfachen die Entichädigung des Verletzten 
enthalten ift. Während urjprünglic” die actio vi bonorum raptorum in ihrer 
Strenge noch über die actio furti manifesti hinausging, da bei ihr auch die mit 
feiner Aneignung verbundene Schädigung mit dem Vierfachen gebüßt werden mußte, 
ift im neueren Rechte die Klage nicht mehr durch Zujammenrottung und Waffen- 
gewalt, wol aber nach den Jnjtitutionen durch Aneignung bedingt, jo daß es fich 
nun um ein mit perjönlicher Vergewaltigung verbundenes furtum handelt, das merk— 
würdiger Weiſe nicht einmal eben jo ftreng gebüßt wird, als eih gemwöhnliches aber 
handhaftes furtum. Denjelben Mangel an wirklichem Verſtändniß der P. zeigen 
die Inititutionen bezüglich der actio legis Aquiliae, deren pönale Natur fie nur 
injofern gelten laffen, als fie dem Kläger theils durch die eventuelle Verdoppelung 
ihres Betrages, theils durch Berüdfichtigung eines höheren ala des durch die Ver— 
legung zerftörten Werthes mehr ala volle Entichädigung zu gewähren vermag. Gerade 
dieje Klage zeigt aber ihre ungemifcht pönale Natur dadurch, daß mehrere derjelben 
Beihädigung Schuldige je ihren vollen Betrag jchulden. 

Aus Juftinian’s Inftitutionen ift die jchiefe Auffaffung der P. in die neuere 
Literatur übergegangen, in welcher fie namentlich durh Savigny’s Auftorität fich 
befejtigt bat. Indem Savigny davon ausgeht, daß einerjeits die eigentlichen 
Strafflagen den Kläger, anjtatt ihn blos zu entichädigen, bereichern, andererjeits 
aber der Einficht fich nicht verichließt, daß manche Klagen uns in den Quellen ala 


Pönalklagen. 89 


P. entgegentreten, ohne dem Kläger eine folche Bereicherung zu gewähren, unter: 
iheidet er von den zweifeitigen oder den Kläger bereichernden die einjeitigen Straf: 
Hagen, welche zwar vom Standpunkte des Klägers nicht als folche erjcheinen, wol 
aber von dem des Beklagten aus, da fie ihm nicht blos einen Gewinn abnehmen, 
ſondern durch die ihm auferlegte Verpflichtung zur Entſchädigung des Klägers ihn 
möglicher Weife jchädigen. Der Römiſchen Auffaffung widerfpricht diefe Theorie 
nicht nur dadurch, daß fie für die eigentlichen von ihm als zweijeitige bezeichneten 
P. das Moment der Bereicherung des Klägers ald nothwendig jtatuirt, fondern auch 
dadurch, daß fie andererjeits als einfeitige P.-jede durch ein Unrecht des Beklagten 
bedingte Erſatzforderung gelten läßt. Wefentlich ift es im Gegenſatze Hierzu nad 
Römifcher Anfchauung der P. zwar nicht den Kläger zu bereichern, wol aber den 
Vellagten zu jchädigen, weshalb die Forderung einfachen Erſatzes P. nur ift ala 
Ahndung der Zerftörung eines Werthes und nicht ala Forderung der Rüderjtattung 
eines dem Kläger entfremdeten Werthes oder der Abnahme einer ihm rechtätwidrig 
auferlegten Belaftung. Keine P. find daher die actio doli, die actio quod metus 
causa und die actio Pauliana, wenngleich fie, joweit fie dem Beflagten mehr als 
feine Bereicherung abfordern, actiones ex delicto find. Die Deliktsflagen des Römiſchen 
Rechts find daher 1) reine Strafflagen ala Ahndungen perjönlicher Verlegung; 2) ent- 
Ihädigende Strafflagen ala Ahndungen direkter pefuniärer Schädigung, endlich 3) reine 
Reſtitutionsforderungen (arbitrariae actiones) zur Ausgleichung der Nachtheile, welche 
dem Kläger ein nicht ſowol an fich, ala durch die ihn begleitende vis oder fraus ihn 
widerrechtlich verlegender Vorgang zugefügt Hat. 

Bon praftifcher Bedeutung ift die Abgrenzung der P. von anderen Delikts— 
Hagen deshalb, weil die poena von jedem Schuldigen voll eingefordert werden kann, 
während die Lediglich rejtitutorischen Deliktsflagen mit einmal erfolgter Rejtitution 
ihr Ziel erreicht haben. Dagegen gilt von allen Deliktsfchulden, daß die Verant- 
wortlichkeit des Delinquenten nicht auf die Erben übergeht, wie auch derjelbe Sat 
gilt von der durch dingliche Klage geltend gemachten Verantwortlichkeit für doloſe 
Vereitelung der Reftitution. 

Im Gemeinen Rechte ift dem Römiſchen gegenüber die privatrechtliche Verant— 
wortlichkeit für Delikte einerfeits ausgedehnt durch ihre vom Kanoniſchen Rechte ver- 
fügte Gritredung auf die Erben, welche aber nach dem Gem. Rechte nur bis zum 
Maße des Ererbten ftattfindet. Dagegen geht heutzutage die privatrechtliche Delikts— 
flage lediglich auf Entichädigung, jo daß es feine P. mehr giebt. 

Während daher die rejtitutorischen Deliktsklagen fortbeſtehen, find 1) die reinen 
Strafflagen gänzlich weggefallen. Allerdings war gerade die actio iniuriarum die 
einzige P. von anerkannter gemeinrechtlicher Geltung gewejen ; dieſelbe ijt aber außer 
Kraft gejegt durch das RStrafGB. 88 185 ff. Die durch dafjelbe Gejeh neu ein- 
geführte „Buße“ bezwedt lediglich Schadloshaltung des Klägers. 2) Die entjchädigenden 
Strafflagen find zu reinen Entichädigungsflagen geworden: a) Bezüglich der rechts— 
widrigen Entwendung beruht dieſes Refultat auf ihrer grundfählichen, die konkurrirende 
Privatitrafe ausfchließenden öffentlichen Beitrafung. Die actio vi bonorum raptorum 
it dadurch in der actio furti aufgegangen, die actio furti dagegen in der condietio 
furtiva nur für den Gigenthümer der entwenbeten Sache, wogegen von feinem An— 
ipruche der eines anderen durch furtum Gefchädigten fich noch, wenn auch nur noch 
wenig, bezüglich jeiner paffiven Vererbung unterjcheidet. b) Daß die Sachbeichädigung 
nach Gem. Rechte Tediglich zur Entichädigung verpflichtet, zeigt die konſtante, dem 
Röm. Rechte zumwiderlaufende Behandlung mehrerer derjelben Beichädigung Schuldiger 
als für diefelbe Leiftung jolidarifch Haftender. Ohne Grund ift dagegen die An— 
nahme, daß mit der Auffaffung der Klage als einer reinen Entichädigungsflage 
fh nicht vertrage das bezüglich der Höhe des zerjtörten Werthes vom Röm. 
Rechte dem Kläger geftattete Zurüdgreifen auf eine der Beichädigung voran— 
gegangene Zeit. 


90 Vontififalien — Popularllagen. 


Mit Unrecht ſpricht man von einer P., wenn der Betrag einer reftitutorifchen 
Klage zur Beitrafung rechtswidrigen Verhaltens des Beklagten im Prozefje fich erhößt; 
der Wegfall jolcher Strafen in unferem Rechte beruht auf der Verſchiedenheit des 
Deutichen vom Römiichen Prozek rechte. 

Quellen: Gai IV. 6—9. — Just. Inst. IV. 6 $$ 16 sq. — Gai III. 182 sq. — Just. 
Inst. IV. 1—5. — Dig. 47. 

git.: Savigny, Syftem, V. ©. —— Derſelbe, re erg 1.682 
bis 834. — Brinz, Panbelten, 2. Aufl., — Windſcheid, Pandelten, $ 326. — 
— II. ©. 9 ga Beitr. zur Erläuterung einzelner 
re rg . 1 (1828). — Alfred Per HR Zur Lehre von ben Sadhbeichädigungen 
(1877), &. 116 fi; rt II. (1878) ©. 10. — Thon, Redtänorm — Aug 
jektives Recht (1878), © . 29 ff., 59 ff. Hölber 


BVontififalien, jura pontificalia, heißen diejenigen Rechte, welche dem Bijchof 
kraft feiner bifchöflichen Konfekration zuftehen, alfo aus dem bijchöflichen Ordo her- 
fließen, wie die Spendung der Sakramente der Ordination und Firmung, die An— 
fertigung des Chrisma, die Konſekration der Kirchenaltäre und Opfergefäße, die 
Salbung der Könige, die Benediktion der Aebte und Webtiffinnen. Andererjeits 
nennt man auch die Infignien, welche der bifchöflichen Würde eigen find, wie 3. 2. 
die Mitra, den gebogenen Hirtenjtab, den Biſchofsring, den bifchöflichen Thron mit 
dem Baldachin darüber ıc., P. Die Ausübung der Pontifikalrechte und der Gebrauch 
der Pontifikalinſignien iſt äe jure auf den Sprengel des Biſchofs befchränft, in einer 
fremden Diözeje bedarf er für beides immer der Grlaubni des betreffenden Ordinarius. 
Kraft beſonderen Privilegs kann der Gebrauch der P. auch anderen kirchlichen Würden: 
trägern gejtattet fein, ferner haben die Kardinäle, welche nicht Kardinalbiſchöfe find, 
in Folge des Kardinalats das Vorrecht, ſich in den ihre Titel bildenden Kirchen 
der P. zu bedienen. — Endlich verjteht man unter PB. die kirchlichen Funktionen, 
welche die Bifchöfe in feierlicher Pontififalfleidung, alfo angethan mit den vollen 
Infignien ihrer Würde, jelbjt in feierlicher Weiſe celebriren. P. Hinſchius. 


Popularklagen find diejenigen Forderungen oder Klagerechte, deren Durch: 
feßung im Wege des Giv.Prz. erfolgt, obgleich fie nicht ein privates Recht des ein- 
zelnen, jondern ein gemeinfames Intereffe aller Bürger geltend machen. P. find 
alſo im Gegenfage zu den dem einzelnen Kraft eines Sonderrechtes zuftehenden die 
jedem Bürger kraft Bürgerrechtes zuitehenden Givilflagen. Auch fie machen ein 
eigenes Recht des Klägers, aber fein ihm ausjchließlich eigenes geltend. Dadurch, 
daß die P. nicht ein jpezielles Intereffe des einzelnen Klägers geltend machen, find 
fie nothwendig nicht rem persequentes, jondern poenales. Indem die popularis 
actio jedem Bürger ala ſolchem zufteht, jteht fie ihm zu nicht als einem Vertreter, 
jondern als einem Mitgliede der Gefammtbürgerichaft, iſt alſo begründet in jeiner 
eigenen Perfon, kommt daher auch ihm für feine Perfon zugute, jo daß er die 
mi®eld der popularis actio erlangte Summe nicht etwa an den Staat abauliefern 
hat. Für die „proluratorifche” Natur der P. beweift nicht 1) der Ausſchluß der 
Infamen von ihrer Anftellung und die Unmöglichkeit ihrer Anftellung durch einen 
Kognitor, da beides fich hinreichend dadurch erklärt, daß Hier der Kläger nicht als 
Subjekt eines Sonderrechtes, jondern in feiner Eigenfchaft ala Bürger auftritt. Daß 
jodann 2) die Erhebung der P. ihre erneute Anstellung durch andere Kläger aus 
ſchließt, erklärt fich aus der Identität des NRechtsitreites, welcher vermöge der Iden— 
tität des vom Beklagten begangenen Unrechtes und des durch die Klage geltend ge= 
machten Intereſſes feiner Ahndung bier nicht wie ſonſt durch Identität der Par- 
teien bedingt ift. 

Die populares actiones find durchweg prätorifchen Urjprungs; die durch die— 
jelben geſchützten Interefjen find namentlich 1) das religiöje der sanctitas sepulcri 
bei der actio sepulcri violati, jodann 2) das der Freihaltung öffentlicher Straßen 
und Pläße a) bei der actio de dejectis et effusis, de positis et suspensis und der 


Popularklagen. 91 


ädilitiſchen de bestiis, b) bei der actio de mortuo illato und der operis novi nuntiatio. 
3) Das Intereffe der Integrität obrigkeitlicher öffentlicher Belanntmachungen wird 
geihügt durch die actio de albo corrupto. 

Einen eigenen Charakter hatte die actio de testamento aperto oder die Straf- 
fage wegen vorzeitiger Teftamentseröffnung, indem hier die Straffumme nur zur 
Hälfte dem Kläger praemii nomine zufiel. Während bei allen anderen prätorifchen 
P. die Strafe dem Kläger in feiner Eigenſchaft ala Glied des populus geichuldet 
wird, iſt fie bier vielmehr dem populus jelbit geichuldet, der nur feinem Bertreter 
die Hälfte überläßt. Solche dem Staate gefchuldete Geldſtrafen, deren Einforderung 
im Wege des Civilprozeſſes jedem Bürger zuſtand, waren in einer Reihe von Fällen 
durch Geſek ſtatuirt; beſtritten iſt jedoch, ob auf dieſe Fälle der Begriff der popu- 
laris actio Anwendung finde. Gleichgültig ift e8 Hierfür, daß jene Gejeße jelbjt 
diejer technifchen Bezeichnung fich nicht bedienen; ihre Anwendbarkeit auf die ge- 
dachten Fälle ift micht zu leugnen, da wir auch in ihnen einerfeit8 mit civil- 
progefjualifchen Aktionen e8 zu thun haben und andererjeit3 dieje actiones im Gegen- 
ſahe zu den privatae noch in höherem Grade populares find als die präto- 
riihen. Wenn aber namentlich Brinz die ganze Verſchiedenheit der Fälle auf 
einen Gradunterichied zurüdführt, jo überfieht er, daß der populus, deſſen Intereſſe 
die prätorifchen P. zu wahren pflegen, keineswegs identifch ift mit demjenigen populus, 
welchem kraft gejeglicher Damnation eine Strafe gefchuldet ift. Dort ift der Gegenjat 
des Privaten und Popularen der des einzelnen und aller, indem die popularis actio 
nicht ein Sonderinterefje des Klägers, fondern ein Intereffe aller Bürger wahrt, das 
als Intereſſe jedes Bürgers für jenen in feiner Weiſe ein fremdes ift. Wer dagegen 
eine dem Staate gefchuldete Summe einflagt, der ift ein Vertreter fremden Rechtes, 
da die Rechte des populus als einer rechtlichen Einheit für den einzelnen Bürger 
fremde Rechte find; für dieſe Fälle alfo und nur für fie trifft Savigny’s Auf— 
taffung (Obligationenrecht, U. ©. 314) zu, daß „jeder Bürger gleichjam einen Staats— 
anwalt vorſtellte“. 

Beſteht ſo eine Weſensverſchiedenheit zwiſchen den jedem Bürger für ſich zu— 
ſtehenden und den im Namen des Staates vom einzelnen Bürger als ſeinem Organe 
geltend gemachten Strafforderungen, ſo erhebt ſich andererſeits die Frage, ob eine 
mehr als prozeſſuale Verſchiedenheit beſtehe zwiſchen den prätoriſchen populares 
actiones und den popularia interdicta. Solche Interdikte exiſtirten 1) gegen 
unberechtigte Anlagen a) an öffentlichen Wegen (mit Ausnahme der jtädtifchen und 
wol auch der Staatäftraßen) und Abzugsfanälen, b) an öffentlichen Flüffen, ſoweit 
dadurch die Schiffahrt behindert oder der Waſſerlauf geändert wird; 2) gegen Ver— 
binderung der Benußung oder Reparatur der Wege und Flüſſe bzw. Flußufer; 
3) gegen Schädigung durch irgend welche Anlagen auf öffentlichem Boden. 

Während die unter 1 erwähnten Interdilte den prätoriichen populares actiones 
Ihlechthin gleichartig find, ift bei den übrigen dieſe Gleichartigfeit jedenfalls nur 
eine theilweiie, weil fie nicht jedem Bürger, jondern nur dem durch den Beklagten 
Behinderten oder mit Schaden Bedrohten zujtehen. Zwar macht auch bier die Klage 
fein Sonderrecht geltend; doch iſt fie nicht mehr pönaler Natur und macht ein 
individuelles Intereffe des Klägers geltend. Gin individuelles Recht wahrend, deſſen 
Anſpruch auf rechtlichen Schu im Bürgerrechte als folchem begründet ift, find dieſe 
Klagen zwar den eigentlichen P. aufs engfte verwandt, aber doch feine wirklichen 
P. mehr, indem die Bejonderheiten diejer bier wegfallen. 

Während die Fälle einer dem Staate gejchuldeten Strafe, deren Forderung im 
Wege des Civ. Prz. jedem Bürger zuftand, mit einer Ausnahme (l. 3 pr. D. de 
term. moto 47, 21) jchon dem Juſtinianiſchen Rechte nicht mehr angehören, find außerdem 
für unfer Recht gleich anderen Forderungen auf eine dem Kläger zu zahlende Strafe 
die eigentlichen PB. weggefallen, während die Geltendmachung eines individuellen kraft 
Bürgerrechtes auf rechtlichen Schub. Anſpruch machenden Intereſſes dem heutigen 


92 Portalis — Portopflichtigkeit. 


Rechte noch angehört, mit der Modifikation jedoch, daß Heutzutage anftatt der nad 
Röm. Rechte jenen Schuß begründenden Eigenſchaft eines Bürgers die eines Rechts: 
jubjeftes genügt. 

In England, wo der StrafPrz. auf dem Begriffe des allgemeinen Anklage: 
rechtes beruht, können auch im Wege des Giv.Prz. durch jeden Bürger Geldftraien 
eingefordert werden, deren Betrag aber nur zum Theil ala Belohnung dem Kläger 
zufällt, jo daß derjelbe ala Vertreter des Staates auftritt; die eigentlichen prätorifchen 
P. ehren dagegen in feinem modernen Rechte wieder. 

Quellen: Tit D. de popularibus actionibus 47, 23. 

Lit: TH Mommſen, Die Stadtrechte der latinifhen Gemeinden Salpenfa und 
Malaca in der Provinz Bätica, in d. Abh. db. f. Sächſ. Gel. d. W., 1855, ©. 461 fi. — 
Bruns, Ztichr. für Nechtägeichichte, III. S. 341—415 (dieje Arbeit iſt inäbejondere epoche: 
machenb für die Scheidung der jedem Bürger für fich —— Popularklagen und der dem 


einzelnen Bürger anvertrauten Einforderung einer dem populus gejchuldeten Strafe), — 
Brinz, Panbelten, 2. Aufl., $ 86. Hölder. 


Vortaliß, Jcan Etienne Marie, & 1. IV. 1746 zu Bauffet im Departe 
ment Var, wurde 1765 Advokat zu Air, ging nach Paris, wo er nach Ausbruch 
der Revolution verhaftet und bis zum Sturz der Schredenäherrichait in ein Deten- 
tionshaus eingejperrt wurde. Dann trat er in Paris als Advokat auf, wurde Ab— 
geordneter, nach der Revolution vom 18. Fructidor zur Deportation nah) Guiana 
verurtheilt, der er fich durch Flucht nach Deutjchland entzog. Nachdem er nad) 
Frankreich zurücgefehrt, wurde er von Napoleon in die Kommilfion zur Abfaffung 
eines Givilgefegbuches gewählt, erhielt 1801 Sit im Staatärathe, wurde 1803 
Senator, 1804 Kultusminifter, T faſt ganz erblindet 25. VIII. 1807 und wurde 
im Pantheon beigejeßt. 

Schriften: Discours, rapports et travaux inedits sur le code civil par vicomte 
Freder. Portalis, Par. 1844. — Sur le concordat de 1801, Par. 1845. — Sur la distinction 
des deux puissances, 1771. — Consultation sur la validit€ des mariages des protestants 
de France, 1771. — De P’usage et de l’abus de l’esprit philosophique durant le 18me 
siecle, Par. 1820, 3. Aufl. 1833. 

git.: Schloffer, Geichichte bed 18. und 19. Jahrh., 5. Aufl. 1865, Bd. VI. ©. 379, 
380. — Stobbe, Rechtsquellen, II. 436 N. 57. — BON End: Beruf unferer Zeit, ©. 61 
bis 78. — Aube&pin in der Revue hist. 1856, p. 180—193. — Boullde, Essai sur la 
vie, le caractöre et, les ouvrages de P., Par. 1859. — Fregier, Portalis philosophe 
chretien, 1861. — Eloge de J. E. M. Portalis ri L. Lallement mem. cour., Par. 
1861. — Rodiöre, Les grands jurisconsultes, 1874, p. 406, 408. — Schulte, Geichichte, 
Ila ©. + — Friedberg, — ©. 516; Derſelbe, Eheſchließung, S. 566. 
Mignet, Eloges historiques (2) 1864, p. 225—278 über den Sohn, comte Joseph Maria 
Portalis [1778—1858]. — Ebenjo Le ——— et la Cour de cassation, a . 144— 147. 

eichmann. 

Portopflichtigkeit. 1) Der Begriff der P. iſt einmal abzugrenzen gegenüber 
dem Begriff der Portofreiheit, andererſeits entgegenzuſtellen der Poſtpflichtigkeit (Poſt⸗ 
zwang) und dem Frankirungszwang. Unter Poſtpflichtigkeit iſt diejenige Be— 
ichränfung der Handlungs und Gewerbefreiheit zu verjtehen, in Folge deren es ver— 
boten, zur Beförderung gewiſſer Gegenjtände — heute nur noch verichloffener Briefe 
und öfter als einmal wöchentlich erjcheinender politischer Zeitungen — fich einer an— 
deren Gelegenheit ala der Poft zu bedienen (f. d. Art. Poſt); wer daher derartige 
Gegenjtände, abgejehen von außerordentlichen, in $ 15 des Poftgejeges vorgejehenen 
Fällen, anders ala mit der Poft befördert, macht fich einer Pojtdefraudation ſchuldig 
(Poſtgeſetz, $ 27; ſ. d. Art. Poftitrafrecht). Während die Poftpflichtigkeit ein 
im Gejeße, it die Franktirungspflichtigfeit ein im Neglement rubender 
Begriff. Der Frankirungszwang beiteht nach Deutſchem Poftrechte im inländischen 
Verkehr für Poſtkarten, Drudjachen, Waarenproben, Pojtanweifungen, Pojtaufträge 
und GEitafettefendungen. Sat die Verlegung der Poftpflichtigkeit Strafe, jo hat die 
Nichtbeachtung des Frankirungszwanges lediglih Nichtbeförderung, bzw. Nicht: 
annahme zur Folge. (Die häufigſte Nichtbeachtung des Frankirungszwanges, die 
ihon zu vielen Unzuträglichfeiten Anlaß gegeben, ift die Benutzung Deutjcher 


Portopflichtigfeit. 93 


Keichöpoftfarten in Bayern und Württemberg oder umgekehrt, aljo für die betreffenden 
Berwaltungsgebiete unfranfirter Karten.) 

2) ®. befteht num gemäß dem Deutjchen Poft- und dem mehrfach veränderten 
Pofttargeieg für alle der Poſt zur Beförderung übergebenen Sendungen. Wem dies 
trivial klingt, der jei darin erinnert, daß z. B. bis vor Kurzem die Poftverwaltung 
der Argentiniichen Republik alle nicht illuftrirten Zeitungen gratis beförderte. Die 
P. ift lediglich eine Pflicht des Abjenders: die Höhe des Portos bejtimmt fich tHeils 
durch Gejeß, theils durch Reglement, theil® durch internationalen Vertrag. Außer 
bei den oben erwähnten, dem Frankirungszwange unterworfenen Sendungen, kann 
der Abjender der Poſtverwaltung die Einziehung der Gebühren vom Adrefjaten über- 
tragen. In diefem Falle wird mit dem ZTiransportvertrage ein Nebenvertrag (vom 
Weſen der Aifignation) verbunden, deſſen Beftehen aus der einfachen Aufgabe der 
unfranfirten Sendung gejchloffen wird. Die Poſt ift zum Abſchluß jolchen Ver— 
trags (von den erwähnten Sendungen abgejehen) verpflichtet, erhebt aber für die 
damit verbundene Mühwaltung eine außerordentliche Gebühr, „Zujchlagsporto“ von 
10 Piennig, welches nur bei den „portopflichtigen Dienjtjachen” in Wegfall fommt 
(Boittargeieg, $ 1; Poittarnovelle, $ 3). Durch die „Nichtfranfirung“ wird aber 
die P. nicht zu einer Pflicht des Adreſſaten; eine jolche entjteht erit durch die Ans 
nahme der Sendung: wird die Annahme oder die Zahlung der Gebühren verweigert, 
jo it der Abjender regreßpflichtig (Poſtordn, $ 44, IV.). Unbezahlt gebliebene 
Beträge an Porto ꝛc. find die Poſtanſtalten berechtigt nach den für die Beitreibung 
Öffentlicher Abgaben bejtehenden Vorſchriften erefutivisch einziehen zu laſſen (Poſt— 
geieh, $ 25). Jedoch fteht dem Grequirten die Betretung des Rechtsweges offen. 
DierP. erliicht (Poittargejeß, $ 7) durch Verjährung, wenn binnen einem Jahre 
die Nachforderung nicht angemeldet wird. Ebenſo fällt die P. fort bei Sendungen, 
welche erweiglich auf der Poſt verloren gegangen oder wegen einer von der Poſt zu 
vertretenden Bejchädigung vom Adreſſaten nicht angenommen worden find. Die 
Verlegung der P. wird nad) $ 27 des Poſtgeſetzes beſtraft (ſ. d. Art. Poſtſtrafrecht). 

3) a) Die P. ift modifiziert durch einzelne mit Staatsbehörden (Verzeichniß 
bei Fiſcher, Poitgejeßgebung, ©. 106) auf Grund $ 11 des Portofreiheitägejeges 
getroffene Vereinbarungen, wonach an Stelle der einzelnen Porti Averjional- 
jummen an die Reichöpoftverwaltung gezahlt waren. b) BPortovergünftigungen 
find vorläufig noch bewilligt den Perjonen des Militärftandes und der Kriegsmarine 
(P.D.A. III. Abth. 1; Poſthandbuch, ©. 170; Gebührentarif, $ 37), während jedoch 
Portofreiheiten oder Ermäßigungen nur im Wege des Geſetzes geändert werden können, 
ift Portofreiheitsgeſetz, 5) eine Aufhebung diejer Vergünftigungen im Berwaltungs- 
wege möglich. c) Ein gänzlicher Fortfall der P., Bortofreiheit, beiteht nach dem 
Geſetz v. 5. Juni 1869 (Portofreiheitägeje, auch auf Baden, Reichslande, Bayern, 
Württemberg ausgedehnt, j. Fiſcher, ©. 99) für die regierenden Fürſten des 
Deutichen Reichs, deren Gemahlinnen und Wittwen. Dieje Portofreiheit bezieht fich 
auch auf Sendungen, welche die diefen Allerhöchjten Herrſchaften zugetheilten Ber: 
waltungen, Hausminiſterien, Hofmarjchallämter abjenden und empfangen. Ferner ge— 
nießen Portofreiheit alle reinen Reichsdienſtſachen, Militär, Marine», Poſt-, Bundes» 
raths⸗, NReichstagsjachen, mit Ausnahme aller Stadtpoftjendungen. Erforderlich ift, 
daß dieſe Sendungen die Bezeichnung als Dienftjache tragen und mit amtlichen 
Stempel (Siegel, auch Siegelmarfe) verichloffen find. 

Die Gebührenpflichtigkeit im Telegraphenverfehr, wie die gebührenfreie Beför— 
derung der Telegramme regeln Telegraphenordn. (1880) 88 18, 26; Allerh. VBerordn. 
vom 2. Juni 1877. 

Lit.: Handbuch für Poft und ee 66, 132, 174, 176 fi. — Fiſcher, Poſt— 
und a S. 38, 39, 98 ff., 150 178. — Saband, Staatäredht des Deut chen 

— Beutner, Tas Gefeh betr. die Bortofreifeiten ıc. erläutert (Pots⸗ 
ng 187 v. Kirhenheim. 


94 Poſt. 


Poſt. I. Die Entwickelung im Allgemeinen. 1) Das P.weſen ge 
hörte von feiner Entjtehung an zu den wenigen Verwaltungsgegenftänden, hinfichtlich 
deren eine Kompetenz des früheren Deutichen Reiches begründet war. Indeß hatte 
doch die Reichaftaatsgewalt als jolche daran feinen unmittelbaren Antheil, vielmehr 
war das P.weſen fchon vor dem 80jährigen Kriege ein lehnbares Recht des fürſt— 
lichen Haufes Thurn und Taris geworden, welches noch im Reichsdep.Hauptſchluß 
von 1803 $ 13 und in der Deutjchen Bundesacte von 1815 Art. 17 in jeinem da— 
maligen Stande garantirt wurde. Es hatte übrigens zu den Kontroverjen des ehe— 
maligen Reichsrechts gehört, ob beim Mangel eines förmlichen Reichsichluffes die 
Zulafjung der Taris’jchen P. in den einzelnen Territorien wirklich eine reichäver- 
iafjungsmäßige Verpflichtung der NReichsitände ſei. Jedenfalls fam es thatjächlich 
zur Einführung derjelben nur in den mittleren und Kleinen Gebieten des füdlichen 
und weitlichen Deutichland, für welche eine derartig einheitliche Werkehrsanftalt eine 
wirkliche Wohlthat war, nicht aber in Defterreich und in Preußen. Namentlich in 
Preußen iſt diejelbe nirgends eingeführt, und mit Ausdehnung des Staatägebiets 
überall bejeitigt worden. Insbeſondere wurden die Taris’schen Rechte am Rhein 
und in Weitfalen durch Vertrag vom 4. Juni 1816 in eine Jahresrente verwandelt, 
an deren Stelle wieder durch Vertrag vom 11. Mai 1819 das nutzbare Eigenthum 
eines Domänentompler im Großherzogthum Pojen trat, das unter dem Namen 
Fürſtenthum Krotoszyn zur Standesherrichaft erhoben und als Thron-Mannlehen 
verliehen wurde. Endlich ift durch Vertrag vom 28. Jan. 1867 das ganze Damals 
noch beftehende Taris’jche Poſtweſen gegen eine Entichädigung von 9 Mill. Mark 
auf den Preußiſchen Staat übernommen worden, nicht blos in denjenigen Gebieten, 
die wie Naſſau, Heſſen-Homburg, Frankfurt damals Preußen inforporirt wurden 
oder wie Hohenzollern bereits inforporirt waren, ſondern auch in den übrigen Ges 
bieten, namentlich im Großherzogthum Heſſen und den Thüringiichen Staaten. 

2) In Preußen war, jchon wegen der zerjplitterten Lage des Staatögebietö, der 
Ausbildung des P.weiens von jeher eine ganz bejondere Aufmerkſamkeit zugewandt 
worden. Schon unter dem Großen Kurfürften wurden mit den zwijchenliegenden 
fleinen Gebieten P.verträge geichloffen. Bereits 1652 wurde ein eigener General» 
pojtmeifter an die Spibe diefer Verwaltung geitellt. Unter Friedrich dem Großen 
erging die umfaſſende P.ordnung vom 26. Nov. 1782. Im Allg. ER. nahmen die 
Beitimmungen über das P.wejen einen breiten Raum ein (Th. II. Tit. 15 Abſch 4). 
In den 1815 neu erworbenen Yandestheilen blieb die dortige Gejeßgebung allerdings 
beitehen, weil fie materiell im Ganzen übereinftimmte. Grit das P.geſetz vom 
5. Juni 1852 bat eine einheitliche Regelung für das ganze Staatögebiet herbei— 
geführt. 

3) Die Verfaffung des Nordd. Bundes und ebenjo die gegenwärtige Reiche- 
verfaffung hat im Art. 4 Nr. 10 beitimmt, daß das P.wejen der Beauffichtigung 
und der Gejehgebung des Reichs unterliegen jollte. Die näheren Normativbeitimmungen 
geben Art. 48—51. Diefe finden jedoch auf Bayern und Württemberg nur jehr 
beichräntte Anwendung. Man muß demgemäß zwijchen einem Reichspojtweien im 
weiteren und im engeren Sinne unterjcheiden. Jenes bezieht fich auf das gefammte 
Reich mit Ginfchluß von Bayern und Württemberg, betrifft aber nur die Einheit 
der Gejehgebung, des Tarifweſens und die Vertretung nad) Außen; diejes bezicht 
ſich auf das Reich mit Ausfchluß von Bayern und Württemberg und begreift die 
Verwaltung der P. als einer einheitlichen Berkehrsanitalt mit gemeinfamem Budget, 
gemeinjamer Organifation und gemeinſamem Dienftbetriebe. Hinfichtlich diefer Reichs— 
poftverwaltung im engeren Sinne ijt aber nochmals zu unterjcheiden zwifchen den— 
jenigen Attributen, welche der Reichsgewalt als ſolcher, und denjenigen, welche 
Namens des Reichs den Einzelitaaten zujtehen. Denn die Reichögewalt als Tolche 
hat nur die obere Leitung, den Erlaß der gejeglichen und reglementarischen Normen, 
den Abjchluß der P.verträge, die Anftellung der oberen Beamten, während alle 


Poſt. 95 


übrigen Funktionen, insbeſondere die Anſtellung der unteren Beamten, den Einzel— 
ſtaaten zuſtehen; eine Sachlage, die nur dadurch wieder zu Gunſten der poſtaliſchen 
Einheit alterirt wird, als es den Einzelſtaaten in der Reichsverfaſſung ausdrücklich 
freigeftellt ift, wie hinſichtlich der militäriſchen, jo auch hinſichtlich der poſtaliſchen 
Verugniffe bejondere Verträge abzujchließen, in Folge deren dann die meiften Staaten 
die jelbftändige Ausübung diefer Beiugniffe auf Preußen übertragen haben. Preußen 
endlich Hat die gefammte Verwaltung des ihm vertraggmäßig oder jonft zuftehenden 
Pweſens durch Erlaß vom 28. Sept. 1867 auf den Minijterpräfidenten übertragen, 
fo daß bei der Fdentität defjelben mit dem Neichsfanzler eine Trennung zwijchen der 
Preußiichen und der Reichspoſt volljtändig bejeitigt if. 

4) Die Regelung des Reichspoſtweſens ift auf Grund des Abjchnitts VIII. der 
Reichsverf. (Art. 48 ff.) zuerſt durch das P.gejeh des Nordd. Bundes vom 2. Nov. 
1867 eriolgt, welches im Wejentlichen dem Preuß. P.geſetze von 1852 nachgebildet 
war, und fich Hauptjächlich auf das P.regal, die Erjabpflicht, die pojtalifchen Vor: 
vehte, die P.kontraventionen und deren Beitrafung erjtredt. An die Stelle defjelben 
it dann jeit der Begründung des Neichd das Reichspoſtgeſetz vom 28. Oft. 1871 
getreten, welches von dem früheren Geſetze nur ummejentlich abweicht. Daneben 
kommt noch das Geje über das B.tarwejen vom 28. Oft. 1871, modifizirt durch die 
Ptarnovellen vom 1. Juni 1873 und 3. Nov. 1874 in Betracht. Das jog. P.-Eifen- 
bahngejeg vom 20. Dezbr. 1875 iſt Schon in dem Art. Eifenbahngejeßgebung 
erörtert. Die reglementarifchen Beitimmungen waren zuerft in der P.ordnung vom 
18. Dezbr. 1874 zufammengefaßt, welche dann durch die Abänderungen vom 13. April 
1877 und 4. Febr. 1878 mehrfach modifizirt wurden, und an deren Stelle gegen- 
wärtig die P.ordnung vom 8. März 1879 (Gentralbl. ©. 185 ff.) getreten ift. 

Mit der P.verwaltung ift jeit dem 1. Jan. 1876 die Verwaltung des Tele: 
graphenwejens verbunden worden, welches übrigena bisher lediglich durch reglemen- 
tariiche Beitimmungen geregelt wird, jebt durch die Neichstelegraphenordn. vom 
13. Auguit 1880, 

I. Die Organifation. 1) Die Gentralverwaltung lag in Preußen jeit 
1814 in der Hand des Generalpojtmeifters, der regelmäßig Mitglied des Staates 
minijteriums war. Die Bejugniffe deifelben gingen jedoch feit der durch Verordn. 
vom 17. April 1848 erfolgten Errichtung des Miniftertums für Handel, Gewerbe 
und öffentliche Arbeiten auf den Handelsminiſter über, der die P.jachen in der eriten 
Abtheilung feines Miniſteriums, welches die Bezeichnung Generalpoftamt führte, und 
an deren Spike ala Minijterialdireftor ein Generalpojtdireftor ſtand, bearbeiten ließ. 
Nach dem Uebergange des P.weſens auf das Reich bildet dann jowol für das Reich, 
als auch für Preußen der Reichsfanzler die oberjte Stelle. Unter ihm wurden die 
P.iachen anfangs von einer Abtheilung des Reichskanzleramts bejorgt, die wiederum 
die Bezeichnung Generalpoftamt führte und an deren Spite wiederum der General— 
poftdireftor ftand, und neben der ala eine weitere Abtheilung die Generaldirektion 
der Telegraphen junktionirte. Seit dem 1. Jan. 1876 ift dann die oberite Leitung 
des P.- und Telegraphenwejens vom Neichsfanzleramte getrennt und unter fort— 
dauernder Leitung und Verantwortlichkeit des Reichsfanzlers einer oberiten P.— uud 
Telegraphenverwaltung unter einem Generalpojtmeifter übertragen, welche in zwei 
Abtheilungen das P.- und das Telegraphenweſen bearbeitete. Dieje Gentralbehörde 
zerfällt jedoch gegenwärtig in drei Abtheilungen und führt die Bezeichnung Reichs— 
vojtamt, an deflen Spite nunmehr ein Staatsſekretär jteht. 

2) Als provinzielle Mittelbehörden fungiren die Oberpoftdireftionen, bejtehend 
aus einem Oberpoftdireftor, einem Bureauvorjteher mit dem Titel Poftrath, einem 
B.inipeftor und einem P.kaſſenkontroleur, hauptiächlich für Beichwerde- und Rechnungs» 
lachen. Die Nothwendigkeit jolcher Behörden hatte fich jchon zur Zeit der Stein ’jchen 
Reformen geltend gemacht, und führte damals zu der Ausdehnung der Kompetenz 
der Regierungen, die fich aber nicht bewährt hat und jchon 1815 wieder bejeitigt 


96 Bot. 


wurde. Die endliche Einführung der Oberpoftdireftionen erfolgte erit 1849 und ift 
ein Werk des Minifter® v. d. Heydt, der dabei einer lebhaften Oppofition be 
gegnete; fie find jeitdem auf das Neich ausgedehnt. Die Bezirke jollten urſprünglich 
mit den Negierungäbezirfen genau zufammenjallen, find jedoch fpäter vielfach 
erweitert worden. 

3) Die lokalen P.anftalten find je nach dem Gejchäitsumfange P.ämter eriter, 
zweiter und dritter Klaſſe; die Vorfteher der P.ämter erjter Klaſſe heißen P.direl- 
toren, die der zweiten P.meifter, die der dritten P.verwalter. Zur Bejorgung des 
P.dienftes in ganz Heinen Orten beftehen jog. P.agenturen, die regelmäßig nicht von 
Beamten, jondern von geeigneten Ortseinwohnern verjehen werden. 

III. Das P.regal und der P.zwang. Bon einem pojtmäßigen Betrieb 
ift überhaupt nur die Rede, wenn mit jeftjtehenden Abgangs- und Ankunftszeiten ein 
Wechſel der Transportmittel und eine Zugänglichkeit für Jedermann gegen Entgelt 
jich verbindet. Auf einen folchen Betrieb bezieht fich das P.regal und der P.zwang, 
jenes enthält lediglich eine Beichränfung des freien Gewwerbebetriebes, ein Verbot, 
diefer eine pofitive Nöthigung, ein Gebot; dieſer faßt daher ald das majus, joweit 
es überhaupt befteht, jenes in fih. Das P.regal ift nun zunächſt durch das Eijen- 
bahngeieh von 1838 zu Gunften der Eifenbahnen, durch das P.gefeß von 1852 zu 
Gunſten der Dampfichiffe, beichränft worden, jo daß ſeitdem alle diejenigen Gegen- 
jtände, welche nicht dem P.zwang unterworfen waren, mittels Eifenbahnen und Dampf: 
ichiffe befördert werden konnten; zu Guniten des Fahrgewerbes auf den Landſtraßen 
hat dann zuerst das P.gefeg von 1852 die regelmäßigen Abfahrts- und Ankunfts— 
zeiten freigegeben, jofern nur fein Wechjel der Transportmittel jtatttand, das P.geieh 
von 1867 die mit allen pojtmäßigen Kautionen ausgeftatteten Fuhranftalten einer 
Grlaubniß der P.behörde nur dann unterworfen, wenn auf der betreffenden Strede 
eine täglich gehende Perſonen-P. bereits beitand, endlich das P.gefeg von 1871 das 
P.regal ganz und vollftändig aufgehoben. Der P.zwang für NReifende und für 
Padete wurde insbefondere jeit der Entjtehung der Eifenbahnen vielfach eingeſchränkt 
und gänzlich aufgehoben, für Reifende 1852, für Padete 1867. Er bejteht gegen- 
wärtig nur noch für Briefe und für politifche Zeitungen. Was zunächjt den 
P.zwang für Briefe betrifft, jo wird dabei vorausgefeht, daß die Beförderung 
von Orten mit einer P.anftalt nach Orten mit einer B.anftalt des In- und 
Auslandes erfolgt; es befteht alfo 3. B. fein P.zwang für Stabdtpoftbriefe; der 
P.zwang bezieht fich ferner nicht auf offene, ſondern nur auf verjchloffene Briefe, 
ohne daß es dabei auf die Art des Verſchluſſes anlommt, jo daß insbeſondere auch 
zugenähete Briefe dem P.zwang unterliegen, nicht aber SKreugbandiendungen ; der 
P.zwang bezieht fich endlich nicht auf Gefälligfeitsbeforgungen, jondern es unter= 
liegen demfelben nur diejenigen Briefe, welche gegen Bezahlung befördert werden; 
eine P.kontravention würde aber jchon bei der Beförderung eines einzigen Briefes 
gegen Bezahlung vorliegen, ohne daß ein gewerbsmäßiger Betrieb vorhanden zu 
jein braucht; auch ift e& durchaus nicht nothwendig, daß die Bezahlung in baarem 
Gelde beitehe; eine Beförderung gegen Bezahlung ift jedoch gejtattet, wenn jolche 
durch expreſſe Boten oder Führer erfolgt, ſofern ein jolcher Erpreffer nur von einem 
Abſender abgejchict ift, und weder von Anderen noch für Andere Briefe mitbringt. 
Der P.zwang in Bezug auf Zeitungen politischen Inhalts, welche öfter ala wöchentlich 
ericheinen, unterliegt denjelben VBorausjegungen und Modalitäten, twie der P.zwang in 
Bezug auf Briefe, mit der Ausnahme, daß das Verbot der außerpoftmäßigen Beför— 
derung fich nicht auf den zweimeiligen Umfreis des Uriprungsorts der Zeitung bezieht. 
Hinfichtlich der Zeitungen hat die P. nicht blos den Transport, jondern auch den 
Debit, d. h. die Annahme und Ausführung der Bejtellungen, die Adreffirung der 
einzelnen Blätter, die Einkaffirung der Gelder und die Abführung derfelben an die 
Verleger. Wie übrigens die Annahme und Beförderung reglementmäßiger P.jendungen 
überhaupt nicht verweigert werden darf, jo ijt imsbejondere auch feine im Gebiet des 


Bojtliminium, 97 


Reichs ericheinende Zeitung vom P.debit auszuschließen; auch muß bei der Nor: 
mirung der Provifion nach gleichen Grundjäßen verfahren werden. 

IV. Die Garantie der PB. Urfprünglich waren in Preußen bejondere 
Beitimmungen hierüber nicht erlaffen, es famen vielmehr die allgemeinen privat- 
rechtlichen Grundjäge über das Berhältniß der Fuhrleute zu den Frachtgebern in 
Betracht. Auf diefem Standpunkte jtand auch noch das Allg. YR II. 15 88 157 ff., 
indem dort namentlich das Verhältniß der Schiffer gegen die Reifenden und Be— 
rachter als maßgebend Hingejftellt wird. Grit das Preuß. P.geieh vom 5. Juni 
1852 hat die Analogie des P.transportes mit dem Schiffstransporte aufgegeben und 
ielbftändig Normen für die jeitens der P. zu leiftenden Garantien jeitgejeßt, die 
dann auch ziemlich wörtlich in das frühere Nordd. Bundes» und jeßige Reichspoſt⸗ 
geſetz übergegangen find. Danach wird ein Erſatz im Allgemeinen geleijtet für Geld- 
iendungen, Packete mit oder ohne Werthdeklarationen, Briefe mit deflarirtem Werthe 
und refommandirte Sendungen. Die Erſatzleiſtung bleibt jedoch ausgejchlofjen, 
wenn fie durch die eigene Fahrläſſigkeit des Abſenders herbeigeführt iſt oder durch 
die natürliche Beichaffenheit des beförderten Gutes oder durch die unabwendbaren 
Folgen eines Naturereigniffes oder wenn der Schaden jich ereignet hat auf einer 
auswärtigen P.jtation, mit der feine Konvention beiteht. Bei verzögerter Beför— 
derung tritt ein Erſatz nur dann ein, wenn die Sache dadurch verdorben iſt oder 
ihren Werth bleibend verloren hat (ganz oder theilweife), während feine Rückſicht 
genommen wird auf eine Aenderung des Kurjes oder des marftgängigen Preifes. 
Die Entihädigung bezieht fich jtets nur auf den unmittelbaren Schaden und jelbjt 
diefer wird vielfach nicht volljtändig erſetzt, wie 3. B. bei Padeten die Vergütung 
nie mehr beträgt als 3 Mark für das Pfund. 

git.: Stephan, Geſchichte ber Zune Poſt von ihrem Urſprunge bis auf bie 
Gegenwart. Nach amtlichen Quellen, Berl. — de Pan Entwidelungsgeichichte 
der Poften, Leipz. 1868. — Iſaacſohn, —3 — Beamtenthums, II. 
131 #. — Hixſchfeld, Römiſche Verwaltungägeichichte, I. ff. — Löper, Zur Geichichte 
des Verkehrs in Eliah- ‚Lothringen, Straßbur a _ ac Die Verkehrsanftalten des 

Reich, in v. Hol enborff' 8 Jahrb. Sag. I. (1871) ©. 423 ff, Jahrg. II. (1873) 
S. 231 ff. — Dambach, Das Gele über das Bofiiefen des Deutichen Reichs vom 28. Ott. 
1871, 3. Aufl. 1872. — Fiider, Die Deutiche Poftgejehgebung, 2. Aufl. 1876. — Amtsblatt 
der Deutichen Reichs⸗Poſt⸗ und Telegraphen- Verwaltung. — Archiv für Dr und —— 
Beihefte zum Amtsblatt). — v. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft, 3. Aufl., Bd. ©. 464 ff. 
v. Stein, Handbuch ber Bermaltungslehre (1870), ©. 197 ff. — Meili, * Saftprlich ber 
Foftanftalten, 1877. — Holzamer, Beitrag zur Geſchichte der Briefportoreform in den Kultur: 
itaaten (Tüb. Zeitichr. 1878 ©. 1 f.). — Rüttimann, Die Bundedeinrichtungen ber Schweiz, 
II. 2 88 603 ff. — Gueroult, La fusion des postes et des telögraphes (Revue gen. d’ad- 
ministration ]. [1878] p . 203 s8.). — Hartmann, Die neben dem StrafGB. geltenden Straf: 
geiehe ıc. — Meves, Pie ftrafrechtlichen Beltimmungen in dem Gejeße über das Poſtweſen 
des Deutſchen Reichs, 1876 (Th. III. Bb. I. " 4). — Kletke, Lit. über das Finanzweſen 
des Preuß. Staats, 3. Aufl. (1876) ©. 131 Ernſt Meier. 


Boftliminium (IH. I. S. 1027 ff.). Das Rom. echt betrachtete die 
ſtriegsgefangenſchaft ala rechtmäßige Entjtehungsurjache der Sklaverei und wendete 
diefen Grundjaß auch auf die friegägefangenen Römer an. Da nun überhaupt fein 
Sklave ein Teſtament machen konnte, jo mußte auch das Tejtament eines in der 
Kriegsgeiangenjchaft verftorbenen Römers nichtig fein. Da weiter ein Sklave weder 
Bürgerreht noch Familie noch Vermögen Haben konnte, jo ging der in Kriegs— 
getangenichaft gerathene Römer jeiner ganzen bürgerlichen Stellung verluftig, ohne 
diefelbe durch die einfache Ihatjache der Rückkehr aus der Gefangenschaft zurück— 
erwerben zu fünnen. Das Röm. Recht jtellte deshalb die fietio legis Corneliae auf, 
welche das vor der Gefangennahme errichtete Tejtament eines in Kriegsgefangenſchaft 
verftorbenen Römers durch die Fiktion aufrecht Hielt, derjelbe ſei kurz vor jeiner 
Sefangennahme vom Feinde getödtet worden, aljo als freier Römer geftorben. Der 
durch die Kriegsgefangenſchaft herbeigeführten dauernden Vernichtung der bürgerlichen, 

v. Holgendorff, Enc. II. Rechtäleriton III. 3. Aufl. 7 


98 Poſtliminium. 


Familien- und Vermögensrechte wurde dagegen von der Römiſchen Jurisprudenz 
durch die Konjtruftion des jus postliminii abgeholfen, nach welchem dann, wenn ein 
gefangener Römer fich noch während des Krieges jelbjt befreit und glüdlich zu den 
Seinigen gelangt, bzw. dann, wenn ein Solcher nach einem die Rückkehr der Kriegs— 
gefangenen bejtimmenden Wriedensjchluffe in fein Vaterland zurückkehrt, angenommen 
werden jolle, derſelbe jei überhaupt niemals entfernt geweſen, alle vor der Kriegs— 
gefangenjchaft vorhanden geweſenen Rechtsverhältniffe beftänden alſo nach wie vor 
zu Recht. 

Da nun die Sklaverei in den heutigen Kulturjtaaten überhaupt nicht mehr 
eriftirt und insbejondere jchon jeit dem 12. Jahrh. nicht mehr eine rechtliche Folge 
der Kriegsgefangenſchaft ift, jo bedarf weder das Privatrecht noch das Völkerrecht 
der neueren Zeit beitimmter Fiktionen, um den aus der Kriegsgefangenſchaft zurüd: 
gefehrten Staatsangehörigen in jeine privat» und jtaatsrechtliche Stellung wieder 
einzuführen; denn dieje wird durch die Kriegsgefangenſchaft überhaupt nicht ver: 
nichtet. Die etwaige Einfetzung eines Kurators für das Vermögen des Kriegs— 
gejangenen ift feine Folge der rechtlichen, jondern nur der thatſächlichen 
Unfähigkeit des Yeßteren, jein Vermögen jelbft zu verwalten: es liegt Hier eine ein- 
fache cura bonorum absentis vor, die durch die Thatjache der Rückkehr des Ge: 
fangenen, aber nicht in Folge eines befonderen jus postliminii ihr Ende erreicht. 
Ebenſowenig ift e8 eine Anwendung des Römiſchen jus postliminii, wenn der Eigen: 
thümer eine ihm während eines Yandkrieges durch die feindliche Macht weggenommene 
bewegliche oder unbewegliche Sache wieder in Bei nimmt oder vindizirt,; denn 
nur jeine thatfächliche Herrichaft über die Sache, nicht aber fein Eigenthumsrecht iſt 
durch den Krieg vorübergehend aufgehoben worden: es Liegt aljo fein Rechts: 
verlujt vor, zu deſſen Befeitigung ein jus postliminii nothiwendig wäre. 

Dagegen fünnte es fraglich fcheinen, ob nicht die Rückerwerbung wirklicher 
völferrechtsmäßiger Kriegsbeute — wie Waffen, KHriegsvorräthe und jonftiger zur 
Kriegführung nothiwendiger, im Eigenthum der feindlichen Staaten oder der Kom: 
battanten befindlicher Sahen — ſowie die Wiedernahme eines durch eine krieg— 
führende Macht weggenommenen feindlichen oder neutralen Schiffes bzw. der Ladung 
deffelben eine Anwendung des Römifchen PB. jei. Selbſt das Völkerrecht der Gegen: 
wart nimmt nämlich, wenngleich unter dem MWiderjpruche vieler hervorragender 
Publiziften, in diefen Fällen eine wirkliche Gigenthumserwerbung von Seiten des 
Kaptor — jei dies nun ein einzelner Feind oder der Nehmeftaat ſelbſt — an, würde 
aljo eines jus postliminii bedürfen, um das Recht des urjprünglichen Eigenthümers 
nach einer Rüdtehr der weggenommenen Sache in die Hände deffelben bzw. unter 
den Schuß feiner oder einer befreundeten Nation wiederherzuftellen. Da jedoch 
der Kaptor nach allgemein geltenden Grundjägen das Eigenthumsrecht an weg— 
genommenen Schiffen und Ladungen nicht jchon im Momente der Wegnahme, 
jondern erft an einem jpäteren, von Theorie und Praris verjchieden beitimmten 
Zeitpunkte, dann aber auch mit definitiver, bleibender Bernihtung des 
urfprünglichen Eigenthumsrechts, erwirbt, jo ift auch in diefem alle ein jus post- 
liminii nicht anwendbar. Wird dem Kaptor nämlich ein wirkliches Eigenthum, wie 
manche Publiziften, 3. B. Bluntſchli, wollen und auch die Nordameritanijche 
Praris Hinfichtlich aller nationalen Schiffe und Güter anerkennt, erft nach vor- 
gängigem Spruche eines kompetenten Prijengerichts zugeftanden, jo erhält die vor 
dem Spruche des Prifenhofes erfolgte Wiedernahme des Schiffes dur ein Schiff 
derjelben oder einer befreundeten Nation, die Reprife, nur das urjprüngliche, noch 
gar nicht verlorene Eigenthum. Nach dem Spruche des Prijengerichts ift aber nad) 
derjelben Anficht jedes Wiederaufleben des urfprünglichen Eigentums ausgeſchloſſen, 
jelbjt wenn Schiff und Ladung wieder in die Gewalt ihrer Nation gelangen. Das 
Gleiche gilt dann, wenn, wie die meilten Staaten des Europäifchen Kontinents und 
viele Publiziften, 3.8. Vattel, Klüber, Martens u. A., nach dem Vorgange 


Poftliminium. 99 


von Grotius noch feſthalten, der mindeſtens vierundzwanzigſtündige Beſitz des 
Schiffes durch den Kaptor, oder wenn, wie ſchon der Consolato del Mare (cap. 287) 
beitimmte, das einmalige Bergen des Schiffes in einem neutralen bzw. zu der 
Nationalität des Kaptor gehörigen Hafen oder unter dem Schuß eines Gefchwaders 
das frühere Eigenthumsrecht zerjtört: vor Ablauf der Friſt bzw. vor Erreichung 
des betreffenden Hafens Liegt überhaupt noch fein WVerluft des Eigenthums vor, 
welchen wieder aufzuheben, ein PB. nothwendig wäre; nach Ablauf der Friſt bzw. 
nad Bergung des genommenen Schiffes giebt aber auch die Wiedernahme durch 
ein Cchiff derjelben Nationalität dem urjprünglichen Gigenthümer fein Recht nicht 
wieder. Da aljo, wo das jus postliminii nothiwendig wäre, iſt es völferrechts- 
mäßig ausgejchlofjen. 

Diejelben oder doch wejentlich gleiche Grundjäge find troß mannigfachen von 
der Theorie erhobenen Widerjpruch® als die für die vom Feinde im Landfriege ge= 
machte völferrechtsmäßige Beute geltenden zu bezeichnen: das frühere Eigenthum 
lebt nicht wieder auf, jobald die Beute dem Feinde nach vierundzwanzigitündigem 
Vefik oder einmaliger ficherer Bergung wieder abgenommen worden. 

Sollten übrigens die bereits in mehreren Ländern wenigjtens für die Reprije 
von Schiffen und Gütern durch Kriegsſchiffe ihres Heimathitaates anerkannten 
und von der Wiſſenſchaft mit Eifer vertretenen NRechtsanfichten der neueren Zeit, 
welche allgemein darauf ausgehen, überhaupt der feindlichen Offupation einer Sache 
jede rechtliche Wirkung abzufprechen, zum Siege gelangen, jo würde mit der Un— 
möglichkeit eines Eigenthumsrechts des Feindes an den weggenommenen Sachen auch 
der lebte Schein einer Anwendbarkeit des jus postliminii wegfallen, da diejes einen 
eingetretenen Rechtsnachtheil zur Vorausjegung Hat, um denjelben durch 
eine Fiktion wieder zu bejeitigen. 

Sit ſonach im gegenwärtigen Bölkerrechte eine analoge Anwendung des Röm. 
jus postliminii auf die Rechte des Kriegsgefangenen und die Rechte an Sachen, 
welche der Feind mweggenommen hat, weder nöthig noch möglich, jo dürfte es doch 
als zuläffig ericheinen, das P. zur Bezeichnung der rechtlichen Stellung anzuwenden, 
in welcher fich eine vom Feinde während des Krieges aus ihrem ganzen Herrichafts- 
gebiete oder doch aus einem Theile defjelben verdrängte Regierung zu allen vom 
Feinde ausgegangenen Verfügungen dann befindet, wenn fie wieder in den Befit der 
Herrſchaft über das vom Feinde offupirte Gebiet gelangt. Aber auch diefe Meinung 
iſt nicht ftichhaltia, 

Hat nämlich die feindliche Okkupation nur einen einzelnen Yandestheil oder 
war das ganze Land, aber doch nur für furze Zeit getroffen, war fie alfo nicht die 
Folge einer vollftändigen Vernichtung, einer debellatio der Landesregierung, jo fteht 
reft, daß, weil die Landesregierung noch ſtaats- und völferrechtlich vorhanden und 
deshalb widerjtandäberechtigt ift, auch noch nicht von einer wirklichen Zwiſchen— 
berrichaft oder Ujurpation gefprochen werden kann, ſollte jelbjt der Feind fich eine 
wirkliche Regierungsgewalt angemaßt haben. So lange aber eine feindliche Invafion 
oder Okkupation noch nicht auf der zweiſelloſen Thatjache der vollendeten Beſitz— 
ergreifung der Herrichaft über den debellirten Staat beruht, ift fie lediglich eine 
thatfächliche, feine rechtliche Aufhebung der bisherigen ftaatlichen Ordnung. Die 
Biederheritellung der leßteren, überhaupt die Annullirung aller während der Okku— 
pation ergangenen Verfügungen nach der Vertreibung des Feindes iſt ſomit in 
Wahrheit Nichts als die Herſtellung der thatſächlichen Wirkſamkeit einer Obrig- 
keit, deren Recht auch während der feindlichen Okkupation unalterirt bejtanden hat, 
alfo nicht erjt durch ein jus postliminii wieder begründet werden muß. 

Iſt dagegen die Landesregierung vollftändig vom Feinde vernichtet, debellirt, 
der Landesherr depoffedirt worden, oder hat eine Revolution die bisherige VBerfaffung 
und die in ihr berufenen Träger der Staatögewalt bejeitigt, jo Hat der vertriebene 
Staatöherricher mit der thatjächlichen Möglichkeit eines Widerftandes gegen den 

7* 


100 Bojtliiminium. 


Feind auch die rechtliche Möglichkeit Hierzu verloren, da der Krieg nach heutigem 
BVölkerrechte nur zwiichen Staaten geführt werden kann, alſo durch die Vernichtung 
des einen der friegführenden Staaten, bzw. durch die GEntthronung des Staats: 
herrfchers unmöglich wird. In diefem Falle ift demmach, jorern das Volk fich nicht 
zu Gunften des vernichteten Staates oder des vertriebenen Souveräns erhebt, der 
feindliche oder der revolutionäre Machthaber in den vollitändigen Beſitz der Herr— 
ichaft gelangt. Das Recht des depofledirten Souveräns verliert damit jede ſtaats— 
und völferrechtliche Bedeutung: es giebt weder in noch außer dem Staate ein 
Forum, vor welchem es geltend gemacht werden fünnte, und auch das Necht, durch 
friegerifche Gewalt die Reftauration zu erzwingen, ift dem depofjedirten Fürſten mit 
den Berlufte der Staatsgewalt verloren gegangen. rende Staaten können dem 
Ufurpator wol jein Recht abiprechen; aber einem folchen Urtheile fehlt jede recht: 
liche Kraft, und ebenfowenig fann die Meinung des ganzen Volks oder einzelner 
Parteien in demielben, daß der Ujurpator fein Recht auf die Serrichait babe, der 
zweifellojen Thatſache des Befikes der Staatögewalt gegenüber irgend welche recht: 
lihe Wirkung äußern. 

Die Staatliche Ordnung lebt alfo nur durch den Ujurpator fort und kann nur 
durch ihn fortleben, weil ihre Erhaltung die in den Händen des Ujurpators befindliche 
Staatögewalt zur Vorausfeßung hat: der Beſitz der Staatögewalt giebt ſonach dem 
Ujurpator nicht blos die Macht, jondern auch das Recht zu bereichen. Damit iſt 
aber auch alles dasjenige, was der Ujurpator im Ginflange mit den unter feiner 
Herrſchaft geltenden Rechtsnormen gethan hat, für rechtmäßig erflärt. Eben deshalb 
kann, wenn die durch Eroberung oder Revolution begründete Herrſchaft von dem 
vertriebenen Staatöherricher oder zu deſſen Gunſten von einer befreundeten Macht 
wieder umgeftoßen wird, nicht von einem P. der urfprünglichen,, jet reftaurirten 
Regierung geiprochen werden: da das jus postliminii auf Grund der thatjächlichen 
Rückkehr des urfprünglich Berechtigten annimmt, derſelbe jei überhaupt nie fort 
geweien, jo würde das PB. die Bejeitigung des ganzen von dem Wiurpator ge: 
ichaffenen Nechtäzuftandes, die Annullirung fämmtlicher durch ihn begründeter 
Rechtäverhältnifie fordern. Hier aber findet gerade das Gegentheil ftatt: ein be= 
jtimmtes Rechtöverhältniß wird unter Anerkennung, daß dafjelbe eine Zeit lang und 
zwar mit fortdauernden rechtlichen Wirkungen unterbrochen gewejen, erneuert, die 
Zeit der Ujurpation wird nicht rückwärts ungeichehen gemacht, jondern die in ihr 
ergangenen Verfügungen und begründeten Rechtsverhältniffe bleiben bejtehen, und 
dem reftaurirten Herrſcher ſteht nur zu, diejenigen rechtlichen Bejtimmungen, welche 
den Ufurpator in jeiner Stellung ala Souverän anerkennen und fichern, einfach als 
ipso jure nichtig zu betrachten, weil ohne deren Annullirung eine Rejtauration 
überhaupt nicht möglich fein würde. Daß dem reftaurirten Herrſcher hierbei eine 
Berufung auf jein früheres weder durch eine Willenshandlung des Volks noch durch 
die Anerkennung des Ujurpators von Seiten des Auslandes entzicehbares Recht zufteht, 
während der Ujurpator fich bei der Befeitigung des rechtmäßigen Souveräns nur 
auf die Thatjache des gleichviel durch welche Faktoren erworbenen Befites der 
Staatögewalt berufen konnte, ändert zwar das juriftifche, wie das moraliiche Urtheil 
über diefen Vorgang, macht aber aus ihm doch nicht ein wirkliches, die Zwiſchenzeit 
der Ujurpation bejeitigendes P., ſondern nur eine ftaatsrehtlihe Neu— 
bildung auf Grund eines früher geltend gewejenen, dann befeitigten und endlich 
unter Anerkennung diejer zeitweifen Bejeitigung durch die Befitergreifung der Staate- 
gewalt wieder zur Geltung gebrachten Rechts. 

Quellen: Gaius, I. $ 129. — D. 49, 15 de captivis et de postliminio. — C. 8, 51 
de postliminio reversis et redemtis. — lleber bie Reprifengefeßgebung der einzelnen Länder 
vgl. Wheaton, Elements du droit international, 3. &d., tome II. $ 12.— Phillimore, 
Comment. upon international law, vol, III. part. X. ch. 6 SS 411—419. 

git.: Haſe, Das jus postliminii und die fictio legis Corneliae, Halle 1851. — Bed: 
mann, Das jus postliminii und die lex Cornelia, Erl. 1872. — Wheaton, a.a. O©., 11. 


Poſtſtrafrecht. 101 


ss 12—17. — Phillimore, a. a. O., vol. II. part. X. ch. 6 part. XII. ch. 3—8. — 
Vattel, Droit des gens, t. III. ch. 14. — Bluntſchli, Modernes Völkerrecht, Buch VIU. 
Rap. 10; Buch IX. Kap. 6; Derjelbe, Das Beutereht im Krieg und das GSeebeuterecht 
inäbejondere, Nördlingen 1878, ©. 160. — Heffter, Europ. Völterredht, 5. Ausg. SS 187 
bis 192. — H. 4. Zachariä, Zeitichr. für bie gejammte Staatöwifjenichaft, Pb. IX. 
8.79 Fi. — Ferner die zahlreichen auf die Verbindlichkeit der Regierungshandlungen eines 
Zwiſchenherrſchers i— Schriften bei H. A. Zacha riä, Deutſches Staats- u. Bundes— 
recht, 3. Aufl., Bd. I. 8 78, und H. Schulze, Das Preuß. Staatsrecht, Abth. 1, Leipz. 
1870, ©. 210, 211. — F. Brodhaus, Das Legitimitätöprinzip, Leipz. 1868, ©. 322 ff. 
F. Brodhaus. 


Poſtſtrafrecht iſt die Bezeichnung für die Summe aller derjenigen Vorjchriften 
und Regeln, durch welche der mit der Verwaltung der Poſt betrauten Behörde ein 
Recht zu ftrafen zugeiprochen wird und zwar nicht ala Disziplinarbehörde, jondern 
ale Strafbehörde. Indem die Vorfchriften einestheild die einzelnen Fälle aufzählen, 
in welchen jener Verwaltungsbehörde ein jtrafrechtliches Ginfchreiten zuſtehen joll, 
aljo die Handlungen angeben, die unter ihre Zuftändigkeit fallen, anderentheils die 
Art und Weiſe diejes Ginjchreitens feſtſetzen und regeln, umfaßt der Begriff jowol 
das P. im engeren Sinne, wie das Poſtſtrafverfahren. 

Die früher in Deutichland allgemein geltend gewejene Trennung zwischen der 
Polizei- und NKriminalgerichtsbarfeit hatte die Ginführung und Ausbildung eines 
beionderen Verfahrens für jolche Handlungen hervorgerufen und begünftigt, welche 
gegen die Anordnungen der Abgaben» und Steuergejeße gerichtet und in diejen mit 
Strafe bedroht waren. Sie lagen, weil jie wirkliche Verlegungen der allgemeinen 
Rechtsordnung nicht enthielten und deshalb unter das allgemeine Strafgeſetz nicht 
fielen, außerhalb des Gebietes des Kriminalrechts und außerhalb der Zuftändigkeit 
der Kriminalgerichtsbarfeit. Andererjeitö aber hatten fie auch nicht den Charakter 
einer Vergehung gegen polizeiliche Beitimmungen, weil die fie mit Strafe bedrohen 
den Gejee nicht dem Zwecke dienten, eigentliche Rechtsverlegungen zu verhüten, den 
Straivorichriften fonach die Natur einer Präventivmaßregel fehlte. Es erichien daher 
begrifflich unmöglich, die Handlungen der Polizeigerichtsbarfeit zu unterjtellen. Des— 
halb wurde ihre Verfolgung und Beitrafung den mit der Einziehung der Abgaben und 
Zölle betrauten Behörden überlaffen. Der praftijche Nuben, den diefe Einrichtung 
mit fich führte, gab Anlaß, ihr Gebiet jomweit ala möglich auszudehnen, und ordnete 
man ihr nach und mach neben den Abgaben und Zöllen alle öffentlichen Gefälle 
unter. Zu ihnen gehörten auch die Ginnahmen aus dem Pojtregal. Die Ber: 
tolgung und Bejtrafung ihrer mit Strafe bedrohten Hinterziehung wurde den Poſt— 
behörden übertragen und in Preußen durch vielfache Anweifungen und Reſtkripte 
(ef. 3. B. Reſkr. des Finanzminiſterii vom 29. Februar 1824) geordnet. Der 
ipäter auch im Gebiete des Strafrechts fich in den Vordergrund drängende Begriff 
eines Rechtsſtaates hob zwar jowol die Unterjcheidung zwijchen der Polizei- und 
Kriminalgerichtsbarfeit auf, wie er auch das den Berwaltungsbehörden verliehene 
Strafrecht bejeitigte, indem er die Forderung ftellte, daß jede Strafe nur von dem 
ordentlichen Richter ausgejprochen werden dürfe. Allein bald fanden die Grund- 
gedanfen, welche jener Scheidung zu Grunde gelegen und die Adminijtrativjuftiz 
im das Leben gerufen hatten, wieder Gingang in die Gejeßgebung: die Vortheile, 
welche jie geboten, einestheils dadurch, daß die technifchen Schwierigkeiten bei der 
Grmittelung und Yeititellung der jtrafbaren Handlung eine leichtere und jachgemäßere 
Ueberwindung fanden, anderntheils dadurch, daß mit der großen Geringfügigfeit des 
Delitts ebenjo die Schnelligkeit des Verfahrens, wie der Mangel der Deffentlichkeit 
in Uebereinjtimmung jtanden, erleichterten ihre Wiederaufnahme. Dabei erlangten 
fie aber ihren früheren Umfang und ihre frühere Selbitändigfeit nicht wieder, er- 
hielten vielmehr eine Stellung, die jich als eine vorläufige und bedingte Fennzeichnet 
und das gerichtliche Verfahren als Hintergrund hat, auf welches ſowol der Anz 
geichuldigte, wie die Verwaltungsbehörde zurückzugreifen befugt ift. In diejer 


102 Poſtſtrafrecht. 


Stellung brach ſich das Adminiſtrativverfahren auch in der die Poſtgefälle betreffen— 
den Materie wiederum Bahn und ging in Preußen in das Geſetz vom 5. Juni 
1852 über.. Als nun nach der Errichtung des Norddeutichen Bundes und der Her: 
itellung des Deutichen Reich das Poftregal auf das Reich übertragen wurde, baute 
die Reichsgeſetzgebung, die auch jchon bei anderen Abgaben und Gefällen die Ad: 
miniſtrativjuſtiz aufrecht erhalten hatte, auf der gegebenen Grundlage und in&bejondere 
den Preußifchen Gejegen weiter, und wuchs daher auf ihnen auch das Geſetz vom 
28. Oktober 1871 „über das Poſtweſen des Deutfchen Reichs”, welches zur Zeit 
die alleinige Duelle und Grundlage des Deutichen P. bildet. Wenn auch nad) 
Art. 79 III. 8 4 des Vertrages vom 23. November 1870 in Bayern und nad) 
Art. 2 Nr. 4 des Vertrages vom 25. November 1870 in Württemberg die freie 
und jelbjtändige Verwaltung des Poſtweſens dem Landesrecht vorbehalten worden 
ift, Steht doch dem Neiche auch diefen Bundesjtaaten gegenüber die Gejeßgebung zu 
über die Vorrechte der Poſt, die rechtlichen Verhältniffe derjelben zum Publikum, 
die Portofreiheiten und das Tarwejen, joweit diefe Gegenjtände nicht lediglich den 
inneren Verkehr in den beiden Staaten betreffen. Innerhalb diefer Materien Liegt 
das P., wie e8 in dem Gejeh vom 28. Oktober 1871 ausgebildet ift, und iſt das— 
ielbe deshalb auch in diefen Staaten, alſo innerhalb des gefammten Gebietes des 
Deutichen Reiche maßgebend. 

I. Das materielle Strafrecht findet fich im Mbjchnitt IV des Geſetzes in den 
ss 27—33. Sie enthalten die Aufzählung der als jtrafbar bezeichneten Handlungen, 
die Strafandrohungen und einzelne den allgemeinen jtrafrechtlichen Grundſätzen ans 
gehörige Beitimmungen. 

Die rechtliche Qualität der bedrohten Handlungen deutet das Geſetz durch die 
Ueberfchrift des Abfchnitts an, in welchem fie Poft- und Portodefraudationen 
genannt werden. Sie follen alſo — wie dies auch aus den Motiven des Gejetes 
erfichtlich, in welchen fie nicht ala Defraudationen, jondern als Webertretungen be— 
zeichnet waren — gejeßlich ala Webertretungen behandelt und nach den für dieſe 
maßgebenden Grundfägen beurtheilt werden und zwar jelbjt dann, wenn etwa im 
Ginzelialle die prinzipale Gelditrafe die den Webertretungen gejeßte Grenze über- 
ichreiten jollte. Da das P. ala ein Spezialgejeg des allgemeinen Strafrechts an— 
zufehen, greifen überall da, wo es nicht durch ausdrüdliche Beitimmungen von 
ihnen abweicht, die allgemeinen Grundſätze deffelben über die Webertretungen Platz. 
Demgemäß ift jowol der Verfuch, wie die Theilnahme durch Gehülfenſchaft ftraflos, 
nicht aber die Anſtiftung. Bei realer Konkurrenz ift die Anwendbarkeit des S 74 
des StrafGB. ausgeſchloſſen und findet nach den SS 77, 78 ibid. eine Zuſammen— 
rechnung der Strafen ftatt. Ueber die Verjährung der Strafverfolgung disponirt 
der $ 7 des EG. zum StrafGB. und über die der Strafvollitrefung der $ 70 des 
StrafGB. — Dagegen weicht das P. von dem gemeinen Strafrecht in folgenden 
Puntten ab. Das Strafminimum beträgt nicht eine Mark, jondern die Summe 
von drei Mark; bei der Umwandlung der Geld» in reiheitsitrafe darf die Dauer 
der letzteren ohne Rückſicht auf die Größe der erjteren niemals die Dauer von 
jechs Wochen Haft überjchreiten; der Rückfall iſt ein geieglicher Strafichärfungsgrund, 
der unter den gegebenen Vorausſetzungen eine Dualifizirung der Strafbarfeit der 
That herbeiführt. Er trifft jedoch nur die Porto-, nicht auch die Poftderraudationen, 
jet nicht die Begehung eines gleichen, jondern nur eines gleichartigen Delikte, 
nämlich einer der verjchiedenen im $ 27 des Geſetzes gedachten Vergehungen vor= 
aus und wird durch den Ablauf von drei Jahren nach ganz oder theilweije ver= 
büßter oder erlaffener Vorjtrafe ausgeſchloſſen. Die mit Strafe bedrohten Handlungen 
ind in Folge ihrer Natur ala Zumiderhandlungen gegen die Pojtgefälle auf einen 
nur geringen Kreis beſchränkt und jcheiden fich in Porto und Pojtdefraudationen. 
Während die Berechtigung der gegen die eriteren gerichteten Strafandrohungen aus 
der Ausichließlichkeit des Rechts der Poſt zur Beförderung gewilfer Sendungen folgt, 


Poſtſtrafrecht. 108 


iſt die Strafwürdigkeit der Poſtdefraudationen nicht ohne Bedenken. Da nämlich 
die entgeltliche Beförderung von Perſonen kein ausſchließliches Vorrecht der Poſt 
mehr bildet, enthält auch die unbefugte unentgeltliche Benutzung der Poſt keinen 
Eingriff in das Poſtregal: ſonach fehlt es an einer inneren Berechtigung, dieſe 
Handlung für eine ſtrafbare zu erklären. Dieſe Bedenken haben bei dem Eiſenbahn— 
Polizeireglement ihre Würdigung gefunden und dort dahin geführt, dergleichen Hand— 
lung nicht ftrafrechtliche, jondern civilrechtliche Folgen beizulegen. 

Als Portodefraudationen find jtrafbar und werden bedroht mit einer dem 
Cuadruplum des defraudirten Portos gleichfommenden Geldjtrafe, die jedoch nicht 
unter drei Mark betragen darf, und im erjten NRüdfalle mit dem Doppelten, im 
ieneren mit dem Bierfachen diefer Strafe: 1) die entgeltliche Beförderung von 
Briefen und politifchen Zeitungen von einem Ort zum anderen auf andere Weije, 
als durch die Poft; es ijt eben das Vorrecht der Poft, Briefe, d. 5. verichloffene 
ichriftliche Mittheilungen, und Zeitungen politischen Inhalts, nicht auch Fachzeitungen 
und Zeitjchriften, gegen Bezahlung zu befördern. Diejes Vorrecht verlegt jowol der- 
jenige, welcher eine andere Gelegenheit benußt, wie der, welcher die Beförderung 
gegen Entgelt unternimmt. 2) Der unrichtige Gebrauch einer von der Portozahlung 
befreienden Bezeichnung der Sendung und die Einlegung einer portopflichtigen Sen— 
dung in eine die Portofreiheit genießende. Der Gebrauch eines zu niedrigen, dem 
Zarife nicht entiprechenden Portofages oder eines Kreuz oder Streifbandes für eine 
dem vollen Porto unterliegende Sendung iſt jelbjt dann nicht jtrafbar, wenn er eine 
Portohinterziehung beabjichtigt, jondern zieht nur die Nachtarirung und die Ein- 
ziehung des jog. Strafportos nach fih. Dagegen fällt unter die Strafvorichrift der 
Mißbrauch der Bezeichnung „portopflichtige Dienftjache“, weil durch fie die Strafe 
der unterlaffenen Frankirung bejeitigt wird. 83) Die Benutzung bereits entwertheter 
Poftwerthzeichen ohne Hinzutritt einer weiteren, die That zu einem gemeinen Delikt 
binabdrüdenden Handlung, durch die dem MWerthzeichen der Schein eines noch nicht 
entwertheten gegeben werden joll. Es ändern jedoch derartige Handlungen, wenn 
fte, wie 3. B. das Aufkleben des Werthzeichens mit der Schaufeite, auch nicht ein— 
mal die Möglichkeit einer Täujchung bieten, den Charakter der Ihat als einer De: 
fraudation nicht. 4) Die Mitgabe portopflichtiger Sendungen an Poſtbeamte oder 
Poitillone behujs Umgehung der Portogeiälle. Die Defraudation ift in den lebt: 
gedachten drei Fällen vollendet und die Strafe verwirft, jobald die Sendung der 
Poſt bzw. der betreffenden Perſon übergeben ijt, eine Webergabe, die bei Briefen 
ichon dann als erfolgt anzujehen ijt, wenn fie dem Brieifajten anvertraut find. 

Als Poftdefraudation wird erklärt, und macht fich einer jolchen jchuldig, wer 
wifjentlih, um der Poſtkaſſe das Perjonengeld zu entziehen, uneingejchrieben mit der 
Poſt reift. Auch Hier beiteht die Strafe in dem Vierfachen des defraudirten Per: 
ſonengeldes, mindejtena aber in der Summe von drei Mark. Während bei den 
Tortodefraudationen und in dem ad 4 gedachten Falle die Strafbarfeit der Ihat 
durch den auf die Umgehung der Portogeiälle gerichteten dolus des Thäters bedingt 
it, erfordert bier der Ihatbejtand ein zweitaches jubjektives Moment, nämlich das 
Bewußtſein von der Strafbarfeit der Handlung und die Abficht einer Hinterziehung 
des Perſonengeldes. 

U. Das formelle P., das Strafverfahren, behandelt der Abjchnitt V des Gei. 
vom 28. DOftober 1871. Es charakteriſirt fich als ein Adminiftrativverfahren. Die 
Deutiche StrafPD. Hat zwar ein jolches nicht eingeführt oder vorgejchrieben —, hat 
es jedoch überall da, wo es beitand, aufrecht erhalten und bat zur Regelung des 
Berhältnifjeg zwiſchen ihm und dem gerichtlichen Verfahren im dritten Abjchnitte 
des fechiten Buchs verfchiedene Anordnungen getroffen, welche vielfach auch auf das 
Landesrecht modifizirend einwirken. Indem jedoch der S 5 des EG. zur StrafPO. 
vorjchreibt, daß die prozeßrechtlichen Bejtimmungen der Reichsgeſetze durch die 
StrafPO. nicht berührt werden, hat er die Anwendung jener Anordnungen auf das 


104 Poſtſtrafrecht. 


Poſtſtrafverfahren ausgeſchloſſen. Es darf daher auf fie nur da rekurrirt werden, 
wo das Geje vom 28. Oftober 1871 auf die Vorſchriften des geltenden Strai- 
prozefles Bezug nimmt. In Folge deffen find eine Reihe von Normen in Geltung 
geblieben, die mit den allgemeinen Grundjäßen der StrafPO. nicht im Ginflang 
jtehen, Normen, die früher auch dem Landesrecht angehörten, dort aber zur Zeit 
außer Kraft geſetzt find. 

Das Beriahren zerfällt in zwei Abfchnitte, in das Submiffione- und in das 
törmliche Unterfuchungsverfahren. Das erftere ift obligatorifh, und fteht es der 
Behörde nicht frei, von ihm abzuſehen. Es beiteht darin, daß die Oberpoftdirektion 
auf Grund der ihr gemachten Anzeige ohne nähere Unterfuchung und vor der Ein- 
leitung eines förmlichen Verfahrens dem Beichuldigten mitteld Verfügung eröffnet, 
welche Gelditrafe für von ihm verwirkt zu erachten ſei, und ihm freiftellt, das fernere 
Verfahren und die Ertheilung eines Strafbejcheides durch Bezahlung der Strafe und 
der Kojten binnen einer Friſt von 10 Tagen zu vermeiden. Diejes Verfahren, 
defien fich auch das Preuß. Yandesrecht mehrfach, 3. B. in dem Geſetz über die Ge 
bäudejteuer, bedient, hat neben dem Vorzuge großer Schnelligkeit den Wortheil, den 
Angeichuldigten der mit der Durchführung des Adminiftrationsverfahrens verbundenen 
Unannehmlichfeiten zu entheben, und ruht auf der Annahme, daß die jtraibare 
Handlung nicht jowol in böfer und gewinnfüchtiger Abficht, als vielmehr aus Un- 
fenntniß des Geſetzes, Unachtſamkeit oder Fahrläffigkeit begangen worden und deshalb 
von dem Beichuldigten nicht in Abrede geitellt werden wird. 

Erfolgt innerhalb der 10 Tage die Zahlung nicht oder nur unter gleichzeitiger 
Erhebung einer Einrede, durch welche die Schuld bejtritten oder die richtige Be: 
rechnung der Strafe bemängelt wird, jo tritt das fjürmliche Verfahren ein. Es wird 
dadurch eröffnet, daß die Oberpoftdireftion die Einleitung der Unterfuchung anordnet 
und mit ihrer Führung entweder die am MWohnorte des Beichuldigten bzw. am Orte 
der That befindliche Poſtanſtalt oder den Bezirksauffichtsbeamten beauftragt. Die 
Rechte des Unterfuchungsbeamten find bejchränfter, als die einem Richter zuftehenden ; 
er iſt nicht berechtigt, irgend welchen Zwang gegen den Beichuldigten oder die zu 
vernehmenden Perjonen zu üben, um fie zur Befolgung feiner Worladung oder zur 
Abgabe einer Erklärung oder Ausjage zu veranlaffen: er ift auch nicht berechtigt, 
die PVereidigung gehörter Zeugen oder Sachverjtändigen vorzunehmen. Die La— 
dungen und jonftigen Zujtellungen können zwar durch die Pojtunterbeamten oder den 
Gerichtsvollzieher bewirkt werden; wenn jedoch die Zeugen oder Sachverſtändigen 
der Ladung nicht folgen, jo muß das zuftändige Amtsgericht um die Bewirkung der 
Ladung erjucht werden, welches das gerichtliche Verfahren bei Ladung von Zeugen 
oder Sachverjtändigen in Straffachen zur Anwendung bringt und nöthigenfalls auf 
weiteres Anrufen der Poftbehörde die Strafen des ungehorjamen Ausbleibens gegen 
den Zeugen oder Cachverjtändigen ausſpricht. Gricheinen fie, verweigern aber ihr 
Zeugniß, jo greifen die gerichtlichen Zwangsmittel gegen fie nicht Plaß, jondern es 
muß die Poftbehörde, wenn fie die Zeugniffe für nothwendig erachtet, die Sache 
zur gerichtlichen Enticheidung verweifen. Dagegen ift der Unterfuchungsbeamte ver: 
bunden, den Beichuldigten über die Anjchuldigung zu vernehmen und ihm, wenn 
die zu verhängende Gelditrafe nad) der Submiflionsverfügung den Betrag von 
150 Mark überjteigt, auf fein Verlangen eine Friſt von vier Wochen zur Ein— 
reichung einer Vertheidigungsichrift zu gewähren. Gin Berfäumnißverfahren findet 
gegen ihm nicht jtatt. Die Unterfuchung it eine jummarifche, die an keine beionderen 
Formen behufs Legalifirung der Protokolle und des Verfahrens gebunden iſt. Es be— 
darf bei der Aufnahme der erjteren ſelbſt bei der Schreibensunfunde der vernommenen 
Perjon nicht der Zuziehung einer zweiten jog. Beglaubigungsperfon. Das Verfahren 
nach diefer Richtung hin in jtrengere Formen zu Eleiden, war nicht Bedürfniß, weil 
dem Beichuldigten jeder Zeit die Anrufung des Gerichts offen fteht. Das Ergebniß 
der beendigten Unterfuchung unterjteht der Prüfung der Oberpoftdireftion. Sie ver- 


Postumi. 105 


fügt entweder die Zurügflegung der Akten unter Benachrichtigung des Angejchuldigten, 
oder erläßt den Straibeicheid, oder giebt endlich die Sache behufs gerichtlicher Ver: 
tolgung des Beichuldigten an die Staatsanwaltichait ab, wenn fie nämlich die 
eidliche Vernehmung von Zeugen für nothwendig Hält oder die Schuldirage als 
weiſelhaft anfieht. Der Strafbeicheid ift an diejenigen Erforderniſſe nicht gebunden, 
welche der S 459 der StrafPD. aufzählt; es genügt, wenn er neben der jeftgejeßten 
Strafe die Enticheidungsgründe enthält. Dagegen follen in ihn aufgenommen werden 
die Belehrung über die dem Angeichuldigten zuſtehenden Rechtsmittel und über die 
bei einem Rückfalle eintretende Strafichärftung. Er wird dem Beichuldigten durch 
die Poſtanſtalt, welche oder bei welcher die Unterfuchung geführt worden, verkündet 
oder zugeftellt. 

Als Dintergrund dieſes adminiftrativen Verfahrens dient das gerichtliche. So— 
wol die, Poftbehörde, wie der Beichuldigte können dafjelbe anrufen, eritere jedoch 
nur, jo lange noch fein Straibejcheid von ihr erlaffen worden. Nach vergeblichem 
Verlauf des Submiffionsverfahrens iſt fie befugt, jowol vor der Einleitung der 
Unterfuchung, wie während und nach derjelben die Sache zum gerichtlichen Verfahren 
ju verweilen. Gegen einen ablehnenden Beichluß der nunmehr mit der Verfolgung 
des Veichuldigten befaßten Staatsanwaltichait jteht ihr nur das Necht der Beſchwerde 
an die dienftvorgeiegten Behörden derjelben zu, nicht auch fann fie gemäß $ 170 
der Stra PO. auf gerichtliche Enticheidung antragen, noch nad) $ 464 ibid. nun— 
mehr jelbitändig Anklage bei dem Gerichte erheben. Auch der Beichuldigte kann 
ju jeder Zeit auf gerichtliches Gehör antragen, war jedoch der Strafbeicheid jchon 
erlaffen, nur innerhalb 10 Tagen nach der VBerfündigung oder der Zuftellung des— 
ielben. Der Antrag iſt bei der Poftanftalt anzubringen, bei welcher die Unter: 
fuhung geführt wird, oder die den Strafbeicheid verfündet hat, und gilt ala an- 
gebracht, wenn während der Unterfuchung der Angeichuldigte einer Ladung der Ver: 
waltungsbehörde nicht folgt oder feine Auslaffung vor ihr verweigert. Er hat zur 
Folge, daß ein etwa jchon ergangener Strafbeicheid als nicht ergangen angejehen 
wird, jomit nicht Grundlage des gerichtlichen Berfahrens fein fann. 

Neben diefem Antragsrecht hat der Angeichuldigte gegen einen Strafbeicheid 
nach feiner Wahl, aber ohne jus variandi noch das mit dem beneficium no- 
vorum ausgeftattete Rechtsmittel des Rekurſes an die der Oberpojtdirektion vorgejeßte 
Dienſtbehörde. Es muß, wie der Antrag innerhalb zehntägiger Präkluſivfriſt nach 
Zuftellung des Beicheides bei einer Poftbehörde angemeldet werden. Mit der An— 
meldung kann eine Rechtfertigung verbunden werden: fehlt fie, jo jet die Poſtanſtalt 
dem Beichuldigten eine Friſt bis zu vier Wochen, binnen welcher er die Recht: 
tertigung jchriftlich einreichen oder bei ihr zu Protokoll erklären foll, ohne daß jedoch 
die Wirkung des Nechtsmittels von ihrem Gingange abhängt. Die Nekursinitanz 
enticheidet, nöthigeniall® nach vorgängiger Beweisaufnahme endgültig durch ein Re— 
folut, welchem ein mündliches Verfahren oder ein Verhandlungstermin nicht voran 
gebt, nur auf Grund der Akten. 

Die Enticheidung der Verwaltungsbehörde darf nur eine Geldftrafe, nicht auch 
eine zu fjubjtituirende Freiheitsſtrafe ausfprechen. Iſt ihre verurtheilende Enticheidung 
rechtäfräftig geworden, jo liegt ihr auch die Pflicht der Strafvollitredung ob, welche 
fich in Preußen nach der Verordnung vom 7. September 1879, betreffend das Ber: 
waltungszwangsveriahren wegen Beitreibung von Geldbeträgen, zu richten hat. Bei 
ruchtloſem Ausfall derjelben hat die Oberpojtdireftion durch Vermittlung der Staats- 
anmmaltichafit die Umwandlung der Geld- in eine Haftſtrafe bei dem Gerichte zu 
beantragen. Meves. 

Postumi. Der Begriff der P., d. i. der Nachgeborenen, hat feine Bedeutung 
im Röm. Grbrecht erlangt (Einfluß auf Widerruflichkeit der Schenkung j. Wind- 
icheid, II. $ 367, 22). rüber, als die frage, ob folche Perfonen zu Erben ein: 
aefegt werden könnten, da fie doch personae incertae jeien, wird die Frage auf 


r 


106 Postumi. 


getaucht jein, ob die Uebergehung eines postumus in der letztwilligen Verfügung, mit 
anderen Worten, ob das Gricheinen eines postumus nach Errichtung eines ihn nicht 
berüdfichtigenden Tejtaments das Teftament „rumpire“, ungültig mache. Im Röm. 
Sinne ift nun ein Unterjchied zu machen zwiſchen p. alieni und p. sui; lehtere find 
die nach einem beftimmten Zeitpuntt der väterlichen Gewalt des Erblaffers Zus 
gefallenen, jene die p., welche mit der patria potestas des Erblaſſers nichts zu thun 
haben. Die p. alieni find in Beziehung auf Tejtamentsgültigfeit völlig irrelevant, 
fie konnten nicht einmal mit Nechtsgültigfeit zu Erben eingejeßt oder mit einem 
Legat bedacht werden, nur Fideikommiſſe, ſeit fie auffamen, durfte man ihnen zu 
wenden. Grit das Prätorijche Erbrechtsſyſtem erkannte den eingejegten p. alieni die 
bonorum possessio secundum tabulas zu (pr. I. 3, 9; fr. 3 D. 37, 11), während 
andererjeits ein Senatsſchluß unter Hadrian ihnen auch die Fideikommißfähigkeit, 
folglich die Vermächtnikfähigkeit überhaupt entzog (Gajus, II. 287, j. aber 
Huſchke in jeiner Ausg. ad h. 1. nota 3). Juftinian hat dann in feiner c. de 
incertis personis (c. 1 8 1 C. 6, 48; $ 27 I. 2, 20) alle p. im Allgemeinen als 
fapabel für jede legtwillige Dispofition anerfannt (Beichränfung ſ. in $ 28 I. 2, 
20; fr. 9 88 1, 3, 4. fr. 288 3 D. 28, 2). 

Unter p. sui verjtand man jchon nach altem Givilrecht diejenigen, welche beim 
Tod des Erblaffers noch nicht geboren waren, welche aber, jalla fie bereits zur Zeit 
der Teftamentserrichtung geboren gewejen wären, in diejer potestas geftanden haben 
würden. Dieſe Perjonen mußten entweder eingejeßt oder enterbt werden, wenn fie 
das Teftament nicht rumpiren jollten (Ulpian., XXII. 18, 19, vgl. 15). Man 
"nennt fie p. legitimi. Das gleiche Gewaltverhältniß, wie in diefem Falle, trat 
nun auch ein, wenn dem Grblafjer nach feinem Tode ein Enkel geboren wurde, 
deſſen Vater ſchon vor dem Erblaſſer geftorben war, und daher Hat für diefen Wall 
Gallus Aquilius, ein Zeitgenofje Gicero’s, eine Erbeinjegungstormel erfunden, welche 
uns in der als eine der fieben leges damnatae berüchtigten lex Gallus (fr. 29 pr. 
D. 28, 2) mitgeiheilt wird (ſog. p. Aquiliani). Die Jurisprudenz wandte 
dann diefe Formel auch auf Urenfel des Erblaflers an (fr. 29, 88 2—4 ecit.), zu: 
nächit aber bejtimmte eine lex Junia Vellea vom Jahre 27 n. Chr. (Bruns, 
Fontes, 108), daß die zwar noch bei Lebzeiten des Erblafjers, aber nach der Teſta— 
mentserrichtung ihm als sui geborenen ebenjogut wie diejenigen, welche nach der 
Teftamentserrichtung durch Wegfall von Vorgängern sui würden, im Zeftament 
zu berüdfichtigen jeien, wenn nicht das Teftament durch ihre Agnation rumpirt 
werden jolle (fog. p. Velleani, primi et secundi capitis). Die lex Junia Vellea 
hatte von den nach dem Zeftiraft und nicht ſofort bei der Geburt sui Gewordenen 
diejenigen nicht ausdrüdlich berüdjichtigt, welche exit nach jenem Zeitpunft geboren 
worden waren ; Julian glaubte auch diejen Fall nach Analogie des Gejeges beurtheilen zu 
müffen und die Jurisprudenz rezipirte diefe Meinung (fr. 29 $ 15 cit.; jog. p. Sal- 
viani s. Juliani). m ähnlicher Weiſe dehnte man die bereit? gefundenen Vor— 
ichrüften auf analoge Fälle aus, 3. B. auf die nach des Erblafjers Tod erſt agnaszirenden, 
vorher aber jchon geborenen p. sui (fr. 29 88 5—9 cit.), namentlich aber auf die 
Fälle, in welchen die Agnation nicht auf dem natürlichen Wege der Geburt und 
des Nachrüdens, jondern auf dem fünjtlichen Wege der erroris causae probatio, 
manumissio oder adoptio ac. (Hinfichtlich jolcher Fälle war noc) anderer Mteinung 
Gajus, II. 138—43) zu Stande fam. Dadurch ward denn allmählich für den 
tejtirenden Römer die Weitläufigkeit einer legtwilligen Verfügung immer größer, 
denn er mußte formell, um die Ruption jeines Tejtaments zu verhüten, jeden mög: 
lichen Fall einer agnatio p. berüdfichtigen und den postumus entweder einjegen oder 
enterben, jo daß 3. B. die Formel: si qui post mortem meam p. nati fuerint, 
heredes sunto: die Gültigkeit des Teftamentes nicht jchüßte, wenn noch zu Leb— 
zeiten des Grblaffers sui agnaszirten (Paul, III. 4b, 9; fr. 10 D. 28, 2). 
Diefem Formalismus half endlich Juftinian ab (ec. 4. $ 8 C. 6, 28), obwol auch 


BVoftverträge. 107 


er noch Einjeßung oder Enterbung jänmmtlicher p. verlangte (5 5 I. 2, 18); nad 
nov. 115 aber tritt ala Folge der Uebergehung nicht mehr die frühere (fr. 14 pr. 
D. 28, 2; fr. 5 D. 28, 3) Nichtigkeit des ganzen Teſtaments ein, jondern die 
Präterirten haben nur eine Anfechtungsflage gegen die eingejeßten Erben. Uebrigens 
erteilte jchon der Prätor bonorum possessio an die eingejeßten Erben, wenn der 
postumus dor dem Tode feines Gewalthabers jelbit wieder weggefallen war (Wind- 
iheid, $ 563, 9), und die agnatio p. ijt ohne Einfluß, wenn zu der Zeit, wo fie 
ertolgte, die teftamentarifche Erbichaft bereits dejerirt war (Windjicheid, $ 576, 6). 

Nah den modernen Landesrechten fommt der Begriff der P. in Betracht in 
dem Sinne der nach der Errichtung einer leßtwilligen Verfügung Notherben ge- 
wordenen und die Uebergehung diejer Perjonen führt denn meijtens die Gröffnung 
der geieglichen Erbfolge herbei (Bayer. Recht nah v. Roth, Bayer. Givilrecht, III. 
$ 337, 28; Preuß. Allg. ER. II. 2 88 454—56; Deiterr. BGB. $ 778; Sächſ. 
BGB. $ 2601). Mopdififationen finden ſich aber z. B. im Preußischen Recht in 
doppelter Hinficht, einmal infofern dem Erblafjer noch Zeit gelaffen wird, den nach— 
geborenen Notherben innerhalb eines Jahres zu bedenken, jodann, indem die 
Yegitimation nicht gleich den übrigen Agnationsformen wirft (Koch, Preuß. Exbr., 
ss 66, 81). Nach Franz. Recht endlich ift die agnatio p. wirfungslos für das 
Teftament und es findet nicht einmal eine Anfechtbarfeit wegen Irrthums des Erb— 
laffera über die Exiſtenz der p. jtatt (Zahariä-Puchelt, Franz. Givilr,, IV. 


s 724, 7). 

Quellen: D. 28, 2 de liberis vel postumis heredibus instituendis vel exheredandis. — 
C.6, 29 de ostumis heredibus instituendis vel exheredandis vel ey 

Bit.: üblenbrud-Glüd, Pandeften-Komment. XXXVI. 139 ff.; XXXIX. 3 ff. — 


drumann, eitichr. für Eivilr. und Pe XIX. 309 fi. — Heimbad, daſ., N. F. V. 
1 fl. — — Röm. Erbrecht, S. 255—65. ! Schröder, Das —A 


Br?) ©. 4560. Amann, Die Grundſahe der Heuti en Pandettentriti es an ber 


—— Lex Gallus (1878). — Lehrb. ber Panbdelten: Göſchen, — 855 fi; 
Reller, IL — v. Vangerow, II. $ 429, 3 Nr. 2, 8 468, 1, Binnfaeib) 


II. $ 576, 4 Merkel 


Poftverträge. 1) Der Abſchluß. Da der Art. 48 der Preuß. Verj. Urk. 
nur für den Abſchluß von Handelsverträgen und jolchen Verträgen, durch welche 
dem Staate Laiten oder einzelnen Staatsbürgern Berpflichtungen aufgelegt werden, 
die Zuftimmung des Landtags erfordert, eine Belaftung des Staats oder eine Ber: 
pflichtung der Einzelnen aber nach der richtigen Anficht nur dann anzunehmen ift, 
wenn diejelben in der Form eines Budgetpoftens oder eines Geſetzes aufgelegt werden, 
jo ıft der Mbichluß von P. nach Preußiicher Theorie und Praris ganz allgemein 
als eine ausschließliche Prärogative der Krone betrachtet worden, in der Weiſe, daß 
dem Landtage nur hinfichtlich der Ausführung denkbarerweiſe eine Mitwirkung 
gebührt. Das Preuß. Staatörecht hat aber auf diefem Gebiet, durch das Deutjche 
Reichsreht im Wejentlichen feine Geltung verloren. Denn wenn auch binfichtlich 
des Pojtwejens keineswegs eine ausſchließliche Kompetenz des Reich begründet, viel- 
mehr eine jelbftändige Kandespojtverwaltung bejtehen geblieben ift, und die RVerf. 
ſelbſt die Berechtigung der Einzelitaaten zu Vereinbarungen Hinfichtlich der Aus— 
übung diefes ihnen verbliebenen Poſtweſens anerkannt hat, jo ift doch Hinfichtlich aller 
derjenigen P., welche fich auf die Sphäre der Gejehgebung oder der höheren Ber: 
walturg beziehen, die Kompetenz des Reichs ausfchließlich begründet. Indem nun 
der Art. 11 der RBerf. feſtſetzt, daß alle diejenigen Verträge, welche fich auf Gegen— 
tände beziehen, die nach Art. 4 in den Bereich der Neichögejeßgebung gehören, zu 
ihrem Abichluffe der Mitwirkung von Reichstag und Bundesrath bedürfen, jo find 
nummehr im Gegenfa zu dem frühern Preuß. Rechtäzuftande die P. im ihrer 
großen Mehrheit der Vorlage an den Reichstag unterworfen. Indefjen fommt es 
in diefer Beziehung darauf an, ob der Inhalt der fraglichen Verträge in die Sphäre 
der Geietgebung eingreift oder nicht, da die Beitimmung des Art. 11 nur auf jolche 


108 Bojtderträge. 


fich bezieht. Die Grenzlinie zwiichen Gejeßgebung und Verwaltung iſt mun gerade 
für das Gebiet des Poſtweſens reichsverfaflungsmäßig gezogen worden; es ſoll in 
diefer Sinficht der Zuftand maßgebend jein, wie er früher in Preußen, dann im 
Norddeutichen Bunde herrichte. Die gefegliche Regulirung bezieht ſich daher wejentlid 
nur auf den Poſtzwang, die Garantien und Vorrechte der Post, die Strafen und 
das Strafverfahren, die Höhe des Portos für Briefe und Padete, während dagegen 
in die Verordnungsiphäre beifpielsweiie gehören die WFeititellung der Gebühren für 
Pojtanmweifungen und jonjtige Geldübermittlungen, für Sendungen von Drudjacen, 
für Korreſpondenzkarten ꝛc. Demgemäß find als in die Gejeßesiphäre eingreitend 
der Mitwirkung des Reichstags alle jene oft nur aus einem einzigen Mdditional- 
artikel bejtehenden P. unterworfen, die durch die Reform des internationalen Briei— 
und Badetportos herbeigerührt find, während nur ganz ausnahmsweiſe P., wie die 
über die Zulaffung der Korreipondenzfarten, ohne jolche Mitwirkung zu Stande ge 
bracht find. — 2) Was fodann den Inhalt der neueren P. betrifft, jo ftimmen 
diejelben, die Regelung einzelner bejonderer Verhältniſſe abgerechnet, größtentheils 
jogar wörtlich mit einander überein; die Feſtſetzungen beziehen fich hauptjächlich au 
die Brieipoit und auf die Fahrpoſt. Hinſichtlich der Briefpoft wird die Höhe des 
Portos, die Frankirung, die Behandlung der Druckſachen, Waarenproben, Relom: 
mandationen, Poſtanweiſungen, Erpreßbeitellungen, der unbeftellbaren Briefpojtgegen: 
itände, der Vortofreiheiten, der Portobezug, die Erfagleiftung, der Zeitungsdebit genau 
geregelt. Hinfichtlich der Fahrpoſt fordern bejonders die Vertheilung der Einnahmen 
und die Abrechnung, jowie die Gewährleiftung fpezielle Bejtimmungen. — 3) Eine 
weitere Entwidelung des internationalen Poſtverkehrs ift durch den auf Grund der 
Deutichen Denkichrift von 1868 und des Deutjchen Entwurfs von 1874 am 9. Oft. 
1874 zu Bern abgeichloffenen allgemeinen Poitvereinsvertrag herbeigeführt worden, 
an deſſen Stelle inzwiichen der Pariſer Weltpojtvereinsvertrag vom 1. Juni 1878 
getreten iſt. Dieſer Weltpojtverein bildet insbejondere injofern ein einziges Poſt— 
gebiet, als in dem gejammten Umfange defjelben das Porto für frankirte Briete 
20 Piennig, für Poſtkarten 10 Piennig, für Drudjachen ıc. 5 Pfennig, für un: 
franfirte Briefe 40 Pfennig beträgt. Sinfichtlich der Portovertheilung findet Eeiner- 
(ei Abrechnung mehr jtatt, jondern gilt der Grundjag der KHompenjation. Die Un: 
entgeltlichfeit des Tranſits ift im Prinzip anerkannt; Tranfitvergütungen finden 
nur, und ohne daß die Ginheitlichkeit des Portos dadurch alterirt wird, ausnahme- 
weiſe zu Gunsten jolcher Yänder ftatt, die wegen ihrer geographijichen Yage, wie ine- 
bejondere Belgien, feine genügende Gegenleiftung erlangen oder bejondere Opfer (für 
Seepojtverbindungen) bringen müffen. Organe des Weltpojtvereins find theils 
periodijche Kongreſſe, die hinfort alle fünf Jahre zujammentreten, theils Schieds- 
gerichte zur Austragung von Streitigleiten, theils das in Bern im Anjchluß an die 
Schweizeriiche Poſtverwaltung errichtete internationale Bureau al& permanente 
Gentralitelle für die auf den Verein bezüglichen Angelegenheiten. Es ijt das eine 
völferrechtliche Einigung, wie fie bisher auf feinem anderen Gebiete des Verkehrs: 
(ebens annähernd erreicht worden iſt. Uebrigens ift den Mitgliedern des Wereins 
jowol für die Geftaltung ihres inneren Poſtverkehrs, als auch für die Regelung der 
engeren Beziehungen unter einander völlig freie Hand gelaffen, jodaß alſo namentlich 
der zwiſchen Deutichland, Dejterreich-Ungarn, Luxemburg und Helgoland bejtehende 
engere Pojtverein mit der 10 Piennig = Brieftare auch ferner fortbeiteht; wie denn 
auch in Bezug auf den Berker mit Werthbriefen und Poftanweifungen zwischen 
einer großen Anzahl von Mitgliedern des Weltpojtvereins bejondere Vereinbarungen 
beitehen. 

gt: Ernft Meier, Ueber den Abichluß von Staatäverträgen, Leipzig 1874; bei. 
©. 298 ff. — Fiſcher, Die Verkehrsanſtalten des Deutichen Reichs, in vd. Aotuen dorfi’s 
Jahrbuch Jahrg. I. (1871) ©. 409 ff., Jahrg. UI. (1873) ©. 211 fi. — Fiiher, Boſt und 
Telegraphie im Weltverfehr, Berlin 1879. — Archiv für Poft und Telegraphie, Jahrg. VII. 
(1880). — Schmoller, Jahrb., Jahrg. V. (1881) ©. 422. Grnit Meier. 


Poſtverwaltung. 109 


Poftverwaltung. Noch vor wenigen Jahrzehnten gab es Gelehrte, welche, 
vornehm auf jede wiffenjchaftliche Betrachtung des Poſtweſens herabblidend, einem 
Art. PB. feinen Raum in einem Nechtäleriton zuerkannt hätten. Männer, wie 
Klüber, welcher 1811 jein „Poftwejen in Teutſchland, wie es war, ijt und jeyn 
fönnte”, veröffentlichte, verfuchten allerdings jchon damals die Aufmerkſamkeit des 
fantsrechtlich gebildeten Publitums auf diefen Verkehrszweig zu lenken: im Ganzen 
aber blieb das Intereſſe ein mattes. Seht hat fich das geändert: Heutzutage wird 
der Werth einer wiſſenſchaftlichen Betrachtung des Poſtweſens nicht mehr unter- 
ihägt, und der alljeitig gebildete Jurift mag und muß fich auch mit den auf den 
eriten Blid ihm ferner liegenden ragen der P. bejchäftigen. 

Wenn man bei der geichichtlichen Skizzirung des Poſtweſens zurückgreift auf 
die durchdachten Verwaltungseinrichtungen der Negypter und Perſer, von welchen 
une Herodot und Diodor berichten (Öerodot, I. 128, 130; II. 35, 93, 96, 
103; II. 126; VIII. 98. — Diodor, I. 50: II. 45, 46, 53, 54), auf die Or- 
ganiiation des cursus publicus der Römijchen Saijerzeit, über welchen der Codex 
Theodosianus (VIII. 5) eingehende Beltimmungen aufbewahrt (cf. Ritter von 
KRittershain in den dv. Holtzendorff-Virchow'ſchen Vorträgen und Hude: 
mann, Röm. Poftwefen), oder jelbjt auf das Fdit pour l’6tablissement des Postes 
Ludwig's XI. vom 19. Juni 1464, jo iſt dies fulturbiftoriich bedeutſam, kann 
aber hier füglich unterbleiben. Vom Standpunkt des Verfaſſungs- und Verwaltungs- 
rechts jind jene Verhältniffe dermaßen andersartige, daß eine Anknüpfung daran 
unpraftiich wäre. Fehlte doch jenen Inſtituten, als lediglich für die Beförderung 
der Staatsbriefichaften beitimmten, vor allem das Merkmal der allgemeinen Zus 
gänglichkeit, welches wir heute beim Begriffe Poſt ala Eſſentiale erachten; ein Merk— 
mal, das im Mittelalter weit eher als von Staatöwegen in den Begriff hinein— 
getragen wurde durch die privaten Beförderungsanftalten, welche ausgingen von den 
einzelnen nterefienkreifen, von den Gentren des Handels und der Induſtrie, von 
den Brennpuntten geiftigen Lebens (jtädtifche Botenanjtalten, Mebgerpoften, Boten 
der Univerfität Paris und des Deutjchen Ordens). 

Auch die uns näher ftehende PB. im heiligen Römiſchen Reihe hat 
nicht mehr denn hiftorisches Intereffe: die P. galt dort de jure ala Reichsfache, 
de facto ijt fie es nie gewejen. Bekanntlich war die Reichspoſt dem alten Mai— 
länder Gejchlechte della Torre et Taſſis am 27. Juli 1615 förmlich zu Lehen 
gegeben: aber die Reichsfürſten erfannten diefe Belehnung niemals an, richteten un— 
beirrt ihre PB. ein und beriefen fich wiederholten Anträgen des Grafen von Thurn 
und Taris gegenüber mit Necht auf das Beiſpiel des Kaiſers, welcher ja ſelbſt in 
jeinen Erblanden nicht die Tarisjche, jondern eigene PB. Hatte. Co hat fich die P., 
wie jo Vieles im alten Reiche territorial entwidelt: die einzelnen Fürſten, wie von 
Brandenburg, Sachſen ıc. hatten ihre eigenen P. Nicht in den KHaiferlichen Mans 
daten oder den Taxis'ſchen Kombinationsrezefien, ala vielmehr in den Churbranden— 
burgijch- Preußifchen Poſtordnungen find die Wurzeln der heutigen P. zu fuchen. 
Nur in den Eleineren Staaten behielten die Thurn und Taxis die P., nachdem theils 
einzelne Verträge (ef. Klüber, $ 434 Not. c) theils der Neichsdeputationshaupt: 
ſchluß $ 13 und Art. 17 der Bundesacte (cf. Stängel, Poſtweſen, 1844, ©. 155 ff.) 
die Rechte derjelben bejtätigt hatten. 

Mehr als bisher jchließt fich nach dem gänzlichen Aufhören der Reichspoſt 
die Entwidelung zu Zeiten des Deutjchen Bundes an das Territorialitaatsrecht an. 
Im Innern wird der PVerwaltungsorganismus ausgebaut in Preußen, twelches die 
Loſtordnung vom 26. November 1782 und die Beitimmungen des Allg. ER. Th. II. 
Tit. 15 Abichn. 4 durch die Pojtordnung vom 5. Juni 1852 erſetzte; nach außen 
iuchen fich die einzelnen Deutichen P. durch Einführung gemeinfamer Verwaltungs- 
md Betriebenormen enger aneinander zu jchließen. Den Zeiten der völferrechtlichen 
Verbindung Deutichlands, den Zeiten des Bundes, entipricht ein völferrechtlicher 


110 Boitverwaltung. 


Verein, der Deutich- Defterreichiiche Poitverein, die Vorſtufe einer einheitlichen 
Verwaltung, erflärlich und unentbehrlich in einer jo engen Verkehrsgemeinſchaft, wie 
fie der Zollverein darftellte. Diejem völferrechtlichen Verein gegenüber tritt mit dem 
Sabre 1867, als aus dem Bunde ein Staat wird, eine einheitlidhe Ber: 
waltung: die P. wird Sache des Norddeutichen Bundes, welcher ala Rechtsnach— 
folger der einzelnen Bundespoftanjtalten die gemeinfame P. übernimmt: die no 
jelbftändigen PB. Sachſens (inkl, Altenburgse), der Großherzogthümer Medlenburg, 
Dldenburgs, Braunfchweigs und der Hanſeſtädte gehen am 1. Januar 1868, die 
Thurn und Taxis'ſche P. in den Mittelftaaten durch Ueberlafjungsvertrag vom 
28. Januar 1867 für 3 Mill. Thlr. am 1. Juli 1867 auf Preußen bzw. den 
Bund über. Nachdem das Poſtweſen in Eljaß-Lothringen jchon am 12. September 
1870 auf die Deutiche P. übergegangen, traten gemäß der Vereinbarungen vom 
15. November 1870, am 1. Januar 1871 bzw. 1872 noch das linksmainiſche 
Sroßherzogthum Heſſen und Baden Hinzu. Durch Abjchnitt VIIT. der RBerf. iſt 
jet das Poſtweſen als einheitliche Staatsverfehrsanftalt eingerichtet umd 
verwaltet (Art. 48). Gine partiluläre P. haben nur (Art. 52) Bayern und 
Württemberg, welche nicht zum „Reichspoſtgebiete“ gehören. Während in lebteren 
eine völlig einheitliche Geftaltung der VBerwaltungseinrichtungen, des Dienjtbetriebs, 
der Reglements, Finanzen ꝛc. ftattfindet, bejteht im Deutjchen Reiche lediglich Ein- 
heit der Geſetzgebung, Ginheit des Tarifweſens zwiſchen den einzelnen Bundesjtaaten, 
Einheit der Vertretung gegenüber dem Auslande (vgl. Art. 52 Abſ. 2, 3). Im 
Deutichen Reichöpoftgebiete gebührt die obere Leitung der P. dem Präfidium, welches 
die reglementarischen und adminiftrativen Anordnungen zu treffen, wie die aus 
wärtige Berwaltung zu führen, die Beziehungen zu anderen Verwaltungen zu vegeln 
hat: im Bezug aber auf das Deutjche Reich, einschließlich Bayerns und Württem- 
bergs, iſt die P. feine einheitliche, vielmehr modifiziren fich in diefer Hinſicht die 
Verfaſſungsbeſtimmungen durch die Klauſeln der Berjailler Verträge (mit Bayern 
Art. DI. S 4, mit Württemberg Art. II. 2 Nr. 4 — BGBL. 1870 ©. 654 ff., 1871 
©. 9 ff.). 

Die Poft ift jomit — abgeiehen von den letzterwähnten Modifikationen — 
einheitliche Reichöverkehrsanftalt: die P. iſt gleichwerthiges Glied im gefammten 
BVerwaltungsorganismus. Die rechtliche Natur der P. beitimmt fich nicht etwa nad) 
Regeln des Privat», des Handelsrechts, jondern nach öffentlich-rechtlichen Grundjäßen. 
Die P. ift nicht Gewerbebetrieb, jondern Staatsverwaltung, und der Staats 
jefretär des Reichspoſtamts ift nicht der erjte Frachtführer des Neiches, wie es 3.2. 
eine Enticheidung des ROHG. (Entich. Bd. XII. S. 111) ausfprach (val. dagegen 
Goldſchmidt u. Poſtarchiv 1874 ©. 321). So viele Rechtshandlungen der P. jub: 
fidiär Grundfäßen des HGB. unterliegen, Handelsgejchäfte find, jo wenig ift darum dic 
Poſt ein Kaufmann, ſchon darum nicht, weil fie ihre Gefchäfte nicht gewerbamäßig betreibt. 
Die Neigung, die P. einfach als Kaufmann hinzuftellen, erklärt fic) daraus, daß 
bier der Staat nicht wie in anderen Berwaltungsgebieten, wie in Militär» und 
Gerichtöverwaltung, herrſchend, ſondern dienend auftritt, daß nach heutiger kultur— 
jtaatlicher Auffaffung die P. nicht die Ausübung eines Hoheitsrechtes, jondern die 
Befriedigung eines allgemeinen Bedürfniffes darjtellt: Hier ift nicht Regalitätsprinzip, 
jondern Dienjt im öffentlichen Jntereffe, hier äußert der Staat nicht Staatdgewalt, 
fondern „Pilege“ (im Bluntſchli'ſchen Sinne). Wie die P., wirthichaftlich be: 
trachtet, vom Unternehmungsprinzipe, dem feiner Zeit berechtigten Fiskalismus, ſich 
zum Gebührenprinzipe gewendet hat, jo muß auch rechtlich diejelbe nicht mebr als 
ein Handelsgewerbe in Geftalt der Ausübung eines Hoheitsrechtes, nein, einfach als 
ftaatlicher Verwaltungsziweig angejehen werden. 

Damit iſt zugleich der Charakter des P.rechts en Daſſelbe 
iſt Theil des öffentlichen, nicht des Privatrechts. Der Staat ſtellt für den 
Betrieb der Poſt und deren Verkehr mit dem Publikum beſondere Normen auf: 


Poſtverwaltung. 111 


nur wenn er dies nicht thäte, was an ſich denkbar wäre, käme das Handels— 
recht in Anwendung, wie dies auch der Fall iſt, wo jenes Spezialrecht Lücken läßt. 
da aber der Staat kein gewöhnlicher Gewerbetreibender, ſo hat er hier ein ab— 
weichendes Recht aufgeſtellt, das theils bevorzugend, indem es der P. gewiſſe Vor— 
rechte einräumt, um den Betrieb ꝛc. zu erleichtern, theils benachtheiligend, indem es 
die P. zum Kontrahiren zwingt. Im dreifacher Weife ift dies Recht der P. kodi— 
fyirt: in Gefeß, in Reglement, in Inſtruktion; das Geſetz enthält das Allgemeine, 
bepeichnet die Peripherie, das Reglement ijt für das Publikum, die Inſtruktion für die 
Beamten. 1) Geſetzlich geregelt find die grumdfäglichen Rechte und Pflichten der 
P., der Poftzwang, die Haftpflicht, die Pflicht zur Wahrung des Brieigeheimnifjes, 
der Schuß gegenüber Kontraventionen, die Taren, die Portofreiheiten, die Vorrechte 
der P. gegenüber den Eijenbahnen ꝛc. Hervorhebenswerth find von geltenden Reichs: 
poftgejeßen: Verf. Urk. 4 Nr. 10. 48 ff., Poſtgeſetz und Poſttaxgeſ. vom 28. Oftbr. 
1871, Boittarnovelle von 17. Mai 1873, Portofreiheitsgef. vom 5. Juni 1869, 
Giienbahnpoftgef. vom 20. Dezember 1875. 2) Die Poftordnungen, welche 
vom Reichskanzler erlaffen werden, enthalten die allgemeinen bei Benugung der 
Votanftalt zu beobachtenden Vorfchriiten, welche als Beitandtheil des Vertrages 
jwiihen P. und Publitum gelten (vgl. allgemeine Inhaltsregeln derjelben, Poſtgeſ. 
$ 50): an ‚Stelle der Reglements vom 30. Novbr. 1871 und 18. Dezbr. 1874 
it, befonderö zur Herbeiführung möglichjter Uebereinftimmung der im internen Ver— 
fehr bejtehenden Vorſchriften mit denen des Weltpoftvertrages, die jetzt gültige Poſt— 
ordnung vom 8. März; 1879 erlafjen worden. 3) Die allgemeine Dienſt— 
anweijung endlih (A. D. A. f. P. u. T.), welche von Staatsjefretär des Reichs— 
poftamts gegeben wird, bezieht fich auf die Einzelheiten der eigentlichen P. und 
des Betriebes, Vertheilung und Erledigung der Geichäfte ꝛc. Die erſte Preußifche 
Poftdienftanweiung wurde 1854 ausgearbeitet, zahllofe Girkulare, Rejkripte ꝛc. zu 
erieen, und 1863 neu aufgelegt. Seit den lebten Jahren wird eine neue Dienit: 
anweifung, — da viele Einzelheiten ſich noch im Fluſſe befinden, unvermeidlicher- 
weiſe in Bruchſtücken, — herausgegeben. 

Nach diefer Skizzirung des Bildungsganges der Reiche P., des rechtlichen 
Charakters diejes Verwaltungszweiges wie feiner Normen, haben wir zunächjt einen, 
telbjtredend hier nur flüchtigen, Blid auf die Thätigfeit der ®P. zu werfen. Der 
Umfang diejer Thätigkeit iſt in feiner Weife gejeglich direkt beftimmt; implicite aber 
liegt in den verjchiedenen Paragraphen der Targefee, Verträge ıc. eine Firirung der 
Geichäfte, zu deren Uebernahme die P. verbunden, während man eine direkte Ver: 
dflichtung zur Uebernahme des Transportes der dem Poſtzwange unterworfenen 
Segenjtände als Korrelat derjelben aufjtellen kann. Der Gejchäftäfreis der Deutjchen 
P. iſt ein jehr umfangreicher: während in den meijten Staaten Beförderung von 
Berionen und Padeten Privatgejellichaften überlafien, befaßt fich die Reichspoſt mit 
dem Transporte von Gütern (Briefen, Padeten 2c.), Perfonen und mit der Ver: 
mittlung des Geldverfehrs, Poſtbankgeſchäft (Geldauszahlungs: und Geld- 
enziehungsgeichäfte). Nach fortwährender Erweiterung des Gefchäftäfreifes befördert 
die Deutihe P. jet (abgejehen von der Perjonenpoft): Briefe (Einjchreibjendungen, 
mit Behändigungsjchein, durch Eilboten), Pojtlarten, Zeitungen, Drudjachen, Ges 
ihäftspapiere, Waarenproben, Padete mit und ohne Werthangabe, Poſtanweiſungen, 
telegraphiiche Poftanweifungen, Poftaufträge wie Nachnahmejendungen, welche lebtere 
am 1. Dftober 1878 an Stelle der viele Nachtheile mit fich führenden und zu 
häufigen Betrügereien veranlaffenden „Poſtvorſchüſſe“ eingeführt wurden (vgl. Amts— 
blatt 1878 ©. 269; Poſtarchiv ©. 591). In allen diejen Richtungen haben im 
(egten Jahrzehnt theild völlige Neugeftaltungen, theils erleichternde Beitimmungen, 
theils Portoermäßigungen Plab gegriffen: man denke an die Erleichterungen in der 
Beiörderung von Zeitungsbeilagen, die vielen Vergünftigungen bei Verſendung von 
Trudiachen (Roftarhiv 1880, ©. 280; Amtsblatt 1881, ©. 125), die Erhöhung 


112 Pojtverwaltung. 


des zuläffigen Meijtbetrags der Poitanweifungen, die Einführung der Karten mit 
Rüdantwort, der (abzuholenden) Bahnhofsbriefe u. a. m., worauf einzugehen hier 
nicht der Ort iſt. 

Aus den eben gegebenen aufizählungsartigen Andeutungen geht jchon hervor, 
daß es eine der Hauptaufgaben der P. jein muß, ein möglichit einfaches technijches 
Erpeditionsverfahren herzuftellen. Iſt dies ein bedeutjamer Zweig der inneren 
P., jo tritt ein zweites großes Gebiet hinzu, die Regelung des Poftenlaufs, das 
Poſtkursweſen (vgl. darüber befonders Stephanin Rotted u. Welder, Xl 
681 und Vollzugsbeitimmungen zu Art. 1 des Eifenbahnpoftgejeges). Schließlich hat 
die P. für ein gutes Transportwejen Sorge zu tragen, eine bejondere Art der Ver: 
waltung alles deſſen herauszubilden, was fich auf die Beiörderungsmittel bezieht (Poſt— 
fuhrweſen). Gine eigene Ausbildung erheiicht ferner die Verwaltung des Feldpoſt— 
weſens (Feldpojtdienjtordn. v. 28. Juni 1873, Berl. 1873; Ausführungsbeitimmungen 
dazu, Berlin 1873; vgl. Armeeverordnungsbl. 1880, ©. 141), wie jchließlich bei 
der immer mehr zu Tage tretenden internationalen Tendenz die auswärtige P. (vgl. 
darüber Renault, La poste et le telegraphe ; Bilder, Poſt und ZTelegraphie im 
Weltverfehr, in v. Holkendorfi’ 8 Jahrb., N. %. U. ©. 745 u. d. Art. Pojtverträge). 
Zu dieſen rein technijchen Pojtgeichäften treten die — allgemein organischen Geſchäfte, 
die Regelung der Perfonalien, ferner die Finanzverwaltung. Auch diefe Verwaltungs: 
jweige erjicheinen bei der Poſt weit vielgeftaltiger, als in anderen Gebieten: jchon 
die Abrechnungsverhältniffe zeigen große Abweichungen, weit mehr noch in Folge der 
großen Zahl des Perfonals die Sorge für dafjelbe: die Verwaltung der Kaiſer— 
MWilhelmitiitung, der Poſtſpar- und Vorjchußvereine, bilden ein großes jelbjtändiges 
Verwaltungsgebiet für fich (vgl. 3. B. Statiftit im Pojtamtsblatt 1880, ©. 191, 
Poſtarchiv 1879, ©. 720 ff.). Aber ganz abgejehen hiervon, treten an die P. noch 
die dverichiedenartigften Anfprüche anderer VBerwaltungszweige, denen fie ale Hülfs— 
verwaltung dient. Die Deutiche B. vermittelt den Berfauf der Wechſel— 
jtempelmarfen: desgleichen wirft fie mit bei Ausführung der Gejeges über die 
Statijtif des Waarenverfehrs vom 20. Juli 1879. Die Aenderung der Deutichen 
Ger.D. veranlaßte Neuerlaß der Beltimmungen, betreffend die pojtamtliche Behand: 
lung der Sendungen mit Zuftellungsurfunden (Verf. Nr. 122, 1879): ihre Bethei- 
ligung bei der Münzummwandlung war eine außerordentliche (ausführlich: Poſt— 
archiv 1880, ©. 353); fchließlich ift der in neuefter Zeit immer lebhafteren Be— 
wegung zu gedenken, welche auch bei uns, wie dies in England, Italien mit Erfolg 
geichehen, die PB. mit dem Sparkaſſenweſen in Verbindung zu jeßen beeifert iſt. 
(In den gefammten Gejchäitsfreis der P. wird dem Laien den jchnelljten und beiten 
Einblick gewähren die Weberficht über die Einrichtungen bei der Gentralbehörde, 
Amtsblatt 1880, ©. 121 und befonders die Auffchriften der Akten bei den Oberpoſt— 
direftionen, wozu das Schema in A. Pd. U. Abſchn. XI. Abth. 1. Anlage 2 Re: 
gijtraturplan A. B.) 

Daß bei dem jo enormen Umfange der Geſchäfte der Organismus derielben ein 
außerordentlich jchnell und ficher arbeitender jein muß, it erfichtlih. Wenn wir 
denjelben zum Schluß betrachten, jo wird ung jet jeine Yebensthätigfeit Elarer vor 
die Seele treten, und wir werden zugleich ein Gefammtbild der P. erhalten, deren 
einheitliche Organifation jeit Bejtehen des Reiches auf Grund des dreigliedrigen 
Preußischen Syſtems möglichjt durchgeführt iſt. 

Die Bafis des Organismus der P. bilden, den Verkehr mit dem Publikum 
vermittelnd und die Funktionen der Betriebsjtelle mit denen der untersten Ver— 
waltungsbehörde in fich vereinigend, die Poftämter, nach ihrer Bedeutung in ſolche 
I., D., II. Klaſſe und Pojtagenturen eingetheilt: die letzteren, deren Verwaltung 
von Ortsangehörigen als Nebenbeichäftigung geführt wird, find in Bezug auf Be— 
trieböverband und Rechnungslegung einer Abrechnungsanftalt zugewieien. Neben 
den jtabilen Poſtämtern haben in der Neuzeit in allen Staaten die mobilen Poſt— 


Boftverwaltung. 113 


ämter bejondere Bedeutung erlangt, die Bahnpoftämter, welche den Betrieb auf ein- 
zelnen Gifenbahnftreden leiten. 

Sämmtliche Poitämter eines größeren Bezirkes (Regierungsbezirkes zc.) unter- 
ftehen einer Oberpojtdireftion, deren es 40 im Deutichen Reichöpoftgebiete 
giebt. Diefes Syitem der Mittelbehörden zwiſchen den Zofalanftalten und der Gentral- 
inftanz datirt vom 1. Januar 1850. Nachdem in der erjten Hälfte dieſes Jahr- 
bunderts in Preußen an der Gentralifation der P. feitgehalten, gelang es 1849, die 
Ginfügung der Provinzialbehörden zu veranlaffen (Erl. vom 19. September 1849; 
Stephan, ©. 708 ff., Poſtarchiv 1875, Nr. 1). Dadurch erfolgte die gemwaltigjte 
Reorganifation, welche die P. in Deutichland überhaupt erfahren. War in früheren 
Zeiten der ich langſam zum feften Organismus gejtaltenden PB. die Gentralijation 
heilſam geweſen, jo erforderte „das Zeitalter des Dampfes“ und der jchnellere Ver— 
fchr eine beweglichere abminijtrative Geftaltung, welche durch die Ginfügung 
der Oberpoftdireftionen erreicht wurde. Diejes Syſtem hat fich jo bewährt, daß «8 
einfach in die P. des Reiches überging. Daß im Einzelnen dabei Umgeftaltungen 
und Fortbildungen nicht unterblieben, ift bei der ftetigen Erweiterung des Verkehrs 
jelbftverjtändlich: man bedenke, daß in Preußen 1849 ca. 1700 Bojtanjtalten mit 
einem Perjonal von 14500 Köpfen beitanden, während heute im Deutſchen Reichspoſt— 
gebiet ein Poſtheer von über 62000 Perfonen in 7000 Poſtanſtalten thätig ift. Der 
Geichäftsfreis der Oberpoftdireftionen, denen 1849 Vieles zugewiejen wurde, was 
den Geichäftägang der Gentralitelle jchleppend gemacht hatte, umfaßt die Sorge für 
Ausführung der gejelichen wie adminiftrativen Anordnungen, Ueberwachung des 
Dienftbetriebes, Erledigung von Beichwerden, die Leitung des Straiverfahrens bei 
Poitfontraventionen, Bearbeitung des Garuntieweiens, Anftellung ꝛc. der unteren 
Beamten, theilweife den Verkehr mit den Eifenbahnverwaltungen x. Den Oberpojt- 
direftionen find, behufs Abrechnung x. mit den Oberpoſtkaſſen, der Kontrole des 
Betriebes Poſt- bzw. Telegrapheninfpeftoren beigeordnet. 

Die Gentralverwaltung führt das Reichspoſtamt, deffen Bildungsgang mit dem 
1. April 1880 einen gewiffen Abjchluß erreicht Hat. Auch die Wurzeln diejer 
Behörde ruhen naturgemäß im Preußischen Staatsrechte. Der Ausdruf „General- 
doſtamt“ (Generalerbpojtmeiiteramt) findet fich zuerft in einem Patent Friedrich's III. 
vom 15. Juni 1700: die Selbitändigfeit diefer Behörde war eine relative, da den 
Anihauungen des 18. Jahrhunderts entiprechend jelbige vom Finanzdepartement 
reffortirte. Am 16. Dezember 1808 wurde das Generalpojtamt dem Miniſterium 
des Innern zugewiefen, am 3. Juni 1814 wieder von dieſem getrennt und Lediglich 
dem Staatöfanzler unterftellt, schließlich durch Erl. vom 17. April 1848 als 
I. Abtheilung des Handeläminijteriums konſtituirt. Als die P. Reichsfache wurde, 
unterftand fie zunächit dem Bundes-(Reichs-)Kanzleramte, deſſen I. Abtheilung das 
Generalpoftamt (die II. die Generaldireftion der Telegraphen) bildete. Hiernach 
vereinigte das Generalpoftamt in fich die doppelte Funktion einer Preußifchen Staats— 
und einer Reich&behörde. Die Organifation war noch die Preußische, welche in Folge 
der vermehrten Geichäfte, durch Allerhöchite Ordre vom 16. November 1872 um— 
geftaltet wurde. Demgemäß wurden zwei Abtheilungen, eine technifche (T) und eine 
für Etats- und Kaſſenweſen (E) errichtet, während alle Sachen von organischer und 
prinzipieller Bedeutung, alle Generalien (G) dem Generalpoftmeifter zugefchrieben 
wurden (vgl. Hirth's Ann. 1873, ©. 591). Eine Veränderung von höchiter 
Bedeutung wurde durch die Vereinigung der P. mit der Telegraphenverwaltung her— 
beigeführt (Allerhöchite Verordn. vom 22. Dezember 1875), in Folge deſſen die Leis 
tung beider Verwaltungen vom Reichskanzleramte getrennt und dem Generalpojt= 
meiſter unterftellt wurde, unter deffen einheitlicher Leitung (vgl. auch Stellvertretungs- 
gejetz vom 17. März 1878) Generalpojtamt und Generaltelegraphenamt thätig 
waren (vgl. d. Art. Telegraphenverwaltung). Diejes Uebergangsitadium 
endete mit dem 1. April 1880, mit welchem Tage gemäß Allerhöchiter Ordre vom 

dv. Ooltzendorff, Enc. II. Redhtälerifon III. 3. Aufl. 8 


114 Pothier. 


23. Febr. 1880 die Gentraljtelle ala „Reichöpoftamt“ unter einem „Staatäfefretär" 
ins Leben trat, in diejer neuen Bezeichnung auch die Gleichjtellung mit den übrigen 
höchſten Reichsbehörden (Schagamt, Juſtizamt) andeutend. Sachlich trat infofern 
eine Aenderung ein, als eine III. Abtheilung geichaffen wurde, in welcher jeßt die 
gefammte P. und Telegraphenverwaltung gipfelt, während die I. Abtheilung die 
Gentralftelle für die jpeziell poſtaliſchen Angelegenheiten: ift. 

Der Gejchäftsbereich der III. Abtheilung umfaßt jämmtliche organifche, geſetz— 
liche und abminijtrative Maßregeln, die Beziehungen zu den oberiten Behörden, 
Bundesrath, Reichstag, das Perſonal-, Disziplinarweien, die Wohlfahrtseinrichtungen, 
Gtatöwejen zc., Poſtſparkaſſen, Statiftif, Herausgabe der Dienftanweifung, des Amte- 
blattes, obere Leitung der Neichödruderei, Verwaltung der Bibliothek, des Reiche 
poſtmuſeums x. Die I. Abtheilung ift jpeziell zuftändig für die pojtalijchen Ein 
richtungen, das technifche Poſtweſen, Betriebsmodus, Kursweſen, Ausjtattungsgegen: 
jtände, Tarife, Verhältniffe zum Auslande, Zeitungsbetriebsweien, Technik des Poſt— 
banfgejchäftes, Griaßleiftungen, Beichlagnahme, Defraudationen, Portofreiheiten ze. 

Direkt dem Reichspoſtamte unterftellt find, abgejehen von den Oberpoftdirektionen, 
die Reichsdruckerei (und die Telegraphenapparatenwerfitatt), die Generalpoitkafle, 
das Moftzeitungsamt, Poftanweifungsamt, Pojtzeugamt und das Deutiche Poftamt 
in Konftantinopel. 

Die in diefem zum Schluffe dargejtellten Organismus der P. thätigen Be: 
amten zerfallen, abgejehen von den Unterbeamten, in zwei Gruppen. Die einen, 
die höheren P.beantten, müffen ein Maturitätszeugniß haben, beginnen ihren Dienft 
als Pojteleve, haben die erjte Prüfung nach drei Jahren vor der Oberpojtdirektion 
und nach weiteren drei bzw. zwei Jahren die höhere P.prüfung beim Reichspoſt— 
amte zu bejtehen, wodurch die Qualififation zum höhern Dienſt in der P. erlangt 
wird. Daneben bejiteht die Laufbahn der Poftgehülfen, welche durch vierjährige 
Dienitzeit und Bejtehen der Bojtajfiftentenprüfung die QDualififation zum Poſt— 
verwalter eines Poftamts III. Klaſſe, zum Poftaffistenten bei einem Poſtamt I. und 
II. Klaſſe und zum Bureauaffijtenten bei einer Oberpojtdireftion erlangen (vgl. Abichn. 
X. Abth. 1 der U. D. A.; Poſtarchiv 1875, ©. 125, 1874 ©. 289 ff.; Poſtamtsbl. 
1880, ©. 223). Behufs Einheitlichkeit in der P. werden die oberen Beamten vom 
Kaiſer ernannt, und hiervon nur event. den Landesregierungen Mittheilung gemacht 
(Berf.Urf. Art. 50), während die übrigen bei der P., insbeſondere die im lofalen und 
technischen Betrieb thätigen, von den Landesregierungen angejtellt werden. Die erjteren 
find Reichsbeamte, die leiteren Landesbeamte, unterliegen jedoch, da fie „nach Vor— 
ichriit der Reichsverfaffung den Anordnungen des Kaiſers Folge zu leiften ver: 
pflichtet”, dem Neichsbeamtengejeße vom 31. März 1873 (vol. $ 1 deflelben und 
Zaband’s Ausführungen, I. ©. 398). 

Lit.: Geichichtliches in Stephan’ (im Buchhandel völlig vergriffenen) Werte, S. 54, 
120, 179, 272, 691. — Matthias, Ueber Poften ꝛc. — Klüber, Veffentliches Recht (1831) 
ss 433 ff. — Stephan in Rotted und Welder, XIV. — Schäfer, Geichichte des 
Sächſiſchen Poftweiens (Dresden 1879). — Filcher, Deutiche Poft: und Telegraphengeſetz— 
gebung (2. Aufl. 1876); Derjelbe in v. Bolyenborjfs Jahrbu 1. 423; II. 281. — 


ösler, Deutiches Verwaltungsrecht, I. 2 ©. 461. — Handbuch für Poft und Zelegraphie 
(Berlin, v. Deder 1879). — Laband, Staatöredht, II. S. 284-358. —Hirth's Annalen 
(f. deren — — 1879). — Archiv für Poſt (und Telegraphie) Jahrg. J. bis VIII. 
(beſ. 1875 ©. 1, 29, 61, 125; 1876 ©. 481, 513; 1879 ©. 714). — Deutſche Verfehrögeitung 
(feit 1877). — Amteblatt der Preuf., Norbd., Deutfchen Poft (feit 1846). — Union postale 
(feit 1875, u. a. IL ©. 153). v. Kirhenheim. 


Bothier, Rob. Jof., 5 9. I. 1699 zu Orleans, wurde 21 Jahre alt Rath 
am Präfidialgericht zu Orleans, wojelbjt er jpäter einen Lehrſtuhl bekleidete, nebenbei 
ala Rath an der Chambre du domaine praftijch thätig war, F 2. III. 1772. 

Schriften: Pandectae Justinianeae in novum ordinem digestae, Par. 1748—52: Lyon 
1782; Par. 1817—24 (ed. frang. par Bröard de Neuville 1817—27; ital. Venez. 183431. 
1841, 1842). — Coutume d’Orleans, 1740, 1760. — Trait€ du contrat de change, Par. 1763. — 


Pözl — Präbende, 115 


Traitös sur differentes matiöres de droit civil, Par. 1773; beſonders Trait& des obligations, 
Par. 1761; par Bernardi 1805; ſpaniſch Barcelona 1879. — Traité de la procedure civile 
et criminelle, Par. 1778. — Traite du droit de domaine de — Par, Orl. 1772 — 
1776, — Traité de la communaute, Par. 1819. — Oeuvres complötes par Siffrein, Par. 
120—22; par Dupin aind, 1825; par Rogron et Firbach 1825; par Bugnet 1845 — 
1848, — Oeuvres annotees et mises en conciliation avec le code par Bugnet, 1861, 62. — 
Die meiften Traites überlegt von Foramiti, Venez. 1833—35. 

Lit.: Zeitichr. für Rechtsgeſch, VIII. 280, 281. —- Moreau de Montalin, Analyse 
des Pand. de P., 1827; ital. Venez. 1833. — Hartmann, Das Deutiche Wechielrecht, 
Berl. 1869, ©. 75, Note 19, ©. 94. — Dupin, Diss. sur la vie et les oeuvres de P., 
Paris 1825. — Fremont, Vie de P., Orleans, Tours 1859, — Roditre, Les grands 
jarisconsultes 1874, p. 374— 378. — Encyllopädie ©. 242. Zeihmann. 


Pözl, Joſeph von, 5 5. XI. 1814 zu Pechtneräreuth, ftud. in München, 
wo er 26. XI. 1842 promovirte, 1843 Dozent in Würzburg, 1847 ordentl. Prof. in 
Münden, 1863 zweiter und 1865 erjter Präfident der Kammer der Abgeordneten, 
1872 Reicharath, F 9. I. 1881. 

Schriften: Iſt der Patron als ſolcher baupflichtig? 1842. — D. privil. fisci Bavar., 
1343. — Bayer. Staatd:-Verfaffungsreht, Würzb. 1847. — Lehrbuch des Bayeriichen Ver: 
taffungarechtes, 1851, (5) 1877. — Sammlung der Bapyeriihen Berfafiungs « Gejeke, 
1852—77. — Lehrbuch des Bayerifchen Berwaltungsrechtes, München 1856, (3) 1871 und 
1874. — Die Bayerischen el, ſehe von 1852 und Ablöjungsgefeg von 1848 (in der von 
ihm redigirten Komment.:Samml.), erfteres in 2. Aufl. 1881, aud andere Geſetze. — Die 
Rompetenzfrage im Bentind’shen Succeffionäftreite, 1853. — Die Gefeßgebung des König: 
reiches Bayern ſeit Marimilian II. (feit 1867). — Als Sammermitglied: Bericht über die 
Kurheffiiche Verfaffungsfrage und Bericht über die Gew.D. (Berhandl. 3b. IV. VI.) — Be 
gründer und Redakteur der Krit. Meberichau, 1853—1858, dann ber Krit. V. J. Schrift jeit 
1859. — Zahlreiche Auffäge in Bluntſchli's StaatsWört.B. und in vielen Zeitſchr. 
Reyicher, Schneider, Schletter, Blätter für Rechtsanw. und Blätter für adm. Praris). 

Lit.: Prantl, Geichichte der Ludwig: Marimiliand:Univerfität, 1872, I. 726, 727; II. 
556. — Brinz's Grabredbe in der Augsb. Allg. 34 1881 ©. 229, 230. — Eijenhart in 
Hartmann’s Zeitichrift für öffentliches Recht VI. 571. Zeihmann. 


Brabende (praebenda) ijt nach dem neueren Sprachgebrauch das mit einem 
firhlichen Amt verbundene Necht auf den Genuß der Einkünfte deffelben, bedeutet 
alſo joviel wie beneficium. Urfjprünglich veritand man darunter die praebenda 
quotidiana in refectorio ad majorem mensam, d. h. den den Mönchen und 
Klerifern am gemeinjchaftlichen Tiſch gewährten Lebensunterhalt. Hieraus erklärt 
es ih auch, daß ala das gemeinfchaftliche Leben der Kanoniker in den Dom und 
anderen Stiftern aufhörte, und in Folge deſſen den einzelnen Mitgliedern feſte Ein- 
nahmen zugewiejen wurden, man dieſe legteren P. nannte und daß heute noch vor— 
jugsweije die Geſammtheit der mit einer Stiftsjtelle verbundenen Vermögensrechte P. 
beißt. Zu diefen Stifts-P. gehörten in früherer Zeit für die Regel bejtimmte firirte 
Einnahmen, Früchte, Zehnten, Nutungen gewifler Grundftücde, endlich auch gewöhnlich 
eine Wohnung (curia), nicht aber zu dem P.einfommen im eigentlichen Sinne die 
fog. distributiones quotidianae, d. 5. die beionderen für die Reſidenz haltenden und 
am Ghordienft theilnehmenden Stiftsmitglieder beftimmten Einkünfte. Seit der Her— 
tellung der Deutichen Bisthümer und Kapitel nach der Säkularifation des Yahres 
1803 beſtehen die P. meiftens in feſten, von den einzelnen Staaten ausgeſetzten 
Seldbotationen. — In der evangelischen Kirche verjteht man unter PB. die Einkünfte 
der Kanoniker an den Hin und wieder, wie 3. B. in Preußen und dem Königreich 
Sachſen vortommenden Stiftern, während das Wort in der allgemeinen Bedeutung, 
welche ihm für das fatholifche Kirchenrecht zulommt (ſ. den Anfang diejes Art.), 
nicht gebraucht wird. 

Quellen u. Lit.: Tit. X. de praebendis, III. 5; de concess. praeb., III. 8; tit. VI. 
de praeb., III. 4; de conc. praeb., ıh. 7. — Ant. Schmidt, De varietate praebendarum 
in ecclesiis Germanicis diss., Heidelb. 1773, und in befien Thesaurus jur. ecclesiast., tom, 


IL — Zacobion in Herzog's Real:Gncyklopädie für proteft. Theologie XII. 81 ff. 
P. Hinſchius. 
8* 


116 Präjudizlalfachen. 


Prüjudizialſachen find im Gebiete des Giv.Prz. (v. Bar, Th. I. Suppl. 
S. 30) Eagbare Anjprüche, denen ein zu Grunde liegendes konkretes Verhältniß 
in folcher Weife gemeinſam ift, daß mit der Enticheidung über den einen konſequent 
im Grunde auch jchon die Entjcheidung über den anderen gegeben ift. Die ältere 
Konneritätstheorie definirte die P. ala „Prozeßſachen“, unter welchen fie Einreden 
neben Klagen, prozeffuale und materielle Vorfragen neben Rechtsverfolgungsmitteln 
zufammenfaßte und in den Begriff der P. übertrug. Das Röm. Recht dagegen ver- 
iteht das Präjudiziren don der Entjcheidung ganzer Prozeffe, und da die End» 
entjcheidung als folche eben eine Enticheidung über den Anſpruch ift, jo find es am 
legten Ende die Anſprüche jelbit, zwiſchen denen der Präjudizialnerus obwaltet, nicht 
dagegen Einreden und in den Zuſammenhang deflelben Anfpruchs und Prozefjes ge: 
hörende Vorfragen. Wo nun ein Präjudizialverhältniß zwiſchen zwei Anjprüchen 
obwaltet, jchreibt nah Pland das Röm. Recht vor, daß die causa major, der 
Prozeß über den bedeutenderen, namentlich den bedingenden, der causa minor, dem 
Prozeß über den unwichtigeren bzw. bedingten, voraufgehen foll. Zur Herbeiführung 
diefer Ordnung gab das Röm. Recht nad DO. Bülow zwei Mittel, die exceptio 
praejudiecii und das „Präjudizialdekret“. Umging nämlich der Kläger die Reihenfolge, 
indem er jtatt der causa major die minor anhängig machte, jo ward er auf Grund 
der dem Beklagten gewährten exceptio abgemwiejen, die nach Bülow aber auf 
Grundſtücks- und Erbichaftsprogeife beichränft war. Traf das Handeln des Klägers 
fein Vorwurf, jtellte er beide Prözeffe zugleich an oder handelte fich’3 um Prozefle 
verichiedener Kläger ıc., jo verfügte der Magiftrat die Ausjegung oder Siftirung der 
causa minor, was jowol auf Antrag, wie Schlefinger mit Recht hervorhebt, als 
von Amtswegen möglich war. Das heutige Gem. Recht befchräntt nach Pland 
die P. auf bedingende und bedingte Ansprüche. Die Deutfche RGeſetzgeb. geftattet 
dem Gerichte von Amtötwegen wie auf vorgebrachte exceptio praejudicii das PVer- 
fahren in einer Givilfache durch einen Beichluß, der mittels Beſchwerde anfechtbar 
ift, auazufeßen, wenn ein Rechtöverhältniß in Frage kommt, welches den Gegenjtand 
eines bereits anhängigen Rechtäftreites bildet oder der FFeititellung durch eine Ver— 
waltungsbehörde bebürftig ift, oder wenn fich der Verdacht einer ftrafbaren Hand— 
lung, 3. B. einer Wechjelfälfchung, ergiebt und die Ermittelung derjelben für die 
Entjcheidung der Givilfache von Einfluß fein könnte, ohne daß jedoch das Strai- 
urtheil für den Givilrichter bindend wäre. 


—— ano 54 D. 5, 1. — l. 5 88 1, 23 1.7; 1.1 
84;3 1. 2581 #0 
— Bin Titt. D. 37, 9. 1. —1.781;1.24 $$ 3,4 D. 40, 1%. — 
EEE: D.4,5.—1.1$21D. ‚16.—1l2$7D.43 239. — 
LI. 138, 16, 18 '21D. 4, 1.—16, 1.7 $1D. 4, 10. — 1. 85 D. 49, 14. — 1. 104 
D.50,1.—-L408 8. —LıC en LESE SL. - IC WM —- LM 
mE or, 10. _1880.8,9 — 12 C. 9, 2. — Cic. de invent. 2, %. — 
Gajus 4, 138. — Tit.'X. 2, 10. c.5.X. 4, 17. —C. de proc. art. 171, 250; C. pen. art. 3, 


5 
17 , 250. — (C. for. art. 182. — ir StrafPD. v. 1867 8 10. — Allg. Ger.Orbn. Th. J. Tit. 2 
$ 178; zit. 5 88 29 ff; Tit. 9 SS 20 ff; Tit. 10 59,60 fi; Zit. 18 88 36 fi.; Tit. 48 
SS 11 fi. — Deutiche EPO. $$ Fe 140, 229; 66. $ 14 Ar. 1. 


git.: Pilii ordo jud. P. 2 en — Tancredi ord. jud. P. 2 tit.20 $ sqgg. — 
Glanreih, Bürg. Prz., 4. a her $ 99. — Gönner, — Bb. 1. 66 Kkv. 
1 ff. — Linde, Lehrb., 6. — Wepell, Syſt. s 64 — erg "gehrb,, 
Lim, Keine 25 S. 123 ff.; Derſelbe, Gem. Giv.Prz,, Bd. II 
00 ff. — Bradenhoeft, rörterungen a Sinde's Lehrbuch, 88 54 fi. — Pland, 
Mehrheit d. ee 26 ff., 56 ff.; Derjelbe, Strafverf., 858; Derjelbe, Verhandl. 
des 7. Jur. Tags, Bd. 3 ff; Derielbe, Münd. Krit. B.Y.Schr. Bb. al. E. 161 ff. — 
a herhälin E Hered. Pet., 1852. — Franke, Komm. über d. Pand.-Tit. de 
H. P., 1864. — 0. Bülow, Diss. de praej. except., 1868; Derjelbe, Pra.Einreden, 
©. 112 ff. — A. Pernice, Diss. de ratione cett., 1864; Derielbe, 2.3. Schrift cit. Bd. V. 
8.43. — R. ——5— Gött. gel. Anz. 1869 ©. 881 fi. — Pigeau, La proc. 
eiv.. T. L p. 320 ss. — HÖ fter, Franz. Strafderf., $ 39. — Die Kommentare 3. Deutſchen 
CPO. LI. Wieding. 


Präjudizien — Prälaten. 117 


Präjudizien nennt man die Rechtöfprüche der Gerichte injojem, ala man 
ihren beftimmenden Einfluß bezüglich juridifcher Tragen für deren gleiche Beurtheilung 
in anderen Prozeffen bzw. durch andere Richter hervorheben will. Die autoritäre 
Bedeutung der P. beruht im Gebiet des Gem. Rechts auf ihrer wifjenjchaftlichen 
Ueberzeugungskraft und auf freier Annahme der fie befolgenden Gerichte. Eben 
darum kommt fie auch an fich den Urtheilen der unteren Gerichte in gleichem Maße, 
wie denen der höheren Gerichte zu, und wenn die Sachlage nichtsdeftoweniger im 
Allgemeinen eine andere ift, jo beruht dies doch nicht auf gejelicher Nothwendigkeit, 
fondern in den thatiächlichen Berhältniffen. ine andere Stellung nehmen die P. 
der höchften Gerichte nach Franz. Recht und der ihm folgenden Deutichen RGeſetzgeb. 
ein. Dieſe Gefeßgebungen poftuliren die Einheit der Rechtiprechung im Staate, und 
fofern fie den höchſten Gerichtähof zum Träger diefer Einheit machen und ihm vor- 
Ihreiben, Rechtöfprüche der unteren Gerichte, die auf unrichtiger Auslegung oder 
Anwendung oder Nichtanwendung der Gejege oder Rechtögrundfäge beruhen, zu 
faffiren, wird dieſer Gerichtshof zum allein berechtigten Ausleger der Gejeße und 
feine P. obligatorisch für jämmtliche Gerichte des Staates außer ihm. Am ftrengjten 
verrolgt diefe Tendenz die Franz. Gejeßgebung, indem fie auch im Gebiete der Givil- 
rechtäpflege die Staatsanwaltichait zum Wächter des Geſetzes bejtellt und ihr in der 
Nichtigkeitsbeichwerde zur Wahrung des Gejeges ein Mittel in die Hand giebt, die 
Einheit der Rechtiprechung jogar da zur Geltung zu bringen, wo den Parteien jelbit 
ein Rechtsmittel nicht zusteht oder fie von demjelben feinen Gebrauch machen. Die 
Deutiche RGeſetzgeb. dagegen kennt diefes Rechtsmittel und diefe Theilnahme der 
Staatsanwaltichaft im Civ. Prz. nicht; nichtsdeftoweniger kommt auch ihr zufolge 
den P. der einzelnen, wie der vereinigten Givil- oder Straffenate des höchiten Ge— 
richtshofes gleiche Bedeutung zu, da diejelben für den erfennenden höchjten Gerichtshof 
felbft in gleichen Fällen verbindlich find, nur daß der einzelne Senat von feinen 
eigenen Gntfcheidungen abweichen darf. Davon ift dann die naturgemäße Folge, 
daß alle Nechtöiprüche der unteren Gerichte, ſowie fie in höchſter Inſtanz an 
geiochten werden, nach Inhalt der P. des höchſten Gerichtshofes beurtheilt und 


eventuell abgeändert werden müllen. 

Xit. u. Quellen: Savigny, Syftem, I sy 12 ff. — Pland, Mehrheit, 88 26, 
8. — ee de3 6. Yuriftentages, 2, vd. — 8. 137. — Frey 
u. Krim. Verf., 143 ff., 225 ff. — Pigeau, Proc. civ., I. p. 460. — Heffter, Break 
FAR $ 88. —— 1790 a. 25; loi 27 vent. Mn VII. a. 80, 88. — Deutiches 

8 137 fi; Mot. ©. 151 ff. — Deutiche CPO. Mot. ©. 41 ff. ſ. nn 


ee (v. Bar, Th. I. Suppl. ©. 58 ff.) ift eine Verfäumnißfolge, und 
foll nach $ 208 der Deutſchen CPO. allgemein ala Berfäumnißfolge eintreten, 
wo nicht die Verſäumnißfolge, 3. B. Gejtändniß der Klagthatjachen, Reaffumtion ıc., 
Ipeziell vorgejchrieben ift. Sie beiteht darin, daß die Partei wegen Verſäumniß einer 
ihr gejtatteten oder aufgegebenen Prozeßhandlung während der gewährten Friſt bzw. 
an dem gejegten Termine das Recht zur Vornahme diejer Handlung verliert. Die 
Friſt bzw. der Termin, mit deren Ablauf diefe Folge eintritt, wird im Gemeinen 
Recht eben darum auch als präflufid oder peremtorifch bezeichnet, und zwar 
im Gegenjag zu dilatoriſchen driften und Terminen, mit deren Verfäumniß 
eben jene in ihren Wirkungen höchſt bedeutfame Folge nicht jofort eintritt. Die 
Deutjche CPO. verwirit das Syſtem der wiederholten Ladung und Friftanfegung, 
ihre Friſten und Termine find durchweg mit wenigen Ausnahmen fofort präflufiv 
und zwar ipso jure, ohne daß es einer vorgängigen Androhung der Berfäumniß- 
folgen bedürfte. Alles Nähere j. im Art. Berfäumnißverfahren. 

K. Wieding. 

Brälaten (praelati) im eigentlichen Sinne find die Biſchöfe und die Inhaber 
der höheren, über dem bijchöflichen ftehenden Aemter, wie die Erzbifchöfe, Primaten 
und Patriarchen. Im Sprachgebrauch der Dekretalen werden auch die Aebte, alfo 


118 Prälegate, 


die Vorfteher der geiftlichen Orden, unter diefer Bezeichnung begriffen. Gaben dieſe 
nicht blos eine der bifchöflichen analoge Regierungsgewalt über ihr Klofter und die 
zu demjelben gehörigen Perfonen (die jog. jurisdictio quasi episcopalis), jondern 
auch eine jolche über einen gewiffen, dem Klofter zuftehenden und von jeder Dibeeſe 
erimirten Bezirf (territorium separatum), jo nennt man fie praelati nullius oder 
praelati nullius dioeceseos. Im Gegenjat zu den Bijchöfen werden aber die Aebte 
als praelati inferiores bezeichnet. Aus der allgemeinen Bedeutung von praelatus, 
ala einer Perfon, welche Anderen vorgeht, dieſen übergeordnet iſt, erklärt es fi, 
daß auch im Mittelalter die Inhaber von mit der Yurisdiktion oder mit dem Per- 
jonat verbundenen Stiftsämtern, 5. B. Pröbjte, Dechanten, Kuftoden der Domkapitel, 
ja mitunter auch die Pfarrer praelati genannt worden find. Endlich bat der Aus 
drud: praelati noch eine bejondere Beziehung zu dem Organismus der Römijchen 
Kurie. P. find nämlich die Geiftlichen derjelben, welche gewifle Befugniſſe des 
oberjten Kirchenregiments des Papftes, fei es allein, jei es zu Kollegien vereinigt, 
theila in Unterſtützung der Kardinäle, theils jelbitändig ausüben und deswegen auch 
durch einen Äußeren Ehrenvorrang auägezeichnet find oder welche wenigſtens ohne 
einen derartigen Antheil an ber päpjtlichen Jurisdiktion gleiche Ehrenrechte, wie die 
an der letzteren partizipirenden, befigen. Die eriteren heißen eigentliche, die Leßteren 
Ehren-P., während man die Prälatur, welche der Papjt nach Ablegung der vor: 
geichriebenen Prüfung verleiht, praelatura justitiae, die, welche er unter Abſehung 
davon ertheilt, praelatura gratiae nennt. Die Prälatur ift die Vorftufe des Kar— 
dinalats. Die allgemeine die P. in ihrer Tracht außzeichnende Farbe ift die violette. 
Die P., jowel die Römischen, wie die nicht zur Kurie gehörigen (ſ. den Anfang 
dieſes Art.) werden im Kurialftyl, im Gegenjaß zu den Nicht-P., Monsignori genannt. 

Quellen u. it.: c. 41, 44 X. de elect. 1.6; c.3 $ 5 in VIto eod. I. 6; c. 2X. 


€ 


de iud. II. 1; c. 3 X. de off. iud. ordin. I. 31. — Ueber bie Römifche Prälatur f. Bangen, 
Die Römiſche Kurie, ©. 45 fi — Mejer in Jacobijon u. Richter's Ztiſchr. für d. Recht 
ber Kirche 1, 91 ff. — Phillips, Kirchenrecht, 6, 297 ff. — P. Hinſchius, Kirchenrecht 
1, 375 ff.; 2, 110 ff. Hinſchius. 


Prälegate (Vorvermächtniſſe, praeceptiones) im weiteren Sinne find die einem 
Grben aus der Erbichaft hinterlaffenen Vermächtniffe (ſ. d. Art. Yegat). Nachdem 
mit der Form des altrömifchen legatum per praeceptionem im Streit der Juriſten— 
ichulen auch defjen jachgemäße Auffaffung als eines Voraus für den Gingejegten 
vor Erbantritt und Erbtheilung abhanden gelommen war, bildeten fich aus vielem 
Schwanfen nachjtehende Begriffe des Juſtin. Rechts: I. Ein gewöhnliches Legat Liegt 
vor, wenn ein Nichterbe mit einem Vermächtniffe an einen Grben belajtet iſt. 
II. Praeceptio im technifcehen Sinne ift a) das einem unter mehreren Miterben fo 
hinterlaffene Vermächtniß, daß nicht der Bedachte ſelbſt, jondern nur deffen Mit: 
erben (alle oder einige) belaftet find; b) das Vorausvermächtniß für den Fiduziar- 
erben. III. Praelegatum im 'technifchen Sinne: das einem unter mehreren Miterben 
jo zugewwendete Vermächtniß, daß auch der Bedachte ala mitbelaftet erfcheint, 
indem entweder a) ein Onerirter überall nicht genannt ift oder b) ausdrücklich alle 
Grben (folglich auch der Bedachte) belaftet find. Für dies eigentliche P. zog die 
Elaffiiche Jurisprudenz aus dem Satze: ein dem Alleinerben hinterlaffeneg Xegat 
würde als ſolches unwirkſam jein (heredi a semet ipso inutiliter legatur), zunächſt 
die Folgerung: dann fei auch das einem von mehreren Erben hinterlaffene Wer: 
mächtniß, für den Fall, 1) daß der Prälegatar Erbe wird, joweit unwirkſam 
(konfundirt), ala er damit an fich felber belaftet, wirkffam nur joweit, al die Mit- 
erben belaftet feien,; jenen Theil habe er al& Erbe, diefe Theile als Legatar. 
Fernere Folgerungen: der fonfundirende Theil accreszirt einem etwaigen Kollegatar, 
ift einzurechnen in die Falzidiſche und Trebellianifche Ouart, wird mit dem Erbtheil 
an den Univerjalfideitommiffar rejtituirt; ift der Kollegatar ſelbſt Miterbe , alſo 
ebenfalls Prälegatar, jo verhalten ſich beider Legatantheile (3.8. Y,,, 11/,,) gerade 


Präliminarien. 119 


umgefehrt wie ihre Erbtheile (is, Yır) u. 5. f. Wird dagegen 2) der Prälegatar 
niht Erbe, weil er ausfchlägt, oder bleibt er nicht Erbe, weil er als suus 
abjtinirt oder als voluntarius Rejtitution erlangt, dann erhält er, in Ermangelung 
anderer Verfügung des Erblaffers, das ganze P. Gleiches gilt nach richtiger Anficht 
auch dann, wenn der Prälegatar nach dem dies cedens legati, aber vor dem Erb— 
antritt verjtorben (Transmiffion des ganzen PB. auf feine Erben) oder erbunfähig 
geworden ift; während freilich die Herrichende Meinung für erfteren Fall auf Grund 
einer Stelle, die von „praeceptiones* handelt, das Gegentheil behauptet. Aljo: 
der Prälegatar, welcher Erbe nicht wird (micht will oder nicht kann), erhält bzw. 
tranamittirt auf feine Erben das ganze ihm zugewendete P., und zwar als Legat. — 
dieſe geſammte überfünftliche Theorie fand auf die technifche praeceptio (oben IT) 
feine Anwendung (nur daß hier im Falle a das Voraus auch im jud. fam. ereisc. 
geltend gemacht werden konnte); fie durfte eben jener Eigenjchaft halber und als 
dem Willen des Teſtator der Regel nach widerftreitend in Deutſchland nicht rezipirt 
werden. Gleichwol behauptet die gemeinrechtliche Doktrin deren Rezeption. Ya 
noch das Sächſ. BGB. will die Römifchrechtlichen Grundſätze vom PB. in allem 
Beientlichen durchgeführt jehen (mit der jtillichweigenden Ausnahme: joweit nicht 
der Erblafjer anderes bejtimmt haben jollte); obwol bereits gleich älteren Landrechten 
das Preuß. ER. und das Defterr. BGB. mit vollen Fug das Entgegengejeßte aufs 
geitellt hatten: es ift zwifchen jog. Prälegat und Vorausvermächtniß an einen unter 
mehreren Erben fein Unterjchied; ſtets hat der Vermächtniinehmer das Ganze jure 
legati, mag er Erbe werden oder nicht, jo daß es bei der Ausgleichung unter den 
Erben überall nicht in Anfchlag kommt und nicht? davon mit der Erbichait an 
Käufer oder Univerfalfideitommiffare auszuliefern ift. Dem Code civil mußte die 
log. Prälegattheorie fremd bleiben; jein „don ou legs à titre de preciput ou hors 
part“ bietet nicht3 Beſonderes. 

Lit. nm. apa Buhholk, Die Lehre von den Prälegaten, 1850. — Degen- 
* De leg. qu. f. per praeceptionem, 1855. — Arndts in Gluͤck's Komment. 47 


el #. Dal. ine : (Gayblarz, ——— Ungerꝛc) bei Windſcheid, Lehrb., 

1. 8 627. — Gaj. II. SS 217 fe — 1. 17 82; 1. 18; 1. 34 8$ 1118; 1. 87 
bis 91; . 1168 1 D. do. —1ı Nds sıD. 31 (vgl. Schütze, "Yahrbb. d. gemein. Deutichen 
Rechts, IIL. ©. 418 ff). — 1.32 D. 32. — l. 2 D. 38, 7. .18 $S2D.34, 9 — 
l. 90 D. 35 ES END und. —ıı8 $6D.43, 3. — 
.10.4, 2.— 0.12 (6, 3. — Trek, 2% ER. I. 12 88 262, a, 449, 474; l. 11 
$ 460. — Code civ. art. 919. — Defterr. BOB. | 648. — Eädıl. BEL. $L 2401— 2409. — 
Mommjen, Grbr.:Entw., $ 351. Schütze. 


Präliminarien der völlerrechtlichen Verträge (conventiones praeparatoriae 
s. praeliminares, préliminaires) ſind vertragsmäßige Abreden unter den Staaten, 
die als blos vorläufige gelten und durch den Abichluß von definitiven Staats- 
- berträgen erjeßt werden jollen. Unterhandelnde Staaten pflegen fich ihrer zu be= 
dienen, um gegenjeitiges Einverftändniß in den Hauptpunkten vertragsmäßig ficher 
zu ftelfen und nur die Formulirung defjelben oder die Teitjegung von Nebenpunften 
ipäterer Vereinbarung vorzubehalten. B. haben demnach bald die Bedeutung bloßer 
pacta de contrahendo, indem fie die Punkte aufführen, welche die Grundlage der 
Unterbandlungen bilden jollen; bald jtellten fie einen proviforischen Rechtszuſtand 
zwiſchen den Staaten feſt unter Vorbehalt, denjelben in einen definitiven zu ver— 
wandeln; bald endlich normiren fie einen definitiven Rechtszuſtand und behalten 
nur die feierliche Beitätigung und etwaige Ergänzungen deſſelben einem jpäteren 
Hauptvertrage vor. Ymmer aber find fie völferrechtlich verbindliche Verträge, «8 
ei denn, daß ihre Geltung vom Abjchluß des Definitivvertrags abhängig gemacht 
werde. Auch für fie gelten demnach die Regeln, die das Völkerrecht betreffg der 
Yegitimation zum Abjchluß, der Ratifilation, Auslegung und Erlöjchung der Staats- 
verträge aufftellt. P. werden bald in Geftalt bloßer Punktationen abgefaßt, jo daß 
he zunächſt nur beabfichtigen, eine Vertragsbaſis zu ſchaffen; bald als jörmliche 


120 Prämie. 


Verträge abgefchloffen. Hauptanwendung finden fie bei Friedensſchlüſſen (Friedens-P.), 
wobei fie häufig mit Waffenftillftandsverträgen fombinirt werden. 

Beifpiele der wichtigften Präliminarverträge in der Neuzeit find die P. von 
San-Steifano vom 3. März 1878; der ihnen in Gemäßheit des Berliner Vertrags 
vom 13. Juli 1878 bderogirende Definitivfriede von Konjtantinopel wurde am 
8. Febr. 1879 gejchloffen. Nächitdem: die P. von Verfailles vom 26. Febr. 1871; 
die Nikolsburger Friedens-P. nebſt Waffenftillftandstonvention vom 26. Juli 1866; 
die P. von Billafranca vom 11. Juli 1859; die Wiener P. vom 1. Febr. 1856 
zum Parifer Frieden vom 30. März 1856. 

F. v. Martiß. 

Pramie bedeutet juriſtiſch wie im gewöhnlichen Sprachgebrauche jo viel als 
Preis, Belohnung, Vortheil, Vorrecht, Vergütung (auch im Sinne von Prorenetitum, 
Vergütung für eine Vertragsvermittelung) u. dgl. 

1) Bon diejer Bedeutung geht auch der bejondere handelärechtliche Gebraud 
diejes Wortes aus und zwar zunächjt auch die Beitimmung des Seehandeläredhts, 
daß Schiffer alle Arten von Belohnungen („P.“), die fie von dem Berrachter, 
Ablader oder Ladungsempfänger erhalten, dem Rheder ald Einnahme in Rechnung 
bringen müſſen (HGB. Art. 513) und daß P. u. dgl. im Seefrachtgejchäft nicht 
gefordert werden fünnen, wenn fie nicht ausbedungen find (ebenda Art. 622). Zu 
jenen Belohnungen werden auch die Ausfuhr-P. (Erportbonifitationen) gerechnet; 
jo daß auch diefe der Kapitän dem Rheder ala Einnahme verrechnen muß, gleichviel 
ob er fie ala Schiffsführer oder als Vertreter der Ladungsinterefienten zugedacht er: 
hielt (j. Entih. ds ROHG. Bd. VI. ©. 64). HDierüber f. d. Art. Kaplafen umd 
Primage. 

2) Mit obiger Bedeutung von P. hängt auch die Verwendung dieſes Wortes 
für Rabatt, Refaftie in diefem Sinne, P. in Spezialtarifen von Transportanftalten, 
auch von Annoncenbureaus zujammen (vgl. hierzu HGB. Art. 384; Entjch. des 
ROHGG. I ©. 212; IV. 136; XII. 213; Gareis, Kurzgef. Lehrb. des Handels— 
rechte, ©. 342). 

3) Eine mehr technische Bedeutung hat das Wort P. im Verſicherungs— 
recht; bier ift PB. die Gegenleiftung, welche fich der Verficherer vom Berficherungs- 
nehmer für die Mebernahme der Gefahr vertragsmäßig bezahlen läßt, das Nequivalent, 
welches der Verficherungsnehmer dafür bietet und zu bieten hat, daß der Verficherer 
den Erſatz des Schadens, welcher den DBerficherten treffen fann, nad) Maßgabe des 
Verlicherungsvertrags übernimmt. Bei der Verficherung auf Gegenfeitigfeit ijt die 
P. ein im Verhältniß zur Höhe des innerhalb einer Rechnungsperiode eingetretenen 
Schadens durch Nepartition diejes Schadens (und der Verwaltungskoſten) fich er: 
gebender, mithin variabler Beitrag, welcher, annähernd gejchäßt, auch jchon vor 
Ablauf der Rechnungsperiode ganz oder theilweife, jedenfalls vorbehaltlich jpäterer 
definitiver eitiegung erhoben werden kann und gerade dann auch P. (uneigentliche 
P.) genannt wird. Bei der „Verficherung gegen PB.“ aber iſt die P. ein fejter ver: 
tragamäßig vor Ablauf einer Verficherungsperiode definitiv fejtgejeßter Betrag, welchen 
der Verſicherer in jpekulativer Abficht als Gegenleiftung für die Gejahrübernahme 
vom BVerficherungsnehmer bezieht (j. Goldſchmidt, H.R., 2. Aufl. $ 49 ©. 584 
bis 587; Stobbe, Deutjches Privatrecht, Bd. III. ©. 197 und die cit. Lit. auch die 
Lit. unter d. Art. Verficherungsvertrag. Ueber „Zeit-P. im Seeverficherungs- 
recht j. Allg. Deutiches HGB. Art. 834, 835, 849, 760). Nach Seeverficherungs- 
recht ift die P., fofern nicht ein Anderes vereinbart iſt, jofort nach Vertragsabſchluß 
und wenn eine Polize verlangt wird, gegen Auslieferung diefer zu bezahlen. Zur 
Zahlung der P. ijt der Verjicherungsnehmer, jubfidiär (im Seeverficherungsrecht) auch 
der DVerficherte verpflichtet. Im Seeverficherungsrecht ijt eine proportionale Rück— 
forderung der P. (abzüglich der Rijtornogebühr) geitattet, wenn die Unternehmung. 
auf welche fich die Aſſekuranz bezieht, von dem Verficherten aufgegeben oder ohne 


Prämie. 121 


deſſen Zuthun die verficherte Sache der übernommenen Gefahr nicht ausgejegt wird 
(. Art. 899 des Alle. D. HGB.; B. Holjchuld oder an j. Entſch. 
des ROHG. IX. ©. 375, 386 und Gareis, a.a. D. ©. 392). 

4) Eine eigenthümliche, jeehandelärechtliche Bedeutung hat die P. als Bod— 
merei-P., die P., welche der Bodmerift („Seedarlehnagläubiger“, Bodmereigläubiger) 
zu beanfpruchen Hat; da nämlich diefem Gläubiger für die Zurüdzahlung des von 
ihm gegebenen Darlehns nur die verbodmeten Gegenſtände (fortune de mer) haften 
umd er feinen Anfpruch auf Rückzahlung des für eine beftimmte Seeunternehmung 
gegebenen Darlehns Hat, wenn die verbodmeten Gegenftände bei diejer Gelegenheit 
wiällig zu Grunde gehen, jo ijt es angemefjen, daß der Bodmerijt nicht blos ge- 
wöhnliche Dahrlehnszinſen, fondern ein höheres Aequivalent (10 bis 25, ja 40 Prozent 
des Seedarlehnskapitals, nämlich die Bodmerei-P.) für die Hingabe des Kapitals 
und für jene Riſtkoübernahme erhält, ein Aequivalent, welches beliebig hoch von 
den Parteien fejtgejeßt werden kann und in Grmangelung entgegenjtehender Verein— 
barung auch die Zinjen umfaßt, jedoch die Natur der Zinjen verläßt und als ein 
Zuwachs zum Kapital ericheint; deshalb laufen vom Zahlungstage an (das ift vom 
ahten Tage an nah Ankunft des Schiffes im Beltimmungshafen der Bodmerei- 
reife) kaufmännische Zinfen nicht blos von dem Bodmereifapital, jondern auch von 
der P.; Hierbei wird zur Beitimmung des Tyälligkeitstermins der Tag der Ankunft 
nicht mitgerechnet. Dieſe Regeln finden Anwendung, wenn die PB. für die ganze 
Reife bedungen wird, daher mit der Ankunft im Bejtimmungshafen der Lauf der 
P. endigt, man nimmt hierbei an, daß die Höhe diefer P. von vornherein jo be— 
meſſen jei, daß auch das Riſiko des Ilnterganges der verbodmeten Gegenftände von 
der Ankunft des Schiffes an bis zur Löſchung mit in Betracht gezogen tft. Anders 
wenn die P. Zeit-P. ift, d. h. zeitweife, 3. B. monatsweife bedungen wurde für 
die Zeit von der Entitehung der Bodmereifchuld bis zur Rückzahlung derjelben: dann 
nimmt man an, daß durch die P. der Zinsfuß habe beftimmt werden jollen, „der 
dem Darleiher bis zur Rüdzahlung zu Theil werden ſolle“, und diefe P. läuft in 
jedem Falle bis zur Zahlung des Bodmereifapitalde. In dem Bodmereibriefe muß 
(u. 9.) nicht blos der Kapitalbetrag der Bodmereifchuld,, jondern auch der Betrag 
der Bodmerei⸗P. „oder der Gejammtbetrag der dem Gläubiger zu zahlenden Summe“ 
und die Zeit, zu welcher die Bodmereifchuld bezahlt werden joll, enthalten jein 
(Alle D. HGB. Art. 680, 684 Ziff. 3, 688; über Riftornirung der Bodmerei-P. 
j. ebenda Art. 699). Die Bodmerei-P. kann unter die Fälle der großen Haverei 
fallen (ebenda Art. 708). Ueber BodmereisP. ſ. Lewis, Seereht, II. ©. 7, 8, 
11, 15 u. a; Makower, HGB., 8. Aufl, S 658, 659, 661, 664 Anm. 25. 

5) PB. bat auch die Bedeutung von Gewinn: jo nennt man 2. mitunter den 
Betrag einer Kuräfteigerung von Gffetten (4. B. die Aktie macht 3%, P.), ferner 
den auf ein Zotteriepapier fallenden Gewinn (das behufs deſſen Erhebung ausgeſtellte 
Segitimationspapier heißt „P.ichein“); auch im RGeſ. betreffend die „Inhaberpapiere 
mit P.“ vom 8. Juni 1871 bedeutet P. jo viel ala Gewinn, nämlich den Betrag, 
welcher Släubigern außer der Zahlung der in dem Inhaberpapier verjchriebenen Geld: 
fumme dergeftalt zugefichert wird, daß durch Ausloofung oder durch eine andere auf 
den Zufall geftellte Art der Ermittelung die zu prämiirenden (d. 5. vom Gewinn 
zu treffenden) Schuldverfchreibungen und die Höhe der ihnen zufallenden P. bes 
fimmt werden jollen. (Solche Inhaberpapiere dürfen innerhalb des Deutichen Reiches 
nur auf Grund eines Reichsgefeßes ausgegeben werden, j. d. Art P.papiere.) 

6) P. im P. geſchäft ift das Nequivalent für das dem Weſen diejes Geſchäfts nach 
zugeſtandene Wahlrecht ; das Wahlrecht, welches der P.empfänger dem P.geber einräumt 
und welches mit Bezug auf einen bereits abgejchloffenen oder erſt noch abzujchließenden 
Vertrag (in der Regel Lieferungs- oder Differenzgefchäft) einen Eingriff in die Rechts: 
iohäre des P.nehmers enthält, giebt dem P.geber die Wahl zwiichen Wollen und 
Richtwollen, oder zwiſchen So= und Anderöwollen oder zwiichen So= und Andere: 


122 Prämiengefhäft. 


und Nichtwollen (ſ. d. Art. P.geſchäft, Nochgeſchäft und Stellgeſchäfth; 
dieſes Wahlrecht wird nur gegen Zahlung eines feft vereinbarten (daher nicht un 
mittelbar vom Kurſe abhängigen und Hierdurch von der „Differenz“ verjchiedenen) 
Betragd, der P. zugeitanden. Yit der Käufer P.geber, jo heißt die P. „Vor-P.“ 
(„Lieferungs-®.“); ift das Wahlrecht dem Verkäufer zugeitanden, jo wird der Kauf⸗ 
preiß um den Betrag der P., bier Rüd-P., Empfangs-P. genannt, vermindert oder 
die Rück-P. befonders bezahlt. 

git.: James Moser, Die Lehre von den Zeitgeichäften, Berlin ‚1875, ©. 5 fl. — 
Thöl, DR, 6. Aufl., SS 286— 294. — Endbemann, HR., 3. Aufl., $ 121. — Gareis 
in Siebenhaar's Ario für W.R. und HR. 3b. 18 ©. 128 fi. — Che. des ROH. 
XV. ©. 393, 399, XIX. Gareis. 


Prämiengeſchäft (TH. I. S. 538). Das P. ift ein Vertrag, inhaltlich deſſen von 
einem Kontrahenten, Prämiennehmer, dem anderen, Prämiengeber, gegen Verſprechen 
einer bejtimmten Geldfumme, Prämie genannt, ein an einem vereinbarten jpäteren 
Zeitpunfte auszuübendes Wahlrecht zugeitanden wird, welches mit Bezug auf einen 
bereit3 abgefchloffenen oder erit noch abzujchließenden Vertrag einen Eingriff in die 
Rechtsiphäre des Prämiennehmers enthält; der Vertrag, auf welchen das P. Bezug 
nimmt, ijt in die Vereinbarung über Wahlrecht und über Aequivalent hierfür, die 
Prämie, mithin in das P. weſentlich, aber noch unfertig eingeichloffen, fo daß erit 
nach Endigung des P. entichieden ift, ob oder wenigjtens in welchem Umfange er 
zu Stande kam oder nicht, und im faufmännifchen Verkehr regelmäßig ein Lieferungs- 
geichäft (Fixgeſchäft), deſſen Gegenftand gewöhnlich börfenmäßige Papiere bilden. 
1) Das Wahlrecht, für welches die Prämie gegeben wird, berechtigt den Prämien: 
geber an einem bejtimmten jpäteren Zeitpunfte zu wählen, ob er den gleichzeitig 
verabredeten Lieferungsvertrag abgeichlofien wiſſen wolle oder nicht (ein: 
faches P.); die Prämie wird hierbei bezahlt: entweder wenn das Wollen dieſes 
Lieferungsgeichäfts, oder wenn das Nihtwollen gewählt wird, oder auch jchon 
für das bloße Wahlrecht, ohne Rüdficht auf dieje oder jene Ausübung der 
Wahl. An der Berliner Fondsbörſe gilt: „Zeitgeichäfte mit Prämie find (Zeit-) 
Geichäfte, bei denen e8 einem der Kontrahenten (bei Vor-P. dem Käufer, bei 
Rüd-P. dem Verkäufer) freifteht, gegen Zahlung einer Prämie (Reugeld) von 
dem Gejchäfte zurüdzutreten“ (f. unten). Der Vortheil des Prämiengebers liegt in 
der Möglichkeit, die Konjunktur im Zeitpunkte der Wahl für fich vortheilhaft zu be 
nützen; der des Prämiennehmers im gewiffen, wenn auch geringeren Gewinn wenigſtens 
der Prämie. 2) Das Wahlrecht kann aber auch derart vereinbart fein, daß ber 
Prämiengeber nicht zwiſchen dem bejtimmten Wollen und Nichtwollen, ſondern 
zwiichen So= und Andersmwollen wählen fann: dies ift der Tall beim 
„Wandelgeſchäft“, wobei der Wähler (Prämiengeber) die Erfüllung des Wer: 
trages in einem beliebigen Zeitpunfte innerhalb einer enger oder weiter firirten Friſt 
fir verlangen fann; ferner beim „Schluß auf feſt und offen“, bei welchem 
der Prämiengeber, der hierbei immer als Käufer erjcheint, da8 Recht hat, an einem 
beitimmten Zeitpunfte binfichtlich eines bejtimmten Theil der Waare von der Er- 
füllung zurüdtreten zu dürfen; hierher gehört auch daa „Nochgeſchäft“ und das 
„Stellgeihäft”, 5. die bei. Art. hierüber. 3) Das Wahlrecht des Prämien- 
gebers fann endlich der Art vereinbart fein, daß dem Prämiengeber die Wahl zwischen 
Nihtwollen, Sowollen und Anderswollen zufteht; dies ift der Fall beim 
„zweifchneidigen P.“, welches darin beiteht, daß der Prämiengeber am be- 
ftimmten Termine wählen fann, ob er (ala Käufer) die behandelte Waare vom 
Prämiennehmer beziehen, oder fie (als Berfäufer) dem Prämiennehmer liefern „ oder 
weder das Eine, noch das Andere, jondern Abjtand vom (Lieferungs-)Vertrage 
wolle. — Ueber die Verbindung zweier P. ſ. d. Art. Zwei-P. — Die juridifche 
Natur der P. im Allgemeinen und im Ginzelnen, ſogar ihre Klagbarkeit ift ſehr 
bejtritten. Sehr verjchiedene Rechtsinititute: Reugeld, Konventionaljtrafe, Spiel, 


Prämienpapiere. 128 


Bette (die Auffaffung als Spiel oder Wette iſt bejonderd und ausdrüdlich aus— 
geichlofien durch $ 13 des Oeſterr. Börjengejeßes vom 1. April 1875), gewagte Ver— 
träge, Verficherungsgeichäft ıc., wurden zur Erklärung derjelben herangezogen: die 
Prämie ift aber nichts Anderes als ein vollkommen berechtigtes Geldäquivalent, 
welches für die Gewährung (oder Ausübung) eines gewiffen Wahlrechts gegeben wird. 
git.: Ueber das in ber Encyclica: vix pervenit von Benedikt XIV. beichriebene —— 
des P. ſog. — trinus“ ſ. Carl Adler in Bun 8 Beitichr. für Reiche: un 
Sandeörecht, 1875, 1. ch ©. 39. — Bender, Verkehr mit Staatöpapieren, 2. Aufl. 
ss 91-93. — Ther Ber ehr mit Staat8papieren, ©. 195 ff. u. a. a. O.; Derjelbe, 
HR, 6. Aufl, 88 286-294. — Endemann, DR., g 121. — Sadenburg in Gold» 
—J— Zeitier. für das gel. H.R., Bd. IIL u 8. Bol. au ——— ebenda 
1. Rr. 5, 9 u. 11; Gareis in Siebenhaar’ * Archiv für W.: und H.R., Bd. XVII. 
” V. ©. 198.170 u. kurzgef. — = HR., 8 62. — Die juridifche Natur derielben ind: 
befondere 1. Bender, a.a. 8 Thol, er. 8 288, — Gareid in Siebenhaar’s 
Arch, a. a. D., 88 14, 15, 10. Sie „Bebingun en für 4 Gefchäfte an der Berliner 
Fondsbörſe“, vom 8. eh. le: mi etheilt von Keyßner, ſ. Goldſchmidt ıc., * f. 
das geſ. R., Bd. xviũ — Die Wiener Gffeftenbörfe, j. ebenda Bb. XXI. 


208 @enknen) 6. 3. 3 — — — — S. 14 ff. — GEntic. b. 
6.2. XV. S. 8 smit, M. T., Het Begrip en Wezen der 
Ban er — Leiden 1871; vol. en in der Zeitichr. für bad 


gei. H.R., Bd. XIX. ©. 439—441. Gareis, 


Prämienpapiere find Werthpapiere, welche emittirt werden zum Zweck der 
Kontrahirung einer Prämienanleihe; letztere iſt eine Art der öffentlichen Anleihe 
gegen Obligationen. Als der B.anleihe harakterijtiich wird erachtet, daß in ihr 
ein Darlehnövertrag mit einem Spielvertrage verbunden ift (f. ThöD; es werden 
nämlich hierbei nach Maßgabe des bei der Emiffion der einzelnen (Darlehns-) 
Obligationen veröffentlichten Planes an bejtimmten Terminen und in bejtimmtem 
Umfange einzelne Reihen oder einzelne Nummern der emittirten Obligationen aus— 
gelooft und diejen, ebenfalla durch das Loos oder dgl., ein Gewinn von gewifjer Höhe 
äugetheilt (vgl. Endemanna. a. D. und d. Art. Lotterie, privatrechtlich, Ziff. 4). 
Die P.anleihen find entweder unverzinslich oder verzinälich; erjterenialls verpflichtet 
fih der Gmittent der P. nicht zur Zahlung feſter Zinfen, fondern nur zur Zurück— 
zahlung des Kapitals und zur Zahlung des Gewinnes, Beides nach Maßgabe des 
Zotterieplanes, welcher den Tilgungsplan und die feiten Verloofungstermine ent— 
Balten muß (Hierzu vgl. Endemann, ©. 666); bei verzinslichen P.anleihen 
werden niedrige Zinjen bezahlt und mit dem Reft der programmmäßig angenom— 
— Verzinſungs- und Tilgungsquote wird die Tilgung und Prämienzahlung 
ewi 

Der Negoziabilität der P. nach unterſcheidet man Prämienanleihepapiere auf 
Kamen und Prämienanleihepaiere auf den Inhaber (letztere auch „Inhaberpapiere 
mit Prämien“ genannt); die weitaus größere Girkulationsfähigfeit kommt den 
Letzteren zu; daher reizen gerade dieje die Spiel- und Gewinnſucht des Publitums 
und eignen fie fi auch zur Monopolifirung behufs Eröffnung von Kredit— 
und Gemwinnquellen für die Finanzen des Staated oder öffentlicher Korporationen. 
Bon dieſen finangpolitifchen wie von polizeilichen Motiven ausgehend, hat das RGef., 
betreffend die Inhaberpapiere mit Prämien, vom 8. Juni 1871, die auf den In— 
haber lautenden PB. zu Gunsten des Reiches und der Bundesjtaaten monopolifirt. 
Auf den Inhaber lautende Schuldverjchreibungen, in welchen allen Gläubigern oder 
einem Theile derjelben außer der Zahlung der verfchriebenen Geldjumme eine Prämie 
dergeitalt zugefichert wird, daß durch Ausloofung oder durch eine andere auf den 
Zufall gejtellte Art der Ermittelung die zu prämiirenden Schuldverfchreibungen und 
die Höhe der ihnen zufallenden Prämie beitimmt werden jollen, dürfen innerhalb 
des Deutichen Reiches nur auf Grund eines RGeſ. und nur zum Zwede der An— 
leihe eines Bundesftaates oder des Reiches auögegeben werden ($ 1 des ange. Ge— 
jetzes). Allen entgegen diefen Beitimmungen im Inlande emittirten, ſowie allen den— 


124 Bräfentationspapiere. 


jenigen ausländifchen P. au porteur, welche nach dem 30. April 1871 im Auslande 
ausgegeben find, ift Verkehrsfähigkeit gejeglich abgeichnitten, fie dürfen weder weiter 
begeben noch an Börfen, noch an anderen zum Verkehr mit Werthpapieren beftimmten 
Verfammlungsorten zum Gegenftande eines Geichäfts oder einer Gejchäftsvermittelung 
gemacht werden ($ 2 d. Gef.). Die vor dem 1. Mai 1871 emittirten ausländifchen 
P. au porteur find vom Verkehr ebenfalls ausgeichlofjen, jofern fie nicht abgeftempelt 
und zu diefem Behufe jpäteitens am 15. Juli 1871 eingereicht worden find, 
nach Maßgabe näherer Beitimmungen des Gefeßes (SS 3, 4 u. 5) und der auf Grund 
dieſes Gejeges vom Bundesrat erlaffenen Vorſchriften zur Ausführung diejes Ge 
jeßes vom 19. Juni 1871. Strenge Strafandrohungen juchen die Erreichung des 
Zwedes diefer Normen zu fihern: Wer dem Gejeße (SS 1, 2 u. 3) zumwiderhandelt, 
verfällt in eine Gelditrafe, welche dem fünften Theil des Nennwerths der rechtäwidrig 
behandelten P. gleichlommt, mindejtens aber 300 Mark betragen joll, und wer 
ein P. au porteur gegen 88 2 u. 3 d. Gef. öffentlich ankündigt, ausbietet oder 
empfiehlt oder zur Feſtſtellung eines Kurswerthes notirt, verfällt in eine Gelditrafe 
bis zu der oben bemerkten Höhe oder in eine Gefängnißitrafe bis zu drei Monaten 
($ 6 d. Gef.), Strafbejtimmungen, deren Anwendung den Straflammern des Yand- 
gerichtse gemäß $ 74 Ziff. 3 des GBG. ausfchließlich obliegt. Geftattet ift demnach 
der Umſatz a) von inländiichen Staats- oder Privat-P. au porteur, welche vor 
Verkündigung des angeführten Gejeßes ausgegeben wurden; b) von inländifchen 
Staatd- oder Reichs-P. au porteur, welche auf Grund eines RGef. emittirt wurden; 
c) von rechtzeitig angemeldeten und abgejtempelten ausländifchen P. au porteur, und 
d) von allen P. auf Namen. Unter den Begriff der gejegwidrigen Negoziirung Fällt 
jedoch weder der bloße Befiß, noch der durch Erbgang oder ähnliche nicht im Willen 
der Betheiligten herbeigeführte Beligwechjel, noch auch die zum Zwed des Gewinn: 
bezugs ” alle der Ausloofung erfolgende Realifirung (fj. Endemann, a. a. D. 
©. 667). 

Quellen u. Lit.: Das angeführte Reichsgeſeß nebft Verordnung; Erläuterungen hierzu 
in der Kortkampf'ſchen Sammlung ber Gejehe bes Nordd. Bundes und bed Deutichen 
Reiches, Bd. II. — Endemann, H.R., 3. Aufl., $ 139. — Thöl, H.R., 6. Aufl., $ 309. — 
Dol. auch die Art. Prämien u. Botterie (privatrechtlich) und die bort — va 

areis, 


Präjentationspapiere find Urkunden über Forderungen, welche nur mittels 
Präfentation der Urkunde geltend gemacht werden können. Der Schuldner ift nur 
gegen Präfentation des Papiers zu leiften verpflichtet. Wird die Yeiftung eingeflagt, 
jo erjcheint der Beſitz des Papiers ala ein wejentlicher Theil des Klagfundaments. 
Denn das Papier ift nicht blos Beweismittel für die Forderung, deren Geltend— 
machung in Frage fteht, ſondern Ausübungsform des Nechtes. Die P. zählen daher 
inögefammt zu den Wertbpapieren, d. h. zu den Urkunden, deren Befit die 
Berwerthung des darin verbrieften Rechtes in privatrechtlicher Beziehung bedingt. 

Die meiften P. enthalten die Klaufel, daß gegen das Papier, gegen Rückgabe 
des Scheina u. dgl. geleijtet werden ſolle. Man kann dieje Klauſel die pofitive 
Präfentationsflaufel nennen. Sie wird erjeßt durch einen derartigen Inhalt der 
Urkunde, aus welchem in unzweideutiger Weife die Abficht des Ausſtellers hervor— 
geht, daß nur gegen das Papier geleijtet werden ſolle. Ein Hinweis auf Statuten, 
welche nur folche Beſtimmung enthalten, vermag die Präjentationsklaufel zu erjegen. 
Gewiſſe Papiere find gejegliche P., fie gelten als P. ohne Rüdficht darauf, ob die 
Urkunde die Präfentation ald Vorausſetzung der Leiftungspflicht Hinftellt. 

P. find ftets die Forderungspapiere mit der reinen Inhaberklauſel (f. d. Art. 
Inhaberpapiere). Eine vertragsmäßige Ausfchließung der Präfentationspflicht 
ift bei ihnen unzuläflig, denn es kann jich jelbitveritändlich Niemand verpflichten, 
dem Präfentanten des Papiers ohne Präjentation zu zahlen. Wird ein Inhaber: 
papier außer Kurs gejet, jo hört es deshalb nicht auf ein P. zu fein. 


Bräfentationspapiere. 125 


Die indoffablen Papiere find P., wenn nicht, was bei ihnen zuläffig ift, die 
Präjentationspflicht vertragsmäßig ausgeichloffen wird. 

Schlichte Namenpapiere find P., wenn fie die pofitive Präſentationsklauſel ent- 
halten. Jedoch find es ohne diefe Vorausſetzung, wenn nicht die Präſentationspflicht 
vertragamäßig auägeichloffen ift, der Wechjel, faufmännifche Anweifungen und Ver— 
pilihtungsjcheine, das Konnofjement, der Ladeichein, der Bodmereibrief und wol auch 
er Lagerſchein und die Seeaffekurangpolize. 

Bei den Forderungen aus P. muß der Gläubiger durch Präfentation des 
Papiers den Schuldner zur Leiftung auffordern. Es braucht nicht etwa der Schuldner 
feinerjeit& mit der Leiftung voranzugehen, jondern er mag abwarten bis der Gläubiger 
als Präjentant des Papiers die Leiftung verlangt. Nicht die Frälligkeit des Papiers, 
iondern erjt die Präjentation des fälligen Papiers ſetzt den Schuldner in Verzug. 
E können daher erjt von dem Momente der vergeblichen Präjentation ab Verzug: 
jinfen gefordert werden (Entjch. d. ROHG. V. 375; VI. 231; XXI. 304). Der Satz: 
dies interpellat pro homine gilt nicht für P. und ebenforwenig Art. 289 des HGB., 
nach welchem Kaufleute untereinander berechtigt find, in beiderjeitigen Handele- 
geichäften auch ohne Verabredung oder Mahnung von jeder Forderung jeit dem Tage 
ihrer Fälligkeit Zinfen zu fordern (Entich. des ROHG. XXL. 305). Die Schuld aus 
dem PB. ift Mahnichuld. Der Gläubiger muß mahnen und zwar in bejtimmter 
Form, nämlich mit Präfentation des Papiers und mit dem Anerbieten, das Papier 
gegen die Leiftung dem Schuldner auszuhändigen. Die Aushändigung des Papiers 
und die Leiftung müſſen am fich Zug um Zug geſchehen. Die P. find Einlöfungs- 
dapiere. Das Recht aus dem P. ift nur ein — auf Einlöſung des Papiers 
(vgl. bezüglich des Wechſels Thöl, W.R., 

Die Schuld aus dem P. iſt Holjchuld, ht Bringihuld. Der Schuldner 
braucht die Leiſtung dem Gläubiger nicht darzubringen; der Gläubiger muß kommen 
fie zu holen. Art. 325 des HGB., nach welchem der Schuldner verpflichtet ift, 
die Zahlung von Geldfummen auf feine Gefahr und Koſten dem Gläubiger zu über 
machen, findet auf Holfchulden aus P. feine Anwendung. Es hat vielmehr der 
Gläubiger den Betrag im Wohnorte oder im Gejchäftslofale des Schuldners zu 
holen, e8 müßte denn eine bejondere Zahlitelle verabredet oder das Papier bei dem 
Gläubiger domizilirt fein. 

Der Schuldner kann auf die durch Präjentation erfolgende Mahnung verzichten 
und fich zur Darbringung der Leiſtung verpflichten. Ein folcher Verzicht liegt in 
der Klauſel: ohne vorgängige Präjentation. Die Leijtungspflicht bleibt auch 
in diefem Falle bedingt durch die NAushändigung des Papiers. Das Papier verliert 
durch dieje Hlaufel (negative Präjentationsklaufel) nicht den Charakter des Werth- 
vapieres. Allein der Schuldner fieht von einer Aufforderung des Gläubiger ab. Der 
Schuldner hat das Papier zu fuchen, nicht umgekehrt ihn das Papier. Will er nicht 

in Berzug kommen, jo muß er fich unaufgefordert zur Verfallazeit in die Wohnung 
des Gläubigerd begeben, um gegen Aushändigung des Papiers feinerjeits die Leiftung 
anzubieten (Entich. dee ROHG. VII. 164). 

Die Forderung aus dem P. entfteht nicht etwa erit in dem Momente der 
Präfentation. Die Obligation ift jchon vor der Präjentation eriftent. Nur die 
Ausübung der Forderung iſt an die Präfentation gebunden. Es können daher jchon 
vor dieſem Zeitpunfte von dem Betrage der Forderung Zinfen laufen. Die Ver— 
jährung der Forderung ijt von dem Trälligkeitstermin an zu rechnen. 

Regrekanfprüche, welche aus der verweigerten Honorirung des Papiers erwachien, 
haben die vergebliche Präjentation des Papiers zur VBorausfegung. Denn das Regreß- 
veriprechen ift von vorneherein durch die Thatſache bedingt, daß die Leiftung gegen 
gehörige Präjentation zur Verjallszeit unterbleibe. 

Soweit die vergebliche Präjentation des Papiers einen Theil des Klage 
undaments bildet, muß fie der Kläger im all des Beftreitens beweifen. Einen 


126 Präfentationsreht — Präterition. 


Theil des Klagiundaments bildet die Thatſache der vergeblichen Präfentation, wenn 
der Kläger Anjprüche auf den Verzug des Beklagten gründet, 3. B. Berzugszinien 
einklagt, und wenn ev auf das Unterbleiben der Einlöſung Regreßanſprüche ſtützt. 
Am Urkundenprozeß ift diesfalld die Behauptung der Präfentation unter urkundlichen 
Beweis zu ftellen. Abgeſehen vom Urkundenprozeß kann der Beweis der Präfentation 
nach den allgemeinen Beweisgrundfägen geführt werden (Entich. des ROHG. V. 25), 
jedoch greifen in Wechielfachen die Hier nicht weiter zu erörternden Grundjäße über 
das Erforderniß des Wechielproteites ein. Um die Wechjelllage gegen den Acceptanten 
des gezogenen bzw. gegen den Ausſteller des eigenen Wechſels, in welchem ein 
Domiziltat nicht genannt ift, auf dem Wege des Urkundenprozeſſes einzubringen, iſt 
e8 an fich nicht erforderlich, die jtattgefundene Präfentation zu behaupten und unter 
urfundlichen Beweis zu ftellen. Denn nicht der Anfpruch ala jolcher, ſondern nur 
die Geltendmachung deffelben ift von der Präfentation abhängig und nach den 
Grundiägen des Neichscivilprogeßrechtes ift es nicht unzuläffig, eine Klage dahin zu 
formuliren, daß Bellagter verurtheilt werde gegen Präfentation des Papiers zu Leiten. 
Iſt durch den Verluſt des Papiers die Präfentation deſſelben unmöglich ge: 
worden, jo bietet im Allgemeinen die Amortifation des Papiers einen rechtlichen 
Erſatz der Präfentation dar. Es tritt dann das gerichtliche Ausſchlußurtheil, bzw. 
der Mortififationsichein an die Stelle des abhanden gelommenen und amortifirten 
Papiers. 
? ik: Brunner im ber Zeitiche. f. H.R. XXI. 59 ff; Derjelbe in Endemann' 
andbud des H.R., II. Abſchn. Werthpapiere, S. 155 ff. — Dernburg, Preuß. Privatredt, 
. 23, 162, 764 ff. — Stobbe, Deutiches Privatrecht, III. 137. — Puchelt, Kommentar zum 
HGB. Art. 300 Nr. 7, Art. 303 Nr. 4. — Moſſe in den Verhandlungen des 15. Deutichen 
uriftentaga, ©. 111 ff. — Schulze-Delitzſch, ebendaß, ©. 52 ff. 
Heintih Brunner. 
Präſentationsrecht, jus praesentandi, ift das Recht, dem zur Verleihung 
eines firchlichen Amtes berechtigten Oberen bei der Vakanz deſſelben ein geeignetes 
Subjekt in Vorichlag zu bringen. Daffelbe ift für die Regel kein fjelbitändiges Recht, 
jondern nur ein Ausfluß gewiffer anderer Firchlicher Rechtsverhältniſſe. So bildet 
es gewöhnlich in der fatholifchen und proteftantifchen Kirche eine und zwar die 
wichtigste der im Patronatrechte (f. Th. I. ©. 659, 683) enthaltenen Befugniſſe. 
Ferner gewährt für das Gebiet der fatholifchen Kirche ein weiteres Beijpiel die 
Präjentation des Pfarrvikars ſeitens eines kirchlichen Inſtituts, welchem die betreffende 
Pfarrei quoad temporalia inforporirt ift (j. d. Art. Inforporation). Anderer: 
jeits erfcheint das P. aber in der fatholifchen Kirche auch als ein jelbjtändiges 
Necht; in diefer Gejtaltung fommt es namentlich ala Recht der Landesherren vor, 
dem Papft auf die höheren Benefizien, wie die bifchöflichen und erzbiichöflichen Stühle 
geeignete Kandidaten zu präfentiren. 
Lit: 9. Gerlad, Das P. auf Pfarreien, Regensb. 1855. — Ih. Friedle, Ueber die 


Ausübung des P. in Moy's Arhiv f. fathol. Kirchenrecht, Bd. 23 ©. 3 ff. — Pal. den Art. 
Nominationsredt. P. Hinſchius. 


Präſumtionen, j. Rehtsvermuthungen. 

Präterition (Uebergehung; Th. I. ©. 461) bedeutet: I. nach altröm. Recht: 
das Nichtgedenken jolcher Perjonen im Teſtamente, welche in Ermangelung ausdrück— 
licher und gehöriger Enterbung oder Einjegung gejeglich Erben werden, folglich wider 
den lebten Willen juccediren. Unter den Begründungsverfuchen diejes jog. formellen 
Notherbrechts jcheint folgender der einfachite. Der paterfamilias, welcher durch lex 
specialis Jemanden von Todes wegen adoptirt (zum Erben einjeßt), ohne gleichzeitiq 
den suus, dem ala Nächjtberechtigtem die familia zufallen muß, entweder von 
Todes wegen zu emanzipiren (Ju erherediren, exheredem scribere) oder miteinzufeßen, 
bewirft ebendadurch, daß lebterer a) gleichwol Erbe wird, b) nach dem Grundſatze 
nemo pro parte testatus etc. den eingejehten Erben ausschließt, mit anderen Worten, 
daß der legte Wille nichtig ift, und der vom Gejeß berufene suus contra testamen- 


Präterition. 127 


tum (nullum) gejeglicher Erbe wird, eben weil berjelbe übergangen if. Den 
Gegenfag jolcher Uebergehung bildet aljo das bloße Gedenken (Gehörig- Nennen) 
im Teſtament, ſei e8 durch Erbeinjegung, ſei e8 durch Enterbung, wodurch dem 
ftrengen Recht genügt wird. Doch darf die Erheredation (emancipatio mortis causa) 
des Hausfohnes, ganz analog der erfchwerten Emanzipation unter Lebenden, nur 
nominatim erfolgen (Titius exheres esto), die von Haustöchtern und Hausenteln 
dagegen inter ceteros (ceteri exheredes sunto). Stilljchweigende Uebergehung oder 
mchtnamentliche Enterbung (beides ift P.) des Hausſohnes hat Nichtigkeit des 
Zeftamentö zur Folge, P. der Uebrigen nur, daß diefe neben den Eingejegten Erben 
werden, neben suis auf einen Kopftheil, neben extraneis auf die Hälfte. Dazu 
gejellte fich fpäter die Rückſicht theils auf folche übergangene Notherben, deren 
Eriſtenz dem Teftator nicht bewußt geweien, theils auf den nach der Teſtaments⸗ 
errichtung irgendwie entſtandenen suus (postumus), welcher, wenn nicht im Voraus 
eingeſetzt oder enterbt, das Teſtament rumpirt. Weiter ging der Prätor; er verhieß 
allen Denen, welche die bon. poss. intestati unde liberi haben würden, eine bon. 
poss. contra tabulas, d. 5. gegen die Zejtamentsurfunde, wenn jene liberi darin 
übergangen oder nicht gehörig enterbt worden, aber mit der Wirkung, daß nur 
die Erbeinjeßungen vorläufig verdrängt, dagegen andere Verfügungen, namentlich zu 
Gunſten kognatischer Defcendenten und Aſcendenten, bis zum Betrage eines Kopf— 
theild aufrechterhalten werden. Nachdem Juftinian noch im Goder die Voraus— 
fegung des civilen bzw. prätorifchen Notherbrechts in das Erforderniß der Einſetzung 
oder namentlichen Enterbung aller sui und postumi bzw. alfer liberi umgeftaltet 
hatte, fchritt er jpäter in der Nov. 115 fort zur Berjchmelzung des formellen Noth- 
erbrechts mit dem Pflichttheilgrecht: Defcendenten und Nijcendenten haben einen ge— 
jeglichen Anſpruch nicht blos auf PflichttHeilshinterlaffung, jondern jchlechthin auf 
Grbeinjegung, welcher Anspruch ihnen nur zur Strafe, und zwar unter Anführung 
eines novellengemäßen und wahren Ausjchließungsgrundes, jei es durch Uebergehung 
ſei es durch Enterbumg entzogen werden kann. 

II. Nunmehr ift P. nicht mehr Verlegung einer unabweislichen Formvorſchrift, 
jondern gleich der unmotivirten Enterbung: eine unverdiente Kränkung des gejeglichen 
nur aus beitimmtem Grunde entziehbaren Anſpruchs auf die Ehre der Erbeinjegung, 
und zwar der Micendenten wie der Dejcendenten. Zwar ift das Recht der Nov. 115 
von jeher und durchweg beitritten; allein nach richtiger Anficht war es mit dem 
jeitherigen formellen Notherbrecht fortan unvereinbar. Der Uebergangene, gleichtvie 
der grundlos Gnterbte, jtellt nach wie vor die hereditatis petitio ab intestato an, 
nunmehr aber unter Berufung auf Verlegung jener Novellenvorſchrift (antizipirte 
Replik). — Auf ganz anderer Grundlage jußt die Fyortentwidelung des P.rechts in 
den Gejehgebungen der Neuzeit. Gemäß der antirömifchen Auffaffung: die Erbfolge 
vermittelt nicht perjönliche Repräjentation, ſondern lediglih VBermögensübergang, 
tolglich ift auch die Erbeinſetzung feine Ehrenjache mehr, jondern Verwirklichung eines 
geieglichen Anrechts auf materielle Güter, fichern fie den nächjten Angehörigen nur 
den Anſpruch auf Hinterlaſſung einer Nachlaßquote (PflichttHeil), nicht aber auf 
Grbeiniegung als ſolche; was um jo unabweislicher war, als der letzte Wille eine 
Grbeinfegung überall nicht mehr erfordert, als gejegliche und letztwillige Nachfolge 
neben einander beitehen fünnen. So brach die an fich morjche Ruine des Juſtin. 
Notherbrechts zuſammen. Nur Pflichttheilserbrecht giebt es, bald jchlechthin unent— 
jiehbares (Code civil), bald nur aus Gründen von bejchränkterer Anzahl entziehbares 
(Preuß. Allg. ER. und Sächſ. BGB.) Der Code civil gejtattet überall feine 
Grberedation, erwähnt auch der P. nicht, jondern giebt, wenn die disponible Portion 
überichritten ift, dem heritier l6gitimaire eine einfache Reduktionsklage (j. d. Art. 
Querela inofficiosi). 

III. Dagegen kennt mit dem Preuß. Allg. ER. und Oeſterr. BGB. das Sächſ. 
BGB. jowol Enterbung ala Uebergehung der Pflichttheilsberechtigten, veriteht aber 


128 Prävarifation — Prävention. 


unter leßterer zweierlei: 1) die abfichtliche Uebergehung, d. h. Nichthinterlafjung 
des Pflichttheild durch Stillichweigen über einen bekannten Pflichttheilberechtigten; 
2) unabjichtliche Uebergehung, d. h. Nichterwähnung eines Pflichttheilaberechtigten 
aus Unbefanntichaft mit demfelben (Irrthum); jo, weil deſſen Recht durch Nach— 
geburt oder anderweit erſt jpäter entitanden, weil derjelbe für todt gehalten oder 
jein Dafein oder Anſpruch dem Teftator unbekannt geweſen. Die Wirkungen folder 
Uebergehung beftimmen jene Gejeßbücher verjchieden, am folgerichtigften das Sächſiſche 
dahin, daß im Falle 1 die Anfechtung des letzten Willens nur bis zum Betrage 
des Pflichttheils geftattet wird, im Falle 2 aber der (irrthümlich) Uebergangene 
fein volles geſetzliches Erbrecht verfolgen kann, jomit den inftituirten extraneus gan, 
verdrängt, neben eingejegten gleichnahen Pflichttheiläberechtigten aber als gefetzlicher 
Erbe eintritt. 
Lit. u. Quellen: Frande, Das Recht der Notherben ꝛc. 88 2 ff. — Shmibt, Tai 
—— Recht der Notherben, ©. 18 fi. — Schröder, Dad Notherbenrecht, I. (1877). — 
da Rö . Erbrecht, IV. IB XII. — Windſcheid, Lehrb., III. 5 576 fi. — Inst. 2, 
13. — D. 28, 2. 37, 4. — C. 6, 28. 9. — Nov. 115, c. 3-5. — Code civ. art. 913 ff., 920 fi. — 
Preuß. Allg. ER. II. 2 SS 492 ff. 442 ff. — Oeſterr. BEB. SS 776 ff., 1254. — Sächſ. BEL. 
ss 2600 ff., 2564. — Mommijen, Erbr.:Entw., SS 498 ff. Schüße. 


Prävarikation (Th. I. S. 748) im eigentlichen Sinne begeht der Ankläger, 
welcher mit Uebertretung jeiner Pflicht den eines öffentlichen Verbrechens Angeklagten 
begünftigt. So bedroht $ 346 des Deutſchen StrafGB. denjenigen Beamten mit 
Strafe, welcher in der Abficht, Jemanden der gefeglichen Strafe rechtswidrig zu ent 
ziehen, die ihm obliegende Verfolgung einer ftrafbaren Handlung unterläßt, oder 
eine Handlung begeht, welche geeignet ft, eine Freiſprechung oder eine dem Geſetze 
nicht entiprechende Beitrafung zu bewirken, oder die Volljtrefung der ausgejprochenen 
Strafe nicht betreibt, oder eine gelindere als die anerkannte Strafe zur Volljtredung 
bringt. Im abgeleiteten Sinne ift Derjenige einer P. jchuldig, welcher, ver: 
pflichtet jtreitige Nechte zu vertreten, den Gegner ſeines Machtgebers begünitigt. 
So erflärt $ 356 des Deutjchen StrafGB. denjenigen Anwalt oder Rechtsbeiſtand 
für jtrafbar, welcher in den ihm amtlich anvertrauten Angelegenheiten in derjelben 
Rechtsjache beiden Parteien durch Rath oder Beiſtand pflichtwidrig dient. Diele 
Faſſung läht die alte Streitfrage offen, ob das Gejeß auch denjenigen Anwalt ſtrafen 
will, welcher, in einer jpäter anhängig werdenden Rechtsjache einen Auftrag feines 
früheren Gegners annimmt, während diefer Auftrag dafjelbe Geſchäft wie der frühere 
Prozeß betrifft. Doch gebietet $ 31 der Rechtsanwaltsordnung dem Rechtsanwalt 
jeine Berufsthätigkeit zu verfagen, wenn fie von ihm in derſelben Rechtsſache bereits 
einer anderen Partei im entgegengejegten Intereffe gewährt iſt. 


Lit: Feuerbach, Lehrb., $ 425. — v. Schwarze und Oppenhoff, Kommentar zu 
SS 346 u. 356 des Deutjchen Straf®B. v. Kräwel. 


Prävention ift vorhanden, wenn eine Partei, jei es dem Gegner oder im 
Strafverfahren dem fonkurrirenden Berfolgungsbeamten, durch Erhebung der Klage 
bei einem Gericht zuvorgekommen iſt und dadurch einen beftimmten Gerichtaftand 
für das weitere Verfahren begründet hat. Der Ausdrud ift offenbar der1.7 D.5, 1 
entlehnt, welche an einem konkreten Fall die Regel aufitellt, daß bei einmal erhobener 
Klage der Beklagte dem Gerichtsjtand unterworfen bleibt, auch wenn er nachher 
3. B. durch Privilegium einen anderen erhalten hat („quasi praeventus“, vgl. auch 
l. 19 pr. D. 2, 1; 1. 7, 80 D. 5, 1). Außer diefem Fall ift aber die P. ſowol 
im Givil- als Strafprozeß bei einem Zufammentreffen der Gerichtaftände von 
Bedeutung. 

I. Im Civ.Prz.; hier find zwei Fälle denkbar: 

1) Beide Theile find zur Uebernahme der Klagerollen gleichberechtigt, jo bei 
den jog. judicia duplieia: Theilungsflagen und interd. retin. possessionis; ſowie 


Präpention. 129 


bei einem Servitutenftreit, wenn der Eine die actio confessoria, der Andere die 
negatoria anjtellt. Hier ift die P. wichtig, weil mit der Entfcheidung über dieſe 
gleichzeitig die bedeutenden Tragen über Beweislaft ꝛc. geregelt werden. Das Röm. 
Recht läßt den eriten Anruf die Parteirolle firiren (1. 13 $ 29 D. 5, 1) und jpricht 
damit wol indireft aus, daß das mit der Klage beiakte Gericht zuftändig wird und 
bleibt. Das Kan. Recht und die Reichsgeſetze knüpfen jedoch diefe Wirkungen erſt 
an die Inſinuation des erften Dekretes an den Beklagten (Gloffe zu C. 59 X. 2, 28; 
RHD. II. 8), dafjelbe ift auch der Standpunkt der REPO. SS 230, 235 Nr. 1. 

2) Sehr häufig find mehrere Gerichtajtände des Beklagten vorhanden, unter 
welchen dem Kläger die Wahl zufteht. Hier liegt die Bedeutung der PB. in der 
Frage, wie lange der Kläger von der einmal getroffenen Wahl wieder abgehen kann 
oder mit anderen Worten, wann für den Beflagten der Einwand dieſer Rechts- 
hängigfeit begründet if. Die Römijchen Vorfchriften erwähnen ala Zeitpunkt diefer 
P. die Antwort des Beklagten auf die lage (l. 183 C. 7, 17;1.481C.2,2, 
welche jedoch nicht gloffirt ift). Deswegen wollen Einige die PB. erſt mit der Litie- 
fontejtation eintreten laffen, während Andere mit Recht und geftüßt auf Nov. 112 
e. 3; 2. Cl. 2, 5, jowie auf die erwähnten RGeſ. jchon der Infinuation in der 
gehörigen Form diefe Wirkung beilegen. Im Falle mehrerer gleichzeitiger In— 
Iinuationen entjcheidet das Loos (l. 14 D. 5, 1). — Hier liegt gleichzeitig in der 
P. eine billige Rüdfichtnahme auf den Beklagten, auch verhütet fie, daß derjelbe 
Rechtäftreit doppelt verhandelt werde. Man hat deshalb in neuerer Zeit injoweit 
den Begriff der P. überhaupt in Abrede geitellt, weil in diefem Falle von einem 
„Zuvorfommen“ nicht die Rede jein kann. 

Doktrinell wurde die P. aus einem doppelten Gefichtspunfte gerechtfertigt. In 
älterer Zeit (Pütter) vindizirte man den Gerichten ein Necht auf P. unter An— 
mendung der Befibgrundjäße (1. 10 D. 20, 1), was namentlich für die mit der 
Gerichtsbarkeit verbundenen pefuniären Vortheile von Bedeutung war. Diejer Anficht 
ichließt fich in neuerer Zeit noch Linde an, während die heut herrſchende Anficht 
nur für den Bellagten aus der P. das Recht herleitet, vor dem einmal angerufenen 
Gericht auch fein Endurtheil zu erlangen, Praktiſch iſt diefer Streit deswegen, weil 
nad) der erften Grklärungsweije ein Kompromiß der Parteien über die P. unzuläffig 
ift, das andere Gericht auch über die ihm befannt gewordene Litispendenz von Amts— 
wegen Rüdjicht nehmen muß (Präj. des Preuß. OTrib. vom 12. April 1833 — 
Schlei. Arch. I. ©. 214). 

Von den Partifularrechten befand fih nur die Allg. Ger. Ordn. auf dem Stand 
punkt der alten Anficht, während die übrigen der neuen folgten. Die CPO. 
rür das Deutjche Reich firirt die P. an die Erhebung der Klage, d. 5. an die Zu— 
ftellung ($$ 230, 235); fie begründet die Ginrede der Nechtshängigfeit und wird 
durch eine Beränderung der fie begründenden Umftände nicht berührt (Motive, 
S. 467). Eine P. kann jelbitverftändlich nur ftattfinden, wenn eine Wahl mehrerer 
Gerichtäftände vorliegt, wie dies nach $ 35 geftattet ift. 

I. Im Strafprz. ſoll die P. ebenfall® den Gerichtäftand im Fall eines 
Zujfammentreffens oder einer Kollifion regeln. Dergleichen findet ftatt, wenn ent— 
weder mehrere Gerichte verjchiedener oder defjelben Staates die Zuftändigfeit für fich 
in Anfpruch nehmen, jene, wenn 3. B. ein Verbrechen auf der Grenze begangen 
wurde oder während einer Eifenbahnjahrt durch verjchiedene Territorien; dieſe wenn 
gleichzeitig mehrere fora begründet jein fünnen (del. commiss., deprehensionis, 
domicilii) oder KHonnerität vorhanden if. Schon im Gem. Strafßrz. gilt die P. 
als ein Recht des Gerichts, über welches im Zweifel nicht durch das Loos, jondern 
durch das gemeinfame Obergericht entjchieden wurde. Die P. wurde jedoch nur 
durch Handlungen begründet, welche gegen die Perſon des Beichuldigten, als jolchen, 
gerichtet waren, alfo nicht durch die bloße Feſtſtellung des objektiven Thatbeitandes. 
Ties ift auch im Ganzen der Standpunkt der Partikulargejege, welche ſich nur da= 

vd. Ooltzendorff, Enc. II. Redtäleriton III. 3, Aufl, 9 


130 Precarium, 


durch unterfcheiden, daß ein Theil jchon in jedem Antrag der Staatsanwaltichaft 
gegen eine bejtimmte Perjon (Preuß. Gef. vom 3. Mai 1852 Art. 4; Hannov. 
StrafPD. 8 26), die Mehrzahl erft in der gerichtlichen Eröffnung der Unterfuchung 
einen ausreichenden P.akt fieht. Letzteres ordnet auch die StrafPD. für das Deutiche 
Reich an, mit dem Hinzufügen, daß das gemeinjame Obergericht auch noch im Laufe 
der Unterfuchung die Fortjegung oder Enticheidung einem anderen zuftändigen Gericht 
übertragen fann, falle dies im Intereſſe der Sache liegt (Motive, S. 132, nad 
Vorgang des Preuß. Gef. vom 3. Mai 1852 Art 4; Preuß. StrafPO. von 1867 
Art. 40; Thüring. StrafP OD. Art. 59). Wenn die Unterfuchung ala eröffnet gilt, 
hängt von dem einzelnen Fall ab, es ift dies bald die Eröffnung des Haupt: 
veriahrens ($ 168), bald die der VBorunterfuchung, bei der Privatllage die Ent: 
icheidung des Gerichts über die Gröffnung des Hauptverfahrens ($ 423), bei Vor: 
führung des Beichuldigten in Ihöffengerichtlichen Sachen der Beginn der Verhandlung 
($ 211), bei Ausdehnung der Aburtheilung auf eine neue That der diefe Ausdehnung 
anordniende Gerichtöbeichluß ($ 265), der amtärichterliche Strafbeiehl ($ 447), die 
Ladung zur Hauptverhandlung bei Strajbejehlen der Polizei (5 456), der Steuer: 
behörden ($ 462) und im jog. objektiven Strafverfahren ($ 478). — Endlich findet 
auch ber Grundjaß der P. Anwendung, wenn von mehreren Staaten an einen anderen 
‚ein Gefuch um Auslieferung gejtellt wird (Bundesbefchluß vom 26. Januar 1851). 


Quellen: 11. 7, 380 D. 5, 1. — 1. 19 pr. D. 2, 1.— C. 19 X. 2, 2 unb die Gloffe. — 
.4$1C2, — 188 C.7, 17. Han: 112 cap. 3, 2. — Cl. 2, 5. — Li. 13, 29 D.5, 
1. —RD, . Tit. 11. $ 8. — Preuß. Allg. Ger.D., Eint., $ 166. — Hannover $ 190. — Babden 


$ 269. ürttemb. "rt, 58, 326. — Bayern ‚At, 179. — Deut ticher Entwurf $ 227. — 
REPD. $8 35, 290, 235. — Für den Strafrg,: LTDEL- LM. 2.7. — ie 
C. 2,2. — C.% 10, 1, 29. — C. 10 10, 1, 30. — Preuß. Geleh vom 3. Mai 1852 Art. 
4. — Prz.Ordn. Ren die neuen Provinzen vom 25. Juni 1867, Art. 40. — Code d’instr. 


art. 28, 63, 69. — Bab. Prz. Ordn. von 1864 Art. 55, 56. — Hannover $ 17. — Sachſen 
Art. 49. — Re Art. 55 ff. — Oldenburg Art. Fr 35 $ 2. — Württemb. Art. 23 ff. — 
RStrafPO. S 12. 
git.: Pütter, De —— (op. acad. rem jud. imp. ill. II). — Sintenis, Erl. 
u Linde's Giv.Pr;., 56 fi. — Linde im a ai eiv. Prar. XXVI. 3. Namentlich 
Brand, Mehrh. v. Rectäftt ss 38—42, bei. S. 295 fi. — Zahariä, Handbuch bei 
trafPrz. I. $ 57. — Die Denmetarı zur Giv. und ) Snap. vgl. bezügli ber leßteren 
* Radler, Die Strafgerichtäverfaflung und das Strafverfahren des Deutichen Fer 1879, 
. 118. ayſe r. 


Precarium iſt die Ueberlaſſung einer Sache auf beliebigen Widerruf. Das 
P. unterjcheidet ſich 

1) von der Schenkung dadurch, daß es fein Recht überträgt. 

2) vom Kommodate dadurch, daß dem Gebrauche der überlaffenen Sache nicht 
von vornherein eine bejtimmte Grenze gejeßt und der precario dans nicht verpflichtet 
ift dem Empfänger die Sache bis zu gemachtem Gebrauche zu belaffen. Mit dem 
P. kann auch eine conductio verbunden, d. 5. es kann dem Empfänger die Leiftung 
einer Vergütung auferlegt jein, ohne daß dadurch der Verleiher irgend welche Ber: 
pflichtung übernähme Im Gegenjage zum bloßen Kommodatar iſt der precario 
accipiens, es wäre ihm denn ausdrüdlich nur die Detention überlaſſen, juriſtiſcher 
Befiger der Sache; bejtritten iſt ob dieſer Bei ein anomaler (jog. abgeleiteter), 
weil nicht mit dem regelmäßig zum juriftiichen Befige erforderlichen Bewußtjein 
eigener Machtvolllommenheit verbundener, ſei. Es ift aber jenes Bewußtjein aus 
geichloffen durch das Bewußtjein prefären von einem fremden Willen abhängigen 
Habens und erklärt fich der dem Prelariſten zugeſtandene Beſitz der Sache daraus, 
daß er in Ermangelung jeder dem precario dans ihm gegenüber obliegenden Ber: 
pflichtung ohne die Annahme juriftischen Beſitzes des Schutzes gegen Dritte ent: 
behren würde. 

Dem precario dans jteht gegen den Empfänger ohne Weiteres, d. h. ohne daß 
es vorher des Widerrufes bedürfte, welcher ja in der gerichtlichen Abforderung ent: 


Preoarium. 151 


halten ift, nicht mur die Geltendmachung jedes in feiner Perfon begründeten ding- 
lien Rechtes, fondern außerdem 

1) das interdietum de precario zu. Seit Savigny pflegt diejes ala inter- 
dietum recuperandae possessionis aufgefaßt zu werden, wogegen neuerdings fein 
pofiefforifcher Charakter vielfach beftritten wird. Jedenfalls num unterjcheidet es fich 
von anderen Befibllagen dadurch, daß es nicht jowol den Beſitz des Klägers ala 
vielmehr die prefäre Natur des dem Beklagten zuftehenden Beſitzes geltend macht. 
Macht es geltend, daß der Beſitz des Beklagten lediglich auf der Geſtattung des 
ſtlägers beruht und daher nicht gegen deſſen Willen behauptet werden darf, jo mag“ 
es immerhin als Befitflage gelten; denn es macht den Beſitz des Beklagten geltend 
ala einen dem Kläger gegenüber nicht in Betracht fommenden, macht alio geltend, 
daß im Berhältniß zum Beklagten der Kläger, von welchem jener feinen Befit hat, 
als Befiger zu behandeln ſei. Das Interdikt ericheint alſo nicht jowol, wie Savigny 
annimmt, dem interd. de vi al® den interdicta retinendae possessionis analog; in— 
dem es nicht durch Vorenthaltung der Sache troß erfolgten Widerrufes bedingt ift, 
gründet es fich nicht auf vitiöfe Entziehung des klägeriſchen Befites, jondern darauf, 
dab der Kläger im Verhältniß zum Beklagten ala einem lediglich Eraft jeiner Ge- 
ſtattung Beſitzenden ala Beſitzer behandelt wird. 

Gegen den poffefforiichen Charakter des Interdiktes kann nicht eingewendet 
werden: 

a) daß es feinen juriftiichen Befit des Klägers vorausjege, denn dadurch, daß 
er einem anderen den juriſtiſchen Beſitz precario überläßt, gerirt fich der Detentor 
al juriftiicher Befiger. Ebenjowenig widerlegt die Annahme poſſeſſoriſchen Charakters 

b) der Ausichluß des Interdiktes gegen den Gigenthümer, da bier der vom 
Interdikte geltend gemachte prefäre Charakter des Befiges nicht zutrifft. 

2) Eine vertragsmäßige Verpflichtung des Prefariften zur Nüderjtattung 
wurde fpäter dadurch anerfannt, daß dem precario dans eine actio praescriptis verbis 
zuerfannt wurde. Während das Interdikt auf Rejtitution oder Entichädigung wegen 
ihres Unterbleibens nur zuſteht gegen den Befiter und denjenigen, welcher dolo malo 
possidere desiit: jo geht jene Vertragsflage auch auf Erſatz jeder durch grobe Ver— 
nadhläffigung der Sache dem Kläger zugefügten Schädigung. 

Die Verpflichtung des Prekariſten 

1) entſteht durch Empfang des juriftifchen Beſitzes vom precario dans. Der 
Bei des Empfängers wird 

2) aus einem prefären ein ungerechtfertigter durch Widerruf, jowie, falls der 
fortdauernde Wille des precario dans ala pofitive Bedingung geießt ift, durch den 
Untergang jeiner Perfon oder Willensfähigkeit,; während andernfalls der Beſitz des 
Empfängers den Erben des DVerleiherd gegenüber jeine prefäre Natur behält. Da— 
gegen exjtrect fich die dem Empfänger ertheilte Konzeffion nicht auf jeine Erben; 
doch fteht das Interdikt nach Ulpian’s freilich von Geljus und Papinian (l. 11 D. 
de div. temp. praescr. 44, 3) wibderfprochener Anficht auch gegen den Erben zu. 
Dieje Ausdehnung des Interdiftes ift analog der Erjtredung der Deliktsflagen gegen 
die Erben, indem es gegen den Erben geht ala Subjekt eines ungerechtfertigten vom 
Kläger berrührenden Befites 

Während manche (mit Unrecht) behaupten, daß dem Gem. Rechte die Unter— 
ſcheidung des P. vom Kommodate fremd ſei, iſt dieſelbe im Preußiſchen ER. feſt— 
gehalten, dagegen behandeln andere Geſetzgebungen wie der Code Napoleon und das 
Züricher BGB. ($ 1129) das P. ala einen bejonderen Tall de Kommodates. 

—— D. 43, 26 de precario. — C. 8, 9 de precario et Salviano. — Preuß. 


Alg. ER. I 21 88 231° ff. 

@it.: Windiheid, $ 376. — Vangerow, $ 691. — Sintenis, I. S. 551 ff. — 
Brinz, 2. Aufl, ©. 184. — Dernbur , Preuß, Privatrecht, II. $ 174. — Kritz, Pan: 
beftenrecht, I. 1 &. 315 f. (1837). — ©. &. Schmidt, Das commodatum und precarium 
1841. — Dankwardt in Jhering's Yahrb. XIV. ©. 284 ff. — Ubbelohde im civ. 

9* 


132 Preigeieggebung. 


Arch. LIX. S. 221 fi. — zei) Recht bes Beſitzes, $ 
a 2. Aufl. ©. 97 ff. — Bruns, wir 81 

— Bekker, Recht des Beſitzes, S1 % 17 ff. 
Rechtserfolg (Separatabzug aus Jhering’3 Jahrb. XIX.) ©. 


42. — TE man bes 
5. efiß, 


Randa 2. Aufl., 
Lenel, —*s8 und 


55 fl. 
Hölber. 


Preßgeſetzgebung. I. Die Zeit der Genfur. Dem Beiipiele der fir: 
lichen Gejeßgebung folgend (Bullen Alerander’s VI. von 1496 und 1501, Leo's X. 
von 1515; in einzelnen Deutichen Diözefen analoge Anordnungen jchon jeit dem 
"legten Viertel des 15. Jahrhunderts nachweisbar, jo in Köln jeit 1475, in Mainz 
jeit 1486), verwerthete jeit dem Anfange des 16. Jahrhunderts auch die weltliche 
Macht die Genfur in ihren verfchiedenen Formen ala Waffe im Kampfe gegen geiftige 
Strömungen aller Art. Die Genfur im eigentlichen Sinne, ala eine dem Drude 
vorhergehende Prüfung des Manuffriptes (verichieden von Bücherrevifionen, Ueber: 
wachung der Preßgewerbe, nachträglichen Verboten bereits gedrudter Bücher u. dgl.) 
wird für Deutichland zuerit durch das Wormſer Edift 1521 (nicht, wie regel- 
mäßig angenommen wird, erit 1529) begründet. Landesgeſetze (für Oefterreich die 
Verordnungen Ferdinand's I. vom 12. März 1523 und 24. Juli 1528) und Reiche: 
geiege (Reichsabjchiede von 1529 und 1530) wetteiferten in der Durchführung dei 
einmal ausgefprochenen Gedanken. Anfänglich nur auf die Dauer der firchlichen 
Wirren berechnet, wird die Cenſur zur jtehenden Einrichtung, und tritt uns in völlig 
durchgebildeter Geftalt fchon in der Reichspolizeiordnung von 1548 und in dem 
Reichsabſchiede von 1570 entgegen, welch’ leßterer, der oben angeführten Verord— 
nung Ferdinand's I. für Defterreich von 1528 folgend, die Drudereien auf gewiſſe 
Orte, insbejondere Fürftenfige, angejehene Reichsjtädte und Univerfitätsftädte be: 
ſchränkte. Weitere Anordnungen brachten die Reichspolizeiordnungen von 1577, 
Rudolf's II. Reſtript vom 15. März 1608, das fatjerliche Dekret vom 14. Auguft 
1715 (befonders auch gegen die Profefforen der Rechte fich wendend), das Patent 
vom 10. Februar 1746 (Bücherlommiffion zu Frankfurt a./M.) u. a. m. — Die 
Entwidelung in den außerdeutichen Ländern ging analoge Wege. Allmälig aber 
begann der Gedanke der Preßfreiheit, in dem Sinne von Befeitigung der Genjur der 
Manufkripte, ih Bahn zu brechen. In England wurden jeit 1694 die Be 
ftimmungen über Genfur nicht wieder erneuert; fie war damit jtillichweigend be— 
ſeitigt. In Schweden fiel fie 1766 (definitiv erft 1809); Dänemark gewähr- 
leiftete unter dem Einfluffe Struenjee’s durch das Gele vom 14. September 
1770 „eine uneingejchräntte Freiheit der Preſſe“'; Joſef II., der fchon 1765 eine 
ausführliche Denkfchrift über Cenſur ausgearbeitet, aber in dem berühmten Genfur: 
gejeße vom 11. Juni 1781 die Genjur beibehalten hatte, befreite 1787 die Wiener 
Buchdrucker gänzlich von derjelben, mußte aber am 20. Januar 1790 dieſe Befreiung, 
von welcher die Gegner des Monarchen den jchranfenlofeiten Gebrauch gemacht hatten, 
zurüdnehmen. Beſſer ala unter der Herrichait de aufgeflärten Despotismus be— 
währte die Preßfreiheit fich in den BVerfaffungsftaaten (Nordamerifa, Frank— 
reich [hier wurde die Genfur 1791 abgeſchaſſt, 1805 wieder hergeftellt, 1814 und 
1827 wieder befeitigt], Belgien), während Rußland noch heute an der Genfur 
feithält. — In Deutſchland Hatte Art. 18 der Bundesacte vom 8. Juni 1815 
gleichförmige Verfügungen über P.rreiheit verheißen. Der Bund erfüllte die Wer: 
heißung, wie alle anderen. In Folge der Karlabader Konferenzen gab der Bundes:- 
beihluß vom 20. September 1819 in $ 1 jtatt der B.freiheit der Genfur 
gejeliche Grundlage (für Zeitungen und Zeitjchriiten ſowie für Bücher nicht über 
20 Bogen). Zunächſt nur für fünf Jahre erlaffen, wurde dieſes „proviſoriſche 
Preßgeſetz“ durch Beſchluß vom 16. Oktober 1824 verlängert, „bis man fich 
über ein definitives Preßgefeg vereinbart haben würde.” 

I. Die Zeit der P. Die Macht der Greigniffe ging nach zwei bangen 
Dezennien über jenen Beichluß zur Tagesordnung über. Nachdem der Bund am 


Preßgeſetzgebung. 138 


3. März 1848 den Deutſchen Staaten die Beſeitigung der Cenſur freigeſtellt hatte, 
beſtimmten die Deutſchen Grundrechte vom 21. Dezember 1848 in Art. 4: „Die 
Prehfreiheit darf unter feinen Umftänden und in feiner Weife durch vorbeugende 
Mapregeln, namentlich Genfur, Konzeſſionen, Sicherheitsbeitellungen, Staatsauflage, 
Beihränfungen der Drudereien oder de Buchhandels, Pojtverbote oder andere 
Hemmungen des freien Verkehrs befchränkt, juspendirt oder aufgehoben werden... 
Ein Preßgeieß wird vom Reiche erlaffen werden.“ Aber nochmals jollte die Ent» 
widelung der Prefreiheit gehemmt werden durch die wieder zur Herrſchaft gelangte 
rüdläufige Bewegung. Der berüchtigte Bundesbeijhluß vom 6. Juli 1854 
fonnte zwar die Cenſur nicht wieder einführen, aber andere „vorbeugende Maßregeln“ 
tradhtete er zu konſerviren. Konzeſſion bei Preßgewerben und Entziehung derſelben 
im Verwaltungswege, Verwarnungsſyſtem (avertissements), äußerte Beſchränkung 
des fliegenden Buchhandels, Kautionsbeftellung bei politifchen periodiſchen Druck— 
ichriften, ftrenge Haftung für Preßdelikte ꝛc. — das waren die „Garantien“, die 
man für nöthig hielt, um Mißbräuchen der gewährleifteten „Preßfreiheit” entgegen 
zu wirken. Der Bund Hatte feine Unfähigkeit zur Regelung des Preßrechts mit 
diefem Beichluß klar nachgewiefen; den Ginzeljtaaten oblag e& nunmehr, jelbjtändig 
die Sache in die Hand zu nehmen. — Nur wenige von ihnen führten den Bundes» 
beihluß aus; andere blieben ihren älteren, vor 1854 erlaffenen Gejeßen treu; eine 
dritte Gruppe jchritt jelbjtändig zu neuer gefeglicher Regelung (Meberficht in den 
Motiven zum Entwurf von 1874; vielfach abgedrudt, z. B. bei Berner, Preßrecht, 
©. 64 fi). Hervorzuheben find 1) das Preuß. Gef. vom 12. Mai 1851 (Aende— 
rungen dv. 6. März 1854 und 21. Mai 1860), im Allgemeinen von demjelben Geifte 
beherricht, wie der Bundesbeihluß von 1854; Kommentare dazu don Rönne 
(1851), Schward (1862), Thilo (1862) und Hartmann (1865). Die 
Zeitungäftempelfteuer betreffen die Gef. vom 29. Juni 1861 und 26. September 
1862. Die octroyirte Verordnung vom 1. Juni 1863 führte neue Beichränkungen 
ein. 2) das Bayeriſche Gef. vom 17. März 1850; Kommentar von Brater 
(1853). 3) Das Königl. Sächſ. Ge. vom 24. Mai 1870; Kommentare von 
Bauſch (1870) und Barth (1870) — 4) In Defterreich hatte die P. ſich 
anfänglich überftürzt; dafür blieb fie fpäter zurüd umd hat bis auf den heutigen 
Tag den Geift der fünfziger Jahre nicht los werden können. Auf die Gejeße vom 
31. März 1848, 18. Mai 1848 und 13., 14. März 1849 folgte die durchaus 
reaktionäre Prekordnung vom 27. Mai 1852. Sie wurde am 17. Dezember 1862 
durch das noch heute geltende Preßgeſetz verdrängt. Eine gut gemeinte, aber juriftiich 
ganz veriehlte Novelle vom 15. Dftober 1868 brachte einige weitere Erleichterungen, 
Kommentar von Lienbacher (1863 I. Bd.; 1868 II. Bd). 

II. Die Reihögejeggebung. Art. 4, Nr. 16 der Reichöverfaffung Hatte 
die Beftimmungen über Preß- und Bereinsweien der Beauffichtigung durch das 
Reich unterworfen. Damit war der Anftoß zu einer weiteren gedeihlichen Entwicke— 
lung der ®. gegeben. Schon in der Sitzung vom 2. Mai 1871 erklärte das Reiche» 
fanzleramt einem auf Bejeitigung der Zeitungsfautionen und der richterlichen Unter— 
fagung des Gewerbebetriebes gerichteten Antrage gegenüber, daß fich die verbündeten 
Regierungen für verpflichtet hielten, die gefegliche Regelung des Preßrechts in die 
Hand zu nehmen. Der Neichdtag konnte demnach auf rafche Erfüllung feines 
Wunjches rechnen, ala er in der Sigung vom 10. Mai 1871 den Beichluß faßte, 
„den Reichöfanzler zu erfuchen, dem Reichstage in’ der nächiten Seffion den Entwurf 
eines für das ganze Bundesgebiet geltenden Preßgejeßes vorzulegen.“ Allein die 
Vorlegung des Entwurfs verzögerte ſich don Seifion zu Seſſion. Endlich jah fich 
der Reichötag veranlaßt die Jnitiative zu ergreifen. Windthorft (Berlin) und 
Genofjen legten am 12. März 1873 dem Haufe einen Entwurf vor, der im MWefent« 
lichen die Beichlüffe des 6. und 7. Yournaliftentages (1871 und 1872) wieder: 
holte. Am 19. März 1873 wurde der Entwurf einer Kommiſſion von 21 Mit: 


134 Preigeieggebung. 


gliedern überwiefen. Biedermann erftattete den Bericht. Aber bei der zweiten 
Lefung, am 29. Mai 1873, ließ das Haus auf Wunsch des Reichskanzlers, der die 
baldige Borlegung des Regierungsentwurfs in Ausficht ftellte, jeinen Entwurf fallen. — 
Am 11. Februar 1874 wurde der Regierungsentwurf vorgelegt, am 20. Februar 
der eriten Berathung unterzogen, und hierauf an eine vierzehngliedrige Kommiffton, 
zuſammengeſetzt aus Juriften und Vertretern hervorragender Preßorgane verjchiedener 
Richtung, überwieſen. Marquardſen wurde mit der Berichterftattung betraut 
(die von der Kommiffion an der Regierungsvorlage vorgenommenen Veränderungen 
bat Marquardjen in feinem Kommentar, ©. 19, zufammengeftellt). Die zweite 
Lejung begann am 16. März 1874 und wurde am 24. März beendet. Allein 
der Entwurf, wie er aus der zweiten Lejung hervorging, wurde von den Regierungen 
ald unannehmbar bezeichnet. Um die Differenzpunfte zu befeitigen, traten die Mit 
glieder der bisherigen Kommiffion mit den Bundesfommiflären von Brauchitſch 
und von Schelling zu freier Berathung zufammen. Die GErgebniffe derjelben 
wurden in der von Marquardien, v. Forcade und v. Schwarze redigirten 
Faſſung als deren Anträge bei der dritten Leſnng vorgelegt; fie betrafen das 
Kolportiren von Drudjchriiten durch jugendliche Perfonen, den Umfang des Be 
richtigungszwanges, die Provokation auf gerichtliches Gehör im Berichtigungäver- 
fahren, das politische Plakat, die Haftung des Redakteur, die preßrechtliche Fahr— 
läffigkeit, die vorläufige polizeiliche Beichlagnahme. In der Situng vom 24. und 
25. April 1874 wurden die Anträge genehmigt, und das Geſetz jelbit im dritter 
Leſung beichloffen. Die Kaiferl. Publikation erfolgte am 7. Mai 1874; die Gejehet- 
kraft trat am 1. Juli 1874 ein, während die Einführung in Elfaß-Lothringen einem 
bejonderen Gejeße vorbehalten wurde. — Wenn wir den bdurchichnittlichen Stand 
der Gejeßgebung in den meijten Theilen Deutjchlands bis zum Jahre 1874 ins 
Auge faffen, jo ergiebt fi, daß das Reichspreßgeſetz in folgenden Punkten wejentliche 
Verbeſſerungen gebracht hat. Nachdem fjchon die Gew.D. vom 21. Juni 1869 das 
Konzefjionensyftem auch bezüglich der Preßgewerbe beifeitigt hatte, hob das 
RPreßGeſ. auch die richterliche Entziehung der Gewerbebefugniß vollitändig auf. Die 
ichwerdrüdenden finanziellen Belaftungen der Prefje wie Zeitungsitempel-, Kalender: 
und Inferatenfteuer, ferner die Hautionspflicht der politifchen periodijchen Preſſe ent- 
fielen. Die Entziehung des Poftdebits wurde beichränft, die Regelung des Plafat- 
wejens der Landesgeſetzgebung überlaffen. Der präventive Charakter der Probeeremplare 
wurde gemildert, der Berichtigungszwang (übermäßig) beſchränkt. Auch bezüglich 
der Haftung für Preßdelikte find gewiffe Erleichterungen eingetreten, wenn auch der 
zweite Abſatz des $ 20 in der Praris nicht jo fungirt ala man gehofft hatte. Da: 
gegen ift insbefondere die vorläufige polizeiliche Beichlagnahme geblieben, und bie 
Beichränfungen, denen fie unterworfen wurde, können auf große praftifche Bedeutung 
feinen Anſpruch machen. — Sonach bedeutet das Neichspreßgejeh gewiß einen ort: 
jchritt in freiheitlicher Richtung. Das muß die Deutiche Preife dankbar anerkennen ; 
mag fie immer betonen, daß größere FFortichritte hätten gemacht werden können: 
heute handelt es fich in erjter Linie darum, das Errungene zu vertheidigen, die er- 
ftrittene Pofition zu behaupten. 

IV. Auswärtige Gejeßgebung: 1) England. a. Die Verantwortlich: 
feit für Preßdelikte beftimmt fich nach den allgemeinen Srundjägen des Strafrechtes. 
Wer an der Veröffentlichung (publication) eines ftrafbaren Preßerzeugnifjes mit- 
gewirkt hat, haftet für deifen Inhalt. Der Inhaber eines Preßgewerbes hat auch 
das BVerfchulden feiner Leute zu vertreten; doch fteht ihm jeit der Lord Campbell’s 
Act (6 und 7 Victoria c. 96) vom 24. Auguſt 1843 der Gegenbeweis offen, daß 
die Veröffentlichung ohne feinen Auftrag, feine Zuftimmung, fein Wiffen erfolgte und 
nicht veranlaßt war durch einen Mangel an Aufmerkjamkeit von feiner Seite (want 
of due care and caution on his part). Die Zuläffigkeit diejes Ginwandes in dem 
Verfahren gegen Zeitungseigenthümer ift äußerft bejtritten (vgl. über den Fall 


Preigeiegebung. 135 


Regina v. Holbrook bie Schrift von Ford, The law of libel as applied to news- 
papers, Zondon 1879). Ueber den beftrittenen Begriff des Libel vgl. Flood, 
A Treatise on the Law concerning Libel and Slander, 1881. — b. Nach der 
Parlamentsacte 6 und 7 Will. IV. c. 76 mußte auf jeder Zeitung Name des 
Druder8 und Verlegers angegeben jein; jeit der Acte von 1869 (32 und 33 
Viet. c. 24) genügt Angabe des Druderd. Die Verpflichtung zur Kautions— 
beitellung entfiel 1869. Die Injeratenabgabe wurde 1853, der Zeitungs— 
ftempel 1855, die Papieraccije 1861 abgeſchafft. Val. Griffith, A Digest of the 
Stamp Duties, 8. Aufl. 1880. — Neues Gefeg in Vorbereitung. — c. In Englijch- 
Indien wurde 1878 durch die Vernacular Indian press law die Genjur eingeführt. 
(Vgl. darüber Dacosta, Remarks on the Vernacular . . . law, 1878.) 

2) Frankreich. Das Franz. Preßrecht beruht auf einer bunten Menge von 
aus verichiedenen Jahrzehnten ftammenden, nur durch denjelben Mangel an freiheit- 
lihem Geijte zujammengehaltenen Gejegen. a. Die Amvendbarkeit der allgemeinen 
ftrafrechtlichen Grundſätze ift mehriach durchbrochen. Einmal durch die der period. 
Preffe (ichon jeit dem Jahre IV der Republik) obliegende Verpflichtung zur Bes 
ftellung eines gerant responsable, der Miteigenthümer des Blattes (bis 1871 auch 
Eigenthümer eines Viertels der Kaution) jein muß, die Redaktion leitet, jede Nummer 
unterzeichnet, und für den Inhalt derjelben im vollen Umfange haftet (Gef. vom 
18. September 1828). Politiſche, philofophifche und religiöfe Artikel müfjen von 
dem Berfafjer unterzeichnet fein (Gef. vom 16. Juli 1850), und dürfen nicht 
aufgenommen werden, wenn diejer fich nicht im Vollbeſitze der bürgerlichen Ehren— 
rechte befindet (Gef. vom 17. Februar 1852 und 10. Mai 1868). Andererjeits 
liegen im Code penal von 1810, Art. 283 ff. (durch die fpätere Gejeßgebung viel» 
fach durchbrochen) die Keime des „Belgiſchen“ Syſtems, der ausfchließlichen und 
ftufenweijen Haftung, indem die Berufung auf den Vormann (Berbreiter, Druder, 
Berfafier) gejtattet und in den Motiven wie bei den Beratungen mit den erſt 
ipäter befannt gewordenen Schlagworten (dad Gejeg will nur ein Opfer; Nach⸗ 
forſchung d'échelon en é6chelon) gerechtfertigt wurde. — b. Der Herausgabe einer 
periodifchen Drudjchrift muß eine vorläufige Anzeige vorhergehen (Gej. vom 
11. Mai 1868). Politische Blätter unterliegen unbedingt und andere dann, wenn 
he öfter ala einmal in der Woche erjcheinen, der 1870 vorübergehend befeitigten, 
6. Juli 1871 wieder eingeführten Kautionspilicht (3000 bis 24000 Francs). 
Die Kaution haftet für Koften, Schadenserfat, Geldſtrafen. Dauernde und zeitweilige 
Einſtellung des Blattes auf richterlichem Wege iſt gejtattet (Gef. vom 18. Juli 
1828, 27. Juli 1849, 11. Mai 1868). Auswärtige politifche Blätter dürfen 
nur mit Bewilligung der Regierung im Inlande verbreitet werden (Geſ. vom 
17. Februar 1852). — Die Abgabe der Pilihteremplare regeln die Ge. vom 
21. Oktober 1814, 27. Juli 1849, 11. Mai 1868, die Verpflichtung zur 
Aufnahme von Berihtigungen und amtlichen Belanntmachungen die 
Gef. vom 25. März 1822, 27. Juli 1849, 17. Dezember 1852, 11. Mai 1868. — 
e. Dad Druder- und Buchhändlergewerbe wurde 19. September 1870 
freigegeben; doh muß jede Drudichriit den Namen des Druderd enthalten. Die 
Kolportage, nach dem Gefehe vom 27. Juli 1849 an polizeiliche Bewilligung 
geknüpft, ijt durch Gefeg vom 17. Juni 1880 freigegeben worden. — Der Zeitungs— 
tempel wurde 1870 abgeichafft, am 4. Oktober 1871 durch eine Bapierfteuer 
erjetzt. Diefe beträgt 10 Francs für 100 Kilogramm; weitere 20 france für Papier, 
das zum Drude von periodiichen, der Kautionspflicht unterliegenden Drudichriiten 
beftimmt iſt. — Ueber die Verfolgung und Beitrafung der Preßdelikte find zu 
vergleichen die Gef. vom 29. Dez. 1875 und 3. Januar 1876. — Ein neue, 
durchaus freifinniges, Preßgefeß ift gegenwärtig (Mai 1881) der parlamentarifchen 
Berathung unterbreitet. 


136 Breigewerbe. 


3. Belgien. Das berühmte Belgifche Syftem beruht auf den oben er 
wähnten im Franz. Code pénal ausgejprochenen Grundfägen. Nach Art. 18 der 
Verfaſſung und Art. 11 des Preßdefretes vom 20. Juli 1831 können Verleger, 
Druder, DVerbreiter nicht verfolgt werden, wenn der Verfaffer befannt und im Ins 
lande wohnhaft ift. Nennung des Vormanns entjchuldigt alſo; bei Nichtnennung 
tritt volle Haftung für den Inhalt ein. Mehrere Perfonen können dann gleichzeitig 
zur Berantwortumg gezogen werden, wenn fie außerhalb ihrer Gejchärtsthätigfeit mit— 
gewirkt haben (jtehende Praxis der Belg. Gerichte; in Deutjchland meift überjehen). 

4. In Italien gilt das Sardinifche Geſetz sulla stampa vom 26. Mär 
1848. Man vgl. auch die tal. Entwürfe eines Polizeiftraigefeßbuches. — Däne: 
marf, Preßgej. vom 3. Januar 1851. — Norwegen, StrafGB. von 1842 Kap. 
25. — Schweden, Drudfreiheitöverordnung vom 16. Juli 1812, revidirt 1879. — 
Spanien, Geſetz vom 7. Januar 1879 (neues in Vorbereitung). — Luremburg, 
Preßgeſ. vom 20. Juli 1869. — Holland, Gel. vom 28. September 1816, 
StrafGB. vom 3. März 1881 Art. 53 und 54. 


Lit.: 1) Deutſches und Defterr. Recht: Hoffmann, Geſchichte ber Büchercenfur, 
1819. — Sadje, Die Anfänge der Büchercenfur, 1870. — Wiesner, Denfwürdigfeiten der 
Defterr. Cenſur, 1847. — Scletter, Handbuch der Deutichen P. 1846. — Gollmann, 
Quellen, Materialien und Kommentar des gem. Deutſchen Prekrechts, 1844. — Bluntſchli— 
Brater, Staatswörterbuch (Auflähe von Braterund Börl, VII Bd. ©. 250 fi., 227 fi.). — 
Rotted-MWelder, Staatöleriton (Biedermann im XI. Bb. ©. 708) — Die Lehrbüder 
des Staat: u. Verwaltungsrechtes von Mohl, Rösler, Bluntſchli, v. Stein. — Die 
im Zerte erwähnten Kommentare zu den Preuß. Bayer., Sächſ., Defterr. Preßgeſezen. — Die 
Kommentare zum u — von Thilo, 1874; v. Schwarze, 1874; Mar- 
auardien, 1875. — Berner, Lehrbuch d. Deutichen Kreßrechts 1876. — Kayſer in 
v. Holtzendorff's Handb. d. Strafrechts, Bd. IV. — v. Liszt, Das Reichspreßrecht, Berlin, 
1880. — Für Oeſterreich: v. Liszt, Lehrbuch des Oeſterreichiſchen Preßrechts, 1878. — 
2) Franzöſ. und Belg. Recht: — Histoire politique et littéraire de la presse en 
France, 1859 ff. 8 Bbe.; Derjelbe, Manuel th&oretique et pratique de la presse, 1868; 
Derjelbe, Bibliographie historique et critique de la presse periodique — 1866. — 
Ravelet, Code mamuel de la presse, 2. Aufl. 1872. — Rolland de Villargues, 
Code des lois de la presse, 3. Aufl. 1876. — Chassan, Trait& des delits et contra- 
ventiong de la parole etc, (2. Aufl... — Parant, Lois de la presse. — de Grattier, 
Commentaires sur les lois de Ja presse. — Rousset, Nouveau code annot& de la presse. — 
de DATaT, Concordances des lois sur la presse. — für Belgien: Schuermanns, 
Code de la presse, 1861 (2. Aufl. 1881). — Thonissen, La Constit. be annotee, 
2. Aufl. 1876, ©. 77 fi. — Haus, Principes gen. du droit penal, 3. Aufl. 1879, L 
©. 289 ff. — 3) Engl. Recht: Lorbeer, Die Grenzlinien der Rebe und Preßfreiheit in 
England, 1851. — Duboc, ag ber Englifchen Sreffe, 1873. — Fiſchel, Berfaffung 
Englands, 2. Aufl. 1864. — Die Arbeiten Önsis über Englifche VBerfafjung und Ber: 
waltung. — 4) De lege ferenda gefchriebene Arbeiten aus neuerer Zeit: Gutachten von 
Glafer (Kleine Schriften IL Bd.) und John an den 6. Juriftentag, — Wahlberg 
in ber Allgem. Deutichen Strafrechtäztg. 1871 (Kleine Schriften I. Bb.). — Lentner, Die 
eg. bes Prefftrafrechts, 1873. — Jaques, Grundlagen ber P. 1874. — Bieder— 
mann, Die Grundlagen eines Deutjchen Reichsgeſetzes über die Prefje, 1871. — Buyn, La 
libert€ de la parole, Amst. 1867. — Celliez, Etude d’un projet de loi sur la responsa- 
bilit€ em matiere de parole et de presse, Par. 1877. — Ollivier, De la libert& de la 
presse, Par. 1880. — Crivellari, La stampa, 1868. — Buccellati, La Libertä di 
stampa, 1880. — Bonasi, Sulla logge della stampa, 1881 (mit dem Preiſe Ravizza —— 
Schrift). — Wenig bekannt aber theilweiſe von Intereſſe: Evertsen de Jonge, drage 
tot de Leer der zoogenaamde „delits de la Presse“, Ultraj. 1847. — Buys (de Geer), 
De jure cogitata communicandi, Amst. 1850. — gl. die Art. Herausgeber, Brei: 
gewerbe, Preßpolizei, Preßftrafredt, Redafteur. = 

v. dt. 


Prefgewerbe. 1. P. find diejenigen Gewerbe, die fich mit der Herſtellung 
und dem Umjage von Drudjchriften bejchäftigen. Dabei wird von der Gejeßgebung 
der Begriff der Drudjchrift hier meilt in engerem Sinne genommen ala im Pref- 
polizeis oder Preitrafrecht (vgl. den Art. BPreßpolizei). Die rechtliche Stellung 
der P. iſt von maßgebender Bedeutung für die Sicherung der Preßfreiheit. Nach 


Preßgewerbe. 137 


der Reichsgeſetzgebung ſtehen die P. im Allgemeinen den übrigen Gewerben gleich, 
während fie nach Oeſterr. Recht den drückendſten Ausnahmsbeſtimmungen unterworfen 
find. Nicht zu den P. gehören: a) die gewerbömäßige öffentliche Verbreitung von 
Drudichriiten (Preßgeſ. $ 5); fie kann durch die Ortspolizeibehörde beftimmten 
Perfonen aus den in $ 57 der Gew.D. angeführten Gründen unterfagt werden ; 
b) die Beförderung von Zeitungen politifchen Inhalts, die öfter als einmal wöchent- 
li erjcheinen, und durch das Reichspoftgej. vom 28. Oktober 1871 dem Poftziwange 
unterworfen find. 

Auf die P. jelbft finden die Beitimmungen der Gew.D. vom 21. Juni 1869 
Anwendung (Preßgeſ. $ 4). Diefe unterjcheidet zwijchen dem jtehenden und dem 
Gewerbebetrieb im Umherziehen; eine Unterfcheidung, die mit den in Bezug auf 
P. bisher üblichen nur theilweife zuſammenfällt. Wejentliche Beichräntungen hat 
auf dieſem Gebiet das Sozialijtengej. vom 21. Oktober 1878 gebracht. 

2. Nach Reichärecht ift der ftehende Betrieb der P. an feine behörbliche 
Bewilligung geknüpft; das Syſtem der Konzeſſionirung iſt aufgegeben. Erforderlich 
iſt lediglich: a) mit dem Beginne des Betriebes gleichzeitige Anzeige deflelben ; 
b) bei gewiffen P. (Buch und Steindruder, Buch» und Kumfthändler, Antiquare, 
Seihbibliothefare, Inhaber von Lejefabineten, Verkäufer von Drudichriften, Zeitungen 
und Bildern find in $ 14 der Gew.D. genannt) Anzeige des Gewerbelofales. — 
Dagegen bedürfen nach Oeſterr. Recht (Gew.D. vom 20. Dezember 1859) einer bes 
fonderen Konzeffion alle Gewerbe, welche auf mechanifchem oder chemijchem Wege 
die Vervielfältigung von literarifchen oder artiftifchen Erzeugniffen oder den Handel 
mit denjelben zum Gegenjtande haben; ferner die Unternehmungen von Leihanftalten 
für derlei Erzeugniffe und von Lefefabineten. Die Photographie wurde 1864 für 
ein freies, die Photolithographie 1870 für ein fonzeifionirtesg Gewerbe erklärt. Der 
Bewerber um die Konzeffion muß Berläßlichkeit, Unbejcholtenheit und genügende 
allgemeine Bildung nachweifen (Gew.D. 88 16, 18, 19). Der Selbjtverlag ijt frei= 
gegeben (Preßgei. von 1862, 8 3); das Recht zur Herausgabe einer periodijchen 
Drudichriit jchließt auch das Recht zum Verlage derjelben in fich (Preßgeſ. $ 3); 
begünftigt ift der Berfauf von Schulbüchern, Kalendern, Heiligenbildern, Gebeten 
und Gebetbüchern (Preßgeſ. $ 3, Gew.O. $ 19). Endlich kann der Verkauf 
periodiſcher Drudjchriften durch Statthalterei oder Polizei beitimmten Perſonen für 
einen zu bezeichnenden Bezirk auf Widerruf bewilligt werden. 

3. Ms „iliegenden Buchhandel“ bezeichnet man den Vertrieb von 
Drudichriften außerhalb beftimmter Verkaufslofale.. So alt wie die Buchdruderkunft 
erfreute er fich jtets bejonderer Aufmerkſamkeit von Seiten der Geſetzgebung, die ihn 
entweder zu unterdrüden oder doch jcharfer Ueberwachung zu unterwerfen juchte. 
Die Formen, in welchen der fliegende Buchhandel auftritt, wechſeln nach Zeitalter 
und Bolkstemperament; immer aber ijt er ein ebenjo wichtiges wie gefährliches 
Ferment in dem geiftigen Leben weitausgedehnter Volksfchichten. Nach der Reichs— 
geießgebung kann der fliegende Buchhandel entweder im Umberziehen oder aber als 
- Ausflug des ftehenden Gewerbebetriebes ausgeübt werden; nach diefem Unterjchiede 
beitimmen fich die ihn regelnden Nechtsjähe. Seine heutigen Formen find: 

a) Das Haufiren mit Drudichriiten oder die Kolportage: der Ber: 
trieb von Drudjchriften im Umherziehen, aljo (RGew.DO. $ 55) außerhalb des 
Wohnortes des Gewerbömannes ohne Begründung einer gewerblichen Niederlafjung 
und ohne vorgängige Beitellung. Die Kolportage ift an die Ertheilung eines auf 
den Namen lautenden Legitimationsfcheines gebunden. Diejer fann Ausländern 
ohne Weiteres, Reichgangehörigen dagegen, die im Inlande domizilirt und 21 Jahre 
alt find, nur aus bejtimmten Gründen (RGew.D. $ 57 abjchredende oder anjtedende 
Krankheit, Verurtheilung wegen gewifler Delikte, Stellung unter Polizeiaufficht, übler 
Leumund) verjagt werden. — In Defterreich ijt das Kolportiren von Drudjchriften 
unbedingt ımd ohne jede Ausnahme verboten (Gew.D. $ 51). 


138 Preigewerbe. 


b) Dad Sammeln von Abonnenten und Subjfribenten Wen 
dafielbe im Umherziehen (RGew. O. $ 55) betrieben wird, unterliegt es denjelben 
Beichränfungen wie der Haufirhandel. Dagegen iſt der Gewerbsmann, der ein 
ftehendes Gewerbe betreibt, ohne Weiteres befugt, auch außerhalb des Ortes feiner 
gewerblichen Niederlaffung perjönlich oder durch in jeinen Dienjten jtehende Reijende 
Beitellungen auf Waaren zu juchen (RGew.O. $ 44), mithin Abonnenten und 
Subjfribenten für die von ihm verlegten oder herausgegebenen Drudijchriften zu 
jammeln. — Nach Dejterr. Recht (Preßgeſ. $ 23) ift dagegen ein von der Sicher 
heitöbehörde auäzuftellender bejonderer Erlaubnißſchein erforderlich, bei deflen Er— 
theilung nicht nur auf die Eigenſchaften und Berhältniffe des Bewerbers, ſondern 
auch auf die Beichaffenheit der Drudjchriften Rücdficht zu nehmen ift. Die Unter 
icheidung des Deutichen Rechtes ijt der Dejterr. Gejeßgebung fremd. 

c) Das Verbreiten von Drudichriiten an öffentlichen Orten 
(durch den crieur, vendeur, afficheur, distributeur sur la voie publique des Franz. 
Rechtes). Die gewerbsmäßige öffentliche Verbreitung erfolgt entweder im Umher— 
ziehen und fteht dann dem Haufirhandel gleich, oder aber im ftehenden Gewerbe: 
betriebe. Auch in diefem lebteren alle bedarf der Verbreiter der Erlaubniß der 
Ortspolizeibehörde (RGew.D. 5 34: „wenn gewerbamäßig Drudfchriften oder andere 
Schriften oder Bildwerke auf Öffentlichen Wegen, Straßen, Plägen oder an anderen 
Öffentlichen Orten ausgerufen, verkauft, vertheilt, angeheitet oder angefchlagen werden 
jollen“). Die Erlaubniß darf nur aus denjelben Gründen verweigert werden, wie 
der Legitimationfchein zum Gewerbebetrieb im Umberziehen (vgl. oben). Die 
Öffentliche Verbreitung ift mithin in allen Fällen von behördlicher Bewilligung ab» 
hängig. Rüdfichten auf die Straßenpolizei waren von Einfluß auf diefe Beftimmung, 
während man andererfeits durch Beichränfung und Aufzählung der VBerfagungsgründe 
der polizeilichen Willtür vorzubeugen ſuchte. — Das Oeſterr. Preßgeſ. ($ 23) ver: 
bietet das Ausrufen, Vertheilen und Feilbieten von Druckſchriften außerhalb der 
hierzu ordnungsmäßig bejtimmten Zofalitäten unbedingt und ohne jede Ausnahme. 
Die Bebürfniffe des Verkehrs machten fich indeffen in jolcher Stärke geltend, daß 
die Gerichte und das Juftigminifterium, über den unzweifelhaiten Wortlaut des 
Geſetzes fich hinwegjegend (1865), die Vertheilung von gewerblichen Ankündigungen 
in den Straßen an Vorübergehende für zuläffig erklärten. 

4. Schon die Gew.D. hatte ($ 143) die Beitimmungen der Landesgeſetze, nad) 
welchen die Befugniß zur Herausgabe von Drudichriften und zum Bertriebe der: 
jelben im Verwaltungswege entzogen werden konnte, aufgehoben; dagegen hatte fie 
jene landesgeſetzlichen Vorſchriften in Kraft gelaflen, welche die Entziehung der Bes 
fugniß zum jelbjtändigen Betriebe eines Gewerbes durch richterliches Erkenntniß als 
Strafe im Falle einer durch die Preffe begangenen Zuwiderhandlung vorjchrieben 
oder gejtatteten. Dieje Beitimmung erfchien als eine Ausnahmämaßregel zu Une 
gunften der Preffe, da nach dem Syſteme der RGew.D. die Berechtigung zum Be— 
triebe aller anderen Gewerbe weder durch richterliche noch durch administrative Ent» 
jcheidung entzogen werden kann. Das RPreßgeſ. (5 4) hat diejer Rechtsungleichheit 
ein Ende gemacht. ine Entziehung der Befugniß zum jelbftändigen Betriebe irgend 
eines PB. oder jonft zur Herausgabe und zum Bertriebe von Drudichriften findet 
nunmehr weder auf adminiftrativem noch auf richterlichem Wege ftatt. Diefer Sat 
ift die nothiwendige Konjequenz aus dem Prinzipe der Gewerbefreiheit. — Dagegen 
bat die Dejterr. Gejeggebung (Preßgeſ. $ 3) an der richterlichen wie der administrativen 
Entziehung der Gemwerbeberechtigung feitgehalten. Erjtere kann (abgejehen von 
dem Vollzuge eines Straferfenntniffes wegen Berlegung der allgemeinen Straf» oder 
Steuergejege) jtattfinden, wenn der Gewerbetreibende wegen des Inhaltes einer 
von ihm gewerbsmäßig erzeugten, verlegten oder verbreiteten Drudichriit eine® Ver— 
brechens, oder wenn er aus Anlaß einer jolchen Schrift innerhalb eines Zeitraums 
von drei Jahren dreimal eines Vergehens oder einer Uebertretung, ſei es nach dem 


Preijgewerbe. 139 


Strafgefege, jei e8 wegen Vernachläffigung der pflichtgemäßen Sorgfalt, ſchuldig er- 
fannt wurde. Die Entziehung darf in der Regel nur für die Dauer eines Jahres, 
dann aber für immer auögefprochen werden, wenn gegen den betreffenden Gewerbs— 
mann zeitliche Entziehung jchon einmal verhängt wurde. Aominiftrative Entziehung 
(durch die Gewerbebehörde) kann dann eintreten, wenn der Gewerbetreibende wegen 
eines Deliktes verurtheilt wurde, das ihn von dem Antritte des Gewerbes aus— 
geichloffen Hätte, und wenn nach der Beichaffenheit des Gewerbes und der Natur 
der begangenen ftrafbaren Handlung unter den gegebenen Umftänden von dem Fort— 
betriebe des Gewerbes Mißbrauch zu beiorgen it. Im diefem Falle kann die 
Entziehung ſowol für beftimmte Zeit ala auch für immer auägejprochen werden, 
jedoch nur innerhalb dreier Monate, vom Eintritte der Rechtskraft des die Ent» 
ziehung bedingenden Grfenntniffes an gerechnet. 

5. Das Plakat. Das Anjchlagen, Anheften von Drudichriiten an öffent» 
lichen Orten fällt unter den Begriff der öffentlichen Verbreitung (vgl. oben), und 
fann wie dieſe gewerbamäßig oder nicht gewerbamäßig betrieben werden. Im erften 
dalle findet $ 43 der Gew.D., im zweiten $ 5 des Preßgei. auch auf die Plakati- 
rung Anwendung; in beiden bedarf der Plafatirende einer ihm perfönlich zu er- 
theilenden ortöpolizeilichen Grlaubniß, die nur aus beitimmten Gründen verweigert 
werden darf. Auch das politifche Plakat unterfcheidet fih nur durch Inhalt 
und Zwed, nicht aber durch die Art, in welcher die Verbreitung, das Zugänglich- 
machen an das Publitum erfolgt, von den übrigen Plakaten, Fällt alſo zunächſt 
unter die erwähnten gefeglichen Beitimmungen. Aber gerade wegen des politischen 
Plafates ift das Plafatweien überhaupt vor dem Inslebentreten der Reichöpreßgeieh- 
gebung vielfach Gegenjtand eingehender landeärechtlicher Regelung gewejen. Mit je 
größerem Miktrauen die Gefeßgebung die öffentliche Aeußerung von politischen An— 
ſchauungen überhaupt betrachtet, um fo jchärfer wird fie auch das politiiche Plakat 
zu überwachen trachten. Eben darum wich der Rechtszuſtand im Norden Deutjch- 
lands weit ab von dem in Süddeutſchland. Im Allgemeinen laſſen fich vier Gruppen 
von Gefeggebungen untericheiden. a) Die erfte verbietet das politische Plakat. So 
das Preußiſche Preßgei. von 1851 $ 9, nach welchem Anjchlagzettel und Plakate, 
welche einen andern Inhalt Haben, als Ankündigungen über gefeglich nicht ver— 
botene Berfammlungen, über öffentliche Vergnügungen, über gejtohlene, verlorene 
oder gefundene Sachen, über Verkäufe oder andere Nachrichten für dem gewerblichen 
Verkehr, nicht angejchlagen, angeheftet oder in jonftiger Weife öffentlich ausgeſtellt 
werden dürfen. b) Eine zweite Gruppe (Baden, Weimar, Lübeck u. U.) unterwirft 
das Anſchlagweſen keinerlei Ausnahmsbeftimmungen. c) Nach der Sädhfischen Gejeß- 
gebung ift, ſoweit es fich um Plakate lediglich gewerblichen Inhaltes handelt, vor= 
bergehende Ablieferung des Pflichteremplares erforderlih, aber auch genügend. 
d) Bayern u. a. verlangen auf dem Plakate außer der Nennung des Druders oder 
Verlegerö auch die Angabe des Verfaſſers. 

Der Gegenjag der Anichauungen trat auch bei der Berathung des RPreßgeſ. 
zu Tage. Die Regierungsvorlage hatte die jtrengen Beitimmungen des Preuß. 
Rechtes aufgenommen und das politiiche Plakat unbedingt verboten. Die Reichs- 
tagsfommiffion verwarf diefe Anordnungen, und erjeßte fie durch das Sächſiſche 
Syſtem. Ihre Anträge fiegten bei der zweiten Leſung im Plenum, jcheiterten aber 
an dem Widerjpruche der Regierungen. Da eine Einigung nicht zu erzielen war, 
entichloß man fich von der reichögejeglichen Regelung der Materie abzujehen. So 
entftand der 2. Abi. in $ 80 der RPreßgeſ.: Das Recht der Landesgeſetz— 
gebung, Borichriften über das öffentliche Anſchlagen, Anheften, Ausjtellen, ſowie 
die Öffentliche unentgeltliche Vertheilung von Bekanntmachungen, Plakaten und Auf: 
rufen zu erlaffen, wird durch diejes Geſetz nicht berührt. 

Die Gew.D. von 1869, welche lediglich die perjönliche Berechtigung zum An— 
ichlagen regelte, hatte an diefem Recht der Landesgejeßgebung nichts geändert; eine 


140 Preßgewerbe. 


ausdrückliche Beſtätigung deſſelben in dem Preßgeſ. war aber ſchon wegen der da— 
ſelbſt im $ 1 enthaltenen Beſtimmung nothwendig, nach welcher die Freiheit der 
Prefie mur denjenigen Beſchränkungen unterliegt, welche durch das Preßgeſ. aus: 
drüdlich vorgeichrieben oder zugelafien find. Eben darum ift $ 30 ftrifte zu inter 
pretiren. Er umfaßt die gewerbsmäßige und die nicht gewerbsmäßige öffentliche 
Verbreitung; dagegen nicht alle, ſondern nur die aufgezählten Formen der öffentlichen 
Berbreitung. So ift 3. B. landesgejegliche Beſchränkung der entgeltlichen Vertheilung 
von Plakaten ausgejchlofien. 

Die Defterr. Gejeßgebung ($ 23 des Preßgeſ.) verbietet das Aushängen nnd 
Anfchlagen von Drudichriften in den Straßen und an anderen öffentlichen Orten 
ohne bejondere Bewilligung der Sicherheitsbehörde. Das Verbot bezieht fich jedoch 
nicht auf Kundmachungen von rein örtlichem oder gewerblichem Intereſſe, ala: 
Theaterzettel, Ankündigungen von Öffentlichen Luftbarfeiten, von Vermiethungen, 
Verkäufen u. dal., doch dürfen auch jolche Ankündigungen nur an den von der Be: 
börde hierzu beitimmten Plätzen angejchlagen werden, 

6. Die finanzielle Belaftung der Preßgemwerbe. 

a) Die Reichsgeſetzgebung hat (Preßgeſ. $ 30, Abſ.), dem von Belgien, 
Nordamerika, Frankreich, England gegebenen Beifpiele folgend und den jchon vor 
1874 in einer Reihe von Deutichen Staaten, jo Bayern, Württemberg, Sachien, 
Baden, Thüringen u. A., beftehenden Rechtszuſtand auf das ganze Reich übertragend, 
die befondere Beftenerung der Preffe und der einzelnen Preßerzeugniffe, alfo Zeitungs: 
und Kalenderftempel, Abgabe von Injeraten u. ſ. w., bejeitigt. Die 
P. unterliegen fortan nur noch der auf den Landesgejegen beruhenden allgemeinen 
Gewerbeſteuer. Damit ift — hoffentlich für immer — eine Maßregel gefallen, die, 
von welcher Seite fie betrachtet werden mag, ſtets als irrationell erjcheint. Die 
bejondere Beſteuerung der P., die allerdings der Staatäfaffe eine reichliche fichere 
und bequeme Einnahmsquelle eröffnet, ift vom volfswirthichaftlichen Stand» 
punkte aus verwerflich, weil fie (die „irrationellite aller Konſumtionsſteuern“, wie 
Lorenz dv. Stein fie nennt) ala Zeitungsſtempel die tägliche geiftige Nahrung des Volkes 
vertheuert oder die periodijche Preffe dazu verführt fich für den pefuniären Nusiall 
auf andere vielleicht unlautere Weile ſchadlos zu halten; weil fie ala Inſeraten— 
abgabe an das Ungleiche ichablonenhaft den gleichen Maßſtab anlegt und den Armen, 
der Beichäftigung fucht, ebenſo trifft wie den Reichen, der feinen großen Beſitz ver- 
äußern will. Sie ift veriverfli vom politifchen Standpunkte aus; fie joll ala 
Präventivmaßregel wirken, das Auftauchen kleiner mit geringem Anlage und Ber 
triebafapital ausgerüjteter Blätter verhindern, weil bei diefen die Geiahr eines Miß— 
brauches der Preßfreiheit befonders nahe liege; und fie treibt damit die Preffe dem 
Großkapital in die Hände, bewirkt die Verbindung diejer beiden Mächte und potenzirt 
dadurch ihren Einfluß. — Die Oeſterr. Geſetzgebung ift bisher diefen Erwägungen 
nur theilweife zugänglich geweien. Das Geſetz vom 30. März 1874 hat alle Ge- 
bühren für Ankündigungen, für Ginjchaltungen in periodischen Schrüten, jowie für 
Einjchaltungen in Ankündigungs- und Anzeigeblättern aufgehoben. Damit ift die 
Infertionsfteuer gefallen. Aber die Zeitungsſtempelſteuer leiftete allen 
Angriffen Widerftand. Nach der Verordnung vom 23. November 1858 unterliegen 
derjelben alle (nicht blos die politiichen) Zeitjchriften des In und Auslandes, welche 
ein oder mehrere Male in der Woche ericheinen; die Stempelgebühr beträgt 1 Kreuzer 
für die im Inlande und in den Poitvereinaftaaten erfcheinenden, 2 Kreuzer für andere 
Zeitſchriften des Auslandes. Ausgenommen find amtliche Zeitungen (vorausgejegt, 
dat ihr Anhalt eben rein amtlicher Natur ift, alfo dann nicht, wenn 3. B. das 
„Amtsblatt“ ausgedehnte Inſeratenbeilagen Hat), jowie Blätter, welche der Be: 
iprechung rein wifjenjchaftlicher, künstlerischer, technijcher oder anderer Fachgegenſtände 
gewidmet find; doch werden dieſe leßteren dann jtempelpflichtig, wenn fie Ankündi- 
gungen (joweit dieſe fich nicht ausjchließlich auf Gegenftände ihres Fachs beziehen, 


Prehpolizei. 141 


Ge. vom 26. Dezember 1865) oder Unterhaltungsleftüre enthalten. — Mit der 
Befteuerung der Preßgewerbe Hat der Spielfartenjtempel ſchon darum nichts 
zu thun, weil Spielkarten nicht als Drudijchriften im Sinne des Preßgef. betrachtet 
werden fönnen (vgl. übrigens auch Reichsgeſ. betr. den Spielfartenjtempel vom 
3. Juli 1878). 

b) In Bezug auf eine andere finanzielle Belaftung der P. hat die Reichsgeſetz- 
gebung den Muth nicht gehabt ihre Aufhebung zu defretiren. Es find die Frei— 
eremplare, die (regelmäßig von dem Verleger) an Behörden und Bibliotheten 
abgeliefert werden müſſen. Sie ericheinen Lediglich als eine billige Bereicherung 
gewiſſer Bücherfammlungen, die überdieß nur zum Theil der Benußung durch das 
Publitum offen jtehen. Für dieje Art der Bereicherung von Bibliotheken fpricht 
nur ihre Billigfeit, gegen fie, ganz abgejehen davon, daß fie der Staatögewalt wenig 
würdig tft, die jchwere Laſt, die fie gewilfen P. aufbürdet (im Jahre 1874 haben 
die einzelnen Dejterr. Berlagshandlungen je 300—1500 Gulden in FFreieremplaren 
abgeliefert). 

Bei der Berathung des ReichsP. konnte man fich über die Befeitigung der 
Freiexemplare nicht einigen; die Klagen der Deutjchen Buchhändler hatten zwar lautes 
Echo im Deutichen Parlamente gefunden, aber andererjeits betonte man die Intereſſen 
der afademijchen Inftitute und wies auf den unerfeglichen Werth hin, den voll= 
Händige Sammlungen aller im Lande erjchienenen literariſchen Erzeugniffe für die 
fünftige Geichichtichreibung hätten. Da eine Verſöhnung der Gegenjäße nicht zu 
erzielen war, beichloß man, die Landesgeſetze in Kraft zu laſſen, joweit dieſe die 
Abgabe von Freiexemplaren an Bibliotheken und öffentliche Sammlungen anordnen. 
Bon den einzelnen Deutfchen Staaten hatten das Königreich Sachjen, Sachjen-Weimar, 
die Sächſiſchen Herzogthümer, Baden, Oldenburg, Reuß, Braunfchweig, Bremen, 
Yippe-Detmold auf die Abgabe jchon vor 1874 verzichtet; die übrigen Staaten 
halten an derfelben fejt (vgl. Zujammenftellung von Bertram im Börfenblatt für 
den Deutichen Buchhandel vom 6. April 1870, Nr. 78). 

Nach Defterr. Recht (Preßgeſ. $ 18) müfjen von allen zum Verkaufe bejtimmten 
Drudichriften, welche im Inlande verlegt oder gedrudt werden, und nicht lediglich 
den Bebürfniffen des Gewerbes und Verkehrs oder des häuslichen und gejelligen 
Lebens gewidmet find, vier bez. (bei periodischen Drudjchriiten) fünf Freiexemplare 
an beftimmte Behörden und Bibliothefen abgeliefert werden. Bei Drudijchriften 
von bejonders Eojtipieliger Ausftattung werden die wirklich bezogenen Gremplare mit 
50 %, des urjprünglichen Pränumerations- oder Ladenpreifes, aber nur auf Ver— 
langen der Partei vergütet. Für die Ablieferung haftet zunächſt der Verleger, der 
Druder aber bei jenen Drudjchriften, bei welchen ein Verleger nicht oder fäljchlich 
genannt ift, oder welche im Auslande verlegt werden. + 

Lit: ©. zu Art. Preßgeſetzgebung. — Bal. die Art. Heraus eher reß⸗ 
polizei, ——— — geil Br ® — v er 4 5 


Preßpolizei. I. PB. ift der Inbegriff jener Rechtöregeln, durch welche dem 
Mißbrauche der Preßfreiheit vorbeugend entgegengewirft und die künftige ftrafrechtliche 
Verfolgung etwa begangener Preßdelikte gefichert werden joll. Zahl und Charakter 
diefer Rechtsregeln wechjelt nach der mehr oder weniger polizeilichen Tendenz der 
Sefammtgejeßgebung. Unmittelbares Objekt der P. find die Drudichriiten, als 
die Mittel zur Begehung von Preßdelikten; unter ihnen nimmt die periodijche 
Treffe auch durch die Zahl der ausfchließlich an fie gerichteten Normen die erjte 
Stelle ein. Durch die Uebertretung der preßpolizeilichen Anordnungen entftehen die 
Pdelikte (auch unpafjfend „eigentliche Preßdelifte” genannt), die von den durch 
den Mißbrauch der Prehfreiheit begangenen Preßdelikten („uneigentliche Preßdelikte“; 
die außerdeutſche Literatur gebraucht viel richtiger die entgegengejegten Bezeichnungen) 
weſentlich verjchieden find (j. d. Art. Preßſtrafrecht). 


142 Preßpolizei. 


I. Druckſchriften im Sinne des Preßrechtes find aber nicht nur die Er 
zeugnifie der Buchdruderpreffe, ſondern auch alle anderen durch mechanifche oder 
chemijche Mittel bewirkten, zur Berbreitung bejtimmten WBervielfältigungen von 
Schriften und bildlichen Darjtellungen mit oder ohne Schrift und von Mufikalien 
mit Zert oder Erläuterungen (Preßgeſ. $ 2; Defterr. Preßgeſ. $ 4). Irrelevant 
ift die Art der vervielfältigenden Technik (Kupfer- und Stahlitich, Photographie, 
Holz und Steindrud, Kopirmafchine, Hektograph, Prägen und Gießen ıc.). Immer 
aber muß es fi) — was in der außerdeutichen Gefeßgebung und Wiſſenſchaft all: 
gemein zugegeben und zum Theil ausdrüdlich auögejprochen wird — um eine 
Gedanfenäußerung handeln. Denn nur mit einer folchen hat es das Pre: 
recht in feinen polizeilichen, wie in jeinen jtrafrechtlichen Beftimmungen zu thun; 
Staatönoten, Eijenbahnprioritäten, Spielfarten, Geldftüde ıc. find troß der verviel- 
jältigenden Technik feine Drudichriiten. Dabei ijt das Wort „Gedankenäußerung“ 
im weiteren Sinne zu nehmen, und umfaßt auch die Manifeftation der künftlerifchen 
Idee in Bild und Tonwerk (legtere aber nur unter den obenerwähnten pofitivrecht: 
lichen Beichränkungen). Die Drudichrift ift fertig, nicht mit dev Vervielfältigung, 
jondern erit, wenn die Thätigfeit des Verlegers abgejchloffen iſt; wenn diejer fie zur 
Verbreitung beftimmt und die nöthigen Schritte unternommen hat, damit die Ver— 
breitung beginnen kann. Dieſen Zeitpunft bezeichnet man zum Unterjchiede von der 
Verbreitung alö das Ausgeben, Erjcheinenlafjen der Drudichrift. — Unter 
den Begriff der periodiſchen Drudichriit fallen Zeitungen und Zeitjchriften (für 
den Unterjchied maßgebend ilt das Gricheinen in Blättern oder Heften), welche in 
monatlichen oder kürzeren, wenn auch unregelmäßigen Friſten ericheinen (Preßgej. 
z 7; ähnlich Oeſterr. Preßgeſ. $ 7). Inhalt der Drudichriit und Form des Er: 
cheinens iſt irrelevant. Den — zur periodiſchen Druckſchrift bildet das 
Liejerungswerf, das, wenn auch noch jo großartig angelegt, planmäßig jein 
Ende finden muß, während andererjeits der Plan der Anlage den Inhalt der ein- 
zelnen Nummer zum Voraus bejtimmt. Zur einzelnen periodischen Drudjchriit ge: 
hören ala deren Pertinenzen die Beilagen, die gemeinfam mit jener abonnirt aus 
gegeben verbreitet werden und feine jelbitändige juriftiiche Eriftenz führen. Die 
periodiiche Drudichriit unterliegt einer Reihe von bejonderen preßpolizeilichen An— 
ordnungen,; fie wird nach Außen Hin durch den verantwortlichen Redakteur 
repräfentirt. 

III. Zu den preßpolizeilichen Anordnungen gehören: 

1) Die Berpflichtung, diean der Herftellung und Ausgabe der 

Drudichriit betheiligten Perjonen auf der Drudichrift jelbft zu 
nennen. 
. Auf jeder Drudjchriitt muß Name und Wohnort des Druders, ferner Name 
und Wohnort des Verlegers genannt jein (Preßgei. $ 6; Oeſterr. Preßgeſ. 
$ 9). Der Berfaffer oder Herausgeber ijt nur dann zu nennen, wenn die Drud: 
ſchrift im Selbitverlage erjcheint und daß dies der Fall auf der Drudichrift zum 
Ausdrude gelangen ſoll (d. 5. der ungenannt bleiben wollende Verfaffer kann fich 
ala Verleger, jtatt als Selbjtverleger bezeichnen und jo jeine Anonymität wahren). 
An Stelle des Namens des Druders oder Verlegers genügt die Angabe der in das 
Handelsregifter eingetragenen Firma. — Druder ift derjenige, der die Druckſchrift 
(in dem weiteren Sinne des Preßrechtes) Heritellt; aber nicht der einzelne Arbeiter, 
jondern der Inhaber des Gejchäftes; der dafjelbe leitende Stellvertreter darf nicht 
jtatt des Inhabers genannt werden. 

Gewerbsmäßigfeit, Entgeltlichkeit, Legitimität der Herſtellung find irrelevant. 
Wenn mehrere Drudereien an der Hertellung jelbjtändig betheiligt find, jo ift jede 
für den von ihr hergejtellten Theil der Drudichrift ala Druder zu nennen; bat 
eine Druderei auch andere zur SHülfeleiftung herangezogen, jo ericheint die eritere 
nah Außen Hin als einziger Druder. — Verleger iſt derjenige, der die Druck— 


Preßpolizei. 143 


ſchrift erſcheinen läßt, der vermittelnd einerſeits zwiſchen den Verfaſſer und den 
Druder, andererſeits zwiſchen dieſen und den Verbreiter tritt. Gewerbsmäßigkeit, 
Entgeltlichteit, Legitimität ſind auch hier nicht von juriſtiſcher Bedeutung. Auch auf 
dem Nachdruck muß der Verleger genannt ſein. Der Kommiſſionsverleger, der 
auf fremde Rechnung und Gefahr verlegt, ijt Verleger, nicht aber der Kommiffionär 
oder der Sortimentsbuchhändler. — Befreit von der Verpflichtung zur Nennung 
des Druderd und Berlegers find jene Drudjchriften, die nur den Zweden deö Ge- 
werbes und Verkehrs, des häuslichen und gejelligen Lebens dienen; ferner Stimme 
jettel für öffentliche Wahlen, jofern fie nichts weiter als Zwed, Zeit und Ort 
der Wahl und die Bezeichnung der zu mwählenden Perjonen enthalten. Kupferjtiche 
avant la lettre (die jog. Epreuves d’artistes) werden, obwol nicht unter den Wort- 
laut des Geſetzes fallend, allgemein hierher gerechnet. — Die periodifche Drud- 
ichritt muß außer der Nennung des Druders und DVerlegerd auch die Angabe des 
verantwortlichen Redakteurs (Namen und Wohnort, d. h. den Ort, von dem aus 
er die Redaktion führt) enthalten. Mehrere Perſonen dürfen nur dann genannt 
werden, wenn aus Form und Inhalt der Benennung mit Bejtimmtheit zu erjehen 
it, für welchen Theil der Drudijchrift jede der benannten Perjonen die Redaktion 
führt (Preßgei. $ 7; vgl. d. Art. Redakteur). — Jede Uebertretung diejer Bes 
ſtimmungen ift (Preßgei. $ 18) mit Gelditrafe bis zu 1000 Mark oder mit Haft 
oder mit Gefängniß bis zu jechd Monaten bedroht, wenn fie durch faljche Angaben 
mit Kenntniß ihrer Unrichtigfeit begangen wurde; mit Geldjtrafe bis zu 150 Mark 
oder mit Saft aber dann (Preßgeſ. $ 19), wenn diefe Vorausjegung fehlt. Die 
ihwerere Strafe trifft den Verleger einer periodifchen Drudichrift auch dann, wenn 
er wiflentlich gejchehen läßt, daß auf derjelben eine Perſon fäljchlich ala Redakteur 
genannt wird. 

2) Die Verpflihtung zur Ablieferung der Pilichteremplare 
(wol zu unterfcheiden von den im Art. Preßgewerbe beiprochenen Treieremplaren), 
durch welche der Behörde die rechtzeitige Kenntnißnahme von begangenen Preß- 
deliften und ein erfolgreiches Einſchreiten gegen die Schuldigen, jowie gegen die 
Drudichrift ſelbſt gefichert werden ſoll. Die Reichsgejeßgebung verlangt (Preßgeſ. 
$ 9) nur von der periodijchen Preffe ein Eremplar jeder Nummer (mit Ein— 
ihluß der Beilagen), dad der Verleger gleichzeitig mit der Ausgabe der 
Druckſchrift (das Geſeh ſpricht ungenau von dem Beginne der Austheilung oder 
Verſendung) gegen eine ihm ſofort zu ertheilende Beſcheinigung an die Polizei— 
bebörde des Ausgabeortes unentgeltlich abzuliefern bat. Bereit find diejenigen 
Drudjchriften, welche ausſchließlich den Zweden der Wiſſenſchaft, der Kunſt, des 
Gewerbes oder der Induftrie dienen; den Gegenjaß bildet die politische Preſſe einer- 
jettö, die Unterhaltungsprejje andererfeits. Die Strafe für unterbliebene oder ver- 
ipätete Ablieferung (Geldjtrafe bis 150 Mark oder Haft nach Preßgeſ. 8 19) trifft 
immer nur den DBerleger, vorausgejeßt, daß ihm ein Verſchulden zur Laſt fällt. — 

Weit ftrenger find die Beitimmungen des Dejterr. Rechts (Preßgeſ. $ 17), in— 
dem diejes von jeder nichtperiodifchen Drudjchriit, die nicht mehr als fünf 
Bogen im Drude beträgt, und nicht lediglich den Bebürfniffen de Gewerbes und 
Verfehrs oder des häuslichen und gejelligen Lebens zu dienen beftimmt ift, die Ab— 
gabe von zwei WPflichteremplaren (an Polizei und Staatsanwalt) wenigjtens 
24 Stunden vor der Austheilung oder Verjendung verlangt. Die Berpflichtung, 
wie Haftung trifft (unzwedmäßig genug) nicht den Verleger, jondern den Druder. 

3) Die PVerpilidtung zur Aufnahme amtliher Belannt- 
mahungen (Preßgei. $ 10). Dieſe Verpflichtung obliegt dem verantwortlichen 
Redakteur jener periodijchen Drudichriften, welche überhaupt Anzeigen aufnehmen; 
er Hat die ihm von Öffentlichen Behörden mitgetheilten amtlichen Belanntmachungen 
auf deren Verlangen gegen Bezahlung der üblichen Einrückungsgebühren in einer der 
beiden nächjten Nummern zur Beröffentlihung zu bringen. Zumiderhandlungen 


144 Preipoligei. 


werden, wie folche gegen die VBerichtigungspflicht, behandelt und beſtraft (Preßgeſ. 
$ 19; vgl. unten Nr. 4). — 

Im Wejentlichen übereinftimmend Oeſterr. Preßgei. SS 20 ff. 

4) Die Berihtigungapiliht (Entgegnungsredht) beruht auf dem 
Gedanken, daß Jeder, den eine in einer periodifchen Drudjchriit gebrachte Nachricht 
berührt, zum Worte fommen, an derjelben Stelle und vor demjelben Publikum, an 
welcher und vor welchem über ihn geiprochen worden, gehört werden joll. Die 
Lejer des Blattes jollen urtheilen, nachdem beide Theile geiprochen haben. Das 
Entgegnungsrecht (Preßgei. $ 11; Defterr. Preßgeſ. $ 19) beiteht nur der perio: 
diſchen Preſſe gegenüber, es bezieht fich auf die in derjelben mitgetheilten That: 
jachen (nicht auf Urtheile, Kritiken u. dgl.), jeßt aber feinen Angriff auf den 
Entgegnenden voraus. Das Entgegnungsrecht ſteht allen Betheiligten, jei es 
Behörden, Korporationen, ſei e8 Eingzelindividuen zu, d. 5. allen denjenigen, welche 
ein Intereffe daran Haben, gehört zu werden. Es entfällt, wenn die Berichtigung 
nicht von dem Anzeiger unterzeichnet ift, wenn fie jtrafbaren Inhalt hat, oder fi 
nicht auf jene thatjächlichen Angaben beichränft, welche den Anlaß der Berichtigung 
bilden. Der verantwortlide Redakteur Hat die ihm, ſei e8 mündlich, jei & 
ichriftlich,, zur Aufnahme mitgetheilte Berichtigung, in feinem Blatte zu veröffent 
lichen, und zwar ohne Ginjhaltungen und Weglafjjungen, denn der 
Entgegnende joll vollftändig und ohne unterbrochen zu werden, zum Worte kommen; 
in demjelben Theile der Drudichriit, in welchem der zu berichtigende Artikel 
erichienen war, und mit derjelben Schrift, denn gleiches Gehör foll beiden Theilen 
gewährt werden; und in der nach Empfang der Einjendung nächittolgenden Nummer, 
jofern dieſe nicht bereits für den Drud abgeſchloſſen iſt; denn ſoll die Entgegnung 
Wirkung haben, jo muß fie fofort erfolgen. Aus dem Wejen des Entgegnungsrechtes 
ergiebt fich ferner, daß — entgegen einer weit verbreiteten Anficht — die Ber 
richtigung nur in derielben Sprache Anjpruch auf Veröffentlichung machen kann, 
in welcher der zu berichtigende Artikel erichienen war. Die Aufnahme erfolgt 
£ojitenfrei, foweit die Entgegnung den (einfachen) Raum der zu berichtigenden 
Mittheilung nicht überjchreitet; für die über diefes Maß Hinausgehenden Zeilen 
find die üblichen Einrüdungsgebühren zu entrichten. Dieje Beichränfung der often: 
freien Aufnahme genügt dem praftiichen Bedüriniffe nicht; Bayern, Preußen ließen das 
einfache Maß des Artikels entjcheiden, in welchem die Mittheilung enthalten war; 
Frankreich, Italien, Belgien (Sachen) geben den Doppelten Raum des zu be 
richtigenden Artikels frei. Durch die Aufnahme wird die VBerantwortlichkeit des 
Redakteurs für den Inhalt weder des berichtigten, noch des berichtigenden Artikels 
berührt. — Genügt der Redakteur der Berichtigungäpflicht nicht — mag es fidh 
um Verweigerung oder Unterlafjung der Aufnahme oder um einen dem Gejeße nicht 
entiprechenden Abdrud der Entgegnung handeln — jo tritt das gerichtliche Be- 
rihtigungsdverfahren ein. Die Behörde greift aljo nicht jotort (wie nach dem 
Badiichen Syitem von 1868 oder dem älteren Defterr. Rechte von 1862 —1868), 
fondern erjt dann ein, wenn eine Webertretung des Geſetzes jtattgefunden Hat. Die 
Verfolgung findet nur auf Antrag des Berlehten ftatt (Preßgeſ. S 19), das Gericht 
hat zunächjt die Eriftenz des Entgegnungsrechtes und die Verlegung der Berichtigungs- 
pflicht feftzuftellen, dann über das Verfchulden des Redakteur zu urtheilen. Das 
Refultat des Verfahrens kann demnach fein: a. Gänzliche Abweijung des Klägers; 
b. Anordnung der Aufnahme ohne Beitrafung des Redakteure, wenn die an fich une 
berechtigte Verweigerung in gutem Glauben gefchehen oder die Beitrafung aus an- 
deren Gründen (Tod, Begnadigung, Verjährung) ausgeichloffen ift; c. Verurtheilung 
des Nedakteurs (Geldjtrafe bis zu 150 Mark oder Haft) mit gleichzeitiger Anordnung 
der Aufnahme, bei Eriftenz des Entgegnungsrechtes und mala fides des Redakteurs; 
d. Beitrafung des Redakteurs ohne Anordnung der Aufnahme, wenn der Abdrud 
zu ſpät, im Uebrigen aber dem Geſetze entjprechend erfolgte. — Beharrt der Re- 


Preipolizei. 145 


dakteur auch der richterlichen Anordnung der Aufnahme gegenüber auf feiner Weige- 
rung, jo kann er abermals zur Verantwortung gezogen und bejtraft werden; ein 
direkter oder indirefter Zwang zur Aufnahme findet nach Deutjchem Recht nicht ftatt. 
Dagegen Hat nach Dejterr. Preßgeſ. $ 21 das Gericht gleichzeitig mit der Anordnung 
der Aufnahme die Einftellung der Drudichrift bis zur Erfüllung der Verpflichtung 
ju verfügen. 

5) Das Verbot der fjerneren Verbreitung kann — von den viel 
weiterreichenden Beitimmungen des Sozialiftengefeges abgefehen — nur gegenüber 
ausländifchen periodiſchen Drudichriiten ausgefprochen werden (Preßgeſ. 
5 14). Die Berlegung des Gaftrechtes joll mit Entziehung deffelben beantwortet 
werden. Ausipruch und Aufhebung des Berbotes ift in die Hand des Reichs— 
fanzlers gelegt. Der Ausſpruch ift an die Vorausſetzung gefnüpft, daß zwei— 
mal binnen Jahresfriſt gegen die betreffende Drudjchrift eine Verurtheilung 
nah $$ 41 u. 42 des StrafGB. (aljo wegen ihres ftrafbaren Inhalts) erfolgte; 
die Zuläffigfeit entfällt, wen das Verbot nicht innerhalb zweier Monate nach Ein= 
tritt der Nechtäfraft des lebten Erfenntniffes ausgefprochen if. Die Bedeutung 
diefer Maßregel und zugleich das Bedenkliche derjelben Liegt darin, daß fie gegen 
die fünftig ericheinenden Nummern der Drudjchrift gerichtet ift, nicht die Ihat, 
iondern die Tendenz ins Auge faßt. Mit der Bekanntmachung des Verbote wird 
der von demjelben betroffenen Druckſchrift zugleich der Poſtdebit entzogen, d. 5. 
die Poft darf feine Beitellungen auf diefelbe annehmen, die einzelnen Nummern 
nicht mehr befördern oder ausfolgen. Webertretung des Verbotes, d. h. aljo Ber- 
breitung derjelben auf irgend eine Art, wird (Preßgeſ. $ 18) mit Gelditraie bis zu 
1000 Marf oder mit Haft oder mit Gefängniß bis zu ſechs Monaten geahndet ; 
doh iſt Kenntniß des Verbotes erforderlich (anderer Anficht Berner). — Auf 
einem anderen Standpunkte jteht die Dejterr. Gejeßgebung. Nachdem jchon durch 
das Preßgejeg von 1862 das adminiſtrative Verbot bejeitigt worden war, fiel 
1868 auch das richterliche Verbot, ſei e8 inländifcher, ſei e8 ausländifcher perio- 
diſcher Drudichriften, hinweg, ſoweit e8 nicht bereits erfchienene, jondern erſt künftig 
ericheinende Nummern treffen fol. Wol aber kann nach Defterr. Recht die Ent- 
jiehung des Poſtdebits jelbitändig und nach freiem Ermefjen des Minifteriums 
des Innern, aber nur gegen ausländische periodijche, wie nichtperiodiiche Drud- 
ichrüften außgeiprochen werden (Preßgeſ. $ 26). Die nothwendige, aber auch einzige 
Folge der Entziehung des Poſtdebits ift der gänzliche Ausschluß der betreffenden 
Drudihrift von der Beiörderung durch die Poſt. Es Handelt fich einerjeits alſo 
um mehr ala um den an die Pojtämter gerichteten Auftrag, keine Bejtellungen auf 
die betreffende Drudjchrift mehr anzunehmen, andererjeits liegt aber in der Entziehung 
des Poſtdebits feineswegs das Verbot der Verbreitung, vielmehr kann die Drudjchrift 
nach wie vor auf jedem anderen Wege, als auf dem der Poſt bezogen und verjendet 
werden. Nur joweit der Poſtzwang reicht — und nach den Deiterr. Poſtgeſetzen 
von 1837 und 1850 umfaßt er alle periodifchen Schriften, fie mögen durch Hand— 
schritt oder Abdruck dargeftellt oder vervielfältigt fein —, jchließt die Entziehung des 
Toftdebits das Verbot jeder Art der Beiörderung in fich. 

6) Die nihtrihterlihe Beijhlagnahme von Drudichriften wäre 
ihon nach der RStrafPO. (SS 94 ff.) bei Gefahr im Verzuge zuläffig, joweit die— 
jelben für die Unterfuchung von Bedeutung fein können oder der Einziehung unter: 
liegen. Aehnliche Anordnungen enthielten die meiften Deutſchen Partikular-StrafPO. 
An der Literatur, und bei der Berathung des RPreßgeſetzes wurde dies vielfach über- 
iehert, wurde nicht nur die jog. „polizeiliche“, jondern jede der Urtheilsfällung voran— 
gehende (alfo auch die richterliche) „vorläufige“ Beichlagnahme als eine Ausnahms- 
beftimmung zu Ungunften der Preffe befämpft. Von anderer Seite verlangte man 
die Befeitigung der vorläufigen Beichlagnahme geradezu als ein Privilegium der 
Treffe, da man den Gedanken nicht tödten dürfe 2c., während wieder Andere 

dv. Holgenborff, Enc. II. Rechtslexiton III. 3. Aufl. 10 


146 Preipolizei. 


wenigſtens die Ingerenz der nichtrichterlichen Behörden ausgeſchloſſen willen wollten 
(Gegner der vorläufigen Beichlagnahme, aber unter fich vielfach abweichend: Mohl, 
Gneift, Wahlberg, John, Jaques, Marquardien u. A.; die Deutjchen 
Journaliſten ſchwankten in ihren Anfichten, ebenjo wie die Juriftentage). Die heute 
eltenden Beitimmungen des RPreßgeſetzes find das Nefultat eines Kompromifie 
Preßgeſ. SS 23 ff.). Aus denjelben ift hervorzuheben: 

a. Die nichtrichterliche Beichlagnahme iſt nicht allgemein, wie nach der StrafPO. 
fondern nur wegen gewijfer Delikte zuläſſig. Dieſe find: Webertretungen der 
88 6, 7, 14 u. 15 des Preßgeſ. (Nichtnennung von Druder, Verleger ıc., Ver: 
breitung einer verbotenen Drudichriit, Veröffentlichung über Truppenbewegungen) ; 
ferner Webertretungen der SS 85, 95, 184, 111, 130 des StrafGB. (Aufforderung 
zu Hochverrath, Majeftätsbeleidigung, unzüchtige Darftellungen, Schriften u. ſ. f., 
Aufforderung zu jtrafbaren Handlungen, Aufreizung zum Klaſſenkampf), die beiden 
legten Delikte ($S 111, 130 des StrafGB.) jedoch nur dann, wenn dringende Ge 
fahr beiteht, daß bei Verzögerung der Beichlagnahme die Aufforderung oder Auf 
reizung ein Verbrechen oder Vergehen unmittelbar zur fyolge haben werde. In allen 
Fällen aber muß, wie nach der StrafPD., ein mindeſtens verfuchtes Delikt vor: 
liegen, damit die Beichlagnahme zuläffig ſei. 

b. Die richterliche Beichlagnahme bedarf unter allen Umftänden der gericht: 
lihen Bejtätigung (wenn fie vor Erhebung der öffentlichen Klage ftattgefunden 
bat, durch den Amtörichter, in deffen Bezirk fie vorgenommen wurde). Die Ein: 
holung der gerichtlichen Beitätigung muß binnen kurz bemeffenen Friſten ftattfinden, 
und die Beichlagnahme erlifcht, wenn die Beitätigung nicht binnen fünf Tagen nad) 
der Anordnung herabgelangt ift. 

e. Gegen den die Beichlagnahme aufhebenden Gerichtäbeichluß ift fein Rechts— 
mittel zugelaffen. 

d. Auch der beftätigende Gerichtäbeichluß muß aufgehoben werden, wenn nicht 
binnen zwei Wochen nach der Beitätigung die Verfolgung in der Hauptjache ein: 
geleitet ijt. 

Bei der Beichlagnahme find die diejelbe veranlafienden Stellen der Schrift 
unter Anführung der verlegten Gejeße zu bezeichnen. Irennbare Theile der Schritt, 
welche nichts Strafbares enthalten, find von der Beichlagnahme auäzujchliegen. Die 
Beichlagnahme kann fich auch auf die zur Vervielfältigung dienenden Platten und 
Formen erjtreden; fie erfolgt bei Drudjchriften im engeren Sinne auf Antrag des 
Betheiligten durch Ablegen des Satzes. Der Beichlagnahme unterliegen nicht nur 
die bereits in Verbreitung befindlichen, aber noch nicht in Privatbefig übergegangenen, 
jondern auch die noch nicht verbreiteten, aber zur Verbreitung bejtimmten Eremplare 
der Drudichrift. 

Verbreitung der Drudichriitt oder Wiederabdrud derjelben während der Dauer 
der Beichlagnahme ift, wenn der Thäter Kenntniß von derjelben hatte, mit Geld» 
ftrafe bis zu 500 Mark oder mit Gefängniß bis zu ſechs Monaten zu belegen. — 
In weiterem, als dem hier erörterten Umfange ift die Beichlagnahme nach dem 
Sozialiftengefege zuläffig. — 

Das Defterr. Recht geitattet (StrafPD. 5 487) die vorläufige nicht: 
richterliche Beichlagnahme ohne weitere Einſchränkung, wenn Drudjchriiten ent: 
weder gegen die Vorichriften des Preßgeiehes ausgegeben oder verbreitet werben oder 
wenn fie im öffentlichen Intereffe zu verfolgen find; die vorläufige richterliche 
Beichlagnahme aber nur auf Klage und Antrag des Privatklägere. Die nicht: 
richterliche Beichlagnahme bedarf der gerichtlichen Bejtätigung, die (nach 88 488 ff. 
der StrafPO.) in ähnlicher Weife, wie nach Deutſchem Rechte, eingeholt werben 
muß (doch find die Friſten weiter bemeſſen). Eine wohlgemeinte, aber durchaus 
unpraftifche Beitimmung (die fich übrigens auch im Hamburgiſchen und Badijchen 
Rechte jand) enthält $ 491 eit., nach welchem, wenn das Gericht die Beihlagnahme 


Preiitrafredt. 147 


ausdrüdlich für ungerechtfertigt erklärt, dem von derjelben Betroffenen der Erfah des 
erweislichen Schadens aus der Staatäfafje gebührt. 

7) Die Verpflichtung zur Kautionsbeftellung, gegen welche fich 
dad Deutjche Parlament jchon im Jahre 1871 mit großer Majorität ausgefprochen 
hatte, ijt dem NPreßgefege fremd geblieben. Dagegen Hält das Oeſterr. Recht 
(ebenio wie das Franzöſiſche) an derjelben bis zum heutigen Tage feſt. Die Zeitungs- 
faution ſoll gleichzeitig verfchiedenen Legislatorifchen Zweden dienen. Sie ſoll die 
politiiche und finanzielle Solidität des Unternehmens verbürgen; fie joll die Ein- 
treibung von Geldftrafen und Prozeßkoſten ſichern; fie joll endlich die Möglichkeit 
gewähren, eine bejondere Nebenjtrafe, die des Kautionsverfalles, in das Strafenſyſtem 
einzuführen. Die Verwerflichkeit der ganzen Einrichtung, welche die angejtrebten 
Zwede entweder gar nicht oder nur auf Koften höherer Intereffen erreicht, bedarf 
heute feines Nachweifes mehr. Nach SS 23 ff. des Defterr. Prebgej. unterliegen der 
Kautionspflicht jene periodischen (nicht von der Regierung herausgegebenen) Drud- 
ihriften, welche öfter ala zweimal im Monate erjcheinen und, wenn auch nur neben= 
ber, die politifche Tagesgeichichte behandeln, oder politifche, religiöje, joziale Tages— 
fragen beiprechen. Die Höhe der Kaution beträgt, je nach der Häufigkeit des Er- 
iheinens und der Einwohnerzahl des Ausgabeortes, zwijchen 1000 und 8000 Fl. 
Der Kautionsverfall wird ausgeiprochen (Preßgeſ. $ 35), wenn Jemand wegen des 
Inhaltes der Drucdichrift eines Verbrechens oder Vergehens für jchuldig erfannt wird, 
mag auch den Herausgeber ſelbſt feinerlei Verſchulden treffen. Die verfallende 
Summe jteigt, je nach der Schwere des begangenen Deliktes, von 60 Fl. bis zum 
vollen Betrage der Kaution, eventuell aljo bis 8000 Fl. Wird der für verfallen 
erklärte Betrag von dem Herausgeber nicht binnen drei Tagen nach Rechtskraft des 
Erfenntnifjes erlegt, jo veranlaft der Staatsanwalt die Zahlung aus den als Kaution 
erliegenden Werthen; das Gleiche gejchieht, wenn Gelditrafen oder Prozeßkoſten, auf 
welhe „aus Anlaß der Herausgabe“ der Drudjchrift erfannt wurde, von dem Be- 
troffenen nicht rechtzeitig erlegt werden. Die Verminderung der Kaution führt, wenn 
der Ausfall nicht binnen acht Tagen erjeßt wird, zur Einftellung der Drudjchrift. 

Lit.: ©. zu Art. Preßgeſetzgebung. — Vgl. die Art. Herausgeber, Preß— 
gewerbe, Prehftrafredt, Ayree v. Liszt. 

Breßftrafreht. P. iſt der Inbegriff der Rechtöregeln über Inhalt und Um— 
fang der Berantwortlichkeit für den Mißbrauch der Preßfreiheit. Das P. hat daher 
zunächſt Antwort auf zwei Fragen zu geben: 1) Was ift Mißbrauch der Preß— 
freiheit? 2) Wie beftimmt fich die WVerantwortlichkeit für diefen Mißbrauh? An 
der Löfung beider Tragen haben Wiffenjchaft und Gejeßgebung feit Langem und — 
bis auf den heutigen Tag — ohne befriedigendes Reſultat gearbeitet. Die folgende 
Daritellung iſt nur beftrebt de lege lata, nicht aber de lege ferenda die Löſung 
zu fördern. 

I. Preßfreiheit ift das Necht der freien Gedanfenäußerung durch Druckſchriften 
innerhalb der gejeglichen Schranken und unter der gejeßlichen Berantwortlichkeit. 
Der normwidrige und jtrafbare Mißbrauch diejes Rechtes — das auch ala Preß— 
recht im ſubjektiven Sinne bezeichnet werden fann — konſtituirt das Preßdelikt. 
Mit den Preßpolizeidelikten (fj. d. Art. Preßpolizei) bat es jo wenig zu thun, 
wie die Tödtungsdelikte mit der Uebertretung des Verbotes des Waffentragene. Im 
Unterjchiede von dem WPreßpolizeidelitte nennt man e& das „uneigentliche” oder 
„materielle”, am richtigiten aber das Preßdelikt jchlechtweg. Seine Begriffe: 
beftimmung hat nicht blos theoretifche, ſondern eminent praktische Bedeutung; denn 
eine Reihe von gejeglichen Bejtimmungen fnüpft an das „Preßdelift“ an, ohne diejes 
zu Definiren. — Der Blick auf die auswärtige Gejeßgebung fördert wenig. Die 
Anjchauungen des Englischen Rechtes über das Libel (vgl. d. Art. Preßgeſetz— 
gebung) fpotten der juriftifchen Konſtruktion. Das Franzöſiſche und die unter 
feinem Einfluſſe jtehenden anderen Rechte zählen hierher: öffentliche Aufforderung zu 

10 * 


148 Preßitrafredt. 


jtrafbaren Handlungen, outrages à la morale publique et aux bonnes moeurs (ein 
viel umfaffender Begriff, unter den Angriffe auf Religion, die freiheit der Kulte, 
Eigenthum und Tyamilienrechte ebenjo fallen, wie die Verherrlichung jtrafbarer Hand: 
lungen und die Verhöhnung des Geſetzes), öffentliche Beleidigung des Präfidenten 
der Republif, der Kammern, fremder Souveräne und Minifter, Angriffe auf die 
Volksſouveränität, die Berfaffung ꝛ⁊c., diffamation et injure publique gegen 
Öffentliche und Privatperfonen ꝛc. — Die Deutihe Wiſſenſchaft hat fich wiederholt 
mit der juriftiichen SKonftruftion des Preßdeliktes befaßt. Glajer, John, 
Jaqued, dv. Buri, Merkel, daneben der Holländer Buyn, aus neuefter Zeit 
Oetker (Goltdammer’s Archiv, Bd. XXVIL) find bier zu nennen. Glajer 
gebührt das Verdienſt, der Frage zuerft näher getreten zu fein; ein Verdienſt, das 
durch das Miflingen des Verfuches nicht gejchmälert wird. Cr unterfcheidet 1) die 
uneigentlichen Preßbdelikte, „Handlungen, deren Ihatbejtand nicht jchon an und 
für fich durch den Mißbrauch der öffentlichen Meinungsäußerung bedingt ift“, wie 
Anjurien, Gottesläfterung, Betrug, Fälfhung, Grpreffung ꝛc.; fie find nad) den 
Grundjägen des allgemeinen Strafrechtes zu beurtheilen. 2) Die eigentlichen 
Preßdelikte, „für die öffentliche Ordnung gefährliche und blos darum verbotene Pu— 
blifationen“, nicht friminelles, jondern polizeiliche Unreht. Als verboten find nur 
diejenigen Publikationen anzujehen, durch welche entweder a. zu jtrafbaren oder 
wenigſtens rechtäwidrigen Handlungen aufgereizt, oder b. ein durch das Geſetz ge 
ſchütztes Objekt in einer an fich verwerflichen Form angegriffen wird. Bier jollen 
nur objektive und zwar gerichtliche Maßregeln Anwendung finden. Gegen dieje Ein- 
theilung vgl. John, Marquardjen, Jaques, Merkel, Oetker; fie kann 
heute als genügend widerlegt angejehen werden. Sie franft an einem doppelten 
Irrthum; einerfeits an der Jdentifizirung von Preffe und Deffentlichkeit und damit 
an der VBerrüdung des Schwerpunftes der Frage; ambdererjeits an einer ganz un— 
baltbaren, Heute antiquirten Auffaffung des Polizeideliltes, mit welcher die Ein- 
theilung in fich zufammenfällt. Gefährdung von Rechtögütern ift eben fein Polizei: 
delift. — Oetker hat der Unterfuchung neue Bahnen gewiejen, hat aber einerjeits 
jowol die Bedeutung der Drudjchrift, als auch die der Verbreitung derjelben nicht 
richtig gewürdigt, andererjeits den Kreis der Preßdelikte zu weit gezogen. 

Das Preßdelikt ift Mißbrauch des Rechtes der Gedankenäußerung. Und zwar 
der öffentlichen Gedankfenäußerung; gerichtet an die unbegrenzte Menge, die wir 
Publitum nennen. Es folgt dies jchon daraus, daß das Mittel, die Drudichrüt, 
begrifflich dazu bejtimmt it, in die Deffentlichkeit zu treten. Gharafterifiren wir 
aber eine beitimmte Deliktsgruppe durch Hervorhebung des zu ihrer Begehung ge— 
brauchten Mittels, dann muß diefes Mittel in der feine Beitimmung erfüllenden 
Weiſe gebraucht fein. ch ſpiele nicht mein Blasinjtrument, wenn ich mit einem 
Metallitäbchen auf daſſelbe jchlage. 

Menn aber das Preßdelikt Mißbrauch des Rechtes der öffentlichen Gedanken 
äußerung ift, dann ift es eine bejondere Spezies in einer größeren Gruppe; dann 
erweitert fich die Legislatorifche Frage: „welche Handlungen find Preßdelikte de lege 
ferenda® zu der anderen: „wann ijt die öffentliche Gedanfenäußerung überhaupt 
itrafbar?“ Und diefe Frage hat nicht das Prehrecht zu löſen; es hat vielmehr 
aus der im pofitiven Rechte gegebenen Löſung feine Konſequenzen zu ziehen. 

Die Gedanktenäußerung muß, um zur Aufitellung einer befonderen Deliftsgruppe 
führen zu können, an fich, d. 5. ohne Rüdficht auf einen weiteren Erfolg, norm— 
widrig und ftrafbar fein. Sie kann dies fein, wenn fie unmittelbar Rechtsgüter- 
verlegung ift, wie bei der Öffentlichen Beleidigung, der Gottesläfterung; fie ann 
es jein als Rechtögütergefährdung, wie bei der öffentlichen Aufforderung zu jtrai: 
baren Handlungen; fie kann e8 jein als reiner Ungehorjam, wie bei der ver- 
botenen Ankündigung ausländiicher Lotterien. In allen diefen Fällen ift mit der 
Aeußerung die Norm übertreten, das Delikt vollendet; in allen Fällen iſt daher 


Preiſtrafrecht. 149 


das Delikt in die Gruppe der Delikte durch öffentliche Gedankenäußerung, und wenn 
in Druckſſchriften begangen, in die der Preßdelikte einzureihen. Anders, wenn die 
Gedankenäußerung Mittel zum Zmwede, zur Herbeiführung weiterer Erfolge tft, und 
die Norm erſt mit der Erreichung dieſes weiteren Zieles übertreten ijt; jo bei Be— 
trug, Erpreffung, Mißbrauch der Amtsgewalt. Mag Hier immerhin die Preffe be- 
nüht jein, e& liegt doch nie ein Preßdelift vor (anderd Detfer). Mit anderen 
Borten: die Gedankfenäußerung muß Begehung des Deliktes, nicht Mittel zur 
Begehung jein. 

Bei dem Preßdelikte erfolgt die Gedankenäußerung durch Verbreitung von 
Drudichriften,; darin Tiegt ihre Eigenthümlichkeit, die fie von den übrigen Fällen 
der normwidrigen Gedankenäußerung unterfcheidet. Die Drudichrift iſt der 
Gedanke, die Verbreitung feine Aeußerung. Eine Reihe von Konſe— 
quenzen wird uns Elar, wenn wir an diejer Auffaſſung feithalten. 

Bor Allem erkennen wir fofort die veränderte Geftalt, in welcher der 
Gedanke uns hier entgegentritt. Gr iſt firirt, verkörpert in der Druckſchrift; 
er it fichtbar und greifbar geworden und hat durch die Vervielfältigung die Kraft 
gewonnen, der Schranken von Zeit und Raum zu fpotten. Und zugleich ift ex 
jelbftändig geworden, unabhängig von dem Willen feines Schöpfers, befähigt, in 
Zaufenden von Ginzelindividuen auf eigene Fauft in die Welt zu treten. Dieſe 
telbftändige und vielfache objektive Exiſtenz der Drudjchrift wird noch lange 
nıht in ihrer vollen Tragweite gewürdigt. Ihre Beachtung würde uns lehren, daß 
man durch Beitrafung des Verfaſſers den Gedanken gar nicht trifft, objektive Maß— 
regeln gegen die Druckſchrift daher nothwendig find; fie würde ung lehren, daß wir 
auh in den allermeijten Fällen mit diejen objektiven Maßregeln unfer Ziel viel 
fiherer erreichen, als wenn wir nach den jchuldigen Perfonen juchen. Gefährlich 
oder gar gemeingetährlich ift die Drudjchrift nicht, aber ein jelbjtändiges der Sinnen- 
welt angehöriges Individuum: darum Beichlagnahme und Vernichtung, Wer den 
Gedanken ala Gedanken tödten will, macht fich eines Nonſens jchuldig; wer den 
fleiſch gewordenen Gedanken vernichtet, zieht nur die Konfequenz aus der Fleiſchwerdung. 

Und ferner ergiebt fich, daß in der Verbreitung der Druckſchrift, eben meil 
fe die Aeußerung des Gedankens ift, die Begehungshandlung bei den 
Preßdelitten als normmwidrigen Gedanfenäußerungen, liegt. Darum ift, was ihr 
vorausgeht, Konzeption und Reinſchrift des Manuſkriptes, Abjchließen des Verlags: 
vertrages, Uebergabe an die Druderei, Heritellung des Drudes (Sab, Korrektur, 
Abdrud), Falten, Glätten, Heften, Binden des Buches und endlich auch die Aus— 
gabe der Drudjchrift (f. d. Art. Preßpolizei: Begriffsbeftimmung der Drudjchrift) 
ſttrafloſe Worbereitungshandlung,; darum ift mit der Verbreitung das Delift als 
vollendetes gegeben, und der Drt der Verbreitung der Ort der begangenen That. 
Darum ift ferner der Berfaffer, der im der verbreiteten Drudjchrift zur Menge 
fpricht, dev Thäter des Preßdeliktes; und der Verbreiter, den nöthigen dolus auf 
jeiner Seite vorausgejegt, fein Mitthäter; darum ift für die Gehülfen, die das 
Mittel, die Drudichrift, Herjtellen, für Druder und Verleger, mit der Verbreitung 
und an dem Orte der Verbreitung ihre jtrafbare Thätigfeit fonfummirt. 

Das Gejagte bedarf aber der Erläuterung. Der Begriff der Verbreitung ift im 
Geſetze (RPreßgeſ. $ 3) nicht definirt. Reiche Kaſuiſtik findet fich in den Kommen 
taren und Lehrbüchern des Preß- und Strafrechtes. Sie intereffirt uns Hier nicht, 
fondern der Begriff. Verbreiten ift Zugänglichmachen an das Publikum; eine 
Thätigkeit, kein Erfolg, ein aktiver, fein paffiver Begriff. Eine verbreitete Drud- 
ſchrift ift eine Drudichrift, die verbreitet wird, nicht eine folche, die verbreitet ift. 
Zugänglidh machen und nicht Zugänglichjein (publication und nicht publicite) 
ft Berbreitung. Sie ijt eine centrifugale Bewegung, eine Thätigkeit, die ftrahlen- 
fürmig von einem Mittelpunkte ausgeht, die eben darum begrifflich weder zeitliche 
noch örtliche Schranken kennt. Und daraus folgt, daß der Begriff der Verbreitung 


150 Preßſtrafrecht. 


zwar einer quantitativen Ausdehnung, aber feiner qualitativen Steigerung fähig if. 
Die Verbreitung ift noch immer Verbreitung, auch wenn Hunderte von Jahren jeit 
der Ausgabe der Drudjchrift verjtrichen find, und dieje den Erdball durchflogen hat; 
fie war aber auch ſchon Verbreitung in dem allerkleinften jener konzentriſchen Kreiſe, 
die fie durchmeffen, und in dem allererften Zeittheilchen.. An diefem Orte, in dieſem 
Augenblide war die Gedankenäußerung bereits erfolgt, das Delift bereits vollendet. 
Dies läht fih auch jo ausdrüden: Mit dem Beginnen der Verbreitung 
it das Preßdelikt begangen, ala vollendetes begangen, und der Ort, von dem 
aus die Verbreitung erfolgt, ift der Ort der begangenen That. An diefem Orte, 
in diefem Augenblide ift die ftrafbare Thätigkeit des Verfaſſers und feiner Gehülfen 
oder Anftifter fonfummirt. Das weiterfolgende, das räumliche und zeitliche Fort: 
ichreiten der Verbreitungsthätigkeit fann ihmen gegenüber nicht mehr in Betracht 
fommen; es ift eine folge der jelbftändigen objektiven GEriftenz des Gedankens in 
der Drudichriftt. Sie haben nur an jenem Orte, in jenem Augenblide delinquirt. 
Aber eben weil der Gedanke objektive jelbitändige Erijtenz hat, kann er von anderen 
Perfonen, die ihm nicht gezeugt hatten, benüßt, durch Verbreitung der Drudjchrift 
geäußert werden: die weiteren Verbreitungsakte können, den nöthigen dolus voraus 
geſetzt, jelbftändige, mit dem erjten fongruente Preßdelikte fein. — Aus der Natur 
der Verbreitung folgt ferner, daß ein Verſuch der Preßdelikte ebenjowenig möglid 
ift, ala der Verſuch einer Sedankenäußerung überhaupt (was man gegen letere 
Behauptung vorbringt, hat weder praktiſche Bedeutung, noch theoretijchen Werth); 
denn Beginn der Verbreitung ijt jchon Verbreitung, das Vorangehende Vorbereis 
tungahandlung, und einen Beginn des Beginnes anzunehmen, wird man doch wol 
nicht geneigt fein. 

Wir find davon ausgegangen, daß die Verbreitung von einem Gentrum aus 
erfolgte; die Sache komplizirt fich, wenn mehrere Verbreitungscentren gegeben find. 
Wann das lehtere, wann das erjtere der Tall, läßt fich juriftiich ebenjomwenig ab» 
grenzen, wie die Zahl der zu einer „Menfchenmenge“ erforderlichen Perfonen. Man 
nehme an, daß diejelbe Schrift von Paris und von Leipzig aus verbreitet wird. 
Gleichgültig ift e8, ob der Beginn der Verbreitung an beiden Orten gleichzeitig er- 
folgte oder nicht. Immer haben in einem folchen Falle, wenn fie diefe Art der 
Verbreitung gewußt und gewollt haben, Berfafler, Druder, Verleger zwei jelbit- 
jtändige, realiter konkurrirende, und fongruente Preßdelifte begangen (vgl. mein 
Gutachten an den 15. Deutfchen Juriſtentag über diefe Frage). Man vergegen- 
wärtige fi, um diefe Anficht plaufibel zu finden, den Fall, wenn Jemand einen 
und bdenjelben Vortrag an verfchiedenen Orten vor verfjchiedenen Verſammlungen 
ablieft. Hier jehlt nur die, durch die Natur der Druckſchrift ermöglichte, Wirkung in 
die Ferne; an dem Vorliegen einer realen Konkurrenz wird hier wol Niemand zweifeln. — 

Bedarf es noch einer Aufzählung der Preßbdelitte? Ihre Zahl kann durch 
die gejegliche Kriminalifirung normmwidriger Gedanfenäußerung beliebig vermehrt 
oder vermindert werden. Daß ohne bejondere zwingende Gründe nur die Rechts— 
güterverletzung, nicht aber ihre Gefährdung oder gar reiner Ungehorſam mit Strafe 
bedroht werden ſoll, iſt ein nicht nur für die Preßdelikte geltender Satz. Wer aber 
hier aprioriſtiſch Grenzen abſtecken will, der verkennt, daß die Grenzlinie zwiſchen 
dem beſtraften und dem nichtbeſtraften Unrecht vom Geſetzgeber nach Zeit und 
Volkscharakter und Bedürfniß gezogen werden muß. Die philoſophirende Juris— 
prudenz kann Hier dem Gejehgeber nichts anderes als Rathichläge an die Hand 
geben; ob ihre heutige Geftaltung fie dazu befähigt, ift freilich eine andere Frage. — 
Irrelevant ift es, ob die Gedanfenäußerung in dem Reiche oder im Landesrechte, 
im Strafe oder im Preßgejeße oder in jtrafrechtlichen Nebengejegen mit Strafe be- 
droht ift; die im den SS 15, 16, 17 des Preßgef. enthaltenen Delikte find ebenjo- 
gut Preßbdelikte, wie die öffentlichen Aufforderungen, die Beleidigungen, die Gottes- 
läfterung, die Verlegung der Sittlichkeit des StrafGB. es fein können. — 


Prebitrafrenht. 151 


I. Das ®. jtellt befondere Regeln auf, nach welchen fich die Verantwortlich- 
feit für begangene Preßbdelifte nach Umfang und Inhalt (wer ijt verantwortlich) ; 
welche Strafe trifft ihn?) bejtimmt. Ueber diefe Regeln bericht noch ebenfowenig 
Gemeinfamkeit der Anfichten, wie über den Begriff des Preßdeliktes. — Die Be- 
ne der auswärtigen Rechte find in dem Art. Preßgejeggebung erwähnt. 

GE Handelt fich dabei, da die GStrafbarkeit des Verfaſſers und des Herausgebers 
ſoweit dieſer dem Berfaffer gleichiteht; vgl. d. Art. Herausgeber) nicht zweifel— 
pait jein kann, im MWejentlichen um folgende ragen: 

1) Die Strafbarkeit des Redakteur. Frankreich, Italien, Deutjchland be= 
trachten ihn als dolojen Thäter. 

2) Die Strafbarkeit de8 Druckers, Verlegers, Verbreiters. Hier 
finden wir die verjchiedenjten Syſteme. 

a. Die Genannten werden ala dolofe Thäter gejtraft, 

«, wenn fie den Vormann nicht fennen, jo Frankreich, Belgien; 
P. wenn fie überhaupt jahrläffig gehandelt haben, jo England. 

b. Sie werden wegen Fahrläſſigkeit gejtraft, wenn fie den Vormann nicht 
nennen oder jonjt die pflichtgemäße Sorgfalt nicht aufgewendet haben; jo Dejfterreich, 
Deutichland. 

Die Kritik diefer Syiteme fällt nicht jchwer. Das unter 1) wird im Art. 
Redakteur beiprocden. Das Syſtem unter 2) a. «. ift als das „Belgijche“ 
Syitem, das Syſtem der ausfchlieglichen und jucceffiven Haftung, der responsabilits 
par cascades vielfach, wenn auch mit theilweije bedeutenden Modifilationen, in den 
Deutichen Partikularjtaaten und anderwärts nachgeahmt worden. Es arbeitet ficher 
und leicht; ann fich aber vor dem Vorwurfe nicht retten, daß es ein — höchſtens — 
tahrläffiges Verhalten gewaltfam zu einem dolojen Thun ftempelt. Der gleiche Ein- 
wand erhebt fich gegen die Englifche Libellgefeggebung von 1843. Bleibt das unter 
2) b. angeführte Syſtem der Fahrläſſigkeitsſtrafen; vielgepriefen, jcheinbar ebenjo 
mild, wie gerecht, verdankt es der berrichenden Unflarheit über den Begriff des 
fahrläſſigen Deliktes zum großen Theil jeine weite Verbreitung. Dean hat verkannt, 
daß die preßrechtliche Fahrläffigkeit feine andere ift, ala die des allgemeinen Straf- 
rechtes ; daß man alſo, indem man diejes Syitem adoptirt, Druder, Verleger, Ver— 
breiter wegen fahrläffiger Herbeiführung des in der Drudjchrift enthaltenen Preß— 
deliftes, alfo wegen jahrläffiger Aufforderung zum Hochverrath, fahrläffiger Beleidigung, 
fahrläfſiger Gottesläfterung ac. beitraft (den Nachweis bei v. Liszt, Lehrb. d. Defterr. 
PreßR. und RPreßR.). Nun läßt fich nicht leugnen, daß jahrläffige Begehung dieſer 
Delitte wol denkbar und juriſtiſch fonftruirbar ift; aber welcher Bruch mit dem 
ganzen Spyiteme unjerer Straigefeßgebung in ber Aufftellung jolcher Deliktsbegriffe 
liegt, bedarf feines Nachweijes. 

Eine Ergänzung der Grundfäße des allgemeinen Strafrechtes iſt aber unbedingt 
nothwendig und zwar darum, weil Redakteur, Druder, Verleger nicht ala Gehülfen, 
der Verbreiter nicht ala Thäter, geitraft werden können, jo lange unſer pofitives 
Recht vorfägliches Handeln verlangt; denn der Nachweis, daß fie mit dem Bewußt- 
jein von der Kaufalität ihres Thuns gehandelt haben, ijt in den jeltenjten Fällen 
zu erbringen. Es bleibt nur ein Ausweg, den die NGejehgebung in den $$ 41, 
42 des StrafGB. und 88 477 ff. der StrafPO. theilweife eingefchlagen hat: die 
objeftiv-jelbjtändige Exiſtenz der Drudjchrift anzuerkennen und demgemäß in die 
Objektivirung des Verfahrens bei Preßdelikten das Schwergewicht der Re— 
preifion zu verlegen. (Im Prinzipe übereinjtimmend Glajer, Wahlberg, 
Merkel, v. Liszt; bei Lebterem Detailvorjchläge.) Das objektive Verfahren ijt 
noch einer bedeutenden Erweiterung fähig; ala Konſequenz derjelben müßte der 
Wegfall aller anderen Ergänzungen der allgemeinen jtrafrechtlichen Grundjähe ge— 
fordert werden. — 


152 Preiftrafredht. 


Der im Schoofe der Reichätagstommiffion von 1873 auägearbeitete Entwurf 
eines Preßgeſetzes hatte das Belgijche Syftem adoptirt, der Regierungsentwurf ftand 
auf demjelben Standpunkte. Allein in der Kommiffion von 1874 kam die entgegen 
gejeßte, von dem Deutjchen Juriftentage (1872) ausgehende Strömung zur Geltung; 
das Belgifche Syſtem wurde bejeitigt und ein gemifchtes Syftem aufgeftellt, das in 
das Geſetz jelbit überging. Nach diefem (Preßgeſ. SS 20 u. 21) gelten für die Ver: 
antwortlichfeit für Preßdelikte folgende Sätze: 

1) Zunächſt fommt die Schuldlehre des allgemeinen Strafrechts 
zur Anwendung. Danach find Berfaffer und erjter DVerbreiter, oder Herausgeber 
und eriter Verbreiter, den nöthigen dolus bei Beiden vorausgejeht, Mitthäter event. 
Thäter. Druder und Verleger können wegen vorfäßlicher Theilnahme an dem Preb- 
delitte ala Anftifter oder (regelmäßig) Gehülfen bejtraft werden. Modifikationen 
diejer gegenjeitigen Stellung find jelbitverftändlich immer möglich. Die jpäteren 
Verbreiter machen fich event. (Vorſatz erforderlich!) eines neuen jelbjtändigen Preß— 
deliktes durch die Verbreitung jchuldig. 

2) Auf der Bafis dieſer allgemein jtrafrechtlichen Grundfähe jtehend, präju: 
mirt das Geſetz, unter Zulaffung des Gegenbeweijes, die dolofe Thäterjchaft des 
verantwortlichen Redakteurs (f. diefen Art.). 

3) Begründet der Inhalt einer Drudichrift den Thatbeſtand eines Prefdeliktes, 
jo präjumirt das Gejeß bei gewiſſen (nicht bei allen) an Serftellung, Ausgabe, 
Verbreitung der Drudfchrift betheiligten Perfonen, wenn fie nicht ala doloſe Thäter 
oder Theilnehmer bejtraft werden können, ihre fahrläffige Thäterſchaft. Es find ver- 
antwortlic” Redakteur, Verleger, Druder, Verbreiter. Betont jei, daß hier „Ber: 
leger“ und „Druder“ nicht die auf der Drudjchriitt genannten Perjonen (f. d. Art. 
Preßpolizei), jondern diejenigen find, die thatjächlich das betreffende Gewerbe 
leiten, alfo event. Stellvertreter, oder der wirkliche Druder jtatt des genannten 
Strohmannes. 

Gegen die Präfumtion fteht den Genannten der Gegenbeweis zu (er ift nicht von 
Amtswegen zu erheben!). Der Gegenbeweis fann auf verichiedene Weife geführt werden: 

8. der Angeklagte weiſt die Anwendung der pflichtgemäßen Sorgfalt oder jolche 
Umftände nach, welche diefe Anwendung unmöglich” gemacht Haben. Oder aber 

b. der Gegenbeweis wird erjeßt durch die Nennung eine® Vormannes. Bor: 
mann ift 1) eine in der obigen Reihenfolge vorftehende Perſon; 2) Verfaffer oder 
Ginjender, wenn mit ihrer Einwilligung die Veröffentlichung erfolgte; 3) bei micht 
periodijchen Drudjchriften der Herausgeber. Die Nennung (und Beicheinigung) muß 
bis zur Verkündigung des erjten Urtheils erfolgen; der Genannte zur Zeit der 
Nennung ſich in dem Bereiche der richterlichen Gewalt eine Deutichen Bundes— 
ftaates befinden oder wenn er bereits geftorben tft, zur Zeit der Veröffentlichung 
befunden Haben. Unmöglichkeit der Nennung, jelbit wenn fie eine durchaus un— 
verichuldete ift, kann die Nennung nicht erjegen; doch fteht dem Angeklagten auch 
in diefem Falle der unter a. erwähnte Weg offen. 

c. Der Berbreiter auswärtiger Drudjchriften hat außer den unter a. und b. 
erwähnten Vertheidigungsmitteln noch ein anderes, um der Verantwortlichkeit zu ent- 
gehen. Er bleibt jtraflos, wenn ihm die betreffende Drudjchrift auf dem Wege des 
Buchhandels zugelommen ift. — 

Die preßrechtliche Fahrläffigkeit zieht Geldjtrafe bis zu 1000 Mark oder Haft 
oder Feſtungshaft oder Gefängniß bis zu einem Jahre nach fi. — 

Möglichit fomplizirt und die praftifche Anwendung erſchwerend, find die Be- 
jtimmungen, welche die Novelle vom 15. Oktbr. 1868 in das Oeſterr. Recht ein- 
geführt hat. Auch nach dem Dejterr. Preßrechte wird die prinzipale Anwendung der 
allgemeinzftrafrechtlichen Grundfäge ergänzt durch das Syſtem der Fahrläjjig: 
feitsftrafen. Dagegen iſt dem Dejterr. Rechte die Präfumtion der dolojen Thäter— 
ichaft des verantwortlichen Redakteurg fremd geblieben. Wegen Fahrläffigkeit haften : 


Prebitrafredht. 153 


1) der Redafteur, wenn bei Anwendung der pflichtgemäßen Aufmerkjamteit 
die Aufnahme des jtrafbaren Inhaltes der Drudjchrift unterblieben wäre; 

2) der Verleger einer nichtperiodifchen Drudjchrift, wenn derjelbe bei jeiner 
eriten Bernehmung einen im Inlande domizilirenden Verfaſſer oder Herausgeber 
(einen folchen kennt das Defterr. Recht bei nichtperiodifchen Drudjchriften überhaupt 
nicht!) zu nennen und nachzuweifen nicht vermag; 

3) der Druder, wenn bei der Drudlegung die Vorjchriften der 88 9 und 
(fol wol heißen: oder) 17 des Preßgef. (Nennung des Druders ıc., Pflichteremplare) 
nicht beobachtet wurden (aljo ideelle Konkurrenz mit den betreffenden Polizei— 
belikten). 

4) der Berbreiter, a. wenn die Verbreitung auf eine durch das Gejeh unter: 
jagte Weiſe geichah (Konkurrenz mit der Preßgewerbeübertretung des $ 23 des 
Preßgeſ.); b. wenn die verbreitete Drudjchriit mit Verbot oder Bejchlag belegt war 
(Konkurrenz mit den betreffenden Preßpolizeidelikten); c. wenn auf der Schrift die 
Angabe des Ortes des Gricheinens gänzlich fehlt oder weder der Verfafjer, noch ein 
gewerbamäßiger Verleger angegeben ift oder die Unrichtigkeit diefer Angaben erfenn- 
bar war; d. wenn im Auslande erjchienene und im Inlande verbreitete Schriften 
durch ihren Titel oder durch den Gegenjtand, bildliche Darjtellungen oder durch die 
Art der Zufendung die Aufmerkſamkeit zu erregen geeignet waren. 

Die preßrechtliche Tahrläffigkeit ift immer Uebertretung; die Strafe ftuft fich 
ab nach der Schwere des in der Drudjchrift enthaltenen Preßdeliktes: Arreit von 
1—6 Monaten, wenn diejes ein Verbrechen, Geldjtrafe von 20—200 fl., wenn 
diefes ein Vergehen iſt. — 

I. Wahrheitögetreue Berichte über Berhandlungen in den öffentlichen 
Situngen des Reichsſtages oder über Verhandlungen eines Landtages oder 
einer Kammer eined zum Deutjchen Reiche gehörenden Staates fünnen weder 
zur Verfolgung der an der Berichterftattung betheiligten Perjonen, noch auch zur 
Einleitung des objektiven, auf Unbrauchbarmachung der Drudjchriit gerichteten Ver— 
jahrens führen (RVerf. Art. 22, StrafGB. $ 12, Oeſterr. Preßgei. $ 29). Da— 
gegen fehlt eine analoge Eremtion der Berichte über Gerichtäverhand- 
lungen. Die vielfach aufgejtellte, von der Deutjchen wie Defterreichifchen Praris 
aber jtetö zurüdgewiejene, Behauptung, daß die Berichterftattung über öffentliche 
Gerichtäverhandlungen jchon wegen diefer Deffentlichkeit jtraflos bleiben müſſe, it 
darum unbaltbar, weil die Deffentlichkeit des Gerichtsjaales eine andere ift ala die 
der Preſſe, eine andere nach ihrer inneren Natur, wie nach ihren Wirkungen. Diefe 
Berichte ftehen aljo unter der Herrichaft der allgemeinen Grundjäße des Straf und 
Preßrechtes. Stellt fich der Bericht ala die nach der objektiven, wie nach der jub- 
jeftiven Seite jelbitändige Reproduktion eines jtrafbaren Ihatbeitandes dar, jo kann 
der Umftand, daß es fich lediglich um Reproduktion Handelt,. feinen Einfluß auf die 
Rechtöwidrigkeit oder Straibarkeit des Thuns äußern. Derſelbe Grundjag kommt 
aber auch dann zur Anwendung, wenn die Verhandlung bei gejchloffenen Thüren 
ftattgefunden bat; vorausgeſetzt, daß die Berichterftattung nicht gegen die Beſtim— 
mungen des $ 17 des Preßgeſ. verftößt. 

IV. Die meijten Preßgejege haben, dem von frankreich (26. Mai 1819) ge— 
gebenen Beifpiele folgend, die Verjährung der Preßdelikte an eine fürzere 
Berjährungsfrift gebunden. Die Gründe für diefe Sonderbeftimmung lafjen fich auf 

zwei Gefichtspunfte zurüdführen. 1) Mag e8 auch zunächſt den Anfchein haben, 
als wäre fein Grund dazu vorhanden, den Mißbrauch der Preßfreiheit anders zu 
behandeln, ala jeden anderen Mißbrauch des Rechtes der freien Gedankenäußerung, 
fo ergiebt fich doch ein wejentlicher Unterjchied, jobald wir, von den regelmäßigen 
Formen der nichtperiodijchen Preſſe abjehend, nur die politische Tagesprefie ins Auge 
iaffen. Der Redner, der in öffentlicher Vollsverſammlung jpricht, hat Zeit gehabt, 
feine Worte vorher auf der Wagfchale der Ueberlegung zu prüfen; der Journalijt 


154 Primage. 


arbeitet von Heute auf morgen, unter dem erſten Eindrucke einer telegraphiſch ein: 
getroffenen Nachricht, während der Seber auf das Manuffript wartet. Produkt 
augenblidlicher Eingebung, oft Leidenjchaftlicher Erregung, in kurzer Friſt dem Ver: 
iafjer jelbjt fremd geworden, und auf die augenblidliche Stimmung berechnet, muß 
der Zeitungsartifel aus den Umftänden, denen er feine Entjtehung verdankt, beurtheilt 
werden. Mit den Berhältniffen ändert fich feine Bedeutung. Darum ift vajches, 
der That möglichjt unmittelbar fich anfjchließendes, Strafverfahren nothwendig, 
ſoll das Urtheil der Individualität des Falles gerecht werden. Der periodiichen, 
in furzen Intervallen erfcheinenden Drudjchrift gegenüber ift eine fürzere Ber: 
jährungsfrift gewiß gerechtfertigt. Objektive, gegen die Drudjchrift ala folche ge 
richtete Maßregeln (Unbrauchbarmachung) werden durch den Eintritt der Verjährung 
nicht auögejchloffen. 2) Dazu tritt nun die Möglichkeit einer jofortigen Ein- 
leitung und rajchen Durchführung des Verfahrens. Druder, Verleger und Redakteur 
find mit Namen und Wohnort den Behörden bekannt; der objektive Thatbejtand it 
in der Drudjchrift verkörpert und durch die Zulaffung der nichtrichterlichen Be 
ichlagnahme ſofort jeitftellbar; die gejehlichen Präfumtionen machen die Sammlung 
der Nachweije für die fubjektive Verfchuldung meist entbehrlih: Gründe genug, um 
mit der Berfolgung rajch vorgehen zu können. — 

Die Reichsgeſetzgebung Hat diefen Erwägungen Rechnung getragen (ähnlich 
Defterr. Preßgeſ. 8$ 27 u. 40). Nach $ 23 verjährt die Strafverfolgung (nicht die 
Strafvollitrefung, für welche die gewöhnlichen Friſten aufrecht erhalten bleiben) 
derjenigen Verbrechen und Bergehen (nicht Uebertretungen), welche durch Verbreitung 
von Drudichriiten ftrafbaren Anhaltes begangen werben (e8 find die Preßdelikte 
in dem oben befprochenen Sinne), ſowie derjenigen fonftigen Vergehen, welche in diejem 
Gejege mit Strafe bedroht find (dev Preßpolizeidelikte) in ſechs Monaten. 

V. Die Aburtheilung der Preßdelikte ift den gewöhnlichen Gerichten zu- 
gewiefen. Doch bleiben (nah $ 6 des EG. zum GVBG.) die beftehenden Landes- 
gejeglichen Vorſchriften über die Zuftändigkeit der Schwurgerichte für Preßdelikte in 
Kraft. Solche Vorſchriften beftehen in Bayern, Württemberg, Baden und Oldenburg. 
Dal. d. Art. Schwurgericht. 


Lit.: ©. d. Art. Drebgelehgebung. — Bol. auch die Art. Herausgeber, kai 
gewerbe, Prekpolizei, Redakteur v. Li 


Primage (auch Prämie, primage ; — Th. I. ©. 544) iſt in der älteren Bedeutung 
eine Belohnung, welche der Betrachter (d. i. Derjenige, welcher den Seefrachtvertrag mit 
dem Verfrachter gefchloffen hat) oder auch der Ablader (d. i. Derjenige, welcher die 
Frachtgüter liefert) dem Schiffer für die glüdliche Ankunft des Frachtguts mit oder 
ohne vorgängige Zuficherung gewährte. Die vertragamäßige Zuficherung der P. 
jeitend des Befrachterd erfolgte jpäterhin regelmäßig nicht zu Gunſten des Schiffers, 
fondern zu Gunsten des Rheders und dem Schiffer verblieb nur eine die Fracht 
überjteigende Belohnung, welche den Namen: Kaplaken (panni cappales, 
Engl. hatmoney und auch noch primage, Franzöſ. chapeau de maitre genannt) 
führte, theils an der Fracht für eine Tonne, theild in Prozenten der Fracht (von 
2 bis zu 6 Prozent) beftand und an die Bedingung geknüpft war, daß der Be- 
frachter mit dem Schiffer objektiv zufrieden jei. S. hierüber d. Art. Kaplaken. 
Auch dieſes Kaplafen oder P. wurde fpäterhin zur Fracht gerechnet und nicht an 
den Kapitän, jondern an den Rheder bezahlt. In England wurde jodann eine 
Ertravergütung des Kapitäns ufanzmäßig eingeführt, das ſog. privilege, und in 
Deutichland und Frankreich (in erſterem, insbejondere Hamburg, unter dem Namen: 
Gratififation, Gratiale und auch Kaplaken, in Frankreich) ala „strennes‘‘ oder 
„chapeau““) häufig ein prozentmäßiger Zufchlag zur Fracht für den günftigen Ausfall 
der überfeeifchen Spekulation bedungen, welcher nur dann dem Schiffer und nicht 
dem Rheder zu leiten war, wenn Erſteres ausdrüdlich vereinbart worden. 


Primogeniturordnnung. 155 


Da durch derartige Vereinbarungen zwiſchen Schiffer und Befrachter das Intereſſe 
des Rheders möglicherweife Leicht gefchädigt wird (j. Makomwer, a. a. D. ©. 550 
Anm. 68 a), fo bejtimmt das Allg. Deutiche HGB., daß der Schiffer Alles, was 
er vom Befrachter, Ablader oder Ladungsempfänger außer der Fracht ala Kaplaken, 
P. oder fonjt al® Belohnung oder Entichädigung, gleichviel unter welchem Namen 
(auh ala Erportbonififation, j. ROHG. a. a. D. und Lewis, Seerecht, ©. 120) 
erhält, dem Rheder als Einnahme in Rechnung bringen muß (HGB. Art. 513). 
Hierdurch iſt aber keineswegs ausgeichloffen, daß P. u. dgl. vertragsmäßig, bedingt 
oder umbedingt, rechtlich fejtgefeßt werden könne (Art. 622) und daß für deren 
Zahlung der Befrachter eventuell hafte (Art. 629). 

Ouellen: Allgem. Deutſches HGB. Art. 513, 622, 629. 

git.: (Ueber die Begriffe ſ. Bobrit, Allgem. — — 1850, ©. 375; 
Röding, Allgem. Wörterbuch ber Marine, »d. I. ©. 806.) — Erf. d. ROHG. (über 
Ausfuhrprämien) vom 16. April 1872; Entic). Bb. 6 a 11 ©. Fi — Geerchtl. — 
©». — Grundſaͤtze des ieinig en Europäiſchen —— 1851, 3b. J. 8 


19, 96 er © 156, 268—270, alower, ne Deutſches HGB., 8. a 
1880, ©. 580, 623, 627. — — Denia Seeredht, L. &. 118-120. — ©. aud) 
d. Art. Raplaten. Gareis. 


Primogeniturorduung. Dieſelbe iſt von ſtaatsrechtlicher Bedeutung, ſofern 
ſie faſt in allen europäiſchen Monarchien die Thronfolge beſtimmt. Andererſeits 
gehört ſie dem Privatrechte an als eine von der gemeinen Erbfolge abweichende 
finguläre Succeſſionsordnung. 

1) Die P. als ſtaatsrechtliches Inſtitut. Dem älteren öffentlichen 
Rechte Deutfchlands ift fie völlig unbefannt. Das Germaniſche Königthum war ein 
Recht des ganzen Königsgeſchlechts. Unter mehreren Mitgliedern deſſelben entjchied 
die Wahl des Volkes. Im Fräntiichen Reiche kam jeit Chlodwig die Theilung auf. 
Völlig vereinzelt fteht der Verſuch hausgefeglicher Einführung des Seniorats, welchen 
der Bandalenkönig Geiferich machte. Das Deutiche Königthum konnte ala ein 
Wahlkönigthum zur Ausbildung einer bejtimmten Succeffionsordnung feinen Anlaß 
bieten. Dieje ift vielmehr von den Territorien ausgegangen und zwar bat fie mit 
der Gntwidelung des Staatöbegriffes in denfelben gleichen Schritt gehalten. So 
lange die Verwaltung des Reiches in den einzelnen Theilen deffelben durch Beamte 
im engeren Sinne des Wortes ausgeübt wurde, hatte der König das Recht, Dies 
ielben beliebig einzufeßen. Es ift in Th. I. ©. 179 und 195 bereit? ausgeführt 
worden, wie die Nemter den Charakter erblicher Zehen annahmen. Das Lehn konnte nach 
Deutichem Lehnrechte ohne Zuftimmung und Mitwirkung des Lehnsherren nicht ge= 
theilt werden: Bezüglich der Fürſtenthümer wurde der Grundjaß der Untheilbarfeit 
mehrmals durch Reichsſentenzen ausdrücklich ausgejprochen. So lange der Charakter 
des Amtslehns jtreng gewahrt wurde, konnte in dafjelbe nur eine Individuals 
ucceffion ſtatthaben, bei welcher in der Regel der Altersvorzug Beachtung fand. 
Seit dem 13. Jahrh. und zwar namentlich ſeit dem Interregnum find der Geſichts— 
vunft des Amtes und die Grundfäße des ftrengen Lehnrechts allmählich verſchwunden. 
Die Deutſchen Fürſtenhäuſer führen ſeit dieſer Zeit in ſtreng privatrechtlicher Auf⸗ 
jaſſung die Theilbarkeit des Fürſtenthums durch in ähnlicher Weiſe, wie fie im 
Grbgang bei freiem Grunmdbefi eintrat. Man betrachtete die Bejeitigung der In— 
dividualfucceffion ala eine Errungenschaft gegenüber dem früher geltenden Ujus. So 
wurde die Theilungsfitte allgemein. Dieje rein privatrechtliche Behandlung der fürft- 
lichen Grbiolge bildete aber nur einen Durchgangspunft in der Entwidelung der 
Sandeshoheit. Nachdem die Theilbarkeit dazu beigetragen hatte, den urjprünglichen 
Amtscharaktter des Fürſtenthums vollends abzuftreiten und ſomit ihre Aufgabe erfüllt 
war, machte fich in den Deutjchen Fürftenhäufern ſelbſt eine Reaktion gegen die 
Yändertheilungen geltend. Die Erfahrung eines Jahrhunderts mußte zur Genüge 
(ehren, daß die jortwährenden Theilungen die Kraft des Haufes jchwächten und 
ieinem Anſehen erheblich jchadeten. Seit dem 14. Jahrh. ift in den Deutichen 


156 Primogeniturorbnung. 


Fürſtenhäuſern das Beitreben allgemein, die Individualiucceffion, welche man mit 
bewußter Abficht aufgegeben, wiederum einzuführen. Bejonders maßgebend wurde 
in dieſer Beziehung die goldene Bulle, welche für die weltlichen. Kurwürden im 
Intereſſe einer definitiven Regelung der Königswahlen die Untheilbarteit und Primo: 
genitur feftießte. Indem man dieſes Beiſpiel nachahmte, wurde in allen welt 
lichen Fürſtenthümern bier früher dort jpäter zum Theil unter hartnädigen Kämpfen 
die Untheilbarteit und das Recht der Erftgeburt eingeführt (zuletzt in Meiningen 
1802). Demnach ift heutzutage in allen monarchiich organifirten Staaten Deutid: 
lands die Throniolge durch die P. geregelt. Dieje hat die Untheilbarkeit der Succeffion 
zur Vorausſetzung, wie fie ohnehin durch den modernen Staatäbegriff erfordert wird. 
Die Primogeniturfolge ift Linealprimogeniturfolge. Der Vorrang des Eritgeborenen 
vor den Nachgeborenen ift zu einem Vorrang der Linie des Erftgeborenen vor den 
jüngeren Xinien in fonjequenter Weile auögedehnt. 

2) Die®. als privatrehtliches Inſtitut. Das ältere Deutjche Privat 
recht weiß nichts von einer Untheilbarkeit des vererblichen Grundbefiges, die ja die 
Unterlage der Primogeniturfolge bildet. Waren mehrere gleich nahe Verwandte vor: 
handen, jo wurde das Erbe getheilt. Nur bezüglich des Handgemals (Th. I. ©. 215) 
hatte der Aeltefte von der Schwertfeite einen Vorzug. Dagegen zeigt dad Deutſche 
Lehnrecht im weiteren Verlaufe feiner Entwidelung eine entichiedene Hinneigung zur 
Primogeniturfolge. Der Lehnäherr war nur verpflichtet, Einen von mehreren Lehns— 
erben zu belehnen und zwar jenen, den dieje unter ſich auswählten. Mit Rüdficht 
auf die Lehnsvormundichait, welche dem Lehnsherrn während der Minderjährigteit 
des Dafallen das Recht auf den Bezug der Lehnafrüchte gewährte, wurde unter 
mehreren Defcendenten des lebten Lehnsmannes gewöhnlich der Eritgeborene für das 
Lehn beitimmt. Das Langobardifche Lehnrecht, das mit dem Röm. und Sanon. 
Necht in Deutichland rezipirt ward, läßt die Auftheilung des Lehns unter gleich 
nahen Lehnserben zu. Ebenſo war dem Röm. Necht das Prinzip der Individual: 
jucceffion unbefannt. Im Gegenjahe nun zu den Beitimmungen des Gem. Rechte 
bat in den Sreifen des Adels in Folge von Hausgeſetzen oder im Wege der Objer: 
vanz oder durch Errichtung von Familienfideikommiſſen die Individualjucceilton 
Eingang gefunden. Sie gejtaltet ſich ala P. oder in anderen Formen (Mtajorat, 
Sekundogenitur zc.), von denen unter den bezüglichen Schlagworten gehandelt wird. 

Nach der PB. juccedirt dem Grblaffer in erfter Linie ftets fein erjtgeborener 
Sohn. Hit diefer vorverftorben, jo folgt der erftgeborene Enkel von diefem Sohne 
ber, eventuell der erjtgeborene Urenkel von diefem Enkel her. Iſt fein Deicendent 
des vorverſtorbenen eritgeborenen Sohnes vorhanden, jo erbt der zweitgeborene Sohn 
des Grblaffers, reip. deffen Deicendent nach Erftgeburtärecht. Eventuell fommt der 
drittgeborene Sohn und deflen Linie zur Erbichait. Gebricht e8 an Dejcendenten 
des Grblaffers, jo kommt die zweite Pareniel (die des Vaters) als erbberechtigt in 
Betracht ıc., und zwar erbt innerhalb der einzelnen Parentel immer der Erjtgeborene 
der älteren Linie. Halbbrüder von väterlicher Seite ftehen ſtets den vollbürtigen 
gleih, während Halbbrüder von mütterlicher Seite gar nicht berüdfichtigt werden 
(Preuß. Allg. ER. II. 4 $$ 162, 163). 

Nur ausnahmsweiſe findet fich die GErftgeburtäfolge bei Bauerngütern, jo in 
Lippe und Waldet, während ſonſt bei Bauerngütern, wenn Individualfucceffion 
ftattfindet, gewöhnlich Minorat eintritt. 


Lit. u. Gfgb.: Hermann Schulze, Dad Recht ber — in den Deutſchen 
reis und feine Bedeutung für die ae Staatdentwidelung, 1851. — Pfeiffer, 
rdnung ber Regierungsnachfolge in den monarchiſchen Staaten bea teutiihen Bundes, 1826. — 
Pütter, Grörterungen und Beifpiele des teutichen Staats: und Fürſtenrechts, I. 307 ff. — 
B Meyer, Kolonatsreht, I. $ 45. — Weigel, Einleitung in das Walded’iche Landesrecht, 
57. — Herm. Schulze, Art. Thronfolge in Bluntihliu. Brater's StaatsWört.B. — 
Preuß. Allg. ER. 11. 4 SS 147 fi. — Defterr. BGB. 55 619-625. — Bayer. Verf. Urk. von 
1818, ®eil. VIII. SS 86—91. Heinrih Brunner. 


Prinzeſſinfteuer — Prinzipal. 157 


Prinzeffinftener (Th. I. S. 845), auch Fräuleinjteuer, wird noch immer 
diejenige aus Staatämitteln gewährte Geldzahlung genannt, durch welche eine 
Tochter des regierenden Haufes bei ihrer Vermählung ausgeftattet und abgefunden 
werden joll. Sie iſt jehr alt, wurde fchon in der Magna Charta dem Könige 
von England wenigjtens für die Verheirathung feiner älteiten Tochter zugejagt und 
hat auch im Deutjchland bereits in der Blüthezeit der landitändischen Verfaſſung 
beitanden. 

Gegenwärtig ijt vielfach durch bejondere Apanagegejege anerkannt worden, daß 
den Prinzeffinnen des regierenden Haufe bei ihrer Vermählung eine bejtimmte, 
geſetzlich feſtgeſtellte Summe als Mitgabe, Heirathägut, Ausfteuer aus Staatämitteln 
zu gewähren if. Don diefer Summe darf jedoch meiſtens der Betrag derjenigen 
Summe abgezogen werden, welche der betreffenden Prinzeffin aus Staatsmitteln ver- 
abreicht wurde, als fie entweder in Folge des Todes ihrer Eltern oder nach erlangter 
Volljährigkeit mit Genehmigung des Souveräns einen jelbjtändigen Haushalt fich 
einrichtete. 

Uebrigend fprechen nicht alle Apanagegejege jämmtlichen Prinzeffinnen des 
regierenden Haufes eine Mitgabe und Ausftattung aus Staatsmitteln zu; mehrfach 
haben nur die Töchter des Souveräns und des Sronprinzen einen gefeßlich aner— 
fannten Anjpruch auf die P., während die Ausjtattung und Abfindung der Töchter 
anderer Glieder des regierenden Hauſes von ihren etwaigen Apanagen oder von 
denjenigen ihrer Väter getragen werden müſſen, bzw. dem freien Berwilligungsrechte 
der Landſtände unterliegen. 

Die Höhe der P. muß da, wo zwar die Verpflichtung zu ihrer Gewährung, 
nicht aber ihr Betrag geſetzlich feitgeftellt ift, im jedem einzelnen Falle zwiſchen 
Regierung und. Landitänden vereinbart werden. In denjenigen Ländern, in welchen 
die Höhe der Steuer gejeßlich bejtimmt ift, iſt diejelbe regelmäßig nach der Ent— 
ternung der VBerwandtichait vom dermaligen Souverän verjchieden normirt. Ueberall 
aber ift die P. eine einmalige und vollitändige Abfindung der Prinzeffin, mit deren 
Auszahlung — wenigitens bis zum volljtändigen YAusgange de8 Mannsſtammes — 
jeder Anspruch erichöpft ift, den Jene an das Hausvermögen der regierenden Familie 
oder an den Staat zu machen berechtigt ift. Auch kann bei einer zweiten Ehe die 
Steuer nicht noch einmal gefordert werden. 

Die Trage, ob da, wo die Verpflichtung zu der Gewährung der P. gejetlich 
nicht feftjteht, wie 3. B. in Preußen, doch eine herkömmliche Verpflichtung der 
Stände zur Verwilligung derfelben angenommen werden müſſe, iſt jchon deshalb zu 
verneinen, weil das moderne Staatörecht herkömmliche Steuern nicht kennt. Es 
ſteht in diefem Falle jomit nicht blos die Höhe der geforderten P., jondern auch 
ihre Berwilligung oder Ablehnung ausjchließlich in dem Ermefjen der Landſtände. 
In Preußen ift übrigens die P., obgleich fie von der Regierung fortdauernd ala 
eine „herkömmliche“ bezeichnet wird, jeit geraumer Zeit nicht mehr gefordert, in 
Oldenburg dagegen ausdrüdlich auf die Givillifte übernommen worden. 

ee Bayern: Tyamilienftatut .. 2 Aug. 1819 Tit. VI. $ 11. — Württemberg: 


Vig. Urk. 105; Ken: U $ von 1828 88 49, 50. — Medlenburg: Erbvergleih, 88 75, 
11 IF ie — Baden: panagegejeß von 1839 $$ 16, 17. — Oldenburg: Anlage 1. zur 


Verfg. Urk. $ 12 sub 4 

Lit: HM. gadaria Deutfches Staats: und Bundesrecht, 2. Thl. 3. Aufl. ©. 498 
Note 4 &. 506. — Zöpfl, Grundfäße bed gemeinen Deutichen rk 5. Aufl. BD. J. 
©. 738. — v. Rönne, Staatsrecht der Preußiſchen Monardie, Thl. I — 2, 3. Aufl. 
©. 692 Note 3. nz Brod haus. 


Prinzipal (Che, Herr, Inhaber eines Handelsetabliffements, einer Firma) 
ift Derjenige, in deſſen Namen das Handelsgeſchäft betrieben, die DBerwaltung der 
Firma geführt, die Unterjchrift Für das Gejchäft abgegeben wird. Cs iſt an fich 
möglich, daß der P. das Kapital und die Arbeit, welche zum Betriebe des Handels— 


158 Prinzipal. 


geichäfts erforderlich find, ganz oder theilmweije jelbit Liefert, mithin ſelbſt Alleineigen: 
thümer oder Miteigenthümer der Geichäftsfonds ift, allein oder mit Anderen den 
Betrieb ausübt, die Arbeit der Geſchäfte bejorgt, aber nothiwendig ijt dies nicht, 
in ausgedehnten Unternehmungen auch thatjächlich unmöglich; entjcheidend iſt der 
Name: nur Derjenige, in deſſen Namen das Geichäit, das Handelsgewerbe, be: 
trieben wird, gleichviel ob auf feine Rechnung, mit jeinem Kapital, mit feiner Arbeit 
oder auf fremde Rechnung, mit fremdem Kapital, mit fremder Arbeit, ift der P. 
Darum fteht der P. begrifflich im Gegenſatz zu denjenigen Perjonen, welche Kapital 
in das in feinem Namen betriebene Gejchäft eingelegt haben, wie 3. B. ber ſtille 
Gejellichafter, der Kommanditiſt, der Aktionär, und er fteht im begrifflichen Gegen: 
jage zu dem gejammten Perſonal der Firma, welche in jeinem, des P. Namen ver: 
waltet wird, im begrifflichen Gegenja aljo zu den Handlungsbevollmächtigten und 
den Handlungsgehülfen, zu Faktor, Disponent, Geichäftsführer, Profuriften, Agenten, 
Kommis u. ſ. w., — der ®. ift Derjenige, qui institorem praeposuit (Thöl, a.a. ©. 
©. 190 Anm. 9). 

Der P. ift entweder eine phyſiſche oder eine juriftiche Perſon; wird ein Geſchäft 
durch den Bormund im Namen des Mündels, durch den Ehemann mit feinem Ber: 
mögen im Namen der Ehefrau geführt, jo iſt erfterenfalla der Mündel, Letterentalls 
die Ehefrau der P. In Bezug auf die Gejchäfte einer Nktiengejellichaft kommt die 
P.ſchaft der juriftifchen Perſon der Aktiengejellichaft zu (Thöl jagt a. a. DO. ©. 481: 
ber Generalverfammlung) ; ebenfjo muß entiprechend auch der offenen Sandelägeiell- 
ſchaft, der eingetragenen Genoſſenſchaft, der Kommanditgeſellſchaft und der Kommandit— 
Aktiengefellihaft in Bezug auf die in ihrem Namen geführten Gejchäfte der Charakter 
des P. beigelegt werden. Letzteres ift zum Theil beftritten, und zugeftanden muß 
werden, daß die KHonjequenzen der P.ſchaft einer juriftijchen Perſon nicht nach allen 
Richtungen gezogen werden können, namentlich nicht in ftrafrechtlichen und gewerbe— 
polizeilichen Beziehungen, in welch’ letzteren man geneigt it, die mit der Betriebe 
leitung an oberjter Stelle betraute phyſiſche Perſon als PB. anzufehen. 

Das Nechtöverhältniß zwifchen dem P. und dem (übrigen) Perjonal eines 
Handelsgeſchäfts (einer Firma, einer Sandelsniederlaffung) ift in der Regel als 
Arbeitsvertrag, Freidienſt- oder Lohndienftvertrag aufzufaſſen und nach Inhalt dieles 
Vertrags im Einzelnen zu beurtheilen. Das Geſetz bejtimmt jedoch, daß der Zod 
des P. einen Antrag, einen Auftrag oder eine Vollmacht, welche von ihm aus: 
gegangen find, im Zweifel nicht aufhebt. Ferner enthalten die Geſetze genaue Br 
ftimmungen über die Profura und Handlungsvollmacht, jowie über Handlungs- und 
gewerbliche Gehülfen, insbefondere über die einjeitige Aufhebung des Dienftverhält- 
niffes (j. Hierüber die Art. Sandlungsbevollmädtigte, Handlungs: 
gehülfen, Handlungslehrling, Profura u. A.). Ueber den Einfluß der 
Konkurseröffnung über das Vermögen des P., ferner über den Verkauf des Etabliſſe— 
ments u. dgl. — in Bezug auf den Fortbeſtand der Dienftverhältniffe j. die von 
Fuchsberger, a. a D. ©. 94— 96 zujammengeftellten Entich. des ROGHO. 
P. als Lehrherr j. ebenda ©. 91, 94. 

Nach landrechtlichen bzw. gemeinrechtlichen Beitimmungen ift zu beurtheilen, 
inwieweit der P. aus Vergehen und jonjtigen Pflichtwidrigkeiten feines Perjonals 
Ichadenserjapflichtig werden fann (vgl. Entich. dee ROHG. I. ©. 253; IV. ©. 220, 
243; X. 84; XII. 77). Beauftragt der P. einen feiner Untergebenen zur Bor: 
nahme einer jtrafbaren Handlung, gleichviel ob dieſelbe innerhalb der dienstlichen 
Sphäre des Letzteren gelegen erjcheint oder nicht, jo ift der P. ala Anjtifter oder 
Gehülfe, möglicherweife auch Mitthäter, ftrafbar. Ueber die Verantwortlichkeit des 
P. j. insbeſondere Thöl, a. a. O. $ 86. 

——— Allgem. Deutſches HGB. Art. 41, 45—47, 49, — 


: Endemann, H.R., 3. Aufl. zz 13, 15—17, 25-31 — . Aufl. 
1879, S5 '38, 55, 86, 154. — Goldihmidt in jeiner Beitichr. für vi Er =” SD XVI. 


Priorität der Pfandredite. 159 


©. 387 ff. und die bort cit. Lit. — Entich. bes Bene. iv. * A 78, 


8%, 91, 94, 95; — namentl. Entſch. d. R 98. Bd. I 43 ff. 
— 


Priorität der Pfandrechte. 1) Die Frage, welches von mehreren Pfand— 
rechten an bderjelben Sache den Vorrang hat, beantwortet fich in der Regel nach 
dem Sat, daß das Alter über die Stellung der Piandrechte zu einander enticheidet. 
Dosjenige Piandrecht geht vor, welches früher ala ein anderes rechtsverbindlich gegen 
den Berpfänder entjtanden ijt. Ueber Ausnahmen von diefer Regel j. den Art. 
Piandprivilegien. — Der nach Obigem erhebliche Zeitpunkt der Entjtehung 
des Piandrechts beftimmt ſich dadurch, daß für einen bejtehenden oder in feiner 
fünftigen Entftehung vom bloßen Willen des Berpflichteten fortan unabhängigen 
Anipruch die gefeglichen Vorausjegungen des Legalpfandes vorhanden find, oder eine 
richterliche Abpfändung ftattfindet, ein Pfandvertrag geichloffen wird oder durch eine 
zur Wirkſamkeit gelangte letztwillige Verfügung die Pfandhaft einer Sache angeordnet 
ft. Ob und inwieweit ein Piandrecht im Voraus für einen künftigen (nicht blos 
künftig fälligen) Anipruch begründet werden fann (Kautionshypothek), ift in hohem 
Maße ſtreitig. Nah Dernburg genügt — was jehr zu bezweifeln — die darauf 
gerichtete Abficht des Verpfänders, auch wenn fein Nechtöverhältniß beiteht, das den 
Verpfänder jchon jet, wenn auch nur bedingt, verpflichtet, die Schuld zur Griftenz 
fommen zu laffen, oder das den künftigen Piandgläubiger jchon jet nöthigt, in Zukunft 
Gläubiger der Piandjchuld zu werden. Soweit das Piandrecht Sachen betrifft oder fich 
auf Sachen eritredt, die erft jpäter erworben werben, gilt e& nach der durch Dern— 
burg, Arndt, Fitting, Windjcheid mit Recht gegen v. Bangerow, Puchta 
und Andere vertheidigten Anficht der Praris nicht ex nunc, jondern ex tunc ala 
fonvaleszirend,, jo daß verjchiedene, vorher begründete Pfandrechte nicht zu gleichen 
Rechten, jondern in dem Verhältniß zu einander jtehen, ala ob die Sache ſchon vor 
dem Entſtehen des erſten Piandrechts im Eigenthum des Verpfänders geweſen wäre. 
Dies hindert natürlich nicht, daß allen diejen Pfandrechten die Pfandrechte aus der 
Zeit des früheren Eigenthümers vorangehen, mit denen die Sache bereits belaitet 
war, ala die vom jetigen Eigenthümer begründeten Pjandrechte rücdkfichtlich dieſer 
Sade in Kraft traten. — Piandrechte, welche auf öffentlichen oder durch drei un— 
beicholtene Zeugen unterjchriebenen Privaturkunden beruhen, werden nach der in der 
Praris herrichenden Anficht anderen Piandrechten vorangeftellt, wobei jedoch wieder 
ſtreitig ift, ob auch den privilegirten, und ob allen anderen Piandrechten oder nur 
den vertragamäßig oder gar nur den fchriftliche beitellten. Die geſetzliche Vorſchrift, 
auf welcher dieje Praxis beruht, jcheint in Wahrheit nur die Beweisregel zu ent- 
halten, daß einfache Privaturlunden nicht geeignet find, das Alter des Piandrechts 
darzuthun (v. Bangerom). Fauftpfänder und Spezialpfänder haben gemeinrechtlch 
feinen Vorzug vor Hypotheken und Generalpfändern. Im Gegenjat Hierzu zeigt fich 
in Deutjchen Partikularrechten jchon frühe das Streben nach Bevorzugung des Befih- 
btandes, handhabenden Piandes, ein Streben, welches auch im Allg. Deutjchen HGB. 
zur Anerkennung gelangt ift. Die RKO. gewährt abgejonderte Berriedigung aus 
beweglichen Sachen nur den Fauftpfandgläubigern und denjenigen, die dieſen aus— 
drücklich gleichgeftellt find. Im Preuß. und Sächſ. Recht ift die Frage nach der P. 
meift nur bei den Hypotheken praftifch, da die bewegliche Sache ala Befigpfand in 
der Regel nicht Mehreren wirkjam verpfändet fein kann. Indeſſen läßt die im Preuß. 
Recht begründete ſymboliſche Verpfändung — 3. B. der Schiffägefäße — cine Be— 
gründung mehrerer Pjandrechte an derjelben Sache zu. Reichsgeſetzlich ift gegemmwärtig 
durch die Zulaffung der Anfchlußpfändung und der gleichzeitigen Pfändung, ſowie 
der Pfändung von Aniprüchen für mehrere Gläubiger (CPO. 88 727, 728, 750 ff.) 
die Möglichkeit der Konkurrenz mehrerer Piandrechte an beweglichen Sachen und 
Rechten auch da gegeben, wo nach Landesrecht ſonſt nur das Belikpfand anerkannt 
wird, welchem leßteren das Pfändungspiandrecht in bejtimmten Beziehungen geſetzlich 


160 Prioritätsaftien. 


gleichgeitellt ift. Eine Konkurrenz kann auch infofern durch Pfändung entjtehen, ala 
bereits pfandweiſe haftende Gegenjtände, 3. B. die beweglichen Pertinenzen hypothe— 
zirter Grundſtücke gepfändet werden, ohne daß durch die Piändung die Haftung für 
die Hypothek aufgehoben wird. Für P. der eingetragenen Hypotheken entjcheidet 
regelmäßig die Reihe der Eintragungen. 

2) Was das Verhältniß des befleren und fchlechteren Piandgläubigers zu ein- 
ander anlangt, jo braucht der. beffere Piandgläubiger das Vorhandenjein einer ander: 
weitigen VBerpfändung in feiner Weije zu berüdfichtigen.. Das Recht des nachjtehenden 
Piandgläubigers ift dem befferen gegenüber wirkungslos, abgejehen davon, daß jener 
diefem gegenüber das jus offerendi et succedendi hat (vgl. den Art. Oblation), 
daß er ferner beim Verkauf des Piandes durch den vorftehenden Gläubiger von dem: 
jelben den Ueberihuß des Erlöfes über feine Piandforderung, die hyperocha, zu be 
anfpruchen berechtigt ift, und daß er endlich, jofern die Sache dem vorangehenden 
neben Spezialpfändern nur als Theil eines Generalpfandes haftet, der Klage des 
(eteren die exceptio excussionis realis entgegenjeßen darf. Ob der jpätere Pfand— 
gläubiger zum Pfandverkauf berechtigt ift, wird beftritten. Jedenfalls ift ein folder 
Verkauf, wenn auch nicht vom Piandichuldner, jo doch durch den Eviktionsanſpruch 
des voritehenden Prandgläubigers anzufechten, jorern diefer nicht mit dem Pfanderlös 
zunächit abgefunden wird. Die Praris hat dem nachjtehenden Gläubiger faſt durch 
ganz Deutichland ein weitergehendes, auch den befjeren Prandgläubiger bindendes 
Verkaufsrecht eingeräumt, ſofern er durch Vermittelung des Gerichts verfaurt. Bei 
jolchem Verkauf pflegen alle Gläubiger zugezogen zu werden, und es wird ein Wider: 
ſpruchsrecht des beiferen Gläubigers ſelbſt dann nicht anerkannt, wenn der Verkaufe: 
verjuch des nachjtehenden Gläubigers jo ausfällt, daß nicht blos dieſer vom Pfand— 
erlös nichts erhält, jondern auch der vorjtehende Gläubiger gar nicht oder nicht 
volljtändig zur Hebung gelangt. Dies gilt unter anderen auch nad Preuß. und 
Sächſ. Recht. Das Preuß. Hypothekengeſetz für Neudorpommern und Rügen enthält 
dagegen die Beitimmung, daß der jüngere Piandgläubiger das Grundjtüd nur in 
der Art zur Veräußerung ftellen darf, daß die voreingetragenen Poſten unverändert 
jtehen bleiben, eine Vorſchrift, welche bei Einführung der neuen Preuß. Grundbuch: 
gejeßgebung in Neuvorpommern und Rügen für diefe Landestheile aufrecht erhalten ift. 

3) Ein vorftehender fann dem nachjtehenden Gläubiger vor feiner Forderung 
die P. einräumen. Das ift ohne Einfluß auf die Stellung der dazwiſchen jtehenden 
Gläubiger. Nah Gem. und Preuß. Recht (das neue Preuß. Grundbuchreht Hat 
in dieſer Beziehung an dem früheren Recht nichts geändert), rüdt deshalb der 
zwiichenftehende Gläubiger auf, wenn die urfprünglich voranitehende Poſt getilgt, d. 5. 
gelöfcht wird. Der nachjtehende Gläubiger verliert das Recht an der Stelle, die der 
getilgten und gelöfchten Poſt gebührte, zur Hebung zu gelangen. Das Sächſiſche 
Recht kennt abweichend hiervon eine Geffion der P. ohne die Forderung, das Vorrecht 
der eingetragenen Forderung nad) dem Alter ohne die Forderung ſelbſt wird wirklich 
übertragen. 

Quellen: D. qui potiores 20, 4; C. 8, 18. — Pe Geich über den Eigenthumserwerb 
und die dingliche Belaftung ber Grunbftüce 2. vom 5. Mai 1872 $ 35. — Geſetz über das 
Grundbuchweſen zc. in Neuvorpommern 2. vom 26. Mai 1873 8 43. — Sidi. BEP. 
88 443 ff, 440. — Allgem. Deutiches HGB. Art. 306 ff. — RKO. SS 40, 41. 

Lit.: Hepp, Beiträge zur Lehre von der Datirung des Pfandrechts, im civ. Arhiv X. 
12. — — —— dur Lehre vom Altersvorzug der Pfandrechte, 1859. — Dernburg, 
Pfandrecht, I. SS 69 ff., I. SS 160 ff. Eccius. 

Prioritätsaktien. Betreffend den Begriff Aktie iſt auf TH. I. ©. 535 
und den Art. Aftiengejelljchait zu verweifen. P. ſetzen andere Aktien voraus, 
vor denen die Priorität zuftehen foll, diefe werden aladann Stammaltien genannt. 
Als um 1840 die Eifenbahnaktiengejellichaften ins Leben traten, bedurften diefelben 
bald über das uriprüngliche Grundkapital hinaus zur Fertigftellung der Bahn oder 
zu Grweiterungsbauten weiterer Geldmittel. Die Erhöhung des Grundtapital® durch 


Prioritätsattien. 161 


Ausgabe gleichberechtigter Aktien verbot ich durch den niedrigen Kurs. Man hätte 
jofort zur Anleihe jchreiten können, man gelangte aber dahin erſt auf einem unklaren 
Umwege. Das Grundkapital wurde erhöht und über den betreffenden Betrag er= 
tolgte die Ausgabe von P. auf den Inhaber (Preuß. Gej.Samml. 1840 ©. 376). 
Diefe P. erhielten einen jejten Zins, nahmen an Dividende feinen Theil, gewährten 
fein Stimmrecht in den Generalverjammlungen, wurden zur Rüdzahlung amortifirt, 
und mußten zum Nennwertd unter gewiffen Borausjegungen jofort zurüdgezahlt 
werden. Wegen der Zinjen und des Kapitals wurde ein Vorzugsrecht vor dem 
„Grundaktienfapital“ zugefichert. Das P.fapital lediglich als eine Anleihe anzujehen, 
ift dadurch verichränft, daß ausdrüdlich dag Grundkapital erhöht ward, und daß 
die Inhaber der P. als Mitglieder der Geſellſchaft bezeichnet find. Bei einem Kon— 
furie würden aljo die P. den Gläubigern nachgejtanden haben, wonächſt ihnen dag 
Vorreht vor den Stammaltien blieb. Es findet fich die Gegenüberitellung von P. 
und Dividendenaftien (Preuß. Gef. Samml. 1842 ©. 77) bi von „jo genannten“ 
P. die Rede iſt (Preuß. Gef. Samml. 1843 ©. 17; 1844 ©. 61). Gleichzeitig 
vollzieht fich der Webergang zur Anleihe, es werden über den Anleihebetrag verzing- 
liche Eifenbahnobligationen auf den Inhaber ausgejtellt (Preuß. Geſ. Samml. 1843 
S. %). Mit 1845 verschwinden die P. und in Zufammenziehung von P. und 
Eifenbahnobligationen werden über die Anleihe Prioritätsobligationen außgeftellt 
(Preuß. Gei.Samml. 1845 ©. 572). Die Bezeichnung ala Mitglieder der Gejell- 
ichait, die Erwähnung, daß eine Theilnahme an der Dividende nicht zuftehe, iſt 
nicht mehr vorfindlich, die Inhaber der Prioritätsobligationen werden ausdrüdlich 
als Gläubiger der Gejellichaft bezeichnet; dagegen wird bis in die neueſte Zeit fort— 
gerührt die Zuficherung, daß diefelben ein unbedingtes Vorzugärecht vor den Stamm- 
aktien und den dazu gehörigen Dividendenfcheinen haben (Preuß. Geſ.Samml. 1870). 
Auf dieſes jelbitverjtändliche Borzugsrecht beſchränkt fich zunächjt die Priorität. Gegen 
ternere Anleihen it dann häufig ausbedungen, daß die Priorität auch diefen gegen= 
über zuftehen joll (Preuß. Gel. Samml. 1872 ©. 606), was dann jpäter durch den 
Bermert „vorbehaltlich der VBorzugsrechte der bereits früher für das Unternehmen 
emittirten Prioritätsobligationen“ erfüllt ift. Für den Konkursfall jtellt fich die 
Sade dahin, daß jämmtliche Prioritätsobligationen mit den übrigen nicht bevor- 
rechteten Gläubigern in gleichen Rechten jtehen, daß aber die jpäteren Emiſſionen 
der Prioritätsobligationen ihre Perzipienden an die früheren bis zu deren voller 
Befriedigung abzutreten haben. Für eine Anzahl Prioritätsobligationen ift die 
Zuficherung gemacht: „Zur Sicherheit für Kapital und Zinjen wird den Inhabern 
der Obligationen das gefammte unbewegliche Vermögen der Gejellichaft verpfändet“ 
(Preuß. Gej.Samml. 1856 ©. 766; 1870 ©. 575). Hierdurch ift einftweilen nur 
eın Pfandrecht verjprochen, welches erit durch Gintragung in das Grundbuch ver: 
wirflicht wird. Die Bildung eines einzigen Grumdbuchblattes für den geſammten 
Bahnkörper iſt durch $S 2, 25 der Preuß. Grundbuchordn. vom 5. Mai 1872 
ermöglicht. Cine folche Hat bisher ebenfowenig wie eine Eintragung der Anleihe 
überhaupt ftattgeiunden. (Vgl. das Oeſterr. Gejeg vom 24. April 1874, betr. die 
gemeinfame Vertretung der Rechte der Befiter von auf Inhaber lautenden oder 
durh Indoffament übertragbaren Schuldverfchreibungen und die bücherliche Be— 
handlung der für ſolche Theilfchuldverichreibungen eingeräumten Hypothekarrechte; 
Defterr. R.G.Bl. 1874, XV. ©. 95; Zeitjchr. F. d. geſ. Handelsr. XX. 509 und 
das Gejeh vom 19. Mai 1874, betr. die Anlegung von Gifenbahnbüchern , die 
Wirfung der von einer Gifenbahn eingeräumten Hypothekarrechte und der bücher: 
lichen Sicherung der Piandrechte der Befiter von Eifenbahnprioritätsobligationen ; 
Oefterr. R.G. Bl. 1874, XXI. ©. 163; Inftruft. dazu XXX. 275 ff.; Zeitſchr. 
i. d. gef. Handeläreht XX. 509 [Ausgaben von Kajerer, Wien, Alfred 
Hölder].) Das Schweizerische Bundesgefeß vom 24. Juni 1874 über die Ber: 
pfäandung der Eijenbahnen auf dem Gebiete der Schweizerischen ——— ſieht 
». Holtzendorff, Enc. II. Rechtslexilon II. 3. Aufl. 


162 Prioritätsaftien. 


von einer Grundbucheintragung ab; begründet das Piandrecht mit der Bewilligung 
jeitens des Bundesrathes, wonächſt die Eintragung in ein Pfandbuch erfolgt (Art. 4, 
5; Meili, ©. 23). Der dem Deutichen Reichötage (4. Legiölaturperiode II. Seffion 
1879) vorgelegte Entwurf eines RGef., betr. das Piandreht an Gifenbahnen und 
die Zwangsvollſtreckung in diefelben, ift bisher nicht zur Berathung gelangt. Zwed: 
mäßig joll das Piandrecht an der Bahneinheit mit der Eintragung in das Giien- 
bahnbuch (Piandbuch) entitehen. Die Begründung des Entwurfes ift von wiſſen— 
ichaftlichem Werth. Eine Organifation der einzelnen Inhaber einer Anleihe zur Wahr: 
nehmung der gemeinjamen Rechte ift durchaus erforderlich; einen Schritt hierzu thut 
das oben erwähnte Dejterr. Gejeg vom 24. April 1874. Bol. Schweizerijches Geſetz 
Art. 15 und Entwurf eines RGef., betr. das Fauſtpfandrecht für Pfandbriefe und 
ähnliche Schuldverjchreibungen. Die zu Irrthümern Anlaß gebende Bezeichnung 
Prioritätsobligation jollte mindejtens nicht weiter geführt werden; für neue Anleihen 
empfiehlt fich die Bezeichnung Anleihejchein. 

Die Notwendigkeit der Kapitalöbeichaffung hat den Stammaftien gegenüber 
bevorrechtete Aktien zur Geftaltung gelangen laffen, welche ala Stamm-P., Prioritäte- 
ftammaftien, ®., actions privilegiees, preference shares, preferred shares im 
Gegenjat zu den actions de capital, actions originairement 6mises, ordinary shares, 
original shares bezeichnet werden. Die Sonderftellung diefer P., ihre Vorrechte 
gegen die Stammaktien find jtatutarifch jehr mannigfaltig; es ift der Anficht ent- 
gegenzutreten, daß diejelben qualifizirte Prioritätsobligationen feien; die Inhaber 
find vielmehr Aktionäre im Sinne des Art. 214 des HGB., wodurch auch eine 
Amortifation keineswegs ausgeichlofjen ift; fie machen Einlagen, durch welche das 
Grundkapital (Art. 209 Ziff. 4) erhöht wird. Im Falle des Konkurjes der Geſell— 
ichaft können die P. ebenjowenig, wie die Stammaftien zur Mafje liquidiren; erit 
nachdem die geſammte Gläubigerjchaft zur vollen Beiriedigung gelangt, können fie 
zur Hebung gelangen, wobei dann für den Einzelfall zu entjcheiden ift, wieweit das 
Vorrecht reicht. 

Im Gebiet des Allg. Deutichen HGB. kann bei den für die Entjtehung der 
Aktien gejehlich beitimmten formen ein Zweifel, ob Anleiheichein oder Aktie, Gläubiger 
oder Gejellichafter, nicht wol entjtehen. Anderweit werden die Abhängigkeit der 
Sahresbezüge von dem Gewinn, das Stimmrecht in den Generalverfammlungen, 
das Zurüditehen gegen die Gläubiger, das Verhältniß zu den Aktien, denen gegen- 
über ein Vorrecht gewährt it, die Grundlage für die Trennung der P. und 
Gläubiger (Prioritätsgläubiger) geben. Die Einfügung von P. in eine beftehende 
Aktiengejellichaft ift, obwol itatutarisch nicht vorgefehen, vielfach anſtandslos durch— 
geführt (3. B. Vereinigte chemifche Fabriken zu Leopoldshall, Beichl. vom 5. April 
1873), jedoch ohne Regelung im Einzelnen und Klarſtellung der Verhältniffe der 
PB. zu den Stammaltien, namentlich im Fall der Kollifion. Die ftatutariiche Zus 
läffigfeitt der Grundfapitalerhöhung verpflichtet nicht die Vorjchiebung von BP. zu 
bewilligen. Bei der Abgejchloffenheit der Gejchäftsjahre mit ihren Gewinnergebnifjen 
beiteht ein Nachbezugsrecht auf einen von den Stammalftien zu entnehntenden 
Dividendenbetrag, falls der Jahresgewinn nicht ausreicht, aus dem Gewinne fol- 
gender Jahre nicht (anders die Engl. Rechtiprehung, Shelford, S. 198). Iſt die 
Dividendennachzahlung bedungen oder nach den Umftänden als gewollt anzunehmen, 
jo ift damit ein Yorderungsrecht gejtaltet, welches in feinem Beiriedigungsrecht auf 
den Gewinn jpäterer Jahre beſchränkt ilt. Die Nangordnung zwijchen laufenden 
Prioritätsdividenden und Nachbezugsrecht, ſowie zwiſchen Nachbezugsrechten ver: 
ichtedener Jahre läßt fich weder aus dem Aktienrecht, noch aus den Beitimmungen 
über die Verrechnung von Zahlungen beim Borhandenjein verjchiedener Forderungen 
herleiten (Wiener, ©. 339). Der Verkehrsanſchauung wird es entiprechen, daß die 
laufende Dividende dem Nachbezugsrecht vorgeht. Das ROHG. hat hauptjächlich 
darauf Hin, daß die erite jtatutarifche Feſtſetzung eines Dividendenbezugsrechts (Preuf. 


Prifengerichte. 163 


Geſ. Samml. S. 195) das Vorzugsrecht des älteren Jahrganges ausgeſprochen habe, 
angenommen, daß dies auch für folgende nicht näher geregelte Nachbezüge ala ge— 
wollt gelten dürfe (Entich. des ROHG., XXII. 372). Dies erjcheint bedenklih. Kann 
angenommen werden, daß fich eine Geſellſchaft allmählich zum Jahresgewinn empor: 
arbeitet, jo ift der leßte unberichtigte Dividendenfchein der dem Gewinn nächite; die Nach» 
zahlung würde zuleßt den älteften treffen, weil er dem Jahresgewinn am fernjten ftand. 

Ob fih das Vorzugsrecht auf die Verteilung bei der Liquidation erjtredt, ift 
durchaus Thatfrage. Auch das Wort „Priorität“ ift hierbei nicht bedeutungslos ; 
dab bei dem Vorrecht zunächſt an einen beſtimmten Dividendenbezug gedacht wird, 
rührt fich darauf zurüd, daß bei den P. zunächit an eine VBermögensvertheilung nicht 
gedacht wurde, und deshalb Hierfür feine Beftimmung getroffen iſt. Es läßt fich gewiß 
dafür ftreiten, daß in der Zuſage, es folle den P. der landesübliche Zins nicht 
verloren gehen, verjtärkt auch enthalten iſt, daß gegen einen Kapitalsverluſt Garantie 
geleiſtet werde. Eine geöbene Verbreitung der B. fcheint nicht im Ausficht zu — 

Lit.: Renaud, Alktiengeſellſchaften. — Auerbach, Aktienweſen. — Löwenfeld, Das 

t ber Aktiengefellichaften. — Beihorner, Dad Deutiche Eifenbahnredht. — He yhner, 
——— Derſelbe in Deutſches Handelsblatt, 1873 ©. 173, 176; 1874 y 12, 
14. — Goldſchmidt, Yucca-Piftoja-Aftienftreit; dazu } wach für das gel. .R. Bd. IH. 
e. 135 fi. — Sadenburg, ebenbaf., Bb. VI. S. 26 fi. — Better, —— Bd. XVI. 


©. 32 ff. — Urth. des DApp. Ger. Lübel vom 31. Mai ws ebenbai., 3.1 155 ff. — 
Siegfried, Die Börfe und bie —— 3. Aufl., 323 ff., 697. — ge ber 
Ungar. Gerichtähallen, 1880 Nr. 27—33. — Bluntidhli, —— über die Anfprüche 


der P. der Gefellichaft ber vereini * re ‚gs egen Stammaltien. — Munzinger, 
—— dazu —— für das geſ. IR — v. Stein, Zur MR MER 
bildung. eili, Die von ben P. (1874). — dv. Strombed, Neber P. (1876); 
gu die Beurtheilungen von Wiener in Zeitichr. für das gei. H.R. XXI 330. — Meili, 
Pfand- und Konkursrkecht der Eiienbahnen (1879); dazu Keykner in Zeitichr. für das geil. 
HR. XXV. 426. — Shelford, Law of joint stock comp., p. 143. — Lindley, Law 
of partnership, p. 639, 817. — Vidari, Diritto commerciale, vol. II. p. = er 
eyßner. 
Priſengerichte ſind beſtimmt, die Ausübung des Priſenrechts im Seekriege 
völkerrechtsgemäß zu reguliren. Soweit daher kriegführende Staaten nicht über— 
haupt auf Seebeute verzichten, jei es durch Rüdgabe faifirter Güter, jei es durch 
Freigebung feindlichen Privateigenthums, find fie völferrechtlich verpflichtet, dem 
Prijenverfahren durch Einjegung von P. den Charakter eines Nechtöveriahrens auf- 
zudrüden. Gemäß der Ausdehnung nun, in welcher das gegenwärtige internationale 
Recht die Befugniß anerkennt, feindliche und neutrale Schiffe anzuhalten und aufs 
zubringen, umfaßt die Prijengerichtsbarkeit: 1) die Aburtheilung der bei dauernden 
Kriegszujtande durch Staatsjchiffe oder durch mit Kommiffion verjehene Privatichiffe 
jolcher Staaten, die der Pariſer Deklaration von 1856 nicht beigetreten find, oder 
durch die Landmacht in den Häfen weggenommenen und aufgebrachten feindlichen 
Privattahrzeuge nebjt deren Ladungen, inſoweit letztere der Wegnahme unterliegen ; 
2) die Aburtheilung derjenigen neutralen Privatichiffe, die fich einer Neutralitäts- 
verlegung jchuldig oder verdächtig machen, fei es durch Stontrebandetransport, ſei es 
auch nur duch Widerjegung gegen legale Schiffsheimjuchung oder durch Blofade- 
bruch, oder überhaupt durch ein Verhalten, welches Verluft des neutralen Charakters 
nach sich zieht. Doch hat die Prijenjurisdiktion nicht immer diefe Schranken ein- 
gehalten. Noch in den Kriegen Napoleon’s I., namentlich jeit 1803 jchwoll ſie 
bei Handhabung des Franzöſiſchen Kontinental-, des Englischen Blokadeſyſtems zu 
ungeheuerlihem Umjange an. Nachdem mit der Nejtauration der völferrechtliche 
Verkehr jeine normale Gejtalt wieder angenommen hat, find auch jene Auswüchſe 
des Seekriegsrechts nicht mehr wiebergefehrtt. Die in den civilifirten Staaten an 
Ausdehnung und Schärfe gewinnende Agitation für Freigebung des Privateigen- 
thums im Seekriege hat zwar eine erhebliche Stütze gewonnen an einigen, diejelbe 
ftipulirenden Spezialverträgen; auch an dem Verfahren Preußens, Defterreichs und 
Italiens im Jahre 1866 und an der allerdings jpäter wieder zurüdgenommenen 
1* 


164 Priſengerichte. 


Verordnung des Norddeutſchen Bundes vom 18. Juli 1870; iſt aber bis jetzt ohne 
Reſultat geblieben. 

Die P. werden von dem friegführenden Souverän für die Dauer eines Krieges 
organifirt; und zwar vermöge feiner Kriegäherrlichkeit durch jederzeit mwiderruflichen 
Amtsauftrag. Bald find es Spezialtommiffionen, bald find beitehende Behörden 
verfafjungsmäßig zu fommittiren. Im Namen des Souveräns und auf Grund feiner 
Reglenents, der Landesgeſetze, demnächſt der ettva maßgebenden Staatäverträge, jubfidiär 
des gemeinen Völlkerrechts haben fie über die Legalität der Prijen zu erfennen; fie 
find demnach immer nur ala Landesgerichte anzufehen, obwol rein völferrechtliche 
Verhältniffe ihrer Kognition unterliegen. Der bei diefer Sachlage erflärliche Wunſch, 
der Prifenjurisdiktion alljeitige Anerkennung unparteiifcher Rechtiprechung zu fichern, 
hat Verfuche angeregt, an Stelle bloßer Nationalbehörden internationale Kommiffionen 
einzufegen, wie folche 3. B. früher zur Nburtheilung der Sklavenjchiffe beftanden. 
Dergleichen mixed commissions find aber bis jet nur für einzelne Streittälle, ins 
befondere zur Revifion prifengerichtlicher Urtheile ins Leben getreten. 

Die Geſchichte der Prifenjurisdiktion hängt enge mit der des Kapereiweſens 
zuſammen; mit ihm reicht ihr Urjprung in das Mittelalter zurüd. Gleichwie der 
Privatkrieg zur See an Markebrieie und Kautionen geknüpft wurde, jo untermwar 
man auch die in demfelben gemachte Seebeute hinfichtlich des Thatbeſtandes, der 
Yegitimation des Nehmers, der Nationalität des genommenen Gutes amtlicher Kon- 
trole. Dieſe wurde in alter Zeit bei den Seemächten durch Offiziere der Admiralität 
geübt. Nach dem Borgange Frankreichs iſt man dann bejtrebt geweien, bejondere 
Behörden mit der Enticheidung, ob die unter Autorifation des Staates erfolgten 
Kapturen völferrechtlich gemacht feien, zu betrauen. In Frankreich wurde feit 1659 
jedesmal eine Staatsrathskommiſſion mit der Entjcheidung in Prifenjachen betraut; 
Napoleon I. organifirte 6. Germinal VIII einen conseil des prises mit dem Sitze 
in Paris und mit Appellation an den Staatsrath (jeit 1806); er wurde durch 
Napoleon III. 18. Juli 1854 und 19. Mai 1859 erneuert. Am 17. Oft. 1870 
wurde in Bordeaur ein conseil provisoire des prises eingerichtet. In Großbritannien 
wird als prize court für jeden Krieg nunmehr (jeit der Gerichtäreform von 1873) 
beitellt die Probate Divorce and Admiralty division der High Court of Justice 
mit Appellation an die Juftizlommiffion des privy couneil. In Nordamerika ift 
die Prifengerichtsbarkeit den ordentlichen Gerichten in Seefachen, alfo den district 
courts, circuit courts und in dritter Inſtanz der supreme court übertragen. In 
Preußen etablirten die Reglements vom 20. Juni 1864 einen Prifenrath (Präfident, 
ichs Mitglieder nebjt Staatsanwalt) mit Appellation an einen Oberprifenrath,. 

Kompetenter Prifenrichter it nach anerfanntem völferrechtlichen Her— 
fommen lediglich der Souverän, in deffen Namen die Prife gemacht ift. Dem 
ihm allein gebührt die Entfcheidung und Verantwortung, in welchem Umfange er 
durch jein Konfisfationsrecht Gebrauch zu machen habe. Daher bejtimmt die Kom— 
petenz des P. fich niemals durch die Nationalität des genommenen Schiffes oder 
Gutes; ebenjorwenig durch die des neutralen Hafens, in dem etwa die Prife auf: 
gebracht wird (jofern überhaupt der Kaptor dort Zulafjung findet), und wäre es 
auch ein Hafen ihres eigenen Heimathsſtaates. Denn der einmal begründete Gerichte- 
itand des Nehmeftaates kann nicht darum an einen fremden Staat übergehen , weil 
defien Gebiet berührt wird. Nur dann, wenn die Kaptur eine Rechtöverlegung des 
neutralen Staates involvirt, 3. B. in feinem Territorialwaffer oder durch deſſen 
Mikbrauch zu illegalem Angriff oder durch ein nicht legitimirtes Schiff erfolgt, wird 
diefer ſtets befugt jein, die Freigebung des widerrechtlich genommenen Schiffes, das 
fi unter feiner Botmäßigkeit befindet, nöthigenfalla zu erzwingen. Jmmer aber 
können P. von den friegführenden Mächten nur innerhalb des eigenen Staatögebietes 
gültig errichtet werden. ihre Etablirung in neutralen Häfen, durch Delegation 
dortiger Agenten und Konfuln etwa, iſt nicht ſtatthaft; weder läßt das beſtehende 


Priſengerichte. 165 


Völkerrecht eine derartige Ausdehnung amtlicher Funktionen zu, noch wäre die 
Duldung derſelben mit neutraler Haltung vereinbar. 

Das prifengerichtliche Verfahren richtet fich überall zunächſt nach den 
Verordnungen des Ginzeljtaates, pflegt aber überall jehr jummarifch zu fein. Die 
Inftruftion erfolgt regelmäßig unmittelbar nach Ankunft des Kaptors durch die 
Hatenbehörden mittel3 Entgegennahme der bei der Kaptur aufgenommenen Protokolle, 
der Schiffspapiere und Schlüffel, der Inventur des Schiffes und der Ladung, Ver: 
börung des Schiffer® und der Mannſchaft. Demnächit geht, falls nicht etwa die 
Allegalität der Prije aus der Inftruftion fich als zweifellos ergiebt, die Sache an 
das P., welches, ſofern diefelbe jpruchreif ift, jorort erkennt, Wird indeh innerhalb 
der für Reklamationen gejegten Friſt die Legalität der Priſe von deren Eigenthümer 
oder einem Intereſſenten angefochten, jo beginnt vor dem PB. ein Reflameverfahren. 
Diefes trägt im Allgemeinen civilprogefjualiiche Formen, wobei die Rolle des Klägers 
bald dem Prijeneigenthümer, bald dem Kaptor zugetviejen wird, ift indeß regelmäßig 
dem Reflamanten jehr ungünftig. Denn nach einer allgemein feitgehaltenen Rechts: 
anfiht der Seemächte jteht dem Kaptor die Präjumtion rechtmäßiger Kaptur zur 
Seite, Reklamant bat daher die Widerrechtlichkeit der Nehmung, alfo 3. B. den neu— 
tralen Charakter der Ladung oder des Schiffes, das legale Verhalten defjelben zu 
beweifen. Dabei find die Beweismittel vielfach beſchränkt anf die bei der Nehmung 
vorgerundenen Dokumente und farther proof ijt ausgeſchlofſſen. 

Durch das Prijfenurtheil wird das genommene Gut entweder jei es ganz, 
jei e8 theilweije Kondemnirt, d. 5. für gute Priſe erklärt, oder freigegeben, demnächſt 
entweder an den Reflamanten oder an den Kaptor ausgeliefert , rejp. zum Verkaufe 
geitellt. Die Koſten des Verfahrens allen dem Kaptor im alle offenbar wider- 
rechtlicher Nehmung zur Laſt, wie er dann auch dem Verletzten vollen Schadenserjat 
zu leiften hat. Dagegen Hat fie nach verbreiteter Praris der Neutrale jelbit dann 
zu tragen, wenn die Aufbringung der Hinterdrein freigegebenen Prife doch durch 
Verdachtsgründe gerechtiertigt war (probable cause of capture), wie er auch in 
diefem Falle feinen Anſpruch auf Entichädigung hat. 

Gegen das Prifenurtheil jteht e8 jeder von beiden Parteien zu, binnen beftimmter 
Berufungsfriftt an die dafür eingejegte Inſtanz zu appelliven. Doch pflegt die 
Appellation feinen Suäpenfiveffeft zu haben, jo daß das Urtheil der eriten Inſtanz 
gegen Kautionsleiftung für den Fall der Nichtbeftätigung erequibel ijt. 

Ürtheilen, die von kompetenten PB. überhaupt anerkannter Mächte gefällt werden, 
weigern weder die friegführenden, noch neutrale Staaten die Anerfennung. Demnad) 
wird der in folge der Kondemnation gejchehene Verkauf als rechtsgültig betrachtet. 
Demnach haben Neutrale feinen Anſpruch auf Rückgabe ihres von der einen Kriegs» 
partei als Prife kondemnirten Gutes im Falle der Wiedernahme (j. diejen 
Art.) jeitens des andern. Indeß wird immer der Staat, in defjen Namen die Prije 
adjudizirt ift, für ein völferrechtöwidriges Urtheil verantwortlich fein. Er jet fich 
dieferhalb Reklamationen, Reprefjalien, jedenjall3 der Retorfion aus und kann even- 
tuell im Wege des völferrechtlichen Streitverjahrens zu Genugthuung und Schadens 
eriag angehalten werden. Gin berühmtes Beiſpiel hierfür ift Friedrich’ des Großen 
Streit mit der Englifchen Regierung 1752—1756 (vgl. Abh. d. Berl. Alad. 1866 


29). 

Quellen: Gute Zufammenftellung giebt Bulmerincq in ber Revue de droit inter- 
national X. (1878), — Großbritannien: Verzeichniß ber Gejeke und Inſtruktionen bei 
M. Pöhls, — III. 4, 1067. — Geh. Rathsordre dom 29. März 1854. — Priſenakten 
von 1855 und 1864. — An Autorität einer Rechtäquelle gleich ift das Schreiben von Sir 
®. Scott und Sir 3. Nicholl an Mr. Jay vom 10. Sept. 1794, bet Phillimore 
(sec. ed.) 3, 666. — Sammlungen von hair, ar a ſehr —32 Es verdienen Er— 
wähnung bie von Robinjon, 6 Vols. Lond. 1801— mit den Bortie ebungen von Eb: 
warb3 und von Dobjon; fodann von Ma rriot, — 1801, u tewart, Lond. 
1814. — Franfreid: Ordonnance de la marine von 1681 und Balin’ 3 Kommentar — 
Prifenreglements vom 26. Juli 1778 (Haupigeſetz). — Arrêté vom 6. Germinal VIII; 2. Prä- 


168 Priſenrecht. 


und Art. XI. nur die Konfiskation der Kriegskontrebande fordert. Die Pariſer See— 
rechtsdeklaration erklärt die neutrale Waare auch unter feindlicher Flagge für frei. 
Außerdem verkündet die Deklaration von 1780, daß die in ihr enthaltenen Grund— 
ſätze in dem Verfahren und den Entſcheidungen über die Legalität der Priſen zur 
Richtſchnur dienen jollen, und erflärt die Parifer Deklaration die Kaperei für auf 
gehoben. Beiden Deflarationen fehlen Beitimmungen über Deklaration und Notifikation 
der Blofade und über die Sonftatirung des Blokadebruchs. Zwei Aufgaben ver: 
bleiben den Seeftaaten: 1) die Parifer Seerechtödeflaration durch eine vollftändige 
und fortentwidelte zu erjeßen und 2) einer zu vereinbarenden neuen Deklaration die 
Anerkennung aller Seejtaaten zu verjchaffen. Ein allgemeines Kriegsſeerecht er- 
jtrebten jchon im vorigen Jahrhundert mehrere Staaten (f. den Introitus und 
art. X des Vertrags zwifchen Rußland und Dänemarf vom 9. Juli 1780, art. V 
der dieſer Konvention beigefügten Separatartifel; Vertrag Rußlands mit Schweden 
vom 21. Juli/1. Aug. 1780 und mit Preußen vom 8. März 1780 (art. sep.); 
Vertrag Preußens und der Bereinigten Staaten don Nordamerifa vom 10. Gebt. 
1785, 11. Juli 1799 und 1. Mai 1828. Es firiren ferner die zum Vertrag Groß: 
britanniens mit Rußland vom 5./17. Juni 1801 feitgeitellten Additionalartifel, die 
jowol zur Beichleunigung des Prijengerichtäverfahrens ala zur Entichädigung der 
Eigenthümer von Schiff und Ladung im Fall unbegründeter Zurädhaltung derjelben 
zu beiolgenden Regeln und Prinzipien. Es erfolgte hierzu der Beitritt von Dänemark 
am 11./23. Oft. 1801 und von Schweden am 18. Mär; 1802. Co förderten 
einzelne Staaten das materielle und formelle P. Auffchluß über übereinftimmende 
Anfichten verichiedener Staaten in Bezug auf das P. geben auch die über dieſes 
allein von verichiedenen Staaten als Alliirten in einem Kriege geichloffenen Prijen- 
fonventionen. Es jind bier zu nennen: die Prifentonventionen von England und 
Frankreich für den Krimkrieg vom 10. Mai 1854, und für den Krieg gegen China 
vom 22. Febr. 1860, und von Defterreich und Preußen für den Krieg gegen 
Dänemark vom 6. Juni 1864. Sie beftimmen namentlich die kompetente Juris: 
diftion für die an Kauffahrern des Alliirten gemachten Prifen indem dieſe der 
Prijenjurisdiktion des eigenen Staates übergeben werden jollten und führen ala Priſen— 
fälle nur an den Blofadebruc und die Zufuhr von Kriegskontrebande. 

Vertragsmäßige Vereinbarungen und legislatorische Akte entwidelten das P. 
weiter ala es in den obenbezeichneten Deflarationen enthalten war. In der Zeit 
nach der Pariſer Seerechtsdeflaration erklärten in Bezug auf ihren Krieg gegen China 
England am 7. März und Frankreich am 28. März 1860 feindliches Eigen 
thum auch auf jeindlichem Schiff für frei, verfündete Italien die Freiheit Feind» 
licher Schiffe im Seekriege für den Fall der Reziprozität im art. 211 Tit. V jeines 
Seerechtäfoder, und nachdem Dejterreich fi am 13. Mai 1866 für diefe freiheit 
in Bezug auf feinen Krieg gegen Italien erklärt hatte (Verordn. vom 20. Juni 
1866). Auch Preußen hat in feinem Kriege gegen Defterreich mittels Königl. Er- 
lafjes vom 19. Mai 1866, unter Bedingung der Reziprozität, und ohne diefe Be— 
dingung im Sriege gegen Frankreich, im Namen des Norddeutichen Bundes, am 
18. Juli 1870 fich für die Freiheit feindlicher Handelsſchiffe ausgeſprochen, indeß 
follen fie der Wegnahme dann unterliegen, wenn neutrale Schiffe ihr unterliegen. 
In ihrer den Beitritt zur Parifer Deklaration weigernden Erklärung hatten fich die 
Vereinigten Staaten von Nordamerifa und im Jahre 1860 Holland, Dänemarf, 
Hannover, Bremen und Lübed für Unverleglichkeit des feindlichen PrivateigentyHums 
auögejprochen, als diefe Letteren Staaten vom Holländiſchen Minifter dee Aus- 
wärtigen vom 11. Januar 1860 zur Abgabe einer Kollektiverflärung darüber auf: 
gefordert wurden. 

Die Berufungen auf das Völkerrecht als Quelle des PB. in ftaatlichen Akten 
und Berträgen, Prifengerichtsenticheidungen und wiffenichaftlichen Werfen find in 
diefer Allgemeinheit twerthlos. Grit nachdem ein das gejammte P. umifaffendes 


Priſenrecht. 169 


internationales Reglement der Seeſtaaten vereinbart worden, wird von einem 
geltenden vollſtändigen Völker-P. die Rede ſein können, zu welchem bisher nur 
Bruchſtücke in der Pariſer Deklaration vorliegen. Dazu aber, daß die von einzelnen 
Staaten mit einander vertragsmäßig vereinbarten Beitimmungen zum Völkerrecht 
werden, ift jchon der Hinzutritt der großen Mehrzahl der Seeftaaten genügend, denn 
einige wenige Seeſtaaten können das Zujtandeflommen völferrechtlicher Priſenbeſtim— 
mungen durch ihren Widerjpruch nicht hindern, jonjt fünnte auch die Pariſer See- 
techtödeflaration nicht beanspruchen, ein völferrechtliches Aktenftüd zu fein, wenn 
auch nach Beitimmufg der Deklaration nur diejenigen Staaten, welche fie unter: 
zeichneten oder ihr, beitraten, an die Beitimmungen derjelben gebunden find. 

Darüber wa$ Gegenstand der Prije fein könne, find die Auffafjungen der 
Staaten verjchieden, je nachdem fie die Unverleplichkeit des Privateigenthums in 
Kriegen von Seejtaaten im engeren oder weiteren Umfange anerkannten. Ein prifen= 
gerichtliches Verfahren wurde in früherer Zeit Hauptjächlich gegen neutrale Schiffe 
und Güter geübt, feindliche verfielen eo ipso nach den Grundfägen für Kriegsbeute 
und nationale wurden nach ftaatsrechtlichem Ermefjen behandelt. Indeß iſt heut— 
zutage eine gleiche Behandlung aller Prien, abgejehen von der Nationalität, an— 
gebahnt. Auf diefem Standpunkte ftehen die Jtalienifche Inftruktion (art. V) und 
die Franzöſiſche von 1870, auch das Preußische Reglement ($ 22) hinfichtlich des 
Blokadebruchs. Immerhin kann aber nur Privateigenthum Gegenftand einer Priſe 
fein, fäljchlich bezeichnet daher die Defterr. Verordn. vom 9. Juli 1866 $5 a 
Schiffe, welche feindliches Staatseigenthum find, nebit ihrer Ladung ala gute 
Prije. Dieje können nur Gegenstand der Kriegsbeute jein und unterliegen feinem 
Prifenverfahren. Ein Fiicherfahrzeug kann nur, wenn es zu im Prijenreglement ver- 
botenen Handlungen benußt wird, Gegenjtand der Priſe jein (art. III der tal. 
Inftr. von 1866; art. 2 der fyranz. von 1870; Span. Recht). Jedes durch Sturm 
verichlagene oder von jeiner Mannjchaft aus diefem oder anderen Gründen verlafiene 
Schiff, oder deffen Ladung wird nur unter gleicher VBorausfegung Gegenjtand der 
Prife, oder verfällt nur dann, falls, troß ftattgehabter Publikation, der berechtigte 
Gigenthümer fich nicht meldete (Königl. Niederländ. Dekret vom 13. Dez. 1818 
art. 6; Schwed. Prifenordonnanzg vom 12. April 1808 art. IV $ 5; Franzöſ. 
arröts vom 6. germinal Jahr VIII art. 2, 8 u. 19; Dekret vom 18. Juli 1854 
art. 2; Instr. compl. 1870 art. 19; Italien. Seerechtsfoder art. 221). 

Eine Kondemnation oder gerichtliche Verurtheilung von Schiff oder Ladung 
oder beider zugleich, jollte nur für im Prijenreglement verbotene Handlungen erfolgen. 
Als jolche oder als Fälle einer bonne prise werden in den Beitimmungen von 
Staaten anerfannt: die verbotenen Transporte von Kriegs- und Quaſi-Kriegskontre— 
bande, der Blofadebruch und der Widerftand gegen das Anhalten, Vifitiren, Durch- 
fuchen und die saisie (Dän. Prijenregl. vom 16. Febr. 1864 II. 11 b c; SKaiferl. 
Deiterr. Verordn. vom 9. Juli 1866 $5 bc 56; Preuß. Reglement $ 7, 2, 3 
und $ 22). Das als verdächtig aufgebrachte Schiff gilt nach dem Preuß. Prifen- 
reglement $ 7, 4 und nad der K. Defterr. Verordn. vom 9. Juli 1866 $ 5 e 
nur dann als gute Prije, falls der Verdacht durch die Unterfuchung nicht bejeitigt 
wurde. 

Sobald der Unterjchied der Behandlung der Schiffe je nach ihrer Nationalität 
fortfällt, werden auch die Kondemnationen wegen faljcher, geiälfchter, vernichteter 
oder über Bord geworfener Schiffspapiere fortfallen. Hat ein Privatichiff an Feind— 
jeligfeiten der Kriegführenden Theil genommen, jo wird es nach den Grundjäßen 
des SKriegärechts, nicht nach denen des P. verfallen. Zum Ausiprechen der Kondem— 
nation ift das Borhandenfein befonderer Merkmale für die verbotenen Handlungen 
erforderlich. Der verbotene Transport muß für den Feind beitimmt und in flagranti 
fapturirt jein. Zur Kondemnation für Blofadebruch ift erforderlich, daß die Blofade 
effektiv, publizirt umd zur Kenntniß des Blofadebrechers gelangt iſt. Die Aus— 


170 Priſenrecht. 


klarirungen eines Schiffes nach einem blokirten Hafen gelten nach dem Preuß. 
Reglement $ 25 noch nicht ala Verſuch, die Blokade zu durchbrechen. Nach dem 
durch die Engliiche Admiralität publizirten Handbuch des P. ift die Dejtination des 
Schiffes entjcheidend. Zu dem animus beim Blofadebruch muß aber auch ein factum 
hinzutreten. Fehlt aber der animus, d. 5. iſt ein Schiff durch einen Kaſus im die 
Blofadelinie hineingerathen, jo kann ebenjowenig eine Kondemnation erfolgen. Der 
Widerftand eines Schiffes gegen das Anhalten u. j. w. muß thatjächlich erfolgt 
jein, nicht blos in einem Proteft beitehen. Cine Kondemnation wegen des Wider: 
ftandes wird aber nur dann erfolgen fünnen, wenn bie Ganblungen, gegen welde 
der Widerftand erfolgte, reglementsmäßige waren. 

Die Rechtsiolge der Kondemnation wird weſentlich beſtehen in dem 
Verluſt des Eigenthums an Schiff oder Ladung oder an beiden zugleich. Schiff 
und Ladung verfallen bei Kriegskoöntrebandezufuhr nach Preuß. Priſenregl. 
Ss 7 Punkt 2 und nach dem Däntfchen Recht vom 16. Febr. 1864 II. 11 b nur, 
falls die Ladung ausſchließlich aus Kriegskontrebande beiteht, mach Deiterr. 
Verordn. vom 9. Juli 1866 8 5 Punkt 6, wenn die Menge eine im Berhältnik 
zur übrigen Ladung erhebliche ift, nach der Franzöſ. Instr. $ 6 und der Instr. 
compl. $ 9, wenn die Ladung zu Dreiviertel aus Kriegskontrebande befteht; 
nad) dem tal. Seerechtäfoder (art. 215) verfällt in jedem Fall das Kriegs— 
fontrebande führende Schiff, nach dem Vertrag Italiens mit den Vereinigten Staaten 
von Nordamerika (art. 12) aber und nach dem Ruffifchen Ukas vom 24. Mai 1877 
(art. 6) nur die für den Feind deftinirte Kriegsfontrebande, nad 
Ruffifcher Beitimmung aber mur, falld neutrale Schiffe fie zuführen; die Ruſſiſchen 
Prifenregeln von 1869 ($ 76) laſſen auch das neutrale Schiff verfallen, falls 
jeine Ladung nur aus Kriegskontrebande bejteht. Auch die Schwediiche 
Prifenordonnang (8 6), jowie Verträge Rußlands mit Großbritannien vom 20. Juni 
1766 (art. 11) und 20. Febr. 1797 (art. 11), jowie mit Portugal vom 20. De. 
1787 (art. 27) erflären nur die von neutralen Schiffen zugeführte 
Kriegstontrebande für gute Prife Die Konfislation der dem Tyeinde 
zugeführten Kriegsfontrebande überhaupt ijt nach pofitiven Beitimmungen zweifellos, 
nur die zur Bertheidigung des Schiffes erforderliche Menge, wenn fie nicht zum 
Widerſtand gegen das arretirende, oder vilitirende, oder jaifirende Schiff verwandt 
wurde, wird freigegeben. 

In Bezug auf die Quaſi-Kriegskontrebande tritt nach art. IX. der Franzöſiſchen 
Instr. compl. Kaptur des Schiffes ein und nach art. 7 des Ruffiichen Ukaſes vom 
24. Mai 1877 je nach den Umſtänden die Saifie und ſelbſt Konfiskation jedes ſich 
des Transports derjelben fchuldig machenden neutralen Schiffes. Wird aber dem 
Feinde nur offizielle Korreſpondenz überbracht, fo jcheint die Kondemnirung des fie 
transportirenden Schiffes dafür doch zu weitgehend, während fie bei der Zuführung 
von Truppen an den Feind vollkommen begründet iſt. 

Blofadebrecher verfallen mit ihrer Ladung nach pofitiven Beitimmungen und 
Verträgen, find alfo zu fondemniren, ebenfo Widerjtand Leiftende Schiffe, weil fie 
die Durchführung friegsrechtlicher Mafregelin zu verhindern beabfichtigen. 

In Bezug auf Reprijen oder dem Prifennehmer wieder abgenommene Schiffe 
oder Güter gelten folgende Beitimmungen. Nur das Däniſche Reglement vom 16. Febr. 
1864 (II. 11) betrachtet Reprifen an nationalen Schiffen als gute Prife; das 
Preuß. Reglement ($ 10), die Defterr. Verordn. vom 9. Juli 1866 ($ 8) und der 
Italien. Seerechtöfoder (art. 219) verordnen Rüdgabe an den Eigentümer; nad 
Spaniichem Recht (Ordenanzas de l’Armada von 1748 und del Corso de 1779) 
ertolgt dieſelbe nur, falle die Prife noch nicht in einen feindlichen Hafen geführt 
war und noch nicht 24 Stunden im Beſitz des Feindes war; nach Portugiefiichem Recht 
(Codigo de las partidas, part. II. tit. 9 1. 7) auch dann, falls die Priſe mehr als 
24 Stunden im Befit des Tyeindes war. Nach den Ruffiichen Prifenregeln ($$ 120 ff.) 


Priſenrecht. 171 


iſt eine jede Repriſe dem Eigenthümer zurückzuerſtatten, falls die Priſe weniger als 
24 Stunden in den Händen des Feindes war. 

Die Repriſen an Schiffen der Alliirten werden nach Spaniſchem Recht 
zurückerſtattet an den urſprünglichen Eigenthümer, wenn die Priſe noch nicht 24 Stunden 
im Befitz des Feindes war, das Portugieſiſche und Ruſſiſche Recht gewähren Zurück— 
erſtattung im Falle der Reziprozität, das Italieniſche Recht bedingungslos. 

Die Repriſen an neutralen Schiffen werden nach Franzöſiſchem (Instr. art. 11) 
und Ruffiichem Recht nicht zurüderftattet an den früheren Eigenthümer, falls die 
Prifen mehr ala 24 Stunden im Beſitz des Feindes waren. 

England rejtituirt alliirte und neutrale Schiffe unter Bedingung der Reciprocität 
(Hall in der Rev. d. dr. intern. X p. 193). Die Vereinigten Staaten von Nord» 
amerifa reftituiren nur die noch nicht fondemnirten Prifen und diefe auch nur dann, 
talla fie entweder den Vereinäftaaten gehören oder in ihnen oder unter ihrem Schuße 
lebender Perfonen; unter der Bedingung der Reziprozität aber den bejtändig auf 
dem Territorium und unter dem Schuße eines befreundeten Staates lebenden Per— 
fonen (Amerik. Prifenacte von 1864 art. 29). 

Eine Prime wird für die zurücderftattete Reprife nach Spaniſchem und Ruſſiſchem 
Recht immer gefordert, nach Engl. Recht für alliirtes und neutrales Gut, nach 
Franzöſ. Recht für nationale Schiffe und für ein meutrales, falls e& mehr ala 
24 Stunden im Befit des Feindes verblieb; nach Italien. Recht weder für nationale 
noch für alliirte. Nach Amerifan. Recht werden allgemein den Refaptoren Berge- 
lohn, Koften und Auslagen gezahlt. 

Die Verträge der Staaten (Vertrag Frankreichs mit den Niederlanden vom 1. Mai 
1781, der Niederlande mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika vom 8. Oft. 
1782, Preußens mit den Vereinigten Staaten von Nordamerita vom 10. Sept. 1785, 
vom 11. Juli 1799 Art. 17—21 und 1. Mai 1828 Art. 12) ſtatuiren Rüd- 
erftattung der Reprifen an den rechtmäßigen Eigenthümer, einige Verträge gegen 
eine Prime oder gegen eine r&compense du sauvement, andere nur, falld die Prife 
niht mehr als 24 Stunden in den Händen des Feindes war, und jalls fie noch 
nicht in einen feindlichen ober neutralen Hafen geführt war. 

Nach der Darlegung deflen, was Gegenftand einer Priſe jein fönne, und ber 
Handlungen, welche zum Prifemachen und Kondemniren berechtigen, jo daß das P. 
nur für verbotene Handlungen geübt werden kann, welche mit den Prifegegenjtänden 
begangen wurden, und der Uebergang einer Prifenjache in das Eigenthum des prije- 
machenden Staates als eine civile Folge des öffentlicherechtlichen Prijenurtheiles 
ericheint , wodurch das P. den Charakter einer gewaltjamen und gewinnfüchtigen 
Erwerbsart einbüßt, iſt es noch erforderlich, die formell berechtigte Ausübung des 
P. darzuſtellen. 

Autorifirt zur Ausübung des P. find nur die Kriegsſchiffe kriegführender Staaten 
(1. d. Orbommanz der Niederlande vom 26. Yan. 1781 art. VI; Preuß. Reglement 
$ 1; Defterr. Verordn. vom 3. März 1864 $ 1 und vom 21. März 1864 8 5; 
Ruffiiche Prifenregeln von 1869 88 7 und 64). Gegen die Kaperjtaaten find aber 
Repreflalien gejtattet (art. 208 des Jtalien. Seerechts). Ginem Privatichiff, welches 
fich gegen einen feindlichen Angriff vertheidigt, fteht nach Italien. Seerecht (art. 209) 

das Recht zu, dafjelbe zu nehmen. Das genommene Schiff müßte indeß, nach der 
Rechtsanſchauung der Pariſer Deklarationsjtaaten, dem Staate de8 nehmenden 
Schiffes zufallen. 

Die Ausübung des P. darf beginnen mit der Kriegserflärung und fchließt ab 
mit dem Friedensſchluß, ceffirt aber auch während eines zur Kenntniß der Kriegs— 
tahrzeuge der Sriegführenden gekommenen Waffenftillftandes (SS 31 und 87 der 
Ruffiicher Prifenregeln). Indeß wird in der Regel das P. erſt einige Zeit (drei big 
ichs Wochen) nach der Kriegserflärung in Bezug auf in einen blofirten Hafen ein= 
(laufende oder aus demfelben auslaufende Schiffe geübt. Befondere Publikationen 


172 Priſenrecht. 


der Kriegführenden beſtimmen die gewährte Friſt. Ueberhaupt aber wird das P. 
an Schiff oder Ladung nur geübt werden dürfen, unter Vorausſetzung der Kenntniß— 
nahme von der Kriegserflärung durch die bezüglichen Kapitäne oder Eigenthümer 
der Ladung. 

Das P. darf von den SKriegführenden in ihren Gewäflern und auf offener Ser, 
nicht aber in neutralen Gewäſſern geübt werden (Dän. Regl. vom 16. Febr. 1864; 
Preuß. $ 9; Oeſterr. Verordn. vom 3. März 1864 $ 3; Franzöf. Inftr. $ 4 umd 
Ergänzungen zu derjelben 8 1; Ruffiiches P. SS 20, 21, 27 u. 28; Schwediſche 
Ord. art. I. $ 1; Ferman der Pforte an den Kapudan-Paſcha, März 1793 und 
Italien. Inſtr. art. IV. Berträge: Frankreichs mit England vom 26. Sept. 1736 
art. 11 und mit Rußland vom 11. Januar 1787 art. 28). Das Franzöftiche 
Conseil des Prises erflärte die in neutralen Gewäfjern gemachten PBrijen für null 
und nichtig mittels Enticheidung vom 27. fruct. 9. VIII, während die Rufftichen 
Regeln SS 25 und 26 dem neutralen Staat die Prije zufprechen und die Regierung 
des Kaptorjtaates zur Entichädigung an den Eigenthümer verpflichten. 

Das P. müßte in ein Recht der Beichlagnahme (saisie) verwandelt werden. 
Der art. 8 der Pariſer Deklaration jpricht nur von nicht zu faifirenden Gegenftänden, 
nirgends ſpricht diefe Deklaration von Prifen. Die Saifte drüdt nur eine proviſoriſche 
Maßregel aus, die erit und nur eventuell: im Falle der Kondemnation durch Prijen- 
gerichtsurtheil zur definitiven wird, da ja die Saifie durch ein freifprechendes Urtheil 
auch aufgehoben werden kann. 

Auf das Anhalten eines Schiffes (ſ. d. Art. Durchſuchungsrecht) folgt 
die Vifite, auf die Bifite eventuell auch die Durchjuchung (ſ. denjelben Art.). Die 
Saifie iſt aber nicht die nothwendige Folge weder der einen, noch der anderen, 
fondern erfolgt nur je nach deren Ergebniß. ine Saifie ohne vorhergehende Viſite 
ift aber unzuläffig (Franzöſ. Inftr. art. 15). Die Saifte kann, um ein Rechtsaft 
zu jein, nur unter gewiſſen Borausfegungen und in Form Rechtens effeftuirt werden. 
Die Beitimmungen der meijten NReglements und Verträge bezogen fich nur auf die 
Saifie neutraler Schiffe, da die feindlichen früher ipso iure verfielen. Nachdem bie 
meijten Seejtaaten auch feindliche Schiffe nur für verbotene Handlungen verfallen 
laffen, und einige Staaten auch Beitimmungen über das P. an eigenen oder natio- 
nalen Schiffen enthalten, ift auch die Saiſie an allen Kategorien von Schiffen, 
abgejehen von deren Nationalität, gleicher Regelung zu unterwerfen. Nach den 
Beitimmungen der einzelnen Staaten kann die Saifie ausgeiibt werden wegen ver- 
botener Transporte von Kriegskontrebande und Quafisflriegstontrebande, d. h. der 
offiziellen Korreipondenz des Tyeindes, der Truppen des Feindes oder für den Feind 
(Ital. Inftr. art. VIII; Franzöſ. Inftr. art. V und VI und complem. art. XI; 
Ruſſiſche Prijenregeln $$ 14 und 15) und von Fourniture für Kriegsſchiffe (Ruffifcher 
Ukas vom 24. Mai 1877 art. 7), wegen Blofadebruchs und wegen Widerjtandes 
gegen die Anhaltung, PVifitation oder Durchſuchung. Die Saifie ift aber auch aus— 
geübt worden für den Fall der Verdächtigkeit, ferner wegen falſcher, getälfchter oder 
doppelter Schiffspapiere, wegen Vernichtung oder Werfen derjelben ins Meer beim 
Herannahen des arretirenden Kreuzer (Schwed. Bertr.; verich. Spanifche, Franzöi. 
Inſtr. art. VI umd instr. compl. art. V, IX und X; Dän. Regl. vom 16. Febr. 
1864 88 6, 7 und 10; Defterr. Verordn. vom 3. März 1864 88 1 und 2 und vom 
9. Zuli 1866 $$ 1 und 2; Preuß. Regl. SI 2—6; Italien. Seerecht art. 211 
und Injtr. art. 20; Ruffiiche Prijenregeln $S 10, 60, 76, 83—88 und 101). Die 
Ruſſiſchen Prifenregeln nehmen ein zu wiflenfchaftlichen Expeditionen bejtimmtes 
Schiff unter der Vorausſetzung von der Saifte aus, daß es die Neutralitätsgefege 
beobachtet. 

So lange die Nationalität der Schiffe für die Saifte von Bedeutung ijt, find 
es auch die bezüglichen Beltimmungen. Es finden ſich diejelben in Gejegbüchern, 
Berordnungen und Berträgen (art. 226 des Code de commerce; art. 724 des 


Priſenrecht. 173 


Rufſiſchen HGB.; Geſetz des Nordd. Bundes vom 25. Oft. 1867, gültig für das 
Deutſche Reich nach Art. 80 al. 2 der Verj.; Daniſches Geſetz vom 18. März 
1867 und Dän. lettre patente vom 25. Yuli 1870 8 1; Berordn. der Nieder- 
lande vom 26. Jan. 1761; Spanifche Verordn. von 1748 und 1802 und Königl. 
Delrete vom 6. Der. 1808, 10. Nov. 1829 und 6. Juli 1830; Schwediſche 
Ordonnanz vom 21. Jan. 1804; Franzöſ. Zollreglement vom 26. Juli 1778 art 2; 
Instr. compl. von 1870 art. 6; Ruffiiche Prifenregeln von 1869 $ 41; Defterr. 
Verordn. vom 7. Aug. 1803 Art. 9; Preuß. Kriegsdeklaration und Verordn. vom 
30, April 1781 Art. IIISV; Türkiſche Verordn. vom Aug. 1870; Inftruftionen 
zu Prifentonventionen Englands und Frankreichs vom 10. Mai 1854 art. 3, 2° 
und Defterreich® und Preußens vom 6. Juni 1862 Art. 3 b; Vertrag Rußlands 
mit Portugal vom 9./20. Dez. 1787 art. XI; Preußens mit den Vereinigten Staaten 
von Rordamerifa vom 10. Sept. 1785 Art. 14 und vom 11. Juli 1799). Nach 
Verordnungen (Dän. Regl. vom 16. Febr. 1864 $ 9; Defterr. Verordn. vom 
3. März 1864) und Berträgen (Ruflands mit Portugal von 1787; Deutſch— 
lands mit Portugal vom 2. März 1872; Preußens mit Griechenland‘ vom 12. Aug. 
1839; Belgiens mit Griechenland vom 25. Sept. 1840; Hollands mit Griechen- 
land dom 22. Febr. 1843 und Italiens mit den Vereinigten Staaten von Nord— 
amerifa vom 26. Febr. 1871) joll die Nationalität eines Schiffes nad 
der Geſetzgebung desjenigen Landes, welchem es angehört, be- 
Himmt werden. Troßdem fcheint eine allgemeine internationale Regelung diejer 
Frage erwünscht. Mit Beziehung auf die angeführten Geſetze, Verordnungen und Ver— 
träge würben fich die international zu jordernden Schiffspapiere reduziren laffen auf 
1) ein Dokument über das Eigenthum am Schiff, oder 2) auf das Konnofjement, 
welches über Eigenthum, Hatır und Dejtination der Ladung Auskunft giebt ; 
3) auf dad Schiffsmannſchaftsverzeichniß, mit Angabe der Nationalität des Schiffere 
und der Mannjchait; 4) die Päfle, falla fie nicht durch das Verzeichniß unter 3 
entbehrlich werden fönnen, und 5) das Schiffsjournal. Daß auch nur ein Schiffe- 
papier das Eigenthum an einem Schiff fonftatiren fünne, wenn e8 eine präzife Be— 
ftımmung darüber enthält, bejagen das Franzöſ. Reglement vom 26. Juli 1778 
und die Franzöſ. Instr. compl. von 1870 art. 6, 2 (j. auch Ruſſiſche Prifen- 
regeln $ 59). 

Was jpeziell die Saifie wegen Blokadebruchs anbetrifft, jo fann eine Saifie 
nicht blos erit dann jtattfinden, nachdem das angehaltene Schiff jchon einmal vom 
Blofadeichiff zurüdgewieien worden, — wie das die Verträge der Vereinigten Staaten 
von Nordamerika mit Schweden vom 4. Sept. 1816 (art. 13) und vom 4. Juli 
1827 (art. 18), mit Preußen vom 1. Mai 1828 (Art. 18) und Griechenland vom 
22. Des. 1837 (art. 16), von Preußen mit Griechenland vom 12. Aug. 1839 
(Art. 20) und Griechenlands mit den Hanſeſtädten vom 15. Dez. 1846 (art. 17) 
vereinbaren, — jondern auch jchon dann, wenn das angehaltene Schiff, wenngleich 
von der Blofade unterrichtet, dennoch den Blofadebruch verjuchte. Much die citirten 
Verträge erachten für den erjten Berfuch die Kaptur oder Kondemmation für 
zuläffig, falls bewiejen werden kann, daß das Fahrzeug auf feiner Reife hat erfahren 
fönnen und müflen, daß die Blofade des fraglichen Platzes noch fortdauert. Nach 
Schmwedifcher Ordonnanz von 1808 (Art. IS 8) führt aber unbedingt erft der zweite 
Verſuch zur Saifie. Gleiches vereinbarten die Vereinigten Staaten von Nordamerika 
und die Amerikanischen Sübdftaaten 1824, 1825, 1831, 1832 und 1836. Wogegen 
art. 14 des Vertrags der Vereinigten Staaten von Nordamerifa mit Italien dom 
26. Febr. 1871 die Saifie beim erjten Verfuch nur dann nicht eintreten läßt, wenn 
das angehaltene Schiff von der Blofade feine Kenntniß hatte, 

Beabfichtigt das arretirende Kriegsichiff einen Kauffahrer zu jaifiren, jo müſſen 
die Schiffslufen und die Pulverfammer des genommenen Schiffes geichlofien und 
verfiegelt, die Ladung unter Verichluß gebracht und verfiegelt werden. Schiff und 


174 Priſenrecht. 


Ladung ſind mit Beſchlag zu belegen und zu inventariſiren, und auf das genommene 
Schiff wird eine zu deſſen Behauptung und zur Aufrechterhaltung der Ordnung aus— 
reichende Mannſchaft vom Kriegsſchiff übergeführt. Schiffspapiere und Briefe werden 
gleichfalls mit Beſchlag belegt, inventarifirt und verſiegelt. Ueber die Saiſie, den 
Zuftand des Schiffes und der Ladung und die geichehene Inventarifirung wird ein 
Protokoll aufgenommen. Schiff und Ladung find auf der Fahrt, außer in dringenden 
Fällen namentlich zur Vermeidung von Deterivrationen, intakt zu erhalten, und ift 
die Ladung nicht zu öffnen. Die Mannſchaft des jaifirten Schiffes wird nur dann 
friegägefangen,, werm fie zum Militär des Fyeindes gehört oder ein feindſeliges Be— 
nehmen an den Tag legt, übrigens iſt die Mannichaft zu ernähren, leiden und 
erforderlichenfalls zu pflegen. Die Verbrennung oder Verſenkung eines jaifirten 
Schiffes, über welche Akte ein Protokoll aufzunehmen ift, find geftattet: 1) falle es 
ichwierig ift, das Schiff wegen feines jchlechten Zuftandes bei Seegang über Wafler 
zu halten; 2) wenn das Schiff jo jchlecht jegelt, daß es dem Kriegsſchiff nicht folgen 
fann und deshalb vom Feinde genommen werden könnte; 3) wenn eine herannahende 
feindliche Kriegsmacht die Wiederabnahme der Prife befürchten läßt; 4) wenn das 
arretirende Kriegsſchiff, ohne Berringerung der zu jeiner legalen Sicherheit erforder: 
lihen Mannjchaftszahl, nicht im Stande ift, die genügende Mannſchaft auf das 
genommene. Schiff überzuführen,; 5) wenn die Prife zu werthlos, ala daß fich deren 
Abrührung lohnt; 6) wenn ein Hafen, wohin die Prije geführt werden könnte, zu 
weit entfernt ift. (Die einen oder anderen der vorjtehend angeführten Beitimmungen 
finden fich in der Verordnung der Niederlande vom 26. Jan. 1785; im Däntichen 
Regl. vom 16. Febr. 1864 88 15, 18 und 19; in den Dejterr. Verordn. vom 
3. März 1864 88 10, 11 und 14, und vom 9. Juli 1866 $S 7, 12 und 15; 
im Preuß. Prifenveglement SS 13, 16 und 18; in den Franzöſ. Inſtr. von 1870 
art. 15 und compl. $ 20; in den Ruſſiſchen Prifenregeln SS 66—72, 104 umd 108; 
in der Alte der Vereinigten Staaten von Nordamerifa von 1864 art. 1; in der 
Inſtr. der Prijenkonvention Englands und Frankreichs von 1854 art. 3 und 6, und 
der Inſtr. der Priſenkonvention Defterreich und Preußens von 1864 Art. 1—3 und 6, 
und in dem Bertrag Italiens mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika von 
1871 art. 16 und 20.) Es ijt jelbitveritändlich, daß vor der Vernichtung des 
genommenen Schiffes das gejammte Perfonal deffelben von demſelben entfernt und 
deſſen Ladung möglichjt geborgen wird, ſowie daß die Legalität der Fortnahme und 
Vernichtung prifengerichtlicher Prüfung unterliegt. 

Ein genommenes Schiff ift zunächit von dem dafjelbe fortführenden Kriegsſchiff 
‘in den nächjten Hafen des Nehmeftaates zu bringen. Nur wenn fich in der Nähe 
des Ortes der Prijennahme ein Hafen des Nehmejtaates nicht befindet oder wenn 
ein folcher zu weit entfernt it, fan das Schiff in einen Hafen einer alliirten Macht 
verbracht werden, in einen Hafen einer neutralen aber nur wegen Seenoth und wenn 
das begleitende Kriegsſchiff von einer feindlichen Uebermacht verfolgt it. (Bgl. 
Niederländiiches Plakat vom 6. Jan. 1711; Schwediiche Praris in dem citirten 
B.rapport, Revue de droit intern. T. X. 224: Dän. Prijenregl. vom 16. Febr. 1864 
$ 15; Defterr. Verordn. vom 3. März 1864 s 10, vom 21. März 1864 8 5, 
vom 9. Juli 1866 $ 13; Preuß. Neal. SS 14 und 15; Franzöſ. Inftr. S 18; 
Ruffiiche Regeln SS 9, 104— 106 ; Prijenfonvent. von England und Frankreich von 
1854 und von Deiterreich und Preußen von 1864 Art. 3 und 5.) Die eben citirten 
Beitimmungen jtimmen im Allgemeinen überein. Die Berbringung von genommenen 
Schiffen, jog. Prijen in neutrale Häfen und ihr Verkauf dajelbjt wird jeßt von der 
Mehrzahl der Seejtaaten nicht gewährt oder nur ein Aufenthalt von 24 Stunden, 
außer im Fall erzwungener Stellungen. (Siehe die Holländ. miniſter. Verordn. 
vom 14. und 15. April 1854; GErtraft aus der Girkulärnote, betr. die Neutralitäts- 
erklärung Dänemarks [beigefügt der lettre patente vom 20. April 1854] 2% u. 4°- 
Franzöſ. Neutralitätserklärung vom 9. Juni 1861 und 6. Mai 1877; Stalienijche 


Privatanklage. 175 


Reutralitätserklärung vom 6. April 1864; Oeſterr. Ordonnanz vom 7. Aug. 1808 
Art. 17 und vom 25. Mai 1854 Art. 7 und 2; Girkularverordn. und Inſtr. vom 
16. Nov. 1866 und Neutralitätsdefret vom 11. Mai 1877 Art. 2; Neutralitätö- 
erklärung der Vereinigten Staaten von Nordamerifa vom 22. Aug. 1870 und Er— 
färung des Attorney General vom 28. April 1855; Bertrag von Preußen und 
den Vereinigten Staaten von Nordamerifa vom 10. Sept. 1785 art. XIX, vom 
11, Juli 1799 art. XIX und vom 1. Mai 1828 art. XII; Vertrag Schwedens 
und der Vereinigten Staaten von Nordamerifa vom 3. April 1783 art. XVII Wr. 4 
und vom 4. Juli 1827 art. XVII) 

Wegen des Verfahrens im Verbringungshafen und der gerichtlichen Entjcheidung 
haben wir zu verweilen auf den Art. BPrijengerihte. In dem citirten P.rapport 
it das Verfahren vor der nationalen Unterfuchungsinftan; und vor dem international 
zu organifirenden Prifengericht von einander gejchieden. Im dem jenem Rapport 
angehängten P.reglementsentwurf find das materielle und formelle PB. umfafjende 
Rehtsbeitimmungen, zum Theil auf Grund des bejtehenden Rechts, zum Theil 
teiormirende enthalten. 


8it.: Martens, Essai concernant les armateurs, les prises et surtout les reprises, 
Goettingue 1795. — Pistoye et Duverdy, Trait& des prises maritimes, Paris 1855 
2 vo.—G. Lushington, A Manual of Naval Prize law, London 1866. — Bulmerincgq, 
Le droit des prises maritimes, 1878, in ber Revue de droit intern. T. X.; Derjelbe, 
Theorie du droit des prises u. les droits nationaux et un projet de röglement international 
des prises maritimes, ebendafelbft T. XI. — F. J. Jacobjen, Beiträge zu dem P. der Eng: 
länder und Bemerkungen über das Däniihe P., Altona 1808. — Pierantoni, Sur les 
prises maritimes d’apres l’&cole et la legislation italienne, 1875, in ber Revue de droit 
intern. VII. p. 619 ss. — Bluntſchli, Das Beuterecht im Kriege, Nördlingen 1878. — 
Hübner, De la saisie des bätiments neutres, A la Haye 1759, 2. Thl. — Seerechts— 
werfe: Azuni, Systöme universel des principes du droit maritime de l’Europe, trad. par 
Digeon, Paris an VI. 2 tom. — Nau, Grunbfäße des DVölkerjeerecht?, Hamburg 1802. — 
Jacobſen, Seerecht des Friedens und des Krieges in Bezug auf die Kauffahrieiſchiffahrt, 
Utona 1815; Derjelbe, Handbuch über das praftiiche Seerecht der Engländer und Fran: 
fen, — 1803—1805, 2 Bde. — Pohls, Das Seerecht, 3 Thle, Hamburg 1832. — 
truß, Das Seerecht, Leipzig 1838, 2 Thle. — v. Kaltenborn, Grunbjäße des praft. 
Europätichen Seerechts, Berlin 1851, 2 Thle. — Cauchy, De droit maritime international, 
Paris 1862, 2 vol. — Ortolan, Rögles internationales et diplomatie de la mer, Par. 
1864, 2 vol. — W. de Burgh, The Elements of maritime international law, London 
1868. — Negrin, Tratado un de Derecho internacional maritimo, Madrid 1873. — 
Masse, Le droit commerciel dans ses rapports avec le droit des gens, Paris 1874, 
Il. hl. — Voltkerrechtswerke: v. Martens, Klüber, le Oppenheim, 
Bluntſchli, v. Wildmann, Morning, Phillimore, Twiß, Creaſy, Wheaton, 
Rent u. Dudley Field, Galvo u. Fiore — Siehe aud) die Schriften über die Rechte 
der Reutralen beim Art. Neutralitätsgejeße. A. Bulmerinca. 


Brivatanflage. I. (Vorläufer der neuen Gejeggebung.) Die B., 
d. i. jenes Verhältniß einer Privatperfon zu einem StrafPrz., vermöge deſſen 
diefelbe auf die Erhebung und Durchführung der Klage Einfluß zu nehmen berufen 
iſt, kann unter die verjchiedenartigjten Gefichtspunfte gebracht werden: 

1) Lediglich zu theoretiichen Zweden, wie 3. B. zur Begründung des Unter: 
uhungsprinzips im Strafßrz., pflegt man darauf hinzuweiſen, daß in den Ur— 
zuſtänden der Völker die öffentliche Natur des Strafrechts noch nicht zur Geltung 
gelommen jei und daher auch für die Verfolgung deſſen, was erjt jpäter als friminelles 
Unrecht erfannt wird, noch feine jelbjtändige Yorm gefunden wurde. Das Gharaf: 
teriftiiche Ddiefes Zujtandes Liegt darin, daß die große Mehrzahl der Delikte nur 
dann und nur joweit geahndet wird, als der durch die rechtswidrige Handlung 
Verlegte Dies fordert. 

2) Da, wo einerjeits die Öffentliche Natur des Strafprogeifes bereits erfannt, 
andererjeitö aber weder der Inquiſitionsprozeß entwidelt, nody ein Organismus von 
jur Anflage berufenen öffentlichen Beamten eingerichtet iſt, bleibt nichts übrig, als 


176 Privatanfiage. 


die Durchführung der öffentlichen Klage (ala folcher) in Privathände zu legen, 
jei eg nun, daß dieſe fich freiwillig darbieten, wie im republifanifchen Rom, ſei es, 
daß eine Verpflichtung von Privaten, unter gewiffen Umftänden die öffentliche Klage 
in die Hand zu nehmen, ftatuirt wird, wie in England. 

3) In Frankreich, wo das unter 2) erwähnte Verhältniß dadurch aus: 
geichloffen wurde, daß der Organismus der Staatsanwaltichaft geichaffen ward, 
ward doch von jeher auch die Berechtigung des durch die ftrafbare Handlung Be 
ichädigten, auf den Strafprozeß Einfluß zu üben, anerfannt. Der Theorie nach wird 
ein dem Adhäfionsprozeß ähnliches Verhältnig zwiſchen der öffentlichen Klage (action 
publique) ala Hauptjache und der Privatllage (action civile) als Nebenjache und 
dem entiprechend eine Streitgenoſſenſchaft zwiichen der Staatsanwaltichaft ala Haupt: 
partei (partie principale) und dem Privatkläger (partie civile) als Nebenpartei 
(partie jointe) angenommen; der Theorie nach bringt der Bejchädigte vor dem 
Strafrichter nur jenen Anjpruch zur Geltung, welchen er auch vor dem Gipilrichter 
erheben fünnte, nämlich den Entſchädigungsanſpruch. Allein überfieht man die der 
Givilpartei im Franz. StrafPrz. eingeräumten nach der Abjtufung der Delikte in 
Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen verfchiedenartig geregelten Befugniffe, jo 
fann man nicht verfennen, daß diejelben auf mehr hinauslaufen, — daß dem Be 
ihädigten vielfach Gelegenheit gegeben ift, mit Umgehung der Staatsanwaltjchaft und 
gegen deren Willen die Schuldigerflärung und Beftrafung des Angeklagten 
anzustreben. — Soweit in Deutichland das Franz. Necht als folches rezipirt war, 
waren dort dem Befchädigten im Allgemeinen nicht nur jo weit gehende Befugniſſe nicht 
eingeräumt, jondern es war auch der Adhäſionsprozeß auf großen Gebieten nicht zu: 
gelafjen, d. h. e8 war dem Beichädigten nicht geftattet, jeine Entichädigungsflage vor 
dem Strafrichter und im StrafPrz. anzubringen. 

4) Wie jehr man auch geneigt war, unter der fortichreitenden Entwidelung 
und Ueberſpannung der Inquiſitionsmaxime die äußerjten Konſequenzen aus der 
öffentlichen Natur des Strafrechts zu ziehen, jo fonnte man fich doch der Weber: 
jeugung nie ganz verichließen, daß es nicht in allen Fällen zu rechtjertigen ſei, den 
StrafPrz. ohne jegliche Rüdfichtnahme auf die Wünfche des Beichädigten in Gang 
zu jeßen. Zwei Rücdfichten entgegengejegter Art müſſen dabei ins Auge gefaßt 
werden. In gewiflen Fällen wird die unglüdliche Yage des vom Verbrechen Be: 
troffenen durch die Einleitung des StrafPrz. jo verfchlimmert, daß der lektere ge 
wiffermaßen das Werk des Verbrechers erjt vollendet, und Nücdfichten der Mtenich- 
lichkeit dazu drängen, das öffentliche Intereſſe an der Beitrafung des Verbrecher: 
vor dem des Beichädigten zuriüdtreten zu lafjen. Es gilt dies von gewiffen Ber 
legungen der Geſchlechtsehre und theilweife auch vom Ehebruch und einigen 
verwandten Delikten. In anderen Fällen ift die Geringfügigfeit der Rechtöverlegung 
und die Befugniß gewiſſer Privaten, über das verlegte Objekt frei zu verfügen, jo 
auffallend, daß eben nur unter der Borausfeßung, daß der Verletzte Klage erhebt, 
eine Störung der öffentlichen Rechtsordnung, die weientliche Vorausſetzung jeder 
Beitrafung, als vorhanden angejehen werden fann. In Folge deſſen ift bei der: 
artigen Delikten (ſog. Antragsverbredhen) — am vollftändigften behandelt 
im Königl. Sächſ. StrafGB. — der Grundjag zur Geltung gelangt, daß dieſelben 
nicht ohne Antrag des Beichädigten verfolgt werden dürfen. Faſt unvermeidlich 
folgt hieraus das Recht zur Rüdnahme des Strajfantrages bis zur Fällung 
oder jelbjt bis zur Belanntmachung des Straferfenntniffes. — Ferner lag der Ge 
danke jehr nahe, bei den minder wichtigen Antragsdelikten (unter Benutzung des 
Franzöſiſchen Vorbildes) dem Verletzten die Verfolgung ftatt des diejelbe ablehnenden 
Staatsanwaltes zu gejtatten, ja bei Delikten niederjter Ordnung die Intervention 
des leßteren geradezu auszufchließgen und dem Verletzten allein zu überlafjen, jo daß 
man aljo im erjten alle zur jubfidiären, im zweiten zur prinzipalen P. bei einem 
freilich jehr beichränkten Kreis von Delikten gelangte. (Auch in diejer Hinſicht it 


— 
F 


Privatanklage. 177 


hauptſächlich auf die Rev. Königl. Sächſ. StrafPO. [ipeziell Art. 29—83] und die 
der Thüringiſchen Staaten zu verweiſen.) 

5) Erit jeit dem Jahre 1860 ift zumeijt in den Verhandlungen des Deutjchen 
Juriftentages das Bedürfniß nach erweiterter Einführung der jubjidiären P. zur 
Sprahe gebracht worden. Es handelte fich Hierbei um das prinzipielle Bedürfniß 
einer Korrektur der Beiugniß der Staatsanwaltichaft, allein darüber zu entfcheiden, 
ob die jtrafrechtliche Verfolgung in einem bejtimmten Falle zu unterbleiben habe 
(jog. Anklagemonopol der Staatsanwaltſchaft). Bon der einen Seite wurde geltend 
gemacht, daß die Erhebung der Strafflage nicht in das Belieben, jondern in dag 
pflihtmäßige Ermefjen des Staatsanwaltes geftellt jei, — daß eine Kontrole des 
legteren duch Ginräumung einer Anklagebefugniß an den Beichädigten nur einen 
Rüdiall entweder in die privatrechtliche Auffaffung des Strafrechts oder in den In— 
auifitionsprozeß, welcher den Richter fich jelbjt in Bewegung jegen läßt, involvire. — 
Von der anderen Seite ward aber betont, daß der Beichädigte ein ganz unverfenn= 
bares unmittelbares und mittelbares Intereſſe an der Verfolgung des an ihm ver- 
übten Deliktes Habe, daß der Staatsanwalt über das öffentliche Intereſſe an der 
Verfolgung der Delikte nach jeinem Befinden urtheilen könne, einem Privaten aber 
der Zugang zum Richter durch einen Beamten der Juftizverwaltung nicht jolle ver- 
legt werden können. Der Deutiche Jurijtentag entjchied fich nach eingehender Verhand— 
lung für die Empfehlung der fjubfjidiären P. in dem Sinne, daß wenn der Staats- 
anmwalt die Verfolgung einer jtrafbaren Handlung ablehne, der Beichädigte unmittelbar 
bet Gericht den Antrag auf Einleitung der Unterfuchung jtellen fünne. Da, wo der 
Staatsanwalt von der erhobenen Anklage einfeitig zurüdtreten kann, wird man dann 
dem Verletzten in gleichem Sinne geitatten müfjen, die Sache weiter zu führen. 
Andererfeits empfehlen fich ala Korrekturen gegen Mißbräuche der P.: die Ein- 
ihränfung derjelben auf die erite Inſtanz, die Verpflichtung des Staatsanwaltes, 
die Sache im Auge zu halten und deffen Berechtigung, die Verfolgung wieder ſelbſt 
in die Hand zu nehmen, und die Haftung des Privatanflägers für die Koften im 
Falle der Freiſprechung des Angeklagten. 

Seither ift in doppelter Richtung eine Wandlung eingetreten. Einerſeits hatte 
die Deutſche Reichsgeſetzgebung im Strafgejeg und in ergänzenden Geſetzen eine große 
Anzahl von Antragsdelikten gejchaffen und diefelben durchaus gleichartig mit weit- 
gehenden Berugniffen des Antragäberechtigten ausgerüftet; es waren die gemachten 
Griahrungen feine günftigen, und es ward auf Aenderung der Gejeßgebung, theil— 
weiſe mit Erfolg, hingearbeitet. Andererjeits aber griff in die legislativen Erörterungen, 
eine über die Deutichen Grenzen hinaus (jpeziell nach Jtalien) fich fortpflanzende 
Bewegung ein,welche mit der urjprünglich vom Deutjchen Juriftentage empfohlenen, 
vorfichtig eingeengten P. fich nicht begnügte, indem man, uneingedenf der jchlimmen 
Erfahrungen der antiken Welt, eine jufidiäre Popularflage, jelbit ein mit dem der 
Staatsanwaltſchaft fonfurrirendes ftaatsbürgerliches Anklagerecht alles Ernſtes zu 
iordern beginnt, wobei man überfieht, daß es unmöglich ift, abnorme Berhältnifie 
in der oberjten Leitung des Staates, wie fie allein eıne Abhülfe in diefer Richtung 
wünfchen&werth ericheinen laffen könnten, durch Juftizeinrichtungen zu bejeitigen, am 
wenigſten aber dies dadurch verjuchen jollte, daß man der Parteileidenjchaft das 
Gebiet der Strafrechtöpflege ald ein ganz neues Feld des Kampfes erfchließt und die 
Staatäregierung immer mehr in eine Parteiftellung drängt. 

I. (Oeſterreich.) Bei Darftellung des neueften Standes der Geſetzgebung 
muß zumächit Defterreich erwähnt werden, weil dort die StrafP DO. von 1873 
umd der im Jahre 1874 dem Reicherathe vorgelegte Entwurf eines Strafgejehes bie 
unter I erwähnten ragen ihrer Löſung durch planmäßiges Ineinandergreifen des 
materiellen und Prozeßrechtes zuzuführen fuchten. Das in Defterreih beſtehende 
materielle Strafrecht fennt nur wenige Ausnahmen von dem Grundjag der Ber: 
iolgung der Delikte von öffentlichen Amts wegen; dieje wenigen Delikte, deren „ſtraf⸗ 

dv. Doltenborff, Enc. II. Rechtslexiton III. 3. Aufl. 12 


.-— 


178 Privatanklage. 


gerichtliche Verfolgung nur auf Verlangen eines Betheiligten ftattfindet” , find auch 
nach dem neuejten StrafPrz.R. durchaus Gegenjtand der „P.“ ($ 2 Abi. 2); die Er: 
hebung der leteren muß jedem Einjchreiten der öffentlichen Behörde unbedingt voran— 
gehen; auf den Wunſch des Privatanklägers kann zwar der Staatsanwalt deſſen 
Vertretung übernehmen, ſonſt aber findet eine Einmifchung der Staatsanwalt: 
ichait in die Verhandlung der Sache in feiner Weiſe jtatt (StrafPD. $ 46). Der 
Privatankfläger kann bis zu dem Augenblide, wo der Gerichtshof fich zur Berathung 
des Urtheils zurüczieht, von der Anklage mit der Wirkung definitiver Beendigung 
des Verfahrens und der Erlöjchung des materiellen Klagerechtes zurüdtreten (StrafGB. 
$ 530; StrafPD. $ 259 3. 2). Diefe Regelung des Gegenſtandes hat zu Klagen 
feinen Anlaß gegeben. Der Entwurf des Strafgeſetzes konnte daher, wie eng er fi 
jonjt an das Deutjche Strafgeſetz anjchloß , deſſen Syitem (auch ganz abgejehen von 
den laut gewordenen Bedenken) nicht einfach annehmen, follte aber auch auf die Vor: 
theile, welche man in der Vermehrung der Fälle, in welchen dem Willen des Ber: 
legten ein Einfluß geitattet ift, erblicden dürfte, nicht verzichten. Während aljo das 
bisherige Oeſterr. Necht nur P.delifte, das Deutjche Gejeg nur Antragadelikte 
fannte, läßt der Entwurf Beide zu. Nur „auf Grund einer PB.“ zu bejtrafen find, 
wie die Motive jagen, Handlungen, „bei denen das Interefje des Verletzten an Gr: 
langung der Genugthuung oder an Unterlaffung der Verfolgung“ (erjteres 3. 2. 
beim Nachdrud, letzteres beim Ehebruch), „das öffentliche Intereffe jo überwiegt, 
dak ihm die Verfolgung ganz überlafjen werden kann und der Staat nicht weiter 
einzutreten hat“, dagegen find „nur auf Antrag zu verfolgen“ jolche Handlungen, 
bei denen „dies zwar nicht in gleichem Maße der Fall ift, jedoch bejondere Gründe 
hinzutreten, welche die Staatsgewalt bejtimmen, ihr Ginjchreiten von der Initiative 
des Einzelnen abhängig zu machen“. Den Unterichied beider Gattungen laffen die 
$8 80—83 des Entwurfes in Folgendem herantreten: Die Antragsdelikte find Gegen: 
jtand der öffentlichen Anklage, welch’ leßtere lediglich durch Stellung des Antrages 
von Seite eines hierzu Berechtigten bedingt ift; der Antrag bezieht ſich auf „die 
That“; er ift eben darum Hinfichtlich der Perfonen untheilbar, und da er nicht 
widerruflich ift, übt er feinen anderen Einfluß auf den Prozeß, als welchen eine 
Pedingung der Ergreifung der Jnitiative jeitens der Staatsanwaltichaft üben kann. 
Der „Privatankläger” dagegen ift von Anfang bis zu Ende dominus litis; die P. 
muß gegen bejtimmte Perjonen, auf welche das Berfahren zu bejchränfen ift, ge 
richtet jein, und fie fanıı bis zum Beginn der Vollſtreckung des Strafurtheiles zurüd- 
genommen werden. Der Ausichuß des Oeſterr. Abgeordnetenhaufes hat jich dieſen 
Vorichlägen vollitändig angeſchloſſen. 

Zum bereits geltenden Oeſterr. Recht zurüdfehrend, in welchem das Antrags 
delift noch feinen Platz hat, ift der jubjidiären PB. Erwähnung zu thun, welche 
durch die SS 47—49 der StrafPO. von 1873 geregelt wird. Sie nimmt zum Aus: 
gangspunkt den in Dejfterreich vorlängſt bejtehenden Adhäſionsprozeß. Der durch die 
jtrafbare Handlung „in jeinen Rechten Verlete fann ſich . . . jeiner privatrechtlichen 
Aniprüche wegen dem Strafverfahren“ ala Privatbetheiligter anjchließen. Gr 
fann aljo neben dem Staatsanwalt auf die Verurtheilung des Beichuldigten hin— 
arbeiten, und es jcheint alſo nur ein naheliegender weiterer Schritt, daß er, wenn 
der Staatsanwalt die Verfolgung verweigert oder von bderjelben zurüdtritt, ben 
durch das Anklageprinzip gebotenen Berfolgungsantrag juppliren kann. Diejer 
Antrag unterliegt, auch wenn er vom Staatsanwalt ausgeht, in jedem Stadium 
der Prüfung des Gerichtes,; von dem des Subfidiaranflägers gilt das Gleihe, nur 
daß bei jeinem Einjchreiten die Vorunterſuchung ſtets obligatoriih ift (von ſtraf— 
baren Handlungen unterfter Ordnung ift bier ganz abgejehen) und daß zu ihrer 
Einleitung nicht die Zuftimmung des Unterfuchungsrichters genügt, jondern ein Be- 
ichluß der Rathskammer erforderlich it. — Durch ſolches Einjchreiten des „Privat: 
betheiligten“ verliert der Prozeß nicht den Charakter, den die Natur der ſtrafbaren 


Privatanklage. 179 


Handlung als Gegenjtand der öffentlichen Anklage ihm aufprägt: es kan daher die 
Staatsanwaltichait in die Verfolgung jederzeit wieder eintreten. — Gegen Gerichtö= 
beichlüffe, welche die Verfolgung ablehnen, und gegen das Endurtheil hat der Sub- 
ſidiarankläger, ala folcher, kein Rechtsmittel. Es kann mit Beruhigung auägejprochen 
werden, daß diefe Einrichtungen fich bisher bewährt haben, und daß die vielfach 
beiorgten gehäffigen Mißbräuche ferngehalten wurden; ja in allerneuefter Zeit legt 
man diefer Gefahr jo wenig Bedeutung bei, daß auf Bejeitigung der zuleßt er— 
wähnten Schußwehren Dingearbeitet wird. Die Mehrzahl der Subfidiaranklagen 
wird jorort vom Gericht abgelehnt; im entgegengejeßten Falle übernimmt nicht jelten 
die Staatsanwaltſchaft die Verfolgung ; Fälle, wo dies nicht geichieht und der Aus— 
gang dennoch dem Subfidiarankfläger Recht giebt, find äußerſt jelten. (Der Ent» 
wur des Strafgejeßes fichert ausdrüdlich dem Antragsberechtigten und dem mit der 
Veleidigungsflage Belangten und vermöge der exceptio veritatis am Ausgang eines 
age > Beleidigten geführten Strafprozeſſes Betheiligten die Stellung ala Subfidiar- 
anfläger. 

Il. (Deutihes Reid.) A. Eigentlide Privatanklage Das 
StraiGB. hatte einer beträchtlichen Anzahl von Paragraphen (2 Verbrechen, 24 Ver— 
gehen betreffende SS, 3 Uebertretungsfälle) den Zufaß beigefügt: „Die Verfolgung tritt 
nur auf Antrag ein“ und den Antrag für untheilbar Hinfichtlich der an der Handlung 
(als Thäter, Theilnehmer oder Begünftiger) Betheiligten erklärt ($ 63). Der Antrag 
fonnte nah $ 64 „nach Verkündung eines auf Strafe lautenden Urtheils nicht 
mehr zurüdgenommen werden“, eine Regel, von welcher allerdings Ausnahmen ge= 
macht wurden, und zwar nach beiden Seiten bin, indem Fälle ftatuirt waren, in 
welchen der Antrag nicht mehr zurüdgenommen werden konnte, jobald einmal „die 
förmliche Anklage bei Gericht erhoben worden“ (StrafGB. 88 176, 177), während 
andererjeitö bei der Verfolgung der Beleidigung „im Wege der Privatflage oder 
P.“ der Antrag „bis zum Anfange der Volljtrefung des Urtheiles zurüdgenommen 
werden“ fonnte ($ 194 des StraiGB.). — Das RGeſ. vom 26. Febr. 1876 hat 
num zunächit die Fälle der „Verfolgung nur auf Antrag“ nicht unerheblich * ver: 
mindert. Die Hauptveränderung bejtand aber in der Umkehrung der Regel über die 
Zuläffigkeit der Rücknahme des Antrages; die lehtere ift jet nur mehr ausnahms- 
weife und nur „bis zur Verfündung eines auf Strafe lautenden Urtheils“ möglich 
(neue Fafjung des $ 64). Dieſe Ausnahme tritt bei Beleidigungen mit Einſchluß 
der Fälle der $$ 102— 104 u. Entwendungen von Nahrungsmitteln ein (3370, 3.5 u. 6), 
außerdem aber nur in Fällen, wo der Rüdtritt „Angehörigen“ zu statten fommt, 
fi es, daß ſchon das Antragsdelift nur vorhanden ift, wenn die That Ans 
gehörigen zur Laſt fällt (85 247, 263, 292), jei e&, daß der Rüdtritt ausdrüdlich 
nur ihnen gegenüber gejtattet wird (Körperverlegung z 232 und Sachbeichädigung 
S — — womit allerdings das Prinzip der Untheilbarkeit des Antrags durch— 
löchert iſt. 

Durch die Aenderung der angeführten Beſtimmung über die Rücknahme des An— 
trags bei Beleidigungen iſt die dort vorkommende Erwähnung der P. aus dem 
Strafgeieß wieder getilgt worden. Dagegen hat aber die StrafPD. der prinzi= 
valen Privatllage in allerdings jehr beichränfkter Weile Raum gegeben: „Bes 
leidigungen und SKörperverlegungen können, ſoweit die Berfolgung nur auf 
Antrag eintritt, von dem Berlehten im Wege der Privatflage verfolgt 
werden, ohne daß es einer vorgängigen Anrufung der Staatsanwaltſchaft bedarf“ 
($ 414). Durch diefe Regelung des Gegenftandes iſt aljo eine Unterart der An— 
tragadelifte, Delikte, welche Gegenjtand der Privatllage fein können, gejichaffen, 
eine Unterart, deren Abgrenzung feineswegd von der Rüdficht auf die Zuläffigfeit 
der Rücknahme des Antrages beberricht iſt, da leßtere bei KHörperverlegungen , die 
nicht durch Angehörige verübt find, nicht eintritt. Scharf aufgefaßt iſt aljo nach 
neueſtem Deutichen Recht jede jtrafbare Handlung Gegenjtand der öffentlichen 

12 * 


180 Privatanflage. 


Klage, welche jedoch in gewiffen Fällen durch den „Antrag“ des Privaten bedingt 
ift, und unter Umftänden durch deſſen Rüdnahme zum Stillftand gebracht werden 
fann, während bei einigen diefer Delikte noch der Staatsanwaltichait anheimgegeben 
ift, wegen Mangels eines öffentlichen Intereſſes fich des Einſchreitens zu enthalten, 
jelbft wenn der „Antrag“ des zur Privatklage Berechtigten vorliegt. 

Dieje Stellung der „Privatflage* wird weiter dadurch charakterifirt, daß die 
StrafPO. einerjeits den Adhäſionsprozeß nicht zuläßt, andererjeits aber $ 11 des 
ECG. zur StrafPO. beitimmt, daß die „Verfolgung“ von Beleidigungen und 
Körperverlegungen nur mehr nach den Beitimmungen der StrafPO. jtattfindet —, 
womit die bisherigen vor dem Givilrichter zu führenden Injurienprozeſſe befeitigt 
find, was aber wol die Erhebung eines (wenigjtens auf Körperverlegung bafirten) 
Privatanfpruches auf Entichädigung vor dem Givilrichter nicht ausfchließt. Immerhin 
führte die Beichränfung der „Privatklage“ gerade auf jene zwei Fälle dahin, daß 
hier auch civilprozeffualiiche Momente hineinfpielen. 

Das Weſen des „Antragsdeliftes“ im Allgemeinen liegt nach dem Straf 
geſetz jet darin, daß es Objekt der öffentlichen Klage ift, deren Erhebung (und aus: 
nahmsweiſe auch deren Fortführung) durch den Mangel (Wiederfortiall) des Antrages 
verhindert wird. Nach der StrafPO. „können „gewiffe Antragsdelikte* auf dem 
Wege der P. verfolgt werden“ ; das wiirde für ſich allein an dem Recht des Privaten, 
fih auf den Antrag zu beichränfen und von der Staatsanwaltichaft die Verfolgung 
zu verlangen, bei der Schärfe, mit der das Legalitätsprinzip in der StrafPO. be— 
tont wird, nichts ändern, wenn nicht $ 416 der StrafPO. Hinzufügte, daß in jolchen 
Fällen „die öffentliche Klage“ „von der Staatsanwaltichait nur dann erhoben“ wird, 
„wenn dies im öffentlichen Intereffe liegt“. Ob letzteres der Tall ſei, Hat die 
Staatsanwaltichaft unabhängig, aber pflichtmäßig zu beurtheilen. Man muß alſo 
im $ 416 nicht blos eine Entbindung der Staatsanwaltichaft von der Herr— 
ichaft des Legalitätsprinzips, jondern ein (bedingtes) Verbot der Einmifchung er 
blien. Wenn alfo nicht ein öffentliches Intereſſe Hinzutritt, kann die Handlung 
nur durch P. verfolgt werden. Liegt ein jolches dagegen vor, jo hat der Verletzte 
die Wahl zwifchen Antrag und P. Ferner erſetzt (worin Löwe gegen Keller bei- 
zuftimmen ift) die Privatankflage wol den Antrag, dagegen macht diejer jene nicht 
entbehrlih. Der Antrag ift an eine bejtimmte Friſt gebunden, die PB. aber nur 
indireft, infofern mit Ablauf der Antragsfrijt die Verfolgbarfeit der Handlung auf: 
hört. Schlimm ift e8 nun aber, daß die Friſt durch einen Antrag gewahrt werben 
fann, welcher jonjt die Staatsanwaltichait in Bewegung jest und — der Private 
mag wollen oder nicht — zu ungefäumten Austrag der Sache führen muß. In 
den Fällen der PB. kann das Gleiche eintreten, wenn der Staatsanwalt die Ver: 
folgung ala im öffentlichen Intereſſe gelegen erklärt; außerdem hängt es gang vom 
Belieben des Privatanklägers ab, wann er dem Antrag die Anklage folgen Laffen 
will. (So Löwe, anderer Meinung Docho w.) — Nehnlich greifen die Dinge 
bezüglich der Beendigung des Verfahrens ineinander über: die „Privatflage kann bis 
zur Verkündung des Urtheils erjter Inftanz und joweit zuläffige Berufung eingelegt 
ift, biß zur Verkündung des Urtheils zweiter Inſtanz zuridgenommen werden“ ; num 
ift aber die Rüdnahme des „Antrages“ in den Fällen der Privatflage bei nicht 
an Angehörigen verübten KHörperverlegungen unzuläffig, und kann daher bei an- 
genommenem öffentlichen Intereffe der fortlebende Antrag die Rüdnahme der Privat: 
flage um fo gewiſſer vereiteln, weil die anfängliche Ablehnung der Verfolgung durch 
die Staatsanwaltichaft „in jeder Lage der Sache“ widerrufen werden kann (8 417 
Abſ. 2). (Anderer Meinung v. Schwarze, Grörterungen, ©. 66 ff., deſſen Aus- 
führungen aber wejentli auf dem Verhältniffe des Entwurfes der StrafP OD. und 
der Motive hierzu zu dem damals beitandenen materiellen Strafrecht beruhen, wo— 
gegen das Berhältniß der StrafPO. zu dem Gejehe, das bei ihrer Einführung that- 
jächlich galt, zurüdtreten joll.) In den anderen Fällen der P. würde für die Zurüd- 


Privatanflage. 181 


ziehung des Antrages, wenn fie überhaupt noch in Betracht käme, der Endtermin 
nah $ 64 des StrafGB. mit der „Verfündung eines auf Strafe lautenden Urtheils“ 
zuiammenfallen, jo daß ein Zeitpunft gedacht werden fann, wo zwar die P., aber 
nicht der in ihr enthaltene Antrag, zurücdgenommen werden fann. 

Hierzu tritt dann noch der Einfluß der Möglichkeit der Privatllage auf die 
Kompetenz. Im Falle der Privatklage iſt nämlich die Zuftändigfeit des Schöffen- 
gerichtes begründet ($ 27 Nr. 3 des GBG.); tritt dagegen wegen diefer Delikte die 
Staatsanwaltſchaft ein, jo ift die Straffammer zuftändig, fann aber auf Antrag der 
Staatsanwaltichaft die Verhandlung und Entjcheidung dem Schöffengericht über- 
wetten ($ 75 Nr. 4 des GBG.). Die Staatsanwaltichait, welche Hier gemeint ift, 
it ficher die am Landgericht, nicht der Amtsanwalt. Es ijt aljo Har, daß der 
zur Privatklage Berechtigte, wenn er fich vorerjt auf einen Antrag beichränfen will, 
fh an den Staatsanwalt am Landgericht wendet. Thut er dieß nicht und bes 
jaßt das Schöffengericht direft mit feiner Klage, jo entjteht nun die Frage, an 
wen die nach $ 422 vorgejchriebene Mittheilung der Anklagejchrift an die Staats— 
anwaltichaft zur Kenntnißnahme und die nach $ 417 Abi. 1 ftattfindende Be— 
fanntmachung des Termins zur Hauptverhandlung zu ergehen hat? Da nicht zu 
bezweifeln ift, daß die einmal begründete Kompetenz des Schöffengerichtes durch die 
nachträgliche Uebernahme nicht mehr berührt wird, und da im Allgemeinen an 
zunehmen ift, daß Anordnungen, welche die „Staatsanwaltſchaft“ betreffen, zunächit 
den Beamten angehen, welcher bei dem zuftändigen Gerichte beitellt ift, muß die im 
$ 417 der StrafPD. angeordnete Bekanntmachung des zur Hauptverhandlung be- 
ftunmten Termines der Amtsanwaltichaft zufommen. Das Gleiche will v. Schwarze 
auch bezüglich der Mittheilung der Anklageſchrift und er kann dafür das eben 
erwähnte Moment und die aus dem entgegengejegten Vorgange entjtehende Ueber: 
lajtung der Staatsanwaltichaft am Xandgericht geltend machen. Für die entgegen- 
geiegte Auffaffung Löwe's jpricht allerdings, daß in dieſem Moment die Zu: 
ftändigfeit des Schöffengerichtes noch nicht fichergejtellt ift, da beim Einfchreiten 
der Staatsanwaltjchaft das Landgericht zuftändig iſt, und daß es bedenklich ift, daß 
dem bei leßterem bejtellten Staatsanwalt der Amtsanwalt vorgreifen kann. Allein 
immerhin it das nur ein Bedenken de lege ferenda; das Geſetz ſelbſt aber jcheint 
durch jein Schweigen jür den Amtsanwalt zu enticheiden. 

Das Herüberragen civilprvzejjualijcher Momente äußert fi) 1) in dem 
(bei in derjelben Gemeinde Wohnenden) obligatorifhen Sühneverfuch bei 
Beleidigungen ($ 420), welcher ja direkt nur einen Vergleich über das Fundament 
einer Strafflage bezweden kann, eine jehr empfindliche Erichwerung des Verfahrens, 
da der Sühneverfuch der Erhebung der Klage vorangehen muß, einen Gang zum 
DVergleihsamt (allerdings nur innerhalb des Gemeindebezirkes) nöthig macht und große 
Vorſicht fordert, damit inzwifchen nicht die Antragsfrift ablauje; gar leicht fünnen 
drei Schriftjtücde vor Beginn des Verfahrens nöthig fein: der Antrag, die Anrufung 
bes Vergleichsamtes, die Anklagejchrift. (Anderer Meinung v. Schwarze, Er: 
Örterungen, ©. 45, 46, welcher nachzuweijen jucht, daß während der Schwebe des 
Sühneverjuches die Antragäfrift jtille jteht, wobei jedoch zu bemerken ift, daß die 
Antragsfrift durch das Reichsſtrafgeſetz geregelt ift, das von Sühneverjuch nichts 
weiß.) 2) In den Beitimmungen über Sicherheitsleijtung, Armenredt 
($ 419) und Koſten ($ 503 Abi. 2 u. 3 der StrafPO.; 88 83 u. 84 des Gerichte» 
fojtenngejeges). In erjterer Hinficht iſt namentlich ſchon über den Einfluß der Ver: 
fäumung der Sicherheitäleiftung Meinungsverjchiedenheit entjtanden ; Keller, Doch ow 
und v. Schwarze halten die Erneuerung der Privatllage als einer zurückgenommenen 
(5 432 der StrafPD.) auch in diejem alle für unzuläffig, während Löwe (mit 
Unrecht) meint, auch Hierin müßten die im $ 419 angerufenen Normen der CPO. 
maßgebend jein, welche unter gleicher Borausjegung die erneuerte Erhebung der Klage 
gejtatte. — Streitig ift auch der jubjeftive und objektive Umfang des Armenrechts 


182 Privatanklage. 


(vgl. v. Schwarze, Grörterungen, ©. 49). 8) In der Widerklage ($ 428). 
4) In dem Einfluß des Todes der Berechtigten ($ 433) und der Nichteinhaltung 
von dieſem unter Androhung der Einjtellung des Verfahrens gefegten Friſten ($ 431). 
Zu den Einzelheiten des P.verfahrens übergehend, ift folgendes hervorzuheben: 
1) Die Berehtigung zur Erhebung der Privattlage richtet fich in 
eriter Linie allerdings nach den Beitimmungen des Straigeſetzes über die Berechtigung 
zum Strafantrag. Doc konnte fich die StrafPD. nicht damit begnügen, auf dieſe 
zu verweilen. Derjenige, welcher einen gejeglichen Bertreter hat, fann wol einen 
Strafantrag jtellen, das Recht zu jelbjtändiger Erhebung der P. ift ihm jedoch ab- 
geiprochen ($ 414 Abi. 3). (Zu diefem Reſultat gelangt troß eingehend begründeten 
Widerſtrebens auch v. Schwarze.) Auch die Vertretung der Korporationen u. ſ. w. 
ift ausdrüdlich denfelben Perſonen zugewieien, durch welche fie in bürgerlichen Rechts— 
jtreitigfeiten vertreten werden; da ein Gejeß einen Yall, der nie eintreten wird, 
auch nicht Hypothetiich jehen kann, und da KHörperverlegungen an nicht phyſiſchen 
Perjonen nicht begangen werden können, jo ift mit der Anerkennung der Möglichkeit 
einer Privatllage auch die Streitfrage des materiellen Rechts entichieden, ob Kor— 
porationen u. ſ. w. Objekte von Beleidigungen fein können. — Hinfichtlich der 
Konkurrenz mehrerer Berechtigten (insbejondere wegen der Grlöfchung oder 
Zurüdziehung der Klage derjelben) find die Beitimmungen des Strafgeſetzes ($ 62) mit 
denen der Stra} OD. (S 415) zu fombiniren. Hervorzuheben ıjt die Kontroverſe, 
ob die lektangeführte Beitimmung nur dann Geltung habe, wenn neben dem un— 
mittelbar Verletzten jelbjt noch andere zur jelbjtändigen Erhebung der Klage Be 
rechtigte vorhanden find-(VBoitus, Löwe) oder auch dann, wenn durch diejelbe 
That mehrere Perfonen verlegt wurden (v. Schwarze, Dochow und Geyer). 
68 dürfte Letzteren beizupflichten fein, da es fih nur um die Wirkſamkeit von in 
der Sache ergangenen Enticheidungen handelt, das Strafverfahren aber jo gejtaltet 
werden muß, daß mehrere Prozefje mit „in der Sache” verjchiedenem Ausgange ent: 
jchieden fernzuhalten find, und daß der Beichuldigte gegen die wiederholte Verfolgung 
auf Grund deffelben Faltum, nach einmal ergangener Enticheidung in der Sache, 
geichüßgt werden muß. 2) Die Stellung des Privatanklägers wird, abgefehen 
von jenen jchon oben erwähnten Bejtimmungen, welche das Hereinragen civil- 
prozeffualifcher Momente bezeichnen, namentlich dadurch charakterifirt, daß er zwar 
prinzipiell berechtigt ift, fich vertreten zu laffen (durch einen mit jchriftlicher Voll: 
macht verjehenen Rechtsanwalt, $ 418), daß er aber angehalten werden kann, 
perjönlich zu ericheinen ($ 427 Abi. 3), wogegen andererjeits bezweifelt wird (Köwe), 
ob der einmal, jei es in Perjon, ſei es durch jeinen Anwalt erichienene Privat: 
fläger fich nicht vor Schluß der Verhandlung entiernen könne, ohne daß Rücktritt 
von der Klage angenommen wird. (Nach der Dejterr. StrafPO. $ 46 wird Rück— 
tritt von der P. angenommen, wenn der Privatankläger unterläßt, bei der Haupt— 
verhandlung feine Schlußanträge zu jtellen.) Weberhaupt unterliegt der Privatfläger 
eingreifender Prozekleitung des Richters, geftügt auf die Androhung der Einjtellung 
des Verfahrens ($ 431). Seine Bernehmung als Zeuge muß für unzuläffig erachtet 
werden, weil ein das Gegentheil bejtimmender Paragraph gejtrichen wurde; da aber 
fein perjönliches Ericheinen wol nur zum Zwed der VBernehmung gefordert werden 
fann, jo nimmt auch diefe Vernehmung einen civilprogefjualiichen Charakter an, und 
ſpricht man daher auch bereits von „Zugeftändniffen“ des Privatflägers, welche 
der Entjcheidung zu Grunde zu legen find. — Im Prozeß jelbjt hat der Privatfläger 
die Aufgabe zu löfen, die jonft der Staatsanwaltichait zukommt, und es find ihm 
daher auch diefelben Mittheilungen zu machen, er iſt in gleicher Weife anzuhören 
und zur Ergreifung von Rechtsmitteln berufen wie jene; doch fann er das Recht der 
Akteneinficht nicht perfönlich, nur durch einen Anwalt ausüben. 3) Für die Stellung 
des Beſchuldigten üft bezeichnend, daß auch er fich in der Hauptverhandlung 
durch einen Rechtsanwalt vertreten laffen fann, daß die Haft (wenn auch nicht 


Privatanflage. 183 


die Vorführung) ausgejchloffen ift, und daß er als Widerkläger auftreten fan. 
4) Den Gang des Berjahrens betreffend, jo muß mitunter bei Beleidigungen 
der Erhebung der Klage ein Sühneverfuch vorausgehen, und man (Löwe) hält dies 
für jo unerläßlih, daß er, wenn unterlaffen, in jeder Lage der Sache nachgeholt 
werden muß, auch wo 'diefe Nachholung zwecklos ift und der etwa zu erwartende 
Nugen leicht auf andere Weiſe erzielt werden fann. (Anderer Meinung v. Schwarze 
für den Fall, wo erft im Laufe des Verfahrens die Frage, ob KHörperverlegung oder 
Beleidigung anders beurtheilt wird.) — ferner fönnen vorläufige Ermittelungen 
ftattfinden ; eine Verpflichtung hierzu bejteht für feine Behörde. Das Verfahren jelbjt 
beginnt mit der förmlichen Anklagefchrift, einer vorläufigen Prüfung derjelben (der 
Umfang diejer Prüfung und der Einfluß der vorläufigen Zurücdweifung auf die An- 
tragsfrift ijt Eontrovers; f. v. Schwarze, Grörterungen, ©. 53), ihrer Mittheilung 
an den Beichuldigten und dem nah Anhörung des letzteren ergebenden Beichluß 
über die Eröffnung (oder Nichteröffnung) des Hauptverfahrens. Die Anficht Löwe's, 
daß die Anklage auch wegen Unzulänglichkeit der Beweismittel zurückgewieſen werben 
fann, erflärt v. Schwarze (Erörterungen, ©. 55) für unbegründet; fie hat aber 
den Wortlaut des Geſetzes für fich, weil das Gleiche auch „bei einer von der Staats— 
anwaltichaft unmittelbar erhobenen Anklage Anwendung“ fände. Allerdings aber 
wird der Richter berüdfichtigen müfjen, daß ihm hier nur eine Angabe der Be- 
weismittel vorliegt und daß der Privatfläger nicht wie der Staatsanwalt ein 
Vorbereitungsverfahren organifiren kann; er wird alſo vorläufig die Angaben des 
Privatflägers über die zu gewärtigenden Beweismittel gelten laffen müffen. Bei dem 
ſpeziellen Einfluß, den die StrafPO. der Staatsanwaltichaft auf die Ladungen und 
auf die Herbeiichaffung des Beweismateriald zur Hauptverhandlung gewährt, war 
bier eine etwas abweichende Regelung nothwendig: Die Beitimmung ift hier dem 
Borfigenden des Gerichtes überlaffen, daneben ijt beiden Iheilen das Recht der un— 
mittelbaren Ladung gewahrt ($ 426). 

B. Beihränftung des „Anktlagemonopol&“ der Staatsanwalt- 
ſchaft. Schon der Entwurf der StrafPO. Hatte die jubfidiäre Privatllage nur in 
ſehr beſchränktem Umfange aufgenommen, nämlich nur bei Antragsdelikten und nur 
zu Guniten des Verletzten. Die Juſtizkommiſſion des Reichstages beichloß aber die 
völlige Befeitigung der jubfidiären P. und fuchte das Gegengewicht gegen das ſog. 
Antlagemonopol der Staatsanwaltjchaft in der Unterftellung der Staatsanwaltichaft 
unter Die die Erhebung der öffentlichen Klage anordnenden Weifungen der Gerichte. 
Rah lebhaftem Widerjpruch der Regierung gegen jolche Verleugnung des Grund— 
gedankens des modernen StrafPrz. gingen aus einem Kompromiß die SS 169—175 
der StrafPD. hervor. Hiernach hat die Staatsanwaltichaft, wenn fie dem Antrag 
auf Erhebung der öffentlichen Klage feine Folge giebt, „den Antragjteller unter 
Angabe der Gründe zu befcheiden“. „Iſt der Antragiteller zugleich der Verletzte, 
io kann er, nachdem der Weg der Beichwerde an den vorgejegten Beamten vergebens 
betreten ift, bimmen einem Monat auf gerichtliche Enticheidung antragen. Dieſe 
Entjcheidung kommt dem Oberlandesgericht, joweit nicht ohnehin das Reichsgericht 
zwuftändig ift, zu. Das Gericht „kann“ von der Staatsanwaltichaft Mittheilung der 
„bisher von ihr geführten Verhandlungen“ verlangen, dem Beichuldigten Gelegenheit 
zur Erklärung geben, endlich jelbit zur Vorbereitung feiner Entjcheidung Ermittelungen 
anordnen, und beichließt dann entweder „die Erhebung der öffentlichen Klage“, 
deren Durchführung der Staatsanwaltichaft obliegt, oder falls fich Hierzu „fein ge— 
nügender Anlaß“ ergiebt, die Verwerfung des Antrages. Lebtere hat zur Folge, 
daß die öffentliche Klage nur auf Grund neuer Thatjachen oder Beweismittel erhoben 
werden fann. Zum Schuß gegen Mißbrauch jollen dienen: 1) Der dem Antrags 
fteller auferlegte Anwaltszwang; 2) die Verfagung des Armenrechts (ergiebt fi) aus 
den Verhandlungen des Reichstages) ; 3) die jchon angeführten Friftbegrenzungen, 
wobei aber wol beachtet werden muß, daß den eriten Antrag an die Staatsanwalt: 


184 Privatanklage. 


ſchaft Jedermann ſtellen, der Verletzte ſich alſo die Friſt beliebig offenhalten kann; 
4) die Sicherheitsleiſtung „für die durch das Verfahren über den Antrag und dur) 
die Unterfuchung der Staatsfaffe und dem Beichuldigten vorausfichtlich erwachjenden 
Koften“, welche dem Antragfteller auferlegt werden fann. Wird die Sicherheit binnen 
der bejtimmten Friſt nicht geleiftet, fo ift der Antrag für zurüdgenommen zu erklären, 
daraus folgt, daß dieje Zurüdnahme überhaupt (bis zur Enticheidung) zuläffig ift. 

C.Rebenklage (f. diefen Art.). Der öffentlichen Klage können fich als Neben: 
fläger amjchließen: 1) Wer als Privatfläger auftreten könnte; 2) Derjenige, auf 
deilen Antrag das Gericht der Staatsanwaltichaft gegen ihre Anficht die Erhebung 
der öffentlichen Klage auftrug, „wenn die jtrafbare Handlung gegen jein Zeben, feine 
Gejundheit, jeine Freiheit, jeinen Perfonenjtand oder feine VBermögensrechte gerichtet 
war”. Aus diefem Zuſatz geht indirekt hervor, daß nicht jeder, der ala „Verletzter“ 
den erwähnten Gerichtäbejhluß erwirken fann, auch als Nebenkläger einjchreiten 
darf, was man wol hart finden wird, da der „Antragjteller” für die Koſten haftet 
und binfichtlich diefer (das heißt der Höhe derjelben) jedenfalls zu hören ift (8 504). 
3) Derjenige, welcher die Zuerfennung einer Buße begehrt. Nach fürmlicher, fchrift: 
licher Anjchlußerflärung, über welche das Gericht nach Anhörung der Staatsanwalt- 
jchaft entjcheidet, hat der Nebenkläger im weiteren Verfahren die Rechte des Privat: 
flägere. (Will er diefe üben, wozu dann noch den Staatsanwalt zum Ginfchreiten 
zwingen? Will er dies nicht, jo wäre dies wol eben jo beachtenswerth, als die 
Rücdnahme des Antrages auf Erhebung der öffentlichen Klage.) 


Lit.: Bu L: ar des Deutichen A I. &. 70, 71, 246; DI. Bd. 1 
©. 129—233, 241—275; Bd. 2 ©. 289—368, 373—429; Il. Bd. 1 ©. 64 ff; (v. * en: 
dorff) S. 198 fi.;(Thomfen) ©. 233 fi.; (John) Bd. 3 ©. 19 ff., 213 ff., 318 ff., 

v. Groß, Strafrechtäpflege in Deutſchland, III. ©. 385—412; IV. ©. 29—55, 232—240. — 
Glaſer, Kleine Schriften, I. ©. 429 ff. — 8 Meyer, Die Mitwirkung der Parteien im 
kr Erl. 1873. — S. Mayer, Zur Reform bed StrafPrz., IV. Abſchn. (Frankf. 1871); 
Derfelbe, Entwurf der Deutichen StrafPD. (1874), S. 308420. — Hergenhahn, Dat 
Antragsreht im Deutihen Strafrecht, Heft 105 der Deutichen Zeit- und Streitfragen, Berl. 
1878. — v. Holgendorjf, Strafredtägeit., I. ©. 27 fi. w. Groß), S.85ff.(v. Shwarze), 
©. 392 ff.; eine Reihe von Artikeln von Sunbelin, ©. 494 ff.; 3b. II. ©. 49 ff. (Mittel: 
ftädt). — Fuchs, Anklage und Antragsbelitte, Bresl. 1872. — Reber, Die Antragäbdelifte 
des Deutichen Strafrechtes, Münden 1873. — Nefjel, Die Antragsberechtigungen des Deutichen 
RStrafGV., Berl. 1873. — Gneift, Vier Fragen zu ber StrafPD., Berl. 1874 ©. 16 fi. — 
Binding, Die drei Grundfragen der Organijation des Strafgerichts, Leipz. 1376 ©. 4l, 5. — 
MWahlberg, Kritik des Entwurfes der Deutichen StrafPD., Wien 1873 ©. 29-4. — 
v. Bar, Kritil des Entwurfes, S. 9—12. — Schütze, Das ftaatsbürgerlice Antlagerecht in 
Strafſachen, Graz 1876. -—- Janka, Staatliches Klagemonopol oder ſubfidiäres Strafflage: 
recht?, Erlangen 1879. — Dohom in dv. Holkendorjf'e rn. für Geſetzgebung, 
Verwaltung und Nechtäpflege des Deutichen Reiches, II. 3b. ©. 462; Derjelbe in 
v. H — a andbuch des Strafrechts, IV. ©. 236 ff. — Helie, Traité de l’instruct. 
criminelle, (1. ed.) ss 100—105, 115—117, 122—124. — Mangin, L’action publique, 
ss 4—22, 122—128, 131—135. - Dalloz, Repertoire Vbo Instruction criminelle no. 75 
bıs 118, 138—165. — Trebutien, Cours de droit criminel, II. titre 1.— M.H. Godefroi, 
De iis delictis, quae nonnisi ad laesorum querelam vindicantur (Amst. 1837). — Bor- 
sari, Della azione penale, no. 95, 102—125, 243—298. — Carrara, Programma del 
Corso di diritto penale, P. generale Vol. II. (ed. V. 1877) $ 861; Derjelbe, L’azione 
—— in Lucchini's Rivista Penale Vol. Ill. p. 2 ss. — Cesarini in ber Rivista 

enale X. 148—165. — V. Aschettino, daſ. VI. p. 5—103. — Borsani e Casorati, 
Codice di procedura penale comment. Vol. 1. (Milano 1873) $3 64 ss. p. 74 ss., 88 94 ss. 
. 106 ss. — Casorati im Monitore de’ Tribunali (Mailand) 1878 p. 479. — Glajer, 
Sintlage x. im Englifhen Schwurgerichtäverfahren, S. 20—49. 


Zu II: Motive zur Defterr. StrafPD. vom 23. Mai 1873, Ausgabe der Staatädruderei 
TI. ©. 25—29, Ausg. Rajerer II. 25—27. — Mayer, Handb. bes Defterr. StrafPrz.R. 
(Wien 1876), I. ©. 132—138, 402—415. — Ullmann, Das Defterr. Strafprz.R. (Innsbruck 
1879), ©. 282—302. — Mitterbadher und Neumayer, Erläuterungen zur StrafPD. (Graz 
1874), ©. 120—160. — Rulf, Die Defterr. StrafPD. von 1873 (2. Aufl. Wien 1874), 
©. 70-79; Derjelbe, Die Prarid der Defterr. StrafPrz. (Wien 1878), ©. 6—18. — 
Caen et Bertrand, Code d’Instruction crim. d’Autriche (Paris 1875), p. X, XI. 22— 
28. — v. Liszt, Die Privatflage in Deiterreich, Gerichtsſ. 1878 ©. 187 ff. 


Privatverzeifung — Privilegien. 185 


an II.: Motive zur StrafPO. S. 222—240, Anlage 4 zu ben —— (Dahn, 

— SKommentare von vd. Schwarze, ©. 313—323, 560-580; Löwe, ©. 511 
53 ee, A. Keller, ©. 160-176, 455482; Voitus, ©. 211— 217, 428 bis 
46; Dalde, S. 114—116, 254 266; €. v. Bomhard a. . "Koller, ©. 122—125, 


M-38. — Dodhom, Der RStraffr. (3. Aufl. 1880), ©. 89 ff., 264 fi. — Pudelt, 
e. 085 ff uchs in v. Holtzendorff's Handbud des Strafßrz., I. 450, 457. — 
Inden, "bafett, 1. ©. 353 ff. — Geyer, Lehrbuch des gemeinen —— Strafprogeh- 

enftein, Das Syſtem des Rechts der Ehrenfränkungen, 


tw, ©. 852 ff. — Freu 
en f. — A, I Strafverfahren (2. Aufl. 1880), ©. 178 ff. — dv. Schwarze, 
Erörterung prakt. wichtiger Materien. I. Heft (Leipz. 1880), ©. 20 ff.; Derjelbe im Gerichts- 
iaal XXXI. (1879) ©. 335. — Scherer, ebenda, ©. 69 ff., 336 ff. — Menzel, Die Privat: 
foge nach dem Reichsſtrafprozeßrecht, 1880. Gy lajer. 

Privatverzeihung, j. Verzicht im ftrafrehtlichen Sinne. 

Privilegien heißen die durch einen Akt der Staatögewalt unter Abweichung 
von allgemeinen Rechtäregeln begründeten Rechte bejtimmter Individuen dem Staat 
oder anderen Staatsbürgern gegenüber. Die Grundlage eines jeden Privilegs ijt 
ein gefehgeberifcher Aft, lex specialis, privilegium im objektiven Sinn. Wie folcher 
At rechtswirkſam zu Stande kommt, ift eine Frage des öffentlichen Rechts. Die 
Verleihung eines einzelnen Privilegd kann unmittelbar durch Geje bewirkt werden; 
es fan aber auch öffentliches Recht des Staats fein, daß auf Grund eines Geſetzes 
nad) gewifjen Richtungen hin die Verleihung von Sonderrechten anderen als den 
geießgeberifchen Organen anvertraut ift. Gemeinrechtlic” wird der undordenklichen 
Zeit auch bei P. die Bedeutung beigelegt, daß dadurch der Nachweis rechtlicher Ent— 
ftehung erſetzt wird. Als wirkliches durch die Staatsgewalt begründets Recht 
fteht das Privileg im Gegenjat zu jederzeit mwiderruflichen Sonzeflionen. Die Ber: 
fafungsurfunden der einzelnen Deutjchen Staaten erkennen es zum Theil ausdrück— 
(ih an, daß neue P. wenigftens infoweit, als fie Beichränfungen der Freiheit oder 
des Gigenthums enthalten, nur im Wege der Gefeßgebung, alfo unter Zujtimmung 
der Landesvertretung oder auf Grund von Gejeßen, welche die Gewährung regeln, 
bewilligt werden dürfen. Allerdings hat die Entwidelung des Staatärechts die Er— 
theilung vieler P. zur Verwaltungsjache gemacht, dies gilt in den meiften Deutfchen 
Staaten von der Verleihung von Korporationsrechten, Genehmigung der Ausgabe 
von Inhaberpapieren, ſofern es dazu einer Ermächtigung bedarf, Genehmigung der 
Gifenbagnunternehmungen. Neichsgefeglich ijt die Dispenjation von gewiflen Ehe: 
hinderniffen und vom Aufgebot den Landesregierungen zugewiejen. 

Die Eintheilungen der P. in fonventionelle und nicht konventionelle, privilegia 
onerosa und gratuita, beziehen ſich nicht auf den juriftifchen Entſtehungsgrund, 
iondern auf den Anlaß, der die rechtliche Entjtehung herbeigeführt Hat. Dieſer An— 
laß kann, je nachdem er fich ala ein Vertrag mit oder ohne Gegenleiftung auffaflen 
läßt, die Interpretation der Verleihungsakte jelbjt verjchieden beeinfluffen. — Affir— 
mative P. im Gegenfa von negativen erzeugen die Beiugniß etwas wirkſam zu 
tun, was ſonſt nicht erlaubt oder unwirkſam ift. Hierhin gehören verliehene 
Hoheitärechte, Patente, Monopole, während ala hauptjächliche Arten negativer P. 
Immunität von Steuem und die Eremtion vom ordentlichen Gerichtsftand, vom 
Parrzwang und von gewifjen Rechtäregeln, 3. B. des ehelichen Güterrechts, zu nennen 
find. — Ein anderer Gegenſatz iſt der don privilegia personalia und realia, je nach— 
dem das Sonderrecht einem bejtimmten Individuum oder dem Befier einer be= 
ftimmten Sache zufteht; man fpricht daneben auch noch von privilegiis mixtis, die 
beitimmten Perjonen ald Befigern einer Sache zuftehen, 3. B. die Steuerfreiheit der 
Kirchengrundjtüde. Privilegia personae und causae find eine nur für den Konkurs 
erhebliche, jet nicht mehr praktiſche Unterjcheidung der privilegia exigendi, je nachdem 
dieſelben lediglich auf der Perfon des Berechtigten oder auf der Natur der Forderung be= 
ruhen und alfo im leßteren Fall auch mit dem Forderungsrecht übertragen werden können. 

Die auf PB. beruhenden Sonderrechte können in derjelben Weife wie andere 
Rechte untergehen. Es kann auch an und für fich nicht als eine Bejonderheit der 


186 Probelauf. 


P. bezeichnet werden, daß ſie durch neuen Geſetzesakt des Staats widerrufen werden 
können, indem die Geſetzgebung auch andere wohlerworbene Rechte mit derſelben 
Wirkſamkeit zu zerſtören in der Lage iſt. Wie aber ſtaatsrechtlich jeder Eingriff in 
beſtehende Privatrechte durch die Staatsgewalt als ein unzuläſſiger erachtet wird, 
es ſei denn, daß überwiegende Gründe des gemeinen Wohls dazu nöthigen, ſo gilt 
dafſelbe auch bei den P. Aufhebung des P. verpflichtet den Staat zur Entſchädigung, 
natürlich jedoch nur infoweit ein abjchäßbarer vermögensrechtlicher Schaden entjteht. 
Anders wenn das Privileg auf Widerruf, ad bene placitum, ertheilt ift, oder wenn 
als Grund der Aufhebung Mißbrauch des Privilegs zum Nachtheil des Staats oder 
der Staatsbürger dargethan werden kann. 
Quellen u. 2it.: X. de privil. 5, 33; in VIto 5, 7; Clem. 5, 7. — 1. 16 D. de leg. 
‚3 a a. a. O. — Schia er, Darftellun ber Lehre von den —— in Linde's 
Alle . F. XII. 2. — v. erber, Abhandlungen (II. Ausg. 1878), ©. 470 fi. 
Eccius. 
Probekauf. Unter dieſem Namen werden drei verſchiedene Kaufverträge zu: 

jammengefaßt. I. Der Kauf auf Beficht oder auf Probe (Belieben, Gefallen, Laune), 
emtio ad gustum. Hierbei wird nach der herrichenden, auch im HGB. anerkannten 
Meinung (dawider Unger) die Eriftenz des Gejchäfts von dem freien Belieben des 
Käufers abhängig gemacht, welches derjelbe durch Billigung oder Mißbilligung der 
Waare zu erkennen giebt; der Verkäufer dagegen ijt fofort gebunden. Im Einzelnen 
find folgende Fragen zu unterfcheiden: 1) In welcher Weife hängt das Geſchäft von 
der Willenserklärung des Käufers ab? 2) Binnen welcher Frift muß dieſelbe er 
folgen? 3) Wer trägt bis zur erfolgten Willenserklärung die Gefahr? Zu 1: Das 
Geichäft kann durch die Willenserklärung juspenfiv bedingt fein. Dies ijt der Fall, 
wenn es nach der Abficht der Parteien erjt mit der Billigung der Waare ala ge 
ichlofjen gelten folltee Der Käufer iſt dann bis zu feiner Genehmigung gar nicht 
gebunden, von derjelben ab definitiv ($ 4 I. 8, 23; 1. 20 pr. $ 1 D.19, 5). 
Das Geſchäft kann aber auch volllommen abgefchloffen, und nur die Wiederaufhebung 
defielben in die Willkür des Käufers geftellt jein, entweder in der Art, daß es durch 
die Mißbilligung defjelben ſich von felbjt rüdwärts auflöft, als wenn e8 nie ge 
ſchloſſen worden wäre (Refolutivbedingung ; — 1.20 $ 1ccit.; L 6 D. 18, 5) oder 
jo, daß der Käufer nur ein Forderungsrecht hat auf Kücgängigmachung, (. 12 D. 
19, 5; 1. 3 C. 4, 54). In dem lebten Falle können nach der Abficht der Parteien 
die Srundfäße des äbdilicifchen Edifts über die actio redhibitoria zur Anwendung 
zu bringen fein (1. 31 $ 22 D. 21, 1). Welcher von den drei Fällen vorliege, 
ijt nach den gebrauchten Ausdrücken, eventuel nach den Umſtänden zu entſcheiden. 
Die Bezeichnung pactum displicentiae paßt ſowol auf den zweiten, als auf den 
dritten Fall. Im Zweifel wird man, wie auch nah HGB. Art. 339 eine auf: 
ichiebende Bedingung vorausfegen müfjen (dawider Brinz), bez. eher eine Rejolutiv- 
bedingung, als einen Wiederaufhebungsanſpruch. Zu 2: Die Willenserklärung, welche 
ausdrücdlich oder ftillfchweigend fein kann, muß rechtzeitig erfolgen. Die Friſt dafür 
wird häufig vertragamäßig oder ortsüblich beitimmt fein; wie 3. B. bei den Römern 
für das Rücktrittsrecht nach der Art der äbdilicifchen Rebhibition 60 Tage geſetzt 
waren (l. 31 $ 22 D. 21, 1). Eventuell kann der Verkäufer eine Erklärung 
verlangen, jobald er dem Käufer die Befichtigung und Prüfung der Waare ermög- 
licht Hat (HGB. Art. 339). Andererjeits it eine Säumniß des Verkäufers hierin 
dem Käufer unnachtheilig. Ergeht binnen der bejtimmten Friſt eine Erklärung des 
Käufers nicht, jo hat fich die Bedingung nicht erfüllt. Mithin fommt das juspenftv 
bedingte Geſchäft gar nicht zu Stande, das rejolutiv bedingte dagegen bleibt dauernd 
beitehen; ebenjo auch dasjenige, deſſen Auflöfung der Käufer hätte fordern können. 
Streitig ift, ob diefe Regeln auch Anwendung finden, wenn der Käufer die Waare 
bereit3 empfangen und bis nach Ablauf der Friſt entweder fich nicht erflärt oder 
jene gar mit Pfandrecht oder anderen Lajten befchwert hat. Nach der richtigen An— 


Prodigalitätserltärung. 187 


fiht liegt in diefem Berhalten eine Genehmigung und wird alſo der Kauf allemal 
definitiv wirfam (HGB. Art. 339, Abſ. 4). Uebrigens kann der Verkäufer auch 
eine veripätete Erklärung des Käufers noch annehmen. Dann liegt ein neues Ge— 
ihäft vor. Zu 3: Die Gefahr ſowol des Untergangs als der Verjchlechterung trägt 
bis zur definitiven Enticheidung in allen Fällen der Verkäufer. Denn das Recht 
des Käufers, beim fuspenfiv bedingten Gefchäft die Billigung zu verweigern, und 
bei dem bereits gejchloffenen die Mißbilligung zu erklären, kann durch zufällige Er— 
eigniffe nicht geändert werden. Das etwa gezahlte Kaufgeld darf er dann zurück— 
iordern. Hat er aber die Beichädigung jelbjt verichuldet, jo Haftet er auf Erſatz. 
Bon dem Gejagten weichen viele Juriften darin ab, daß fie die Gefahr des Unter- 
gangs beim fertigen, aber auflösbaren P. dem Käufer zuweiſen (Goldſchmidt, 
Fitting). 

Bon dem oben dargejtellten Kauf auf Beficht ift, wie Goldſchmidt erwieien 
hat, die bis vor Kurzem noch irrthümlich als Mufterfall und Vorbild defjelben ans 
geiehene, gegenwärtig nur im franz. Recht (Code Nap. art. 1587) noch praftifche emtio 
vini ad degustationem, Weinhandel mit vorbehaltener Prüfung, wol zu unterjcheiden. 
Diefe ift auch eine Art des bedingten Kaufes, enthält aber jtet? nur eine Reſolutiv— 
bedingung, deren Erfüllung dadurch eintritt, daß der Käufer bei der Probe den 
Wein als verdorben erfennt (Cato, De re rust., c. 148; 1. 4 $ 1 D. de peric. 
et comm. 18, 6). 

Das Preuß. Recht (ER. I. 11 88 331—39) fieht den Verkauf auf Probe 
immer als juspenfiv bedingten an (nach Förſter, II. $ 124, als einfeitig bindende 
Vertragäofferte), erklärt aber das Schweigen des Käufers während der beitimmten 
Friſt für gleichbedeutend mit der Genehmigung und giebt außerdem dem Verkäufer 
das Recht, die mangelnde Frijtbeitimmung richterlich ergänzen zu laffen. Iſt eine 
auflöfende Bedingung gewollt, jo heißt das Geſchäft Reufauf, und ijt die Sache 
übergeben und das Kaufgeld bezahlt, jo kann dem Käufer nur ein Recht auf Rück— 
fauf eingeräumt fein. Das Franz. Recht ichließt fich (art. 1588: vente A l’essai) 
dem Röm. Recht an, vermuthet aber im Zweifel auch ſtets juspenfiven Abjchluß. 

I. Kauf nad Probe (oder Mufter). Diejer wird unbedingt, jedoch mit der 
Zufage (dietum promissum) des Verkäufers geichloffen, daß die Waare der vor- 
gelegten Probe entjprechen ſolle. Der Verkäufer ift dann verpflichtet, die probemäßige 
Waare zu liefern, der Käufer eine jolche anzunehmen. Nach dem Handelsrecht hat 
der Käufer bei Ueberjendung der Waare diejelbe unverzüglich nach dem Empfange 
zu prüfen und etwaige Mängel jofort, oder falls folche ihrer Natur nach erft jpäter 
zu Tage treten, gleich nach ihrer Entdedung dem Verkäufer anzuzeigen, widrigenjalls 
die Waare als genehmigt gilt (HGB. Art. 340; 347, Abi. 4). 

II. Der Kauf zur Probe ift „unbedingter Kauf mit Hinzufügung des Beweg— 
grundes“. Dieje enthält die für den Käufer nicht verbindliche Verheißung, im Falle 
der Zufriedenheit eine größere Quantität kaufen zu wollen (HGB. Art. 341). 

Lit: ad L Goldſchmidt, Ztſchr. für H.R., I. (1858, — Fitting, daj. IL — 
Unger, baj. III. — Yitting, da J. V. — Sufammenfteflung des Inhalts biefer vier Arbeiten 
von Fittin ; N * civ. Praxis XLVI. 11 (1863). — Bradenhöft, Zeitſchr. für 
Civilrecht un XVII. 11. — Thol H.R., $ 259. — ad V. He eife, Ueber den 
— nach ‚ten u Se in Zeitſchr. für Chürecht und Prz., N. F. II. 4 (1846). — 

Thöl, HR . — In zen ber Gefahr ad I. und II.: Bofmann, Das periculum 
beim Kauf, in 1870, ©. 92 fi. Ed. 


Prodigalitätserflärung ift der Richteripruch, wodurch eine Perfon für einen 
Verſchwender erklärt und entmündigt wird. Wegen der darüber geltenden progefjua= 
liichen Regeln vgl. den Art. Entmündigungsveriahren. Die Voraus— 
jegungen einer P. find von der Geſetzgebung verjchieden bejtimmt worden. Nach 
dem älteren Röm. Recht wurde nur derjenige, der die ab intestato ererbten bona 
paterna avitaque vergeudete, vom Magijtrat der Verfügung über dieje letzteren ent= 


188 Prodominium. 


jegt, welche von da ab in die Verwaltung der Agnaten famen (Ulp. XII. 2, 3). 
Die Entmündigungsiormel (ob eam rem tibi ea re commercioque interdico) bei 
Paul. Sent. III. 4a $ 7. Dabei war nicht jowol der Schuß des Verjchwenders, 
als die Zufammenhaltung des Familienvermögens beabfichtigt. Später wurde nad 
Analogie des Geiſteskranken überhaupt jeder, der jein Vermögen, gleichviel wie er 
eö erworben (nicht blos die Zinſen deffelben), durch unzeitgemäße und übertrieben 
Ausgaben verjchleuderte und verthat (l.1 pr. D. de cur. fur. 27, 10), vom Prätor 
entmündigt und ihm ein nach freiem Ermeffen erwählter Kurator bejtellt. Bejtimmter 
find die Vorausſetzungen der P. auch im Gem. Recht nicht feitgeitellt. Feſtzuhalten 
ift jedenfalls, daß die Analogie des Wahnfinnigen auf das Erforderniß einer geiftigen 
Schwäche, welche „die Sorge für die Zukunft dem Eindrud des Augenblids opfert“, 

hinweiſt (Sintenis, Gem. Givilrecht, III. S 155 4. 16). Xeichter nimmt es mit 
den Vorausſetzungen $ 30 des Allg.LR. I. 1. Der GEntmündigungsbeichluß tritt ſchon 
mit der Zuſtellung an den Entmündigten, nicht erſt mit der Veröffentlichung in 
Kraft (REPO. 88 623, 627). Die Wirkungen der P. beſtehen nach Gem. und 
Preuß. Recht im Wefentlichen darin, daß der Entmündigte für Rechtsgeſchäfte nur 
noch die Handlungsfähigkeit des impubes infantia maior hat. Gr erhält einen Vor: 
mund, und feine Beräußerungs- und Verpflichtungsgeichäite find nur bei Zujtimmung 
defielben bzw. des Obervormundjchaftsgerichts wirkſam (1. 6 D. d. V. O. 45, 1: 
l. 10 pr. D. de cur. fur. 27, 10; $ 31 Allg. ER. I. 1). Auch zur Errichtung 
eines Teftaments und zur Betheiligung ala Zeuge bei einem folchen ift er unfähig 
(1. 18 pr. D. qui test. 28, 1; nach $ 27 Allg. ER. I. 12 freilich nur beichränft). 
Ebenjo it er von der jelbitändigen Prozeßführung ausgeſchloſſen (Entjcheid. de 
ROHG. Bd. 14 ©. 353); ja nach $ 256 Allg. ER. II. 2 verliert er jogar die väter: 
liche Gewalt. Im Uebrigen bleibt er fähig, Erwerbsakte und andere als vermögens: 
rechtliche Gefchäfte, 3. B. eine Ehejchließung, vorzunehmen (SS 29, 39 des RGeſ. vom 
6. Febr. 1875, wodurch landesgeſetzliche Abweichungen bejeitigt find). Auch durd 
Delikte, 3. B. betrügliche VBorjpiegelung, daß er jelbitändig jei, macht er fich haftbar. 
P. durch privaten Vertrag ift unwirkfam (Seuffert, Arch. XV. 1386; XVIII. 125). 


wi Ubbelohbe in en 8 Stiche. IV. ©. 671— en — sign * 
buch, I. $ 71 Nr. 5; IL. $ 446 — Dernburg, Lehrbud, I. $ 76. Ed 


Prodominium. Die Ausübung der in der Lehnsherrlichkeit enthaltenen 
Rechte kann geichehen durch den Lehnsherrn felbjt, durch einen Bevollmächtigten, 
deifen Stellung nach den civilrechtlichen Grundiägen vom Mandat zu beurtheilen 
it, und in den geeigneten fällen durch einen Prodominus: — einen Vertreter, 
welcher die Befugniffe des Lehnsheren, ohne von diefem beauftragt zu jein, kraft 
eigenen Rechts auszuüben berufen ift. Diejes Necht gründet fich auf Gejeß, nament- 
lih Verfaſſungsgeſetze, Herkommen, Yamilienverträge oder fonftige autonomijche An: 
ordnungen, umd dadurch wird zugleich der Umfang der Beiugniffe des Prodominus 
bejtimmt: im Allgemeinen übt er alle Rechte des Lehnsherrn. Das P. findet fid) 
nur bei Lehen, in Beziehung auf welche die Lehnsherrlichkeit einer juriftiichen Perſon 
oder einer Mehrheit von Berechtigten zufteht. Vom jog. prod. simplex insbeſondere 
ift in drei Fällen die Rede: bei Lehen eines geiftlichen Inftituts ſteht es den 
Prälaten, bei denen der Städte den Magijtraten, bei jolchen, die fich im Miteigen- 
thum aller Mitglieder einer Familie befinden, einem durch Verträge, Hausgeſetze 
oder Obſervanz beſtimmten Repräjentanten, meijt wol dem Senior zu. Sit ein 
Zehn an Kammergütern bejtellt, jo it der Landesherr, dem in Ermangelung 
abweichender Rechtsbejtimmungen das Eigenthum an denſelben zuſteht, Lehnsherr 
und nicht Prodominus; in Beziehung auf Lehen aus eigentlichem Staatsgute 
dagegen joll der Landesherr nach der Anficht der meijten Schriftjteller nur ein prod. 
sublime und nicht die Lehnsherrlichkeit jelbjt haben, obwol auch für die entgegen: 
jtehende Anficht mancherlei Gründe angeführt werden könnten. Die ganze, früher 


Progreifipigitem. 189 


sit beiprochene Streitfrage hat übrigens, wie jchon von Eihhorn und Anderen 
bemerkt wurde, geringes praftifches Intereffe. — Ueber das PB. der Reichövifare hin- 
— der Reichslehen vgl. aurea bulla c. 5. 

: Eihhorn, s 212. — Mayr, $ 136. — Weber, IIL ©. 11—17. — = 
m Beste 3 Rechtälertfon VI. 427 ff. fra 


Progreifiviyften. Zwiſchen den beiden einfachen Arten des Vollzugs der Frei— 
heitäftrafen, d. h. zwischen der Einzelhaft und der alten Gemeinjchaitshait (entweder 
ohne Trennung der Gefangenen bei Nachtzeit, oder nach dem jog. Auburn’schen Syitem 
unter Trennung der Öejangenen bei Nachtzeit und mit Auferlegung des Schweiggebots) 
ichob fich nach und nach ein drittesein: das Iriſche oder Progreſſivſyſtem. Anknüpfend 
an den Grundgedanken des Befjerungszwedes liegt das Hauptmerkmal des PB. darin, 
daß dem Verhalten des Sträflings ein beftimmender Einfluß auf die Modalitäten des 
Strafvollzugd und die Dauer der Strafe zuerkannt wird. Demgemäß ergeben ich 
gewiſſe Abſtufungen, entjprechend den wahrnehmbar gewordenen Anzeichen der Beilerung : 
höherer Antheil am Arbeitsverdienft, größere Erleichterungen in der Unterwerfung unter 
die Disziplin, Abkürzung der Haftdauer. Und umgekehrt: Verluſt der erlangten Vor— 
theile durch Widerfeglichkeit, Unfleiß und ordnungswidriges Betragen des Gefangenen. 
Die erften Anfänge des P. liegen in dem Vorjchlag, die Dauer der Freiheitsitrafe aus— 
zudrüden in dem Maße der den Gefangenen auferlegten, nach feinen Anftrengungen bald 
rüber, bald jpäter zu bewältigenden Arbeitsleiftungen. Verwirklicht ward diejer Gedante 
juerft in dem von Maconochie eingeführten Markenſyſtem, durch welches die 
zeitliche Dauer der Strafe in einer bejtimmten, vom Sträfling abzuverdienenden 
Anzahl von Arbeitspenfen markirt wurde. An fich ift es möglich, daß ein derartiges 
Prinzip jowol auf die Einzelhaft, ala auch auf die Gemeinfchaftshaft, auf jchwere 
oder auf leichtere Trreiheitsftrafen angewendet werde. Neue Gejtalt gewann dag PB. 
in Irland, wo Grofton jeit 1854 eine von weit reichenden Erfolgen gefrönte 
Reform der Strafanjtalten ins Werk ſetzte. Das Iriſche Syitem beruht auf einer 
durch den Gedanken der ftufenweifen Fortbildung des Verbrechers geleiteten Ver— 
ichmelzung der Ginzelhaft und der Gemeinjchait. Die Strafe der Zwangsarbeit 
(penal servitude), deren Minimum gegenwärtig fünf Jahre beträgt, zerfällt danach 
in folgende Abjchnitte: 1) Einzelhaft bis zur Dauer von 9 Monaten, wegen guten 
Verhalten? um einen Monat fürzbar; 2) Gemeinichaftshaft in progreifiver Klaſſi— 
fifation, vermittelt durch Verfegung in Gemäßheit guten Berhaltens und gefenn- 
zeichnet durch Zubilligung beftimmter, in jeder Klaſſe verdienter Marken; 3) Zwijchen- 
anftalt (intermediate prison) ohne Disziplinarftrafe außer der Zurüdverjegung, im 
Sinne einer allmäligen Annäherung an die Freiheit; 4) bedingte, d. h. widerrufliche 
Freilaffung (conditional pardon) gegen einen Urlaubgjchein (ficket-of-leave) und unter 
Anwendung polizeilicher Aufficht über die Entlafjenen. Obwol von den Anhängern 
der ftrengen Einzelhaft das Iriſche Syitem ala Rüdfall in die Grundfehler der alten 
Gemeinichaftshaft angefehen wurde (fo von Füßlin, Röder, Ducpetiaur, 
Suringar), find deffen Vorzüge dennoch jehr bald allgemein anerfannt und jelbit 
von denen hervorgehoben worden, die entjchieden der Einzelhaft den Vorzug gegeben 
hatten (Mittermaier, Hoyer, Julius). Immerhin verbreitete fich jeit 1859, 
wo die Einzelheiten des P. zuerft befannt wurden, die Meberzeugung, daß es ala ein 
jelbftändiges, auf eigenthümlicher Grundlage ruhendes Syſtem anerfannt werben 
müffe und feineswegs als rein äußerliche Mifchung unverträglicher Elemente bezeichnet 
werden dürfe. Auch begriff man, daß es dabei nicht auf eine Nachahmung der in 
Irland gegebenen Aeußerlichkeiten ankomme, jondern vielmehr, je nach den Berhält- 
niffen der einzelnen Länder, mannigiache Abweichungen durch die bejondere Natur 
der Umſtände geboten fein können. In Deutjchland verjochten der Unterzeichnete 
und nach ihm Hoyer, John, v. Groß, Hänell, Fulda, in Holland van der 
Brugghen, Eyſſel und Grevelind, in Frankreich Lucas und Bonneville 


190 Profura. 


de Marjangy, in Stalin Beltrani-Scalia, in Amerifa Sanborn, in 
der Schweiz dv. DOrelli, Guillaume und Hürbin, in Dänemark Bruun, 
in Ungarn Tauffer die Grundjäße des Jrifchen Syſtems. Zunächſt ward durch 
Aneignung wejentlicher Stüde die Einrichtung der Engliſchen Strafanftalten nad 
dem Iriſchen Muſter vervolltommnet. In der Schweiz find die in der Aargauiſchen 
Anjtalt zu Lenzburg angenommenen Grundjäße des Strafvollzuges aus dem Grund: 
gedanken des P. hergeleitet worden. Unter den verjchiedenen Beſtandtheilen bes 
Iriſchen Strafvollzuges hat die widerrufliche und bedingte Entlafjung der Gefangenen 
am Allgemeinften Billigung gefunden, weil fie auch dem Einzelhaftiyftem angefügt 
werden kann und nicht nothwendig im Zuſammenhang ſteht mit einer beftimmten 
Form der Haft. Zuerft auf Deutichem Boden ward die bedingte Entlafjung ala 
ein Alt der Gnade im Königreich Sachjen eingeführt. Andere im RStrafGB. 
($$ 23—27). Hier ift die „vorläufige Entlafjung“ eine Maßregel der Juſtizver— 
waltung. Die höchſte Juftizauffichtsbehörde bejchließt darüber nach Anhörung der 
Gefängnißverwaltung. Auch der Widerruf geht von derjelben Inſtanz aus, wenn: 
gleich die Ortöpolizeibehörde aus dringenden Gründen des öffentlichen Wohles die 
einjtweilige Feſtnahme vorläufig Entlafjener verfügen darf. Anwendung findet die 
vorläufige Entlafjung auf diejenigen zur Gefängniß- oder Zuchthausſtrafe Verur— 
theilten, welche fich 1) gut geführt, 2) drei Viertel der ihnen auferlegten Strafe, 
mindeiteng aber ein Jahr, in Haft geweien find, und 3) in die Mafregel ein: 
willigen. Gine Refolution des Norddeutfchen Neichätages vom 4. März 1870 ver 
langt eine Vorlage des Bundesraths, durch welche „die Vollſtreckung der Freiheits— 
jtrafen gejeßlich geregelt und die Einſetzung einer Bundesbehörde angeordnet wird, 
welcher die oberjte Aufficht über die ſämmtlichen Angelegenheiten der Strais und 
Beilerungsanjtalten obliegt“. (Erneuert im Tellfampfichen Antrag vom 29. Jan. 
1875.) MUebrigens enthält das RStrafGB. alle Elemente, aus denen, ohne Aende: 
rung des Gejeßes jelbit, das progreifive Syſtem aufgebaut werden kann: 

I. Zuläffigfeit der Einzelhaft bis zu drei Jahren (wenn der Sträfling ein— 
willigt auch länger). 

II. Zuläſſigkeit der Gemeinſchaftshaft daneben. 

II. Zuläfjigfeit der Arbeit in freier Luft. 

IV. Borläufige Entlaffung und 

V. Polizeiaufficht. 

Auf dem Internationalen Gefängniß-Kongreß zu London erflärten fich 1872 
die Vertreter der meijten Staaten für das P., insbefondere Beltrani-Scalia 
(Italien), Frey (Defterreich), Almquiſt (Schweden). Schon vorher war Bruun 
(Dänemarf) in feinen Schrüten dafür eingetreten. Dagegen jtimmten die Vertreter 
von Belgien, überwiegend die Holländer und zur Hälfte die Deutjchen. 

Lit.: dv. Holgendorff, Das Iriſche Gefängnißiyftem, 1859; Derfelbe, Bemerkungen 
und Beobachtungen über den gegenwärtigen Zultand der Iriſchen Gefängnifeinrichtungen, 
1862; Derjelbe, Die Kürzungsfähigkeit der Freiheitsſtrafe und die bedingte Entlafiung der 
Gefangenen, 1861. — Van der — tudes sur le systöme pénitentiaire Irlandais, 
1865. — Die vollftändige ausländiiche Viteratur bis 1866 ift verzeichnet in v. Holtzendorff, 
Kritiiche Unterfuhungen über die Grundjäge und Ergebniffe bes Friichen Strafvollzuges. — 
Prisons and Reformatories at Home and abroad, Lond. 1872. — Beltrani-Scalia, Il 
sistema penitenziario d’Inghilterra e d’Irlanda, Roma 1874. — Don A. Borrego, Estudios 
enitenciarios, Madrid 1873. — Hürbin, Die Strafanftalt Lenzburg in den Jahren 1871 
is 1875, Aarau 1877. — Verhandlungen des internationalen Gefängnißkongreſſes zu Stod: 
bolm, ®d. I. ©. 303 ff., 313, 502 ff. v. Holkendorff. 


Prokura ift die von dem Eigenthümer einer Handelöniederlaffung (Prinzipal) 
ertHeilte Vollmacht, in deffen Namen und für defien Rechnung das Handelsgeſchäft 
zu betreiben und per p. die Firma zu zeichnen. Der jo Bevollmächtigte heißt 
Prokuriſt. Der Prokuriſt ift nach einem fchon auf der Nürnberger Konferenz 
gebrauchten Ausdrud das alter ego des Prinzipald. Der Name P. war längjt vor 


Prokura. 191 


dem HGB. üblich und bezeichnete auch früher den generellen Auftrag, geſchäftliche 
Dispofitionen zu treffen, doch war hiermit jo wenig wie mit ähnlichen Ausdrüden: 
Faktor, Disponent, Handlungsvorftand, ein bejtimmter Kreis von Befugnifjen 
angedeutet ; höchſtens beftimmten die Geſetze jubfidiär, was in der P. enthalten fein 
jollte. Die gewichtigite Neuerung des HGB. bejteht darin, daß diefer Inhalt abjolut 
geworden und allen willfürlichen Abänderungen entzogen if. Die P. ermächtigt 
danach zu allen gerichtlichen und außergerichtlichen Gejchäften, einſchließlich der: 
jenigen, die fonjt eine Spezialvollmacht erfordern. Vorausſetzung ift zwar: es jollen 
jolhe Rechtshandlungen jein, die der Betrieb eines Handelsgewerbes mit fich bringt, 
doch ijt dabei nicht etwa an das konkrete Gejchäft des Prinzipal® gedacht, jondern 
an den Dandelsverfehr im Allgemeinen, jo daß überhaupt keinerlei vermögenärecht- 
liche Handlungen ausgeichloffen find. Davon finden nur zwei Ausnahmen ftatt: 
der Profurift Hat ohne jpezielle Ermächtigung feine Befugniß zur Veräußerung und 
Velajtung von Grundjtüden und er kann die P. nicht ihrem ganzen Umfange nad 
auf einen Anderen übertragen. Alle anderen Einjchränkungen, welcher Art fie auch 
fein mögen, ſelbſt Bedingungen, Zeitbeitimmungen, find Dritten gegenüber ganz 
unwirkſam und gelten als nicht gejchrieben. Aber wol zu beachten ift, daß diefe 
Unwirkſamkeit fich eben nur auf das Verhältniß zwiſchen Profuriften und Dritten 
bezieht ; dergleichen Einſchränkungen können volljtändig wirkſam jein als Inſtruktionen, 
joweit das Verhältniß zwijchen Prinzipal und Profuriften in Frage kommt. 

Keine Ausnahmen von der Regel find es, daß a) ein Prinzipal, der mehrere 
Handelöniederlaffungen unter verjchiedenen Firmen befigt, einen Profuriften mit der 
Grmädtigung ernennen kann, nur eine diefer Firmen zu zeichnen, und daß b) eine 
P. an mehrere Perfonen als Kollektiv-P. ertheilt werden kann, d. h. jo daß 
nicht jeder von ihmen für fich, fondern nur fie alle insgefjammt (ſammt und jonders) 
als Vertreter des Prinzipals zu handeln ermächtigt fein ſollen. 

Die Zeichnung der Firma durch den Profuriften joll in der Weiſe gejchehen, 
daß der Profurift der Firma einen die P. andeutenden Zuſatz und feinen Namen 
beifügt. Bei einer Kollektiv-P. ſoll jeder Prokuriſt der Firmenzeichnung feinen 
Ramen beifügen. Diefe der Uebung des Verkehrs entiprechenden Borjchriiten des 
HGB. find indeh bloße leges imperfectae; auch ohne daß dieje Formen beobachtet 
worden, kann ein Handeln des Profuriften für den Prinzipal ftattfinden, fofern nur 
die Beziehung auf denjelben erfichtlich iſt. 

Die P. enthält an fich eine bloße Ermächtigung, zur Uebernahme derjelben 
gehört aber jtets Willensübereinftimmung zwijchen Prinzipal und Profuriften und 
ftet3 übernimmt der Prokurist zugleich mit der P. die Verpflichtung, weder für eigene 
Rechnung, noch für Rechnung Dritter Handelsgeichäfte zu machen. Daher beruht 
die P. immer auf einem Vertrage und zwar ift das zu Grunde liegende Vertrags: 
verhältniß in der Regel (doch nicht nothwendig) der Engagementävertrag. 

Die Ertheilung der P. iſt an feine beitimmte Form gebunden, nothiwendig iſt 
nur die deutlich erklärte Abficht des Prinzipals, den Profuriften in der gefeßlichen 
Weife zu bevollmächtigen. Das HGB. hebt befonders hervor, daß dies geichehen 
fönne durch) Bezeichnung der Vollmacht als P. oder des Bevollmächtigten als 
Profuriften oder durch die Ermächtigung, die Yirma per p. zu zeichnen. Doch find 
dies nur Beifpiele und andere Modi der Beitellung bleiben denkbar und zuläffig. 

Die Ertheilung, ſowie das Erlöfchen der P. find zum Handeläregifter anzu— 
melden. Mit diefer Anmeldung ift im erjten Tall die Zeichnung durch den oder 
die Profuriften zu verbinden. An die Unterlaffung der Anmeldung find bei der 
Ernennung ded Prokuriſten blos Ordnungsitrafen geknüpft, bei der Aufhebung der 

P. auch die Folgen der jog. relativen Nichtigkeit, d. 5. wenn die Thatfache der 
Aufhebung nicht ins Handelsregiſter eingetragen ift, kann diejelbe dritten Perjonen 
nur Dann entgegengejeßt werden, wenn ihnen die pofitive Kenntniß hiervon nach» 
gewiejen wird. Anderen Falles muß jeder Dritte die Aufhebung der P. gegen ſich 


% 


192 Prolongationsgeihäft. 


gelten laſſen, fjojern er nicht nachweiſt, daß er diefe Thatfache weder gekannt habe, 
noch bei Anwendung gehöriger Sorgfalt habe fennen müfjen. 

Gigb. u. Lit.: HGB. Art. 41—47; dazu die Kommentare vond. Hahn, v. VBölbdern: 
dorff, Krämel, Makower, Koch. — hol. H.R., J. 88 56 fi. — Sabanb in Gold» 
ſchmidt's Ztihr. Bo. X. ©. 183. — Ladenburg, ebend. Bd. XL S. 72. — Keyßner, 
ebend. Bd. XI. ©. 498, Bd. XIV. ©. 442; Derielbe in Buſch, Archiv, Bd. XI. ©. 6, 
189. — Wendt in Endemann's Handbud, I. $ 70. Behrenb. 


Prolongationsgeihäft. Prolongation ift im Allgemeinen Verlängerung 
einer Yeiftungs- (Lieferungs-, Haftungs-, Zahlungs-) Frift oder Aufichub eines Ver: 
ialltages; fie kann eintreten entweder in Folge einer Bejtimmung des objektiven 
Rechtes (gefegliche oder nothwendige Prolongation) oder in Folge einer Privat- 
willensdispofition, insbejondere eines Vertrages (freiwillige, vertragsmäßige P.). 
Hierher Art. 333 des Allgem. Deutfhen HGB. Makower's Kommentar hierzu, 
8. Aufl., ©. 349, Anm. 10. 

I. Prolongation im Wechjelrecht ift entweder Aufichub. der Erfüllung einer 
MWechjelverbindlichkeit, jo daß der Wechielichuldner erjt jpäter als urjprünglich be 
jtimmt etwas zu leiften braucht, oder fie ift Verlängerung der Dauer der Haftung 
eines Wechfelichuldners, insbeſondere Regrehpflichtigen. Prolongation im  erjteren 
Sinne ift in der Regel eine freiwillige oder vertragsmäßige Prolongation; aber die 
Formalität der Wechjelobligationen und die Pluralität jolcher auf ein und dem: 
jelben Wechjel bringt es mit fich, daß das vertragsmäßige Prolongiren der Wechſel 
nur bejchränfte Wirkungen hat; durch die Prolongation kann nämlich die im Wechſel 
benannte DBerfallzeit und folgeweiſe auch die Verjährung des Wechjels nicht geändert 
werden; jondern die Prolongation erzeugt nur eine Einrede, welche gegen den die 
Aufichiebung bewilligenden einzelnen Gläubiger (Wechjelinhaber) auf Grund eines 
pactum de non petendo — denn als folches ftellt ſich der Prolongationsvertrag in 
diefem Sinne juriftiih dar — perfjönlich zuſteht; hat ein MWechjelinhaber dem 
Acceptanten eine Prolongation bewilligt, wofür feine bejondere Form vorgejchrieben 
aber ein jchriftlicher Vermerk, unterzeichnet vom Wechjelinhaber, auf dem Wechſel 
gewöhnlich iſt, jo fann er, troß der Prolongation, den Wechjel an dem urjprünglichen 
Derfalltage Mangels Zahlung proteftiren lafjfen und aladann Regreß gegen Ausſteller 
und Indoſſanten nehmen; dieje können ihm die Einrede der Prolongation nicht ent 
gegenjegen, denn das pactum de petendo erzeugt nur unter den Kontrahenten 
Wirkungen, folglich nur zu Gunften des Acceptanten eine Einrede. Beftritten it, 
ob eine Prolongation, die ohne Zeitbeftimmung gefchieht, gültig ift (vgl. Hartmann 
a. a. D., Anm. 25. Thöl a. a. O., ©. 730 oben). 

Prolongation im Sinne der Verlängerung der Haftungsfrift tritt 3. B. ein, 
wenn jog. Prolongationsgejege, Moratorien, den Fälligkeits- und Protejterhebungs- 
termin auffchieben oder — bei Meßwechſeln — wenn die Meſſe durch Verlegung 
hinausgejchoben wird (j. DO. v. Wächter a.a. D., ©. 746. Thöla. a. D. 
©. 728). Das die Prolongation ausfprechende Geſetz ift jedoch nicht nothwendig 
für alle Intereffenten eines Wechſels bindend, jondern die Hinausichiebung der Ber: 
fallzeit und Proteftfrift ift nur von denjenigen MWechjelverpflichteten anzuerkennen, 
welche unter der Herrſchaft der Geſetzgebung des Landes, welches nur die Prolongation 
verfügt, die Wechjelobligation auf fi nahmen, Wechielgaranten,, welche außerhalb 
des Herrichaitsgebietes diejer Gefeßgebung jtehen, berufen fich mit Recht auf dieſe 
Thatjache und auf die Selbitändigkeit der aus ihrem Ortörechte übernommenen 
MWechjelobligation; die Franz. Wechjelmoratorien aus der Zeit von 1870,71 
vermochten daher nicht die Haftfrift der Deutichen Indofjanten von in Frankreich 
zahlbaren Wechjeln zu verlängern. 

II. Eine andere Bedeutung hat Prolongation im Sinne des börfenmäßigen 
P., das P. im eigentlichen Sinne. Inſofern mittels des Reportgeichäftes eine früher 
begonnene Spekulation, die den erwarteten Nuten noch nicht brachte, fortgeſetzt 


Promefiengeihäft. 193 


(„prolongirt“) werden kann, nennt man das Reportgeſchäft auch P.; wer ein 
Differenzgeichäft über den Berjalltag hinaus fortjeßt, der „nimmt oder giebt in 
Prolongation“. Das Geichäft ift aber fein anderes ala das jog. Reportiren oder 
Koſtgeſchäft; hierüber f. d. Art. Reportgeſchäft. Hiermit fteht einigermaßen in 
Zufammenhang, daß auch der Rückkauf mitunter Prolongation genannt wird. Durch 
Vereinbarung eines Aufſchubs der Lieferungszeit kann jedes Fixgeſchäft in ein neues 


irgefchäft — in ein nicht fixes — un gg ey? en 


ad I. Fid im ee a für 9. und 
©. 5 FR die bort cit. = — Goldſchmidt in een Zeitjchr. für dad gefammte HR. 
Bd. XVII. ©. 294 ff. — Thöl, WR., 4. Aufl., $ 180. — — 


Sohm in Solbihmipe 1 — für das geſ. H.R., Bb. XXI. S. 47 fi. — 
O. v. ae De b. —* ———— und die dort cit. Lit. — Enticheidungen 
des RO 203. — ad f. die Lit. hinter dem Art. Re: 


port —— — J ee — Bd. I ©. 261 ff.; Bd. V. ©. 188 ff.; 
an. 2 (®b. VI. ©. 182 fi.); audı bei Gudäbsrgen, Entic. 
VL ee * — Gotdiämibt‘ 8 Zeitichr. für das gel. H.R. 2 
sen sn (Rechtiprechung über das P., Report:, Koftgeichäft, insbeſ. J 20, 20) 
areı 
Promefiengeichäft (TH. I. S. 538). Das Promefjen- oder Heuergeichäft ift ein 
Kaufvertrag, bei welchem der Verkäufer (Verheuerer) dem Käufer (‚Heuerer) gegen einen 
beftimmten Preis (Heuergeld, Prämie) verjpricht, ihm den auf ein individuell bezeichnetes 
2008 (d. i. Kreditpapier, welches einen in Folge künftiger Ausloojung möglichen Gewinn 
verheißt) jallenden Gewinn zu bezahlen. Gegenjtand des Kaufes ift Hierbei ber 
ungewvifje, mögliche Gewinn als bloße Möglichkeit, weshalb das P. eine Art des 
Hoffnungsfaufes (emtio spei, nicht rei speratae) ijt; als folcher ijt e8 aber voll- 
fommen klagbar und zwar ohne Unterjchied, ob der Verheuerer Eigenthum oder ein 
Forderungsrecht in Betreff des verheuerten Loojes hat oder nicht, und ob leßteren 
Falles der Heuerer den Mangel eines die Reallieferung möglich machenden Rechts 
fannte oder nicht, die Reallieferung überhaupt intendirt oder nicht vielmehr der Ver- 
heuerer blos verpflichtet ift, den wirklich treffenden Gewinn an den Heuerer auszu— 
bezahlen. — Das Geichäft wird dadurch abgeichlofjen , daß der Verheuerer dem 
fonfentirenden Heuerer den Schlußbrief („Heuerbrief“, „Promeſſe“, „Promeffenloos“, 
auch „Gertififat“ genannt), der nothiwendig die genaue Bejchreibung des verheuerten 
Looſes (wegen Art. 337 des Allgem. Deutichen HGB. ſ. Löhr's Gentralorgan für 
Deutiches Handeld= und Wechjelreht. N. %. Bd. III. ©. 84—85), ſowie regelmäßig 
die Klauſel „fir“ (f. d. Art. Fixgeſchäft im Anhange) enthält, übergiebt. Die Promeſſe 
ift demnach nicht das Loos jelbit, wenngleich fie oft „Loos“ genannt wird, jondern 
nur der die Verpflichtung des Verheuerers fejtjtellende Schlußbrief.” Wenn die Real: 
Lieferung des Looſes nicht ausdrüdlich bedungen oder ortögebräuchlich ausgeſchlofſen 
ift, Hat der Heuerer nur das Recht, die Auszahlung des auf die betr. Nummer 
fallenden Gewinnes zu verlangen. Sind mehrere Looſe gleichzeitig verheuert und in 
einer Promefje behandelt, jo wird mitunter vereinbart, daß dem Berheuerer gegen 
Zahlung der Gewinne eine Anzahl noch nicht gezogener Looſe zurückzuliefern jei; 
hierüber und über andere Nebenberedungen j. Bender a. a. D., insbeſ. ©. 454. 
(In einem andern Sinne ift Promefje [Aktienpromefje, Promeffenichein] ein Papier, 
welches über die Betheiligung an einem Aftienunternehmen [Zeichnung, Theilein- 
zahlung] auägeftellt ift und das Verſprechen enthält, gegen jagungsmäßige Weiter- 
einzahlung bzw. Bollzgahlung die Aktie auszuhändigen. Bon folchen Promefien 
iprechen Art. 173, Art. 207a und Art. 222 des Allg. D. HGB.) — Man hat 
die P. als Spielvertrag oder als Wette aufiaffen und als verwerflich und nicht 
Hagbar bezeichnen wollen, namentlich für den Fall, daß die Reallieferung des Looſes 
im Falle der Ziehung deffelben nicht wirklich gemeint fein joll; hiergegen mit Recht 
Bender, Thöl, Endemann; ebenjowenig ijt die Auffaffung des Heuergeichäfts 
als Pacht oder Miethe haltbar, As: welche nicht einmal, wie früher angenommen 
wurde (ij. Bender, a. a. D. ©. 460), der Name deffelben ſpricht, da heuern, 
v. Holtzendorff, Ene. II. Reiiälegiten II, 3. Aufl, 13 


194 Propft — Projtitution. 


niederdeutich hür, haur, nicht blos erwerben durch Miethe, jondern erwerben, ge 
winnen überhaupt auch durch Kauf bedeutet; j. Grimm, Gramm., I. 532 und 
Lerer, Mittelhochdeutiches Handwörterbudh, I. 157. Die richtige Auffaffung ala 
Hoffnungskauf ſ. Bender, 8 99; vgl. Endemann und Thöl, a. a. O. 

Lit.: Bender, Verkehr mit Staatöpapieren, SS I6—99. — Brintmann, H.R.,$51.— 
Zhöl, HR. 6. Aufl. 1879, 98 308, 103. — Endemann, H.R., $ 122. — Wolff in 
Zetichr. für HR. Bd. XI. ©. 297. — Ueber Altienpromefjenicheine ſ. v. zen. Komment. 
Dr „ 2. Aufl., ©. 545, 592. — Strey, Dad Deutſche Hanbeldgefe — 1873, 

; i areis. 


Propſt (praepositus), im weiteren Sinne ſoviel wie Vorgeſetzter, hieß urſprünglich 
der dem oberjten Leiter eines Kloſters untergebene Vorjteher einer einzelnen Zelle, bei 
den Benediktinermönchen der nächite Obere des KHlofter nach dem Abt. In Folge 
der Ausbildung der Dom: und Kollegiatitiitsverfaffung und der dabei jtattgehabten 
Herübernahme von Flöfterlichen Einrichtungen kommt der praepositus oder P. auch 
noch bis auf den heutigen Tag in den einzelnen Kapiteln vor. Er ift in der 
Regel der erite Würdenträger und Borfteher in demjelben, bat aljo gewöhnlich die 
erite Dignität inne. Im Mittelalter war meijtens die Stelle de8 Archidiafonus an 
der bifchöflichen Kirche mit der des P. verbunden und fo erlangte derjelbe eine 
große Bedeutung für die Verwaltung jowol der Temporalien des Stiftes, wie auch 
der bijchöflichen Jurisdiktion überhaupt, welche ihm neben der Vorjtandichait im 
Kapitel zukam. Mit der Bedeutungslofigkeit des Archidiafonats ift ihm heute nur 
die letztere, fowie ein gewiffer Kreis von Rechten innerhalb des Kapitels geblieben, 
welcher freilich in den einzelnen Statuten verjchieden bejtimmt ift. — In der evan: 
gelifchen Kirche fommt der Ausdrud PB. gleichfalls noch in den wenigen vorhandenen 
Domkirchen vor, ferner aber auch für die Beamten, welche die Aufficht über die jog. 
evangeliichen Klöſter, d. h. Fräuleinſtifter führen, jo in Holſtein, endlich aber auch 
in einzelnen Provinzen (3. B. Schleswig und Holjtein) für die Superintendenten. — 
In beiden Kirchen dient er ferner zur Bezeichnung der höheren, an der Spiße der 
Militärfeelforge jtehenden Geiftlichen (fo in Preußen, wo der evangelifche Feldpropit 
die Stellung eines Generalfuperintendenten inne hat). Endlich führen in beiden Kirchen 
auch Geijtliche, welche an bedeutenden Kirchen angeftellt find, jo in Berlin die erjten 
Geiftlichen an der Nikolai- und Petrifirche, der katholiſche Piarrer an St. Hedwig, 
welcher zugleich Subdelegat des Bijchofs von Breslau ift, den Titel: P. 

Lit: P. Hinihius, Kirchenrecht, II. 88 ff., 114 ff., 317. P. Hinſchius. 


Proftitution. Mit diefem, wol am richtigiten von pro und statuere (fi 
darbieten, hingeben) abzuleitenden Worte bezeichnet man die gewerbsmäßige Hingabe 
meift weiblicher Perfonen zur Befriedigung gejchlechtlicher Triebe, — ein Toziales 
Uebel, welches bei allen Völkern und zu allen Zeiten genau jo lange bejtanden hat, 
wie es Anjammlungen von Menjchen in größerer Anzahl an gemeinjamen Wohn: 
orten gab. Schon im Alten ZTejtamente (Gene. XXXIV. 31, Ezech. XVI. 24 
u. folg.) findet ihr Bejtehen ausführliche Erwähnung, und welche einflußreiche Rolle 
die P. im gejellichaftlichen Leben der Griechen und Römer gejpielt, ift hinlänglich 
befannt. 

Im chriftlichen Mittelalter galt befonders dem Deutfchen Bürgertdum die 
reine züchtige Ehe als Grundpfeiler der Geſellſchaft; jedoch erkannte man dem Natur: 
drange feine Berechtigung auch außer der Ehe nicht ganz ab, ftellte jogar die Per- 
jonen, welche fich zur Befriedigung jenes Dranges bingaben, unter öffentlichen Schut 
und wies ihnen bejtimmte Häuſer, bejtimmte Straßen, ja bejtimmte Trachten an. 
Die herrſchende Auffaffung unterlag jedoch im Laufe der Zeit manchen Wandelungen, 
die man am Beijpiele der jetzigen Deutjchen Reichshauptitadt anfchaulich verfolgen 
fann. In Berlin beftanden nachweislich jeit dem 15. Jahrhundert privilegirte, eine 
bejondere Abgabe zahlende, Freudenhäuſer, ſowie auch „iahrende Weiber“ die Er— 


Proftitution, 195 


(aubniß hatten, unter öffentlihem Schu von Markt zu Markt zu ziehen, um fich 
durch geichlechtliche Hingabe ihren Erwerb zu fjuchen. Außerhalb diejer bejtimmt 
gezogenen Grenzen aber wurbe jede Kuppelei und Unfittlichkeit mit ſchweren Strafen 
geahndet, nicht jelten jogar mit dem Tode. Unter dem Ginfluffe der Refor— 
mation machte fich eine jtrengere Ajcetit auch der privilegirten PB. gegenüber geltend 
und man verjuchte e8 mit der Entfernung jämmtlicher eingefchriebener Dirnen; aber 
es mehrten fi) dann die Angriffe auf ehrſame Frauenzimmer, die heimlichen Ge- 
burten und SKindestödtungen und manche Scenen öffentlichen Aergerniſſes derart, 
da man jehr bald wieder zur Duldung der Freudenhäufer zurückkehrte. Den 
gleichen Verjuch wiederholte man im Jahre 1698, indem auf Befehl des Kurfürſten 
Friedrich III. jämmtliche feile Dirnen aus Stadt und nächjter Umgebung nach dem 
Zucht: und Spinnhaufe in Spandau abgeliefert wurden. Aber wiederum jah man 
fh ichon im Jahre 1700 durch das rajche Ueberhandnehmen der Winkel-P. ge: 
nöthigt, dad Syſtem geduldeter Wirthichaften twiederherzuftellen, wobei man zu— 
gleih zum erſten Male die fanitätspolizeiliche Beauffichtigung mit der ſitten— 
und jiherheitspolizeilichen verband. Das damals erlafjene Bordell-Reglement, 
welches auch auf die übrigen größeren Städte der Preußiichen Monarchie übertragen 
wurde und bis 1792 in Geltung blieb, erklärte „diefe Wirthichaft nicht für gejelich 
erlaubt, aber als ein nothwendiges Uebel geduldet“. Dieje Unterjcheidung tjt hier, 
wie in anderen Ländern, jeitdem nachdrüdlich feitgehalten worden, jo daß feinerlei 
Lijenz oder Gerechtiame durch einen gejeßlichen Akt gewährt, jondern nur eine 
Duldung geübt wurde aus Gründen, die in den gejellichaftlichen Zuſtänden Liegen 
und mit deren Aufhören man jederzeit auch jener Duldung ohne gejegliche Forma— 
lität und ohne irgend welche Entjchädigung beliebig ein Ende machen fann. 

Unter Friedrich's des Großen Regierung vermehrte fich in Folge des Zufluffes 
vieler Äyremder und der Vergrößerung der Garnifon die Zahl der Freudenhäuſer in 
Berlin bis an Hundert. Es folgte dann 1792 ein neues Reglement unter demt 
Titel: „Verordnung wider die Verführung junger Mädchen zu Bordell und zur 
Verhütung der Ausbreitung venerifcher Uebel“, — ein Titel, welcher von dem Be: 
itreben zeugt, den Schein obrigfeitlicher Anordnung und Regulirung eines unzüchtigen 
Treibens zu vermeiden. Im Wejentlichen enthielt das neue Reglement die gleichen 
Direftiven, welche bald nachher in das Allgem. ER. aufgenommen twurden und 
deren wichtigften Sat der $ 999 in TH. II. Tit. 20 des letzteren bildet: Liederliche 
Weibäperjonen, welche mit ihrem Körper ein Gewerbe treiben wollen, müfjen fich 
in die unter Aufficht des Staates geduldeten Hurenhäufer begeben“. Ungeachtet 
dieſes landrechtlichen Paragraphen duldete die Polizei in der Folge auch allein- 
lebende Dirnen, weil fie ihrer Erfahrung nad) „die Bordelle allein nicht für aus- 
reichend hielt, der Winkelhurerei die aufmunternden Anreize zu entziehen“. Männer 
aus den gebildeteren Schichten der Bevölkerung gehen jelten oder nie in die öffent- 
lien Bordelle; — gerade diefen Männern aber jtehen die Mittel zur Verführung 
anftändiger Mädchen und Frauen und zur Verheimlichung ihres Treibens am ehejten 
zu Gebote, Die Polizei jah daher einen gewiffen Schuß gegen gefährlichere Sitten- 
verderbniß und gejundheitliche Infektionen darin, daß jolchen Männern die Gelegen- 
heit nicht verwehrt wurde, unter Vermeidung aller Auffälligkeit einzeln wohnende, 
auch der polizeilichen Obhut unterjtellte Dirnen zu bejuchen. Lebtere durften nur 
in gewiffen von der Polizei vorgefchriebenen Straßen wohnen, und die Wirthin, 
welche eine jolche bei fich aufnahm, war für diefelbe ebenjo verantwortlich, wie die 
Bordellwirthin für ihre jämmtlichen Dirnen. 

Die ftrengeren ethiichen Prinzipien, welche in dem eriten Jahrzehnt unjeres 
Jahrhunderts das Preußiiche Staatöleben durchdrangen, fanden indeß auch in der 
Auffafjung der P.frage ihren Widerhall, und ein Reſolut des Minifteriums des 
Innern vom 17. Oft. 1810 beitimmte, „daß feine einzeln lebende Projtituirte mehr 
zu dulden, daß die bejtehenden Bordelle in abgelegene Gaffen zu verlegen jeien, unter 

13* 


196 Proftitution. 


feinen Umſtänden neue errichtet werden dürften und vielmehr eine Verminderung 
derfelben mit allen Mitteln angeftrebt werden müſſe“. Auch durfte fortan fen 
Bordellwirtd mehr Eigenthümer fein, und das Bürgerrecht wurde ihm  veragt. 
Seit jener Zeit begann ein hartnädiger Kampf der Behörden gegen die P., deren 
völlige Unterdrüdung ausgeiprochenes Ziel war. Die jogleich nad) der Einfchränfung 
der Bordelle fich ergebende Thatjache, dat die fyphilitifchen Erkrankungen in Berlin 
bei Givil und Militär zunahmen, wurde als unerheblich bei Seite gelaffen ; denn, 
wie es in einem Minifterialreflript vom 25. Jumi 1839 wörtlich Heißt: „ſich in ber 
unverjtändigeh Befriedigung geichlechtlicher Bebürfniffe vor Schaden und Anſteckung 
gefichert zu jehen, darauf hat Niemand einen Anspruch an die Polizei“. Es könne 
daher „von einem Konflilte der Tendenzen der Sittenpolizei mit denen der Sanitäte- 
polizei nicht füglich die Rede fein“. Endlich jand in Folge Königlicher Ordre vom 
5. Auguft 1845 die gänzliche Aufhebung aller in Berlin bejtehenden Bordelle mit 
dem 1. Januar 1846 jtatt. Aber anitatt der erwarteten Verminderung der Pro: 
jtituirten Eonftatirte die Polizei jchon nach zwei Jahren eine Zunahme derjelben, 
und ihr Treiben nahm dabei einen weit fittengefährlicheren Charakter an, weil fie 
fih unter den allerverichiedeniten Scheinformen, als Schankmamſells, Näherinnen, 
MWäfcherinnen, Dienftboten, verheirathete Trrauen (jog. „Scheinfrauen“) u. ſ. w., in 
die Gelegenheiten zur Ausübung ihres Gewerbes Hineinzufchmuggeln wußten. Die 
Zahl der Kupplerinnen ftieg bedeutend, und bejonders junge Mädchen von 15 bie 
20 Jahren fielen den Bermittelungskünften diefer Weiber zahlreich zum Opfer. Die 
Auftritte auf Straßen und Pläßen wurden jtandalöfer ala vordem, und die Polizei 
war zu einem Nufgebote beitändiger, die Straßen durchziehender Streifwachen ge 
nöthigt, um dem Unfuge zu ſteuern. Zugleich nahm die Häufigkeit ſyphilitiſcher 
Anſteckungen ſofort zu; die Zahl der in der Charité behandelten infizirten 
Frauenzimmer betrug im lebten Jahre vor der Aufhebung der Bordelle, 
1845 : 514; nach deren Aufhebung 


im Jahre 1846 : 627 
PR „1847 : 761 
„ „1848 : 835. 


Die Zahl der in der Charité behandelten jyphilitiichen Männer jtieg gleichialls 
nach 1845 raſch; es waren 

im Jahre 1845 : 711 

— „ 1846 : 813 

_ „ 1847 : 894 

„nm .. 1848 : 979, 
Zugleich nahm, wie die Charite-Annalen beweijen, die Krankheit an Hartnäckigkeit 
und Bösartigfeit zu, da die Durchjchnittsdauer der Kuren von 34 auf 43 Tage ftieg. 

In Folge dieſes eflatanten Mißerfolges der Aufhebungsmaßregel entichloß man 
fih jchon im Jahre 1850 zur Wiedereröffnung der alten und einer großen Anzahl 
neuer Duldungshäufer. In dem bezüglichen Beichluffe des Königl. Polizeipräfidiume 
vom 18. Dez. 1850 heißt es ausdrüdlich: „Es gilt ala anerkannt, daß die P., 
diefer Parafite der Gejellfchaft, durch feine gewaltiame Maßregel, welcher Art fie 
auch immer fein möge, unterdrüdt werden könne, daß jedweder Verfuch in dieſem 
Sinne da® Uebel nur verjchlimmert, und daß man demgemäß derjelben 
eine gewijje Toleranz unter einer der Dertlichfeit und den Um— 
ftänden angemejjfenen Kontrole zugejtehen muß“. 

Durch denjelben Beihluß wurde eine „Kommiffion zur Ueberwachung der P. 
und der Syphilis” niedergejeßt, bejtehend aus einem Polizeirath umd einem Arzte, 
welche als erefutive Behörde in Anjehung der Maßregeln, gegenüber der tolerirten 
sei und als berathende binfichtlich der Verfolgung der heimlichen P. zu fungiren 

atte. 


Proftitution. 197 


Das Preuß. StrafGB. vom 14. April 1851 gewährte durch Aufnahme des 
Iandrechtlichen Verbotes nur jolcher gewerbsmäßigen Unzucht, welche den polizeilichen 
Anordnungen zumider getrieben werde, und durch das daran angereihte Verbot der 
Kuppelei die Möglichkeit der Tolerirung von Bordellen; aufgehoben wurde aber dieje 
Möglichkeit für die Polizeibehörde durch das „StrafGB. für das Deutjche Reich“, 
welhes in 8 180 die Beitrafung wegen Kuppelei ohne NRüdficht auf polizeiliche 
Anordnungen über Jeden verhängt, „wer gewohnheitsmäßig oder aus Eigennuß durch 
feine VBermittelung oder durch Gewährung oder Verjchaffung von Gelegenheit der 
Unzucht Vorſchub leiftet“. Im Folge diejer Gefeßesbeitimmung haben jeit 1871 die 
Bordelle nominell aufgehoben werden müfjen, ungeachtet des lebhaften Widerjtandes 
einzelner Städte, namentlich Hamburgs, deſſen Senat gegen das Berlangen des 
Reichskanzleramtes, die Aufhebung der Bordelle betreffend, vergeblich an den Bundes- 
rath appellirte.. Die Beauffichtigung der P. beſchränkt fich ſeitdem darauf, daß die 
Mädchen, welche von der Polizei ala Proftituirte erfannt werden, einer Einjchreibung 
und fortan einer regelmäßigen ärztlichen Unterfuchung unterworfen werden. Bei 
fonftatirter Infeltion werden fie dann zwangsweiſe in ein Krankenhaus gebracht und 
darin bis zu erfolgter Genefung feſtgehalten. Dieſe periodiichen Unterfuchungen find 
in Preußen den örtlichen PBolizeiverwaltungen aufgegeben, und die Kojten derjelben 
haben die Kommunen nach dem Gejeg vom 11. März 1850 zu tragen (vgl. Er: 
fenntniß des OTrib. vom 11. März 1852). Als Folge diejer neuen Ordnung der 
Dinge ergiebt fich überall die bereits früher nach Aufhebung der Frauenhäuſer er- 
gebene Thatjache, daß die Unzucht auf den verjchiedenjten Ummwegen und Schleichwegen 
um jo tiefer ins gejellichaftliche und öffentliche Leben fich Hineindrängt und über 
Zunahme der ſyphilitiſchen Erkrankungen von den verichiedenften Seiten Klagen er: 
hoben werben. 

An Bayern wurde bis zum Jahre 1861 die P. nur in bejonderen Häufern 
der größeren Städte unter fortwährender fitten und gejundheitspolizeilicher Aufficht 
geduldet, dagegen der Einzel-P. und allem Aufjuchen der Gelegenheit zur gewerbs— 
mäßigen Unzucht auf Straßen und öffentlichen Pläßen energifch entgegengetreten. 
Diejes Verfahren bewährte fich namentlich zu München in dem Grade, daß nach den 
gepflogenen Erhebungen feine Hauptjtadt Europa’s eine verhältnißmäßig jo geringe 
Zahl ſyphilitiſcher Erkrankungsfälle hatte und in feiner Stadt die Straßenunfittlichkeit 
auf ein jolches Minimum herabgedrüdt war wie in München. Die neue Strafgejeß- 
gebung vom 10. Nov. 1861 machte ein ganz verändertes Verfahren nothwendig. 
Die Polizeibehörde durfte fortan feine Kenntniß mehr von dem Bejtehen eines Bor: 
dells erhalten, ohne jofort die gerichtliche Ginjchreitung zu veranlaffen, während 
andererjeits dag Auffuchen der Gelegenheit zu unzüchtigem Erwerb auf den Straßen 
nicht mehr jtrafbar war Die Folge davon war eine jtarke Ueberhandnahme der 
Winkelbordelle und des unfittlichen Gafjenverfehrs, eine zunehmende Verbreitung der 
Syphilis jowol in den Städten wie von diejen auf das Land und in die Familien— 
freije Hinein (den ſtatiſtiſchen Nachweis vgl. in Majer, Ueber die Verbreitung 
der venerischen Krankheiten in Bayern, in Eulenberg’3 PVierteljahrsjchrift für 
ger. Med. Bd. XVIII. Heft 1, 1873). Eine Aenderung des Gejehes wurde bald 
ala nothwendig erfannt; man einigte fih im Jahre 1868 über eine Zufaßbeitimmung, 
vermöge deren „einmal bejtrafte Weibsperfonen auf die Dauer eines Jahres durch 
die Polizeibehörde der ärztlichen Unterfuchung ihres Geſundheitszuſtandes unterjtellt 
werden konnten“; — im Jahre 1871 brachte dann das neue Straf®B. die viel 
weitergehende Beitimmung: „Mit Haft wird bejtraft eine MWeiböperfon, welche 
polizeilichen Anordnungen zuwider gewerbamäßige Unzucht treibt“. Dieje Beitimmung 
ſetzte die Polizeibehörde in Stand, regelmäßige Unterfuchungen der von ihr der P. 
überführten Dirnen vorzunehmen, ohne aber diefer Maßregel die regelmäßige und 
umjafferde Wirkſamkeit gewähren zu können, wie folche bei Duldung beauffichtigter 
Frauenhäuſer ermöglicht war. 


198 Projtitution. 


Außer Deutichland befteht gegenwärtig nur in Defterreich ein Verbot der 
Bordelle, welches indeß nicht deren blühendes Fortbeſtehen, 3. B. in Peit und in 
Prag, hindert, während in Wien an ihrer Stelle die Privat-P. bekanntlich zur 
höchiten Entwidelung gelangt if. In allen übrigen Ländern Guropa’s find bie 
Bordelle polizeilich geduldet und mehr oder weniger beauffichtigt, ſei e8 von Staats 
oder von Gemeindewegen. 

Am einheitlichiten ift das P.weſen in Italien geregelt, wo die Staat 
tegierung vermittelft einer bejonderen unter dem Minifter des Innern jungivenden 
Gentralaufjichtsbehörde diefen Dienftzweig direkt leitet. In jeder Provinzial- 
hauptſtadt befindet fich eine Inspektion und in jeder Bezirkshauptſtadt ein 
Sanitätsamt mit der ausfchließlichen Aufgabe, die P. zu überwachen. An der 
Spite jedes folchen Sanitätsamtes jteht ein ärztlicher Beamter, welcher zugleich 
Dirigent des Hojpital® oder der Hofpitalabtheilung für Syphilitiſche ift und unter 
welchen die erforderliche Anzahl von Aerzten zur regelmäßigen Unterfuchung der 
Dirnen, jowie von polizeilichen Hülfsbeamten fungirt. 

In Frankreich, wo fhon Ludwig der Heilige nach einem vergeblichen 
Verfuche jtrengfter Unterdrüdung eine geregelte Duldung und Beauffichtigung ab: 
gejonderter Bordelle einführter wurde im Jahre 1791 das Prinzip der perjönlichen 
Freiheit und der Unverletlichkeit der Wohnung auch auf die feruellen Lebensbeziehungen 
angewandt und alle bis dahin bejonders jeit Ludwig XIV. beftandenen Einrichtungen 
der Sittenpolizei abgejchafft. Die Folge war das Einreißen jener zügellofen öffent: 
lichen Frechheit, welche man aus den Zeitbildern des Direftoriums fennt, und gegen 
welche man fich erjt im Jahre 1799 nach Einrichtung der Polizeipräfektur zu ener— 
giſcher Repreſſion aus bloßer polizeilicher Machtvolltommenheit entichloß, nachdem 
wiederholte Verfuche einer gefeglichen Regelung, theil® an prinzipiellen Freiheits— 
bedenfen, theil® an der Scheu vor öffentlicher Iegislativer Behandlung eines jo in- 
dezenten Gegenitandes gefcheitert waren. Seit jener Zeit ift Alles, was in Frank— 
reich zur Regelung des P.weſens gefchehen ift, nur auf dem Wege polizeilichen Be: 
lieben und gleichjam im Namen der fittlichen und fanitären Nothwendigfeit ge 
ihehen, ohne formelle gejegliche Grundlage; es Hat daher auch nicht gefehlt an 
Berufungen gegen dieſe Maßregeln der Polizei an die Gerichte; und wenn jolche 
Berufungen von leßteren ftets im gebieterifchen Intereſſe der öffentlichen Sittlichkeit 
und Gejundheit ablehnend beichieden zu werden pflegen, jo wird doch der zumeilen 
lähmende Einfluß eines Mangels gejelicher Autorifation von den Franzöfiichen Be- 
richterjtattern anerkannt. Schon im Jahre 1818 äußerte fich der Parijer Polizei- 
präfeft in einer bejonderen Denkſchrift an die Regierung folgendermaßen: „Früher 
oder ſpäter müſſen entweder die Grundſätze der perjönlichen Freiheit vollftändig 
fiegen, und das Gewerbe der Lujtdirnen, geichirmt von allgemeinen Grundjägen, 
ein ebenfo freies jein, wie jedes andere, oder die Gejekgebung muß einen 
Unterfchied, eine Ausnahme machen und fie der Aufficht von Behörden übertragen, 
welchen die Pflicht obliegt, die guten Sitten, die Ordnung, die Menſchen zu beauf- 
fichtigen, welche durch ihre Lage, ihre verworfenen Gefinnungen, in ftetem Kampfe 
mit der Religion und Sittlichfeit, der guten Ordnung und den Anforderungen der 
guten Gejellichait liegen“. Bei diefem Mangel gejeglicher Beitimmungen und bei 
der in Frankreich beſtehenden Uebertragung diefes polizeilichen Auffichtszweiges an 
die Kommunen ift e& nicht zu verwundern, daß Art und Maß von Beauf— 
fihtigung in den verfchiedenen Theilen des Yandes äußerſt verichieden ausfallen, und 
daß, im Gegenjage zu der forgfältigen Handhabung des Dienites in Paris, man über 
große Bernachläffigung und daraus entipringende öffentliche Uebelftände in manden 
Provinzialftädten Klage führt. 

Im Gegenfage zu den Yändern romanifcher Bevölkerung zeichnet fih England 
und der größere Theil der Nordamerifanifchen Vereinsftaaten durch eine 
grundjägliche Paffivität in diefer Angelegenheit aus. Bis zum Jahre 1864 beitand 


Projtitution. 199 


in England gar feine gejegliche Vorſchrift bezüglich der P., und die Polizei hatte 
fein Recht, Hindernd einzujchreiten, außer wenn öffentliches Mergerniß gegeben oder 
Beläftigungen auf der Straße jtattfanden und darüber von zwei Steuerzahlern in 
aller Form Klage erhoben wurde. Auch von einer obligatorischen ärztlichen Unter: 
fuhung war nirgends die Rede. In Folge diejer Verwahrlofung breitete fich die 
Syphilis in ſolchem Maße aus, daß 3. B. von den Refruten durchichnittlich 20 
bis 25 Prozent infizirt befunden wurden und der Präfenzitand des ftehenden Heeres 
einen beftändigen Abzug von 15 bis 20 Prozent ſyphilitiſch Erkrankter aufwies. 
Diefe Zuftände drängten jo jchreiend nach Abhülfe, daß, ungeachtet des heftigen 
Widerftandes der ftrengkirchlichen Parteien, welche darin eine gewerbliche Konzeffion 
an das Lajter erblidten, im Jahre 1864 bzw. 1866 eine janitätspolizeiliche Beauf- 
ſichtigung der Projtituirten — vorläufig nur in einer bejtimmten Anzahl von 
Hafen⸗ und Garniſonſtädten — gefeßlich eingeführt wurde. Dieſer Dienftzweig ift 
dem Kriegaminifterium unterjtellt, welches über die Ergebniffe regelmäßige Berichte 
dem Parlamente vorlegt. Die Ausdehnung der bereits als höchſt wohlthätig ftatiftifch 
erwieſenen Ginrichtung über ſämmtliche Städte des Landes, namentlich über London 
mit feinen 4000 Bordellen und 60 000 Luftdirnen, wird von vielen, befonders ärzt- 
lichen Seiten dringend verlangt, während von einer jehr rührigen Gegenpartei unter 
Berufung auf die verlegte perjönliche Freiheit und auf das verlehte öffentliche Scham= 
gerühl die Wiederabfchaffung der Gejehe verlangt wird. 

Sp wiederholt fich denn in der Gefchichte aller Staaten die Erjcheinung der 
P. ala eines von den menjchlichen Konglomerationen unabwiſchbaren Schmußfledens, 
und wenn BParent-Duchatelet in feinem Elaffischen Buche über die P. in Frank— 
reich jagte, die Projtituirten feien in den größeren Städten ebenjo unvermeidlich wie 
Abzugsfanäle,- Abdedereien und Schmußbehälter, jo hat er damit die erfahrungs- 
gemäße abjolute Unmöglichkeit einer Unterdrüdung ebenfo richtig wie die ethifche 
Häßlichkeit des Uebels bezeichnet. Für die tiefe Begründung der P. in den Funda- 
menten unferer jozialen Zuftände fpricht auch die ftatiftifche Regelmäßigfeit 
ihres Intenfitätsganges überall da, wo die Größe der bezüglichen Ziffern überhaupt 
eine jtatiftiiche Betrachtung zuläffig macht. Vergleicht man 3. B. die Jahresjummen 
der polizeilichen Einregiftrirungen von Projtituirten in Paris während eines zwölf: 
jährigen Zeitraumes nach v. Dettingen’8 Tabellen, jo ergiebt fich eine mit ges 
ringen Schwanfungen regelmäßig fortichreitende Zunahme von 46 504 Ginregiftrirungen 
im Jahre 1837 bis zu 50015 im Jahre 1849. Auch die monatliche Zahl der Ein- 
regiftrirungen zeigt nur jehr geringe Schwankungen, und jelbft in diefen Schwankungen 
tritt eine regelmäßige Schwellung für die Herbſtmonate gegen einen ebenjo regel= 
mäßigen Rüdgang für die Wintermonate hervor. Bei folcher Regelmäßigfeit der 
Zahlen kann fein Zweifel bleiben, daß — jo verfchieden auch die individuellen Motive 
des Schrittes bei den Taufenden fich gejtalten mögen, doch allgemeinere und tiefere 
Einflüffe, mit deren Gefammtbezeichnung ala „ioziales Elend“ man fich zu begnügen 
pflegt, bier jo bejtimmt ihre unvermeidlichen Endiproffen treiben wie in der Trunk— 
iucht, im Selbjtmorde, im Irrſinn, im Verbrechen. Mit allen diefen Schweiter: 
vhänomenen und befonder8 mit dem berufsmäßigen Gaunerthum erjcheint ja auch die 
P. erfahrungsgemäß in innigem Bunde, und jehr richtig bezeichnet ein geiftreicher 
Franzöſiſcher Kriminaljtatiftiler (Gorne) die P. ala das weibliche Nequivalent für 
die befanntlich fünf bis jechs Mal größere Kriminalität bei den Männern. Die 
auffällige Zumahme der P. in unſeren großen Städten jeit den letzten Dezennien, 
3. 2. in Berlin und in Paris, um das Dreifache desjenigen Progentfages, welcher 
der Bevölkerungszunahme entiprechen würde, geht gleichen Schrittes mit der Zunahme 
der Selbitmorde und des Jrrefeins, jowie mit der Abnahme der Ehen, — ſtatiſtiſche 
Beziehungen von bedeutfamer Tragweite für die volfswirthichaftliche Betrachtung. 

Der Rechtsſtaat ala jolcher hat gegenüber dem uns Hier bejchäftigenden jozialen 
Uebel zwei verjchiedenartige Intereſſen zu vertreten: den Schuß der Öffentlichen 


200 Proftitution. 


Sittlichkeit gegen anftoßerregenden Unfug und gegen Verführungen der Jugend, 
und den Schuß der allgemeinen Gejundheit gegen die aus der P. ent: 
ipringende Verbreitung anſteckender Krankheiten. 

In erfterer Hinficht fallen alle naturrechtliche oder philofophiiche Streitfragen, 
welche fich auf die Berechtigung der außerehelichen oder „freien“ Gejchlechtsliebe be: 
ziehen, nicht ins Gewicht gegen die thatjächlich herrichenden Lebens und Sitten 
auffaffungen der civilifirten Völker, welche in diefer wie in anderen Tragen für den 
Rechtöjtaat ala maRgebende Grundlage dienen. Diefen Sittenauffaffungen hohn— 
iprechende öffentliche Handlungen oder Aufforderungen und Berführungen dazu 
erichüttern die einmal beftehenden Vorausſetzungen der fittlichen Geſellſchaftsordnung, 
find daher vom Staate nicht zu dulden und ala grober Unfug unter Strafe zu 
jtellen. In diefe Sphäre der Polizeithätigkeit fällt neben manchen ähnlichen Unfugs: 
kategorien, 3. B. der Trunffucht, dem Glüdsfpiele, der Thierquälerei u. ſ. w., auch 
die P. infoweit fie an die Deffentlichfeit tritt und namentlich der 
unreifen Jugend Nergerniß und Verführung bietet. Ueber die Be 
fämpfung diefer beiden Ausjchreitungsrichtungen hinaus gegen die lajterhaite 
Lebensweise felbjt vorzugehen, ift nicht Aufgabe der Polizei, welcher es 
auh an wirkfjamen Mitteln dazu fehlen würde. Es haben fich zwar jederzeit 
Stimmen erhoben, welche eine gänzliche Unterdrüdung der gewerbsmäßigen Unzucht 
dem Staate zur Pflicht machen wollen; aber es iſt bezeichnend, daß dieſe Stimmen 
jämmtlich vom Lande oder aus Heineren Städten — namentlich Univerfitätsorten — 
berfommen, während bei allen erfahrenen Beurtheilern dieſer Trage in größeren 
Städten eine auffallende Einftimmigfeit darüber herricht, daß es ſich um ein in 
jeiner proteusartigen Vielgeftaltigkeit äußerft ſchwer angreifbares und nimmermehr der 
Ausrottung, fondern nur der Kontrole und der Gindämmung feiner ſchlimmſten Aus— 
wüchje fähiges Uebel handelt. „Aufer meretrices de rebus humanis, turbaveris 
omnia libidinibus“, jagt jchon der Kirchenvater Auguftinus, und einer der 
heitigjten neueren Giferer gegen die Hamburger und Pariſer Bordellwirthichaften, der 
Moralitatiftifer v. Dettingen, giebt doch zu, „daß der Staat jenen jchmußigen 
Abzugskanal der jozialen Zuchtlofigkeit dulden müfje, dulden und ihn abdämmen, 
da fonft feine verfumpfende Macht ohne einengendes Bett für den gefammten Boden 
der Gejellfchaft unberechenbar werden könnte; und jchüßen folle er nach Kräften, 
phyſiſch und moralisch, die Gefammtheit vor Infizirung“. ine völlige Ausrottung 
des Uebels ift ſchon deshalb undenkbar, weil ihm die dazu erforderliche Begrenz- 
barkeit des Begriffes fehlt. Wenn man jede vorbedachte Preisgebung weiblicher 
Reize zu materiellem Gewinne in den Bereich der polizeilichen Verfolgung hinein: 
ziehen wollte, jo dürfte feine Gejellichaftsflaffe bis zu den Salons der hohen Ariftokratie 
hinauf von dem Vorwurfe freibleiben, Mitjchuldige in ihrer Mitte zu dulden. In 
mehr oder minder eleganter Form durchdringt alle gejellichaftlichen Verhältniſſe 
der Macht: und Erwerbsfaktor der jeruellen Gunftgewährung; jeine 
Abſtufungen von der einflußreichen Hofdame herab bis zur verfommenjten Gafjen- 
dirne find jo tauſendfach vieljeitige und verjchlungene, daß für die Grenze des her- 
kömmlich Zuläffigen durchaus fein anderes, ethifches Merkmal auffindbar iſt ale 
dasjenige, welches allen Kategorien des Unfugs gemeinfam ift, die Oeffentlichkeit. 
Von diefer das Laſter zurüdzudrängen und dadurch das letztere möglichit einzudämmen, 
ift die einzige fitten polizeiliche Aufgabe des Staates gegenüber der P. Da freilich 
diefe Eindämmung nur mittels einer gewiffen Regelung und diefe Regelung nur 
unter einer gewiſſen ausgejprochenen Duldung des Uebels in bejtimmten Grenzen 
möglich ift, fo entjteht dadurch ein Konflikt mit den Grundjäßen idealer 
Moral, und auf diefem Konflitte beruht die Oppofition mancher einflußreicher, 
bejonders kirchlicher SKreife gegen jedes Syſtem von Regelung der PB. Man be 
hauptet, daß in gleichem Schritte mit jolcher Regelung das Gewiſſen zunehmend 
abgejtumpft werde; — „in England, wo man alles feinen Weg gehen laffe, jei 


Proſtitution. 201 


doch Sünde noch Sünde, in Frankreich nicht“. Allein abgeſehen von dem weiterhin 
zu beſprechenden ſchwer in die Wagſchale fallenden janitären Geſichtspunkte hat 
doch auch über die jittlichen Folgen des laisser aller für das Gemeinweſen die 
Eriahrung längſt ihr Urtheil gejprochen und eine geregelte Eindämmung des Uebels 
als abjolut nothwendig erfennen laſſen. Dieje Eindämmung hat im öffentlichen 
ESittlichkeitsintereffe derart zu geichehen, daß keinerlei öffentlhiche Schau— 
pläße unjittliher Anſprachen und Berlodungen geduldet werden, 
und daß die Wohnftätten der Proftituirten den Augen des Publikums mög— 
licht entrüdt, den Vorübergehenden in feiner Weife auffallend und der 
unreifen Generation unter feiner Bedingung zugänglich jeien. 
Ale über diefe Ziele hinausgehende jog. radikale Unterdrüdungsmaßregeln haben 
das Gegentheil des Gewollten, die Berlegung des Uebel aus einem gefannten, 
polizeilich überjehbaren und beeinflußbaren in ein heimliches, aller Beauffichtigung 
entzogenes Gebiet, jowie ein Durchfidern aus diefem durch tauſend unberechenbare 
Poren in die Deffentlichkeit zur "Folge gehabt. 

Das zweite Intereſſe des Staates an der P.rrage ift dasjenige der öffent— 
liden Gejundheit, da die P. ala Hauptquelle der Verbreitung gewifjer an- 
ftedender Krankheiten anerkannt if. Wäre es möglich, die P. wirklich und gänzlich 
aus der Welt zu jchaffen, jo würde es vorauäfichtlich gelingen, demnächſt auch die 
ſyphilitiſchen Erkrankungen gänzlich zu befeitigen. Aber gerade Hier gilt in noch 
weit höherem Grade die Wahrheit, daß jeder Verfuch völliger Unterdrüdung nur 
eine Berzichtleiftung auf diejenigen Auffichtsmaßregeln bedeutet, welche gegemüber 
einer der Beobachtung zugänglichen Geftalt des Uebels möglich find. Alle Be- 
flimmungen zur Unterdrüdung der P. haben in janitärer Hinficht erit 
teht ihren Zwed verfehlt, und im Gegentheile nur eine Zunahme der 
Genitalerfranfungen zur Folge gehabt. Es bleibt daher Nichts übrig, als die 
Träger und Vermittler des ſyphilitiſchen Giftes durch fcharfe Ueberwachung, regel: 
mäßige Unterfuchungen, Jfolirung und Heilung der Erkrankten möglichit unjchädlich 
für das Gemeinweſen zu machen. Und folche Aufſichtsmaßregeln janitärer 
Art find, wie die Erfahrung in allen Ländern lehrt, jo dringend erforderlich, daß 
davor jedwede Bedenken ethifcher oder religiöfer Art gegen die direfte Einmifchung 
der Staatlichen Organe in die Vorbeugung gejchlechtlicher Erkrankungen jchwinden 
müſſen. 

Lehrreich iſt in dieſer Hinſicht ein Vergleich der Syphilisverbreitung in Ländern 
mit und ohne vorbeugende ſanitäre Ueberwachung. In Paris z. B., wo die ſämmt— 
lichen Proftituirten, joweit fie der Polizei bekannt find, zwangsweiſe einer regel— 
mäßigen ärztlichen Unterfuchung unterzogen werden, kamen nach einem Bericht von 
Lefort auf jämmtliche Hojpitalpatienten 3,3 Prozent an Syphilis oder Gonorrhöe 
leidende, in London dagegen, wo gar feine ſolchen Unterfuchungen jtattfinden, belief 
fh das Berhältnig auf 8,8 Prozent. Die Zahl der an dieſen Krankheiten 
umentgeltlich in und außer den Hojpitälern in London behandelten Perjonen beträgt 
nach amtlicher Schäßung jährlich über 52000, zu welchen aljo die vielen auf eigene 
Koften von Nerzten, Apothefern und Pfuſchern behandelten, jowie die gar nicht be- 
handelten Kranken noch hinzukommen. 

Bon der unmittelbar günſtigen Wirkung der ärztlichen Kontrole erhalten wir 
auch ein charakteriftifches Bild durch die GStatiftif der Garnifonen in denjenigen 
Städten Englands, in welchen jene Kontrole vermöge des „Geſetzes zur Verhütung 
anfteckender Krankheiten” im Jahre 1866 eingeführt worden ift. Vor diejer Ein- 
richtung ſchwankte die Verhältnißzahl der jährlich an dieſen Krankheiten in die 
Sazarethe aufgenommenen Soldaten auf je 1000 Mann des Präfenzitandes zwiſchen 
110 und 120. Im Jahre 1866 fant fie auf 90,5; in 1867 auf 86,3; in 1868 
auf 72; in 1869 auf 60; in 1870 auf 54,5. (Fourth Report on the operation 

of the Contagious Diseases Acts. London 1872.) 


202 Projtitution. 


Die auch in Deutjchland verfuchte Agitation gegen die Maßregeln zur janitären 
Beauffichtigung der P. ſtützt fich befonders auf die Behauptung, ſolche Maßregeln 
hätten nur den Zwed, Wollüftigen ihre Ausichweifungen ungefährlicher und ficherer 
zu machen. Mohl, welcher alle und jede Regelung des P.wejens verwirit, jagt: 
„was in&befondere die medizinifch-polizeiliche Rückſicht betrifft, jo ift fie ganz un: 
motidirt, da fich Hier jeder jelbit vor Schaden wahren fann“. Schür— 
mayer geht jogar noch weiter und findet e8 „vielmehr mit den Forderungen der 
Sittlichkeit im Einklange und von praftifchem Erfolge, jelbit da, wo Bordelle ge 
duldet werden, dieſe wegen ſyphilitiſcher Anſteckung nicht zu über: 
wachen; fie würden dadurch bald in einen Zuftand und Ruf verfallen, der aud 
den geiliten Wollüftling von der Benutzung abjchreden werde“. 

Schürmayer's humaner Vorjchlag findet fich bekanntlich längjt in London 
und den übrigen großen Britifchen Handelsjtädten ganz ideal ausgeführt; man bat dort 
nie anders verfahren, — aber mit welchem „Abſchreckungs“-Erfolge, ift ebenjo be 
fannt; nirgendwo in Guropa ift die Benußung der Bordelle eine allgemeinere als 
in der Britifchen Metropole. Bei diefen und ähnlichen Argumenten, deren fich, wie 
oben erwähnt, vor 40 Jahren auch ein Preußiicher Minifter bediente, vergißt man 
überdies die wichtige, jchon für fich allein entjcheidende Thatſache, daß die fragliche 
Krankheit ſowol durch weitere Anſteckung, wie auch durch erblidhe Ueber: 
tragung von den jchuldigen auf die unfchuldigiten Glieder der Familie fich ver- 
breitet und die fommenden Gejchlehter im voraus vergiftet. Wie 
fönnen Frau und Kinder, wie die Amme des unfichtbar infizirten Säuglinge, um 
mit Mohl zu reden, fich jelbft vor Schaden wahren? Gegen diefe in ihrer Weiter- 
verbreitung von jedem Ginzelialle aus unberechenbare Infektion überall vorbeugend 
einzufchreiten, ift doch gewiß eine Pflicht der ftaatlichen Gejundheitspflege, bei welcher 
e8 gar nicht entlaftend in Betracht fällt, immwieweit Ginzelne fi den Schaden 
durch eigene Schuld zuziehen. 

Die Hauptjache bei Bekämpfung der Syphilis ift frühe Entdedung und 
jrühe Behandlung der Infektion; — beide fönnen nur gefichert werden durch 
ein Syitem regelmäßiger ärztlicher Unterfuchungen jämmtlicher Luftdirnen, ohne 
Unterichied, ob fie der Erkrankung verdächtig find oder nicht. Wiele derjelben find 
fich des kranken und anftekungsfähigen Zuftandes gar nicht oder erjt nach längerer 
Dauer defjelben bewußt; andere find von einer zu brutalen Gleichgültigleit gegen 
alle Folgen der Krankheit bejeelt, um ihre Freiheit aufzugeben, jo lange das Leiden 
nicht einen jo hohen Grad erreicht hat, daß fie außer Stande find, Länger ihrem 
Erwerbe nachzugehen. Bezeichnend ift eine qutachtliche Meußerung über diefe Frage 
von einer Stelle, der man die vollite Erfahrung zuerfennen muß, ohne ihr etwaige 
einjeitig ärztliche Berufsgefichtepunfte vorwerfen zu fünnen, — von den Berwaltern 
(„governors“) des Londoner Hojpitals für pphilitiiche Frauen. Diejelben erklären, 
fie jeien jehr betroffen gewejen über den großen Kontraft zwifchen denjenigen Krank— 
beitsfällen, welche aus Diſtrikten ohne ärztliche Ueberwachung der Luftdirnen zur 
Aufnahme gelangten, mit denjenigen aus Diftriften mit ärztlicher Ueberwachung. 
Don den erjteren litt der größere Theil in Folge langer Vernachläffigung an den 
bösartigiten und hartnädigjten Formen der Luſtſeuche, während die letzteren größten- 
theils einer leichten und volllommenen Heilung fähig waren (Report of the Lock 
Hospital and Asylum, 1872). Uebereinftimmend lautet das Urtheil aller in Diejem 
Dienjtzweige erfahrener Sanitätsbeamten dahin, daß die Bordelldirnen eine viel 
minder gefährliche Quelle der Infektion bilden, als die einzelmohnenden Perfonen. 
Meberhaupt ift den Bordellen der janitäre Vorzug nicht abzuftreiten, daß fie die 
genauefte und regelmäßigſte Kontrole geftatten. 

In Frankreich duldet man bei den ftehenden Lagern, 3. B. bei demjenigen von 
Chalons, Bordelle, die man aber unter jtrenger Aufficht hält; man erreichte dadurch zu 
Ghalons in den Jahren 1863—1864 eine Verringerung der ſyphilitiſchen Anſteckungen 


Proſtitution. 203 


bis auf 1,3 Prozent der Truppenftärke, während um diefelbe Zeit bei der durch keinerlei 
Kontrolmaßregeln geichüßten Britifchen Armee zu Alderfhot die Verhältnißzahl 30 
bis 31 Prozent betrug! Generalarzt Roth verlangt denn auch in feinem klaſſiſchen 
Lehrbuch der Militärgefundheitspflege eine geregelte Ueberwachung der P. in jedem 
ftehenden Lager unter Konkurrenz der Givilbehörden, und erklärt wohlfontrolirte 
Bordelle Tür das beſte Mittel zur Durchführung der erforderlichen Unterfuchungen. 
Wenn man bedenkt, daß in der Preußifchen Armee die Zahl der anjtedenden Genital— 
ertranfungen jährlich 45 bis 54 auf je 1000 Dann der Truppenjtärfe, in der Franzöſiſchen 
% bis 100, in der Englifchen 250 big 300 beträgt, und wenn man fich vergegen= 
wärtigt, in welchen Maße hier der kräftigjte Theil der jungen Männerwelt, die Väter 
der fommenden Generation, einer Infektion unterliegen, die von ihnen über das ganze 
Sand verbreitet und in das jpätere Familienleben mithinein gebracht wird, dann 
muß aller Zweifel darüber weichen, daß der Zwed einer wirkſamen janitären Kon— 
trole allen anderen Gefichtspunften weit voran zu ftellen ift. 

Der bier dargelegten Pflicht ſchützenden Eingreifens zur Abwendung gemeiner 
Geſundheitsgefahr ſowol, wie fittlichen öffentlichen Aergerniffes kann der Staat nad) 
Kräften gerecht werden, ohne dabei in den Fehler einer zu aktiven Ginmifchung in 
alle Berhältniffe der Proftituirten, in ihre Lebensweiſe, Kontraktbeziehungen, Kleidung, 
Zarife u. j. w. zu verfallen. Dieſen Fehler hat man in früheren Jahrhunderten be- 
ionders auch in den Deutjchen Handeläftädten vielfach begangen, und noch heute 
findet man in einzelnen Städten folche obrigkeitliche Bordellordnungen, in welchen, 
wie 3. B. in derjenigen für Leipzig vom Jahre 1868, die Anfprüche der Dirnen 
an den Wirth fejtgejeßt, „es für angemefjen“ erklärt wird, „daß jedes Mädchen zur 
Abendmahlzeit ein Seidel Lagerbier trinke“ u. dgl. m. Durch derartige Beitimmungen 
iegt jich die Staaisbehörde wirklich in ein unziemliches Verhältnig von Mitwirkung 
an dem Unzuchtögeichäfte und verleiht den Ausüberinnen des leßteren ein Bewußtſein 
formulirten Gewerberechts, welches als Vorwand zu weitergehenden Anfprüchen und 
Anmaßungen mißbraucht wird. Sowol im Intereffe des fittlichen Prinzips wie der 
praktischen Ordnungserhaltung iſt e8 vielmehr dringend erforderlih, daß alle Auf- 
ichtsmaßregeln, wenn auch auf bejonderer gejeglicher Autorifirung der Polizeibehörde 
berubend, doch in der Ausführung ſtets nur den Charakter von einftweiliger Duldung 
eines unvermeidlichen Uebels ohne Gewährung irgend welcher konkreten gejeßlichen 
Berechtigung, Konzeifion oder dgl. ftrenge bewahren. 

Im MUebrigen iſt bei der rapiden Zunahme des internationalen Handels- und 
Reifeverfehrd an einen radilalen Erfolg aller gegen die Syphilisverbreitung ge— 
richteten Maßregeln nicht zu denken, ohne eine gleichmäßige internationale 
Regelung der P. und der Syphilisbehandlung. Namentlich für Hafenpläße, mit 
Ihrer beftändig wechjelnden Bevölkerung von Matrofen aller jeefahrenden Nationen, 
würde nur eine Vereinbarung zwijchen leßteren über gleichmäßige Auffichtsmaßregeln — 
etwa mit Einführung von Gefundheitspatenten für die Schiffemannfchaften — den 
ertorderlichen Schuß gewähren. An Vorſchlägen in diefer Richtung fehlt es bereits 
nit, wol aber an irgend welcher Ausficht auf ihre Verwirklichung, jo lange die 
internationale Vorbeugung der gemeingefährlichen Krankheiten überhaupt feine leitende 
Stelle findet. 

Die GErgebniffe der hier vorgeführten Thatſachen aus der bisherigen Gefchichte 
und Statiftil des P.weſens laffen fich in Folgenden Sätzen zuſammenfaſſen: 

1) Eine gänzlidhe Unterdrüdung der P. ift unmöglich und alle 
darauf abzielenden Maßregeln find nicht blos nußlos, jondern jogar jchädlich, indem 
te das Uebel nur in verjtedtere, der Beauffichtigung fchwerer zugängliche Formen 
und Bahnen treiben. 

2) Die auf möglichite Verminderung des Uebels gerichteten Schritte find viel- 
mehr gegen das vereinzelte Auftreten deffelben, als gegen die folleftive Form, die 
Bordelle, zu richten, da letere wegen der weit leichteren Ueberwadhung 


204 Proteſt — Proteitationen. 


und jfanitären Unterfuhung geringere Gefahren jür das Gemein: 
wejen darbieten, als die vagirenden Einzeldirnen. 

3) Alles ertennbare Auftreten der Proftituirten vor der 
Deifentlichfeit, alle direkte oder indirekte unfittliche Verlockungen auf Straßen 
und Pläßen, im Theater oder anderen öffentlichen Räumen find mit größter Strenge 
zu unterdrüden und eventuell zu beitraien. Die dem Lafter dienenden Häufer dürten 
weder durch ihre Lage noch durch irgend welche ihre Beitimmung verrathende Auf 
fälligkeit, bejonders aber nicht durch perfünliches Gebahren der Bewohnerinnen den 
DVorübergehenden Aergerniß oder Verführung bieten. Unter feiner Bedingung dürten 
diefelben der unerwachſenen Jugend zugänglich fein, 

4) Sümmtliche der Polizeibehörde ala gewerbömäßige Proftituirte belannte 
Perfonen müflen einer regelmäßigen ärztlihen Unterſuchung unterworfen 
und beim Befunde einer anjtedenden Genitalerfrantung zwangsweiſe einem Kranken 
baufe bis zur erfolgten Genefung übergeben werden. 

5) Un welchen Orten und in weldem Maße dajelbit eine Duldung 
der P. unter den vorftehenden Bedingungen unvermeidlich jei, muß der Enticheidung 
der Ortspolizeibehörde, vorbehaltlich des jtaatlichen Auffichtärechtes, anheim— 
gegeben werden. 

6) Die Ermächtigung der Polizeibehörde zu den vorbezeichneten Maßnahmen 
muß auf dem Wege der Gejetgebung geregelt werben. 

7) Eine internationale Uebereinftimmung der Maßregeln zur Beauf- 
fihtigung der PB. und zur Unterdrüdung der Syphilis iſt bejonders bezüglich der 
Hafenpläße möglichſt bald anzuftreben. 

Lit.: Parent:Duchatelet, Die P. in Paris, eh. von Beder, Leipz. 1837. — 
R. von Mopl, Die Polizeiwiffenfchaft nad ben Srundiä lägen bes Rechtsſtaats, Tübingen 
1832—1834. — rs Die P. in Berlin, Erlangen 1850. — Jeannel, Die P. in 
ae 5 Nahe, Stäbten u. ., überfegt von Müller, Erlangen 1869. — Kühn, Die P. im 
Leipzi Ar — Germann, Voricläge zur Abwehr der Syphilis, Leipz. 
1872, — die er, Ueber die Pe in n Bayern, in * V. J.Schr. für gerichtl. Mebizin 
u anitätsmelen, N. F. B Heft 1. — Strohl, re P.frage, dal. 


Bd. Ta At — Uffelmann, Decken des auf bem Gebiete der öffentlichen Geſund— 
peitäpfiege in außerbeutichen Ländern bis EN Geleifteten, Berlin 1878, ©, 483 fi. — 
. Dettingen, Die Moralftatiftit, 2. Aufl. 1874, Abich. „Ueber P.“ 
Finkelnburg. 


Proteſt, ſ. Wechſelproteſt. 


Proteſtationen im Hypothekenbuch. Unter P. im Allgemeinen wird die Ver— 
wahrung gegen Folgen verſtanden, welche aus Akten dritter Perſonen zu eigenem Nach— 
theil entſtehen könnten. In das Hypothekenbuch (Grundbuch) eingetragen, ſollen die— 
ſelben vor nachtheiliger Aenderung des Inhalts des Hypothekenbuchs ſichern. Das 
BGB. für das Königreich Sachſen drückt dies dahin aus, daß eine in das Hypotheken⸗— 
buch eingetragene Verwahrung die Wirkung bat, daß in daffelbe Nichts zum Nachtbeile 
des Rechts aufgenommen werden darf, defjen Sicherung durch die Verwahrung be 
zweckt wird. ine eingetragene Protejtation kann aber den weiter gehenden Zmwed 
haben, den Grwerb oder die Erhaltung eines dinglichen Rechts mit bejtimmter 
Priorität durch Eintragung zu fichern. In der Sprache der neueren Gefeßgebungen 
wird eine P. im lebteren Sinn ala „Vormerkung“ bezeichnet, — jo in der Säch— 
fiichen Hypothekenordn. vom 6. Nov. 1843 $ 51, vgl. Sächſ. BGB. SS 404, 
405; in der Defterr. Grundbuchordn. vom 25. Juli 1871 SS 835 ff. und im 
Preuß. Gejeß über den Gigenthumserwerb und die dingliche Belaftung der Grund- 
ftüde ıc. vom 5. Mai 1872 SS 8, 9, 16, 22; Grundbuchordn. vom 5. Mai 1872 
8 88. In der neuen Preuß. Geſetzgebung it aber dieſe Bedeutung des Wortes 

„Bormerfung“ nicht ftreng feitgehalten, da in $ 70 des Gejeßes über den Eigen— 
humserwerb auch ein „Widerſpruchsrecht', das durch Vormerkung geſichert werden 


Prototoll. 205 


ſoll, erwähnt wird. Cine eigentliche „Vormerkung“ Hat ſtatt zu Erhaltung des 
Rechts auf Auflaffung oder Eintragung des Eigentgumsüberganges oder auf Wieder- 
eintragung des Eigenthums, ebenjo zur Erhaltung des Rechts auf Eintragung eines 
dinglichen Rechts, einer Hypothek oder Grundſchuld an beſtimmter Stelle. Das 
eingetragene Widerſpruchsrecht ſichert, ſofern es auf Ungültigkeit der Hypothet oder 
Grundſchuld beruht, die Negatorienklage des Eigenthümers, wenn es auf Tilgung 
oder auf einem Anfechtungsrecht beruht, die perſönliche Klage auf Quittung oder 
Abtretung. 

Gigb. j. oben. 

git.: Prinz, Der Einfluß ber — —— auf das —— ins⸗ 
beſondere die Lehre von den Proteſtationen, 1858. örſter ‚Best, Grundbuchrecht, 1872, 
©. 66 ff. — Behrend in feiner 38, 26. vo. S. 115 ff. — Strützki und Jäckel in 
Gruchot's Beiträgen, Bd. 17 ©. 733 18 ©, 41. — Achilles, - Rechtsſchutz durch 
vorläufige Eintragung im Grundbud in Johom' 8 Jahrbüchern Bd. 8 ©. a Pe 

ccıu®. 


Protokoll (Civilprozeß, v. Bar, Th. I. Suppl. ©. 9 ff.), urfprünglich der 
Rame des ZTitelblattes, welches im Röm. Recht den aus einzelnen Blättern ae, 
tabulae) bejtehenden Gerichtsaften vorgeheftet wurde, bedeutet im jpäteren Römifchen 
und Gemeinen Prozefie die gerichtliche Urkunde, in welcher die Vorgänge einer Ge— 
rihtefigung unmittelbar nad) ihrem Eintritt und ſomit auch in chronologiicher 
Aufeinanderfolge verzeichnet werden. Die unmittelbare Aufzeichnung, welche die 
mwerthvollite Garantie für die Treue der Beurkundung bildet und das P. von jpäteren 
Regiitraturem unterjcheidet, mögen diefe auch noch in demjelben Termine, aber 
nah Schluß der Berhandlungen niedergefchrieben fein, ward im Römifchen Ver— 
fahren durch Erzeptoren oder Berichterftatter erzielt, welche ihre Aufzeichnungen 
mittels Anwendung der Siglenſchrift, aljo ftenographijch machten und das Auf 
gezeichnete nach der Sitzung in voller Schrift ausführten. Der Gemeine Prozeß be- 
dient fich zur P.führung der Notare oder juriftiich gebildeter Gerichtsjchreiber 
(F. diefen Art.), welche geleitet durch ihr Verſtändniß für das, was rechtlich relevant 
oder irrelevant ift, Vorträge, Ausfagen ıc., wenn auch nicht immer dem Wortlaut, 
jo doh dem Sinne nach in vollem Umfjange zu firiren im Stande find, während 
das Franzöſ. Recht und die Deutjchen Ausführungsgejege zur CPO. auf Rechtskunde 
des Gerichtäfchreibers und damit entweder auf die Genauigkeit und Volljtändigfeit 
der P.führung oder auf die Unmittelbarkfeit derjelben Verzicht Leiften, indem fie den 
Richter nöthigen, nah Schluß der Verhandlung das P. zu diktiren oder deſſen 
Führung fortwährend zu überwachen. Die äußere Form der P. jtammt aus dem 
älteren Deutichen Reichsprozeß, welcher das Rubrum, das mit rother, und das 
Rigrum, welches mit jchwarzer Tinte gejchrieben wurde, unterjchied. Das Rubrum 
giebt Zeit und Ort der Verhandlung, die Bejegung der Gerichtsbank und die Prozeß- 
fache, in welcher verhandelt wird, nach Parteien und Gtreitgegenjtand an. Das 
Rigrum zerfällt in die Relation der Vorgänge während der Verhandlung einjchlieglich 
des Erſcheinens oder Nichterjcheinens und des Abtretens von Parteien, Anwälten, 
Zeugen ıc., und in den Schluß, welcher die Angabe der Schlußzeit und die Unter- 
schrift des Gerichtsjchreiberd, nach einzelnen Rechten auch die der Richter oder 
wenigſtens des vorfienden Richters enthält. Nach der Deutjhen CPO., die 
binfichtlih der Relation der Vorgänge auf die Beichränfungen des Franzöſ. Rechts 
in nicht appellabeln Sachen zurüdgreift, joll das P. der mündlichen Verhandlung, 
zu deſſen Führung ein Gerichtöjchreiber zuzuziehen ift und deſſen Verhältniffe im 
Weientlichen auch für andere gerichtliche Verhandlungen maßgebend find, folgende 
Beftanbtheile Haben: Ort und Tag der Verhandlung, die Namen der Richter, des 
Gerich tsſchreibers, des etwa zugezogenen Dolmetjchers und in Ehejachen auch des 
Staatsanwalts, wenn derjelbe erichienen ift; ferner die Bezeichnung der Prozeßſache, 

wie vorhin, die Namen der erjchienenen Parteien, gefeglichen Vertreter, Bevollmäch- 


206 Prototoll, 


tigten und Beiftände, die Angabe, daß öffentlich verhandelt oder die Deffentlichkeit 
ausgeichloffen ift. Die übrige Relation hat den Gang der Verhandlung nur im All: 
gemeinen wiederzugeben, fpeziell dagegen feftzuftellen: 1) die Beobachtung der für die 
mündliche Verhandlung vorgejchriebenen Förmlichkeiten, wie die Verleſung der Anträge, 
die Beeidigung von Zeugen, die Schließung oder Wiedereröffnung der Verhandlung und 
zwar mit der Maßgabe, daß bei Schweigen des P. ihre Nichtbeobachtung anzunehmen 
ift; 2) Anträge, in Ehefachen die der Staatsanwaltichaft eingejchloffen, jedoch nur im 
amtögerichtlichen Verfahren im P. ſelbſt und joweit das Gericht in der dem Urtheil 
oder Beweisbeichluß voraufgehenden mündlichen Verhandlung die Aufzeichnung eines 
Antrages für angemefjen erachtet, im landgerichtlichen dagegen, joweit fie nicht mit 
den Anträgen der vorbereitenden Schriftjäße identifch find, in Schriftfägen, welche dem 
P. anzulegen find, wobei die Aufzeichnung im Schriftfage der Aufzeichnung im P. 
gleichiteht, 3) auf Antrag ferner Gejtändniffe von Thatjachen, in gleicher Weife Er: 
Härungen über Annahme oder Zurüdjchiebung angetragener Eide, andere Erklärungen 
aber im landgerichtlichen Verfahren nur, joweit fie weientlich find, im amtägerichtlichen, 
joweit das Gericht es für angemefjen erachtet, wie vorhin; 4) Anerkenntnifje, Ber: 
zichte, Vergleiche, welche den Anſpruch ganz oder theilweile erledigen, immer im P. 
ſelbſt; ebenſo 5) die Ausſagen von Zeugen und Sachverftändigen, joweit fie nicht 
früher vernommen find oder ihre Ausfagen mit früheren zufammenfallen; doch genügt 
die bloße Angabe, daß fie vernommen find, wenn das Endurtheil der Berufung nicht 
unterliegt und die Vernehmung vor dem Prozeßgericht ſelbſt ftattfindet, 6) die 
Ergebniffe eines Augenjcheins; 7) die Entjcheidungen des Gerichts, joweit fie nicht 
ichriftlich dem P. beigefügt find; 8) die Verkündung der Entjcgeidungen. Nach 
Schluß des P. wird es vom Gerichtsjchreiber und dem Vorſitzenden, bei defjen Ver— 
hinderung vom nächjtältejten Richter, bei Verhinderung des Amtsrichters vom Ge: 
richtsjchreiber allein unterjchrieben. Anträge, Geftändniffe, Erklärungen, Anerkennt— 
niſſe, Verzichte, Vergleiche, Ausſagen, Gutachten, Augenjcheinsergebnifjfe werden den 
Parteien vorgelejen oder zur Durchficht vorgelegt, auch follen Genehmigung oder 
etwaige Einwendungen gegen das P. vermerkt werden, einer Unterzeichnung des P. 
durch die Betheiligten bedarf es dagegen nicht. Beſondere Beitimmungen find ge 
troffen für das P. im jchriftlichen Verfahren in Rechnungs: und ähnlichen Sachen, 
welches im Allgemeinen nach den Vorjchriften für die Amtögerichte abzufaffen it, 
ipeziell aber feititellen joll, welche Anfprüche erhoben und welche Angriffs- und 
Vertheidigungsmittel vorgebracht, wie weit diejelben ftreitig oder unftreitig find und 
was bezüglich ihrer an Ihatjachen, Beweismitteln, Beweiserklärungen und Beweis— 
einreden geltend gemacht ift. Im P. des Gerichtsvollziehers über Vollſtreckungs— 
bandlungen find zu vermerken: Ort und Zeit der Aufnahme, Gegenjtand der Boll: 
jtrefungshandlung, die weientlichen Vorgänge bei der Bollitrefungshandlung und 
die Namen der Perjonen, mit welchen verhandelt ijt, die Unterzeichnung diefer Per: 
fonen und die Bemerkung, daß fie nach VBorlefung oder VBorlegung und Genehmigung 
der Aufzeichnungen erfolgt ſei, und endlich die Unterjchrift des Beamten. — Biel- 
jältig wird in der CPO. erwähnt, daß Erflärungen, Anträge und in Amtsgerichts- 
jachen auch Klagen zu P. des Gerichtsjchreibers abgegeben oder angebracht werben 
fönnen. Dieje P. haben vorgejchriebene Formen nicht, ihre Formen find daher die 
allgemeinen, die Erklärungen und namentlich Anträge werden eine Nachhülfe des Ge: 
richtsfchreibers erfordern und Unterzeichnung der Betheiligten dürfte daher der Worficht 
halber geboten fein. — Das P. ift auch nach den BVorichriften der Deutihen CPO. 
eine Öffentliche Urkunde, welche vollen Beweis der in ihm beurfundeten Vorgänge 
erbringt, ja die Beobachtung der Förmlichkeiten des Verfahrens fan nur durch das 
P. eriwiejen, und der Thatbeitand des Urtheils, durch welchen in Verbindung mit 
dem P. und den vorbereitenden Schriftfägen das gejammte Sachverhältniß firirt 
wird, nur durch das Sitzungs-P. widerlegt werden. Als öffentliche Urkunde kann 
gegen das P. der Beweis unrichtiger Beurkundung, bezüglich der Förmlichteiten der 


Protofoll. 207 


mündlichen Verhandlung nur der Beweis der Fälſchung geführt werden; einen ver- 
ftärkten Beweis des Gegentheils, wie im Gemeinen Recht durch drei Zeugen, kennt 
die Deutihe CPO. indefjen nicht. Vgl. den folgenden Artikel. 

Quellen: 1.6 C. 7, 52. — Nov. 44 c. 2. — c. 11 X. 2, 19. — c. 3, 6, > we 2, 
21. — Code de proc. art. 39, 40, 42, 54, 91, 138, 196 ss., 225 88., 269 s8., 


Deutſche F— 145 N 269 Hf., 284 ff, 291, 294, 315, 380, 470, 524, 569, des, 727; 

eier 109, 225, 346, 351, 971, 354, 448, 457, 462, 463, 592, 596, 596, 617, 621, 
815, 824; Motive ©. 22 ff., 137 fi. — Deutiches ENG. 88 184 ff., 187 ff. 

git.: Eher ——* SS 2449 ff. — 50.8.0 Clint, Gem. Eiv.Prz., II. 

re vn — Wepell, Syftem, $$ 24, 36, 65. — lint, Kommentar 3. franz. 

9. — Leonhardt, Zur Reform des Giv.Prz,, ©. 56 ff. Komment. ;. 

gemase. —— DOrdn. Vorbem. 88 98, 116, 357. — en —* Deuiſchen CPO. 1.1. von 


rudmann-sod, dv. MWilmotwsfi-Levy, d. Bülow, euffert u. 9. 
K. Wieding. 


Protofolle find auch im StrafPrz. (John, Th. I. Suppl. ©. 11) gericht: 
liche Urkunden, in welchen die Vorgänge gerichtlicher Verhandlungen unmittelbar 
nah ihrem Eintritt und daher chronologisch verzeichnet werden. Ihre Geftalt und 
ihre Beitandtheile, die im Grunde nur KHonfequenzen ihrer Natur als berichtende 
Urkunden find, weichen in den Rechten, von welchen hier die Rede ift, im Ganzen 
von denen des Giv.Prz. nicht ab. Als nothwendig Tordert das Gem, Recht im 
Anhalt an die PGO. die unmittelbare Aufzeichnung durch einen rechtsveritändigen 
Gerichtsjchreiber in Gegenwart des Richters bzw. der Gerichtsmitglieder nach eigener 
Wahrnehmung und zum Beweije deffen die emdliche Unterjchrift des Gerichtöfchreibers, 
wozu nach den Partikularrechten auch Unterfchritt der Gerichtämitglieder oder des 
vorfigenden Richters allein und Unterzeichnung des P. oder der aufgezeichneten Aus— 
lagen durch Angefchuldigte, Zeugen und andere Betheiligte hinzugefommen find. 
P., welche diejen Erforderniffen entiprachen, nannte man förmliche P. und legte 
ihnen volle Beweiskraft bei und zwar in dem Maße, daß außer dem Fälſchungs— 
beweife von Manchen nur ein verjtärkter Gegenbeweis gegen fie zugelaffen wurde. 
Andere berichtende Aufzeichnungen, welche eines diejer Erforderniffe ermangelten, aljo 
nicht in Gegenwart des Gerichts, nicht unmittelbar, nicht vom Gerichtsfchreiber auf- 
genommen waren, nannte man einfache PB. oder PB. jchlechtweg oder Regiftraturen, 
freilich ohne daß von fonjtanter Terminologie hier die Nede jein könnte. Inſofern 
im fchriftlichen Inquifitionsprozeffe das Urtheil aus den Akten gefchöpit wurde und 
dazu nur beweisfräftige Akten geeignet waren, mußte für alles Handeln, welches 
materiell oder progeffualiich für das Urtheil Bedeutung haben konnte, die Aufnahme 
törmlicher P. erfordert werden, und die Zulaffung der formlofen P. oder Regiftraturen 
ich auf Alte und Vorgänge von nebenfächlicher Bedeutung, wie Eingang und Aus— 
gang von Korreipondenzen, Anzeigen von Subalternen über erfolgte Berhaftungen oder 
beforgte Vorladungen, Beichwerden des Angeichuldigten über jeine Behandlung im 
Gefängniß, ferner Entlaffung aus der Haft u. dgl. beichränten. — Was den neueren 
Anflageprozeß anlangt, jo fordert zunächit die Gerichtöverfafjung weder in Frankreich, 
noch Defterreich oder Deutjchland rechtsgelehrte Gerichtsjchreiber, ja nicht einmal 
immer jtändige Gerichtsfchreiber, vielmehr fünnen in Frankreich bei Friedensgerichten 
der Maires, in Defterreich bei Vorerhebungen und in der Vorunterfuchung, in 
Deutjchland bei denjelben Berhandlungen in dringlichen Fällen beliebige andere 
Berfonen nach vorgängiger Vereidigung zur P.führung zugezogen werden, Soweit 
daher ungelehrte Gerichtsjchreiber thätig werden, fommt es, namentlich in den Vor— 
progeduren, thatjächlich und in Defterreich jogar de jure zu einem Diktiren der P. 
ſeitens des Richters, wovon die Folge ift, daß das P. aufhört, das Zeugniß einer 
am Handeln im Prozeffe unbetheiligten Perfon zu fein und als Zeugniß des in 
Wahrheit jelbft protofollirenden Richters unter Umjtänden zu einem Zeugniß in 
eigener Sache wird. Was jodann das Verfahren angeht, jo ijt dafjelbe von den 
Grundjäßen der freien Beweiswürdigung und der Mündlichkeit oder richtiger der 


208 Prototoll. 


Unmittelbarkeit der Erfenntnißquellen beherricht, und ift in Folge deſſen die Be 
deutung der P. um ein Erhebliches geringer geworden, wie im Unterfuchungsverfahren. 
MWiederum fommt jedoch in Betracht, daß der Grundiah freier Beweiswürdigung 
zwar die Schäßung der Beweisergebniffe der freien Weberzeugung des Urtheilenden 
anheimjtellt, keineswegs aber eine Negation der inneren und äußeren Erfordernifie 
der Beweistüchtigfeit der einzelnen Beweismittel in fich jchließt, dieſe Erfordernifie 
daher und zwar auch bei P. durch die StrafPO. ihre gejegliche Normirung erhalten 
haben; und ferner, daß der Grundſatz der Ummittelbarfeit nicht für die Enticheidung 
im Gröffnungsverfahren gilt, die vielmehr noch immer auf Grund der Akten der 
Vorunterfuchung oder jonitigen Borerhebungen erfolgt, und daß derjelbe für das 
Urtheil der Hauptverhandlung durch Verlefung der in den bvorbereitenden Prozeduren 
aufgenommenen PB. vielfältige Durchbrechung erfährt. Dies vorausgefandt, ift nun 
zunächſt hervorzuheben, daß die Dejterreichiiche und Deutſche StrafPD. den Gegenjat 
von jörmlichen P. und Regiftraturen nicht erwähnen, fondern nur den Ausdrud P. 
fennen. Die P. find gerichtliche, zu welchen auch die in der Deutjchen StrafPO. 
vielfach erwähnten Gerichtsfchreiber-P. einjchließlich des vom Staatsanwalt zum 
Zeichen feiner Genehmigung mitunterzeichneten Hinrichtungs-P. zu zählen jein dürften, 
oder nicht gerichtliche, wie diejenigen der Gemeindevorfteher und des Amtsausſchuſſes 
über Einſprachen gegen Schöffen und Gefchtworenenlijten und deren Enticheidung, 
ferner die der Staatsanwaltichait über Straianträge und nach der Oeſterr. StrafPO. 
auch die der Sicherheitsbehörden über Bernehmungen, Augenjchein und Hausdurch— 
juchung, welche im Gegenjag zur Deutichen StrafPO. jogar in der Hauptverhandlung 
ala Beweismittel benußt werden dürfen, wenn fie unverweilt dem Unterjuchungs 
richter zur Prüfung und eventuellen Ergänzung oder Wiederholung der Verhandlung 
mitgetheilt waren. Die gerichtlichen PB. find entweder jolche der Borunterfuchung, 
welcher amtsrichterliche und kommiſſariſche Unterfuchungshandlungen gleichätehen, 
oder der Hauptverhandlung. Für erjtere gilt der Grundjah, daß über jede Unter 
juchungshandlung ein P. aufgenommen werden muß, bei welchem nach der Oeſterr. 
StrafPD. ſtets ein beeideter P.führer zuzuziehen ift, während nach der Deutjchen 
nur für Augenfchein und für Vernehmung von Angefchuldigten, Zeugen und Sad 
verjtändigen die Zuziehung eines Gerichtsichreibers oder bei Dringlichkeit einer hierfür 
zu beeidigenden Perjon als Gerichtafchreiber nothwendig ift. Als nothwendige Beftand- 
theile („muß“) des P. fordert die Deutiche StrafPD. die Angabe von Ort und Tag der 
Verhandlung und der Namen der mitwirkenden und betheiligten Perjonen, die von 
(eßteren mittels Unterzeichnung zu bewirkende Genehmigung des fie angehenden In— 
halt des P. oder Angabe ihrer Weigerungsgründe, und Angabe der eingehaltenen 
wejentlichen Förmlichkeiten des Verfahrens einfchließlich derer der einzelnen Hand— 
lungen, wozu dann als natürlicher Inhalt und mit Rüdficht auf die Entjcheidung 
im Gröffnungsverfahren und die mögliche VBerlefung des P. in der Hauptverhandlung 
eine vollftändige Relation des Gejchehenen hinzukommt. Als nothwendige Form 
fordert dieſelbe StrafPD. ferner Unterfchrift des Unterfuchungsrichtere und des zu— 
gezogenen Gerichtäfchreibere. Infofern aber die Zuziehung eines Gerichtsfchreibers 
oder einer als folcher fungirenden Perfon nicht bei allen Unterfuchungshandlungen 
nothwendig ift, bei diefen daher die Unterjchriit des Gerichtsichreibers von jelbft weg— 
jällt und die des Unterfuchungsrichters allein übrig bleibt, folgt nicht, daß man mit 
v. Schwarze, welchem Löweu. Geyer fich anfchließen, den Begriff Unterfuchungs- 
handlung zu beichränfen hat, jondern daß die Deutjche StrafPD. unter P. jörmliche 
und minder jürmliche, aljo auch die Regiitraturen verfteht und die Beitimmung, 
daß über jede Unterfuchungshandlung ein P. aufzunehmen ift, nur den Sinn hat, 
daß jede Unterfuchungshandlung in protofollariicher Weife in den Alten zu ver- 
zeichnen ift, wobei über Formen und Beitandtheile die jedesmaligen VBerhältnifie 
entjcheiden, wie denn ja auch betheiligte Perfonen, 3. B. bei Durchfuchungen, nicht 
gegenwärtig jein können und daher deren Genehmigung binfällig wird. Was das 


Protokoll. 209 


P. der Hauptverhandlung betrifft, ſo muß daſſelbe in Abſicht auf die Form vom 
Vorſitzenden und Gerichtsſchreiber unterſchrieben werden, nach der Deutſchen StrafPO. 
bei Verhinderung des erſteren vom nächſtälteſten Richter; bei Verhinderung des Amts— 
richters genügt die Unterjchrift des Gerichtäjchreibers allein. Randbemerkungen er— 
tordern gleiche Beglaubigung. Die Unterfchrift muß vor dem Schluß der Ber: 
handlung und wo die Hauptverhandlung fich durch verjchiedene Situngen fortjeßt, 
vor dem Schluß jeder Situng erfolgen. Denn fie ift Beftandtheil des P. und 
diejeg eine unmittelbare Aufzeichnung, wie auch die Beftimmungen über Verhinderung 
des Vorfigenden an der Unterjchrift erfennen lafjen, die von Verhinderung in der 
Sitzung zu verftehen find. Ohne die Unterfchriit ift das P. fein P. und jpätere 
Unterzeichnung nur Anerkennung eines nichtigen P. Als Inhalt des P. führt die 
Straf OD. zunächſt Ort und Tag der Verhandlung, die Namen der Richter, Ge— 
ſchworenen, Schöffen, des Staatsanwalts, des Gerichtsfchreibers und eines etwaigen 
Dolmetjchers, die Namen der Angeklagten, BVertheidiger, Privatfläger, Nebenkläger, 
geſetzlichen Bertreter, Bevollmächtigten, Beiftände, die Bezeichnung der ftrafbaren 
Handlung nach der Anklage, die Angabe über Deffentlichfeit der Verhandlung oder 
deren Ausſchluß an, die als nothwendige Beitandtheile nicht bezeichnet find, auch 
nicht alle für mejentlich erachtet werden fünnen, wie 3. B. die Bezeichnung der 
ſtrafbaren Handlung nicht. Im Uebrigen muß das PB. den Gang und die Ergebnifje 
der Hauptverhandlung im Wejentlichen wiedergeben, namentlich auch Bildung der 
Geihworenenbant und Bereidigung der Gefchworenen und Schöffen, ferner Anträge 
und Entjcheidungen, insbejondere die Urtheilsformel, die Bezeichnung der verlejenen 
Schriftftüde, die erfolgten Vernehmungen, und zwar bei Schöffengerichten mit Rück— 
fcht auf die Berufung auch ihren jpezielleren Ergebniffen nach, bei Strafkammern 
und Schwurgerichten im Hinblick auf die Revifion nur im Allgemeinen und nur, 
wo es auf bejondere FFeititellung eines Vorganges, 3. B. für Wiederaufnahme und 
Strafverfolgung, ankommt, nach Anordnung des Vorſitzenden vollftändig oder dem 
Wortlaut nach, wobei auch Verlefung und Genehmigung der Vernommenen oder 
Gründe ihrer Weigerung zu vermerken find, und endlich die Einhaltung aller wejent- 
lichen Förmlichkeiten. Dieſe Förmlichkeiten der Hauptverhandlung und ihrer Beitand- 
theile können nur durch das P. erwieſen und in Abficht auf fie der Inhalt des P. 
nur durch Fälſchungsbeweis entkräftet werden. Ueber Weigerung der Aufzeichnung von 
Anträgen auf Beurkundung foll nah v. Schwarze und Löwe auch beim Revifiong- 
gerichte Zeugenbeweis geführt werden können. Die Dejterr. StrafPO. enthält im 
Allgemeinen die gleichen Vorſchriften, nur fordert fie Aufzeichnung der Ausjagen von 
Zeugen und Sacdjverftändigen, joweit fie nicht bereits in den Akten enthalten find, 
und außerdem bejondere PB. über Berathung und Abjtimmung der Richter. 
Duellen: PGO. Art. 181 ff. — Code d’instr. art. 148, 155, 189, 276 ss., 318, 372. — 
Deutſches GBG. SS 37, 41, 45, öl, 87, 91, 94, 184 ff., 187. — Deutfche StrafRD. sg 26, 31, 


71, 86, 147, 156, 166, 185 ff., 211 223 ff., 232, 240 ff, 271 ff., 341, 355, 381, 385, 406, ‚421, 
449, 454, 486. — Protof. der Reichstagstommi, ©. 274, 418, 604. — Oefterreich. StrafßO. 


ss 23, 88, 101 ff., 142, 271 ff., 444, 452. — Geſetz vom 28. Yan. 1855 SS 14 ff. — Geſetz 
vom 23. Mai 1873 88 6, 18, 21. 

&it.: Bauer, StrafPrz., $ 63. — Mittermaier, Gtrafverf,, 79. — PBland, 
Strafverf., S. 41 ff. — Zadhariä, StrafPrz., I. $ 66. öch 4 — Strafverf., 


x8 49 ff., 141, 214, 264. — Romment. zur —* Straf D. u von v. — ——— 
Lowe u. U. — Dochow, RStrafPrz., SS 60, 65. — Geyer, StrafPrz.R. $ 1 
Rayier, Strafgerichtäver], 3.— ich ſprechung des Reichäger. in Straffachen, 8 T 
8. 327, 418, 496, 826, 840. ſt. Mieding. 


Protokolle (völterrehtlich). Dieſer im Rechtsverfahren der Eingelftaaten 
hergebrachte Ausdrud ift in neuerer Zeit auch auf den Staatenverfehr übertragen 
worden. Man gebraucht ihn im Allgemeinen für die Aufzeichnungen amtlicher Ver— 
bandlungen, die in Gegenwart von Bertretern der Staaten und durch fie geführt 
werden; insbefondere dann, wenn es fich darum handelt, ein Einverjtändniß der 


v. Dolsenberft, Gne. II. Rechtélexikon III, 3. Aufl. 14 


210 Protutor. 


Staaten durch perfönliche Abrede zu Stande zu bringen, jei es, daß ein Vertrag 
herbeizuführen oder zu vereinbaren, ein Beichluß zu faſſen ift, ſei es, daß eine ge 
wiffe Richtung der Politif verabredet oder audy nur eine gemeinjame Erflärung ab: 
gegeben werden ſoll. Hauptanwendung findet demnach der Ausdrud in der Kongreß— 
praris der Staaten, jowol bei den Stongreffen in dem bejonderen Sinne des Wortes, 
ala auch bei bloßen Konferenzen, jodann aber auch in der Praris des Bundesrechts. 
Da in ſolchen P. ſich die Materialien für Auslegung und Würdigung der verein: 
barten Feitfegungen finden, jo findet nicht jelten eine Veröffentlichung derjelben ftatt. 

Bejondere Förmlichkeiten und Borausjegungen zur Gültigkeit eines P. beftehen 
im diplomatischen Verkehre nicht. Doch hat der Gebrauch diejes Jahrhunderts 
folgenden Prinzipien allgemeine Anerkennung gefichert: Bei Schluß einer jeden 
Sitzung der verfammelten Souveräne oder ihrer bevollmächtigten Organe ift ein P. 
aufzunehmen, welches unter Vermerk von Zeit und Ort der Zufammenkunft , jowie 
der Namensangabe aller Betheiligten eine getreue Darjtellung der jtattgehabten 
Verhandlungen in ihren wejentlichen Zügen nebjt dem Rejultate der Abftimmungen 
zu geben hat. Das P. wird zu Beginn der folgenden Sigung vorgelejen, geprüft, 
genehmigt und von jedem Theilnehmer durch Namensunterſchrift vollzogen. Jedem 
von diejen jteht es indeſſen frei, feine in der Verhandlung ausgejprochene Anficht 
durch ein dem P. beizufügendes Separatvotum (vote, opinion) genauer zu begründen 
und zu prägifiren. Urkunden, auf die das PB. Bezug nimmt, werden demfelben als 
Annere angehängt. Der P.führer und jeine Gehülfen werden gleich in der eriten 
Seifton von dem Vorfigenden vorgeichlagen; e8 ift regelmäßig ein Beamter des- 
jenigen Staates, bei dem der Kongreß fich verfammelt. Bei konföderirten Staaten 
find hierfür befondere Beamten angeftellt.e Die Sprache des P. ift diejenige der 
Verhandlungen; aljo bei Staaten verfchiedener Nationalität gegenwärtig noch immer 
die Sranzdfide. 

Lit: U. Miruß, Das Europäilche Gejandti aftörecht, Seins. 1847. — Charles de 
Martens, Guide diplomatique, 5. éd. par Geffcken, &eipz. 1 866. 5 Martip 
.v. artıp. 


Protutor ijt derjenige, welcher die Verrichtungen eines Vormundes ausübt, 
ohne wirklich Bormund zu fein. Don einem folchen unterfcheidet er fich, wie ein 
Gejchäftsführer ohne Auftrag vom Mandatar, doch wird auch der P. dem eigent- 
lichen VBormund analog behandelt. Der Umftand, daß der P. von feiner mangelnden 
Berugniß Kenntniß hatte, bewirkt, daß er, wie Jemand, der fich Hinzugedrängt hat, 
nicht blos für culpa in concreto, jondern für diligentia exactissima haften muß (1. 1 pr. 
$1; ll. 4 5D. 27,5; 1.53 33 D. 47, 2). GErfährt dagegen ein P. nad) 
träglich, daß er fein Bormund fei, jo muß er für die Beitellung eines jolchen jorgen, 
ehe er fich von den Gejchäften zurüdziehen kann (1. 39 $ 2 D. 26, 7). 

Im Verhältniß zum Bevormundeten wird der P. wie ein Vormund betrachtet 
und fteht deshalb mit Ausnahme des erwähnten Falles auch für die diefem ob- 
liegenden Berbindlichkeiten ein. Die Klagen find die actiones pro tutela directae und 
contrariae. Im Verhältniß zu Dritten hat das prätorifche Edikt bereit dem durch 
einen P. bejchädigten Kontrahenten die Wiedereinfegung in den vorigen Stand und 
eine ‚Klage wegen dolus gegeben. Eritere findet jtatt, wenn der Dritte in Folge 
der in der Litisfonteftation liegenden prozefjualifchen Konfumtion durch einen Prozeß 
mit dem P. feine wirkliche Klage verlor (l. 18 1 D. 27, 6). Diejer Fall iſt mit 
der hier gejchilderten Wirkung der Litiskonteſtation heute weggefallen (ſ. d. Akt. 
Konjumtion und Litisfontejtation). Die Klage dagegen ging auf vollen 
Schadenserſatz egt 1.9 851D. 27, 6), intereſſante Fälle: 1.10; 1.788 D. 27,6 
(Rudorff, II 296 ff.). Im heutigen Gem. Recht läßt man jedoch nicht blos 
eine Haftung rg dolus eintreten, fondern verpflichtet auch denjenigen, der Leicht: 
finnig als Vormund auftrat, wie ſonſt wegen culpa in contrahendo. 


un . 
Proudhon — Propifion. 211 


Bemerkt muß übrigens werden, daß der P. auch bei gutem Glauben feine Ver— 
äußerungsbefugniß hat (1. 2 D. 27, 5; 1. 2 C. 5, 45), daß Zahlungen an ihn 
nur jomweit gültig find, als fie in das Vermögen des Bevormundeten gelangen 
(l. 28 D. 46, 3), daß mehrere PB: folidarijch veranttwortlich find (1.39 $9 D. 26, 7) 
und daß, entgegengejeßt dem Röm. Recht (1. — D. 27, 5), ein Privilegium des Be— 
vormundeten gegen den P. nicht beſteht (KO. 8 54 Nr. 5 „geſetzlich““. — Bon 
den neueren Gejegbüchern hatte fich das Allg. ER. (II. 18 88 228 ff.) der gemeinrecht- 
lichen Doktrin angefchloffen, der Code civil des P. in dem hier gebrauchten Sinne 
überhaupt nicht gedacht. (In Art. 417 hat protuteur die Bedeutung von Mit— 
vormund.) Die Bormundichaftsordn. vom 5. Juli 1875 erwähnt den PB. ebenfalls 
nicht und hebt die landrechtlichen Vorſchriften auf ($ 102), es werden daher für die 
Beurtheilung der durch einen falſchen Vormund gejchaffenen Verhältnifje die allge: 
meinen NRechtsgrundfäge maßgebend jein müffen, welche zu der ratio scripta des 
Gem. Rechts von jelbjt hinführen. — Der Cod. Max. Bav. läßt den P. wie einen 
gewöhnlichen Vormund haften, erklärt feine Handlung für kraftlos — nur ſoweit fie 
dem Mündel zum Nuten gereichen, jollen die Vorjchriften der Geſchäftsführung ohne 
Auftrag Anwendung finden — und verpflichtet ihn dem Mündel zum Schadenserjat. 
Ein Dritter wird einen folchen nur ex dolo protutoris erlangen fünnen. — Das 
Oeſterr. BGB. begnügt ſich mit der Beitimmung, daß derjenige, welcher fich eigen- 
mächtig in eine Vormundſchaft eindrängt, dem Minderjährigen für allen dadurd) 
erwachjenen Schaden verantwortlich ift, während das Sächſ. BGB. den PB. an ſich 
wie einen Bormund behandelt, ihn im Falle des Irrthums nur für geringes Ver— 
jeben haften läßt und bei Genehmigung jeiner Handlungen auch berechtigt erklärt, 
den gemachten Aufwand erjtattet zu verlangen. Dem Dritten ift ein gutgläubiger 
P. auf die Bereicherung, im Halle der Unredlichkeit auf vollen Erjat verpflichtet. — 


Analoge Grundjäge müfjen bei einer faljchen Kuratel Anwendung finden. 

Quellen: Tit. Dig. 27, 5; 27, 6. — Tit. C. 5, 45. — C. Max. Bav. 1.784. — 
Defterr. BEB. $ 204. — Sidi. BE». z8 1962, 1963. 

Lit.: Außer den Lehrbühern: Ruborff, Recht der Vormundſchaft, 1833, II. S. 292 
bis 300, — Neuftetel im Arch. für ie — An Zimmern, ebenda, I. 19. — 
Dernburg, Das Vormundichaftärecht, 2. Aufl. S 101. Kayſer. 


Proudhon, Jean Baptiſte Victor, 5 1. II. 1758 zu Chasnaus, ſtud. 
zu Beſançon, wurde Advokat, 1796 Profefior an der Ecole centrale de Besangon, 
1805 in Dijon, vielfach verfolgt, T 20. XI. 1838. 

Schriften: Cours de legislation et de jurisprudence frangaise, Besangon 1799. — 
Cours de droit frangais Ire partie, Dijon 1809, (2) 1810. (Trait€ sur l’etat des personnes 
et sur le titre pr@liminaire du Code civil, par Valette, Dijon 1842, Paris 1848.) — 
Traites des droits d’usufruit, d’usage, d’habitation et de superficie, Dijon 1823—1827, (2) 
1336, — Trait& du domaine public ou de la distinction des biens, Dijon 1833— 1835, (2) 
par Dumay, Dijon 1843— 1845. — Trait€ des droits d’usage, servitudes reelles, du droit 
= superficie et de jouissance des biens communaux et des @tablissements publics, 1836. — 

Teils du d zu = ropriete, Dijon 1838, 1839, 

Lit.: te Ba orain, Dion 1838; Lagier, Dijon 1839; Curasson, Dijon 
18389; Tenail ’aris 1841; Loiseau, Paris 1857; Goin, Dijon 1868. — Estignard, 
La facults de droit et l’Ecole centrale de Besancon, Besancon 1857. — Gabriel Du- 
may, Etude sur la vie et les travaux de P., Paris 1878. — Recueil de — de Legisl. 

de Toaloose XXVII. p. XXXIX.—XLI. TZeihmann. 


Proviſion (Th. I. ©. 537, 539 ff.) ift ein Lohn für Mühewaltung, welchen 
ein Kaufmann für die einem Anderen, Kaufmann oder Nichtfaufmann, geleijteten 
Dienste, insbeſondere für beſorgte Gejchäfte, nach oder ohne Verabredung von dieſem 
in Anspruch nehmen kann. Dieje Bedeutung hat auch die im Verkehr mit Wechjeln 
vorfommende P.: im umeigentlichen Sinne beim Disfontiren (j d. Art. Kurs— 
berechnung), wejentlich aber: 

1) Beim Regreß des Wechjelinhabers, welcher Mangels Zahlung pro- 
teftiren ließ. Die P. ift Hierbei Erjak für Bemühungen, welche in Folge ber 

14* 


212 Proxeneticum. 


Regreßnahme entjtehen, und für die damit verbundenen Gefahren (Hoffmann, 
W.R., ©. 422). Demnach kann der Wechjelinhaber, der zwar Proteft Mangels 
Zahlung erheben ließ, aber feinen Regreß genommen hat, von dem Acceptanten 
(oder Ausjteller eines eigenen Wechjels) ebenjomwenig eine P. fordern, als der Traſſant, 
gegen welchen Regreß genommen wird, dem Acceptanten eine eigene P. berechnen 
darf (Nürnberger Nov. Kommiffionsverh. 1858, ©. LIV—LVI). 

2) Beim Regreß eines Indoſſanten, der den Wechfel einlöft oder als 
Rimeſſe erhalten hat; in diefem wie im Falle 1) ift die P. bis zur Höhe von 
Y, Prozent der MWechjelfumme nah Kurs geftattet (ſ, Borhardt, a. a. O 
S. 267 Anm. a, b und c zu Art. 51 der WO.). 

3) Beim Ehrenaccept: der Ehrenacceptant, der nicht zur Zahlung gelangt, 
weil der Bezogene oder ein anderer Intervenient zahlte, ift berechtigt, von dem 
Zahlenden eine P. von , Prozent zu verlangen, ein Anfpruch, der nicht mwechjel- 
mäßig verfolgt werden kann (f. Renaud, W.R., ©. 174); während Demjenigen, 
welcher einen Wechjel eingelöft hat, mithin auch dem Ghrenzahler, eine PB. von 
1/, Prozent, verfolgbar mit einer Wechjelflage, zulommt (Renaud, a.a. O. $ 80 
[Note 11]; Borhardt, a. a. D. ©. 265, Zuf. 592 mit Anmerkungen a u. b). 

Der Inhaber eines Mangels Zahlung proteftirten Wechjels verliert durd 
Unterlaffung rechtzeitiger Notififation unter anderem den Anſpruch auf P. (Art. 45 
der WO.; vgl. auch d. Art. Notifilation). 

Ueber die Berechnung, die fich nach dem Kurſe richtet, ſ. d. Art. Kurs: 
berehnung. Für die Höhe der BP. find die Geſetze des Zahlungsortes mah- 
gebend (j. Art. 52 der WO.; Borchardt, a.a. O. ©. 278, Zuf. 620 und Note). 
Ueber P. bei Rückwechſeln j. diefen Art. — Im börfenmäßigen Effektenhandel 
wird unter B. im Gegenjag zur Courtage, welche dem Mäkler für die Vermittelung 
des Gejchäfts zu zahlen ift, die Gebühr veritanden, welche der Bankier bezieht; fie 
wird vom Geſammtkurswerth der behandelten Effekten (ausſchließlich jedoch der 
Courtage und Spejen, aber einjchließlich der Zinfen) berechnet und zwar im der 
Regel mit 4/,, "/, oder 4, Prozent, je nach Vereinbarung. — Ueber die Provifions- 
forderung von Agenten j. Friedr. Meier, im Gentralorgan für Handels u. WR. 
N. 5. IR ©. 14 ff und Erf. des ROHG. vom 14. Sept. 1872, — von 
Schiffsadreffaten: Goldſchmidt's Zeitichr. F. d. geſ. H.R., XVII. ©. 578, — dei 
Kommiffionärs als Eigenhändler: Erf. des ROHG. vom 17. Oft. 1871. 2. tft, 
wenn unjelbjtändig eingeflagt, nicht zur Reviſionsſumme zu rechnen (Entſch. des 
Reichsgerihts I. ©. 228). 

Gigb. u. Lit: Deutiches HGB. Art. 290, 370, 371, 374, 376, 381. — Deutiche 
WO., Art. 50-52, 63, 65, 81, 98 Ziff. 6 m. 10. — Thöl, DR, Bb. II. (W.R.), 
4. Aufl. $ 99. — Borharbdt, Allg. Deutihe WO., 7. Aufl. 1879. — ©. v. Wächter, 
Encykl. des WR., 1880 ©. 816. — Hunke, W.R., 88 41, 44. — Im Franzdf. WR. be 
deutet provision (= couverture) Dedung, vgl. Thöl, a. a. ©. 3 71 Anm. 7. — Code de 
comm. art. 115—117. — Ueber P. außer dem W.R.: Endemann, H.R., SS 92, 119, 128, 


132, 135, 143, 144, 147, 149, 165, 168 Anm. 10—14. — Entid. bee ROHG. Bd. L 
S. 127; Bb. II. ©. 112, 115; Bd. XI. ©. 248; Bd. XXI. ©. 409. areis. 


Proxeneticum oder Mäflergebühr ift die Vergütung, welche der Mäkler 
(proxeneta) für jeine Bemühungen um das Zuftandefommen eines durch ihn ver: 
mittelten Geſchäfts beanfpruchen kann. Das Röm. Recht beurtheilte den mit dem 
Mäfler eingegangenen Bertrag nach der Analogie des Mandats oder der Dienit- 
miethe, gab aber auch dann, wenn ein ausdrüdlicher Bertrag vorher nicht geſchloſſen 
war, eine actio praescriptis verbis, welche im Wege einer extraordinaria cognitio 
(eine außerordentlichen Einjchreitens) geltend zu machen war. Die Höhe des P. 
jollte im leßteren Falle der praeses provinciae, d. 5. der kompetente Magiftratus 
jeftjegen, wobei er die Bedeutung des vermittelten Gejchäfts und die Art der ge- 
leifteten Dienjte berüdfichtigen follte. Der Mäkler ftand demnach etwa auf einer 
Stufe mit dem Arzt, dem Xehrer und dem Advofaten, denen für ihre Honorar— 


Prozeßbetrieb. 213 


forderungen dieſelbe Klage gegeben wurde. Es beſtand hierbei nur der Unterſchied, 
daß der Mäkler nur dann das P. verlangen konnte, wenn das durch ihn vermittelte 
Geichätt zu Stande gelommen war, während die Bemühungen des Arztes, Lehrers 
und Advofaten Erfolg nicht gehabt zu haben brauchten. 

Dieje Grundjäße find im Wefentlichen unverändert in dem Gem. Recht beibehalten 
worden. Beftritten ift, von wem der Mäfler das P. fordern dürfe, ob von beiden 
Theilen oder ob nur von jeinem Auftraggeber; jedenfalls iſt es unzuläffig, fich das 
P. von beiden verjprechen zu laſſen, weil ja die beiderjeitigen Intereſſen follidiren, 
der Mäkler alſo nicht beiden gegenüber mit der Treue verfahren fünnte, welche bei 
gegenfeitigen SKontraktsverhältnifien regelmäßig vorausgefeßt wird. Die Höhe des 
P. beftimmt der Richter; dabei wird weniger der Umfang der geleijteten Dienite, 
als die Höhe des Objekts maßgebend jein; vielfach bat fich auch ein ganz be— 
ftimmtes Gewohnheitsrecht Hierfür gebildet. " Etwaige Auslagen fann der Mäfler 
neben dem P. nicht fordern. Dagegen iſt die Zuläffigfeit eines P. gemeinrechtlich 
nicht auf bejtimmte Gefchäfte beſchränkt, ſondern dafjelbe kann 3. B. auch für die 
Vermittelung einer Ehe gefordert werden, wenn nur dabei nicht etwa unerlaubte 
Mittel angewendet worden find. Einige Gerichtshöfe abjtrahiren von der Voraus— 
jegung des Zuftandeflommens des Gejchäfts durch den Mäfler und gewähren das P. 
auch dann, wenn der Mäfler nur die fichere Ausficht auf den Abjchluß des Ge- 
ſchäfts eröffnet hat, und diejes dann ohne ihn perfekt wird. 

Die Vorjchriften der Partikularrechte über das P. find feit der Emanation des 
HGB. vielfach aufgehoben worden, jo die des Preuß. Allg. ER. Das HGB. trifft 
aber nur Beitimmungen über die Courtage der amtlichen Handelsmäkler, neben denen 
es noch die Privathandelsmäkler und jolche Mäkler giebt, welche Handelsgeſchäfte 
nicht gewerbemäßig oder Nichthandelsgeichäfte vermitteln, wie 3. B. die Häufer- und 
Gütermäkler. (Anders der code de commerce, wonach toute operation de courtage . 
ein Handelsgeſchäft iſt — art. 632.) Auf die- leßteren beiden Kategorien können 
die Art. 66—84 des HGB. nur infoweit Anwendung finden, als fie fich mit dem 
jonftigen Givilrechte decken; insbeſondere treffen die nur für Handelsmäkler geltenden 
Vorschriften der Börſen- und Mäklerordnungen nicht ohne Weiteres für alle Fälle zu. 

Das Sächfiſche BGB. hat noch die Bejonderheit, daR es das Veriprechen einer 
Mäklergebühr für die Nachweifung einer heirathsfähigen Perjon oder für die Ver- 
mittelung einer Ehe für nichtig erflärt, eine Bejtimmung, deren Aufnahme in das 
Deutiche BGB. fich empfehlen dürfte. Anderer Anficht über das jetzige Rechtsbewußt- 
jein jcheint das Neichögericht zu fein. Vgl. das Erf. vom 8, Febr. 1881 (Annalen 
des Reichöger. Bd. III. ©. 350), wo in einer Kurheſſiſchen Sache ein Mätelgeld 
für Vermittlung einer Heirath verfagt wird auf Grund der Kurheſſ. Verordn. vom 
20. Aug. 1800. ©. im lebrigen die Art. Mäfler und Courtage. 

Quellen: Tit. de extraordinariis cognitionibus D. 50, 13 und de proxeneticis D. 
50, 14. — Tit. de suffragio C. 4, 3. — 568. Art. 66—84. — Allgem. ER. II. 8 $$ 1379 
bis 1384. — Bol. dazu Preuß, 6G. zum HGB. vom 24. Juni 1861 (Gej.Samml. S. 449 
bis 479) Art. 9 und 60. — Sächſ. BEB. Ss 1256—1259. 

‚Lit: Kuhn im Archiv für praft. Rechtswiſſenſchaft, N. F. Bd. VI. ©. 225 ff. — 
Eintenis, Givilvecht, Bd. II. $ 119. — Keller, Panbelten, II. $ 96. — Windicheid, 
IL s 404. — v. Hahn, Kommentar zum HGB. Zuj. 2 nah Art. 84. — Grudot, Das 


Recht bes Kommilfionshandels, 5. 269. — Dernburg, Preuß. Privatrecht, Bd. II. $ 190. — 
Seuffert, Archiv, X. 43; XI. 155; XIII. 14; XIV. 124, 229; XXI. 39, 134; XXV. 210; 


XXVL 240; XXVII 225; XXIX. 125: XXX. 21, 22, 140. Keil. 
Prozefbetrieb. Während im früheren Gemeinen Prozeß die formelle Prozeß— 
leitung dem Richter zufam, d. 5. die Anbringung der Klage, das Anfuchen um 
Prozeß, als ein allgemeines auf die Fortleitung des Verfahrens überhaupt gerichtetes 
Begehren galt, welchen der Richter durch Anordnung der einzelnen zum Fortgang 
des Prozeſſes nothmwendigen Schritte und durch Ausführung feiner diesjallfigen Anz 
ordnungen zu entiprechen hatte, hat der Franzöſiſche Prozeß zu Folge einer Ueber: 
pannung der Berhandlungsmarime und der Anjchauung, daß das Weſen des Richter- 


214 Prozehfähigfeit. 


amtes ausſchließlich im Urtheilen beftehe, den Parteien allein die Sorge für bie 
Fortbewegung des Prozefies und die Anregung der richterlichen Urtheilsthätigfeit im 
Rechtsſtreit überlaffen, und zwar in dem Umfange, daß jeder Spruch des Gerichtes 
die Verbindung des leßteren mit dem Rechtäjtreite aufhebt und es Sache der Par- 
teien ift, Ddiefelbe durch neue Schritte wieder Herzuftellen. Die Deutiche CPO. 
hat diefe Franzöſiſchen Ginrichtungen, die jog. Paffivität der Gerichte und das 
Deſaiſirungsſyſtem, nicht angenommen, vielmehr nur im Intereſſe der Entlaftung 
des Gerichtes die Bewirkung gewifler, zum formalen Fortgang des Prozefles erforder: 
lichen Akte den Parteien unter ihrer eigenen Verantwortung zugewieſen. Diefelben 
haben injofern den Prozeß zu betreiben, als fie fich die vorbereitenden Schriftſätze 
und andere Parteiichriften, ſowie gewifje gerichtliche Enticheidungen und die Ladungen 
gegenfeitig durch die Gerichtsvollzieher (Pot) zuitellen und für die lebteren das 
Gericht vorher um Terminsbeftimmung angehen müffen. Dabei ift indeſſen eine Mit- 
wirkung des Gerichtes nicht volllommen ausgeichloffen. In der Hand deſſelben 
liegt zunächjt die Anjegung der Termine bei Einleitung des Prozeffes, bzw. der 
Instanz, jowie ferner die Anberaumung aller weiteren Termine nach der erjten münd— 
lichen Verhandlung, mögen fie blo8 wieder zu einer folchen oder auch zur Beweis— 
aufnahme bejtimmt fein. Sodann erfolgt die Ladung von Zeugen und Sachverjtän- 
digen, jowie die Beichaffung von Urkunden, welche fich im Beſitze von Behörden 
befinden, ebenfall® von Amtswegen durch das Gericht. Selbſt gewiſſe Zuftellungen 
und Ladungen, wie 3. B. diejenigen, welche im Auslande vorzunehmen find, und die 
öffentlichen Ladungen bewirkt dafjelbe auf Parteiantrag. Ja von Amtswegen bat 
es alle nicht in mündlicher Verhandlung verkündeten Entjcheidungen und Verfügungen 
zuftellen zu laffen. Endlich ift e8, ſoweit dies nach Lage der Sache möglich, ver- 
pflichtet, felbit beim Ausbleiben beider Parteien in einem Termin zur Beweis— 
aufnahme die leßtere vorzunehmen. — In der mündlichen Verhandlung ift dagegen 
von einem P,. der Parteien feine Rede, vielmehr tritt hier das Prozekleitungsrecht 
des Gerichtes viel fchärfer und intenfiver hervor, ala im jchriftlichen Prozeß, weil 
durch feine Ausübung der Mangel der jeiten Gliederung des Prozefjes in einzelne 
Stadien und das Fehlen der Gventualmarime erjeßt werden muß. Es ift das 
Gericht, welches die Verhandlung eröffnet und jchließt, für einen geordneten Vortrag 
der Sache forgt, zu den erforderlichen Prozeßhandlungen (zur Antwort, zur Beweis- 
antretung) auffordert, durch Ausübung des Fragerechtes das Streitmaterial Klar 
ſtellt, erſchwerende und chikanöſe Vertheidigungsmittel abjchneidet, und endlich im 
Intereſſe leichterer Beherrichung und Bewältigung des Prozeßſtoffes die Verbindung 
nicht fumulirter, die Trennung kumulirter Streitigkeiten und die abgejonderte Ver— 
handlung über ifolirungsfähige Angriffs: und Vertheidigungsmittel und Präjudizial- 
punkte anordnet (j. das Nähere im Art. Prozekleitung). 

Ueber den PB. der Parteien bei der Zwangspvolljtredung vgl. den be— 
treffenden Artikel. 

Gigb.: Deutiche CPO. SS 152 ff., 191, 193, 458, 479, 515, 548, 127, 281, 323, 326 
bis 328, 332, 333, 485, 520, 548, 342, 367, 397, 182 ff., 283. 

Lit.: Wach, Vorträge über die RCPO., Bonn 1879, S. 4òff. P. Hinſchius. 


Prozeßfähigkeit iſt die Fähigkeit einer Prozeßpartei, ohne einen gefeßlichen 
Vertreter oder Beiſtand jelbftändig den Prozeß zu führen oder durch einen Anderen 
führen zu laffen. „P.“ iſt alfo vor Allem nicht zu verwechjeln mit „Parteifähig- 
feit”, d. h. rechtlicher Perfönlichkeit und ſomit rechtlicher Möglichkeit zu Klagen oder 
verklagt zu werden; fodann iſt „P.“ von Prozeklegitimation (legitimatio ad pro- 
cessum) zu umterjcheiden, d. i. der Befugniß ala Vertreter eines Anderen im Prozeffe 
defjelben aufzutreten. 

Nach dem Gefagten erjcheint die P. als eine Seite oder, wie die Motive zu 
$ 50 der CPO. für das Deutiche Neich fich ausdrüden, als ein Ausfluß der 
Handlungs: und Dispofitionzfähigkeit. Wer diefe Fähigkeit beſitzt, wem fie fehlt, 


Prozehlegitimation. 215 


darüber entjcheidet nicht das Prozeßgeſetz, jondern das Givilrecht in prinzipieller Weiſe. 
Auf diefes wird denn auch in $ 50 der Deutichen CPO. verwiefen. Wegen der 
Vielheit der Civilrechte im Gebiete des Deutichen Reiches fand es aber der Gejeh- 
geber geboten, in der EBD. die P. injoweit einheitlich zu regeln, als es im „In= 
terefie einer einheitlichen eg geboten ift. Die in diejer Richtung 
re Grundfäße der EPD. find 

1) Wer ſich durch Verträge verpflichten fann, iſt progeßfähig, ſoweit jene 
Fähigkeit reicht. 

2) Die patria potestas oder das eheherrliche Mundium, welchem eine Partei 
unterworfen ift, beichränft ihre P. nicht, fofern im Uebrigen die VBorausjegungen 
ihrer Handlungsfähigkeit gegeben find. 

3) Die Geichlechtsvormundichaft ift auf die P. ohne Einfluß. 

4) Zur Vornahme einzelner Prozeßhandlungen, welche nach bürgerlichem Rechte 
eine bejondere Ermächtigung erfordern, bedarf es einer folchen nicht, wenn die 
Prozekführung überhaupt ohne folche Ermächtigung zuläffig ift oder geftattet wurde. 

5) Die Beurtheilung der PB. eines Ausländer richtet fich nach dem Rechte 
des inländischen Prozeßgerichtes, wenn ihm das ausländifche Recht dieje Fähigkeit 
abipricht, das inländijche diejelbe gewährt (CPO. 88 50—53). 

Was inäbejondere den sub 2 auägejprochenen Grundſatz anlangt, jo ift die 
Folge deffelben nur die, daß ein Urtheil nicht mehr deshalb als nichtig angefochten 
werden kann, weil eine der Parteien persona alieni juris war; dagegen präjudizirt 
ein jolches Urtheil jelbftverjtändlich den Hausväterlichen und eheherclichen Rechten 
an dem Vermögen des Hauskindes oder der Ehefrau, welche Parteien waren, nicht. 

Fälle der Nothwendigkeit einer „beſonderen Ermächtigung“ (ſ. oben sub 4) nach 
Civilrecht find angeführt bei Hell mann, Kommentar zur CPO., Bd.1.©. 192 ff. Nr. 5. 

Perjonen, welchen die P. fehlt, müſſen durch andere Perſonen (geſetzliche Ber: 
treter) im Prozefje vertreten fein. Den Mangel der P. hat das Gericht ebenjo wie 
die Legitimation des geſetzlichen Vertreters oder die erforderliche Ermächtigung zur 
Prozekführung von Amtöwegen zu berüdfichtigen. Die Zulaffung einer prozeß— 
unfähigen Partei oder eines nicht legitimirten gejeglichen Vertreters kann bei Gefahr 
im Berzuge unter Vorbehalt der Bejeitigung des Mangels vom Gerichte verfügt 
werden. Doch muß mit Erlaffung des Endurtheils in diefem Falle zugewartet werden, 
bis die zur Bejeitigung des Mangels fejtgejegte Friſt abgelaufen ift (KPO. $ 54). 

Wenn eine prozeßunjähige Partei verklagt werden foll, der ein gejeßlicher 
Vertreter fehlt, jo muß der Vorfißende einen Interimsfurator bis zum Gintritte 
eines gejeßlichen Vertreters beſtellen. Auch ohne Gefahr im Verzuge kann der 
Vorfigende einen Spezialprozehfurator beitellen, wenn eine prozeßunfähige Perjon im 
Serichtäftande des dauernden Aufenthalts nach $ 21 der CPO. dir een ſoll. 

ellmann. 

Prozeflegitimation (legitimatio ad processum) iſt der Nachweis, daß der 
für einen anderen im Prozeſſe handelnde Vertreter zu der Vertretung des erjteren 
berechtigt ift. Beruht die Berechtigung dazu auf Geſetz, wie bei den PVertretern 
bandlungsunfähiger Perfonen, den Vormündern von Unmündigen oder Minder- 
jährigen, oder den Borftehern juriftifcher Perfonen, jo wird die P. durch den Nach— 
weiß der betreffenden zur Vertretung berechtigenden Stellung, 3. B. durch Vorlegung 
der vormundichaftlichen Bejtallung, geführt. Der von der Partei jelbjt ernannte 
Vertreter Hat fich dagegen entweder durch die Prozeßvollmacht (j. diefen Art.) 
zu legitimiten oder durch Nachweis eines, wenn auch nicht jpeziell auf den Prozeß 
gerichteten, Vertretungsverhältniſſes, welches ihn troßdem zur Prozeßführung für 
ieinen Meachtgeber berechtigt, 3. B. der Stellung als Generalbevollmächligter, als 

Prokuriſt, ala Schiffer, als Korrejpondentrheder, als Inkaſſo-Mandatar. In einer 
Benollmächtigung , welche dem Vertreter eine der erwähnten Stellungen giebt, Liegt 
zugleich die Prozeßvollmacht. Der $ 76 der Deutichen EPD., welcher ohne Unterichied 


216 Brozehleitung. 


ichriftliche Vollmacht für den Prozek fordert und dem Gegner das Recht gewährt, 
die gerichtliche oder notarielle Beglaubigung derjelben, wenn fie nur in einer Privat: 
urfunde enthalten ijt, zu verlangen, findet auch auf derartige nicht direft und aus 
ichließlich zur Prozepführung legitimirende Vollmachten Anwendung. 

Die Doktrin des Gemeinen Prozefies gebrauchte den Ausdrud Legitimation in 
Anwendung auf den Prozeß noch in zwei anderen Bedeutungen. Zunächit veriteht 
fie unter Legitimation zum Prozeß im Sinne von NRechtöftreit, Sachlegitimation, 
legitimatio ad causam, die nöthigenfalls durch Beweis zu erhärtende Behauptung, 
daß der gerichtlich geltend gemachte Anipruch der Partei, welche ihn verfolgt «og. 
aktive Sachlegitimation), zufteht, und zwar auch gegen diejenige Partei, gegen welche 
er erhoben iſt (paffive Sadhlegitimation). Sie hatte bei der Aufitellung diefer Be- 
griffe die Fälle im Auge, in welchen ein der einen oder anderen Partei urjpränglid 
fremdes Nechtsverhältniß (3. B. eine ererbte oder cedirte Forderung, eine ererbte 
oder übernommene Verbindlichkeit) oder eine auf einem dinglichen Verhältniß be- 
ruhende Berechtigung oder Verpflichtung (3. B. Eigentyum am Grumdjtüd bei einer 
Sewituten- oder Neallaftllage) oder eine perjönliche Qualität (Verwandtſchaft bei 
der Grbichaftäflage, Gemeindebürgerrecht bei einem Anſpruch auf Gemeindenugungen) 
als Vorausfegung des Rechts, bzw. der Verbindlichkeit in Frage kommt. Während 
die frühere Prozeßdoktrin die Sachlegitimation als einen Punkt, welcher vor der 
Verhandlung über das jtreitige Necht jelbit zur Berichtigung gebracht werden mußte, 
behandelt hat, war dieſe Auffafjung aber jchon in neuerer Zeit aufgegeben, und 
das mit Recht. Der Nachweis der Aktiv» bzw. Baifivlegitimation ijt nicht Vor: 
bedingung für das Auftreten ala Kläger und Bellagter im Prozeß, vielmehr nur 
für das Gewinnen deffelben. Die Anführung bzw. der Beweis der den Legitimations- 
punft betreffenden Ihatjachen gehört mit zur Subjtantiirung bzw. zum Beweiſe der 
Klagethatſachen. Demgemäß ift auch die jog. exceptio deficientis legitimationis 
nichts anderes als eine verneinende Ginlaffung auf die Klage, feine Einrede im 
eigentlichen Sinne. Die Deutſche EPO. enthält feine bejonderen, hierher ge: 
hörigen Vorſchriften, weil fie jene Theorie für überwunden und feiner jpeziellen Er- 
wähnung mehr für werth gehalten hat. Allerdings ift es bei dem neuen Berfahren 
möglich, daß mit Nüdficht auf SS 137, 275 das Gericht in den pafienden Fällen 
abgejonderte Verhandlung über die ftreitige Sachlegitimation anordnen und darüber 
durch Zwifchenurtheil erkennen kann, weil fich diejelbe unter Umftänden als ein 
ifolirungsfähiges Clement des Rechtsſtreites daritellt. 

Endlich gebrauchte die gemeinrechtliche Prozeßdoktrin den Ausdrud Legitimation 
noch in der Bedeutung von legitimatio ad praxim, d. h. für den Nachweis des 
im Prozeß auftretenden Advokaten oder Anwaltes, daß er zur Ausübung der 
advofatorifchen oder Anwaltspraris befugt ſei. Dieſe Berechtigung tritt nach $ 20 
der Deutjchen Rechtsanwaltsordn. vom 1. Juli 1878 mit der Eintragung in 
die bei jedem Gerichte zu Führende Lifte der zugelafjenen Rechtsanwälte ein, und 
giebt das Recht, bei allen Gerichten des Deutichen Reichs Vertheidigungen zu führen, 
ala Beiltand aufzutreten und, ſoweit nicht Anwaltszwang bejteht, auch die Wer: 
tretung von Parteien zu übernehmen. 

Lit: Bethmann-Hollweg, Verſuche über einzelne Theile des Eiv.Prz., ©. 78 ff. — 
Planck, Diss. de legitimatione ad causam, Götting. 1837. — Linde, Ztidhr. für Eipil- 
recht und Prozeß, IIL 297 ff. — Krüger, Archiv für civ. Praris u wurtt i 

. Hinidhiuß. 


Prozeßleitung (Givilprozeß, v. Bar, Th. I. Suppl. ©. 6 ff.) bedeutet die 
auf Ordnung und Fortgang des Verfahrens und jeiner Handlungen und Verhand- 
lungen bejtimmend einwirfende richterliche Thätigkeit oder, wie Grolmann definirt, 
„die Summe der während des Laufes der Verhandlungen dem Richter obliegenden 
Pflichten, vermöge welcher er dafür zu jorgen hat, daß der Nechtäjtreit in der zweck— 
gemäßen und gefeglichen Ordnung betrieben, und alles, was zu Berwirrungen, Wer: 


Brozehleitung. 217 


jögerungen und unnöthigen Weitläufigfeiten VBeranlaffung geben könnte, vermieden 
werde". Die P. kann nah Grolmann fi bald negativ äußern, wenn fie 
der Form oder dem Inhalt nach fehlerhaften oder unzuläffigen oder verzögerlichen 
Handlungen entgegentritt, 3. B. den Antrag auf Verſäumnißurtheil zurückweiſt oder 
vertagt oder verjpätete Defenſionen des Beklagten oder verfpätete Beweismittel und 
Beweiseinreden auf Antrag zurüdweift, bald pofitid, wenn fie, im Anjchluß an 
die Eigenthümlichkeiten der bezüglichen Prozedurart, den Fortſchritt der Verhand— 
lungen fördert, 3. B. einen Beweisbeichluß erläßt, Termin zur Fortjegung der münd- 
lihen Verhandlung anjeßt, oder bei Aufhebung eines durch Berufung oder Reviſion 
angefochtenen Urteils die Sache zu weiterer Verhandlung und Entjcheidung an die 
frühere Inſtanz verweiſt. Grolmann Hat den Ausdrud PB. von J. H. Böhmer 
entlehnt, welcher die interlocutiones merae ala Defrete beitimmte, „quae ad direc- 
tionem processus pertinere videbantur“, und fie als folche den interlocutiones 
mixtsee und dem Endurtheil entgegenjegte. In Folge deſſen beſchränkte Grol— 
mann auch die P. auf den Lauf der Verhandlungen im Unterjchiede vom Ende 
urtheil, und? Gönner und Spätere erweiterten dieje Beichränfung zu einem 
Gegeniag zwiſchen P. und dezifiver richterlicher Thätigkeit überhaupt (vgl. d. Art. 
Gntiheidungen). Diejer Gegenſatz wie jene Beichränfung find jedoch verwerflich, 
da das Endurtheil, dem im Gemeinen Recht die executoriales eingefügt, nach der 
Deutihen EPD. die Volljtredungsklaufel angehängt werden ſoll, nur die Brüde zur 
Grefution bildet, bei welcher auch die Arbeitstheilung zwiſchen Gerichtsvollzieher 
und Gericht nur nmebenjächliche Bedeutung hat, wie v. Bar (a. a. D. ©. 1) hervor: 
bebt. Ihren natürlichen und einzigen Gegenjag hat die P. vielmehr ala Thätigkeit 
des Richters an der Thätigkeit anderer im Prozeß handelnden Perjonen, jomit vor 
allen der Parteien, deren Rechtsverfolgung von Anfang bis Ende des Prozeffes zu 
ihr in fortwährender Beziehung fteht. Die Stellung des Richter als Organ der 
Staatögewalt duldet feine Unterwerfung unter die Willfür der privaten Parteien, 
und eine leitende Ihätigkeit kann begrifflich Feine von fremdem Willen abhängige 
fein; wiederum aber find die Anfprüche und Rechte, welche die Parteien im Prozeß 
verfolgen, ihre Privatrechte, über welche ihnen die Dispofition zufteht: jo fragt fich, 
wie die Grenze zwijchen P. und Parteiendispofition zu beftimmen ift? Grolmann 
bezeichnete fie in der Weiſe, daß der Richter in der negativen P. jelbjtändig, in der 
vofitiven dagegen an die Anträge der Parteien gebunden jei, und Gönner, deſſen 
Unterfcheidung zwijchen refleftirender und jonjtiger richterlicher Thätigkeit freilich der 
Srolmann’fchen nicht ganz entjpricht, erklärt die erftere für jelbjtändig, die letztere 
aber von jeiner befannten Verhandlungsmarime für abhängig: der Richter 
ſei, ſoweit ihn nicht ausdrüdliches Gejeh oder die Natur der Sache zu jelbjtändiger 
offizieller Thätigfeit berechtigten, an die Anträge der Parteien dergejtalt gebunden, 
daß er, wann und joweit die Partei einen Antrag nicht gejtellt, zu handeln nicht befugt 
it und die Partei für verzichtend anzujehen habe. Erhellt aus diefer überall ein- 
greifenden Verzichtöpräfumtion, zu wie gefährlichen Konjequenzen die Theorie Grol- 
mann’s und Gönner’s binführt, jo ift der Grund für diefelbe einzig der, daß 
im Givilprozeß den Parteien die Dispofition über die von ihnen verfolgten Rechte 
zuſtehe, denjelben daher auch die Dispofition über die prozefjualen Wege und Mittel, 
fe zu verfolgen, geftattet jein müſſe. Diefe Folgerung ift jedoch eine verfehlte. 
Denn, mögen die im Prozeß verfolgten Rechte immerhin Privatrechte der Parteien 
feın, es ift die Staatöhülfe, die zu deren Realifirung beanjprucht wird, und jonad) 
iſt es auch Recht des Staates zu beftimmen, unter welchen Vorausſetzungen und 
Modalitäten er diejelbe gewähren will. Die Dispofition der Parteien über ihre 
im Prozeß verfolgten Rechte involvirt daher feine Dispofition über die Rechte des 
Staates und feiner Organe, der Gerichte, vielmehr jteht den letzteren prinzipiell die 
jelbftändige Handhabung der Prozekordnnung zu und fie haben fich von der Dispofition 
der Parteien nur injoweit leiten zu laſſen, al& der Staat und jeine Prozeßordnung 


218 Vrozehleitung. 


die ausdrüdlich vorfchreiben oder ihre Vorſchriften Lediglich das Parteiinterefie 
ichügen jollen, wie denn der Staat, abgejehen von Ehe: und Entmündigungsſachen, 
fein Intereſſe daran hat, ob eine Partei der anderen Gejtändniffe machen, ihre 
Privaturkunden anerkennen, ihr oder einem Zeugen den Eid erlaffen will, während 
3. B. gegen Zulaffung Meineidiger zum deferirten Eide auf Seiten des Schwörenden 
die Gefahr neuen Meineides, auf Seiten des Gegners die Möglichkeit der Benutzung 
der Delation, um den Delaten zum Meineid zu verleiten und in Strafe zu bringen, 
alfo fittliche Gründe von allgemeiner Bedeutung fprechen. Handelt es fich hier demnach 
um die Vorjchriften des Gem. Rechts und der Deutichen CPO., jo ergiebt fich für 
erftereg, was die negative P. zunächſt anlangt, die Richtigkeit der von Grolmann 
aufgejtellten Regel, daß der Richter bezüglich diefer Thätigkeit an den Antrag der 
Parteien nicht gebunden ift, jchon aus dem Grunde, daß der Richter nicht mur 
Nichtigkeiten, Chikanen und Berjchleppungen entgegenzutreten, jondern den Parteien auch 
die Rechtöverfolgung nur infoweit zu gejtatten hat, ala fich ihre Handlungen inner: 
halb der durch Geſetz und Sachlage gezogenen Grenzen bewegen, alio Tehlerhaite 
Handlungen zurüdzumeifen oder berichtigen zu laffen hat. Die Deutiche CPO., 
welche nach ausdrüdlicher Erklärung der Motive auf dem Boden der VBerhandlungs- 
marime jteht, was jedoch insbeſondere hinfichtlich der Regel: quod non est in actis, 
non est in mundo nicht ganz zutrifft, hat fich zur negativen P. verſchieden geitellt. 
Abweifung von Amtswegen ift gejtattet wegen Unzuläffigkeit des Nechtsweges, wegen 
jachlicher oder örtlicher Unzuftändigkeit aber nur, wenn die Sache vor einen aus 
ichließlichen Gerichtsjtand gehört oder die Klage bei der Kammer für Handelsjachen 
oder bei einem Gerichte höherer Inſtanz angebracht wurde oder die Sache feine ver- 
mögensrechtliche ijt, während in anderen Fällen, wenn die Sache vermögensrechtlicher 
Art ift, im Verfahren unter Anweſenden, weil hier ausdrüdliche Vereinbarung oder ftill- 
jchweigende durch Einlaffung möglich ift, Antrag oder Einrede zur Abweiſung er- 
fordert werden, im Berfäumnißverfahren dagegen nach der auch vom Neichögericht an- 
genommenen richtigen Anficht wieder Prüfung und Abweifung von Amtswegen ein- 
treten. Die Berichtigung von Mängeln der Legitimation fann im anmwaltäfreien 
Prozeß von Amtswegen veranlaßt werden, im Anwaltöprozeß die des Mangels der 
Vollmacht nur auf Antrag. Für Klage, für Berufungs-, Nevifions-, Einſpruchs— 
jäße find nothwendige Erforderniffe aufgeftellt; Mangel derjelben in der Klage führt 
in den jchriftlichen Prozedurarten zu forortiger amtlicher Abweifung, in den münd- 
lichen berechtigt er zwar zur Abweifung des Antrages auf Verſäumnißurtheil, aber 
nicht zur Weigerung von Terminsanjeßung und Verhandlung und jelbjt im Urkunde 
prozeß nicht zur Verſagung der Verurtheilung auf Anerfenntniß, wie er auch im der 
mündlichen Berhandlung verbeffert werden kann, eine Verbeſſerung, welche aber 
wiederum für die nothiwendigen Beftandtheile der Einſpruchs- Berufungs— umd 
Revifionsjähe nicht gilt. Verſpätete VBertheidigungsmittel, Zeugenbeweije und Editions 
gefuche gegen dritte Perfonen können nur auf Antrag zurüdgewiefen werden, anderer: 
jeits aber hat man aus dem Grundjaße freier Beweiswürdigung, der fich jedoch nur 
auf das Ergebniß aufgenommener Beweife, nicht auf die Frage der Erforderlichkeit 
derjelben bezieht, für den Richter das Recht ableiten wollen, bei Auflage der Notheide 
fruftratorifc) angebotene Beweife von Amtswegen beifeitezufegen, welche amtliche 
Beijeitefegung dagegen bei Werthbejtimmung des Streitobjefts und bei Schadensklagen 
gejtattet ift. — Bezüglich der pofitiven P. ferner erleidet zunächſt die Regel: 
non procedat judex ex officio im Gem. Recht jchon für die ordentliche Prozedur, 
gejchweige denn für die unter dem Geſetze freiejter P. ftehende unbejtimmt ſummariſche 
Prozedur und den Konkursprozeß, durch die Pflicht des Richters für Beobachtung 
der substantialia judieii, daher namentlich auch für Negulirung der Legitimationen 
mit Einſchluß von Kuratoren- und Anmwaltöbeitellung zu jorgen, ferner durch An- 
ordnung von Verbindung, Trennung, Reihenfolge und Siftirung der Prozeffe, ſowie 
Abzweigung don Jnzidentverhandlungen, durch den Grundfag des wechjeljeitigen 


Prozehleitung. 219 


Gehör und der mit ihm zufammenhängenden Abgebung und Bekanntmachung von 
Ladungs- und Kommunifativdekreten, durch Erlaß von Emdurtheil oder Beweis— 
interlofut jfammt Normirung, Anordnung und Leitung der Beweiß- bzw. Gegen- 
beweisführng , durch Ladung oder Anordnung von Zwangsmitteln gegen Zeugen, 
Vereidigung und Vernehmung von Zeugen nach oder ohne vorgängige Abgabe eines 
Produktionserfenntniffeg u. dgl. m., jo viele Ausnahmen, daß bereits Bayer die 
Geltung der Gönner'ſchen Regel für den ordentlichen Prozeß verworfen hat. Es 
it vielmehr im Gem. Recht wejentlich von der offiziellen PB. auszugehen, und im 
Anſchluß an Mevius und I. H. Böhmer und im Anhalt daran, daß im Ge- 
meinen Prozeß urfprünglich nur für die Klage ein Antrag erforderlich war, daß jpäter 
das Interefje an möglichjt eigener Wahmehmung der Rechte die Anwälte den Antrag 
an jedes NRechtäverfolgungamittel hat anhängen laſſen, Gejeg oder konſtanter Ge- 
brauch oder communis opinio doctorum aber die Nothwendigfeit nur für wenige don 
ihnen beftätigt haben, ein Antrag nur zu fordern: für die Geltendmachung materieller 
Ansprüche, aljo für die Klage und die Judikatsklage oder das Exekutionsgeſuch, 
für Koftene, Armenrechts-, Arreft- und Kautionsanfprüche mit Ausnahme der aud) - 
von Amtöwegen zu erfordernden Kaution für Arreitanlagen, jodann für Editions, 
Interventiond- und Reafjumtionsanfprüche, für die den Klagen gleichbehandelten 
Rechtämittel und Provofationen, ferner für Dilationen und Prorogationen, für 
peremtorische Auflagen und für Erkennung peremtoriih vom Richter angedrohter 
Ungehorfamönachtheile, während andere Ungehorjamsnachtheile ipso jure eintreten. 
BVergleiht man damit die Beitimmungen der EPD., jo ift zuvörderſt hervorzuheben, 
daß fie eine prinzipielle Regelung, wann auf Antrag und warn von Amtswegen 
zu handeln fei, nicht getroffen, fondern die Trage nur im Einzelnen, aber wiederum, 
wie 3. B. die Vorfchriften der 88 74, 266, 269 ergeben, nicht überall entjchieden 
bat, jo daß die Frage entjteht und von Jedem nach jeinem Sinne beantwortet 
werden wird, ob der Richter fofort von Amtswegen die Berlefung der Anträge aus 
den Schriftfägen verordnen, eine Glaubhaftmachung ohne jofort aufnehmbare Be- 
mweismittel als unftatthaft ohne Antrag verwerfen, auf eine Hlagefchrift im Anwalts— 
prozeß, welche nicht von einem zugelafjenen Anwalt abgefaßt ift, den Termin an— 
feßen und den Antrag aus derjelben im Termin verlejen laffen darf. Hiernach die 
Beitimmungen im Ganzen angejehen, läßt fich allerdings nicht leugnen, daß das 
Gebiet des Antrags und der Parteiinitiative Erweiterungen erfahren hat. Ein Theil 
derjelben hängt jedoch mit Neuerungen zujammen, welche die CPO. getroffen: jo das 
Erforderniß der Einrede bei Mängeln der Vollmacht im Anwaltsprozeß und die 
Zulaffung der Partei zum Worte neben ihrem Anwalt, jodann die in Konſequenz des 
Selbftbetriebes der Parteien eingeführten Parteiladungen und Parteizuftellungen (val. 
die Art. Ladung und Zuftellung) jammt den Anträgen auf Beicheinigung der 
Rechtäfraft und auf Ertheilung vollftredbarer Ausfertigungen, den Klagen auf Voll— 
ſtreckungsklauſel oder auf Volljtredungsurtheil, den Einwendungen gegen die Voll- 
ſtreckungsklauſel und den Klagen aus folchen Einwendungen, ferner die Klagen aus 
Einwendungen gegen den Anſpruch, die Klagen auf Vorzugsbefriedigung, ferner die 
Feſtſtellungs- und Inzidentjeftitellungsflagen, die Anträge auf Verweifung vor das 
zuftändige Gericht, der Widerfpruch gegen erklärte Nebenintervention u. dgl. m. Als 
gänzliche oder theilweije Abänderungen der oben dargelegten gemeintechtlichen Berhältnifje 
ſtellen fich dagegen dar: die Anträge auf außerordentliche Progedurarten, die Anträge 
auf Verhandlung der Hauptjache nach Verwerfung der ſog. prozeßhindernden Einreden 
und auf Verhandlung über den Betrag des Anſpruchs nach anerfennender Enticheidung 
über feinen Grund, der aus eigener Initiative von der Partei zu erhebende Wider: 
ipruch gegen angelegte Arreite, die Nothwendigkeit der Anfechtung von nicht be= 
alaubigten Vollmachten, der Wegfall der Anträge auf peremtorifche Auflagen, wenn- 
aleich fie in den Gefuchen um Zahlungsbeiehle und Aufgebote noch implieite ent= 
halten find, der Wegfall der Präflufion für Verſäumniß der Anmeldefrift im Konkurfe 


220 Prozehleitung. 


und bei Aufgeboten und der Widerjpruchsfrift bei Zahlungsbefehlen, das Gintreten 
der Verſäumnißfolgen frait Gejeges, "mit Ausnahme aber der Anträge auf dieſe 
Folgen bei Nichtleiftung beantragter KHautionen, bei Schweigen zum Reaffumtions- 
antrage, bei Ausbleiben im Schwurtermin und in der mündlichen Verhartdlung aller 
Snftanzen. Zu den hierin gelegenen Beichränfungen des Umfangs der offiziellen P. 
fommen jedoch noch diejenigen hinzu, welche aus der Vereinbarung der Parteien 
folgen, die, abgejehen von Ehe: und Entmündigungsjachen, bald als ausdrüdliche, 
bald als jtillichweigende von der EPD. zugelaffen ift: für das Beruhenlaſſen des 
Prozeffes, abgejehen vom Lauf der Nothfrijten, für die Aufhebung von Terminen, 
für Verlängerung und Berkürzung der Frijten mit Ausnahme der Nothirijten, für 
jachliche oder örtliche Zuftändigkeit des Gerichts im oben angegebenen Umfange und 
fofern nicht die Erhebung einer vor die Givilftammer gehörigen Widerflage die 
übereinftimmend beantragte Verweifung vor die Kammer für Handelsſachen aus— 
jchließt, ferner für Ericheinen der Parteien vor Amtsgerichten an ordentlichen Gericht#- 
tagen zum Anbringen und Berhandeln ihrer Sachen ohne Yadung und Termine 
beitimmung und für fofortigen Uebergang von vergeblich gepflogenem Güteverſuch zu 
gleichem Anbringen und Berhandeln vor dem Amtägerichte, jodann für die Menderung 
der Klage, für die Zurüdnahme der Klage, der Berufung, der Revifion nach erfolgter 
Ginlaffung des Beklagten auf die Hauptjache bzw. auf die Berufungs- oder Revifions- 
lage, für Fallenlaffen von Zeugen, nachdem fie erjchienen find, für Zurüdnahme von 
Urkunden nach erfolgter Vorlegung, für die Auswahl von Sachverftändigen vor: 
behältlich gerichtlicher Beichränfung ihrer Zahl, für den Grlaß des Zeugen» und 
Sacdverjtändigeneides, für Eidesdelation an Meineidige, für Inhalt und Norm endlich 
des Eides, jofern derjelbe nur auf Thatfachen geitellt ift. Eine weitere Beichränfung 
erleidet das Dffizialprinzip durch den Verzicht, wie er, abgejehen vom Verzicht au 
den Anfpruch, und theilweife unter Ausschluß von Ehe- und Entmündigungsfachen, 
von der CPO. geftattet wird: bezüglich der Prozehart, der Thatjachen, der Beweis: 
und Gegenbeweismittel, der Einreden, foweit nicht von Amtswegen zu berüdfichtigende 
Punkte (ſ. d. Art. Einlafjung) in Betracht fommen, in Abficht jerner auf Be: 
jtreitung von Thatſachen und Beweismitteln, auf Verfäumnißanträge, Exekutions— 
anträge, Rechtsmittel, Einſpruch und Anfechtungsklagen; insbeſondere joll ein Ber: 
ziht auch in Unterlaffung rechtzeitiger Rüge der Verlegung von Vorſchriften umd 
Formen des Verfahrens gefunden werden, durch welche Beitimmung in höherer 
Inſtanz die Nemedur von Amtswegen gegen die meiften der in den früheren In: 
ſtanzen vorgefallenen Nichtigfeiten ausgejchloffen if. Was hiernach, alfo nach Abzug 
von Antrag und Parteiinitiative, von Wereinbarung und Verzicht der Parteien, 
erübrigt, das fällt ala Gebiet der amtlichen Initiative anheim, und zwar in der 
Weile, daß joweit e8 an dem erforderlichen Antrage oder der nöthigen Partei: 
initiative mangelt, mit Gönner Verzicht anzunehmen ift, während wo die Rechte 
der Vereinbarung und des PVerzichts nicht geübt find, die richterliche Initiative an 
fich nicht behindert ift, wenn fie nicht durch die Nothwendigkeit der Parteiinitiative 
und des Antrags überdies beichränkt fein ſollte. Die Einzelbeftimmungen der CPO. 
und der KO. angejehen, gehört zum Gebiete der offiziellen P.: die Anberaumung, 
Verlegung und Bertagung von Terminen und die Anjegung der Friſten mit Aus» 
nahme von Nothiriften und der nach Anfang und Dauer bejtimmten gejeßlichen 
Friſten, die Verkündung der Urtheile und der auf Grund mündlicher Verhandlung 
ergebenden Beichlüffe und Berfügungen, die Zuftellung der nicht verfündeten Be: 
jchlüffe und Berfügungen und der Ehetrennungsurtheile, die Bejtellung von Ber: 
tretern für unbekannte Probaten bei Sicherung des Beweifes und für Lehrlinge, 
Arbeiter, Dienftboten ꝛe. bei Klagen im Gerichtäftande des Aufenthalts, die An— 
ordnung der Beitellung von Zuftellungsbevollmächtigten für Gerichtsauswärtige , die 
Beitellung von Rechtsanwälten für Arme und für Entmündigungsbellagte behuis 
Anfechtung der Entmündigung und verjagter Wiederaufhebung, einftweilige Zulafjung 


PBrozehleitung. 221 


nicht progeßiähiger oder der Ermächtigung ermangelnder Vertreter, Entjcheidung über 
Kautionsleiftung nicht mit Vollmacht verjehener Vertreter, Zurüdweifung von Wintel- 
advofaten, Dispenfation von Gerichtöperfonen wegen Ausjchließung kraft Geſetzes 
oder Beiangenheit ; die etwaige Anordnung mündlicher Verhandlung bzw. Anhörung 
der Betheiligten oder des Schuldners oder Gegners bei Ablehnung oder Dispenfation 
von Gerichtäperfonen oder Sachverftändigen ꝛc. bei Bebürdung von Gerichts- 
ſchreibern ꝛc. mit Prozeßkoſten, bei Feitiegung der Prozekkoften und Armenrecht, bei 
Anlegung von Arrejten und Proviforien, bei Beſchwerden zc.; fodann die Eröffnung, 
Schließung, Wiedereröffnung der Verhandlung in den Terminen, die Gewährung und 
Entziehung des Wortes, Zulaffung des Deutjchen nicht mächtiger ‘Parteien zum Wort 
im Anwaltsprozeß, Zulaffung tauber Parteien zum Vortrag, Zuziehung von Dolmetjchern 
jur Berftändigung mit tauben, jtummen und des Deutjchen nicht mächtigen Per- 
ionen, Unterfagung weiteren Vortrags wegen Unfähigkeit außer bei Rechtsanwälten, 
die Einhaltung der Deffentlichkeit und deren Ausſchließung bei Gefahr für öffentliche 
Rube und Sittlichkeit und bei Vernehmung Entmündigter im landgerichtlichen Ver— 
fahren, die Anordnung der Verbindung, Trennung, Reihenfolge und Siſtirung der 
Prozefje, der abgejonderten Verhandlung in Rechnungs= und ähnlichen Sachen und über 
einzelne Angriffe und Bertheidigungsmittel, insbejondere über progeßhindernde Ein— 
reden, Wiedereinjegung und Wiederaufnahme; Anordnung der Berlefung der An- 
träge im Anmwaltsprozeß ; Ginjegung von Kommiffarien und Requifition von Gerichten 
für Bernehmungen, für Beweisaufnahmen und in Rechnungs= und ähnlichen Sachen; 
Beweisaumahme und Anordnung jolcher durch Beweisbeſchluß; Ladung, Beitrafung, 
Verwarnung, Bereidigung und Vernehmung von Zeugen und Sachverſtändigen 
u. dgl. m. — Wenn biernach, joweit nicht Neuordnungen vorliegen, gegenüber den 
dargelegten Grundſätzen des Gem. Rechts fich in der That eine theilweife Erweiterung 
des Dispoſitions- und Antragsprinzips bezüglich der P. ergiebt, jo erhellt, daß auch 
die Regel: non eat ultra petita partium, welche im Gem. Recht für Sachgejuche 
ausnahmslos, für Prozeßgejuche dagegen nach den Regeln: jura novit curia und 
index de jure semper supplere potest nicht gilt, in der Deutichen CPO., die 
iedoch für die Erftattung der Prozeßkoſten feinen Antrag fordert, gleichjalls eine Er- 
weiterung erfahren haben muß. Denn wo die Enticheidung an den Antrag gebunden 
ift, würde jede über den Antrag binausgehende Entjcheidung zu einer nicht bean= 
tragten werden. Gin Antrag auf Verkürzung der Einlafjungsfrift bis auf drei Tage 
berechtigt darum nicht zur Verkürzung bis auf einen Tag, und Berufungs- und 
Revifionsanträge, wenn fie Aufhebung des Verfahrens, aber nicht bis zum ver- 
[egenden Akte zurüd beantragen, werden nicht ex officio ergänzt werden dürfen, 
fondern wo fie verfehlt find und fein Intereſſe haben, zurückgewieſen werden müfjen, 
wogegen bei Bejchwerde und Wiederaufnahme nicht die Anträge, jondern die Be— 
ihwerdegründe maßgebend find. — Endlich das Vorbringen der Parteien anlangend, 
io liegt e8 in der Natur der Sache, daß die Parteien Thatjachen und Beweije, auf 
twelche fie ihre Rechtsverfolgung gründen, dem Richter, der ihre Verhältniffe nicht 
fennt, an die Hand zu geben haben. Aber die Frage ift die, ob der Richter fich 
lediglich an das von den Parteien VBorgebrachte zu halten verpflichtet ift, oder ob 
er die Parteien auf Lüden, Fehlgriffe, Zweitelhaftes mittels des jog. Fragerechts, 
welches Wac zutreffend ala Recht, mit der Partei überhaupt zu fprechen, erklärt, 
aufmerffam machen und fie dadurch zu Aufflärungen, Berichtigungen und Ergänzungen 
veranlaffen darf und ob er wol gar zu jelbjtändigen Ermittelungen und zu Berichtigungen 
und Ergänzungen nach eigenem Willen zu jchreiten befugt ift. Gönner hat fich für 
die erftere Alternative auf die Regel: quod non est in actis, non est in mundo be= 
rufen, welche jedoch dem Richter eine Paffivität aufnöthigt, die ihn zu Gunften jelbit 
einer ſolchen Partei zu entjcheiden zwingt, welche offen erklärt, mit der Wahrheit 
und entscheidenden bejtimmten Beweismitteln zurüdhalten zu wollen. Wie weit 


222 Prozeileitung. 


jene angebliche Regel für einen anerfannten Rechtsgrundſatz oder vielleicht für ein Sprüch— 

wort zu halten jei, welches nur eine verkehrte Richtung der P. kennzeichnen follte, mag 

dahin geftellt bleiben: aber mit Recht ift es von Wetzell betont worden, daß fie, 

von ihrer Beziehung zur Schriftlichkeit entkleidet, nichts Anderes beſage, als die ältere, 

durch Gejeß und Weberlieferung bejtätigte Glofjatorenregel, daß der Richter non 

secundum conscientiam suam, sed secundum allegata et probata judicare debet. 

Verfolgt man dieſe Regel, deren Schwerpunft in der Negation: non secundum 

conscientiam suam liegt, genauer, jo haben die Prozeffualijten jeit ältefter Zeit dem 

Richter niemals geftattet, de facto sibi ut privato noto zu ergänzen, und wenn 

A. Heuädler in feinem ſonſt wohl berechtigten Gegenjag zur Berhandlungsmarime 

dem Richter die Benußung feiner Privatkenntniß zugeftehen will, jo überfieht er, daß 

Richterpflicht der Zeugenpflicht nachjteht und Entjcheidung des Richters nach feinem 

privaten Wiffen feiner willfürlichen Enticheidung die Thore öffnen würde. Immer 

dagegen Hat der Richter de facto sibi ut judici noto et de jure supplere dürfen, 

und wie er in lebterer Beziehung das vorgebrachte Material unter andere Aktionen, 

Einreden und Rechtsfategorien, als die von der Partei gewählten, zu bringen ſtets 

berechtigt erachtet worden ift, jo hat man ihn in erfterer im Gem. Recht auch bis 

heute für befugt angejehen, notoria zu ergänzen und fich des Augenfcheins und der 

Sachveritändigen jelbjtändig zu bedienen, wie auch das Fragerecht ſtets Für zuläffig 

gegolten Hat, wenngleich die Schriftlichkeit des Verfahrens feine Hebung zurüd- 

gedrängt. Das supplere de facto sibi ut judici noto greift aber offenbar noch 

weiter aus, und der Richter wird jelbit ſolche Thatſachen und Beweismittel benußen 

dürfen, auf deren Exiſtenz ihn die Verhältniffe der Sache oder Akten, Urkunden, 

Zeugen und nicht die Parteien bingewiejen haben. Auch die Deutihe CPO. hat 
jich nicht mit der bloßen Paifivität des Richters begnügt. Sie legt ihm das Trage 

recht gegen die Parteien bei zur Grläuterung unflarer Anträge, zur Ergänzung un- 
genügender thatjächlicher und Beweismittelangaben und zur Herbeiführung aller für 
die Fyeititellung des Sachverhältniffes erheblichen Erklärungen und verpflichtet ihn 
im Amtögerichtöverfahren jogar, auf Stellung jachdienlicher Anträge, volljtändige 
Angabe aller erheblichen Thatjachen und volljtändige Erklärung über fie hinzuwirken 
(j. d. Art. Amtsgerihtliches Verfahren). Um dieſem Fragerecht, welches 
im mündlichen Verfahren zu freier Entwidelung gelangen kann und von welchem 
die Motive unter Anderem mit Recht die Bejeitigung der Abweifung angebrachter: 
maßen für viele Fälle erwarten, Nachdrudf zu verleihen, darf auch das perfönlice 
Gricheinen der Parteien zur Aufllärung der Sache verordnet werden, in Eheſachen 
eventuell unter Anwendung der Strafen und Zwangsmittel gegen Zeugen mit Aus: 
nahme der Haft, gegen den Konkursſchuldner auch unter Zulaffung diefer, in anderen 
Sachen unter naturgemäßer Berücfichtigung der Weigerung bei freier Beweis: 
würdigung, Auflage der Notheide und Softenentjcheidung. Im Beweispunfte jodann 
darf das Gericht alle bei ihm offenkundigen Thatjachen ergänzen, die Vorlage der von 
einer Partei angezogenen, in ihrem Befige befindlichen Urkunden jeder Art, aljo aud 
der Rechnungsbücher, die Vorlage im Beſitze der Partei befindlicher, auf Verhandlung 
und Entjcheidung der Sache bezüglicher Akten, die Einnahme eines Augenjcheins, 
der allerdings wol an den in Händen der Parteien befindlichen oder öffentlich zu— 
gänglichen Gegenftänden von urkundlicher Bedeutung einjchließlich des Prozeßobjekts, 
jowie nach dem Deutichen HGB. der Vorlage des Maflerjournals jeine natürlichen 
Grenzen bat, und Begutachtung durch Sachverjtändige von Amtöwegen anordnen, 
auch Zeugen zur Angabe des Zujammenhanges, in welchem die von ihnen zu be 
fundenden Thatjachen ftehen, und des Grundes ihres Willens veranlafien. In Ent: 
miündigung®= und, ſoweit e& für Erhaltung der Ehe in Betracht fommt, auch in 
Ehejachen, jowie im Konkursverfahren jteht dem Gerichte das Recht freier Ermittelung 
zu, bzw. vorbehältlich des Gehörs der Parteien oder des Beklagten allein. 


Brozehitrafen. 223 


uellen: Die GVG. $} 103 fi., 170 f 187 fi. — Deutſche CPO. SS 3, 19, 
fi., 38 fi., 41 fi., 46, 48, 54 ff., 68, 74 ff. 97, 99, 105 ff., 117, 126 ff., 130 ff., 
„160, 187, 192 ‚195, 201 ff, 209, 216 ij, — 926, 230 dl 241 ff., 247 ff., 250 ff., 
59 ‚264, 266 ff., 272 ff., 6 ff., 981, 288, 288, 290 Ff., 294 ff., 300, 302, 304, 306, 
311, 313 ff., 317 ff., 320 ff., Ss 329, 332 ff., 387, 339 ff., 342, 354 Hi, 361, 363 ff., 
3%7, 369, 371, 373 ff. 376 ff., 391 401, 407, 415, 419, 422 ff, 425 ff., 429 ff., 435, 439, 
Mit, 451, "455, ar 464 ff. 471, 475 ff., ‚486 ff., 490, 492, '497 fi., 503 ff., 506, 510, 
514, 521 ff., 529 ff, 532, 536 ff., 540 f., 552 ff, 556 ff. 559 ff. 568, 570, 577 ff., 583, 
595, 597 ff., 600, 6092, 605, 610 ff., 616 ff., 619, 621, 623 ff, 630 fi, 639, 641, 648 ff., 654, 
660, 662, 667 ff., 668) 671, 684, 666 ff., 690, 698 ff., 701, 704 ft; 710, 729 f., 739, 742, 
738, 159, 769, 776, 786, 7192 ff., 00 ff, 804, 806, 812 fr., 816, 820, 824, 529 ff., 834; 
co. $ 13 Nr. 2; Mot. ©. 38, if 133 ff. — Verhandl. ber Yuftizlommif. bei Hahn, 
Materialien, ©. 667 ff., 1134 ff., les ff. — Deutihes HGB. Art. 79. — Deutihe HD. 
$$ 66 ff., 70 ff., 79, 84 f- 93, 95 ff., 102 ff. 108, 126, 130 ff., 150. —11.8,9D.1, 18. — 
L18 D. 10, 3. — Tit. .2, 11. — Ll. 9,13 C. 3, 1. — Diet. Grat. ce. 17 C.2 qu. 1. — 
eilC. 3 qu. 5. — c. —— 2, 22. — c. 2 in Cl. 5, 12. — IRA. SS 34, 159. Grub 
Ale. Ger.D. Th. I. Fit. 3 SS 7, 11; zit. 9 $ 38; Tit. 10 88 2, 56, 91, 380 ff. 

git.: Hänel, Diss. Dominn. 268 sq. — 'Tancredi ordo II. 8, 5. — Bonaguida 
8. off, adv. IV. 2, — Durantis, Spec. Lib. II. P. I. de off. omn. ‚Jud. Lib. II. P. n. de 
disput. et alleg., S 6. — D. Mevius, Deeisiones, P. VII. D. 155. — J. H. Böhmer, 
J.E.P. I. 32 SS 1 sq,, 11, nr a ‚29. — Grolmann, Theorie, SS 2, 3, 78, 123—137. — 
Gönner, Hanbb., I. Abh. 8 — Genäler, Handbuch 3. Martin, Abh,, II. $h. — 
Sagmann, Prarig, S. 2 “ — Bayer, Or. Pr, s 12 — Briegleb, nl, 
gen — MWepell, Syſt. SS 43, 56. — Wieding, Lib.Prz. ©. 706 ff., 
uther, Münd). Krit. D.I.Chh. IX. 340 fi, 354. — Verhandlungen bes 9. — 
An 3b. II. — Thüring. Bl. für Rechtäpflege Bd. XVII. ©. 170. — — 
für Sachſen Bd. XXXVI. ©. 131. — Bradenhöft, Erört. zu Linde's Lehrbuch, 
. 855 fi., 459 fi. — Sint, Sadjverhalt, S. 99, 157 fi., 354 ff. — v. Ganftein, Gie 
tatiomellen Grundlagen, S 169 ff.; — _ Münchener Krit. V.J.Schr. XIX. ©. 74. — 
Build, Stier. für Deuter Giv.Pr;. Bd. I. ©. 35 ff. (Baron). — Hanjer, Ztichr. für 
Sandesreht, 3 . Jahrg., ©. 341 fi, 391 ff. — Archiv für civ. Prar. Bd. 62 ©. 79 
(©. Bülom), €. 240. 26 f., 270 ff. (A. Heusler), ©. 391 ff. Wad) — Wad, Vor: 
träge über bie RERO,, 39 ff., 148 fl. — Entſcheid. des Reichsger. in Civilſachen Bd. I. 
S. 438 ff. — Fitting, Eid. Prz., $ $ 36. — Die Komment. 3. Deutihen CPO. und KO. 1. 

8. Wieding. 


Prozeßſtrafen find diejenigen bejonderen Nachtheile, welche einer Prozeß— 
vartei auferlegt werden, weil fie fih Streitmuthwillen zu Schulden fommen läßt. 

Die im Röm. Rechte am häufigjten erwähnte PB. (über die P. des vor— 
juftinianifchen Rechts vgl. Gaius IV. 171—182; Puchta, Kurſus, I. S 157; 
über die des Jujtinianifchen Nechts ſ. Inst. 4, 16) des Duplum in Folge ver— 
geblichen Leugnens gegenüber gewiſſen Klagen wird ſchon gemeinrechtlich als un— 
praftijch erachtet (f. Wetzell, Syſtem des Civ.Prz., 3. Aufl. 8 30 ©. 310). 

Die EPD. für das Deutjche Reich kennt P. im eigentlichen Sinne nicht, wenn 
man nicht die Vorſchriften der 88 251, 252, 256 hierher rechnen will, wonach die 
Verzögerung des DVorbringens von Angriffee, Beweis= und Vertheidigungsmitteln 
die Meberbürdung der Prozeßkoſten troß Obfiegens in der Sache jelbjt zur Folge 
haben und die Geltendmachung von Bertheidigungsmitteln ausgeſchloſſen werden 
kann , welche nachträglich vorgebracht werden, deren Zulafjung den Prozeß verzögert 
und von denen das Gericht überzeugt ift, daß fie in der Abficht der Prozek- 
verichleppung oder aus grober Nachläffigkeit nicht früher vorgebracht wurden. Ins— 
befondere find die den neueren Prozeßgefegen bekannten ſog. Frivolitätzftrafen wegen 
muthwilliger Erhebung des Rechtsmittels an den höchſten Gerichtshof im Deutichen 
Bivil- und StrafPrz. in Wegfall gefommen. 

Auch können nicht ala Progepftraffagungen in dem oben definirten Sinne die 
Beftimmungen der CPO. angejehen werden, wonach die Partei, welche einen Termin 
oder eine Friſt verfäumt, die Verlegung eines Termines, die Vertagung einer Ber: 
handlung, Die Anberaumung eine Termines zur Fortfegung der Verhandlung, die 
Verlängerung einer Haft durch ihr Verfchulden veranlaßt, eines Angriffe oder Ber: 
theidigungsmittele ohne Erfolg fich bedient, die hierdurch veranlaßten Kojten zu 


’ 


224 Prozehbollmadt. 


tragen bat oder der Prozeßbevollmächtigte, Gerichtövollzieher, Gerichtsjchreiber ıc. in 
die durch feine lata culpa verurjachten Kojten verurtheilt werden fann. Denn & 
iehlt in beiden Fällen an dem Progeßmuthwillen einer Partei. 

Dagegen jtellt das Gerichtsfoftengefeß für das Deutiche Reich vom 18. Juni 
1878 neue Prozeßitrafandrohungen auf. Indem es ‚nämlich in $ 47 eine Anzahl 
von Prozeßhandlungen von der Gebührenpflicht erimirt, beſtimmt es zugleich in Abi. 2, 
daß die sub Ziff. 2, 4, 5, 6, 7, 10 des $ 47 Ab. 1 aufgeführten Prozeßhandlungen 
mit einer Gebühr belegt werden fünnen, wenn das bezügliche Verfahren nach freiem 
Ermeſſen des Gerichts muthwillig veranlaßt ift. 

Außerdem find unter die P. auch jet noch gewifje Nachtheile, welche das 
Givilreht Hinfichtlich der Beweislaft an das unberechtigte Leugnen des Klage— 
grundes anfnüpft, zu rechnen. Dahin gehören nach Gem. Rechte folgende Fälle: 

1) Wenn der mit der rei vindicatio belangte, den Beſitz leugnende Beklagte 
des Beſitzes überführt wird, kann der Kläger Uebertragung des Befiges verlangen 
und die Rolle des Beklagten übernehmen (f. Arndts, Pandelten, $ 166). 

2) Der mit der rei vindicatio belangte Beklagte, welcher das von Kläger be 
hauptete Eigenthum des Autors leugnet und den Kläger zum Beweiſe zwingt, iſt 
mit der Ginrede, daß ihm ein von dem gleichen Autor abgeleitetes jus in re zu: 
jtehe, ausgefchloffen (Windicheid, Pandekten, $ 197 Note 1). 

3) Den mit condictio indebiti belangten Bellagten, der die Zahlung leugnet, 
trifft, nachdem fie bewiefen ift, die Beweislaft des indebitum (1. 25 pr. D. 22, 3). 

4) Der Bürge, der die Bürgſchaft leugnet, derjelben aber überführt wird, ver- 
liert da& beneficium excussionis, der socius, welcher die Sozietät leugnet, das bene- 
firium competentiae, der mit actio de pauperie belangte Eigentümer des Schaden 
tiftenden Thieres das Recht der noxae datio, wenn er das Eigenthum an dem 
Thiere in Abrede geftellt Hat * 10 8 1D. 46,1; 1.6783 D. 17, 2; 1. 22 
$1D.42,1;1.1815D. 9,1; Wetzell, Syftem des Giv.Prz., 3. Aufl. S. 311). 


Hellmann. 


Prozeßvollmacht bedeutet ein doppeltes: einmal die Machtbefugniß zur 
Durchführung des Prozefies Namens einer Partei, ſodann die jene Machtbefugniß 
übertragende Urkunde. Derjenige, welchen eine Partei mit jolcher Machtbefugnik 
ausjtattet, ift der Prozeßbevollmächtigte. Die Aufitellung eines Prozeßbevollmächtigten 
ift nach den Beitimmungen der Deutichen CPO. theils nothwendig, theils freimillig. 
Nothwendig ift diefelbe im Berfahren vor den Yandgerichten und allen Gerichten 
höherer Inſtanz, mit anderen Worten im Anwaltsprozeß (j. d. Art. Anwalts: 
proze$). Im Verfahren vor den Amtägerichten oder einem beauftragten oder 
erfuchten Richter und wo das Gejeh die Vornahme einer Prozeßhandlung zum 
Protokoll des Gerichtsjchreibers gejtattet, hängt es von dem Willen der Partei ab, 
ob fie perfönlich handeln oder fich durch einen Bevollmächtigten vertreten lafien will. 
Bevollmächtigter kann nur eine progekfähige Perjon fein. 

Der Umfang der Vollmacht für den Prozeß umfaßt alle den Rechtsjtreit be- 
treffenden Prozeßhandlungen, einjchließlich derjenigen, welche durch eine Widerklage, 
Miederaufnahme des Verfahrens und die Zwangsvollitredung veranlaßt werden, die 
Beitellung eines Vertreters für die Inſtanz und eines Bevollmächtigten für bie 
höhere Inſtanz, die Befeitigung des Rechtsjtreites durch Vergleih, Verzicht, An— 
erfennung, die Empfangnahme der Prozeßkoſten (EPO. 88 74—77). 

Dagegen liegt die Beiugniß zur Empfangnahme des Streitobjelts nicht ſchon 
in der allgemeinen P. 

Die Vollmacht für den Hauptprozeß umſaßt von Rechtswegen die Vollmacht 
für eine etwaige Hauptintervention und das einen Arreſt oder eine einſtweilige Ver— 
fügung betreffende Verfahren. 


Prüfungsredt. 225 


Der gejegliche Umfang der P. kann mit Wirkung gegen Dritte, insbeſondere 
den Prozeßgegner nicht eingejchränft werden, außer Hinfichtlich der Befugniß zum 
Vergleih, zum Verzicht und zur Anerkennung. Bei einer Mehrheit von Bevoll- 
mächtigten Hat jeder Einzelne das volle DVertretungsrecht; eine entgegengejehte Be— 
fimmung ift wirkungslos. Die Handlungen des Bevollmächtigten gelten als Hand- 
lungen der Partei; doch kann die miterfchienene Partei Geftändniffe und ſonſtige 
thatfächliche Erklärungen des Bevollmächtigen ſofort widerrufen oder berichtigen, 
Die Beiugniffe des Prozeßbevollmächtigten werden durch den Tod des Vollmacht: 
gebers, durch eine Veränderung feiner Prozekfähigkeit oder feiner geſetzlichen Ver— 
tretung nicht aufgehoben, vorbehaltlich der Beitimmungen über die Ausſetzung des 
Verfahrens (8$ 217 ff. der CPO.). Wenn der Bevollmächtigte nach der Ausſetzung 
für einen Rechtsnachiolger auftritt, jo bedarf er der Vollmacht des Lebteren. Auch 
die Kündigung der Vollmacht Hebt die Berugniffe des Bevollmächtigten gegenüber 
dem Prozeßgegner nicht vor deren Anzeige an den Lebteren und im Anwaltsproze 
nicht eher auf, als ein anderer Anwalt von feiner Beitellung ala Prozekbevoll- 
mächtigter dem Gegner Anzeige gemacht hat (EPO. 88 78—83); wo es eines Nach— 
weijes der Bevollmächtigung bedarf, muß derjelbe durch Vorlage einer Bollmachte- 
urfunde und Webergabe derjelben zu den Gerichtsakten erfolgen. 

Der Prozeßgegner kann verlangen, daß die private Vollmachtsurkunde ge- 
richtlich oder notariell beglaubigt werde. Als genügende jchriftliche Vollmacht ift 
es zu erachten, wenn die anmejende Partei die Bevollmächtigung zum Sitzungs— 
protofolle erklärt (Motive zu 88 74— 81 des Entw. der CPO.). Beim Be- 
glaubigungsaft bedarf es weder der Zuziehung von Zeugen noch der Aufnahme eines 
Protokolls. Deffentliche Behörden oder Korporationen, welche für ſich oder ala 
Vertreter des Staates ıc. einen Nechtäftreit zu führen haben, können die Bevoll- 
mächtigung unter eigener Autorität öffentlich beurfunden (vgl. Komm.-Protokolle 
S. 659, 660). 

Eines Nachweifes der Vollmacht bedarf es unter folgenden VBorausjegungen : 
a) So oft der Gegner den Mangel der Vollmacht rügt. b) Wo eine Vertretung 
duch Anwälte nicht geboten’ ift. Im zweiten Falle muß nämlich das Gericht 
den Mangel der Vollmacht von Amtswegen berüdfichtigen. 

Tritt in der mündlichen Verhandlung Jemand ohne Vollmacht für eine Partei 
auf, jo kann ihn das Gericht entweder gegen oder ohne Kaution zur Prozekführung 
einitweilen zulafjen, darf jedoch das Endurtheil erjt erlafjen, nachdem eine für Bei— 
bringung der Genehmigung, d. h. einer jchriftlichen Vollmacht, zu beftimmende Frift 
abgelaufen ift. Grfolgt die Genehmigung nicht, fo gilt die Partei als nicht erfchienen, 
muß aber die bisherige Prozekführung gegen fich jedenfalls inſoweit gelten Lafjen, 
als fie mündliche Vollmacht ertheilt oder die Prozeßführung auch nur ſtillſchweigend 
genehmigt hat. Hellmann. 


Prüfungsrecht (richterliches). Es kann vom Standpunkte einer juriftifchen 
Betrachtungsweije feinem Zweifel unterliegen, daß alle rechtanmwendenden Behörden 
verpflichtet find, in jedem einzelnen Falle die Prüfung anzuftellen, ob eine anwend— 
bare Rechtsnorm vorhanden jei oder nicht; für die Subſumtion konkreter Verhältniffe 
unter abftrafte Normen iſt die Eriftenz jolcher abjtrafter Normen die oberjte Voraus— 
fegumg. Die von der jedesmaligen Staatsform bedingte Weiſe der Gejeßgebung iſt 
dabei ganz gleichgültig. Es gilt das ebenjo von Rechtsjägen, die im Wege des 
Gewohnheitsrechts, als von folchen, die im Wege der Geſetzgebung entjtanden find. 
63 iſt ferner gleichgültig, ob jolche Rechtsſätze dem Privatrecht oder dem Strafrecht, 
dem Prozeß-, Staats- oder Kirchenrecht angehören. Die Prüfung hat fich auch keines— 
wegs auf die Rechtsgültigkeit der Form zu bejchränfen, jondern iſt in gleicher Weiſe 
auf Die Rechtägültigkeit des Inhalts zu erftreden, muß alfo auf die Form und den 
Anhalt der Austührungsverordnungen, auf die Form und den Inhalt der proviforifchen 

v. Holgenborff, Enc. II. Rechtslexikon III. 3. Aufl. 15 


226 Prüfungsredt. 


Verordnungen mit Gejegeskraft, auf die Form und den Inhalt der Geſetze, namentlich 
ob die leßteren in beiden Beziehungen mit der VBerfaffung übereinftimmen oder nidt, 
gerichtet fein. Es giebt Hier eben gar feine Fragen, die man tranfcendent nennen 
könnte, jondern fie find alle durchaus immanent, jo lange man fich in den Grenzen 
einer rein juriftischen Betrachtungsweife hält. 

Diefe rein juriftifche Betrachtungsweijfe ift aber überall durch Erwägungen 
politicher Natur beeinträchtigt, jo daß in der Wirklichkeit nirgends die vollen Kon: 
fequenzen jener Argumentation anerkannt find. 

Zunächſt find die Verwaltungsbehörden bei der ihnen in allen Ländern im 
weiten Umfange zuftehenden Rechtsanwendung (vgl. Th. I. ©. 891 ff.) in Bezug 
auf Polizeiftrafrecht, Berwaltungsrechtspflege im engeren Sinne auch Hinfichtlich der 
Prüfung der Rechtögültigkeit der darauf bezüglichen Normen an die Weifungen ge 
bunden, die ihnen von den oberen Behörden ertheilt werden. 

Die Juftizbehörden find nun allerdings im modernen Rechtsſtaat feiner anderen 
Autorität ala der des Geſetzes unterworfen. Indeſſen ift doch die Theorie und 
Praris des Gemeinen Deutichen Staatsrechts darüber einig, daß das richterliche P. 
fein jchranfenlojes ſei. Daffelbe foll ganz abgejehen von der Form, nach der 
Meinung der meiften Rechtslehrer, der auch die Wirklichkeit entjpricht, fich auch auf 
das materielle Gebiet erjtreden, wird aber in diefer Hinficht auf die Prüfung der 
formellen und materiellen Gejegmäßigkfeit der Verordnungen eingejchränft, während 
dagegen eine Prüfung der Verfafjungsmäßigkeit der Geſetze höchſtens in formeller, 
nicht auch in materieller Hinficht gefordert und gewährt wird, und doch ijt unver: 
fennbar, daß die Beitimmungen einer Verfaſſungsurkunde eine höhere Art von be 
fehlenden Normen find und ungeachtet einer durch ein gewöhnliches Gejeg gegebenen 
anderweiten Beitimmung beobachtet werden müfjen; oder joll der Nichter auf eine 
in einem gewöhnlichen Gejege vorgeichriebene Strafe erfennen dürfen, obgleich die 
Verfaſſung dieje Strafe verboten hat? Die Richter find jo wenig Wächter der Ber: 
faſſung als Wächter der Gefeße, aber fie jollen die ihnen vorliegenden Fälle nur 
unter gültige Gejeße jubjumiren, und ein veriaffungswidriges Geſetz ift als ein 
gültiges nicht anzuerkennen. i 

Es iſt deshalb an fich gar nicht befonders prinzipwidrig, wenn in Preußen 
pofitivrechtlich das richterliche P. noch weiter beſchränkt und blos hinfichtlich des 
Vorhandenjeing der formellen Requifite geftattet it. Der Art. 106 der Berf.Urf. 
lautet nämlich: „Geſetze und Verordnungen find verbindlich, wenn fie in der vom 
Gejege vorgejchriebenen Form bekannt gemacht find. Die Prüfung der Rechtsgültigkeit 
gehörig verfündeter königl. Verordnungen jteht nicht den Behörden, jondern mur 
den Kammern zu.” Daraus ergiebt fich: die Preußiichen Gerichte haben zwar das 
Recht, in allen Givil- und Strafjachen zu prüfen, ob überhaupt eine Publikation 
in der Geſetzſammlung rejp. in den Amtsblättern oder in der ortsüblichen Were 
(Bolizeiverordnungen der Behörden) und ob fie in der gehörigen Form jtattgefunden 
habe; zu der gehörigen Form gehört aber bei Gejegen und königlichen Verordnungen 
lediglich die Sontrafignatur eines Minifters, nicht aber die Erwähnung der Zus 
jtimmung des Landtags in der Publifationsformel der Gejeße, und nicht die Kontra: 
jignatur des gefammten Staatäminijteriums bei proviforischen Verordnungen mit Ge- 
ſetzeskraft, die leßtere gehört bereits zu den Erfordernifjen der inneren Rechtsgültigkeit, 
es wäre denkbar, daß eine jolche Verordnung mit einem bejonderen Publikationspatent 
ohne die eigentliche Publikationstormel veröffentlicht würde. Dagegen jteht eine materielle 
Prüfung den Preußifchen Gerichten nur in Bezug auf die Poligeiverordnungen der 
Behörden zu, Hinfichtlich deren fie vor der Anwendung die Uebereinftimmung mit 
den im Gejeße vom 11. März 1850 vorgejchriebenen allgemeinen Normen jeitzuftellen 
haben, nicht aber darüber, ob die fönigl. Ausführungsverordnungen etwa in das 
Gejeßgebungsgebiet übergreifen, ob fie dem Inhalte des auszuführenden Gejeges ent: 
jprehen, auch darüber nicht, ob die auf Grund von Art. 63 erlaflenen Motb- 


er 
Prüfungstermin. 227 


verordnungen innerhalb der Zeit, wo der Landtag nicht verfammelt war, erlaflen 
find, ob die Veranlaffung eine dringliche war, und unter eine der beiden allein 
zuläffigen Kategorien fällt, ob der Inhalt der Verfaſſung zumiderläuft, endlich auch 
darüber nicht, ob das, was fich als Geſetz ankündigt, wirklich Gefeß jei, ob ins— 
befondere die Zuftimmung des Landtags überhaupt vorhanden war, ob die Regierung 
nicht Beitimmungen aufgenommen bat, über welche eine Vereinbarung nicht ftatt- 
gerunden hat, ob das fragliche Geſetz die Verfaffung verleßt. 

Die Prüfung der Nechtögültigfeit über das den Gerichten zugetwiejene enge 
Gebiet hinaus fteht nur dem Landtage zu. Ueber die dem Landtage demgemäß 
— Befugniſſe beſteht eine Kontroverſe. 

Nachweiſungen über die gemeinrechtl. Bit. bei Zachariä, Staatsrecht, 3. Aufl. 
1867, II. 243 ff.; u. Zöpfl, Staatärecht, 5. Aufl. 1863, II. 576 ff. — Dazu: v. Mohl, lleber 
bie schtliche, Bebentüng verfaffungswidriger Geſehze; Deri elbe, Staatsrecht, Völkerrecht und 
ra 5 # — Martin, Die Rechtöverbindlichkeit — Verordnungen, Celle 
866. — Blard, Die verbindliche Kraft ber auf nichtver efjunndmäß „En, Wege entitandenen 
* und Verordnungen, in $herin Jahrbb. Bd. IX. (1868 288—415 
mann, Zur ürage des richterlichen Gehfungerete Kris lich * inneren Verfaſſungs— 
maͤßi feit don ejegen und Verordnungen, in — ie geſammte ——— 
Bd. XXIV. (1868) ©. 333-405. — Böhlau, — ER db. J. (1871) 
S. 301 ff. — se Lehrbuch des Pandektenrechts, 2. Aufl. 1867, Bd. I. ©. 37 
vd. Gerber, a . Aufl. 1869, ©. 152 ff. — 6 Meyer, Lehrbuh des Deut chen 
Staalorechtẽ 1878, S. 440, 454. — 5 a 3 v. Bun reub- Staatäredht, 4. Aufl. 
1881, 3b. I. Abth. 1 ©. et — (Frhr. dv. Stodmar) € Ehr., Studien über das 
Preuß. Staatäreht (Aegidi, Ztichr. für Deutiches Giesen 3. # 1867] S. 179 fi). — 
John, ra a 38 Verbindlichkeit publizirter Geſetze und Verordnungen x. 
ui idi a. a. D. S ff.). — v. Rönne, lleber bie richterlichen Prüfungsrechte besüglich 

er a von Sehen und Verordnungen nad Preuß. Staatsrechte (Aegidi a. a. 

35 ff.) — Zur GEntftehungsgeihichte und Auslegung des Art. 106 er 

* eg (eine Replit auf die Auffäge von John und Rönne) Hamb. 1866. — 
Gneiſt, Berwaltung, Yuftiz, Rechtsweg (1869), ©. 520. — Für das Reich: Ba band, Staat: 
de3 Deutichen Reichs, pr, I. (1876) ©. 423; Bd. II. (1878) ©. 43 ff., 86 ff., 118 ff., 

., 193 ff. — leber das Prüfungsrecht der Landesgejehe im Derhältnih; zur Reichägeich- 
es v. Holtendorff, Strafrehtäztg. 1871 ©. 19 ff. Ernft Meier. 


Brüfungstermin (v. Bar, Th. I. Suppl. S. 80, 89) nennt die Deutjche 
KO. den zur Prüfung der angemeldeten Konkursforderungen vom Konfursgerichte an- 
geſetzten und öffentlich befannt gemachten Termin, mit welchem indeß auch Wahl eines 
neuen Verwalter und des Gläubigerausjchuffes, Akkord- und andere Verhandlungen 
verbunden werden fünnen. Nechtzeitige Anmeldung aller Forderungen in der Anmelde- 
friſt vorausgeſetzt, kann es mit einem allgemeinen P. fein Bewenden haben; wird die 
Anmeldungsfrift aber verfäumt, jo kann die Forderung, auch bei Anmeldung vor dem 
allgemeinen P., in diejem bei Widerfpruch des DVerwalterd oder eines Gläubigers 
nicht erledigt, vielmehr muß ein bejonderer P. angejeßt werden, und zwar auf Koſten 
des jäumigen Gläubigerd. Die gleiche Folge kann bei gleichem Widerjpruch auch 
die Menderung der Anmeldung, die bis zur Feſtſtellung der Forderung im P. als 
Berichtigung oder Ergänzung wie bei jeder Klage möglich ift, Haben. — PVorbereitet 
wird der P. durch Auslegung der Anmeldungen nebjt Anlagen und der Gläubiger: 
tabelle, für deren Einrichtung die Motive auf das bewährte Mufter der Preußifchen 
Inftruftion d. 6. Auguſt 1855 verweisen, zur Einficht aller Betheiligten in der Gerichts— 
ichreiberei, ſowie durch abfchriftliche Mittheilung der Tabelle an den Verwalter. Die 
Verhandlung erfolgt im Termine mündlich, ohne daß diejelbe jedoch unter gleichen 
Gejegen ftünde, wie die mündliche Berhandlung im ordentlichen Prozeß. Gegen 
ausbleibende Gläubiger fann jo wenig wie gegen den Verwalter ein Verſäumniß— 
urtheil beantragt werden. Vielmehr wird die Forderung eines abweſenden Gläubigers 
nicht minder wie andere geprüft, und die einzigen Nachtheile, die ihn treffen, find 
die, daß er gegen feftgeitellte Forderungen Anderer jpäter feinen Widerfpruch erheben 
fann und Widerfpruch gegen feine Forderung, den er durch ſofortige Aufklärungen 
vielleicht hätte bejeitigen können, ihn zu Anstellung des Spezialprozefleg zwingt, wenn 

15 * 


® 


228 Prüfungsweien. 


er Befriedigung erlangen will. Abweſenheit des Verwalters, der bier nicht ala 
bloßer Vertreter einer Privatpartei fungirt (f. d. Art. Konkursverwalter), 
nöthigt zur Anjegung eines neuen Termins, deffen Koſten ihm bei grober Fahr— 
(äffigfeit nach Analogie von Gerichtsfchreibern und »vollziehern von Amtswegen au’ 
zuerlegen fein dürften, wie er unbedingt in jolchem Falle mit einer Ordnungsſtrafe 
belegt werden kann. Ausbleiben des Schuldners, der zur Aufklärung fich über jede 
Forderung zu äußern hat, obwol er zugleich zur Wahrung feiner Rechte gegenüber 
jpäterer Givilerefution nicht befriedigter Gläubiger und bezüglich etwaiger Aufnahme 
anhängiger Prozeffe und etwaiger condictio zu Unrecht anerfannter und gezablter 
orderungsbeträge geladen wird, veranlaßt, wenn er nicht flüchtig ift, feine ſofortige 
Vorführung. Die Prüfung erftredt fich . über alle Forderungen na Maßgabe der 
Tabelle und nach deren Reihenfolge. Der Richter, der bier wie im ordentlichen 
Prozeß das Recht der Verbindung, der Trennung, der Beitimmung der Reihenfolge der 
Forderungen und der abgejonderten Verhandlung von Grund, Betrag, Rang der For: 
derung, Echtheit der Urkunden ꝛc. beſitzt, hat nach Vortrag der Verhältniffe der 
Forderung die Erklärung des Schulditers und des Verwalters herbeizuführen und 
den Gläubigern zu etwaigem Wideripruch Gelegenheit zu bieten; doch ſteht der 
Widerſpruch nur jolchen Konkursgläubigern zu, deren Forderungen jchon  Fejtgeitellt 
find oder deren Stimmberechtigung bei erfolgter Beanftandung vom Gerichte feit- 
geitellt wird. Gelingt e8 nicht den Widerfpruch, der auch ohne Angabe von Gründen 
zuläffig ift, durch Herbeiführung von Aufflärungen oder gütliche Vermittelung zu 
bejeitigen, jo muß der Wideripruch , auch der des Schuldners, in der Tabelle ver: 
merft werden und fann die Befriedigung im Konkurswege bei Widerſpruch des Ver⸗ 
walters oder eines Gläubigers nur durch rechtskräftige Entſcheidung im Spezial— 
prozeß, die in die Tabelle als Prüfungsreſultat einzutragen iſt, erzielt werden, 
wogegen der Widerſpruch des Schuldners nur die Ertheilung der Vollſtreckungsklauſel 
für die Civilexekution hindert. Die Forderung gilt für feſtgeſtellt, wenn be— 
züglich Grund, Betrag oder Rang ein Widerſpruch weder von einem Gläubiger 
noch vom Verwalter erhoben iſt, und die Feſtſtellung wird vom Richter in die 
Tabelle eingetragen mit der Bedeutung eines für alle Konkursgläubiger verbind: 
(ichen rechtäfräftigen Urtheils und dem Recht auf die entiprechenden Dividenden, 
jomweit noch ausreichende Nettomafje vorhanden iſt. Ebenſo wird die Feſtſtellung 
auf den Wechſeln und fonftigen Urkunden durch den Gerichtsichreiber vermerkt. — 
Die Oeſterr. KD. bezeichnet den P. als Liquidirungstagfahrt. Für dieſe hat fie in 
der Hauptiache gleiche Vorſchriften wie die Deutiche KO. getroffen, doch giebt fie 
unter Anderem nur jolchen Gläubigern ein Widerfpruchsrecht, deren Forderungen 
bereits fejtgejtellt find. Das Gemeine Recht fennt nur ein fchrüftliches Liquidations- 
verfahren, doch kommt in feinem Gebiete partifularrechtlich ein mündlicher allgemeiner 
Juſtifikations- oder Liquidationstermin allerdings vor. 

Quellen: Deutihe KO. SS 87, 128 fi. 141 fi., 155 fi; Motive ©. 360 fi. — 
Deiterr. RO. SS 113 ff. 124 ff, 175, 179, 184. 

Lit.: gumß, Deuticher Kont.Pry. 8 24. — Komment. zur Deutihen KT. SS 128 fi. 
von Sarwey, v . VBölderndorff, Hullmann, Stiegliß, v. UNE, x 

tedin 

Prüfungsweſen. Mit der Ausbildung des Staatsdienſtes zu Ai ge 
regelten Organismus war gleichzeitig auch der im Preuß. Allg. ER. Th. II. Tit. 10 
$ 70 ausdrüdlich ausgeiprochene Saß zur Geltung gelommen, daß Niemandem ein 
Amt aufgetragen werden jolle, der fich dazu nicht Hinlänglich qualifizire und Proben 
feiner Gejchidlichkeit abgelegt babe. Die näheren Bejtimmungen beruhen aber nur 
für den Juftiz und für den höheren Verwaltungsdienit auf Geſetz, für alle übrigen 
Zweige des Staatsdienjtes auf bloßen Regulativen. 

1) Was zunächſt das Juſtiz-P. betrifft, jo hatte die Allg. Ger.O. TH. IH. 
Tit. 4 $$ 26 ff. ein Univerſitätsſtudium, den Nachweis von 18 ſog. Zwangstollegien, 
zu denen z. B. Logik, Enzyklopädie, gerichtliche Medizin und Rechtsphiloſophie ge— 


Prüfungsweien. 229 


hörten, während Handelsrecht, Verwaltungsrecht und Praftifa als Zwangskollegien 
nicht aufgezählt wurden, endlich das Beitehen von drei Prüfungen erfordert, von denen 
die erfte, in einer mündlichen Befragung und in jchriftlichen Klaufurarbeiten bejtehend, 
bei jedem DOberlandesgerichte vor zwei Mitgliedern defjelben die zweite nach 1*/,jähriger 
praftifcher Beichäftigung in derjelben Weife, nur daß an Stelle der Klaufurarbeiten 
eine Relation trat, die dritte nach 2Y/,jähriger Beichäftigung bei der Immediat-Juſtiz— 
Graminationg-Kommiffion abgelegt wurde, wobei die mündliche der jchriftlichen Prüfung 
vorherging, die letere in einer Relation und in einer wifjenjchaftlichen Abhandlung 
beitand. Der Art. 90 der Berf.Urf. hat dann den Grundſatz aufgeftellt, daß zu einem 
Richteramte nur Derjenige zu berufen fei, der fich nach Vorſchrift der Geſetze dazu 
befähigt habe. Das neue Gerichtsorganijationdgejeß, die jog. Verordn. vom 2. Jan. 
1849, jtellte eine Revifion der geltenden Vorjchriften in Ausficht. Eine folche ift jedoch 
zunächjt nur im Verordnungswege herbeigeführt worden, indem das Regulativ vom 
5. Dez. 1864 die Zwangskollegien aufhob, die Ablegung der erjten Prüfung auf ſechs 
Appellationsgerichte beſchränkte, und die Prüfungskommiſſion bei jedem derjelben aus 
dem Präfidenten, zwei vom Jujtizminifter ernannten Richtern, und zwei vom Kultus— 
minifter ernannten Univerfitätslehrern bildete; die Regierung war zu diefen Aenderungen 
der Allg. Ger.D. befugt, weil es fich dabei nur um Einzelheiten der Ausführung 
bandelte, die auch gegenwärtig noch, nach Erlaß eines neuen Geſetzes, den Inhalt 
des Regulativs bilden. Gine neue gejegliche Regelung ift erjt in folge des Erwerbs 
der neuen Landestheile, welcher im Intereffe der Staatseinheit eine gleiche An- 
ftellungsfähigfeit für alle Provinzen erheifchte, durch das Gejeg vom 6. Mai 1869 
über die juriftifchen Prüfungen und Vorbereitung zum höheren Yuftizdienjt erfolgt. 
Die Hauptveränderung gegenüber dem bisherigen NRechtszuftande bejtand darin, daß, 
in Webereinftimmung mit der Einrichtung in Hannover und dem übrigen neuen 
Provinzen (Verordn. vom 26. Juni 1867), die drei Prüfungen auf zwei reduzirt 
wurden. Wenn nämlich jchon die Natur der Sache auf zwei Prüfungen hinweiſt, 
von denen die eine nad) zurücgelegtem Univerfitätsftudium, die andere nach erlangter 
Borbildung und Schulung im praftijchen Dienjte abzulegen ift, jo beruhte auch 
in der That das mittlere Preußifche Examen nur auf dem hiftorischen Umſtande, 
daß dafjelbe in früherer Zeit eine untere Richterqualität verliehen hatte, injofern 
die Betreffenden zu den Gtellungen der Juftitiarien und Unterrichter befähigt 
waren, während bereits das Nachtragägejeg vom 26. April 1851 Art. XV. zu 
jeder Nichterftelle die Ablegung der dritten Prüfung erfordert hatte, wogegen die 
zweite nur noch zur zeitweifen Funktion eines Hülfsrichters bei Gerichten erſter 
Inſtanz ꝛc. qualifiziren follte, nur für die Triedengrichter und Notare der Rhein: 
prodinz genügte das zweite Gramen. Mit dem Geſetze vom 6. Mai 1869 find 
jedoch gegenwärtig die SS 2 und 3 des GBG. für das Weich und der $ 1 
des Preuß. Ausf.Gej. vom 24. April 1878 zu verbinden. Zu dem Gefeße vom 
6. Mai 1869 wurde das Regulativ des Juſtizminiſters vom 29. Dez. 1869 er: 
laffen, welches dann durch das Regulativ vom 6. Dez. 1875 erjeßt wurde, an defjen 
Stelle nunmehr das Regulativ vom 22. Auguft 1879 getreten iſt, welches jedoch 
durch die juftizminifterielle Verfügung vom 20. März 1880 bereitö wieder einige 
Aenderungen erfahren bat. 

Demgemäß iſt gegenwärtig in ganz Deutjchland die Fähigkeit zum Richteramte 
durch ein dreijähriges NRechtöftudium auf einer Univerfität, und zwar für mindejtens 
die Hälfte diejes Zeitraums auf einer Deutichen Univerfität (während das Preußische 
Geſetz nur eine Univerfität erforderte, auf welcher in Deuticher Sprache gelehrt wird), 
fowie durch die Ablegung zweier Prüfungen bedingt, zwijchen denen ein Zeitraum 
von mindeitens drei Jahren liegen muß, welcher im Dienfte bei den Gerichten und 
bei den NRechtdanwälten zu verwenden ift, und zum Theil auch bei der Staats— 
anmwaltichait verwendet werden fann; in den einzelnen Bundesitaaten fann jedoch be= 
ftimmt werden, daß der für das Univerfitätöjtudium oder für den Vorbereitungs- 


230 Prüfungsweien, 


dienst bezeichnete Zeitraum verlängert wird, und daß ein Theil des lehteren Zeit: 
raumes, jedoch höchitens ein Jahr, im Dienſte der Berwaltungsbehörden verwendet 
werden muß oder veriwendet werden darf. 

In Preußen ift das afademifche Triennium nicht verlängert, das praftifche 
Quadriennium nicht verkürzt, von der Ermächtigung zu einer obligatorijchen oder 
fakultativen Beichäftigung bei der Verwaltung fein Gebrauch gemacht. Die erfte 
Prüfung erfolgt bei einem der DOberlandeögerichte vor einer Kommiffion, welche aus 
Mitgliedern der Gerichte, der Rechts- und Staatsanwaltichait, ſowie aus Lehren 
der Rechts- und Staatswiſſenſchaft gebildet wird; es iſt aber keineswegs noth- 
wendig, daß an jedem Gramen Mitglieder der verichiedenen Kategorien theilnehmen ; 
die Berufung der Profefforen geichieht nicht mehr durch den Kultusminiiter, wie nad) 
dem Regulativ von 1864, auch nicht mehr durch den Juftizminifter, wie nach dem 
Regulativ von 1869, ſondern durch den Präfidenten, und auch nicht mehr auf einen 
beitimmten Zeitraum, fondern für jeden einzelnen al. Die Prüfungen find vor 
drei Mitgliedern, einfchließlich des Präfidenten, abzuhalten, reſp. vor vier Mitgliedern, 
wenn der Präfident an der mündlichen Beiragung nicht theilnimmt. Die mündliche 
Prüfung war jeit 1869 nicht mehr öffentlich; durch eine Verfügung des Juſtiz— 
minijter® dom November 1880 ift jedoch die Anordnung der Deffentlichkeit in das 
Ermeſſen der einzelnen Prüfungstommiffionen geftellt worden. Die jchriftliche Prüfung, 
welche der mündlichen vorhergeht, bejteht in der Bearbeitung einer wiffenjchaftlichen 
Aufgabe, welche nach der Wahl des Rechtäfandidaten dem Gem. Givilrecht, dem 
Deutschen Privatrecht, dem Handels-, Kirchen-, Givilprogeßrecht oder dem Strafrecht 
angehören joll, und für welche eine jechswöchentliche Frift gewährt wird. Die praftifche 
Beichäftigung ift beim Amtsgericht auf mindeftens 1%, Jahr, beim Landgericht ein- 
ichließlich der Staatsanwaltichait auf mindeitens 15 Monate, von denen mindeften® 
6 Monate auf die Staatsanwaltichaft fallen, beim Oberlandesgericht auf mindejtens 
6 Monate, und beim Rechtsanwalte auf gleichialla mindeſtens 6 Monate feſtgeſetzt 
worden. Die Ablegung der zweiten (großen) Prüfung erfolgt bei der Juſtizprüfungs— 
fommiffion; die jchriftliche Prüfung hat eine rechtöwifenschaftliche Arbeit und eine 
Relation aus Prozeßakten zum Gegenjtande; jede der beiden Arbeiten iſt binnen 
6 Wochen abzuliefern; mit der mündlichen Prüfung ift ein freier Vortrag aus Akten 
zu verbinden, welche 3 Tage vor dem Termine zugejtellt werden. 

2) Die Bedingungen für den Eintritt in den höheren Berwaltungspdienit 
waren durch die Inſtruktion des Königs an das Generaldireftorium dv. 12. Febr. 1770 
(welche nirgends publizirt ift) und durch das in Folge derjelben ergangene Cirkular 
des Generaldireftoriums vom 28. Febr. 1770 an die Kriegs- und Domänen- 
fammern (abgedrudt bei Mylius) geordnet. Die damaligen Normen, insbejondere 
auch die damals erfolgte Errichtung einer Ober-Examinations-Kommiſſion für Die Bes 
dienungen beim Finanz- und Kameralweſen find dann im Ganzen für die Tyolgezeit 
maßgebend geblieben (vgl. Publifandum vom 16. Dez. 1808 $ 15), jedoch jeit 
1817 durch eine Reihe ſporadiſch erlaffener Anordnungen mobdifizirt, bis fich die 
Regierung veranlaßt jah, die im verjchiedenen Geſetzen, Inftruftionen und Wer: 
fügungen zerjtreuten Anordnungen zu fodifiziren. Das diesfallfige Regulativ vom 
14. Febr. 1846 über die Berähigung zu den höheren Aemtern der Verwaltung 
wurde auf den Bericht des Staatsminifteriums durch die Königl. Kab.Ordre vom 
28. Febr. 1846 genehmigt, und nach Allerhöchiter Anordnung in der Gel. Samml. 
publizirt. Danach mußte derjenige, welcher bei einer Regierung behufs feiner 
Vorbereitung zum höheren Verwaltungsdienit eintreten wollte, in der Regel nach— 
weiien, daß er bei einem Gericht ala Auskultator gearbeitet und entweder die 
zweite juriftische Prüfung genügend bejtanden, oder doch das Zeugniß der Reife zu 
diefer Prüfung erlangt, und eine für probemäßig erklärte Relation geliefert habe. 
Gr mußte ferner durch eine bei der Regierung mit ihm vorzunehmende Prüfung 
darthun, daß er fich mit den Staatswiſſenſchaften vertraut gemacht, die Haupt— 


Prüfungsweien, 231 


grundfäße der Nationalökonomie, der Polizei und der Finanzwiſſenſchaft fich an— 
geeignet, und wenigſtens allgemeine Bekanntſchaft mit den kameraliſtiſchen Hülfs— 
wiſſenſchaften, insbejondere auch der Landwirthichaitslehre erlangt habe. Diefe 
Prüfung war jedoch eine blos mündliche und wurde unter dem Vorſitz des Regierungs— 
präfidenten von zwei Regierungsräthen vorgenommen. Endlich die dritte Prüfung 
erfolgte nach vollendetem Vorbereitungsdienſt bei der Regierung auf Grund eines 
vom Regierungspräfidenten nach Berathung im Plenum ausgejtellten Generalattejtes 
durch die Ober-Graminationd-Fommiffion, und zerfiel in eine jchriftliche, auf eine 
Abhandlung über einen ftaatswiffenjchaftlichen, über einen politifchen und über einen 
finanziellen Gegenjtand fich eritredende, und in eine mündliche Prüfung. 

Bereitö 1868 wurden die Regierungspräfidenten angewiejen, feine Referendare 
mehr anzunehmen, weil einerjeits die Zweckmäßigkeit einer fpezififchen von der all- 
gemeinen juriftifchen abweichenden Vorbereitung für den Verwaltungsdienſt zweifel— 
haft getvorden war, und weil andererjeits durch die zahlreichen VBerwaltungsbeamten 
aus den neuen Landestheilen das Bedürfniß auf lange Zeit hinaus gededt wurde. 
Die bisherige Verwaltungslaufbahn wurde dann es rechtlich dadurch unmöglich 
gemacht, daß in Folge des Gefehes vom 6. Mai 1869 das zweite juriftiiche Eramen, 
welches die Vorausſetzung zum Uebertritt in die Verwaltung bildete, weggefallen 
war. Es konnte nun die Frage entitehen, ob die vollziehende Gewalt berechtigt 
fei, einfeitig das Prüfungswefen der Verwaltungsbeamten zu ordnen, oder ob dazu 
der Landtag mitwirken müſſe. Inſofern man für die Entfcheidung dieſer Trage 
darauf refurrirt, ob die fragliche Anwendung jchon in der verfaffungsmäßigen Zeit 
einen „gejeßlichen“ Charakter habe, fo fommen dafür formelle und materielle Momente 
in Betracht. In formeller Hinficht können für den gejeßlichen Charakter des Regulativs 
von 1846 die Publikation in der Gej.Samml. und die behufs derfelben ergangene 
fönigl. Kab.Ordre jprechen, während doch andererjeit nicht zu verfennen ift, daß 
ich zahlreiche derartige Regulative in der Gej.Samml. finden, ohne daß man die 
Folgerung einer ihnen innewohnenden Geſetzeskraft daraus ableitete, und daß ins— 
befondere in dem hier in Betracht fommenden NRegulativ jedenfall® auch jolche An— 
ordnungen zu finden, welche unter feinen Umftänden dem Geſetzgebungsgebiete an— 
gehören. Fragt man aber, inwiefern der Inhalt des Regulativs demjelben den 
Charakter eines Geſetzes oder einer Verordnung verleiht, jo wird man jagen müſſen, 
daß zwar die Mehrzahl der Beitimmungen lediglich jolche jeien, welche rein in der 
Sphäre der vollziehenden Gewalt liegen, daß aber doch die Einrichtung des 
adminiftrativen P. an fich einen großen Staatsgrundjaß, die Ausprägung einer 
wahrhaften Staatäinftitution, enthalte. Und diefe Auffaffung fcheint noch beitärkt 
zu werden durch die Verf.Urf. Art. 98: „Die befonderen Rechtöverhältnifje der nicht 
zum Richterjtande gehörigen Staatsbeamten follen durch ein Geſetz geregelt werden, 
welches , ohne die Regierung in der Wahl der ausführenden Organe zweckwidrig zu 
beichränfen,, den Staatöbeamten gegen willfürliche Entziehung von Amt und Ein- 
fommen angemefjenen Schuß gewährt.“ Es ift hier zwar verfafjungsmäßig hin— 
fichtlich des Inhalts des zu erlaffenden Gejeßes fejtgeftellt, daß daſſelbe der Regierung 
bei der Wahl der Beamten eine gewiffe Freiheit der Bewegung geben folle, es iſt 
aber doch zugleich angenommen, daß auch die Auswahl der Beamten gejeßlicher 
Regelung zu unterliegen habe. Es bedurfte demgemäß in der That einer gefeglichen 
Regulirung, wie jolche durch das Geſetz, betreffend die Befähigung für den höheren 
Verwaltungsdienft, vom 11. März 1879 erfolgt ift. 

In Gemäßheit diejes Geſetzes und des dazu erlaffenen Negulativs des Staatd- 
minijteriums vom 9. Mai 1879 gilt gegenwärtig Folgendes: 

Zur Erlangung der Befähigung für den höheren Verwaltungsdienft wird ein 
mindeftens bdreijähriges Studium der Rechte und der Staatöwiffenichaften und die 
Ablegung zweier Prüfungen erfordert. Das Studium Hat fich in&bejondere auch auf 
Rationalöfonomie und Finanzwiffenichaft, ferner auf Staatö und Verwaltungsrecht 


232 Prüfungsmeien, 


zu erjtreden. Bis zum 1. Januar 1882 find jedoch die Minifter des Innern und 
der Finanzen befugt, auch jolche Referendare, welche den Nachweis des erforderlichen 
ftaatswiffenschaftlichen Studiums nicht zu führen vermögen, zum VBorbereitungsdienite 
zuzulaffen. Die erjte Prüfung ift die erfte juriftiiche nach Maßgabe des Geiches 
vom 6. Mai 1869, die fich jedoch nach einer neuen Anordnung mehr als bisher 
auf die jtaatswiflenichaftlichen Fächer erjtreden fol. Der eriten Prüfung folgt ein 
zweijähriger Vorbereitungsdienft bei den Gerichten, die Ernennung zum Regierungs 
referendar durch denjenigen Regierungspräfidenten, in deſſen Bezirk der Betreffende 
bejchäftigt werden will, und ein zweijähriger Vorbereitungsdienft bei der Verwaltung, 
der in der Beichäftigung bei einer Regierung, einem Bezirksverwaltungsgerichte und 
einem Landrathsamte beitehen muß, außerdem in der Beichäftigung bei dem Magiftrate 
einer Stadtgemeinde bejtehen kann. Die Ablegung der zweiten (großen) Staats 
prüfung erfolgt bei der Prüfungsfommiffion für höhere Verwaltungsbeamte, und it 
jowol eine jchriftliche, als eine mündliche; die jchriftliche bejteht in zwei Arbeiten 
aus den Gebieten des Staats- und Verwaltungsrechts, reſp. der Volks- und Staats 
wirthichaftölehre, deren jede binnen 6 Wochen abzuliefern iſt. Die mündliche er: 
jtredt fich auf das in Preußen geltende öffentliche und Privatrecht, insbejondere auf 
Verfaſſungs- und Verwaltungsrecht, auf die Volkswirthſchafts- und Finanzpolitil. 
Dieje Beitimmungen gelten nun aber blos für die Stellen der Abtheilungsdirigenten 
und Mitglieder bei einer Regierung und der den Oberpräfidenten oder Regierungs 
präfidenten zugeordneten Verwaltungsbeamten, jowie diejenigen Mitglieder des Ober: 
verwaltungsgerichts und der Bezirköverwaltungsgerichte, welche die Befähigung zu 
den höheren Verwaltungsämtern befiten müſſen. Mithin bedarf es für die Stellen 
der Oberpräfidenten und Regierungspräfidenten einer bejonderen Qualififation über: 
haupt nicht. Die Beitellung zum Juftitiarius jet die erlangte Berähigung zum 
höheren Jujtizdienjte voraus; die Bejegung der Stellen der technijchen Beamten, 
insbejondere der FForit-, Schul-, Bau und Medizinal-Räthe, richtet fich nach den 
für die einzelnen techniichen Zweige geltenden Beltimmungen; zur Befleidung der 
Stelle eines Mitgliedes der Provinzialjteuerdireftionen ift die Befähigung zum höheren 
Verwaltungs oder Juſtizdienſt, jorwie eine praktijche Vorbereitung in der Steuerverwal- 
tung erforderlich. Die Minifter der Finanzen und des Innern find übrigens er: 
mächtigt, einerjeits jolche Perjonen zur Ablegung der zweiten Prüfung für den höheren 
Verwaltungsdienit zuzulaſſen, welche die erfte juriftiiche Prüfung abgelegt und als 
Yandrath3=, Kreis- und Amtshauptmänner, Oberamtmänner in den Hohenzollern’schen 
Yanden, Amtmänner in der Provinz Heffen-Nafjau, Hardes- und Kirchipielvögte in 
der Provinz Schleswig-Holſtein, ftädtiiche Bürgermeifter, Beigeordnete oder Magiftrate- 
mitglieder mindejtens einen fünfjährigen Zeitraum hindurch fungirt haben, und bereits 
zur Zeit der DVerfündigung des Geſetzes als ſolche angejtellt gewejen find, ſowie 
andererjeits jolche Berjonen für befähigt zum Höheren VBerwaltungsdienjte zu erflären, 
welche die Befähigung zum höheren Juftizdienjte erlangt haben, und mindeftens drei 
Jahre entweder ala Juftitiarien beichäftigt geweien find oder die Stelle eines Land— 
raths ꝛc. verwaltet haben. 

Was insbejondere die Bejegung der Stellen der Landräthe, der Kreis- und 
Amtshauptmänner und der Oberamtmänner in den Hohenzollernichen Landen, ſowie 
die für diefe Stellen erforderliche Befähigung betrifft, jo hatte der $ 16 des Geſetzes 
vom 11. März 1879 zur Regelung diefer Materie ein bejonderes Gejeh in Ausficht 
geitellt, in der Weife, daß zwar bis zum Erlaß defjelben die bejtehenden Bejtimmungen 
in Kraft bleiben, daß aber nach dem 1. Januar 1884, wenn bis dahin das Geſetz 
nicht erlaffen fein jollte, zu diefen Stellen nur jolche Perſonen berufen werden können, 
welche die Befähigung entweder für den höheren Verwaltungsdienft oder für den 
höheren Juftizdienjt erlangt haben, ohne daß jedoch gleichzeitig die bejonderen Bor: 
jchriften über die Beſetzung diefer Stellen, in&bejondere die in einzelnen Landes— 
theilen ftattfindende Mitwirkung der Kreistage außer Kraft treten würde. (Eine voll: 


Prüfungsweien. 233 


ftändige Weberficht der Vorfchriften über die Bejeung diefer Stellen bei Herrfurth, 
0.0.9. ©. 71.) Inzwiſchen Hat nun das Gejeß vom 19. März 1881, betr. die 
Abänderung und Ergänzung der Kreisordnung vom 13. Dez. 1872, in $ 74 vor- 
geichrieben, daß der Landrath vom Könige ernannt wird, und daß der Kreistag 
berugt ift, für die Beſetzung des erledigten Landrathsamts geeignete Perfonen, welche 
feit mindejtens einem Jahre dem Kreiſe durch Grundbefig oder Wohnſitz angehören, 
in Vorſchlag zu bringen (dev $ 74 der urjprünglichen Kreisordnung hatte das Vor— 
ſchlaggrecht auf Grumdbefiger und Amtsvorfteher beichränkt), daß aber als geeignet 
zur Stelle eines Landraths diejenigen Perfonen zu betrachten find, welche entweder 
die Befähigung zum höheren Verwaltungs» oder Juftizdienfte erlangt haben, oder neben 
der einjährigen Angehörigkeit zum Kreiſe durch Grundbefig oder Wohnſitz zugleich 
mindeftend während eines vierjährigen Zeitraumes entweder ald Referendare bei den 
Gerichten und Berwaltungsbehörden, oder in Selbjtverwaltungsämtern des betreffenden 
Kreifes oder der Provinz thätig gewejen find, wobei den Perſonen der letzteren 
Kategorie eine Beichäftigung bei den höheren Verwaltungsbehörden bis zur Dauer 
von zwei Jahren in Anrechnung gebracht werden fann. 


Lit.: Meber bie Geſchichte: Ernft Meier, Die — der a 
unter Stein und Hardenberg, (1881) ©. 32 ff. — v. Schön, Stubdienreijen, ©. 6 ff., 339, 
34, 597 ff. — v. Bodeliäwingd, Leben des Oberpräfidenten vd. Binde, S. 86, 97. — 
Fr v. Raumer, Lebenserinnerungen, ©. 46, 64. — d. Lamotte, Praktijche Beiträge, L 

#. (1782); III 32 ff. (1785). — Simon, Geſchichtliches über die fönigl. Preuß. Immediat- 
Juftz-Eramtnationd-Rommiffion, Berlin 1855. — Simon, Die Immediat-Juſtiz-Exami— 
nation®-Rommiffion, Nachrichten über einige Veränderungen, die fie jüngft erlitten, und über ihre 
bevorftehende Sätularfeier, Berl. 1855.— De lege ferenda: Häljchner, Das juriftiihe Studium 
in Preußen, Bonn 1859. — Nafje, Ueber Univerfitätäftudien und Staat3prüfungen ber Preuß. 
Verwaltungsbeamten, Bonn 1868. — Schäffle, Zur Frage de3 Prüfungsanſpruchs an die 
Randidaten des höheren Staatäbienfted. Zeitſchr. für bie el: Staatswifenihaft Bb. XXIV. 
(188), ©. 601 ff. — Die Auffäge von Robert v. Mo in Staatöredht, Völterrecht und 
Politit, Bd. III. (1869), über das Prüfungsweien im Berhältnig zur Bildung, ©. 242 ff.; 
über die Bildung der berufämäßigen Berwaltungsbeamten, S. 405 ff.; über bie Bildung 
höherer Staatäbiener, ©. 449 ff. — Göppert, Bemerkungen zu dem vom Königl. Juſtiz- 
minifterium dem Landtage vorgelegten Entwurf eined Geſetzes über die juriftiihen Prüfungen 
und die Vorbereitung zum höheren Yuftizdienft, Berlin 1869. — Muther, Die Reform des 
alademiſchen Unterrichts, Weimar 1873, — G. Meyer, Das Studium bes Öffentlichen Rechts 
und der Staatswiflenihaft in Deutichland, Jena 1875. — Jolly, Die Ausbildung der Ber: 
waltungsbeamten (Züb. Zeitichr. 1875). — Dahn, gu Reform des Rechtsſtudiums an ben 

Preugiihen Hochſchulen Behrend, Zeitichrift Le ejeßgebung, 1875). — Königs, Aus- 
bildung und Stellung der Beamten in Preußen, Berlin 1875. — v Bethbmann-Hollmeg, 
Ueber Gejegebung und Rechtswiilenichaft als Aufgabe unferer Zeit, Bonn 1876. — Klein: 
wädter, Die rechts- und ftaatswifjenichaftlichen Fakultäten in Defterreich, Wien 1876. — 
v. Stein, Gegenwart und Zukunft der Rechts: und Staatswiſſenſchaften Deutichlands, 
Stuttgart 1876. — Die Verhandlungen des XI. Deutſchen Juriftentags 1876, inabejondere 
bie Rede Gneiſt's, auch im Separatabbrud erfchienen. — Gierke, Die juriftiihe Studien: 
ordnung (vd. Holkendorff-Brentano, Jahrb. 1877). — Adolph Wagner, Zur 
Statiftif unb zur frage ber Einrichtung des nationalöfonomischen und ftatiftiichen Unterrichts 
auf den Deutſchen Univerfitäten (Zeitichr. des fönigl. Preuß. ftatift. Bureaus 1877). — Ernft 
Meier in der Abhandlung über Robert v. Mohl (Tüb. Zeitichr. 1878). -— Die Verband: 
lungen be3 Deutichen NReichätags über da3 GVG., des Preuß. Landtags über dad AG. — Die 
Verhandlungen bes Preußiichen Landtags über das Gejeß betr. die Befähigung für den höheren 
Verwaltungäbienit. — Ueber die jet geltenden pofitiven — en in Preußen: Herr— 

furth (Geh. Ober-Reg.-Rath, vortragender Rath im Miniſterium des Innern), Das Geſetz 
betr. die Befähigung für den höheren Verwaltungsdienſt vom 11. März 1879 nebſt den Aus— 

führungs-Verordnungen unter Benutzung amtlicher Quellen, Berlin 1879. — — Geh. 

Reg.:Rath, Mitglied des Abg-Hauſes), RL vom 11. März 1879, betr. die Befähigung für 

ben höheren Verwaltungsdienſt 2c., Berlin 1880. — Kah (Oberamtörichter), Die gejelichen und 

reglementarifchen Vorfchriften über die Vorbereitung zum höheren Juftizdienfte in Preußen, 

Berl. 1880. — Der Borbereitungadienft in der Preußiſchen Staatd: und Deutichen Reiche- 

verwaltung, namentlih für Subalternämter (Monatsichrift für Deutiche Beamte 1878/79, 

auch im paratabdrud erichienen, Grünberg 1880). — v. Rönne, Preuß. Staatörecht, 


3. Aufl. Bd. II. Abth. 1 ©. 380 ff. Era Mei 
rn eier 


234 Brügelitrafe — Publiciana actio. 


Prügelftrafe, körperliche Züchtigung, ehemals als Gauptjtrafe für leichtere 
Vergehen oder als accefjorifche Strafe und Strafichärfung allgemein im Uebung, 
ward bereits vor dem Jahre 1848 durch einzelne Deutiche Staaten (Nafjau, Braun: 
ichweig, Baden) abgeichafft, von den Grundrechten 1848 verboten und jeitdem mehr 
und mehr aus der Deutjchen Gejeßgebung verdrängt. Am längften erhielt fie fich im 
Königreich Sachen, Altenburg, Medlenburg, Württemberg. Die Schweizerijche Bundes 
verfafjung unterjagt die P. Durch das Deutſche StrafGB. iſt fie ala richter- 
(ic erfannte Strafe bejeitigt. Sie kann alſo nur noch ala disziplinares Strafmittel 
in Anwendung kommen (wie beijpielaweije in Preußen) und wird, obichon auch in 
diefer Hinficht durch die allgemeine Abneigung und jachverftändige Beobachtung an- 
gefochten, als Zuchtmittel in den Straianftalten angewendet. Am entſchiedenſten 
hatte Bayern mit der PB. gebrochen. Art. 25 des StrafGB. von 1861 bejtimmte: 
„Körperliche Züchtigung ift auch ala Disziplinarftrafe in allen Strafanftalten und 
Gefängniffen unbedingt auögeichlofien“, wobei e& verblieben iſt. Die P. findet fid 
noch in außerdeutichen Gejegen: namentlich in England nicht nur bezüglich der Armee 
und Marine (1879 auf bejtimmt bezeichnete Fälle und 25 Hiebe mit der „neun ge 
ihwänzten Kate” beichräntt), jondern auch in den Gtrafanftalten (unter Zuziehung 
zweier Richter und nach Anhörung des Delinquenten) bei leichteren, ſummariſch ab- 
zuurtheilenden Bergehensfällen (Whipping). Sehr ausführlich ward der Gegen: 
ftand auf dem zu London 1872 abgehaltenen internationalen Gefängnißkongreß er: 
Örtert. Während die große Mehrzahl der Sachverftändigen aus den fontinentalen 
Staaten die P. entichieden, jowol aus dem Grunde der Unfittlichfeit verwarf, als 
auch nach praftifchen Erfahrungen ala entbehrlich bezeichnet, blieben die Stimmen 
der Engländer jehr getheilt. Die Deutichen Strafanftaltsbeamten billigten in der 
Mehrzahl die disziplinare Anwendung der P. bei jugendlichen Delinquenten. Da: 
gegen verwarf der zweite internationale Gefängnißkongreß zu Stodholm mit Stimmen: 
mehrheit (gegen Engländer und Dänen) die P. 

Lit.: Fin die ältere Zeit, in der die Beibehaltung der P. noch ftreitig war: Feuer— 
bah:Mittermaier, Lehrbuch, $ 148. — Ueber die P. als Disziplinarftrafe: Elvers in 
v, eg R- E lg, Deutſchen Strafrehtößte., 1861, ©. 756. — vd. Balentini, 


ebendai. 1865, ©. 359 ff. — Transact. of the Intern. Prison Congress (1872), p. 384. — Le 
Congres penitentiaire intern. de Stockholm, tom. I. p. 245 ss. 


v. Holtzendorff. 
Prugger, Johann Joſeph, & 1717 in Landsberg, jtudirte in Ingol— 


itadt, jodann Soldat und herrichaftlicher Verwalter, ward 1753 Profeffor in Ingol— 
ſtadt, T 1788. 


Schriften: Observationes pract, ad Jus et Consuetudines Bavariae de Privilegis 
Statuum Provincialium, 1762. — Diss. ad Jus et Consu. Bav. de Jure Foeminarum il- 
lustrium singulari, 1765. 


git.: Prantl, Geſchichte der 8.M. Univerſ. 1872, Bb. I. ©. 593; Bb. I. ©. 510. 


Bezold. 
Publiciana actio iſt die Klage, welche das prätoriſche Edikt demjenigen, der 


die Uſukapion einer Sache begonnen, dann aber den Befit derfelben verloren hat, 
zur Wiedererlangung des letteren gewährte. Das Edikt ift mitgetheilt in 1. 1 pr. 
D. h. t., die Klagformel bei Gaius, IV. 36. Laut derjelben war die Klage 
mit der Fiktion verjehen, daß die Ujufapionsfrift für den Kläger bereit3 abgelaufen 
jei, und auf den Fall, daß unter diefer Vorausſetzung der Kläger Eigenthum haben 
winde, der Richter zur Verurtheilung des Beklagten angewiejen. Inſofern war fie 
eine utilis rei vindicatio ($S 4 I. de act. 4.6; 1.786D.h. t.), Nach der 
jet allgemein angenommenen Meinung fonnte mit der P. ſowol der bonitarifche 
Gigenthümer, al® der bonae fidei possessor den verlorenen Beſitz verfolgen. Sehr 
itreitig ift e8 aber, ob es für dieje beiden Fälle zwei verichiedene Ediktsbeitimmungen 
und Formeln gegeben habe (dafür zuletzt Huſchke, ©. 7, 12, und Lenel, S. 27) 
oder niht (Schirmer, ©. 349; Brinz, Xehrb,, $ 178 Anm. 45), und welches 
das eigentliche Grundprinzip der Klage geweien jei. Während die erjtere Frage 


Publiciana aotio. 235 


ein blog hiſtoriſches Interefje hat, ift die zweite feit dem Wegfall der Klagiormel 
und der durch dieſe gegebenen Norm für die Vorausfegungen der Klage doppelt 
wichtig. Manche leiten nun die Klage, gemäß der in jener Formel ausgejprochenen 
Bqugnahme auf die Uſukapion, aus dem „werdenden Eigentum“ (Huſchke, ©. 19) 
oder „der Selbſtgewähr“ (Schirmer, ©. 348) des Ufufapienten ab; dieje müfjen 
tolgerecht an dem Klagerforderniß des Ujufapionsbefiges feſthalten (1. 7 $ 17; 1. 9 
$5 D. h. t.; vgl. Schulin, ©. 529). Andere erflären dies Erforderniß für 
eine „blos formulare Konſequenz“, jehen als Grundlage der Klage vielmehr die 
bonae fidei possessio an, und behaupten, daß es ſchon bei den Römern eine Publi= 
zianiſche Klagiormel gegeben babe, welche direft auf bonae fidei possessio intendirte 
und von der Fiktion der vollendeten Uſukapion abjah (arg. 1. 12282 D.h. t.; 
Brinz, Anm. 19; vgl. au Bruns, TH. I. ©. 398). Endlich wieder andere 
gründen die P. auf „redlichen Erwerb“ .oder „putatives Eigenthum“ mit der Kon- 
fequenz, daß durch folche Erwerbögründe, welche zum UWebergang bes Eigenthums 
Beſitz nicht erfordern, dementjprechend für den gutgläubigen NRechtönachjolger eines 
Nichteigenthümers auch die P. ohne Befi begründet werde. So wirflih Wind— 
iheid, Lehrb., $ 199, Nr. 2 und unfolgerichtig Huſchke, S. 50, ja ſogar 
Brinz, Anm. ie weil er bonae fidei possessio nicht ala eine Art des „gemeinen 
Beſitzes“, ſondern als ein Beſitzrecht, ein Mittelding zwiſchen Beſitz und Edenthum 
auffaßt. Die letzte dieſer drei Meinungen führt zu höchſt anomalen Folgeſätzen 
(gl.v. Bangeromw, $ 333, Anm. I. 1a). Als richtig erſcheint die erſte mit der 
Maßgabe, daß dem Beginn der civilen Ufufapion auch derjenige einer anderen 
(prätoriichen) Erfigung gleichjtand (1. 11 8 1; 1.12 $ 2 D. h. t.), daß ferner, 
jeitdem Juſtinian an die bonae fidei possessio eine außerordentliche — ge⸗ 
fnüpft hat, auch der Beginn der letzteren zur P. genügt (3. B. bei res furtivae, 
top 1.985 D. h. t.), und daß endlich die mala fides superveniens, welche das 
Kan. Recht zum Hinderniß der Erſitzung erhoben hat, eben nur dieje leßtere, nicht 
aber auch das einmal erworbene Recht der P. ausfchließt. So mit Recht Brinz, 
Anm. 50, 51; dawider freilich Windfcheid, Anm. 8. Bei diefer Maßgabe it 
die erfte der drei Theorien von der zweiten nicht erheblich verichieden, zumal auch 
die Vertreter diejer leßteren die bonae fidei possessio an Sachen, die einem Ver— 
äußerungsverbot unterliegen, zur P. nicht für ausreichend erachten (Brinz, Anm. 22). 
Die Frage, ob auch ein Putativtitel bei der Begründung der P. auäreiche, war 
unter den klaſſiſchen Yuriften ftreitig (. 2 $ 16 D. pro emt. 41,4 und 1.782 
D. h. t.). Heutzutage wird wegen der Statthaftigfeit der Grfitung in einem jolchen 
Falle auch die P. allgemein zugelaffen (Huſchke, ©. 56; Brinz, Anm. 89). — 
Ueber die Paffivlegitimation, den Gegenjtand und das Biel der Klage gelten hier 
dieſelben Regeln, wie bei der direkten Vindikation (j. diefen Art.). Auch die 
Einreden, welche gegenüber der letzteren Pla greifen, finden bier ebenjalla Ans 
wendung ; außerdem aber auch 1) excepti® iusti dominii (si non ea res Ni Ni sit), — 
vgl. 1. ult. D. h. t. — von der man wegen 1. 57 D. mand. 17, 1 meiſt an— 
nimmt, daß fie nur causa cognita erteilt worden ſei, jedoch mit Unrecht (Brinz, 
Anm. 56—61); und 2) die exceptio aus eigener bonae fidei possessio des Beflagten 
(si non Ns Ns quoque emit et ei traditum est). Gegen die lettere hat der Kläger 
unter der Vorausſetzung, daß er früher als der Beklagte und von demjelben Auftor 
envarb, die replicatio rei venditae ac traditae (l. 9$ 4 D. h. t.). Wenn 1. 81 
x 2 D.d.ae v. 19, 1 dieſe Entjcheidung auch beim Erwerb von verichiedenen 
Bormännern treffen will, jo muß fie zurüdjtehen, und bier vielmehr das Prinzip, 
daß in pari causa potior est qui possidet durchgreifen. Einen neuen Verſuch zur 
Vereinigung beider Stellen macht Eijele, Jahrb. j. Dogm. XIV. ©. 1 ff. Uns 
gerechtfertigt ift die Behauptung, daß die P. jedem gewejenen Uſukapionsbeſitzer 
dauernd, aljo auch) bei freiwilliger Befigentäußerung zugeftanden habe. So Schulin, 
lleber einige Anwendungsfälle der P., Marb. 1873. Bgl. dawider Brinz, Krit. 


236 Publikation — Publizität. 


Vierteljahrsſchr. XVI. ©. 251; Huſchke, ©. 29 ff. Biel geitritten wird über 
den Sinn der in 1. 83 pr. D. de 0. A A. 44, 7 vorfommenden P. rescissoria. 
Huſchke, S. 101, faßt fie als eine dem Gigenthümer für zwei bejondere fälle 
verheißene P. Richtiger erklärt man fie mit Brinz (Xehrb., $ 178, Anm. 75) als 
eine eben auch nur dem (gewejenen) bonae fidei possessor zuftändige Klage, bei 
welcher aber die eingetretene GErlöfchung der bonae fidei possessio (3. B. in folge 
von Ujufapion des Beklagten) durch eine zweite Fiktion oder jonftwie außer Srait 
gefegt worden ſei. Man hat auch verfucht, die jämmtlichen utiles in rem actiones 
mit einer Fiktion als Anwendungen der P. darzuftellen (Schulin, a. a. ©.; 
dawider mit Recht Brinz in der Krit. Bierteljahrsichr. a. a. D.). — Endlid 
werden ebenjfo, wie die P. ala Analogon der Vindikation jtattfindet, auch nad 
Analogie der übrigen Eigenthumsſchutzmittel (a. negatoria u. j. w.), ja der übrigen 
dinglichen Klagen überhaupt entiprechende Rechtsmittel auf Grund der (zur Erfitung 
geeigneten) bonae fidei possessio gewährt und nach Borgang der 1. 11 S1D.h.t. 
in der Regel Publizianische Klagen genannt. Das Preuß. Recht hat die P. zufolge 
der zur Zeit feiner Abfaffung üblichen Vermiſchung derjelben mit dem possessorium 
ordinarium zu einer Klage umgewandelt, die jedem früheren Befiger, ja dem bloßen 
Inhaber gegen den Schlechterberechtigten zufteht (SS 161—163 Alle. ER. L 7). 
Das Defterreichiiche BGB. (SS 372, 373) und das Sächſiſche BGB. (SS 325 bis 
327) find im Wejentlichen zum Röm. Recht zurüdgefehrt. 

Quellen: Tit. Dig. de Publiciana in rem actione 6, 2, 

Neuefte Lit.: une, Das Recht der Bubliciani(cen Alage, 1874. Dazu 
Schirmer, Kit. V.J.Schr. XVII. ©. 347—362 und Schulin, dal. ©. 526-545. — 
Brinz, Lehrb., I. (2. Aufl.) SS 178, 179. — Ueber Kinzelnes: Lenel, Beiträge zur Kunde 
des prätor. ẽbditis Stuttg. 1878. — Bruns in Better’a Jahrb. bes Gem. Rechts IV. 
S. 1—21l. — Sonftige Lit. bei Windicheid, Lehrb., S 199. Ed. 

a (al Urtheilsverfündigung. 

ublizität (Th. I. S. 502) der Einfchreibungen im Grund» und Hypotheken— 
buch bildet, verbunden mit der Legalität (f. diefen Art.), die Grundlage der 
publica fides, der fichern allgemeinen Erkennbarkeit der wichtigsten dinglichen Rechts: 
verhältniffe an Grunditüden und gleichgeltenden Gegenftänden. Dies nicht in dem 
Sinne einer Veröffentlichung derjelben durch die Preffe, durch amtliche, etwa für 
Grundbuch: und Hypothekenanzeigen befonders beitimmte Blätter, wie fie allerdings 
in Bremen fich finden. Vielmehr beruht die P. auf der vom Geſetz gewährten 
Möglichkeit, Einficht von den amtlich und zum öffentlichen Glauben geführten 
Urkundenbüchern (f. d. Art. Hypothekenbücher, Grund- und) zu nehmen, 
oder daraus fich Abjchriften geben zu laffen, welche zum öffentlichen Glauben amt: 
lich auägetertigt werden. Entweder ift die Berugniß zur Einficht oder koftenpflichtigen 
Abjchriftnahme (Hypotheken-Inſtrumente,-Scheine u. drgl.) Jedem geftattet, der ſich 
diejerhalb bei der Hypothefenbehörde meldet — jo nach Franz. Recht, wo nur 
Perjonalfolien bejtehen, doch auch in Oeſtekreich und Liechtenjtein — oder nur dem: 
jenigen, welcher die Einwilligung des eingetragenen Befiers nachweift oder auch 
ein beionderes Intereſſe beicheinigt oder mindeftens glaubhaft macht; jo überwiegend 
nach Deutichem Partikularrecht, wo Realfolien angelegt werden. — Die Vermerke 
und Eintragungen in den Büchern, joweit fie dingliche Rechtöverhältnifie betreffen, 
liefern vollftändigen Beweis. Auch dann, wenn fie nicht erfennbare Fehler an fich 
tragen, aljo anfechtbar find. Wenn aber Jemand die Eintragung benußt, der den 
Fehler kennt, jo muß der „individuelle jchlechte Glaube den Glauben dee Grund— 
buchs überwiegen“ (Bericht des Preuß. Herrenhaufes 1872). e- fönnte es da— 
hin kommen, daß der Anſtifter einer betrügeriſchen Auflaſſung (4. B. Vorſchiebung 
eines alſchen Verkäufers) ſich das Grundſtück unanfechtbar ſichert, indem er ſich 
durch weitere Auflafjung die Eintragung als Eigenthümer verjchafft. Allein fo ein- 
fach Liegen die Streitfälle jelten. Das Preuß. Allg. ER. erklärte Eintragungen 
ihon für anfechtbar, jobald der Eingetragene zur Zeit der Eintragung auch nur 


Publizität. 237 


um einen früher entjtandenen Titel, einen Rechtögrund eines Andern zur Eintragung 
wußte. Dem entgegen ift in nmeuefter Zeit ein erhöhtes Gewicht auf Ausjcheidung 
der obligatorischen oder jonftigen Veranlaffungsgründe von der wirklichen Begründung 
dinglicher Rechte an Grundſtücken gelegt. 

Die neuejte Preuß. Gejehgebung hat ausdrüdlich beitinfmt, daß die Kenntniß 
eines älteren Rechtögefchäit? und des dadurch begründeten perjönlichen Anfpruchs 
auf Auflaffung einem Andern in feinem Eigenthumserwerb nicht entgegeniteht. 
Selbit eine frühere Tradition jteht nicht entgegen. Leder Erwerber thut daher gut, 
fo bald ala möglich feinem Erwerbe die PB. zu fichern, alfo feine Eintragung zu er- 
wirken. Gleichwol ift, Formfehler ausgeichloffen, die Anfechtung der Eintragung 
auch auf Grund des Nechtögeichäfts zuläffig, „in deſſen VBeranlaffung die Auflaffung 
erfolgt it.“ Da die Veranlaffung zur Grundichuld lediglich im Willen des Eigen- 
tbümerö liegt, jo gelten zwar nicht bei ihr, aber doch bei der Hypothek gleiche 
Regeln. Was die Aufftellung von Beichränfungen eingetragener Rechte, jowie von 
eigentlichen Einreden, ſoweit fie nicht ausdrüdlich ausgejchloffen, wie die Verjährung, 
anbelangt, jo wird hier durchgängig der Kundbarmachung derjelben im Grundbuch 
die anderweitig erlangte Kenntniß gleich geachtet. 

Wenn demnach das Weſen der P., des öffentlichen Buchglaubens darin ge- 
tunden wird, 1) negativ, daß dingliche Nechte durch feine andere als die Form der 
Gintragung, 2) pofitiv, daß fie auch lediglich nach Maßgabe ihres vor Augen 
liegenden Inhalts begründet und erhalten werden, jo ift dies doch nur mit erheb- 
lichen Einschränkungen zu verjtehen. Es giebt nicht nur dingliche Rechte (befonders 
Semwituten), die nicht der Eintragung bedürfen, jondern es erhellen auch die Rechts— 
verhältniffe weder vollitändig, noch unumjtößlich aus dem Buch allein. Insbeſondere 
it die früher lebhaft befämpfte jog. Duplizität des Eigentums, d. 5. die Fortdauer 
eines wahren, 3. 3. aber öffentlich nicht anerfannten, neben dem ſog. Buch» 
Gigenthum keineswegs befeitigt, noch kann fie füglich befeitigt werden. Ebenſo— 
wenig verleiht die P. den Eintragungen von dinglichen Rechten die Kraft abjtrakter 
Formalakte. 

Die Rechtswirkſamkeit der Eintragungen, „die Rechtskraft der bürgerlichen Ein— 
träge* (Erner) beſtimmt ſich nach dem Stande der Geſetzgebung zu der Zeit, da 
fie erfolgt find. Eine Verſtärkung derjelben durch Gejegesänderung überträgt fich 
auf vorhandene Eintragungen nicht; es jei denn dies ausdrüdlich angeordnet. Die 
Befttitelberichtigung der Piandbücher wird durch deren Umwandlung in Grund» 
bücher nicht in Bucheigenthum verwandelt (j. Dalde in Gruchot's Archiv, 
XVII. 469 ff.). 

Hypothefenscheine find öffentliche Urkunden, aber nicht die Träger der publica 
fides des Grundbuchs, deffen Inhalt entjcheidet, wenn er mit dem des Scheins nicht 
übereinjtimmt. Anders bei den Grundichuldbrieien des neueſten Preuß. Rechte. 
Die Grundakten jtehen nicht unter dem Schuße des P.prinzipe. 

Giab. u. Lit: Preuß. GrundbuhOrbn. $ 19, Gejeß über Eigenth.-Erwerb und Be: 
laftungen, 88 4, 6, 7, 10, 11, 15, 38 ff., 49 nebft Sommentaren. — Dernburg, Preuß. 
Privatrecht, $ 202; Derjelbe und Hinrichs, Das Preuß. Hypothelenrecht, I. Abth. (Leipz. 
1877) & 14. — 9. Golberg, Ueber die Bedeutung bes öffentlichen Glaubens des Hypotheken— 
buchs nach Allg. ER. und bes Grundaftes nach dem * vom 5. Mai 1872 (Halle 1877), 
S. 8 ff., 31 Fi, 71 ff, 77 ff. 161 ff. — Aelteres Preuß. Recht |. Prinz, Der Einfluß ber 
Hypot hetenbuch⸗ Verfaſſung auf das Sachenrecht (1858). — GrundbuchOrdn. für Stadt und 
Gebiet von Rente vom 4. Dez. 1868,.5$ 2, 4, 6, 7, 28, 33—36. — dv. Wächter, Die 
Einträge in die Gerihtsbücher und ihre Bedeutung für die Sicherung und die Natur der ein« 
setragenen Rechte nah Württemb. Recht, in feinen Erörterungen, Heft 1 ©. 137 fi. (1845). — 
Regelaberger, Studien zum Bayerifhen Hypothelenrecht, ©. 78 fi. (1872). — ESieg- 
mann, Komment. zur Sächſ. HypothefenOrdn., ©. 8 ff. (1872). — Könige. Sachſen, Sn: 
fruftion dv. 9. Januar 1865, 88 95. — v. Bar, Dad Hannoveride er Leipz. 
1871, ©. 22 — — v. Meibom, Das Mecklenburgiſche Hypothelenrecht eipz. 1871), 
S. 44 fi. — Code cir. art. 2196—2199 (Abſchriften an Jedermann, Wirkung don Aus— 
Iefungen). — Sadjen- Weimar, Pfd.Gel. vom 6. Mai 1839, SS 71 ff.; Aust Ordn. vom 


238 Puchta — Pufendori. 


12. März 1841. — Hier ſog. Privilegienbücder für Generalhppothefen: Auſſez, Hand. d. 
Zabularv. in Defterreih, 5 776. — Erner, Das Publizitätäprinzip (1870. — Hierzu 
Randa in der Krit. B.I.Echr. von Brinz, 16, 17 ff. Schaper. 


Puchta, Woligang Heinrich, & 3. VIII. 1769 zu Möhrendorf bei Cr: 
langen, wurde Advokat in Ansbah, dann Kriminalrath, 1797 Juſtizrath, 1811 
Dirigent des Landgerichts in Erlangen, 7 6. III. 1845. 

hriften: Anleitung zum vorjichtigen Kreditiren auf unbemwegliche Güter nad ben 
Grunbfäßen bes Preußiichen Hypothefenrehts, Erl. 1815. — Ueber Güterzertrümmerung und 
Grundftüdhanbel, Erl. 1816. — Der Geihäftamann in Gegenftänden der öffentlichen und 
Privatrechtspraris, Erl. 1818. — Worte der Erfahrung für das Prinzip der Spezialität, 
Erl. 1819. — Ueber die Grenzen des Richteramtes_ in bürgerlichen Rechtsſachen, Nürnb. 
1819. — Hanbbudy bes —— Verfahrens in Sachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, 
Nürnb. 1821, 2. Aufl. 1831, 1832. — Unterricht über die Gemeindeverwaltung auf dem Lande 
und im Königreih Bayern, Erl. 1822, 2. Aufl. 1823. — Beiträge zur Gejehgebg. und Praris 
des bürgerlichen Rechtsverfahrens, Erl. 1822. — Unterricht über die neue Hypotheken— 
verfafiung in Bayern, Erl. 1823. — Das Ynftitut der Schiedsrichter, Erl. 1823. — Entwurf 
einer Ordnung des Verfahrens in den Gegenftänden der freiwilligen Gerichtäbarteit, Erl. 
1824. — lleber die bürgerliche aba ai und — Bayerns, Erl. 1826. — 
Der Dienſt der deutſchen Suftigämter oder Einzelrichter, Erl. 1829, 1830. — Ueber die geridtl. 
Klagen, beſonders in Streitigkeiten der Landeigenthümer, Giehen 1833, 2. Aufl. 1840. — Die 
Landgerichte in Bayern und ihre Reform, Erl. 1834. — Das Prozekleitungsamt bes Deutichen 
Givilrichterd, Gießen 1836. — Ueber bie rechtliche Natur der Bäuerlichen Gutsabtretung, 
Gießen 1837. — ping zur Civ. Prz. Prax. in Bayern, Erl. 1838. — Der Inauifitions: 
prozeß mit Rüdficht auf Reform des Deutjchen Strafverfahrens, Erl. 1844. 

a Seine Erinnerungen aus bem Leben und Wirken eines alten Beamten, Nördl. 
1842, 


Georg Friedrih P., Sohn des PVorigen, & 31. VIII. 1798 zu Gadolz 
burg in Franken, ftudirte in Erlangen, wo er 1820 promovirte, wurde 1823 außer: 
ordentl. Prof., 1828 ordentl. Prof. in München, ging 1835 nach Marburg, 1837 
nach Xeipzig, 1842 nach Berlin, 1844 Geh. Obertribunalsratd, 1845 Mitglied des 
Staatärathe, T 8. I. 1846. 

Schriften: Grundrik zu Borlefungen über juriftiiche Encyflopäbie und Methodologie, 
Erl. 1822. — Civil. Abhanbl., Berl. 1823. — Enchflopädie, Leipz. 1825. — Tas Gemohn: 
heitärecht, Erl. 1828—1837. — Lehrb. für Inftitutionenvorlef., Münd. 1829. — Syftem dei 
Gemein. Givilrechts, Münch. 1832. — Verosimilium capita V, Lips. 1837. — Lehrbuch der 
Pandekten, Leipz. 1838, 12. Aufl. von Schirmer, 1877. — Einleitung in das Recht der 
Kirche, 1840. — Kurſus der Inftitutionen, Leipz. 1841, 1842; 9. Aufl. von Paul Krüger, 
(2 Bde.) ana 1881. — Vorlefungen über das heutige Rbmiſche Recht, Leipz. 1847, 1848, 
6. Aufl. von Rudorff 1873, 74. — Kleine civilift. Schriften von Rudorff herauägeg., Leipp 
1851. — Aufläße im Rheinifhen Mufeum, Krit. Jahrbb. u. Weiske's Rechtslexikon. 

Lit.: Augsburger Allgem. Zta. vom 5. Februar 1846. — Krit. Jahrbücher der Deutichen 
Rechtswiſſenſchaft, 1846, ©. 28: 3 — Huber'3 Janus, 1846, ©. 337 fi. — Nekrologe 
Stahl’s und Wepell’s vor den „Kleinen civilift. Schriften“. — Revue de legislation 
XXVI. (1846). — Ziller, Ueber die von P. der Darſtellung der zu Grund gelegten 
rechtaphilofophiichen Anfichten, Leipz. 1853. — Schulte, Sehdhichte, III. b en 

Teichmann. 


Pufendorf, Sam. Freih. v., & 8. I. 1632 zu Flöha bei Chemnitz, ſtud. 
in Leipzig und Jena, wurde 1661 Prof. des Natur: und Völkerrechts in Seidel: 
berg, ging 1668 nad) Lund, wurde Schwed. Hijtoriograph, 1688 KHurbrandenburg. 
Geh. Rath zu Berlin, vom König von Schweden zum Freiherrn erhoben, T 16. 
X. 1694. 

Schriften: Elem. jurisprud. univ., Hag. 1660, Jen. 1669. — De Philippo Amyntae 
filio (in Diss. acad. select., Upsala 1677 B; 86). — De jure naturae et gentium, Lond.. 
Scan. 1672 c. not var., Francof., Lips. 1744; franzöf. von Barbeyrac, Amst. 1706, Bäle 
1732, nouv. &d. 1771. — De officio hominis et civis, Lond., Scan. 1673, 1702, c. not. 
Barbeyracii Lugd. Bat. 1769; nouv. &d. Par. 1830. — De rebus suecicis, Ultraj. 1686. — 
De rebus gestis Frid. Wilh. Magni Electoris, Berl. 1695. — De rebus gestis Friderici IIL, 
Berl. 1695. — Severinus de Monzambano, de statu imperii Germanici, Genev. 1667, Veron. 
1668 und öfter (deutih von Dr. Breßlau, Berl. 1870). — Jus feciale divinum, Lub. 1695. 
Francof. 1716. — Eris Scandica 1686, 1759. — De habitu religionis christianae, Brem. 
1687, 1697, 1703, franz. Francf. sur PO. 1690, Utrecht 1690, Amst. 1707, deutih von Imm. 
Weber s. 1. 1692, Frantf. 1714. 


u 
Pugge — Punttation. 239 


Lit: Bluntſchli, Geſchi m - as — ——— rt - 108—132. — 
Bluntſchli, StaatsWört.B., 941 Pe 
Rehtd: und Staatäprin naipien, m ae * Ft M — —— ———— I. 415. — 
Bee Re der Eheichliehung, S 258. — Warntönig, Rechtsphiloſophie, 2. Au 

Raumer, Geld. Entw. bes Begriffes von Recht, Staat und Politit, 
3. Aufl. ©. ern — Cauchy, Droit maritime international, II. 49—53. — Frantlin, 
Dad Deutihe Reih nah Sev. v. Monzambano, Greifiw. 1872. — Herzog’3 Neal 
enchllopäͤdie XX. 431434. — Roſcher, Geichichte der Natiomal-Delonomit, 1874, ©. 304 
bis 318; a in ben Hiftorifch.philol. Berichten der fönigl. NE ie 1868, 
e. 202 f. — v. zen in den Preuß. Jahrb. XXXV. 614—655, XVL 61 
Schulte, Geſchichte, IIL.b 5 Zeiömann. 


Friedrich Eſaias = Großneffe des Vorigen, & 12. IX. 1707 zu Büdeburg, 
wurde Advofat am Geller Tribunal, 1738 Oberappellationsgerichtärath, 1757 Mit- 
glied der Sozietät der Wiffenjchaften zu Göttingen, 1767 Vizepräfident des Ober: 


appellationsgerichts, erblindete, wurde jedoch glüdlich operirt, 1 1785. 

Schriften: Obs. jur. univ. quibus praec. res. judic. summi trib. Cellensis contin., 
Cellis et Hannov. 1744—1784. — Animadversiones juris, Hannov. 1783, — De juris- 
dietione germanica, Lemgov. 1740. — Er gab ſeines Vaters Introd. in processum crimi- 
nalem Luneburg. ed. II. Hannov. 1768, und friminal: — — 1736 heraus. 

J Rotermund zu Jöcher. — Meufel, Zeihmann. 


888, E. 8 1800, 7 8. VIII. 1836 zu Bonn. 
ug en: Obserr. duae de jure civili, Bonn 1831. — Ueber die Deutichen Univerfis 
täten, Beleuchtung der Schrift von Diefterweg: Ueber das Verberben an ben Deutichen 
Univerfitäten, Bonn 1836. — Er war einer der — —— des Rheiniſchen Muſeums 
für Yurisprudenz. 

Lit.: Neuer Netzolog ber Deutichen, XIV. 1047. Zeihmann. 
Punktation nennt man jede fchriftliche Beurkundung einer zwifchen zwei ver— 
tragichließenden Parteien „vorläufig“ erzielten Willensübereinftimmung. Die recht: 
liche Bedeutung einer ſolchen kann aber ſehr verjchieden jein. Die P. kann enthalten 
1) bloße Traftate, d. h. Erklärungen ohne Verpflichtungswillen, zur Notiz für das 
Gedächtnig oder dergl. Aus ſolchen entipringt feine Rechtewirkung. 2) Eine 
vollendete Willenseinigung über einen künftigen Vertragsſchluß; ſog. pactum de 
eontrahendo oder Vorvertrag, 3. B. der Wechielichluß (pactum de cambiando), ıc. 
Vgl. 1. 68. D. d. V.O. 45, 1. Hieraus hat der Berechtigte eine Klage auf Ab— 
ihluß des verfprochenen Vertrages, eventuell auf fein Intereffe. Doch ift dazu er: 
torderlich, daß der Vorvertrag nicht aus formellen Gründen ungültig je. Im All 
gemeinen bedarf derjelbe freilich nach der Grundregel des Gem. Rechts feiner be- 
fimmten Form. Indeffen muß ausnahmsweiſe die Beobachtung der für den jog. 
Dauptvertrag gebotenen Form verlangt werden, wenn diefelbe nicht blos im Dienjte 
des Parteimwillens und zu deſſen befjerer Feititellung, jondern zu feiner Beſchränkung 
und, um voreilige Gebundenheit zu verhüten, vom Gejeßgeber vorgejchrieben ift; wie 
J B. die Infinuation übermäßiger Schenkungen. Denn in jolchen Fällen würde 
durch Die Hlagbarfeit eines diefer Form entbehrenden Vorvertrages die Umgehung 
der gejeglichen Formvorſchrift eröglicht werden. Hier ift denn auch eine an die 
Nichteingehung des Hauptvertrages gefnüpfte KHonventionalftrafe ꝛc. ohne Wirkung. 
3) Die P. kann auch einen fertigen Vertrag enthalten, welcher nur noch durch 
Wiederholung in einer bejondern Form beglaubigt werden fol. Dies ift nament— 
lich der Fall, wenn über ein Grundjtüd fontrahirt, aber zum Beweije des Kontrafts 
für den Grundbuchrichter eine öffentliche Urkunde erforderlich ift. Dann geht die 
Klage aus der P. auf Erfüllung der vorbehaltenen Form, ohne daß darin ein zweiter 
Vertragsſchluß zu finden wäre, nicht minder aber auch unmittelbar auf Erfüllung 
(Seuff., Arch. X. 242; XI. 33). Das Preuß. Allg. ER. unterjcheidet die ver: 
schiedenen, unter dem Namen P. zufammengeiaßten Abreden nicht gehörig. Es ver: 
leiht einer „von beiden Theilen unterjchriebenen P. gleiche Gültigkeit, wie einem 
förmlichen Kontrakt,“ jtellt fie aber, „wenn wejentliche Beitimmungen fehlen, oder 
die Parteien die Verabredung gewifjer Nebenbedingungen fich darin ausdrüdlich vor- 


240 Pupillarjubititution — Putativehe. 


behalten haben“ (bis zur vertrags- oder gejeßmäßigen Ergänzung diefer Mängel), 
mit Traftaten gleich (8 120—126 Allg. ER. I. 5). 

Lit.: Regelsberger, Givilrechtliche Erörterungen, N 1868, ©. 128— 162. — Degen: 
folb, Der Kegriff des Dorvertrages, reib. 1871. — MWindiceid, Lehrbuch, II. $ * 
Nr. 2. — Dernburg, Preuß. Privatrecht, I. $ 106. Gi. 

Pupillarfubftitution (Th. I. S. 460) bezeichnet im Röm. Recht die Er— 
nennung eines Erben durch den Gewalthaber für deſſen (geborenen oder noch un 
geborenen) Gewaltunterworfenen auf den Fall, daß letterer durch des eriteren Tod 
gewaltfrei werden und vor erlangtem Tejtiralter (als pupillus, impubes) verjterben 
jollte. Vorausſetzung ift, daß der Gewalthaber auch für fich ſelbſt ein Zejtament 
errichtet, als deſſen Beitandtheil das Pupillarteftament gilt (pars et sequela paterni 
testamenti), mit welchem es jteht und fällt. Grund jener Befugniß ift ſowol die 
eigene Zeftirunfähigfeit des impubes ala die noch nach dem Tode fortgejeßt gedachte 
Herrichaft des paterfamilias über die familia, indem das Pupillarvermögen als Zu: 
wach des väterlichen behandelt wird. Den Namen Gubftitution trägt die Ernennung 
des Pupillarerben darum, weil der Gewalthaber jo indireft auch fich felber einen 
Nacherben einfeßt, gleichviel ob er zugleich den Pupillen zu feinem Erben ernamnt 
haben mag oder nicht. So iſt denn auch im Zweifel Bulgarfubjtitution in der P. 
enthalten und umgekehrt. Zwar verfügt der Gewalthaber über zwei Erbichaften, 
aber in Einem Zeftament, weshalb jene, wenn fie in der Perfon des Pupillen oder 
des Subjtituten fich vereinen, untrennbar find; weil aber der Teſtator dem Kinde, 
nicht dieſes ich jelber, Erben ernennt, kann Anfechtung der P. weder durch die 
Notherben des Teitators, noch durch die des Pupillen jtattfinden. Die Aufhebungs- 
gründe des Pupillarteftaments ergeben fich aus deſſen Vorausjeßungen. — Während 
der Code eivil jegliche Subftitution verbietet, und daher der P. überall nicht er: 
wähnt, lebt diejelbe fort in der neueren Deutjchen Gejeßgebung, jedoch in wejentlic 
veränderter Geſtalt. So betrachtet das Preuß. Allg. ER. das elterliche Teſtament 
und die P. ſtets als zwei in Gültigkeit und Wirkungen von einander unabhängige 
Teftamente; beichränft den Teſtator bei der Wahl des Subjtituten auf die Bluts— 
verwandten des Kindes; gewährt außer dem Bater auch der Mutter das Subftitutions- 
recht, diejer aber nur für das von ihr auf das Kind vererbte Vermögen. Nach 
Deiterr. Recht können Eltern ihren Kindern (auch den tejtirunfähigen) nur rüdficht: 
ih des Vermögens, das fie ihnen hHinterlaffen, Erben oder Nacherben ernennen. 
Das Sächſ. BGB. fennzeichnet folgende Verfchmelzung der subst. pupill. und quasi- 
pupillaris: 1) das Recht, an Stelle ihrer leiblichen Kinder über deren einjtigen Nach— 
laß zu verfügen, jteht zu dem Vater und der Mutter (nicht anderen Ajcendenten), 
leßterer für das außereheliche Kind, für das eheliche mir, wenn der Vater jein Recht 
nicht ausgeübt hat; 2) Vorausſetzung ift a) irgendwelche Berfügungsunfähigfeit des 
Kindes, mit Ausnahme der Prodigialität, b) daß das Kind nicht vor der Unfähig: 
feit gültig tejtirt hatte; 3) die elterliche Verfügung gilt als letter Wille des Kindes 
(welches ſelbſt überhaupt nicht enterbt werden kaun), deſſen Pflichttheilserben alſo 
auch zu berüdfichtigen find; 4) der eingejeßte Erbe ijt direkter, wenngleich bedingt 
ernannter Erbe des Kindes, und zwar erjten Grades; 5) der Parens braucht über 
feinen eigenen Nachlaß überall nicht zu verfügen. 

git. u. Quellen: Glüd, XL. u. XLI — Arndts im Redtäler. X. ©. 668 ff. — 
Baron, Gelammtrechtäverh., S! 453 ff. — Pietak, Arch. für civ. Praris Lvnn u. LIX. — 
Mindicheid, Zehrb., IIL 8 — fl. — Inst. 2, 16; D. 28, 6; C. 6, 26. — Code civ. art. 
896. — Preuß. Allg. ER. 11.2 88 521 ff. — Oeflerr. BEP. $ 609. — Sidi. BER. 
$$ 2208 ff. — Mommijen, Erbr.:Entwurf, 88 148, 487 ff. Schütze. 

Purgoldt, Johann, ſ. im Anhang. 

Putativehe (matrimonium putativum) iſt diejenige Ehe, welche in dem guten 
Glauben beider oder auch nur eines Ehegatten, daß ihr fein trennendes Ehehindernik 
entgegenjteht, abgejchloffen wurde. Zur Annahme der bona fides ijt aber nadı 
heutigem fatholifchen Kirchenrecht die Eingehung in der vom Tridentinum vor 


Pütter — Uuarantäneanftalten, 241 


geichriebenen Form, eventuell, wo dafjelbe nicht publizirt ift, die Abſchließung erſt 
nach ftattgehabtem Aufgebot erforderlih. Unter diefer Vorausſetzung gelten die 
Kinder, welche bis zu der ficheren Kenntniß der Ehegatten von der Nichtigkeit der 
Ehe, eventuell bis zur richterlichen Nullitätserflärung der letzteren erzeugt find, 
für ehelih. Daſſelbe muß auch für die evangelifche Kirche gelten, ſofern hier die 
Eheeingehungsform beobachtet ijt, da ein bloßer Rechtsirrthum die Ehe nie zur 
putativen machen kann. Für das Gebiet des Gem. Rechts hat die P. weiter die 
Wirkung, daß zu Gunften des gutgläubigen Gatten auch die von der Eheſchließung 
ab bis zu den vorhin gedachten Zeitpunkten Hinfichtlich des Vermögens eingetretenen 
Wirkungen jo behandelt werden, ala ob eine wahre Ehe vorgelegen hätte. Das 
Preuß. Allg. ER. giebt den Kindern aus einer P. bald die Rechte von ehelichen 
Kindern im Verhältniß zu ihren unmittelbaren Eltern und unter fig mit Gewährung 
des Namens der Mutter und unter Ausſchluß aller Verwandtichaftärechte zu den 
Verwandten der Eltern, bald nur die Rechte von Kindern aus einer Ehe zur linken 
Sand (Th. II. Tit. 2 88 50 ff.); ferner jtellt es Eafniftisch abgejtufte Regeln für 
die Vermögensverhältniffe der Ehegatten auf (TH. II. Tit. 1 SS 952 fi... Das 
Deiterr. BGB. ($ 160) ſteht Hinfichtlich der Wirkung der P. für die Kinder auf dem 
Boden des Gem. Nechts, während es, was die güterrechtlichen Verhältnifje betrifft, 
die Ehepakten zujammenjallen und das Vermögen in den vorigen Stand, vorbehalt- 
ih der Entichädigungspflicht des Schuldigen gegenüber dem Unjchuldigen, zurück— 
fehren läßt (SS 102, 1285). Dagegen hat das Sächſ. BGB. (88 1628, 1782) das 
Gem. Recht in vollem Umfang adoptirt, und damit ftimmt auch der Code civ. art. 


201, 202 überein. 
Quellen u. Lit.: c. 2, 8, 10, 14 X. qui filii sint legitimi, IV. 17. — J. N. Hertius, 


De matrimonio putativo, Giess. 1690 (opusc. Vol. I. tom. I. p. 245 ss.). — E. C. West- 
phal, De veris casibus matrimonii putativi, Halae 1758. — J. H. Boehmer, Jus 
ecclesiast. Protestant., lib. IV. tit. 17 88 36 ss. P. Hinſchius. 

Pütter, Johann Stephan; Pütter, K. TH. und Püttmann, Joſias 
Ludwig Ernſt, ſ. im Anhang. 


OQ. 


Quarantäneanſtalten. Quarantänen ſind Anjtalten, in welchen ankommende 
Personen, Schiffe, Waaren u. ſ. w. einer — urſprünglich 40 tägigen — Iſolirung und 
Beobachtung bzw. einer Desinfizirung untennvorfen werden (Beobachtungsguarantäne, 
KReinigungsquarantäne). Die angefochtene, aber auch jet noch vorherrichende Anficht 
von der Uebertragbarkeit der orientalijchen Peit und anderer Seuchen durch Berüh— 
tung Kranker oder infizirter Gegenjtände hat zu Abjchließungsmaßregeln gegen die— 
jenigen Länder, in denen dieje Krankheiten Herrichen, geführt. Solche Abſchließungs— 
maßregeln beftehen theils in gänzlicher Abjperrung der Grenze mit bejtimmten, durch 
Luarantänen geficherten Eintrittsftellen, theil® in Ueberwachung der aus jeuchen- 
verdächtigen Ländern kommenden Perjonen oder Waaren, namentlich ſeewärts ein- 
gehender Schiffe. Duarantänen als Gintrittsftellen für den Seeverfehr befinden jich 
in fast allen größeren Häfen Europa’, namentlich in denen des Mittelmeers (die 
Norddeutſchen Seejtaaten und Dänemark benußen die Löſchungs- und Reinigungs-O. 
u Känſö bei Gothenburg); Abjperrungen der Landgrenze durch Militärkordons 
tönnen ſtehend (Rumänien, Defterreih. Militärgrenge gegen die Türkei), oder vorüber: 
gehend (Preußen beim erjten Auftreten der Cholera) ſein. Die Echwierigfeit, Sperr- 
maßregeln jtreng durchzuführen, und die daraus hervorgehende Zweitelhaitigfeit des 
Erfolgs, die Koftipieligkeit der Grenzjperren und Quarantänen, die Nachtheile, welche 
tür den Verkehr daraus entipringen, haben diefen Maßregeln viele Gegner erwedt. 

v. Holkenborff, Gnc. II, Rechtslexiton II. 3. Aufl. 16 


242 Dnarantäneanitalten. 


Inzwiſchen haben die Regierungen die Verantwortlichkeit für die Unterdrüdung der 
Duarantänen nicht zu übernehmen vermocht, man hat fich aber bemüht, durch zwed— 
mäßige Einrichtungen den Verkehrsſtörungen thunlichit vorzubeugen. Die Geſetz 
gebung hat fich in den Seeftaaten mehrfach mit der Regelung de Quarantäneweſens 
beichäftigt, namentlich in Frankreich (vergl. das Gef. vom 3. März 1822 und das 
Dekret vom 26. Tyebr. 1876 sur la police sanitaire maritimo, Bull. des lois, XI. 
Ser. Nr. 299). Die lehtgedachte Macht hat fich auch um eine internationale Behand: 
(ung der Sache bemüht. Im Jahre 1850 vereinigte fie in Paris eine Konferenz von 
Vertretern der bei dem Verkehr im Mittelmeer hauptjächlich beteiligten Mächte, deren 
GErgebniß die Einigung über ein internationales Reglement sanitaire war. Der 
betreffende Vertrag vom 3. Februar 1852 — welcher aber nicht von allen theil: 
nehmenden Mächten ratifizirt ift — beitimmt, daß allgemeine gefundheitspolizeiliche 
Mafregeln nur gegen die orientalifche Peit, das gelbe Fieber und die Cholera ein: 
treten jollen und daß alle Schiffe, mit Ausnahme der zum Zolle und Wachtdienit 
beitimmten Fahrzeuge, fich mit einem Gejundheitspafie (f. d. Art.) zu ver 
iehen haben. Jedes Schiff, welches mit unreinem Gejundheitspaß anlangt, muR 
Quarantäne halten. — Die Erkenntniß, daß zum Schuß gegen Einjchleppung von 
Seuchen eine dauernde fanitätöpolizeiliche Ueberwachung der Urfprungsländer wichtig 
jei, hat zur Einjegung internationaler Sanitätsbehörden, namentlich in Konftantinopel 
und Wlerandrien, geführt. — Nach weiteren Verſuchen internationaler Regelung, 
welche im Jahre 1866 auf Anregung Frankreichs in Konjtantinopel ftattgetunden, 
aber zu einem Vertrage nicht gerührt hatten, hat Defterreich im Jahre 1873 eine 
auch vom Deutjchen Reiche beichidte Konferenz in Wien veranlaßt, welcher die Aut 
gabe gejtellt wurde, die den Fortichritten der Wiſſenſchaft und den gefammelten Gr: 
fahrungen entiprechend einzurichtenden Quarantänemaßregeln und die Einjfeßung einer 
Seuchenfommilfion für das Studium der Epidemien an den Stätten ihrer Exiſtenz 
herbeizuführen. Indeſſen find die Arbeiten der Konferenz in Folge des Ruſſiſch— 
türfifchen Kriegs ins Stoden gerathen, und e8 bleibt abzuwarten, ob und mit welchem 
Erfolge fie wieder aufgenommen werden. Im März 1880 eriwiederte der Oeſterr. 
Miniiterpräfident auf eine nterpellation, daß dem Inslebentreten einer inter 
nationalen Sanitätskommiſſion noch Schwierigkeiten entgegenitänden, da bei einzelnen 
Regierungen verjchiedenartige Auffaffungen über den Werth einer jolchen Kommiſſion 
errichten. Die Gefeßgebung des Deutichen Reichs ift mit allgemeinen Ouarantäne— 
maßregeln bisher nicht befaßt geweien. Bei der im Anfang des Jahres 1879 an: 
icheinend von Rußland ber drohenden Peitgefahr ift durch eine Kaiſerl. Verordnung 
vom 29. Januar 1879 (R.G.BL. ©. 3, 125, 158) die Einfuhr gewiffer Gegenftände 
(gebrauchter Wäfche, Kleider und fonftiger Träger des Anſteckungsſtoffes) aus Ruß— 
(and über die Reichsgrenze verboten, die Einfuhr von Schafwolle nur nach vor 
gängiger Desinfektion geftattet, auch durch Kaijerl. Verordnung vom 2. Februar 
(R.G.Bl. S. 9, 155) der Weifendenverfehr aus Rußland gewilfen Beichränktungen 
unterworfen worden. Es wurde ferner im Verein mit Defterreih und anderen 
europätichen Staaten eine Kommiſſion von Sachverftändigen in die durch die Epidemic 
heimgejuchten und bedrohten Theile Rußlands entiendet. Weitere Maßregeln wurden 
durch das Erlöfchen der Seuche in Rußland unnöthig. Das Preußijche mittels 
Ausf. Ordn. vom 8. Auguft 1835 (Gef.S. ©. 240, dazu die Aller. Ordre vom 
29. Auguft 1853) publizirte Regulativ über das bei anftedenden Krankheiten zu be 
obachtende Verfahren enthält eine Reihe von Beitimmungen bezüglich der Cholera, 
Typhus und anderer anjtedenden Krankheiten. Danach werden 3. B. die über Ser 
aus Orten, wo die Cholera herrſcht, eingehenden Schiffe einer viertägigen Beobachtungs- 
quarantäne unterworfen. Hat fich während diefer Obfervation fein bedenklicher Er— 
franfungsfall ergeben, jo wird das betr. Schiff zur freien Praktit (zum freien Verkehr) 
in den Hafen zugelafien. Hat aber das Schiff Gholerafranfe an Bord, jo werden 
diejelben von dem Schiffe entfernt und leßteres wird nach Anleitung der Desinfektione: 


Dunrantäneanftalten. "248 


inftruftion gereinigt. Vgl. die Minifterialverf, vom 12. Juli 1873. Bezüglich der 
Peit ift auf Grund des $ 306 des damaligen (jet $ 327 des Deutichen) StrafGB. 
die minifterielle Verfügung vom 3. Juli 1863 (Handelsardhiv f.- 1863, II. ©. 61) 
ergangen. Inhalts derjelben muß ich jeder Führer eines nach einem Preuß. Hafen be= 
ftimmten Schiffes, welches einen der Peſt verdbächtigen Landestheil verläßt, mit einem 
Gejundheitäpafje verjehen. Der Pet verdächtig find alle Türkiſchen Häfen mit Ein- 
ihluß der Syrifchen und Negyptijchen und alle übrigen Häfen der Nordküſte Afrika's 
mit Ausnahme der als unverdächtig zu betrachtenden Häfen Algeriens und der Marof- 
fantichen Staaten. Der Gejundheitspaß muß von dem Deutichen Konſul am Ab— 
tabrtöorte oder, wenn in dem Hafen oder Bezirke ein Deuticher Konful nicht refidirt, 
von der zuftändigen Ortsbehörde längitens 48 Stunden vor der Abfahrt ausgeſtellt 
fein und die Beicheinigung enthalten, daß am Abjahrtsorte und in. defjen Nachbar- 
ihaft eine pejtartige Krankheit weder verbreitet ift, noch innerhalb der legten 30 Tage 
verbreitet war und daß der Gejundheitäzuftand am Bord des Schiffes bei deſſen 
Abfahrt zu einem Verdacht feinen Anlaß bot. Ein folcher Gejundheitspaß ift aus 
jedem der Pet verdächtigen Hafen beizubringen, welchen das Schiff unterwegs an— 
gelaufen hat. Die mit einem den vorftehenden Beitimmungen entiprechenden Ge— 
jundheitspaffe verjehenen Schiffer erhalten in Preußiichen Häfen freie Praktik. Schiffe 
dagegen, welche aus einem pejtverbächtigen Orte ohne reinen Gefundheitspaß kommen, 
deögleihen Schiffe, welche aus einem pejtartig angeftedten Hafen fommen, leßtere, 
wenn fie peitiangende Gegenjtände (Häute, Felle, Haare oder andere Abfälle von 
Thieren, Lumpen, twollene oder jeidene Waaren oder Effekten) an Bord haben oder 
noch nicht 15 Tage von dem Peſtorte weg find, werden in einem Preuß. Hafen 
erit zugelaffen, wenn durch vollgültige Zeugniffe nachgewiejen wird, daß fie fich in 
einer der O. Großbritanniens oder der Großbritanniichen Befigungen, Frankreichs 
(einschließlich Algerien), Italiens, Schwedens oder Dänemarks einer Reinigungs- 
quarantäne unterworfen und dort freie Praktik erlangt haben. Sind fie mit einem 
jolchen Quarantäne-Gefundheitsatteft nicht verfehen, oder find fie jeit ihrer Abfertigung 
aus einer diefer Anftalten und innerhalb der lebten 15 Tage mit einem, aus einem 
veitartig angejtedten Hafen kommenden, noch nicht quarantänefreien Schiffe in Ber 
rührung gefommen oder haben fie einen verdächtigen Krankheits- bzw. Todesfall an 
Bord gehabt, jo werden fie von den Preuß. Häfen ab- und zu einer Reinigungs- 
guarantäne des Auslands zurüdgemwiefen, infojern die örtlichen Berhältniffe des 
Hafens nicht geftatten, jolche Schiffe unter einer ftrengen Bewachung bis zur Auf— 
tlärung der rücfichtlich der vorgefommenen Krankheit: u. j. w. Fälle vorliegenden 
Verdachtsgründe bzw. bis zum Ablauf der 15 tägigen Friſt vollftändig außer Be— 
rührung mit dem Berkehr zu jegen. — Die Hamburgifche Verordnung in Betreff 
der Duarantäne zu Kurhaven vom 22. (29.) Dezbr. 1856 (Handelsarchiv f. 1857, 
1. ©. 23) untenwirft alle aus dem Schwarzen Meere, der Türkei und anderen ver- 
dächtigen Häfen kommenden Schiffe der Quarantänetinterfuchung. Diejelben dürfen 
nur unter Ouarantäneflagge (einer grünen oder gelben Flagge event. der National» 
flagge am Vormaft) die Elbe auffegeln oder zum Anker liegen. Finden fich bei 
der Unterfuhung Symptome von Pet oder gelbem Fieber, jo wird das Schiff von 
der Elbe fort, an eine Reinigungsquarantäne gewiefen. Gin ähnliches Berfahren 
findet auf der Unterweſer jtatt, wo eine gemeinjchaftliche Preußen-Oldenburg— 
Bremifche O. errichtet ift (Handelsarchiv j. 1868, I. ©. 141). Bal. die Lübeck'ſche 
Ordnung des Quarantänetvefens zu Travemünde vom 10. (14.) Oftober 1857, die 
Medlenb.-Schwerin’sche Verorbn. vom 27. Juni 1863, betr. die Cholera, und vom 
19. Auguſt 1858, betr. die Peſt. In Schleswig-Holftein find die früher gegen das 
aelbe Fieber und die Cholera angeordnet gewejenen Quarantänemaßregeln durch die 
Tatente dom 2. April 1852 und 3. Juli 1853 aufgehoben. Quarantäne oder 
Gefund heitskommiſſionen jollen nach der Quarantäneverordn. vom 15. März 1805 


Chronolog. Samml. der Verordn. f. 1805, ©. 40) in wichtigen Seeſtädten beſtehen. 
16* 


244 Quarta Divi Pii — Quarta Trebellianica. 


Quellen u. Lit.: Abstract of lations in force in foreign countries respecting 
Quarantine, communicated to the Board of Trade (Mai 1860); Abstracts of returns of 
information on the laws of Quarantine which bave been obtained by the Board of Trade 
(Juli * Ordered, by the House of Commons, to be printed, 25. Aug. 1860 Nr. 568. — 
Prus ort sur la peste et les quarantaines, Paris 1846. — ulenburg, Das 
—— — in — Berlin 1874. B. König. 

Quarta Divi Pii heißt das Viertheil des reinen Nachlaſſes eines Arrogators, 
welches nach einer Konjtitution des Antoninus Pius der während feiner Jmpubertät 
Arrogirte allen Erben gegenüber beanjpruchen fann, wenn ihm durch legten Willen 
oder durch nicht gehörig begründete und obrigfeitlich gebilligte Emanzipation die 
Beerbung des Arrogators entzogen wird. Diejer Cuartanipruch bildete eine unter 
vielen Maßregeln ganz bejonderer Fürſorge für den geichlechtsunreifen Arrogirten, 
damit nicht defien (erit von Antoninus jelbit geitattete) Arrogation aus unlauteren 
Motiven vorgenommen und wieder aufgehoben werde, und gewährte 1) eine perjön- 
liche Forderung auf Vorabzug des Viertheils wie einer Nachlaßſchuld, gleichviel ob 
Inteſtat- oder Tejtamentserben des Arrogators gegenüber, die nicht als Pflichttheile 
recht, jondern ähnlich dem Recht der armen Wittwe als außerordentliche Singular: 
jucceifion aufzufaſſen it; konnte 2) durch feinen gejeglichen Enterbungsgrund befeitigt 
werden; fiel 3) hinweg, wenn der Arrogirte durante arrogatione die Pubertät er: 
reichte; beides leßtere hat man ohne Fug beſtritten. Bei Verkürzung feiner Cuart 
durch böswillige Veräußerung unter Lebenden hat der impubes gegen die Empfänger 
gewifle dem patronatiichen Erbanipruche nachgebildete Anfechtungstlagen bis zur Gr: 
gänzung jeiner Cuart. Gehört übrigens der imp. arrog. zu den intejtaterbberechtigten 
Dejcendenten des Arrogators, jo hat er die Wahl zwifchen Geltendmachung feines 
Notherbrechts (Nov. 115) und Ausübung jenes Cuartabzugsrechte. — Das Rechts 
inftitut gilt zwar im Gem. Recht als rezipirt troß der Unbejtimmbarfeit eines 
Pubertätsalters, it aber den neueren Gejeßgebungen fremd geblieben; dem Code civ. 
ſchon darum, weil diejer Arrogation nicht fennt und für den Adoptandus das Alter 
von 21 Jahren fordert; dem Preuß. Allg. LR., Defterr. BGB. und Sächſ. BGB., 
weil dieje, Arrogation und Adoption nicht untericheidend, nur eine vielfach erjchwerte 
Annahme an Kindesjtatt anerkennen, das angenommene Kind („Wahlkind“, Oejterr.) 
in Grb= und Pflichttheilärecht nach den Adoptiveltern dem leiblichen Kinde vollfommen 
gleichjtellen, und die Aufhebung des Verhältniffes nur durch erſchwerten und gerichtlich 
bejtätigten Vertrag geichehen lafjen. In Sachſen hatte jchon das Grbiolgemandat von 
1829 die Q. D. P. ausdrüdlich aufgehoben. 

Lit. u. Quellen: Arndts im Rechtslex. VI. 160 fi. — Brande, Recht ber 
a 3; 3 a — v. BVangerow, Lehrbud, I. $ — — 8 3 Inst. l, II. — 1.88 15 

2. — |. 3 D.38, 5.—c. 2°C. 8, 48. — Preuß. Allg. CR. 1 288 666 f. — 
Br. BEL. r 179 ff., 755 ff. — Code civ. art. 343 ss, — Sächſ. BGB. 88 1787 fi, 
2567. — Bol. Erbfolgemandat vom 31. Janıtar 1829 $ 59. Shüße. 


Quarta Trebellianica, reotius: Trebelliana (Th. I.S. 459) nennt nach Jujtinian’s 
Vorgange das Kanoniſche Recht zwar hiftoriich ungenau, aber aus praftiichen Gründen 
die Quarta SC. Pegasiani, d. 5. die durch diejes Senatusfonjult (unter Vespaſian) 
auf das Verhältniß des Fiduziarerben zum Univerfalfideitommiß ausgedehnte Falei— 
diiche Cuart. Das Abzugsrecht hat, wofern ein Verbot des Tejtators nicht im Wege 
ſteht, der Erbe; aber nur dann, wenn er, obgleich) mit dem Univerjalfideifommik 
belaitet, freiwillig antritt. Die Anficht Mancher (u. U. Puchta's), auf die Tre- 
belliana müſſe der Erbe ſich Mehr anrechnen laſſen, alö auf die Falcidia, nämlich 
ichlechthin Alles, was er mortis causa erhalte (mit Ausnahme des Prälegats), bat 
zwar gute innere Gründe für fich, entbehrt aber der praftiichen Durchführbarteit 
und des Quellenanhalts und wird daher, ſoweit nicht Abweichungen aus der Natur 
des Univerſalvermächtniſſes (Früchte, Kaufpreife 2c.) fich ergeben, von der herrichenden 
Meinung mit Recht verworfen. — Die neueren Gejeggebungen, welche das Quart— 
abzugsrecht des Erben überhaupt aufgegeben haben (f. d. Art. Faleidiſche Quarit), 


Quaſibeſitz. 245 


fennen auch die Trebelliana nicht mehr; und zwar dieſe OQOuart umſoweniger, als 
der römischerechtliche Gegenſatz zwijchen Erbeinjegung und Erbſchaftsvermächtniß feine 


(im Juftin. Recht bereits ——— eg erloren hat. 

. — Quellen: Dernburg im Civ. IXXVI. ©. 307 ff. — Puchta, 
Vand., 546, 557. — v. Il. 3 66 —5 I. 8 536. — Tewes, Enitem, 
z121. — —— ag 11l. $ 666 Anm. 8. — $ 5 Inst. 2, 23.—D. 35, 2; 36, 
l. — ce. 24 C. 3, 36. — cc. 3, 26. — Preuß. Allg. ER. 1.12 $ 467%. — Defterr. 


BER. 58 608 fi. — Sädjl. 868. ss "2508 f. — Mommfen, Erbr.-Entwurf, $$ 102 f- 
c 
Duafibefis, iuris quasi possessio, (vgl. Th. I. ©. 395, 396— a 404) 
ft das dem Beſitz (f. diefen Art.) analoge Berhältniß, bei welchem iowol die 
thatlächliche Herrichaft, ala auch der darauf gerichtete Wille des Subjefts nicht in 
dem Umfang, welcher dem Eigenthum entjpricht, jondern in einer dem Inhalt anderer 
Rechte gemäßen Beichränktheit vorhanden find. Das Röm. Recht bildete einen 
ſolchen ©. zuerit bei Servituten aus; hier wurde die thatjächliche Ausübung gewifjer 
Örundgerechtigfeiten durch Anterdikte gegen Gigenmacht geihüßt, und diefer Schuß 
dann auf den Begriff des O. und auf diejelbe theoretiiche Rechtfertigung, wie der— 
jenige des Sachbefies zurücdgeführt (Gai. 4, 139; 1. 20 D. de serv. 8,1). Weiter 
baben die Römer einen D. auch noch bei Emphyteuje und Superfizies 
(i. diefe Art.) anerfannt, weil auch dieje eine fortgeiegte Ausübung ihres Inhalts 
zulaſſen, nicht aber bei anderen Rechten. Ueber Weſen und Gegenſtand diejes O. 
ipricht jich das Röm. Necht nicht näher aus und bejteht daher Heutzutage Streit. 
Man darf ihm nicht als Berhältniß des Inhabers zu einem Rechte (Brinz, 
Yehrb., I. $ 196), jondern nur als eine jervitutmäßig beſchränkte Sachbeherrichung 
auffaſſen, daher iſt auch jein Gegenjtand nicht, wie die Bezeichnung als juris possessio 
nahe legt, das Recht, jondern die Sache, und folglich O. auch ohne Borhandenfein 
bzw. nach Grlöfchen des Rechts, deſſen Inhalt man verwirklicht, möglih. Während 
biernach ſowol das Anwendungsgebiet, ala die dogmatische Ausbildung des O. im 
Röm. Recht beichränft geblieben find, haben das Han. Necht und auf dies geftüht die 
ipätere Theorie und Praris, ſowie die neuere Gejeßgebung beides bedeutend erweitert. 
Das Kan. Recht ließ den O. an allen, eine dauernde Ausübung gejtattenden Rechten 
zu, insbejondere an Hoheitsrechten, Nemtern und Benefizien, Negalien, Reallajten, 
Kechten aus der Che, ja ſogar an obligatorijchen Rechten wenigjtens dann, wenn 
fie auf ein Grundjtüd vadizirt waren (Bruns, Recht des Beſitzes, ©. 186 ff.). 
Dies rezipirte man in Deutjchland und fügte jenen Rechten noch weitere, eigenthüme 
ih Deutiche Real- und Standesrechte Hinzu. Auch das Preuß. ER. (SS 5, 146, 
147 Allg. ER. I. 7), der Code civ. art. 2228 und das Deiterr. BGB. $ 311 
nehmen diejen Standpunkt ein, indem die erſten beiden alle Rechte, vorausgejeßt, 
daß fie micht durch einmalige Ausübung erlöfchen (vgl. Heydemann, Einl., I 
=. 329—336), das leßte wenigitens die Vermögensrechte (Randa, $ 24 Anm. 2) 
ir befitbar erklären. Gegen dieje allzumeite Ausdehnung des D. erfolgte dann 
eine Reaktion durh Savigny, der den O. nur bei dinglichen und bei den aftiv 
mit Grund und Boden verknüpften eigenthümlich Deutichen Rechten gelten laſſen 
will (Beſ., ©. 504), weil nur bei diefen die Formen der Verletzung, gegen welche 
die Ausübung geichügt werde, zu denken jeien (?), und defien Meinung lange die 
berrichende geblieben ift. In neuefter Zeit jedoch jtreben Theorie und Praris mit 
Recht wieder über dieje Schranfen hinaus und neigen dazu, auch jtändig ausübbaren 
Chligationen, wie Miethe und Pacht, namentlich aber den jog. Individualrechten, 
wie Gerverberechten, dem Urheber-, Patent, Firmen-, Marken-Recht u. ſ. w., Beſitzſchutz 
zu —— Näheres bei Bruns, a. a. O., ©. 421; Windſcheid, Lehrb., 
% 464 A. 5; Randa, $ 24, ©. 537—556. — Bei allen Rechten, welche befikbar 
End, volfziebt fi) der Erwerb des D. analog dem Bejigerwerb (j. diefen Art.) 
eorpore et animo, d. 5. durch thatjächliche Herftellung der Herrſchaft, welche den 
Inhalt des Rechts bildet, in Zufammenhang mit dem Willen, dieje Herrſchaft für 


246 Zuafifontrafte und Quafidelitte. 


fich zu haben. Im Einzelnen jtreitet man 3. ®. darüber, ob bei Rechten zu vor: 
übergehenden Handlungen die Vollziehung einer jolchen geichehen jein müſſe (Ra nda, 
S 26 W. 1), oder die bloße Möglichkeit derjelben genüge (Windſcheid, $ 163 
A. 5); jedenfalls ift eine äußere Bethätigung der HSerrichait, als — der 
Apprehenfton, umerläßlich. Bei negativen Servituten wird der O. dadurd) begründet, 
daß der Zuftand der dienenden Sache, und zwar zufolge Willens des Berechtigten 
thatjächlich beiteht; diefer Wille kann aber in jehr verfchiedenen Formen, 3. 2. 
durch Verbot, durch thätliche Hinderung einer Mebertretung, durch Abichluß eines 
Vertrages u. ſ. w., zu Tage treten (vgl. Randa, 3 28, ©. 615—618). Der 
Verluft des ©. tritt, wie der Beſitzverluſt (f. diefen Art.), erſt mit der Ber: 
nichtung der Herrſchaft oder des Willens ein. Griteres wird durch Unmöglichkeit 
weiterer Ausübung herbeigeführt, mag dieje Unmöglichkeit aus Handlungen des be 
Yafteten Gegners oder aus Zufällen entipringen (vgl. Randa, $ 35). Was aber 
die Vernichtung des Willens betrifft, jo gehört dazu auch bier der Entichluß, den 
O. aufzugeben, oder der Tod des Subjefte. Dagegen kann die bloße Unterlaffung 
der Ausübung während längerer Zeit als Erlöfchungsgrund des O., — age 
von pofitiven Vorſchriften der Partikularrechte, wie das Deiterr. BGB. $ 351, — 
nur infofern gelten, als daraus auf die Aufgebung des Beſitzwillens zu schließen iſt. 
Vertretung iſt auch im O. zuläſſig und erfordert auch bier regelmäßig. den Herr— 
ichaitswillen des Vertretenen und bei dem Vertreter die Abficht, diefen Willen des 
Prinzipals geltend zu machen. Der Schuß des O. wird bei Wege- und Wafier: 
jervituten (f. diefe Art.) durch bejondere Jnterdifte gewährt. Im Uebrigen haben 
die Römer die Sachbefiginterdikte, und zwar bei den in einer Vorrichtung am 
herrſchenden Grundſtück fich verförpernden Servituten direkt, bei den mit Detention 
der dienenden Sache verbundenen Rechten utiliter angewendet. Dies letztere hat 
die mittelalterliche Theorie und Praris generalifirt und bei allen Rechten, für welche 
D. anerkannt wurde, auch die ſämmtlichen Befitichugmittel analog zugelaflen, indem 
man insbejondere in jeder Unmöglichmachung der weiteren beliebigen Ausübung des 
Nechts eine Spoliation und GEntziehung des C. erblidte (Bruns, Recht des Be 
fies, $ 26). Im neuefter Zeit wird jedoch von verichiedenen Seiten wieder auf eine 
Sonderung der einzelnen Fälle nach dem Vorbilde des Röm. Rechts gedrungen 
(Windicheid, 8 164, A. 18). 

git.: Randa, Recht bed Befibes, 3. Aufl., SS 24-36. — Windbiheid, Lehrbud, 


ss 163, 164, 464. — Brinz, Yehrb., SS 196, 201, und bie bei biejen angeführten Einzel: 
ichriften, zumal Bruns, Das Recht des Befihes und bie Belitllagen. Ed. 


Quaſikontrakte und Quaſidelikte (TH. I. S. 409 ff.) verdanfen ihre Erijteny 
in der heutigen jurift. Technik der jehlerhaften Syftematif, welche jchon mit Ga jug beginnt 
und durch Juſtinian fanktionirt wird. Während e8 von jenen heißt: non proprie ex 
contractu nasci intelliguntur, sed tamen, quia non ex maleficio substantiam capiunt. 
quasi ex contractu nasci videntur (pr. I. 3, 27), heißt e8 von diefen: non proprie 
ex maleficio obligatus videtur, sed quia neque ex contractu obligatus est, et 
peccasse aliquid intelligitur — videtur, quasi ex maleficio teneri (.5S 4 D. 
44, 7): 68 liegt auf der Hand, daß fich Hieraus Nichts für die Begriffe der ge: 
dachten Obligationen ergiebt und es iſt an der Zeit, überhaupt mit ihnen zu brechen 
(Baron, Pand., $ 210; Yörfter, Preuß. Privatrecht, $ 70). Zu den Quafi- 
fontraften rechnen die Römer: die DObligation des negot. gestor, tutor, de& nicht 
vertragamäßigen Gejellichafters, des Erben gegenüber den Vermächtnißnehmern , des 
Empfängers einer Nichtichuld, ſowie die durch Litisfonteftation entitehende Ber: 
pflichtung der Parteien 1.3 8 11 D. 15, 1; f. die Art. Novation, Litiskon— 
tejtation). Als oblig. quasi ex delicto werden aufgeführt: die Obligation des 
judex qui litem suam feecit, die Haftung aus dem edictum de nautis, cauponibus 
et stabulariis, aus der act. de posit. et suspens. und de eflusis et ejectis. Mit 


Zuafi-Bupillarjubjtitution — Quasi-Ususfructus. 247 


° 
Ausnahme des erjten Falles haben die Quafidelifte das Eigenthümliche, daß ihnen 
entweder der jog. ſubjektive oder objektive Thatbejtand fehlt. 
Quellen: Tit. I. 3, 27; 4,5. — 1.5 pr. $$ 3-6 D. 44, 7. — 1.6 D. 50, 13. 
Lit.: Die Lehrbücher. Kayier. 


Duafi-Pupillarfubftitution nennt man ein der Pupillarfubititution nach— 
gebildetes, von Juſtinian im Jahre 528 eingeführtes Rechtsinftitut, wonach es dem 
Acendenten geftattet ift, jorern er fich jelbjt ein Teſtament errichtet, feinem geiſtes— 
franten Defcendenten (wenn er diefem den Pflichttheil Hinterläßt) für den Fall, daß 
diefer im Wahnfinn verjterben jollte, zunächjt aus deſſen Kindern eventuell Gejchwijtern 
Subftituten zu ernennen, ohne Anfechtbarfeit durch Jnoffiziofitätsquerel. Eine alt= 
begründete Praris findet hierin die Befugniß nicht blos zur fideikommiſſariſchen 
Subftitution in das vom Teſtator dem Geiſteskranken Hinterlaffene, jondern zur 
Grbenennung für des leßteren gejammtes Vermögen; welcher Auffafjung zwar zur 
Seite steht die Vorgejhichte der Konſtitution Juſtinian's und die ausdrüdlich betonte 
Analogie der Pupillarjubititution, jedoch Vieles entgegenjteht, jo: daß Gewalt des 
Teſtators über den Geiſteskranken nicht erforderlich ift, und daß mehrere Njcendenten 
das Subftitutiondrecht ausüben fönnen, was Konflikte bewirken muß. Demgemäß 
it heute wiederum nahezu jegliche Frage dieſes Rechtsinjtituts bejtritten. Dem 
rar. Recht, dem Dejterr. und dem Zürich. BGB. unbelannt, im Preuß. Allg. ER. 
einerfeitö auf andere Teſtirunfähige (Taube, Stumme) ausgedehnt, andererjeits auf 
die Eltern eingeichräntt, ift es im Sächſ. BGB. mit der Pupillarfubjtitution in eigen= 


thümlicher Weiſe verſchmolzen worden (j. d. Art. ee rl 

Lit. u. Quellen: Windſcheid, Und 1II. $ 560. — Tewes, Spitem, $ 43. — 
e9C.6, 26. — $ 1 Inst. 2, 16. —1. 43 D.2 8, 6. — Preuß. Allg. ER. IL. 2 88 545 fi. — 
Defterr. BEB. 88 609, 566. — Sächſ. BB. SS 2208 ff. — Mommjen, Gebr. Entwurf, 
F 50, 148, 487. Schühe. 


Quasi-Ususfructus oder uneigentlicher Nießbrauch iſt ein Nießbrauch nur 
dem Namen, nicht der juriſtiſchen Konſtruktion nach. Wenn nämlich ein „Nieß— 
brauch” an Gegenjtänden begründet wird, deren wirtbichaftlicher Gebrauch im Auf: 
brauchen derjelben bejteht, jo wird, da der eigentliche Nießbrauch unverbrauchbare 
Objekte vorausjeßt, dies Rechtsverhältniß jo zurechtgelegt, daß fich der den „Nieß— 
brauch“ begründende verbindlich macht, dem Ujufruftuar durch Tradition der Objekte 
Gigenthum zu verschaffen, und der Uſufruktuar dann dafür haftet, anjtatt der ver— 
brauchten Objekte bei Beendigung des „Nießbrauchs“ Sachen gleicher Qualität und 
Suantität zu reftituiren. Auf Grund bejonderer Ausmachung kann der Uſufruktuar 
auch berechtigt werden, anjtatt gleichartiger Objekte den Geldwerth der empfangenen 
zurüdzuerjtatten, in welchem alle er aljo alternativ verpflichtet ijt und jelbjt die 
Wahl hat. 

Die Zuläffigkeit eines jolchen Nechtsverhältniffes wurde im Röm. Recht zuerjt 
geeglich anerkannt bei dem Legat eines Nießbrauchs am Vermögen des Grblafjers 
durch ein Senatusfonjultum ungewifjen Datums ($ 2.1. 2, 4; tit. D. 7, 5; fr. 
12. D. 7, 9; fr. 1, fr. 24 pr. D. 38, 2; fr. 69 D.35, 2; c.1C.8, 33; Ulp. 
24, 27) und die Quellen bezeichnen das Rechtsinftitut jelber ala quasi-ususfructus 
{8 2. L.eit.; fr. 28 1D.7, 5). Aber die Römer jcheinen auch bei der Annahme eines 
jolchen quasi-ususfructus legatus jtehen geblieben zu fein, jo daß die Anerkennung 
anderer Begründungsarten als des VBermächtniffes erjt der gemeinrechtlichen Praxis 
angehört; es ift jet Hinfichtlich des Begründungsakts zwiſchen eigentlichem und 
uneigentlichem Nießbrauch fein Unterjchied mehr zu machen. Die cautio usufructuaria 
bat bereits das erwähnte Senatusfonjultum bier für anwendbar erklärt, wenn auch 
in bejonderer Form (fr. 12 D. 7, 95 c.1 C. eit.). Im Mebrigen ergeben fich aus 
der Beionderheit der juriftifchen Konjtruftion für den O. naturgemäß Abweichungen 
von den Regeln, des eigentlichen Nießbrauchs, jo die Abweichung, daß bier alle 
Gefahr des Niekbrauchobjetts der Nießbraucher als Gigenthümer allein zu tragen 


248 Quasi-Ususfructus, 


« 

hat, daß ihm andererſeits die volle Dispofitjon über den Gegenjtand zuiteht, dak 
er aber hier nicht wie beim eigentlichen Nießbrauch durch Dereliktion fich von weiteren 
Verbindlichkeiten befreien kann. Demgemäß ift auch von den Grlöfchungsarten die 
durch Untergang der dienenden Sache und confusio mit dem Gigenthum eintretende 
ausgeichloffen; die Quellen heben nur Tod und capitis deminutio des Berechtigten 
hervor (fr. 9 D. 7, 5; fr. 7 $S 1 D. 7, 9), man wird aber auch Zeitablauf oder 
Verzicht injorern ala Beendigungsgründe des O. zu betrachten haben, als mit Gin: 
tritt des dies oder mit Grflärung des DVerzichtes die Rüdforderungsflage actio nata 
wird; eine Verjährung durch Nichtgebrauch wird nicht zu fonftruiren fein (vgl. auch 
Sächſ. BGB. $ 659), vielmehr beginnt mangels Zeitbeitimmung die Rückforderungs— 
lage fchon von Tage der Begründung des C. an zu verjähren. 

Zu dem ©. pflegt man auch den Nießbrauch an uhförperlichen Sachen, an 
Nechten, zu rechnen. Man jollte das freilich nur Hinfichtlich jolcher Nechte thun, 
deren vdermögensrechtlicher Ertrag nicht anders gewonnen werden fann, als dadurd 
daß man fie durch Ausübung aufhebt oder veräußert, 4. B. unverzinsliche Forderungen, 
und follte den Nießbrauch an unverbrauchbaren Rechten, 3. B. an verzinslichen 
Forderungen, zum eigentlichen Uſusfruktus rechnen. Auch jcheinen die Römiſchen 
Quellen, indem fie nomina, sortes, kalendarium als Gegenjtände des Nießbrauchs 
bezeichnen (fr. 3 D. 7, 5; fr. 24 pr., fr. 37 D. 33, 2), nur verzinslide 
Kapitalien im Auge gehabt zu haben. Indeß jtellen fie dieje Fälle eben nicht zum 
eigentlichen Nießbrauch, ſondern charakterifiren fie als Konjequenzen jenes Senats: 
ichluffes über den Nießbrauch an verbrauchbaren Sachen, und jo hat die Doftrin 
von jeher den Begriff des eigentlichen Uſusfruktus auf förperliche Sachen beichränt 
und it von diefem Standpunkt aus zu der Auffaffung des Nießbrauchs an Rechten 
als eines uneigentlichen in allen Fällen gelangt. 

Gegenjtand diejes O. fünnen natürlich nur Rechte fein, welche übertragbar find 
und die Ausübung durch einen Andern zulaſſen, alfo nicht Grunddienjtbarkeiten 
(über fr. 1 D. 33, 2 ſ. Hanauſek, 82—88) oder höchjtperfönliche Forderungen. 
Der Inhalt der Berechtigung gejtaltet fich, je nach dem zum Gegenftand des Nieh: 
brauches gemachten Recht (Kafuiftit ſ. bei Hanauſek, 69—79, 120—158; 
Stammler, 92—106; Mansbach, 60—63; Dernburg, Preuß. Privat: 
recht, I. $ 286; Sächſ. BGB. 88 628, 630) und nach den Abfichten der begründen: 
den Parteien, verichieden, beim O. an Forderungen giebt man aber im Zweifel dem 
Uſufruktuar nicht blos das Necht auf die fructus civiles, jondern auch das Recht, 
die Forderung felbit einzuziehen, um an dem Gegenstand der Leiſtung ſelbſt wieder 
einen eigentlichen oder uneigentlichen Nießbrauch auszuüben (ſ. aber bezüglich des 
gejetlich begründeten Nießbrauchs Hartmann, a. a. D. 529 ff.). — Ueber die 
jurijtiiche Konjtruftion eines Nießbrauchs an Rechten hat man namentlich in neuerer 
Zeit, mit Beziehung auf das Problem von Rechten an Rechten, häufiger geftritten. 
Der Forderungsnießbrauch fpeziell ift entweder als eine begrenzte Geifion der Forde— 
rung, um an deren Objekt Nießbrauch zu erlangen (Hanauſek), oder als un- 
beichränfter Uebergang mit Riücdleiftungspflicht bei „verbrauchbaren“ Forderungs— 
rechten (Stammler) oder, je nachdem die Forderung auf Objekte eines verus 
ususfructus geht oder nicht, bald als translative Succeffion mit Rüdübertragungs- 
pflicht, bald ala fonftitutive Succeifion in das Trorderungsreht (Mansbach) auf: 
gefaßt worden (f. darüber Hartmann, a. a. D.). 

Bezüglich gewiſſer Objekte ift es jchon nach Röm. Recht zweifelhaft, ob fie 
Gegenstände des wahren oder des uneigentlichen Nießbrauchs find. So hinfichtlich 
vestimenta (iiber die Antinomie zwiſchen $ 2 I. 2, 4 und Digeftenitellen ſ. Gitate 
bei Windjcheid, a. a.'D. Note 6; Hanauſek, 16—19, — Sächſ. BEP. S 624 
erklärt fich für verus ususfr.); ferner fann man ftreiten, ob der vom Emphyteuta 
oder Superfiziar beitellte Nießbrauch das Recht des Beftellers jelbit oder deifen Ob— 
jeft betrifft (Bürfel, 58 ff.); insbefondere ift die Eigenichaft des an verzinslichen 


Quatembergelder — Querela inofficiosi. 249 


Kapitalien Ätattfindenden Nießbrauchs ala eines eigentlichen oder uneigentlichen 
iv. Roth, Bayr. Givilrecht, II. $$ 157, 19) oder als eines gar nicht als Nieh- 
brauch, fondern nach Analogie des Nentenanfpruchs zu behandelnden Rechtsverhält- 
niſſe (MMansbach, 47) in frage zu stellen. — Uebrigens ift die Möglichkeit nicht 
ausgeichloffen, auch an unverbrauchbaren Sachen einen D., wie umgekehrt an ver= 
brauchbaren Sachen einen verus ususfr. zu begründen (jedoch ſ. Bürfel, 16 ff.). 

Die modernen Landesrechte erkennen den O. im Allgemeinen an, nur find fie 
der gefonderten Behandlung defjelben gegenüber dem eigentlichen Nießbrauch meijt 
meniger günstig, ala das Gem. Recht. So iſt nach Bayer. Recht jeder Nießbrauch 
an anderen Sachen als an Viktualien (v. Roth, II. $ 157, 7; $ 159, 46), nach 
Preuß. und Defterr. Recht wenigſtens der Nießbrauch an Kapitalien (Dernburg,l. 
$ 285, Defterr. Allg. BGB. $ 510) zum eigentlichen Niekbrauch zu rechnen. — 
Sächſ. BGB. 88 623—630, 654; Code civ. art. 587—589 (Zahariä, Handb. 
d. franz. Givilrechts, II. S 225). 

Der Nießbrauch an einem Vermögen zerfällt in eigentlichen und uneigentlichen, 
je nach den einzelnen Beitandtheilen des Ganzen; der Nießbraucher hat, wie er auch 
tonft die Laften des Nießbrauchsgegenitandes tragen muß, jo bier die Paifiva des 
Vermögens zu übernehmen, d. h. er hat nach Gemeinem Recht den Niekbrauch nur 
an dem Ueberſchuß der Aktiva (fr. 43 D. 33, 2; Dernburg, Preuß. Privatr,, I. 
$ 287; Hanauſek, 2 ff.; Sächſ. BGB. 88 631—636.). 

‚ Quellen: D. 7, 5 de usufructu earum rerum quae usu consumuntur vel minuuntur. 

Lit: Madai, Beiträge zur Dogmengeichichte des Gem. Civilrechts, Nr. 3 ©. 139 ff., 
1839. — Held, Die Lehre vom ususfr. earum rerum quae usu consumuntur vel minuuntur, 
1848. — Bürkel, Beitr. zur Lehre vom Nießbrauch, 1864 (unveränderter Abdrud 1880). — 
Hanaufek, Die Lehre vom uneigentlihen Nießbrauch nad) Gemeinem Recht, 1879. — Ueber 
den Niekbraud) an Forderungen jpeziell: Thomas, De usufr. nominum, Jenae 1837.— Stein: 
berger, Zeitichr. für Givilreht und Proz, N. F. XI. Nr. 5. — Stammler, Der Nieh- 
braud an Frorderungen, 1880. — Mansbach, Der Nießbrauch an forderungen, 1880. — 
6. Hartmann, Kit. BI.Chr, N. F. II. (XXIL) 518-547. — Lehrbücher der Pan: 
beiten: Arndts, $ 181; Böding, 11. $ 166; Brinz, 2. Aufl. I. $ 194; Keller, 


1.8 174; Puchta, $ 182; Seuffert, I. $ 170; Windſcheid, I. $ 206. 
J. Mertel. 


Duatembergelder find in gewiffen Terminen (urfprünglich wol vierteljährlich), 
an den Bergwerkseigenthümer zu entrichtende Abgaben von Bergwerfen, jo lange 
diefe fi im Bau befinden. Die Größe derielben war verjchieden, auch gelten jie 
nicht ala Anerkennung des Obereigenthums, jondern waren meijtens ausdrüdlich für 
die Erhaltung der Knappſchaft bejtimmt. Die neuefte Gejeßgebung hat wie viele 
andere Bergwerksabgaben jo auch die D. aufgehoben (Preuß. Gef. vom 12, Mai 
1851 $ 6, Nr. 2). 

Lit.: C. H. G. Hefe, Kommentar über das Bergredht, 1823, $ 84. — Schomburg, 
Betrachtungen über die neue Deutiche Berggejehgebung, 1857, ©. 261—286. Rayie 
a r. 


Querela inofficiosi (Th. I. S. 463) bezeichnet nah Röm. Recht vor der 
Nov. 115: die Beichwerde des Pflichttheilsberechtigten, wodurch diefer Schuß bean— 
ipruccht für fein durch den Erblafjer pflichtwidrigerweife verlegtes Recht. Mit dem 
Vlichttheilärechte jelber, diefer materiellen Reaktion des gejeglichen GErbrechts der 
nächiten Angehörigen wider eine fchranfenloje ZTejtirfreiheit, durchgeführt auf Grund 
der Fiktion, es müſſe von einem Teftator, der feine Nächjten liebloſer und pflicht- 
widriger Weile (contra officium pietatis) nicht bedacht hat, anjtandahalber ange- 
nommen werden, derjelbe jei nicht recht bei Sinnen gewejen (color insaniae), ent= 
widelte fich auch deifen Schugmittel gegen Ende der Republit aus der Centumviral— 
gerichtsprarid. Daß dabei für den Standpunkt des liebloſen Erblafjers die Analogie 
der Statuäflage, für den des gefränften Erben die Analogie der Injurienklage den 
Römern nicht fremd geblieben, zeigt einerfeits die Verjährungsfrift, die außgedehntere 
Rechtstraft des Urtheild und die Bezeichnung der Jnoffiziofitätseinrede als contra- 


250 Querela inofficiosi. 


dietio, andererjeit3 die Auffafjung der individuellen Beichwerde als einer vindietam 
spirans. Querela bedeutet bier wie ſonſt: Proteft-Beichwerde; diejelbe fann der 
Grbichaitsflage vorausgehen oder mit diejer als antizipirte Replik verbunden werden. 
Im Uebrigen find drei Fälle zu untericheiden: 1) Pflichtwidrige gänzliche Aus 
ſchließung vom Pflichttheil im Teſtament; das Rechtsmittel heißt hier querela (bzw. 
contradictio) inofficiosi testamenti, und ijt hereditatis petitio ab intestato mit 
antizipirter Replik (bzw. Duplik) des pflichtwidrigen Teſtaments. Borausjeßungen: 
Ausgeichloffenjein vom Pflichttheil durch Enterbung oder Uebergehung, welches un: 
verdiente Kränkung enthalte (die Enterbungsgründe waren dor der Nov. 115 geieh- 
lih nicht beftimmt); Kläger (bzw. Kontradizent) ift der jo verlegte Pflichttheile- 
berechtigte jelbjt oder, wenn dieſer bereits für den Gebrauch der Querel jich erflärt 
(protejtirt oder den Proteft präparirt) hatte, deſſen Erben, jedoch Dejcendenten aud 
abgejehen davon; außer diefer Transmiſſion findet unter mehreren Berechtigten gleich 
wie bei der Inteftaterbiolge jelbft auch Accreszenz ftatt, endlich eventuell eine er 
neuerte Delation des Beichwerderechts an nachitehende Pflichttheilserben. Beklagter 
(bzw. Kontradift) ift der eingefeßte Erbe, oder einer von mehreren Eingejegten, oder 
endlich wer heredis loco ijt; allein jelbjtverftändlich nicht blos dann, wenn derjelbe 
die Erbſchaft befigt. Wirkungen: a) Bejeitigung (Refciffion) des inoffiziofen Teſta— 
ments, und zwar ganz oder theilweije, letzteres wenn nicht gegen alle Eingejeßten 
geklagt oder durchgedrungen ift, jo daß hier dem Erfolge nach letztwillige und geſetz— 
liche Erbfolge nebeneinander ftattfinden können; b) Serbeiführung der Intejtaterb- 
folge zu Gunften des Klägers (Kontradizenten), alio bald ganz, bald theilweiie; 
jedenfall aber verlangt und erlangt der Kläger nicht etwa blos feinen Pfiichttheil, 
jondern den vollen gejeglichen Erbtheil; das Urtheil bewirkt, wenn ernjtlich gejtritten 
wurde, auch Dritten gegenüber endgültiges Recht. Außer durch Verzicht oder durch 
Tod des gekränkten Pflichttheilserben ohne vorbereitete Querel erliicht das An— 
fechtungsrecht in fünf Jahren vom Erbichaftsantritt. 2) Pflichtwidrige Verkürzung 
des Pflichttheils durch freigebige Zuwendung unter Lebenden. Gegen Umgehung 
des Pflichttheilichuges durch dolojes oder ſchuldhaftes Gebahren des Erblaffers, dem- 
zufolge der Berechtigte im Nachlaffe feinen Pflichttheil nicht vorfindet, gewährten 
Konjtitutionen jeit Alerander Severus eine querela (contradictio) inofficiosae 
donationis vel dotis, die nur infofern der querela inoff. testamenti nachgebildet 
ift, ala auch hier Berufung auf Lieblofigkeit des Erblafjers und unverdiente Hränfung 
des Pflichttheilsrechts ala Klage oder Einrede auftritt und zwar in Form des Proteits, 
der antizipirten Replit bzw. Duplif, als endlich Pflichttheilamak und Berechtigte 
diejelben find wie dort. Dagegen iſt die Klage feine hereditatis petitio, jondern 
eine perjönliche Revofationsflage wider den Lieblojen Liberalitätsakt; jet fie Teſtator 
und Teſtament überall nicht voraus, jondern Lediglich, daß bei Vergleichung dee 
Vermögensbeitandes zur Zeit der (angefochtenen) Yiberalität mit dem Nachlafbeitande 
zur Todeszeit eine Verkürzung des Pflichttheils fich herausſtellt; ift fie gerichtet 
gegen den Empfänger der Liberalität, nicht gegen einen Erben als ſolchen; bewirkt 
fie nur Aufhebung der Liberalität bis zum Betrage des Pflichttheils, ſomit feine 
Sinteftaterbiolge; läuft die Verjährung nicht von einem Grbantritt, ſondern vom 
Tode des Erblaſſers. Uebrigens ift das Recht beider Querelen vielfach bejtritten. 
3) Bei umdolljtändiger Zuwendung des Pflichttheils hat nach Juſtin. Recht der 
unverdient DVerlegte ftets3 einen bloßen Grgänzungsanfpruch bis zum Betrage des 
vollen Pflichttheils (fog. actio suppletoria, ad supplementum legitimae) gegen 
die eingejegten Erben. Dies Rechtsmittel ift nach Ginigen eine bejondere Klage ex 
lege, nach Anderen theilt fie die Natur des Anspruchs aus dem Hinterlaffenen (alio 
bald hered. petitio, bald Erbtheilungs-, bald Vermächtnißklage 2c.). — Folgt man 
der unjeres Grachtens richtigen Anficht, daß den Notherben der Nov. 115 jchlechthin 
eine hereditatis petitio mit antizipirter Replif der verlegten Novellenvorjchriit zu: 
fteht, welche nur Verdrängung des eingejegten Erben, nicht aber Umſtoßung des ge- 


Duesnel — Duingquennal- Fakultäten. 251 


ſammten novellenwidrigen Teſtaments bewirkt, jo kann neben diefem Rechtsmittel 
eine quer. inoff. testamenti der Novellenerben nicht gedacht werden, jondern lediglich 
je nach Umjtänden bald eine quer. inofl. donationis vel dotis, bald eine activ 
suppletoria. Folglich wäre die quer. inoff. testamenti fortan bejchränft auf die in 
der Novelle nicht erwähnten Gejchwifter des Erblaſſers. Allein auch diefe Querel 
bat, ganz abgejehen davon, daß jenes Pflichttheilsrecht nur für den jeltenen Fall 
der turpis persona praelata zuſtand und daß die Wirkung der Gejchwijterquerel 
tortan auf die des Rechtsmittels der Nov. 115 bejchränft werden müßte (wofür die 
Cuellen doch wiederum feinen Anhalt bieten), unſeres Erachtens alsbald durch die 
Nov. 118 jeglichen Boden verloren, da die pflichttheiläberechtigten Gejchwifter nach 
der neuen ntejtaterbiolgeordnung überall nicht mehr bejtimmbar find, demnach das 
alte PflichttHeilsrecht der consanguinei als ftillfchweigend befeitigt gelten muß, was 
auch in partifulärer Deutjcher Praris längft anerkannt gewejen iſt. — Die neueren 
Geſetzgebungen geitatten ihren Pflichttheilserben, zu denen Geſchwiſter nicht gehören, 
die Anfechtung pflichtwidrigen Zejtaments und Lieblojer Schenkung (abgejehen von 
dem alle, wo dem Grblafjer die Erijtenz des Notherben unbekannt gewejen) ſtets 
nur bis zum Betrage des Pfilichttheils, und weichen lediglich ab in Be— 
fimmung ihrer Antechtungsmittel. Der Code civ. giebt dem Verletzten bis zum 
Betrage der nichtdisponiblen Portion nur eine Reduktionsklage, welche etwa der 
actio suppletoria und der quer. inoff. donationis etc. zufammengenommen entipricht. 
Die in zwei Jahren verjährende „Bejchwerde“ des Preuß. Allg. ER. bat, je nad) 
Umftänden die Natur bald einer auf den Pflichttheil beſchränkten Erbſchaftsklage, 
bald eines bloßen Grgänzungsanfpruchs (ähnlich die Anfechtungsflage des Dejterr. 
BGB.); eine in Maß und Zeit bejchräntte Anfechtung von Schenkungen unter Leben- 
den vertritt die quer. inofl. donationis. Das Sächſ. BGB. giebt, unter Bejeitigung 
der actio suppletoria, dem Pflichttheiläberechtigten ſtets die Erbſchaftsklage jowol 
auf Ergänzung als auf Gewährung jeines Pflichttheils,; daneben eine Anfechtungs- 
Hage wider Liebloje Schenkung, Austattung oder väterliche Mithülfe; beide verjähren 
in drei Jahren. 

Lit. u. Quellen: al. bie Lit. Hinter dem Art. A dd a EL — 
Inst. 2, 18. — D. 5, 2. — C. 3, 28-30. — Nov. 92 c..1. 115, c. 3—5. — Preuß. AU ER. 
1. 2 88 432 ff., 352 fl. Anh. $ 164; I. 11 $$ 1113 ff. — Oeſterr. BOB. 88 — 
Unger, Spftem, VI. 88 85 ff. — Code civ. art. 920 ss. — Sachſ. BGEvB. Ss, 2586, 2589, 
2500-616, — Mommjen, Erbr.-Entwurf, $$ 498 ff. Schü— be. 


Duesnel, Basauier, 5 14. VII. 1634 zu Paris, gehörte dem Orden der 
Väter des Oratoriums an, flüchtete 1685 nach Brüffel, wo er das Haupt der 
Janjeniften wurde; 30. V. 1703 auf Antrieb des Erzbiichofs von Mecheln verhaitet, 
entfloh er am 13. September nach Holland, F 2. XII. 1719 zu Amfterdam. Durch 
jeine Reflexions morales sur le nouv. test. 1671—78 veranlaßte er die Bulle 
Unigenitus vom 8. Sept. 1713 und ijt befannt durch die nach ihm genannte 


— von Konzilienbeſchlüſſen und päpſtl. Dekretalen. 
—* Opera S. Leonis, Paris 1675; Lugd. 1700; Venet. 1743. — Tradition 
- —— romaine sur la predestination des saints et la gräce efficace, Cologne 1687 
Germain). — Discipline de l’eglise, Lyon 1689. — Hist. de la vie et des ouvrages 
Arnauld, 1695. — Causa — 1699. — Soureraineté des rois defendue, 1704. 
git.: Maaßen, 5** chte, 486—500. — Schulte, —— III. a 624. — 
Michaud. — Herzog’3! — 8 Teichmann. 


Quinquennal⸗Fakultäten (facultates quinquennales), d. h. die den Deutſchen 
Biichöfen auf fünf Jahre vom Papjte ertheilten Bollmachten, von gewiflen Vor— 
ichriften des Gem. Rechts zu dispenfiren oder don Folgen bejtimmter unerlaubter 
Handlungen, foweit die Abjolution dem Papfte vorbehalten ift, loszuſprechen. Dieſe 
Befugniſſe werden den Biſchöfen deshalb übertragen, weil es mit Rüdficht auf die 
Zuftände ihrer Diözefen nicht angemeſſen erjcheint, ftets in jedem bejonderen Fall 
erſt die Dispenjation, reſp. Nbjolution aus Rom einzuholen. Dergleichen Ueber— 


252 Dnintanadvenas — Quittung. 


tragungen kommen auch für andere Länder vor, wiewol freilich die Dauer der Be 
vollmächtigung eine verichiedene ift, 3. B. eine folche auf drei, fieben ꝛc. Jahre (dann 
ipricht man von Triennal-, Septennal=- Fakultäten) ertheilt wird. Uebrigens iſt aud) 
der materielle Umfang diefer Vollmachten nicht gleich, vielmehr wird derjelbe eben: 
falls im Hinblid auf die in frage kommende Diözefe bald enger, bald weiter gefaßt; 
(egteres gilt namentlich für die Sprengel, wo viele Proteftanten mit Katholiten 
gemifcht zufammenwohnen. Je nachdem fich die Fakultäten auf die rein innere 
Seite des religiöfen Lebens vder auf das echt beziehen und demnach auf die Be: 
jeitigung der inneren, das Heil der betreffenden Perſon berührenden oder auf die 
rechtlichen, in die äußere Ericheinung tretenden Folgen gerichtet find, unterscheidet 
man facultates pro foro interno und facultates pro foro externo. 

Lit.: DO. Mejer, Die Propaganda, ihr Recht und ihre Provinzen, Gött. 1852, Th. II. 
©. 201 ff., wo auch verichiedene Formulare mitgetheilt find. Die jeht für Deutichland pral- 
tiichen bei Schulte, Syitem des fatholiichen Kirchenrechts, Gießen Sinti : 

. ın rus. 


Quintanadvenas y Villegas, Antonio de, & zu Burgos, wurde Prof. 
zu Onnate, Rath des Vizekönigs von Sizilien, T 1628. 
Gr jhrieb: Ecclesiasticon 1. IV. Salmantiae, 1592. — De jurisdictione et imperio 
libri duo, Matriti 1598. 
git.: Meerman, Thesaurus, praef. t. 1I. p. 3, 207—308. — Rivier, p. 522. — Schulte, 
Geſchichte, III.a 739. Teichmann. 


Quiſtorp, Joh. Chriſt. von, & 1737 zu Roſtock, habilitirte ſich 1759 
daſelbſt, wurde 1772 ord. Prof. zu Bützow, 1780 Oberappellationsrath, 1792 
geadelt, 7 15. III. 1795. 

Schriften: Princip. jurisprud. eccles. germ. fundamentalium, Rostock. 1766—1768. — 
Prineipia jurisprud. eccles. germ., maxime protestantium, Rostock. 1771. — Kleinere jurift. 
Schriften, Bützow und Wismar 1772. — Verſuch einer richtigen Beſtimmung des Verhältnifies 
ber gemeinen in Deutſchland üblichen Strafen ‚geoen einander, (2) Roft. 1780. — Beitr. ;. 
Erläut. verich. Rechtsmaterien, Roft. 1777—1787. — Rechtliche Bemerkungen, von Wieie 
herausgeg. 1793— 1798. — Entwurf zu einem Geſetzbuch in peinlichen und Strafladhen, Roi. 
1782. — Grundjäbe des teutichen peinlichen Rechts, Roft. 1770, 6. Aufl. 1809—1828. 

git.: Meuſel, X. 587. TZeihmann. 


Quittung (apocha) iſt die Urkunde, welche von dem Zahlungsempfänger über 
den Empfang einer Zahlung ausgeſtellt wird. Eine ſolche O. hat den Zweck, die 
Zahlung zu beweiſen. Wird fie ausgeſtellt, ohne daß Zahlung geleiſtet iſt, To kann 
dabei die Abjicht obwalten, eine Willenserklärung über Berreiung des Schuldnew 
abzugeben. Das ijt aber nicht ihre eigentliche Beltimmung, und ihr Weſen wird 
deshalb mit Unrecht in einen Anerkennungsvertrag erfolgter Befreiung geſetzt Bähr). 
Die DO. bewies die Zahlung nah Röm. Recht nicht jotort, jondern erſt nach 30 
Tagen, innerhalb welcher Friſt die Beweisfrait durch die querela non nume- 
ratae pecuniae bejeitigt werden fanı. Das Wejen diefer Querel wird von 
Bähr in eine nach 30 Tagen ausgejchloffene Anfechtung des Anerfennungsvertrages 
geſetzt. Die Klage bedurfte feiner weiteren thatfächlichen Begründung. Es wurde alio 
vermuthet, daß die O. in bloßer Grwartung der Zahlung ausgeſtellt worden. 
Schlejinger fordert den Nachweis des letzteren Umſtandes. Die neueren Kodifi— 
fationen jchreiben der O. jotort die Beweiskraft zu. Ausdrücklich ausgeiprochen iſt 
dies im Preuß. Allg. ER., im Deutichen HGB. und im EG. der Deutihen ERO.; 
die Franz., Sächſ., Dejterr. BGB. jchweigen von der Querel. 

Der Zahlende, dem ſonſt das Juſtin. Recht, wenigitens beurkundeten Schulden 
gegenüber, den Beweis der Zahlung durch die Vorſchrift der Zuziehung von fünf 
Zeugen erſchwert, hat ein Recht auf ©. Des Rechts auf O. erwähnt ſowol das 
Preußische Allg. LR., als das Sächſ. BGB. Yebteres jchließt ausdrüdlich Den Tall 
jofortiger Baarzahlung im Kleinhandel aus. In der Franz. Praris wird das Recht 


Nabatt — Rangordnung der Gläubiger. 253 


au D. aus dem Cab hergeleitet, daß Verträge zu allem verpflichten, was billig 


und herkömmlich iſt. 

Lit. u. Gigb.: zur 4 Fische für —— und Proz. I. ©. 244. — Bujſch, 
Arhiv für civ. Prar. XXXI — Gneift, Die formellen Berträge des | Preuß. 
Obligationsrechts, ©. 25 ff. — — — Die — als — EN. . 317. — 

v.Gerberu. Jhering, Jahrbücher, IL. ©. a III. ©. 357. — Salelinger, Zur Lehre 
ben Formal⸗ :Kontrakten. — 1. 14 $$ 1, 2 C. de non num. pec. 4, 30. — Preuß. All 
MR. 1. 16 55 85—148. — Sächſ. BEP. sg 981 #. — Deutiches Art. 295. ce 
zur (PO. F 17. Gecius. 


R. 


Rabatt im eigentlichen Sinne iſt die, beſonders beim Kaufgeſchäfte vor— 
fommende Vergütung dafür, daß der Käufer den Preis vor der jejtgejeßten Friſt 
zahlt. Ihm steht diejer Vortheil zu, wie er in dem umgekehrten alle Verzugs⸗ 
zinſen gewähren muß, wenn er nach dem Ablaufe diejer Frift zahlt. NR. im un— 
eigentlichen Sinne nennt man denjenigen Abzug, welcher vertrags- oder objervanz- 
mäßig von dem bejtimmten Kaufpreife, meiſt nach Prozenten defjelben, ganz ohne 
Rüdfiht auf die Zeit der Zahlung den Wiederverfäufern von dem Großhändler, 
oder auch überhaupt bei der Entnahme einer größeren Menge von Waaren dem 
Käufer bewilligt wird. Es iſt dies eigentlich eine —— des ſonſt beim 
mg gewöhnlichen Preijes. 

. En Deutſches H.R., $ 107. — a * (1875), $ 254. — nm, 
—8* i VII. . 312: Bd. X. S. 368; Bd. XXI. d. Kräwel. 


Nadel, Samuel, 5 1628, Prof. in Kiel, — Diplomat, F 1691. 
Er fhrieb: De jure naturae et gentium diss. duae, Kilon. 1676. 


Lit.: — —————— 12) er — Oppenheim, Völterredht, (2) 72, 73.— Wheaton, 
Comm. Lawrence, L z. 1868, I. 111. — Klüber:Morftadt, ©. 16 Rate e — Ompteba, 
1. 76; III. 33. — Walter, Naturrecht, $ 529. Teihmann. 


Nagon, Charles Frederic, 5 26. VII. 1813 zu Gntrains (Nievre), 
wurde Prof. suppl. in Dijon, 1847 Prof. in Poitiers, F 30. X. 1878. 


Gr jhrieb: Theorie de la retention et de l’imputation des dons faits A des succes- 
sibles, avec resolution affirmative de la question du cumul, de la r&serve et de la portion 
disponible, suivant l’ancien droit, le Code Nap. et la jurisprudence, 1862 ss. Ein großes 


Bert über die Römerftraßen Galliens ift noch nicht veröffentlicht. 
@it.: Ducrocq in Revue generale 1879 p. 60—64. — Bulletins de la Societe des 


antiquaires de l’ouest. Zeihmann. 


Rangordnung der Gläubiger (v. Bar, Th. I. Suppl. S. 89) nennt 
man die Keihenfolge, in welcher im Konkurſe die Gläubiger aus dem Grlöje der 
Aktiv» oder Theilungsmaſſe befriedigt werden jollen. Das Gem. Necht, welches 
alles dem Kridar gehörige Gut zum Konkurs zieht, ſtatuirt auch eine einheitliche, 
aus Privilegien des Deutfchen und Röm. Rechts kombinirte R., welcher zufolge 
nach Abzug der Gerichts-, Verwaltungs, Kontradikturkoften und Mafleichulden zuerit 
die Koften der Beerdigung und der leßten Krankheit, Gefindelohn und öffentliche 
Abgaben an den Fiskus und die ihm gleichgeitellten Kommunen, Kirchen und 
Schulen zu befriedigen find, danach) als zweite Klaſſe die, privilegirten Pfand— 
gläubiger, als dritte die einfachen Pjandgläubiger, als vierte die privilegirten und 
endlih als lebte die einfachen hirographariichen Gläubiger befriedigt werden, und 
was dann noch übrig ift, auf Strafforderungen und Berleihungen auf den Todesfall 
ju verteilen ift. Partikularrechtlich kommen dazu in den verjchiedenen Klaſſen noch 
weitere Privilegien. Die neuere Zeit ijt der Häufung von Privilegien, zu welchen 


- 


254 Nangordnung der Gläubiger. 


jedoch auch manche Abjonderungsrechte zählen, mit Recht entgegen: die Motive der 

Deutihen KD. weijen treffend darauf hin, daß die größte Vorficht feinen Gläubiger 

dagegen jchüße, daß der Schuldner mit Privilegirten in Verbindung trete, daß 

Privilegien Präflufion und Gefammt-Prioritätsurtheil zur Konfequenz haben und 

dadurch Prioritätsftreitigkeiten und Verſchleppung der Befriedigung erzeugen und 

hemmend auf den Verkehr wirken. Aufgehoben hat die Deutiche KO. die Privilegien 

jedoch nicht, jelbit das des Fiskus nicht, obwol die Gejellichaft am letzten Ende 

Verlufte leichter zu ertragen vermag, wie der Private. Ihr Syſtem ift folgendes: 

Abjonderungsberechtigte werden durch Erefution außerhalb des Konkurjes befriedigt, 

bei einer Mehrheit von Gläubigern greift jedoch nach Landesrecht ‚» insbejondere bei 

Immobilien, eine R. Platz. Gbenjo hat die HKD. eine R. unter den Male 

gläubigern vorgefchrieben. Endlich was die Konkursgläubiger anbelangt, wobei 

indeflen zu bemerfen- ift, daß die jeit der Konfkurseröffnung laufenden Zinjen, die 

Konkurskoſten der einzelnen Gläubiger, Geldftrafen und Forderungen aus Liberalitäten 

vom Konkurſe ausgejchloffen find, unterjcheidet die KO. bevorrechtigte und nicht be 

vorrechtigte Forderungen. Die erjteren werden in folgender Rangordnung, und bei 

gleichem Rang im Verhältniß ihrer Beträge ‚befriedigt: 1) Lohn, Koftgeld und 

andere Dienftbezüge des lebten Jahres vor'm Konkurje oder Tode des Schuldners, 

wenn fie auf Verdingung zu dauerndem Dienſt für Haushalt, Wirthichaitsbetrieb 

oder Erwerbsgeſchäft des Schuldners beruhen, 2) öffentliche Abgaben des lebten 

Jahres vorm Konkurſe an Reiche, Staat, Gemeinde, Amts-, Kreis-— oder 

Trovinzialverbände, und zwar auch nach vorſchußweiſer Entrichtung durch den Steuer: 

erheber an die Kaffe; 3) Abgaben und Yeiftungen des letzten Jahres an Kirchen, 

Schulen, Deich, Meliorations- und andere öffentliche Verbände, jowie Annahme 
pflichtige Feuerverficherungsanftalten; 4) tarmäßige Forderungen der Aerzte, Wund- 

ärzte, Apothefer, Hebammen und Krankenpfleger für Kur: und Pflegefoften des 
legten Jahres vorm Konkurſe; 5) Forderungen von Kindern und Pflegebefohlenen 
aus der dem Schuldner gejeßlich unterwworfenen Verwaltung ihres Vermögens, es jei 
denn, daß diejelben nicht binnen zwei Jahren nach Ende der Verwaltung gerichtlich 
geltend gemacht oder der Prozeß nicht bis zur Konkurseröffnung fortgeführt wäre. 
Am Vorrechte nehmen vor dem Konkurſe erwachjene Prozeßkoſten, Vertragsſtrafen 
und Zinſen Theil, wie fie auch bei einfachen Forderungen zugleich mit dem For— 
derungsbetrage ſelbſt in Anja zu bringen find. — Die Dejterr. KO. hat ein ge 
mifchtes einheitliches Syftem. Aus dem Grlös der Aktivmaſſe, bei welcher die 
Gejammtmaffe und die bejonderen Maffen für abgejonderte Berriedigung zu unter 
jcheiden find, werden zunächit die Maffeichulden, und zwar unter eventuellem Vorzug 
der Maſſekoſten vor den übrigen Maffefchulden, immer aus der bezüglichen, im 
Zweifel aber aus der Geſammtmaſſe befriedigt. Danach jchließen die Realgläubiger 
die Konkursgläubiger von den bejonderen Maffen aus. Aus der Gefammtmaffe, in 
welche auch die Weberichüfle der Sondermafjen falten, werden fodann die Konkurs 
gläubiger nach folgenden Fünf Klaſſen befriedigt: 1) Begräbnißkoften, Gefindelohn, 
Arzte, Wundarzt- ıc. Lohn und die öffentlichen Steuern und Abgaben der Iekten 
drei Jahre vor dem Konkurſe, jo daß eventuell die letzteren zurücdgefeßt werden, die 
übrigen aber pro rata unter fich zur Perzeption gelangen; 2) Forderungen der Kinder, 
Minderjährigen und Kuranden aus pflichtwidriger Verwaltung ihres Vermögens und 
Forderungen des Staatsſchatzes aus dem Dienftverhältniß des Schuldners; 8) alle 
übrigen feiner bejonderen KHlafje zugewiejenen Tyorderungen pro rata. Bei diefen drei 
Klaffen werden mit der Hauptforderung auch die Zinfen, Renten und wiederkehrenden 
Hebungen der drei legten Jahre in Anja gebracht, ebenfo Prozeß- und Grekutions: 
foften, joweit fie nicht ala Mafjekoften jchon abgezogen find. 4) Rüdjtändige Zinien 
und wiederkehrende Zahlungen überhaupt und joweit fie nicht mit dem Hauptrechte 
das gleiche Vorrecht genießen; 5) Forderungen aus Schenkungen und Gelditraien, 
aus Webertretungen jeder Art, in beiden Klaffen eventuell ebenfalls pro rata. 


— — 
Ratenwechſel — Ratififation. 255 


u — Deutſche KO. 85 39 ff., 53 ff.; Mot. S. 250 ff. — Oeſterreich. KO. 
8 

Lit.: Schweppe, Konkurs der Gläubiger, SS 67 ff. — Göſchen, Vorleſungen über 
Eiwilrecht, Bd. II. $ 422. — Puchta, Pandekten, $ 248. — Windſcheid, Pandeltenrecht, 
IL. s5 270 fi. — Fuchs, Deutiher Konkuräproz., SS 14 ff. — Kommentare zur Deutſchen 
RD. zu 88 54 ff. von Sarwey, Hullmann, v. Böolderndorff, v. Wil: 
mowsti u. U. ſt. Wiebing. 

Natenwedjel (TH. I. S. 554). Ein R. ift ein Wechſel, deſſen Wechiel- 
fumme in mehrere, laut des Wechſelbriefes an verjchiedenen Verfalltagen zu zahlende 
Beträge zerlegt ift (jo nach der Auftaffung der Nürnberger Handelsgeſetzkommiſſion, 
die Deutiche WO. betr.), ein MWechjel mit mehreren Summen und verjchiedenen 
Verialltagen (Thöl). Während vor der Einführung der Deutfchen WO. folche 
R. häufig gebraucht und unbeftritten gültig waren, wurde nach der Einführung des 
genannten Geſetzes, obwol diejes die R. nicht, wenigſtens nicht ausdrüdlich berührt, 
die Geltung derielben als Wechſel mehrfach bezweifelt und in&befondere die folchen 
Wechſeln nicht jelten beigefügte ſog. faffatorifche Klaufel, d. 5. die Beitimmung, daß 
bei Nichteinhaltung eines Termins ſofort alle jpäteren Raten ala verfallen gelten 
follen, ala ungültig und nicht gefchrieben behandelt. Nach Beichluß der Nürnberger 
Handelsgeſetz⸗ Berathungskommiſſion (Nov. III., in Dejterr. Nov. I. zur Deutichen 
BD. Art. 4, jet Deutjches Reichsgejeg) muß die Zahlungszeit für die gefammte 
Wechſelſumme eine und diejelbe fein und es entfteht demnach aus R., mit oder 
ohne die faffatorifche Hlaufel, keine mwechjelmäßige Verbindlichkeit (Deutiche WO. 
Art. 7), was bereits vorher in Defterreich durch Verordnung des Oeſterr. Juſtiz— 
minifteriumg vom 29. Okt. 1852 beitimmt tworden war. 

Lit.: Ueber die älteren Anfichten über Ratenwechſel j. Seuffert, Archiv ber Ent: 
Iheidungen der oberften Gerichte, Bd. XIV, S. 72—76 (Nr. 50) und die dort cit. Abhand- 
lungen; ſ. ferner Jolly in der Krit. B.I.Schr. Bd. IIL. S. 237. (Auch Borchardt, WO., 
7. Aufl. Anm, ** zu Art. 4 ©. 28-29, Zuf. 69 ©. 33; Zuſ. 827 gi . 14 ©. 459.) — Ber: 
bandlungen der Kommilfion zur Berathung eines Allg. Deuticheh HGB., mehrere zur All 
Zentihen WO. in Anregung gelommene Fragen Fo Nürnb. 1861, ©. XLXLIE 
LXXVIIL—LXXIX., LXXXI1. Nr 2 co. — Thöl, HR, Bb. II. Wechjelrecht 4. Aufl. 
3 43 Nr. 4 ©. 188—189, 5 47 Nr. 11. S. 200-201 nebit der dort cit. Lit. — v. Wächter, 
Enchklopädie des Wechielrechts 1880, S. 408. Gareis. 


Rath, Arnold, & 1599 zu Herzogenbuſch, Kalvinijt, trat fpäter zum 
Katholiziamus über und wurde 1626 Prof. zu Ingolſtadt. Bearbeitete ſowol das 
Röm. Recht ala das Bayerische ER., F 1671. 

Schriften: Assertiones ga or et matrimoniales, 1624. — De Contractibus, 
1627. — De Test. solemni, 1627. — De Poenis Il. nupt., 1628. — De bis qui test. fac. 
Dee. 1629. — De — quibusdam Juris communis et „Landrecht“ differentiis, 
632, Fortſetzung 1642. — De usucap. et praescr., 1640. — Tract. de Deposito, 1644. — 
De potise. Juris Rom. et Boiar. quoad process. edict. differentiis, 1645. — De Sc, Vellej., 
3 Theile, 1648. — De damno inj. dato, 1648. — De II. nuptiis, 3 Theile, 1650, 1652. — 
De rei vindic., 1651. — Quaestiones illustres etc, 1652. — Do contrahenda emtione, 
1653. — De rescindenda venditione, 1654. — De SC. Maced., 1655. — De rebus creditis, 
1657. — De evictionibus, 1660, — Tract. de actionibus, 1669. — De interdictis, 1670. 


Sit: Prantl, Geſchichte der EM. Univerf., 1872, Bd. I. ©. 423; 2b. 1, ©. 0. 
' ezolb. 


Ratifikation (ratificatio, auch ratifficatio — approbatio und confirmatio, 
von ratificare — ratum habere, quod actum est approbare, confirmare, in früherer 
Zeit auch bei ftaatärechtlichen Urkunden [chartae und literae], und veritärft durch 
die verba: laudare und approbare, im Gebrauch [Ducange], bei völkerrechtlichen 
nachweislich jeit Juftinian ſſ. den Vertrag deffelben mit dem Perjerfönig Kosroes 
vom Sabre 561 bei Barbeyrac, Hist. d. anc. trait., II. 195], auch bei ihnen 
in älterer Zeit mit mannigfach verftärkten Ausdrüden, 3. ®. ratum gratum et 
firmum habere [Bollmacht Heinrich's VII. aus dem Jahre 1330 bei Leibnitz, 


256 Natifilation, 


Cod. jur. gent., 59], oder ratifier, agreer et approuver [ertrag von 1303 bei 
Leibnitz, 43]) bedeutet zur Zeit: die durch die Staatögewalt vollzogene Ans 
erfennung von deren Vertretern abgeſchloſſener völferrechtlicher Verträge. Dabei gebt 
bis an die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts die eidliche Bekräftigung neben 
der R. ber (Mart., Rec., II. 517). Die Reurkunde enthält zunächſt wörtlich den 
Vertrag und jodann deifen Genehmigung, unterzeichnet und befiegelt durch die 
Staatsgewalt. Die fontrahirenden Staaten wechjeln in verabredeter Zeit ihre reip. 
R.urfunden aus vermittelt ihrer Bevollmächtigten oder, im Falle ftattgehabter 
Mediation, vermittelit der Mediatoren ; veröffentlicht werden die Verträge erſt nad) 
der Auswechjelung der R. (de Callieres, De la maniere de negocier, I. 125. 
Mart. Guid. dipl. [ed. 1851], II. 154, bei demjelben II. 155 ff. ſ. auch verjchiedene 
R.urfunden). In der Gegenwart wird der Regel nach eine R. ausdrüdlid 
vollzogen, zu einer Forderung derjelben aus konkludenten Handlungen (nicht aus 
bloßem Stilljchweigen) (Örot, IL. XV. $ 17; IL XXII. 83; Vattel, II. XIV. 
8 208; Heffter [ed. 1861] $ 87; Berner, 636) ijt heutzutage wegen jener 
Negel jelten VBeranlafjung, außerdem hat die ausdrüdliche, formelle R. den Vorzug 
größerer Gewißheit der Genehmigung des Vertrages. Zwar halten Grot (II. XV. 
8 17), Klüber ($ 142) und Bhillimore (II. 65) die R. nur dann für nothe 
wendig, falls fie ausdrüdlich vorbehalten iſt und jalls (Phillimore) der Unter: 
händler fein Bevollmächtigter war; indeß bedingen ſchon Bynfershoet (Quaest. 
jur. publ. II. VIL) und Vattel (u. XII. $ 156) die Verbindlichkeit eines Ber: 
trages durch deifen R., jelbft Martens int in das Völkerrecht, $ 42) hält fie, 
wenn auch nicht nach natürlichem , jo doc) nach pofitivem Völkerrecht für geboten; 
daß aber die R. eine wejentliche Form Für die legale Wirkfamkeit eines Ber: 
trages jei, hat in überzeugender Weiſe ausgeführt Wildmann (I. 172). Keiner 
R. unterliegen die von Kriegsbefehlshabern abgejchlofjenen Waffenſtillſtände, Kartelle 
zur Auslieferung von Gefangenen ꝛc. (nicht aber diejenigen Verträge, welche die 
Beendigung eines Krieges oder Territorialveränderungen betreffen), weil die Er— 
mächtigung zum Abjchluß in allendlich gültiger Weife für jene Perfonen jchon in 
ihrem allgemeinen, ihre Stellung begründenden Commissum gewiflermaßen als ftill- 
jchweigende Vollmacht enthalten ift, jo daß die R. nur erfolgt, jalla fie vorbehalten 
iſt (Srot, III. XXII. $ IV. 2; $$ VII, hate — XII.; Vattel, I. XIV. 
$ 208; Martens, Völkerrecht, und Klüber, ; Wheaton, Flem., I. 228: 
Oppenheim, 181: Twiß, I. 233; a "632 und 36). Dabei verjagt 
Grot den Striegäbeiehlahabern die Auslieferung von Gefangenen ohne eingeholte R. 
Moſer (Verj. Th. X. Bd. II. ©. 5) konſtatirt, daß die Waffenftillftände bald der 
R. des Souveräns, bald des fommandirenden Generals unterliegen, bald aber jede 
N. für überflüffig erachtet werde, die diefen Unterjcheidungen angefügten Beiſpiele 
find willkürlich gewählt. Endlich macht Berner (). c.) die Einſchränkung, daß 
Veriprechungen eines Feldherrn, welche das Maß jeiner Berugniffe überfchreiten, 
bloße Sponfionen jeien und ihre Verbindlichkeit erit durch die R. der Staatsgewalt 
erlangen, während Mojer (1. c.) die Staatögewalt auch dann für gebunden hält. — 
Durch die R. erfüllt der Vollmachtgeber das Verſprechen, die Handlung jeines Be 
vollmächtigten zu genehmigen (Wurm, 165). Diejes Verſprechen iſt in der Regel 
ausdrücklich (nicht in der Regel ſtillſchweigend, wie Oppenheim, 181, meint) 
vorbehalten und entweder im Bertragsinjtrument jelbjt (R.Laujel) oder in der 
Vollmacht (ausdrücklich oder jtillichweigend, Berner, 635) enthalten. Die R.EHaufel, 
gewöhnlich am Schluß der Verträge, behält Beibringung und Auswecjelung der 
R.urltunde in bejtimmter Frift und an bejtimmtem Ort vor (Mojer, Verſ., X. IL 
381 ff.; Klüber, $ 326), enthält aber feinesivegs da & Veriprechen , daß die NR. 
unbedingt und ohne Prüfung erfolgen joll (Berner, 635). Bejonder® in ver- 
jafjungsmäßigen Staaten ift der Vorbehalt einer R. wichtig (Hefiter, $87 Nr. 2), 
indeß, falls er verabjäumt worden, jelbjtverftändiih (Wurm, 169). Gegen den 


— 
Ratifilation. 257 


Vorbehalt der R. in der Vollmacht, — welche dann mit dem Verſprechen der 
Ratifizirung der Punkte, in Bezug auf welche die Bevollmächtigten übereingekommen 
find, ſchließt (Mart., Guid. dipl., II. 240 ff.; Vollmachten der Art ebendaſ. und 
bei Miruß, Europ. Gejandtichaftärecht, II. 168), — wendet Wurm (179) ein, 
daß man fich dadurch vorbehalte, „ſowol zu ratifiziren, als nicht zu ratifiziren, 
weshalb der Vorbehalt müſſig ſei“, indeß wird, ohne daß eine R. in Ausficht ge= 
ftellt it, jchwerlich eine Verhandlung begonnen werden. In Bezug auf die Ver: 
bindlichkeit der Staatsgewalt zur R. iſt die Vollmacht jchon an fich mwejentlich, ein 
Veglaubigungsfchreiben genügt nicht. Grot (IH. XI. SS XIL; IH. XXI. S IV. 1), 
Pufendorf (D. jur. nat. et gent., III. IX. $ IL.) und Bynkershoek (I. c.) 
verpflichteten die Staatögewalt, die abgejchloffenen Vereinbarungen, die beiden erjteren 
ihon auf Grund einer Generalvollmaht, Bynkershoek nur auf Grund einer 
Spezialvollmacht, jelbft dann zu ratifiziren, wenn der Bevollmächtigte jeinen ge— 
beimen Inſtruktionen zumidergehandelt hat. Hat aber der Bevollmächtigte jein 
Mandat überfchritten oder ihm nicht fommittirte Dinge in den Vertrag aufgenommen, 
jo fann der PVollmachtgeber die R. ausfegen oder verweigern (Bynfershoef). 
Martens (l. ec.) hält, ohne Untericheidung der Arten der Vollmacht, Vereins 
barıngen wider die geheimen Inftruftionen nur nach natürlichem Völkerrecht für 
verbindlich, nach pofitivem aber nicht. Letztere Anficht vertritt auch Wheaton 
(1. 234). Nachweis der Weberjchreitung der Inſtruktion im Einzelnen oder jtarfe 
und gute Gründe zur Weigerung der R. verlangt Battel (I. XI. $ 156). 
As Weigerungsgründe, welche indeß erſt nach Abichluß des Vertrags eingetreten 
jein dürfen, führt Wheaton ferner an (I. 237): die phyſiſche oder moralische 
Unmöglichkeit der Vertragserfüllung, Irrthum der Parteien in Bezug auf That— 
ahen und Beränderung der die Kraft des Vertrages bedingenden Umſtände; aus 
dem eriten und dritten Grunde könnten ſogar ratifizirte Verträge für ungültig er: 
Hört werden. Wurm (186) erinnert außerdem (er faßt den zweiten Grund 
allgemeiner: als „mangelnde Willensfreiheit der Kontrahenten“) für veriafjungs- 
mäßige Staaten an die nichterfolgende Zuftimmung der Kammern. Heffter ($ 87) 
hält moralijch (?) die Weigerung für unjtatthaft, wenn der Vertrag der vor: 
gezeigten Vollmacht entfpricht, und bei grundlojer Weigerung eine Entichädigungs- 
torderung für begründet. Berner (635) will zwar die R. nur aus wichtigen und 
beſonders anzuführenden Gründen verweigert wiffen, wobei er die von Wheaton 
und Wurm angeführten anerkennt, geht aber offenbar zu weit, wenn er die Ver— 
weigerung auch dadurch motivirt, daß der Vertrag zum Unheil des Staates ab— 
geichloffen jei, indem das Urtheil darüber doch lediglich in das jubjektive Ermefien 
der Kontrahenten geflellt bleibt; zu allgemein ift auch der von Twiß (l. c.) an— 
gerührte Weigerungsgrund, daß den Kontrahenten nachtheilige Umjtände nach der 
Unterschrift des Vertrags eingetreten ſeien. Wir erachten, daß fein Staat einem 
von feinem Bevollmächtigten materiell und formell gültig abgeichloffenen Vertrage 
(i. b. Heffter, 58 83—86 und 87 die wejentlichen Bedingungen und die Form 
der Berträge) jeine Genehmigung verjagen darf, Lediglich mit Anerkennung der 
indeß nur in den engiten Grenzen anzuwendenden Slaufel rebus sic stantibus, und 
daß die geheimen Inftruftionen, welche nur für das Rechtsverhältniß zwiſchen 
Vollmadhtgeber und Bevollmächtigten maßgebend jein können und dem anderen 
Kontrahenten unbekannt bleiben, für die R. gar nicht in Betracht fommen. Hat 
ein Theil jeine R. erklärt, jo iſt der andere zur R. feinerfeits rechtlich nicht ge— 
wungen (Klüber, 1. c.; Heffter, $ 87; Berner, 635). Ginen ohne Auf: 
trag und Bollmacht in feinem Namen abgeichloffenen Vertrag, eine bloße sponsio, 
braucht der Staat nicht zu ratifiziren (Grot, II. XV. S XVI), eine jolche sponsio 
iſt ohne nachfolgende R. einfach ungültig (Martens, Völkerrecht, 1. c.; Klüber, 
l. e.; Grot, III. XXVI. 8 8, und Wheaton, I. 229 [ausdrüdliche oder jtill- 
ichweigende R.]; Heffter, $$ 84 und 87). Nur Grot (l. c.) hält den Staat für 
dv. Holtenborff, Enc. II. Rechtslexiton III. 3. Aufl. 17 


258 Ratififation. 


gebunden, auch ohne R., wenn er aus dem abgejchlofienen Vertrage Vortheil ziehen 
will. Vattel fordert zwar einerjeits die R. (II. XIV. $ 208), erblidt aber in 
der sponsio andererjeits eo ipso das Werfprechen der R. ($ 209) und hält den 
Staat dennoch nicht für gebunden (S 210), wol aber dazu verpflichtet, feinen 
Willen, namentlih in Bezug auf R. oder Nicht-R., jobald als möglich zu verlaut- 
baren ($ 212), wogegen Berner (632) in einer ſolchen Willenserklärung nur 
einen diplomatifchen, indeß der Billigfeit gemäßen Brauch erblidt, damit die andere 
Partei an der nutzloſen Erfüllung ihrer Verpflichtungen gehindert werde. Hat die 
Grrüllung jchon begonnen und unterbleibt die R., jo joll der Abſchließende zunächſt 
mit feinem Vermögen, jodann gar mit feiner Perſon (Grot, I. XV. S XV) 
haften, oder es erfolgt die restit. in integrum (Klüber, 1. c. not. g) und für 
den all der bong fide Erfüllung, Gntichädigung (Wheaton, I. 229). Indeß 
ift der sponsor na Berner (l. ec.) nur entichädigungspflichtig, wenn er den 
Mangel jeiner Vollmacht verheimlicht Hat, von jeder Verantwortung aber befreit, 
wenn er die Vollmacht nicht verheimlicht und die R. möglichft angeftrebt hat, 
während Heffter (S 84) nur dann den sponsor für verantwortlich hält, wenn er 
die Genehmigung oder den Vollzug der sponsio zu bewirken übernommen bat. 
Mir erachten die rest. in integrum, ſoweit fie überhaupt möglich ift, für genügend, 
daß aber, falls fie unmöglich, nur ein freilich meift ſchwer zu firirender Schadens: 
erja erübrigt, jelbitverftändlich nur aus dem Vermögen des sponsor, wogegen die 
Grrüllung der sponsio durch diejen jelbit (Wattel, $ 211) meiſt abjolut unmöglid 
fein wird. Mebrigens kommen praftijche Fälle der völferrechtlichen sponsio jelten 
vor, da faſt ausschließlich Bevollmächtigte und in der Regel ad hoc unterhandeln. — 
R.verweigerungställe geichloffener Verträge ſ. u. A. bei Martens, 1. c. not. h; 
Klüber, 1. c. not. d; Wurm, 163 fi; Twiß,l.c.; Galvo, I. 717. — 
Die Folgen der Weigerung einer R. richten jich nach dem Berhältniß der Kontra: 
hirenden vor dem Anfange der Unterhandlungen. Sollte ein feindliches Verhältniß 
durch den Vertrag beendigt werden oder Beichwerden Erledigung finden, oder wird 
die Unterhandlung vor dem Bertragsabichluß abgebrochen, jo kann wieder der Weg 
der Selbithülfe betreten werden. Im Friedenszuſtande aber hat der eine Kontrahent 
gegen den anderen nur eine Forderung, fall der eritere nachgewiejener Maßen in 
Folge feines Eingehens auf die Verhandlung eine Einbuße erlitten hat und zwar 
eine ſolche, welcher durch die R. des Vertrages vorgebeugt oder die dadurch aus 
geglichen fein würde (Wurm, 199). — Troßdem, daß erjt durch die R. die volle 
Glaubwürdigkeit eines Bertrages nach der Praris angenommen wird, iſt dennoch 
von den meijten Autoren und angeblich auch nach der Praris die Unterjchriit 
des Vertrages als der Anfang feiner Gültigkeit bezeichnet. worden (Mirbed in 
Henning’s Staatsichr., II. 210; Martens, Völkerrecht, 1. c. und Essai cone. 
l. armat. $ 41 not. ec; Klüber, 1. c.; Heffter, $ 87; Kent, I. 174; 
Wheaton,1.238;, Oppenheim,l.c.; Mart., Guid.dipl., 1.154; Berner, 636; 
Twiß, I. 233), wobei fingirt wird, daß die R. ‚die Gültigkeit auf den Abſchlußtag 
zurüczichen joll, dagegen datirt (nah Wurm, 170) die Verpflichtung vom Tage 
der Auswechjelung der R., wenn auch unmotivirt, Rayneval (Instit., 2, 113) 
und erklärt Wurm jelbit (172), troßdem daß auch er jene von der Mehrzahl ver- 
tretene Anficht zugleich als Herfommen anerkennt (170), die Behauptung, daß die 
bloße Unterzeichnung einem Bertrage feine volle Gültigkeit gebe, für eine unfrudt: 
bare Fiktion, während endlich” Twiß (l. c.) die Abtretung von Gebietötheilen be 
treffenden Verträgen erſt volle Wirkſamkeit mit der aktuellen Ceſſion der Territorien 
zumißt. Für die erjtere Anficht wird bejonders von Martens angeführt, daß der 
consensus den Vertrag perieft mache, während die R. nur beweife, daß der Mtandatar 
in Gemäßheit jeines Auftrages gehandelt hat. Tür die leßtere jpricht aber, daß 
die R. praktisch allgemein vorbehalten und als nothwendig zur Gültigkeit erfannt 
wird, daß, falls fie unterbleibt, der Vertrag nicht gültig wird, daß die Erfüllung 


Natihabition. 259 


in der Regel erſt nach der R. beginnt (eine vertragamäßige verabredete Ausnahme: 
Londoner Protokoll vom 15. Juli 1840, j. beit Murbard, N.R.,I, 163, welchen 
Fall Wurm [171] einen in der Gejchichte der Diplomatie unerhörten Fall nennt) 
und daß in verfaflungsmäßigen Staaten die Zuftimmung der Kammern vor der NR. 
errordert wird, falls fie nicht jchon vor dem Abſchluß, was wol jelten oder nie 
eintritt und bedenklich wäre, gegeben worden jein follte. Streng genommen wird 
daher ein Vertrag durch die Unterzeichnung nur bedingt verbindlich, wenn auch die 
Zuftimmung oder die R. nur aus wichtigen Gründen unterbleiben darf. Daß aber, 
ielbit nach dem Wortlaut von Berträgen, die Gültigkeit erjt mit der R. beginnen 
toll, Hat jchon Berner (l. c.) nachgewiefen und Wurm (171), daß die Feind— 
jeligkeiten nur auf Grund eines unterzeichneten Friedens, nicht ipso jure ceffiren, 
fondern nur, wenn es bejonderd verabredet oder ein Waffenftillitand abgejchlofjen ijt. 

Lit: Die Ratifilation von Staat3verträgen von XXI. (Wurm) in der Deutichen 
V.J. Schr. 1845, 1. Heft, S. 163 Fi. — Berner in Bluntichli’3 Staats Wört.B. Bd. IX. 
s. v. Staatenverträge, ©. 632 ff., und bie oben cit. völferrechtlihen Werke von Grot, 
PBufendorf, Byntershoek, Battel, Mojer, Martens, KHlüber, Wheaton, 


Deifter, Oppenheim, Mildmann, Kent, Phillimore, Twiß, Galvo. 
A. Bulmerinca. 


Ratihabition im Civilrecht ift die nachträgliche Genehmigung eines Rechts— 
geichäftes, welches den Zweck hat, den Beitand defjelben zu fichern, reſp. erjt herbei- 
zuführen. Gine allgemeine Theorie der R. läßt fich nicht aufftellen, da diejelbe je 
nach der Verjchiedenheit des Rechtsgeſchäftes, welches vorangegangen ift und ratihabirt 
wird, verjchieden wirkt. Es iſt vielmehr zu unterjcheiden 1) die R. einer fremden 
Geihäftsführung, ſog. negotiorum gestio (j. diefen Art.), welche für die Regel 
auf den Zeitpunkt des vom gestor gefchlofjenen Gejchäftes zurückwirkt; 2) die R. 
von Handlungen, welche ein Dritter vorgenommen bat, die aber wegen mangelnder 
Handlungsfähigkeit oder fehlender Dispofitionsbefugniß defjelben nicht volltommen 
gültig find, jeitens desjenigen, deſſen Konjens die Handlungsfähigkeit ergänzt, jo 
3. B. die Genehmigung des Vormundes zu Rechtsgeſchäften des Mündels und des 
Eigenthümers zu einer feitend eines Dritten ftattgehabten Veräußerung oder Be— 
laftung (3. B. BVerpfändung) feiner Sache. Auch hier tritt für die Regel in Folge 
der von dem Berechtigten gegebenen R. Rüdwirkung auf den Zeitpunkt des ab- 
geichloffenen Geſchäftes ein, jedoch vorbehaltlich der in der Zwijchenzeit gültiger 
Weife für Dritte bejtellten Rechte. Das ift auch nach Preuß. Recht (j. Allg. 
ER. J. 58811 ff; 2088 72 ff.; Förjter, Preuß. Privatrecht, $ 42) anzunehmen ; 
daflelbe gilt nach dem Sächſ. BGB. 88 472, 787, 1822, 1911; nicht klar Dejterr. 
BGB. $ 456. 3) Verſteht man auch unter R. die nachträglich erklärte Zuftimmung 
der Partei zu einem von ihr eingegangenen Nechtögeichäft, das entweder nichtig oder 
antechtbar iſt. Liegt hier ein abjolut nichtiges Geichäft vor, jo kann dafjelbe dadurch 
nicht zu einem gültigen werden, vielmehr wird hier durch die ſog. R. erſt ein 
ſolches, ſofern e8 allen rechtlichen Erfordernifjen genügt, neu gejchaffen. Bon einer 
Rüdwirkung kann alfo nicht die Rede fein. Anders verhält es fich mit den Ge— 
ihäften, welche relativ nichtig find, 3. B. mit einer wegen Irrthums des einen 
Theils ungültigen Ehe, oder mit denjenigen, welche nur der Anfechtbarfeit unter- 
liegen. Bier stellt fich die jog. R. ala Befeitigung des Rechts, das Geſchäft als 
nichtig aufzurufen oder anzufechten, dar, und dadurch ergiebt fich dafjelbe Refultat, 
als ob es von Anfang an volllommen rechtsbejtändig gerwejen wäre. Die modernen 
Partikularrechte (f. Preuß. Allg. ER. I. 5 88 37, 38, 186 ff.; Code civil art. 1838; 
Sächſ. BEB.$$ 104, 109, 787, 847, 848, 1656, 1822, 1911) ftehen im Wejent: 
lichen auf demjelben Standpunkte, nur weiſt das Preuß. LR., welches in Bezug auf 
einen wegen Unfähigkeit des einen Theil abjolut nichtigen Vertrag bei einer jpäteren 

gültiger ſog. R. (Anerfenntniß genannt) die Rüdwirkung auf Grund jtattgehabter 
Bartetübereinfunft zuläßt, die Anomalie auf, daß die Genehmigung jelbjt dann zurück— 
17 * 


260 Hau — Raub. 


bezogen wird, wenn der Vertrag wegen Mangels einer freien und ernſtlichen 
Einwilligung (alfo wegen phyſiſchen Zwang, Simulation, Trunkenheit) abjolut 
nichtig war. 

Quellen: Tit. D. ratam rem haberi 46, 8. — Pr. I. de auct. tut. 1, 21. — 1.5 
3 —— auct. tut. 26, 8. — l. 16 $ 1 D. de pignor. 20, 1. — LI. 29, 210 D. de R. 


git.: Busse, De ratihabitione, Lips. 1831. — Agricola, De ratihabitione, Bonn- 
Gothae 1848. — Bedhaus, Ueber die R. der Nechtögeichäfte, Bonn 1859. — 3. Grie 
finger, Zur Lehre von der R. der Rechtägeichäfte, Züb. 1862. — A. F. L. Gregory, 
Spec. iur. civil, de ratihabitione, Hagae-Comitis 1864. — 8. Seuffert, Die Lehre von der 
® ber Rechtägeichäfte, Würzb. 1868. P. Hinſchius. 

Rau, Frédéric-Charles, & 3. VII. 1803 zu Buchsweiler bei Straf: 
burg, wurde 1826 docteur, 1833 prof. suppl&ant provisoire, erhielt 1841 die 
chaire de droit civil, 1870 Rath am Kaſſationshofe, T 10. IV. 1877. 

Schriften: Mit Aubry: Cours de droit civil frangais, d’apres la methode de 


Zachariae, 1338—43, 4. ed. 1869—1879. — Abhandlungen in der Revue du notariat et de 
l’enregistrement und Revue Foelix t. II. III . 


Xıt.: Revue generale 1877, p. 300—8304. — Nouv. Revue historique 1877, p- 334. — 
Gaz. des Tribunaux 1877, Nr. 15 644. — Le tribunal et la cour de Cassation, 1879 p. 328. 


TZeihmann. 


NRaub iſt die in rechtöwidriger Zueignungsabficht unternommene Anwendung 
von Gewalt oder Bedrohung mit gegenwärtiger Gefahr für Yeib und Leben gegen 
eine Perfon, um dadurch in den Beſitz einer fremden beweglichen Sache zu gelangen. 
Bei diejem NRaubbegriffe liegt der Schwerpunkt in dem gegen die freiheit der Perſon 
gewaltthätig begangenen räuberifchen Angriffe, eine in Thüringen, Heſſen, Dejfterreich 
vertretene Anficht. Hingegen forderten die Straigefeße für Preußen, Bayern, Württem: 
berg u. a. zum Thatbeitande des R. aud die Wegnahme der fremden Sadıe 
unter Anwendung von Drohung oder mit Gewalt, mit anderen Worten: den 
TIhatbeitand des Diebitahls, erichwert durch Vergewaltigung gegen eine Perjon. 
Diefe Auffaflung Führt in der Praris leicht zu falichen Konſequenzen, wie 
v. Schwarze in feinen Bemerkungen zu dem Oeſterr. Straigejeßentwurf 1875 
richtig bemerft. Hiernach ift der R. feinem Zwede nach ein Eigenthumsverbrechen, 
feinem Mittel nach ein Angriff auf die Freiheit der Perfon und wo die ohne 
Vergewaltigung einer Perfon begangene Wegnahme nicht als Diebitahl zuzu— 
rechnen wäre, kann die gewaltjame Bemächtigung der fremden beweglichen Sadıe 
nicht als R. beurtheilt werden. Wer feine ihm rechtswidrig entzogene Sache mit 
Gewalt gegen eine Perſon an fich bringt, der Gläubiger, der eine gewaltjame rechts 
widrige Piändung feines Schuldners unternimmt, wer nicht in rechtswidriger Zu: 
eignungsabficht oder, um fich unrechtmäßigen Gewinn zu verichaffen, die Ausfuhr 
von Gerealien in das Ausland mit Gewalt gegen Perfonen vereitelt, der Schuldner, 
welcher mit Gewalt gegen jeinen Gläubiger fich des Schuldicheins bemächtigt oder 
wer eine fremde bewegliche Sache mit Gewalt oder Bedrohung gegen eine Perſon 
wegnimmt, um fie zu vernichten, — macht fich nicht des R. ſchuldig. Ebenjomwenig 
ift der Dieb, welcher gegen eine Perfon Gewalt anwendet, um fich in dem Befite 
der geitohlenen Sache zu behaupten, ala Räuber zu beurtheilen, obgleich mebrere 
Straigefege denfelben dem Räuber gleichitellen. Das RStrafGB. jtellt den R. dem 
Diebitahl in diefem Falle gleich (S 252). Nach 8 244 begründet R. auch Rüdjall 
beim Diebjtahl. Zum Thatbeitande des R. genügt Anwendung körperlicher Gewalt. 
‘ Neberwältigung ift nicht nothiwendig. Auch muß die Drohung mit einer gegen: 

wärtigen Gefahr feine jolche fein, welche den Bedrohten außer Stand ſetzt, durd 
Gegenwehr den R. zu vereiteln. Schon das Ueberfallen mehrerer Perjonen, namentlich 
zur Nachtzeit, an einfamer Stelle, fann als ein Anthun von Gewalt durch Drohung 
angejehen werden. Argliitige Sinnesbetäubung, etwa durch Narkotifirung ohne Ge- 
waltanwendung, jchließt die Annahme eines R. aus. Ebenſowenig macht fich des 
R. ichuldig, wer das Zimmer, in welchem fich eine Perfon befindet, ohne Gewalt: 


Raub. 261 


anwendung gegen diejelbe zuichließt, um im Nebenzimmer ungehindert jtehlen zu 
konnen. Ginige Gejege fordern zur Entwendung mittel Gewalt gegen die Perjon 
auch Nöthigung des Angegriffenen zur Weberlaffung der Sache. — Der Dejterr. 
Entwurf erklärt, daß wegen R. auf Zuchthaus big zu 10 Jahren oder auf Ge- 
füngniß nicht unter 1 Jahr zu erkennen ſei, wenn mit Gewalt gegen eine Perſon 
oder unter Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine fremde 
bewegliche Sache einem Anderen in rechtswidriger Zueignungsabficht weggenommen 
wird ($ 254). Das RStrafGB. ($ 249) definirt den R. als gewaltfame Wegnahme 
in diebifcher Abjicht und bejtraft denjelben theila mit Zuchthaus von 5 bis 10 Jahren 
ihon dann, wenn der R. nicht jchwerer qualifizirt ift, alö daß er auf einem öffent: 
lichen Wege oder Plate verübt wird, theils mit oder mehr als 10 Jahren Zucht: 
haus, wenn dabei ein Menſch gemartert oder durch Mißhandlung getödtet worden 
iſt, theils mit Gefängniß bei mildernden Umjtänden. Sind mildernde Umijtände 
vorhanden, jo tritt Gefängniß nicht unter Einem Jahre ein. Der R. zählt zu den 
Standgerichtäfällen und fann in dem außerordentlichen Strafverfahren mit Tode be= 
ftraft werden. Auf Zuchthaus von 5—20 Jahren läßt der neue Oeſterr. Entwurf 
erkennen, wenn eine jchtwere Körperverlegung oder der Tod des Verletzten durch den 
N. herbeigeführt wurde ($ 256), auf Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder Lebens: 
länglih das Deutiche StrafGB. ($ 251). Einfacher Raub wird bei mildernden 
Umftänden mit Gefängniß nicht unter 6 Monaten im $ 249 des RStrafGB. be- 
droht. Nicht unter 5 Jahren Zuchthaus bei jchwerem Raub in fünf Fällen. 

Auf den Werth der geraubten Sache kommt es nicht an, wol aber darauf, 
ob die Gewaltanwendung mittels Drohung oder gewaltthätiger Handanlegung, bon 
einem Ginzelnen oder mit Raubgenofien, mit Waffen, von einem Rückfälligen ıc. 
unternommen worden ilt. 

Das ältere Röm. Necht betrachtet den R. als furtum, bis derjelbe in der actio 
vi bonorum raptorum als jelbjtändiger Begriff der rapina bejtimmt wird; allmählich 
werden einzelne Fälle des R. jtrafbar, der R. in Waffen, der Straßen-R. latrones, 
grassatores mit frimineller Energie verfolgt. Im Germanifchen Altertfum machte 
nur ein Uebermaß von Gewalt oder an Wehrlofen verübte Gewalt, den R. unehrlich. 
Seinen in offenem Kampf erlegten Feind berauben galt für ehrenvoll: heimliche 
Entwendung erſcheint ftrafbarer und jchimpflicher als R. Später iſt das Verhältnif 
der Straibarfeit von Diebſtahl und R. umgedreht und jchon die älteren Reichsgeſetze 
und Rechtsbücher jtrafen die Räuber am Xeben. Unter der Borausfegung recht: 
mäßiger Fehde war auch der R. erlaubt, eine neuerlich beitrittene Thatſache des 
mittelalterlichen Tsehderechts. Seit den Kapitularien hat das latrocinium eine über 
die mit Gewalt begangene Entwendung hinausgehende Bedeutung durch das Weber: 
bandnehmen der Räuberbanden, die rauben, jengen, plündern, wodurch dafjelbe als 
Friedensbruch den jchärfiten öffentlichen Strafen verfällt. Bon der Strenge der 
CCC, welche dem Räuber mit der Schwertjtrafe droht, wich die jpätere gemeinrecht- 
liche Doktrin durch Individualifirung der verichiedenen ausgezeichneten Fälle des 
Verbrechens ab und beichräntte die Todesftrafe nur auf die ſchwerſten Fälle. Der 
traditionelle Zug zu Abjchredungsitrafen erhielt fich bis zum Heutigen Strafrechte, 
welches den R. vorwiegend ala Verbrechen wider das Vermögen auffaßt. 


Aal 28 ia Deutiches Reich SS 249, 250, 251, 255, 258, 261. — Defterr. Entwurf 1874 
88 254—25 

Lit. — Kommentar (1879), ©. 853. — Berner, Lehrb. (1881), ©. 549. — v. Buri, 
Gerichtäfaal, Beil. (1879). — Wilda, Strafrecht der Germanen, ©. 910 ff. — Dfenbrüggen 
Alaman. Strafredht, S. 309—314. u a andb. d. Deutichen Strafrechts, 1874. 


II. 716. — Hälihner, — Strafrecht, III. 520 — Glajer, Abhandlungen aus 
dem Dejterr. Strafreht, 1858, ©. 93. — Sammlung, ftrafrechtlicher gen des 
Rafjationähofes, Wien —8 — Schütze, Lehrb., 2. Aufl. 1874, 419, 448, 457. — Golt: 
rat Arch. XV. 345. — Dienbrüggen, Abhandlungen aus dem —* 1857, 


. 8492. — Köftlin, Abh., ©. 3 Wahlberg. 


262 Raufhandel. 


Raufhandel. Wäre es möglich, in jedem Falle der Tödtung oder Körber: 
verlegung durch den ftraiprogefjualiichen Beweis es feftzuftellen, wer der Thäter, 
Gehülfe ıc. geweien, jo würden die den R. betreffenden Beitimmungen überhaupt 
nicht eriftiren. Ihatjächlich Liegen aber die Verhältnifje häufig jo, daß zwar feit- 
geitellt werden kann, es jei Jemand in verbrecheriicher Weife getödtet oder verlekt, 
daß auch feitgeftellt werden kann, es jeien bei diefer Tödtung oder Verlegung dieje 
bejtimmten Perfonen in irgend einer Weife betheiligt geweſen; aber was nun der 
Einzelne diefer Mehreren gethan, darüber läßt fich dann häufig entweder gar Nichts 
oder doch nur Ungenügendes feftitellen. Derartige VBerhältniffe treten ein bei 
Schlägereien, Raufhändeln, fowie, wenn von Mehreren ein Angriff gegen einen 
Menfchen gemacht wurde. Die auf Fälle diefer Art bezüglichen Strafbeftimmungen 
finden fich jchon vor der CCC namentlich in Deutichen Stadtrechten; dann in der 
CCC jelbjt Art. 148, welche geſetzliche Beitimmung zu vielfachen Kontroverjen im 
Gem. Recht und jo mittelbar zu vielfachen Berjchiedenheiten in den dem Deutichen 
StrafGB. voraufgehenden Straigejegbüchern geführt hat. Namentlich waren es zwei 
Punkte, in denen die Partikulargejege auseinandergingen: 1) Die Strafbeftimmungen 
über den R., welche in allen Gejeßgebungen den Fall betrafen, daß Jemand im R. 
getödtet wurde, unterfchieden fich in Betreff der im R. zugefügten Körperverlegungen 
dadurch) von einander, daß einige Gejeggebungen alle im R. zugefügten Körper 
verleßungen berüdfichtigten (Heffen, Art. 274), während andere nur die ſchweren 
(Sachſen, Art. 173), noch andere (Preußen, $ 195) die ſchweren und erheb— 
lichen Sörperverlegungen ins Auge faßten. Die mannigjachen Unterjcheidungen 
der Strafgefeßbücher bei der Eintheilung der Körperverlegungen wirkten hier natürlid) 
nach. 2) Ein beitimmter Erfolg, 3. B. der eingetretene Tod, zeigt ſich als das 
Ergebniß nicht einer einzelnen, jondern mehrerer von verjchiedenen Thätern begangenen 
Verletzungen, wobei e8 durch Beweis fejtgeftellt ift, von wem jede einzelne der 
fraglichen Berlegungen herrühre. Die meijten Geſetze bejtimmten in diefem Falle 
eine den Geſammterfolg mit umfaffende Strafe, jo auh Preußen ($ 195 Abi. 2), 
während andere (3. B. Braunfchweig, $ 153) nur für diejenige Verlegung die 
Strafe eintreten ließen, welche dem einzelnen Thäter nachgewiejen wurde, ohne daß 
das eingetretene Gejfammtrefultat Berüdfichtigung fand. Darin aber jtimmten die 
Partikularjtraigefegbücher überein, daß fie in bald weiterem, bald geringerem Um— 
fange das einer gewiflen Strafe entjprechende Quantum von Schuld als vorhanden 
präjfumirten, wenn dasjenige, was der Angejchuldigte wirklich gethan, mit Voll- 
ftändigfeit nicht erwiejen werden fonnte. Mindeitens wurde zu diefem Zwecke die 
Strafbeitimmung aufgeftellt, daß derjenige, welcher fich bei einer Schlägerei be— 
theiligte, welche den Tod oder die Körperverlegung eines Anderen zur Yolge Hatte, 
beitraft werden jolle (Gefängnißitrafe von verjchiedener Dauer, Preußen, 8 195 
drei Monate bis fünf Jahre), auch wenn nichts weiter als jeine Betheiligung bei 
der Schlägerei erwiefen wäre. Nur der Nachweis, daß Jemand ohne jein Per: 
ihulden in die Schlägerei verwidelt worden, fonnte von diejer Strafe befreien. Und 
auch darin ftimmten die Gejeßgebungen überein, daß die den R. betreffenden Be— 
ftimmungen nur aushülfsweife und zwar dann eintreten jollten, wenn die That des 
einzelnen bei dem R. Betheiligten nicht mit juriftiicher Bejtimmtheit herausgeftellt 
werden konnte. Das Deutſche StrafßB. (88 227, 228) Hat, wenn auch unter 
Vermeidung des Ausdrudes „R.“, die den Partikulargejeßgebungen gemeinſamen 
Grundjäge im Allgemeinen anerkannt. Im Einzelnen ift zu bemerken: 1) alle 
die Strafbeftimmungen des $ 227 in Anwendung fommen jollen, muß als objek— 
tiver Befund der Tod eines Menfchen oder eine ſchwere KHörperverlegung (StraiGR. 
$ 224) vorliegen. Auf diefen Erfolg bleiben die jubfidiären Beitimmungen des 
z 227 bejchränft; bei Hörperverlegungen, welche unter $ 224 nicht fallen, kann eine 
Strafe „wegen Betheiligung an der Schlägerei oder an dem von Mehreren ge: 
machten Angriffe“ nicht eintreten, jondern nur eine ſolche wegen Thäterſchaft oder 


Raufhandel. 263 


Iheilnahme an einer „Körperverlegung“ ($ 223). 2) Kann bei einer Schlägerei 
oder einem don Mehreren gemachten Angriffe e8 Teftgeftellt werden, was der einzelne 
Angeklagte gethan Hat, jo tritt diejenige Strafe ein, welche durch die dem An— 
geflagten nachgewiejene Handlung verwirkt ift, und nicht die lediglich auf Präfumtion 
beruhende Strafe des $ 227. Sit jedoch die letztere die jchwerere, jo iſt fie in 
Anwendung zu bringen. Stünde es 3. B. feſt, daß diefer Angeklagte bei der 
Schlägerei fich nicht weiter betheiligt Habe, als daß er dem Getödteten einen leichten 
Schlag verjegte, jo wird doch die Strafe wegen „Betheiligung an der Schlägerei” 
ale die jchiwerere in Anwendung zu bringen jein. 8) Die Strafe wegen „Bes 
theiligung an der Schlägerei” wird dadurch, daß der Getödtete oder der fürperlich 
ihwer Verletzte ſich an der Schlägerei betheiligte oder diejelbe vielleicht gar pro= 
vozirte, nicht ausgejchloffen. Die Möglichkeit, daß auch der bei der Schlägerei Ver: 
fegte zur Strafe gezogen würde, bleibt nicht ausgefchloffen; 3. B. die Schlägerei hat 
das Refultat, daß ein Menfch todt auf dem Plaße bleibt, der andere eine ſchwere 
Körperverlegung ($ 224) davon trägt. Bon letzterem aber wird es erwieſen, daß 
er dem Getödteten eine der Wunden beigebracht, welche durch ihr Zujammentreffen 
mit anderen Verwundungen den Tod des Verlegten verurfachten. In dieſem Falle 
würde derjenige, welcher die ſchwere Körperverlegung davon getragen, in Gemäßheit 
des $ 227 Abi. 2 zu jtrafen fein, wie ihn denn auch die Strafe des S 226 treffen 
müßte, falls erwieſen wäre, daß die todtbringende Verlegung von ihm herrühre. 
Bei der „Schlägerei” iſt eben Jeder daran Betheiligte ſowol Angreifer, wie auch 
Angegriffener, und hierdurch unterjcheidet fi) die „Schlägerei" von dem „von 
Mehreren gemachten Angriff“, bei welchem leßteren die „Mehreren” — zwei ge 
nügen — nur als Angreifer, und der Angegriffene nur als jolcher zu denfen ijt. 
4) Der Begriff der „Schlägerei“ ſchließt e& nicht aus, daß nicht die Mbficht, „eine 
Schlägerei zu veranlaffen“, gefaßt werden fünnte; aber es iſt nicht erforderlich, daß 
diefes Moment thatjächlich feftgejtellt werde, vielmehr genügt die Feititellung, daß 
der Angeklagte fich bei einer, gleichviel wie entjtandenen, Schlägerei betheiligt 
habe. Bei dem „von Mehreren gemachten Angriff“ iſt e8 nur erforderlich, daß die 
Thatfache des von Mehreren gemachten Angriffes fejtgeftellt werde. Daß die 
Mehreren den Angriff verabredet haben, braucht dagegen ebenjfowenig fejtgejtellt zu 
werden, wie daß der Angriff den Tod oder die jchwere Körperverlegung des Anz 
gegriffenen Habe herbeiführen jollen,; wennſchon, falls diejes fejtgeftellt würde, hier— 
durch die Anwendbarkeit des $ 227 nicht ausgefchloffen zu werden braucht. Denn 
weder das Komplott, noch auch die von jedem der Komplottanten gefaßte Abficht, 
den Anzugreifenden zu tödten, reſp. demjelben eine ſchwere KHörperverlegung zuzufügen, 
garantiren die Möglichkeit des Nachweiſes dafür, daß diejer Angeklagte dieſes und 
jener Angeklagte jenes gethan habe; vielmehr wird troß jener Feſtſtellungen es 
zweifelhaft bleiben fünnen, was der Einzelne der Komplottanten zur Herbeiführung 
des eingetretenen Erfolges beigetragen habe. Und diefes genügt, um die Vorfchrift 
des S 227 in Anwendung zu bringen. 5) Der Umjtand, daß Jemand ohne jein 
Berichulden in die Schlägerei — nad) den Worten des $ 227 müßte man auch 
von einem unverjchuldeten Hineinziehen in den von Mehreren begangenen Angriff 
iprechen können, vgl. jedoch die Wortfaffung von $ 367 Nr. 10 — hineingezogen 
worden ift, bildet einen Strafausfchließungsgrund von der „Betheiligung an der 
Schlägerei“ ; aber auch nur von diejer. Denn würde e8 fejtgeitellt, daß Jemand 
jwar ohne jein Verſchulden in die Schlägerei Hineingezogen worden, daß er aber, 
ohne daß dies durch die Zwecke der Nothwehr geboten geweien, einem Anderen eine 
Körperverlegung im Sinne des $ 223 zugefügt hätte, jo würde zwar die Straf— 
vorichrift der 88 227, 228, nicht aber die des $ 223 unanwendbar werden. Auch 
würde der ohne fein Verſchulden in die Schlägerei Hineingezogene nad $ 367 
Nr. 10 zu ſtrafen fein, falls die dort angegebenen Borausfegungen zuträfen, jelbjt 
wenn es jeititände, daß er feine Verlegung herbeigeführt hätte. 6) Wenn außer der 


264 Rauter — Nenllaiten. 


Betheiligung an der Schlägerei, oder an dem von Mehreren gemachten Angriff gegen 
einen der Betheiligten auch noch feitgeitellt wird, daß derielbe der Urheber einer 
derjenigen Verlegungen jet, welche nur durch ihr Zujanmentreffen mit anderen Ber 
legungen den Tod oder die jchwere KHörperverlegung herbeigeführt haben, jo tritt 
die Strafe des $ 227 Abi. 2 ein — Fünf Jahre Zuchthaus eventuell mildernde 
Umstände $ 228. 

Lit.: Abhandlungen von v. Wächter im Krim. Arch. XIV. Nr. V. und in der Sidi. 
Ger.Ztg. XIL ©. 65. — Abegg im Krim.Arch. 1836 VL, 1837 XVI. — Kaufmann, 
ebendaſ, 1837 IV, — Kraus im Gerichtäfaal Jahrg. IV. Bd. II. ©. 169. — Berner, 
ebenda‘. XVII. ©. 304. — Hälichner, ebendaſ. II. ©. 155; Derfelbe in Goltdammer’: 
Arch. X. ©. 618. — Luben, Abhandlungen, II. S. 282. — Geyer in dv. Holgendorif's 
—— Bd. III. ©. 551 ff.; Bd. IV. ©. 379. — Meyer, Rehrb., ©. 407 fi. — v. Schwarze, 

omment., 4. Aufl., ©. 553 ff. Sohn. 
Rauter, & 1784 zu Straßburg, Profeſſor dajelbit, T 1854. 

Er jhrieb: Cours de procedure civile, Paris-Strasbourg 1834. — Trait& theorique et 
pratique du droit criminel ou cours de legisl. criminelle, Paris 1836, Brux. 1837. 

Xit.: Nypels, Nr. 680. TZeihmann. 


Naevardus, Jacob (Reyvaert), & 1534 zu Liſſeweghe, ftud. in Löwen 
und Orleans, wurde 1558 Doktor, reifte nach England, 1565 Prof. in Douay, 
ging dann nach Brügge, T 1568. 

Schriften: Tribonianus. — Ad leg. Scribon. lib. sing. — Lib. sing. ad leges XII 
tabb., Jen. 1586 (prisci et antiquitatum explicatio, ed. Conradi, Lips. 1728). — Triga libell. 
uibus jura usucap. illustrantur. — Variorum s. de jur. ambiguitatibas libri V, Bruges 1564; 
Col. 1576. — Ad tit. D. R. J. Antv. 1568; Lugd. 1593. — Oper. pars posth., Francof. 
1601; Helmst. 1660. — Opera omnia, ed. 2, Francof. 1622; Neap. 1779. 

Yit.: Jugler, I. 254—261. — Rivier, p. 506. Zeihmann. 

Haymundus de Peñaforte (Ramon), & zu Pelaiorte bei Barcelona 
nach 1180, Pönitentiar und Dominifanermönd, * 6. I. 1275 in feiner Geimath. 

Gr jtellte auf VBeranlaffung Gregor's IX. die Defretalenfammlung Gregor 3 IX. zuſammen 
und jhrieb: Summa sacramentorum, Rom. 1603; Avenione 1715; Veronae 1744. — In: 
ftruftion über dubia conscientiae. — Decretales in consiliis et confessionibus necessariae. 

git.: Vita auctore Fr. Peüa, Kom. 1601; von Perez, Salamant. 1601. — Phil» 
lips, Kirchenrecht, IV. 237. — v. — Geſchichte der pop. Lit. des römiſch-kanon. 
Rechts, Leipz. 1867, S. 493 ff. — Stobbe, Rechtsquellen, II. 18. — Zeittafeln der Kirchen— 
geſchichte, 3. Aufl. von Weingarten, 1874, S. 68. — Schulte, Geſchichte, II. 6, 66, 
408—413, 523. — Rodinger, Berth. v. Regensburg und Raimund dv. P., München (Atab.) 
1877. — Rec. de l’Acad. de Toulouse, IV. 174 ss. — Augsb. Allg. Sta. 1880, ©. 645. 

Teichmann. 

Rayneval, Gerard de, 5 1736 zu Maſſevaux, wurde 20 Jahre alt 
premier commis im auswärtigen Minifterium und hatte ala Botjchafter in London 
großen Antheil an dem Handelävertrag von Eden 1787, T 1812 zu Paris. 

Schriften: Institutions du droit de la nature et des gens 1803, 1832, 2. dd. 1851. — 
De la libert& des mers, 1812. 

Zit.: Cauchy, Droit maritime international, II. 355. — Mohl, I. 388; II. 562. 

‚Zeihmann. 

Neallaften jind I. ihrem Begriffe nach Verpflichtungen eines Grundbeſitzers 
als jolchen, einer berechtigten Perjon gewiſſe wiederkehrende Natural, Geld= oder 
Dienftleiftungen zu gewähren. In Ermangelung eines Kunftausdruds wird auch die 
entiprechende Berechtigung wol ala R. bezeichnet. In ihrem gejchichtlichen Urjprung 
jtellen jich die R. hauptjächlich als Ausflüffe der Grundherrlichkeit oder der Vogtei 
dar; fie konnten aber auch unabhängig von jolchen Berhältniffen durch Auflaffung 
begründet werden. In allen Fällen hatte der Berechtigte an der belajteten Liegen: 
ſchaft eine Gewere, in welcher jowol ein dingliches Herrichaftsrecht, als ein Anſpruch 
auf die einzelne Leiſtung ununterichieden enthalten waren. Dieje Beichaffenheit der 
R. nun machte es jchwierig, ja unmöglich, jie in die vom Röm. Necht überlieferten 
Rechtsfategorien einzureihen. Deshalb iſt ihre rechtliche Natur auch heute noch 
überaus ftreitig.. Die älteren Annahmen, daß die R. als Forderungen mit einer 
accefjoriich Hinzutretenden Hypothek oder als Grunddienitbarkeiten auf eine Leiſtung 


Neallaiten. 265 


des belafteten Beſitzers (servitutes in faciendo) aufzufaffen feien, find jet wol 
allgemein als unrichtig erkannt. Dagegen bejtehen nunmehr hauptjächlich zwei 
ertreme Theorien, von denen die eine (v. Gerber, Savigny, Stobbeu. X. m.) 
in den R. reine Forderungsrechte erblidt, die nach Art der Röm. actiones in rem 
scriptae fi) gegen den Grundbefiter, als Zuftandsverpflichteten, richten jollen, 
‚während die andere (Dunder, Meibom u. A. m.) umgekehrt aus der R. über: 
haupt nicht den Beſitzer, jondern nur das Grundjtüd jelbjt verhaftet fein Täßt. 
Aber beide Theorien verfürzen das Weſen des Inftituts auf entgegengejeßten Seiten. 
As reines Forderungsrecht hat die R. in Deutichland nie gegolten: das zeigt ich 
in ihrer Begründung durch Auflaffung, in ihrer Verfolgbarkeit mit dinglicher und 
mit Beſitzkllage und in der Gewaltſamkeit, mit welcher die ältere Theorie den Röm. 
Hypothek- und Servitutenbegriff auf fie anzuwenden jtrebte. Andererſeits bindet die 
R. ebenjomwenig lediglich das (perjonifizirte) Grundjtüd, ſondern gewährt auch eine 
Grefution gegen die Perfon des Beſitzers. Neueſtens iſt auch gelehrt worden, die 
R. gewähre auf die Leiftungen überhaupt fein Recht, jondern diefe jeien nur in con- 
dieione, d. h. der R.berechtigte habe an dem pflichtigen Grundjtüd volles Gigen- 
tum unter einer Suspenfiv», und der belajtete Grundbefiger fein dingliches Nutzungs— 
recht unter einer Rejolutivbedingung (8. Mann). Und dieje Lehre ift jogar ala 
dee „Räthſels Löjung oder die Entdeckung der Nilquellen“ begrüßt worden (Pözl's 
Krit. Vierteljahrsfchr. XII. ©. 124). Allein es war doch ficherlich nicht die Auf: 
faſſung des Deutichen Volkslebens, daß der Gutsherr auf die Frucht- und Dienit- 
leiftungen des Bauern eigentlich gar fein Recht habe, und ebenjowenig entipricht es 
dem Rechtsbewußtjein, daß faſt das geſammte Deutjche Grundeigenthum viele Jahre 
Bindurch theils juspenfiv, theils vefolutiv bedingt in der Schwebe gewejen jein jollte. 
Hiernach wird denn auch diejer Verjuch aufzugeben und vielmehr eine Mittelmeinung 
anzunehmen fein (v. Wächter, Bejeler, J. Unger), welche die R. für ein ge- 
mtichtes Jnjtitut erklärt und innerhalb deijelben dingliche und obligatorische Elemente 
ſondert. Danach ijt das Recht in feiner Totalität dinglich, alſo nur auf die für 
jolche Rechte beitimmte Weile (Eintragung) zu begründen, mit einer actio in rem 
auf Anerfennung verfolgbar, des Befites fähig ıc. Aus diefem Rechte aber folgen 
zugleich die Ansprüche auf die einzelnen Leiftungen als perjönliche, die eben darum 
mit bejonderen Klagen ausgejtattet, aber auch einer bejonderen Verjährung unter: 
worten find ıc. Nach) diejer Feſtſtellung gejtalten fich die einzelnen Punkte folgender: 
maßen: II. Als Entitehungsgründe galten früher Rechtsjag, Privatrechtsgeichäit und 
Erſitung. Bon diejen Gründen ift der erfte heutzutage nicht mehr in Wirkfamteit, 
weil die Gejeßgebung überall in umgekehrter Richtung auf die Abjchaffung der R. 
binarbeitet. Bol. für Preußen Gejege vom 2. März 1850 umd vom 3. April 1869. 
Tie Privatwilltür, insbejondere der Vertrag, kann zwar nicht ohne jede Form, wol 
aber in der Weije noch heute R., joweit fie herfömmlich find, neu erzeugen, daR 
die an Stelle der Auflafjung getretene Eintragung in öffentliche Bücher, reſp. ge— 
rihtliche Anmeldung und Beitätigung des Gejchäfts beobachtet wird. Endlich die 
Erſitzung wird zwar wenigjtens als außerordentliche von 30 Jahren noch heutzutage 
vielfach für zuläffig gehalten (Seuffert, Arch. IX. 201; XV. 83, 84), ijt aber 
doch weder gewohnbheitsrechtlich, noch durch Analogie der Servituten zu rechtfertigen 
(Zeuffert, Arch., XII. 290; XV. 40): wogegen aus unvordenklicher Dauer die 
gewohnte Vermuthung auch hier Plab greift (vgl. L. Dunder, Die Lehre von 
den R., $ 29). Eine Uebertragung der R. auf ein anderes, als das uriprünglich 
berechtigte Subjekt, wird durch Nechtögeichäft ebenjo, wie die Neubegründung bes 
wirft; nur über Kirchenzehnten bejtimmt beſonderes c. 1 in VIto de praescript. 
2, 13. Eine Umwandlung dagegen, ſei es, daß die R. firirt, d. 5. aus quantitativ 
unbeitimmten in bejtimmte, ſei es, daß fie adärirt, d. h. aus Natural» oder Dienſt— 
leiftungen in Geldzahlungen umgejegt werden, findet nicht blos durch Vertrag 
der Intereffenten, jondern bejonders häufig auch durch gejegliche Verfügung jtatt. 


266, Rebuffus. 


Ill. Das Rechtsverhältniß aus der R. richtet fich auf der pafliven Seite ſtets gegen 
den Beſitzer des belafteten Grundftüds als folchen. Aktiv dagegen kann es ent 
weder ebenfalle mit einem Grunditüd, oder auch mit einem Amte oder auch mit 
einer Korporation verknüpft fein; feltener jteht e8 einem einzelnen Menſchen zu. 
Die Rechtsmittel beziehen fich theils auf das Recht im Ganzen, theils auf den ein- 
zelnen Leiſtungsanſpruch. Zu jenen gehört vor allem die Klage auf Anerkenmung 
der R. (jog. actio confessoria utilis), eine petitorifche actio in rem; dann aber 
auch die durch das Kanon. Recht hierher übertragenen Beſitzllagen auf Grund der 
iuris quasi possessio, die mit einmaliger Ausübung der R.berechtigung erworben 
und durch Berweigerung der Leiftung und Beftreitung des Nechts auf diejelbe ver: 
loren wird. Gegen bloße Störungen dieſes Beſitzes findet das interdietum uti 
possidetis, gegen Entziehungen defjelben die actio spolii ftatt, und zwar find beide 
nach den Grundſätzen des Kanon. Rechts nicht blos gegen den Schuldner, ſondern 
auch gegen Dritte, welche in die Ausübung des Rechts eingreifen, anzuftelten 
(j. darüber Bruns, Recht des Befites, ©. 201, 210, 214, 331). Neben diejen 
Klagen aber gilt auch die Forderungsklage auf die einzelne Leiftung,, welche immer 
von demjenigen, der zur Verfallzeit juriftifcher Befiter des Grundjtüds war, ein 
zutreiben iſt. Hiernach ift inäbefondere für NRücdjtände niemals der Sondernad; 
tolger, jondern höchjtens der Erbe des urfprünglichen Schuldners verhaftet; ebenio 
verjährt die Klage auf jede Leiftung, gefondert von ihrer Fälligkeit ab, und iſt 
endlich die Grefution nicht, wie ältere Quellen wol annehmen, ausſchließlich auf 
dag Grundjtüd, jondern gegen die Perjon des zur Verfallzeit im Befit Geweſenen zu 
richten (j. Bejeler, Syjtem, $ 190 Anm. 13, 14; anders wieder Sächſ. BGB. $ 510). 
IV. Grlöfchungsgründe der R. find zunächſt diejelben, wie bei allen bdinglichen 
Rechten: Untergang des belafteten Objefts, Konfufion, Aufhebungsvertrag in gleicher 
Form, wie die Bejtellung ꝛc. Zweifelhait aber ift, inwieweit R. durch Zeitablauf 
getilgt werden. Abgeſehen von der dreißigjährigen Klagverjährung, welche für jeden 
einzelnen Leiſtungsanſpruch mit defjen Fälligkeit und für die Gefammtflage mit der 
verweigerten Anerkennung des Rechts zu laufen beginnt (Seuffert, Arch., XVII 83), 
ift auch die Erlöfchung der R. durch Erfigung der freiheit oder gar durch bloßen 
Nichtgebrauch während zehn Jahren behauptet worden. Allein ohne Grund, da die 
Analogie der Servituten hier nicht zutrifft (Seuffert, Arch. V. 6; IX. 323 u. a. m.). 
In neuefter Zeit find die R. faft überall der Ablöfung unterworfen und theils durch 
jofortige oder allmähliche Abzahlung des dem Werthe der R. entiprechenden Kapitals, 
theils durch Umwandlung in eine Hypothekenſchuld bejeitigt worden (j. d. Art. Agrar- 
gejeßgebung). V. Einzelne Arten der R. find Zins (census), Zehnten (decimae), 
Frohnden, zuweilen auch Leibzucht, Witthum, Apanage, endlich ausnahmsweiſe 
Kaudemium und Sterbefall. Auch die Staats- und Gemeindelaften, joweit fie auf 
Srundjtüden ruhen, werden wol hierher gezählt, 3. B. Deichlaft, Grundjteuer x. 
Ueber alles dies ſ. die einzelnen Art. 

git.: 8. Dunder, Die Lehre von den R., Marburg 1837. — Renaud, Beitra zut 
Theorie der R., —— 1846. — ————— Meiste’ 8 Rechtslex. IX. 28—1 
v. Gerber in den Jahrb. für Dogm., II. ©. ; VI. ©. 266—285. — Friedlieb, "dal. 
II. ©. 299-356; Derielbe, Rechtätheorie - NR, ans 1860, — v. Meibom in Better’ ä 
Jahrb. des Gem! Rechts, IV. ©. 442-510. — 8. Mann, Unterfuhungen über ben Begriff 
der R., Deſſau 1869. — Stobbe, Handbud, Il ss 100—105. Ed. 


Nebuffuß, Jacobus, aus Montpellier, lehrte dafelbit 30 Jahre, bekleidete 
wichtige Memter, T 1428. 
Schriften: Comm. in tres libr. Codicis. 


S. 4N. 9 


vit.; Savigny, VI 495. — Göppert, Ueber die organiſchen Erzeugnifie, Halle 1869, 
.9. ei | 


mann. 


Nebuffus, Petrus, & 1487 zu Baillargues (Montpellier ?), Prof. des Kanon | 


Rechts in Montpellier, Cahors, Bourges, Poitiers, Paris, T 1557. 


| 


— 


Receptum nautarum, cauponum, stabulariorum. 267 

Er jhrieb: Consilia. — Praxis beneficiorum, Lugd. 1553, 1579, 1586, 1599; Colon. 
1610. — Ordonnances, 1573. — In tit. Dig. de Verborum Signif. commentaria, Lugd. 
1586. — Comm. ad ordinationes regias, Lugd. 1613. — De supplicationibus s. errorum 


ropositionibus, Spir. 1587. — Explic. ad IV libros Pandect. priores, Lugd. 1589. — 
ract. varii, Lugd. 1619. — Tract. concordatorum, Par. 1538, Lugd. 1576, 1599 sq.; 


Colon. 1610. 
8it.: Nouv. biographie générale univ., Par. 1862 Vol. 11. — Rivier, p. 492. — 


Schulte, Geſchichte, III.a ©. 554. Zeihmann. 


Receptum nautarum, cauponum, stabulariorum. Gajtwirthe und ähnliche 
Gewerbtreibende genofjen in Rom einen jehr üblen Leumund (Friedländer, 
Sittengefch. Roms, II. ©. 40 ff.). Der Prätor hielt daher die allgemeinen Rechts— 
regeln, wie fie aus einem Mieths-, Yeih-, Verwahrungs- oder auch einem bejon= 
deren Garantieübernahmeverhältniß entipringen (daher noch heute die verjchiedene 
Behandlung des R. in den Lehrbüchern) nicht für ausreichend, jondern fchüßte das 
Pudliftum durch Aufftellung ftrengerer Haftungsgrundjäße in jeinem Edikt (Gold= 
ihmidt in j. Zeitichr. rechnet deshalb das R. zu den gejeglichen Obligationen ; 
®. II. ©. 64, 103). Nach Gem. Recht (partitularrechtlich giebt es gewerbe— 
polizeiliche Vorſchriften) find jene Gewerbetreibenden zur Aufnahme von Reijenden 
geiehlich nicht verpflichtet, wenn fie gleich in eigenem wohlveritandenen Interefie 
nicht Leicht folche zurüdweifen werden. (So löſt die jcheinbare Autonomie 
zwiſchen 1. 1 81 D. 4, 9 und l. un. $ ult. D. 47, 5 mit Recht v. Bangeromw, II. 
z 648 Anm. 1, bei welchen die weitere Literatur über dieſe Streitfrage nachzujehen 
if.) Haben aber Gaftwirthe ıc. oder deren Stellvertreter bei fich Reiſende aufs 
genommen, wozu es eines ausdrüdlichen Vertrages nicht bedarf (1. 188 D.h. t.; 
.3 pr. D. h. t.), fo ftehen fie auch für die völlige Unverfehrtheit (salvum fore 
recipere) der don dem Reiſenden eingebrachten Sachen, jelbjt wenn fie diefem nicht 
gehören, ein. Vorausgeſetzt iſt nur, daß die Aufnahme innerhalb des gewerbs— 
mäßigen, aber ſelbſt unentgeltlichen (. 3 $ 1; 1. 6 D. h. t.) Gefchäftsbetriebes 
des Wirthes erfolgt (. 38 $ 2 D. h. t.), jo daß alſo das Edikt auf bloße 
Zimmervermiether, Reftaurateure, Kafinogejellichaften, auf Perfonen, welche aus Ge— 
tälligfeit eine Unterkunft gewähren, jowie auch dann nicht Anwendung findet, wenn 
j. 8. mit einem Gaftwirth ein monatlicher Miethsvertrag über ein bejtimmtes 
Zimmer abgeichloffen wird (Seuffert, Aıd., I. ©. 372; XVII. ©. 42, Gold- 
ihmidt, a. a. O. ©. 61; Harder, a. a. O. ©. 228). Daß die Sachen jelbit 
in das Gafthaus, Schiff oder Stall gebracht find, ift nicht erforderlich; e8 genügen 
rär die Haftung überhaupt alle Thatjachen, aus denen die Aufnahme erfichtlich ift, 
wie 3. B. das Einfteigen in den am Gifenbahnhof befindlichen Omnibus; ebenjo 
bezieht fi) das R. auch auf Sachen, welche der Reifende während feines Aufenthalts 
fpäter einbringt. Selbftverjtändlich kann durch bejonderen Bertrag dieſe ftrenge 
Haftung ausgejchloffen werden, nach Röm. Recht genügte auch eine einjeitige Er— 
flärung des Gewerbetreibenden, wenn fie vor der Aumahme erfolgt (l. 7 pr. D. 
h. t.: si praedixerit) — eine Vorſchrift, welche von der gemeinrechtlichen Praris 
theils wörtlich aufgefaßt, theila aber auch auf allgemeine öffentliche Bekanntmachungen 
und auf die befannten Anjchläge in den Zimmern ausgedehnt wird GGoldſchmidt, 
a.a. D. ©. 331—838; Seuffert, Ard., X. 162; Bl. für NRechtsanwendung, 
Bd. XVII. ©. 193). — Die Pflicht des Schiffere, Gaſt- und Stallwirthes beiteht 
in Anwendung der jorgfältigften custodia (l. 5 D. h. t.); fie jtehen ein für jede 
Feihäbigung und Entwendung der Sachen, nicht blos durch fie jelbit, jondern auch 
durch ihre Dienftleute, andere Reifende (l. 188; Li. 2, 3 D. h, t.) ja fogar durch 
dritte Perſonen (1. 5 $ 1 eit.), wenn nicht etwa auch eine ganz jpezielle Beauf- 
ichtigung ohne Erfolg geweien wäre (l. 31 pr. D. 19, 1; 1. 41 D. 19, 2). it 
das Vergehen durch den Wirth, feine Leute oder dauernde Bewohner feines Hauſes 
geichehen , jo findet gegen ihm nach Röm. Recht eine paifiv unvererbliche actio in 
factum auf da& doppelte ftatt (l. un. D. 47, 5), welche jedoch in der Gem. Praris 


270 Rechnungslegung. 


gejtalten fann. Für die offene Handelsgejellichait Hat das HGB. eine bejondere X. 
nicht verordnet; feineswegs darj daraus aber gejolgert werden, daß jeitens des ge⸗ 
ſchäftsführenden Geſellſchafters eine ſolche Verpflichtung nicht beſtehe (Zeitſchr. f. d. gei. 

H.R. XV. 226); die Buchführung und das Recht jedes Geſellſchafters, jederzeit die 
Sanpeföblicher und Papiere einzufehen und auf ihrer Grundlage eine Bilanz zu 
feiner Ueberficht anzufertigen, kann allerdings eine weitere R. häufig erübrigen; wo 
dagegen hiermit Sicherheit und Beitimmtheit noch nicht beiteht, ift namentlich für 
einzelne Poſten eine R. nach Bewandtnik der Verhältniffe zu erfordern (Ani chüh 
und v. Völderndorff, Kommentar zum HGB. II. ©. 216; Zeitſchr. f. d. ge. 
HR. VIII. 575 ff., XV. 226, XXI. 288; Gntich. des ROHG. V. 203, XII. &0, 
XIV. 87, XXIL 177). 

Ueber weitere Bejonderheiten bei verichiedenen Nechnungsverhältniffen jet Hin- 
gewiejen auf die Regiſter s. v. R. bei Windicheid, Pand.; Förſter, Preuß. 
Priv.R.; Thöl, HR; Seuffert, Arch. Für das Vormundjchaftsrecht: Dern: 
burg, — 2. Aufl. ©. 9, 98, 214 ff., 237; Heſſe, Preuß. Vor 
mundjchaftsorbn., 185 ff., 220 ff. 

Ueber die Zeit der R. und den Ort (Entich. des ROHG. XV. 227) derjelben 
laffen fich allgemeine Regeln nicht aufjtellen; der einzelne Fall wird jtets hin- 
reichenden Anhalt bieten, um für den Zwed der R. das Mittel nach Zeit und Ort 
unter Wahrung der Rechte beider Theile genau zu bejtimmen. 

Soll die R. erledigend fein, jo muß fie, wie $ 1394 des Sächſ. BGB. bejagt, jowol 
die Einnahme- als die Nusgabepoften umfaſſen, denn nur dann kann zu einem Reſultat 
gelangt werden; eine hiervon ganz getrennte Frage iſt, ob nicht etwa bereits die 
Ginnahmepojten, oder die Kenntniß eines einzelnen dem Gläubiger von Nußen ſein 
fann (Bähr, a.a. D. ©. 258); dies ift zugugeben (Beiipiel: Entich. des ROHG. 
XII. 366); aber die Offenlegung der Einnahmen bei entitandenen Ausgaben ijt keine 
R. Der Gläubiger hat feineswegs ein rechtliches Intereffe dabei, mehr zu erhalten 
als ihm zufteht, jondern er will gerade das Zuftändige haben, aljo unter Abrechnung 
der Gegenforderungen behufs Abwidelung der ganzen Angelegenheit (Dernburg, 
a.a. D. $ 44 Nr. 4). Soweit der Rechnungsherr die einzelnen Poſten bemängeln 
fann, was im Ginzelnen nach Art derjelben und der Gejchäftsangelegenheit über: 
haupt zu beurtheilen it, hat der Rechnungsleger Beläge beizubringen, bzw. den 
Beweis der Nichtigkeit zu führen, was auch Ginnahmepojten berühren fann , ejorern 
"diejelben zu niedrig angeſetzt jein jollten (vgl. Bähr, ©. 263). Die einzelnen 
Rechnungspojten find für den NRechnungsleger verpflichtende Zugeitändnifife, das für 
den Rechnungsheren berechnete Guthaben ijt ein Schuldanerfenntniß, entiprechend 
dem Saldozug im Kontofurrentverhältniß. Betreffend die Nechnungsiehler und Aus- 
laffungen fönnen die obigen Beitimmungen der 88 1395, 1396 alö allgemeinen 
Rechtes bezeichnet werden (HGB. Art. 294). An die gelegte Rechnung Können 
fich Streitigkeiten über deren Richtigkeit und Volljtändigkeit anknüpfen (Allg. Preuß. 
Gerichtsordn. Th. I. Tit. 45, 46 88 34 ff), für deren Erledigung, ſofern fie eine 
erhebliche Zahl von ftreitigen Anfprüchen oder von ftreitigen Ernennungen betreffen, 
in $$ °313—319 der CPO. für das Deutjche Reich ein vorbereitendes Veriahren 
geordnet ift (vgl. Fitting, Der RCiv.Prz., 4. Aufl. 5 64; Schelling, Lehrb. 
des Deutſchen Civ. Prz., $ 171, ſowie die Kommentare zur CPO.). 

Erfolgt eine beanſpruchte M. nicht, jo hat der Nechnungsherr das Recht, einen 
ihm aus dem Rechnungsverhältniß zujtändigen Anspruch gegen den Rechnungsleger 
flagend zu verfolgen; die Verfolgung ijt nicht von der vorgängigen R. abhängig, 
und fann ein bezüglicher Einwand des Bellagten nicht durchdringen; es bleibt dieſem 
überlaffen, feine Gegenforderungen anzubringen und zwar geeigneten Falles unter 
Vorlegung einer Rechnung, jo daß fich das Nechnungsverfahren anichließt (Entich. 
des ROHG. XII. 367 und die zahlreichen Allegate daſelbſt; Erf. des Reichsgerichte 
vom 4. Nov. 1879 in Gruchot's Beitr. XXIV. ©. 445; Zeitfchr. 5. d. gef. HN. 


Rechtsanwaltſchaft. 271 


XXI. ©. 288). Sofern der Beklagte dieſe Umgeſtaltung zum Rechnungsprozeß 
nicht vornimmt, erſtreitet zwar Kläger den einzelnen Poſten, es bleibt aber die 
Abwickelung des ganzen Geſchäfts unerledigt und kann ſpäter der Beklagte mit ſeinen 
Gegenforderungen noch auftreten. 

Ferner kann der Rechnungsherr ſelbſt die Rechnung aufmachen, ſein Guthaben 
danach berechnen und Beklagten dadurch zur Geltendmachung ſeiner Gegenforderungen 
zwingen. Iſt der Rechnungsherr in dieſer Weiſe zur Abwickelung zu gelangen nicht im 
Stande, ſo bleibt nur übrig, ſich des Mittels der Klage auf R. zu bedienen, wobei 
dann präjudiziell zu erörtern iſt, ob unter den Parteien ein ſolches Verhältniß beſteht, 
bei dem der Beklagte angehalten werden kann im Wege der R. die Erfüllung jeiner 
Verpflichtung nachzuweijen. Sit ein vollſtreckbares Urtheil auf R. erjtritten, jo wird 
der Beklagte nach $ 774 der CPO. durch Geldjtrafe oder Haft zur Erfüllung an- 
gehalten werden können, joweit die R. „ausjchließlich von jeinem Willen abhängt“, 
worüber er nach $ 776 a. a. D. zu hören ift. Wieweit Die Möglichkeit der Aus— 
funftsertheilung reiht (Bähr, a. a. D. ©. 270), ift Frage im Einzelnen; jelbjt 
wenn der Rechnungspflichtige fich jelbit außer Stande geſetzt hat zur R., muß der 
Zwang wegfallen. Vorher ift es jedoch zuläffig, den Rechnungapflichtigen durch 
Abzwingung des DOffenbarungseides (Einf.Gej. zur CPO. $ 16 Nr. 3) anzuhalten, 
daß er, joweit im Stande, offenlege (Dernburg, a. a.D. ©. 108). Schließlich 
muß die umterbliebene R. in einem Schadenserjag jeine Erledigung finden, twobei 
auch ein Schäßungseid nicht ausgeſchloſſen ijt. 

Griolgt die R., jo iſt im Einzelnen zu unterfuchen, ob diejelbe ala eine voll- 
ftändige erachtet werden kann, wobei der Offenbarungseid für die Vervollftändigung 
der Aktivfeite verwendbar ijt, jo daß der Rechnungfteller im eigenen Intereſſe zur 
Harftellung der Ausgabepoften angehalten wird (Bähr, a. a. D. ©. 273). Das 
bereit3 oben erwähnte Verfahren in Rechnungsjachen nach $$ 313 ff. der CPO. 
findet feinen Abjchluß dahin, daß der Rechnungsiteller zu bejtimmten erledigenden 
Zeiftungen, der Regel nach Zahlung, verurtheilt wird, wogegen auf eine Widerflage 
auch der Rechnungsherr feinerjeits zu Erfüllung feiner Berpflichtungen verurtheilt 
werden fanıt. 

Eine im Voraus beftimmte Befreiung von der Rechnungslegung (vertragamäßig 
oder teitamentarifch) iſt, ſofern nicht ausdrückliche Gejege entgegenstehen, zuläffig, 
ohne daß jedoch Betrug oder Unterichlagung damit gededt werden fünnte. Die er— 
wieſene Treulofigfeit befeitigt den Erlaß der R., welche auf die Vorausjegung der 
Gewiſſenhaftigkeit beruhte. 

Die Preuß. Vormundichaftsordn. vom 5. Juli 1875 $ 68 läßt eine Befreiung 
des Bormundes von Legung der Schlußrechnung nicht zu; e8 liegt Hierin der Aus— 
drud, daß die Verwaltung des Vormundes und feine Stellung nicht eine lediglich 
privatrechtliche ift (vgl. Dernburg, Vormundichaftsrecht, ©. 239; Hefje, Vor— 
munbdjchaftsordnung, ©. 191, 225). 

Aus dem Zeitablauf endlich bei Fortſetzung des Verhältniffes kann auf Erlaß 
der R. eine thatjächliche Folgerung entipringen (Allg. Preuß. ER. Th. I. Tit. 14 
$ 158; vgl. Pk.Beichluß des Preuß. O.Irib. Bd. XL. ©. 1); ebenjowie aus dem 
Stilkfhweigen gegen die ganze R., ähnlich wie beim Kontofurrent eine Rechnungs- 
abnahme fich ergeben fann. 

Zit.: Bähr, Ueber die Verpflichtung zur R. a ahrb. für Dogmatik de3 heutigen Röm. 


unb Deutſchen er von Jhering u. I. 250-297. — Dernburg, Preuß. 
Privatrecht, 3b. IL, 2. Aufl., S 44. Key ner. 


Hehtsanwaltihaft. I. Hiftorifches. Für den Römifchen Prozeß der 
älteren und EHlaffiichen Zeit find die Profuratur, die Berugnik für und jtatt einer 
Partei vor Gericht aufzutreten, und die Stellung als advocatus, patronus oder 
orator, welcher der Partei bei ihrem Gricheinen vor Gericht blos mit feinem 


272 Redhtsanwaltichait. 


juriftifchen Rath und feinem Anſehen (advocatus) diente oder gleichzeitig neben der- 
jelben Anträge jtellte und für. diefelbe plaidirte, zu umterfcheiden. Während die 
Zuläffigfeit der Stellvertretung fich nur langjam und allmählich erweiterte, war die 
Unterftügung der Partei durch Rechtsbeiſtandſchaft Jedem freigegeben und galt ala 
eine des höchit geitellten Mannes nicht unmwürdige Beichäftigung. Als fich aber 
R. und Prozeß immer fünftlicher geftalteten und dem Volksbewußtſein mehr ent: 
fremdeten, war dadurch auch die Nothivendigfeit einer jpeziellen Fachbildung für die 
gedachten Funktionen bedingt und jo ward jeit dem 3. Jahrh. die Rechtsbeiitand: 
ichaft ein von technijch gebildeten Juriſten ausgeübtes Gewerbe, welches zugleich als 
eine Art des öffentlichen Dienjtes angejehen und daher unter die SKontrole der 
Magiitrate gejtellt wurde. Die Zahl der Advokaten war für jedes Gericht Feitgejeht 
und die Eintragung in das Verzeichniß deifelben (matricula) erfolgte nur auf Nach— 
weijung der Qualifitation (mamentlich einer juriftiichen Borbildung). Die Kollegien 
der Advokaten der einzelnen Gerichte beſaßen Korporationsrechte, und den Mitgliedern 
derjelben jtanden eine Reihe von Privilegien (in&befondere Befreiung von Läftigen 
Stadt: und Provinzialämtern) zu. Andererjeits blieben fie aber der Kontrole der 
Magiſtrate und der Disziplinargerichtsbarkeit derjelben unterworfen, für ihre Leiftungen 
war eine bejtimmte Tare fejtgejegt und ihnen die Pflicht auferlegt, den Ort ihres 
Gerichtes nicht ohne Urlaub zu verlaffen. Faktiſch befamen fie auch im diejer Zeit 
die Profuratur in ihre Hand, denn, wenngleich diefe niemals im Römifchen Reid; 
gejeglich beichränft oder konzeffionirt worden ift, erichien es doch bei der damaligen 
Gejtaltung des Verfahrens und der Gntwidelung des materiellen Rechts für die 
Partei mißlich, ſich durch einen nicht juriftiich gejchulten Profurator vertreten zu 
laſſen. 

Der Formalismus des älteren Deutſchen Prozeſſes und die Tenden) 
deſſelben, den Rechtsſtreit durch Herausgreifen einzelner, zum Beweis zu ſtellender 
thatſächlicher oder rechtlicher Behauptungen zu erledigen, erforderte ebenfalls eine 
genaue Kenntniß des gerichtlichen Verfahrens und praftiiche Gewandtheit. Daher 
finden fich auch hier neben den Parteien Fürjprecher, deren Zuziehung überdies 
noch den PVortheil Hatte, daß die Partei die Verſehen derjelben verbejlern konnte, 
während ihr dies hHinfichtlich der von ihr ſelbſt gemachten Fehler nicht zuftand. 
Erforderlich) war die Zuziehung eines Füriprechers nicht, und ebenjowenig haben fie 
einen bejonderen Stand gebildet. 

Seit der Rezeption der fremden R. in Deutichland und der Beſetzung der Ge 
richte mit römifchrechtlich gebildeten Juriften war von jelbjt wieder die Nothwendigkeit 
eines bejonderen rechtögelehrten Advofatenjtandes und die Verbindung der eigent- 
lichen Stellvertretung mit der Advofatur gegeben. Bei einem dem Volksbewußtſein 
und Volksverſtändniß völlig fremden Rechte, einem jchriftlichen und fünjtlichen, vielfach 
die Verlegung der materiellen Parteirechte durch feinen Formalismus herbeiführenden 
Veriahren, der fich immer mehr verflachenden juriftiichen Methode, welche einer den 
Verfehröverhältniffen entiprechenden Berarbeitung des fremden und einheimtichen 
Rechtsftoffes nicht gewachien war, und in unjelbjtändiger Weiſe ſich an die frühere 
Literatur anlehnend, Kontroverfen auf Kontroverien häufte, mußte dem Advofaten- 
itand das erhebende Bewußtfein, der Verwirklichung des Rechtes zu dienen, immer 
mehr abhanden fommen, und er jelbjt da, wo es fich um die Vertretung einer ge 
rechten Sache handelte, auf die Anwendung juriftifcher Kunftgriffe gedrängt werben. 
War doch das geheime und jormaliftiche Verfahren geeignet, unchrenhafte Praktiken 
vor dem Publikum zu verdeden, ſowie jedes Streben nach Wahrhaftigkeit und jede 
Scham über unerlaubte Mittel zu unterdrüden. Der Ausdehnung der Advokaten— 
thätigfeit auf das Gebiet des öffentlichen Rechts war. die politifche Entwickelung 
entgegen, auf diefem Wege fonnte dem Advofatenjtand feine frifche und gejunde 
Lebensluft zugeführt werden, und jo ſank derjelbe in Deutichland zu einem fon- 
zefftonirten und monopolifirten, der Disziplinargewalt der Gerichte unterworfenen 


Rechtsanwaltſchaft. 273 


Gewerbe herab, deſſen Mitglieder namentlich auf den Gelderwerb angewieſen waren, 
und weil das Volk in ſeinen Rechtsſachen mit ihnen am meiſten in Berührung 
kam, für die Schäden des geſammten Rechtszuſtandes ungerechtfertigter Weiſe ver— 
antwortlich gemacht wurden. Berichte, wie der Leyſer's, von 1732 (Medit. ad 
pandect., spec. 547 n. 4): „Nullum fere nunc scriptum editur in quo si advocatorum 
forte mentio fit, convitiis non onerentur. Deinde dignitas eis nulla relinquitur. 
In conviviis ad infimum subsellium reiiciuntur, in solemnibus infra scribas, 
argentarios, publicanos amandantur. Denique magistratus in aliorum criminibus 
indulgentissimi advocatorum levissima errata severe puniunt ac frequentibus 
mulctis eos fere ad incitas redigunt... Ita fit ut si paucos excipias probos 
doetosque viros... non nisi viles et ad alia negotia inepti homunculi advo- 
cationem ambiunt“*, in Verbindung mit den hervorgehobenen Umständen lafjen es 
erflärlih erjcheinen, daß man die Berfommenheit der Advofatur, ein bloßes 
Symptom des jchlechten Rechtszuftandes, ala Grund des leßteren anſah, und in 
Preußen im Jahre 1780 den mehriach ſchon angeregten, freilich nur auf kurze Dauer 
baltbaren Verſuch machte, die Advofaten ganz abzufchaffen, und fie durch die wunder— 
he Mißgeburt der jtaatlich befoldeten Aififtenzräthe zu erjeßen, welche bei 
der Unterfuchung des Faktums vornehmlich Gehülfen und zugleich „Kontroleurs“ 
des Richters, bei der Erörterung des Nechtöpunftes dagegen Beiltände der Parteien 
ſein jollten. 

Wenn mehrfach behauptet wird, daß der abjolute oder der Polizeiftaat Schuld 
an der Herabdrüdung des Advofatenjtandes in Deutichland geweſen ift, fo iſt das 
nicht unbedingt richtig. Noch in der jpäteren Kaiſerzeit genofjen die Advokaten 
einer höheren Achtung, ebenjo unter Ludwig XIV. in Frankreich. Hier war ebenjo- 
wenig, wie bei den Römern, eine jo große Kluft zwifchen dem Rechtsbewußtſein des 
Volkes und dem für dafjelbe in den Gerichten angewendeten Recht vorhanden; ferner 
war das mündliche Verfahren, welches in Frankreich auch in Givilfachen nie ganz 
verdrängt worden ift, im Gegenjat zum jchriftlichen Prozeß geeignet, die Bedeutung 
des Advofatenjtandes dem Publitum zum Bewußtjein zu bringen. Dazu fam endlich, 
daß der Deutſche Advokat, nicht wie der Franzöftiche, durch die Gewohnheit des Auf- 
fteigens in die Magiftratur dem Richter als Kollegen gleichgeitellt war. Als jtaatlich 
fonzeifionirter Beamter, welcher einen als nothrwendiges Uebel geltenden Beruf aus— 
übte, fonnte er in feiner Vereinzelung dem Beamtenthum gegenüber feine freie und 
mürdige Stellung einnehmen, während umgekehrt in Frankreich, two fich die Funk— 
tionen des Profurators (procureur, avou6s) von der des Advokaten getrennt erhalten 
hatten, erfterer zwar als officier ministeriel galt, der Advokat aber fein Staats— 
beamter, jondern der unabhängige Mann war, welcher ſich mit feinen Kollegen zu— 
jammenjchloß und der Magiftratur gegenüber ala Macht auftreten konnte. 

In Folge der Veränderung des Rechtszuſtandes in Deutſchland, insbejondere 
der Verbefjerung des Eiv.Prz. und der Einführung des mündlichen Verfahrens in 
Strafjachen jeit dem Jahre 1848, ſowie in Folge des Wiedererwachens des politijchen 
Lebens Hat fich die Lage der Advokatur in Deutjchland wieder gehoben und die 
Bartifulargefeggebung hat wenigjtens in manchen Deutichen Staaten den früheren 
Standpunft des Mißtrauens gegen die Advokaten aufgegeben. 

Die Beichränfung der Zahl der Advofaten und jtaatliche Anjtellung für 
einen bejtimmten Gerichtöbezirt wurde in Altpreußen, Kurheſſen, Naſſau, 

Bayern und Anhalt beibehalten. In der Rheinprovinz, in Hannover 
und in Braunschweig war dagegen nach dem Borbilde Frankreich der Beruf 
des Anwaltes (Profurators, avoue) von dem des Advokaten gejchieden. Während 
bie Advokatur freigegeben war, wurden die auf eine beitimmte Zahl für jedes Gericht 
irirternn Anwaltihaften nur an Advofaten (daher der Name Advokat-Anwälte) ver- 
eben. Endlich beftand in Baden, Medlenburg- Schwerin, Medlenburg- 
v. Doltenborff, Enc. II. Rechtslexikon III. 3. Aufl. 18 


274 Rechtsanwaltſchaft. 


Strelitz, Frankfurt a. M, Hamburg und Bremen Freiheit der Advokatur, 
und zwar in der Weiſe, daß jeder, welcher die vorgeſchriebenen Prüfungen abgelegt 
hatte, zu derſelben zugelaſſen werden mußte. 

Als Qualifikation für die Advokatur wurde meiſtens dieſelbe wie für die Be— 
kleidung einer Richterſtelle verlangt, während in den freien Städten die Ablegung 
einer beſonderen Advokatenprüfung erforderlich war. 

Anwaltszwang beitand in Deutichland in den Ländern des Franzöſiſchen 
Rechtes, ferner in Hannover bei den höheren als den Amtsgerichten. 

Immerhin war die Lage des Anwaltsjtandes vielfach noch eine gedrüdte, 
namentlich in Folge der in manchen Länderg den Gerichten über die Advokaten in 
weiten Umfange eingeräumten Disziplinargewalt, in Folge unbefriedigender Gebühren- 
tarordnnungen, und der richterlichen Kontgole in Betreff der Gebührenforderungen. Diejer 
Umſtand hat mehrfach die Bildung von) freiwilligen Anwaltsvereinen zur Erringung 
einer befleren Stellung für den Anwaltsftand und zur Vertretung der gemeinjamen 
Intereſſen deijelben veranlaßt. So haben fich 1860 in Naffau, 1861 in Bayern 
und in Preußen jolche gebildet, und endlich 1871 ein allgemeiner Deutjcher Anwalts- 
verein, in welchen der Preußifche aufgegangen: ift. 

II. Geltendes Recht. In Folge der neuen Juſtizorganiſation find aud 
die Verhältniffe der Rechtsanwälte, jo heißen jet die Advokaten, wie jchon früher 
in Preußen, für ganz Deutjchland durch die Deutjche Rechtsanwaltsordn. vom 1. Juli 
1878 einheitlich geregelt worden. Die neue Organifation ruht auf den Grund» 
jägen der Freiheit der R., der Lofalijirung, des Anwaltszwanges umd 
der Domizilirungsd=- und Refidenzpilicht der Anwälte. 

Der Rechtsanwalt ift fein Staatsbeamter, er übt aber einen öffentlichen Beruf 
aus, kraft deſſen er gewiſſe öffentliche Nechte und Pflichten hat. Er wird nicht an: 
geitellt, wol aber zur R. zugelaſſen. Fähig dazu ijt nur derjenige, welcher dic 
Dualififation zum NRichteramte in einem Bundesjtaate erlangt hat. Ein Recht auf 
Zulaffung eriftirt aber nur für den Staat, in welchem die Richterprüfung beftanden 
worden iſt. Die Zulaffung erfolgt auf Antrag durch die Landesjuftizverrwaltung 
nach vorgängigem Gutachten der betreffenden Anwaltskammer, beim Reichsgericht 
durch das Präfidium defjelben. Sie muß aus bejtimmten Gründen (3. B. wegen 
Verluſtes der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Memter) verjagt werden, und 
fann es auch aus anderen, gejeßlich feitgefegten Gründen. Die Zulafiung erfolat 
nach Wahl des Antragjtellers bei einem bejtimmten Gericht (auch einer vom Land— 
gericht detachirten Hammer für Handelsjachen), ausnahmsweiſe auch bei mehreren 
Stollegialgerichten defjelben Ortes; ferner fann die Zulaffung eines bei einem Amtes: 
gerichte zugelafjenen Anwalts auch gleichzeitig bei dem Landgerichte des Bezirks er: 
folgen. Nach der Zulafjung Hat der Rechtsanwalt in öffentlicher Gerichtsfigung 
einen Eid auf gewiflenhafte Erfüllung feiner Pflichten zu leiten. Ueber die zu— 
gelafjenen Rechtsanwälte wird bei dem betreffenden Gericht eine Lifte geführt. Mit 
der Eintragung in die lehtere beginnt die Befugniß zur Ausübung der R. Die 
Zulaffung gewährt dem Rechtsanwalt die Berugniß, vor jedem Gericht des Deutichen 
Reichs in Straf, Givilprozeß- und Konkursſachen ald Beijtand aufzutreten, ferner, 
joweit fein Anwaltszwang bejteht, Vertretungen zu übernehmen und Bertheidigungen 
zu führen. Soweit Anwaltszwang (f. d. Art. Anwaltsprozeß) eingeführt it, 
fann nur ein bei dem Prozeßgericht zugelaffener Anwalt als Prozeßbevollmächtigter 
für die Partei auftreten, jedoch iſt e& jtatthaft, daß in der mündlichen Berhandluna, 
einjchließlich einer zur Beweisaufnahme bejtimmten, ein anderer Anwalt die Aus- 
führung der Parteirechte (das Plaidoyer) und auf Grund einer Subititution des 
zum Prozeßbevollmächtigten bejtellten Rechtsanwaltes auch die volle Vertretung 
übernimmt. 2 

Die dienftlichen Pflichten des Rechtsanwaltes find folgende: 1) Er Hat jein: 
Berufsthätigkeit gewifienhaft auszuüben und in und außerhalb jeines Berufes ein 


Rechtsanwaltſchaft. 275 


deſſelben würdiges Verhalten zu beobachten; 2) falls er ſich über eine Woche 
von ſeinem Wohnſitz entfernt, für ſeine Stellvertretung zu ſorgen und dem Vor— 
ſizenden des Gerichtes, bei welchem er zugelaſſen worden iſt, ſowie dem Amtsgerichte 
jenes Wohnfitzes unter Benennung des Stellvertreters Anzeige zu machen. 3) Er 
it ferner verpflichtet, den ihm überwiejenen, im VBorbereitungsdienjte befindlichen 
Rechtsfundigen Gelegenheit und Anleitung zu praktischen Arbeiten zu geben. 4) Eine 
allgemeine Pflicht, Jedermann jeine Dienfte zu gewähren und jeden Auftrag zu 
übernehmen, .bejteht nicht, nur die Verpflichtung, im Fall der Ablehnung eines 
Auftrages, dieſe ohne Verzug bei Vermeidung des Erſatzes des durch die Zögerung 
entitandenen Schadens zu erflären. ol aber muß der Anwalt fi) vom Gericht 
einer Partei zuordnen laffen in den Fällen, in denen die Deutiche CPO. ($ 101 
Kr. 3, 88 609, 620, 626) dies verfügt (j. d. Art. Armenrecht und Ent- 
mändigungsverfahren), ferner dann, wenn die Partei für Sachen, für welche 
Anwaltszwang bejteht, feinen zur Vertretung geneigten Anwalt findet und die 
Progehführung nicht muthwillig oder ausſichtslos erjcheint, oder auch dann, wenn 
es das Gericht zu Gunſten einer mit dem Armenrechte verjehenen Partei in jolchen 
Fällen, wo eine Vertretung durch Anwälte nicht geboten ift, angemefjen erachtet. 
Eine Pflicht zur Verfagung jeiner Berufsthätigkeit bejteht für den Anwalt, jalls fie 
für eine pflichtiwidrige Handlung in Anjpruch genommen wird, jalla er bereits der 
anderen Partei in derjelben Rechtsjache bedient gewejen iſt oder feine Thätigkeit in 
einer ftreitigen Angelegenheit, an deren Entjcheidung er früher als Richter theil- 
genommen bat, verlangt wird. 
Das Rechtsverhältniß zwiſchen dem Anwalt und feinem Klienten ift reichs⸗ 
geſetzlich nur in einzelnen Punkten geordnet. Der Rechtsanwalt iſt verpflichtet, für 
den Klienten geordnete Handakten zu führen, auch dieſelben noch 5 Jahre nach Be— 
endigung des Auftrages aufzubewahren, ſofern er nicht den Klienten zur Empfang: 
nahme derjelben aufgefordert hat, in welchem Falle die Verpflichtung jchon 6 Monate 
nach der Aufforderung erlischt. Bis zur Berichtigung feiner Gebühren und Auslagen 
hat er aber an den Handakten ein Netentionsrecht. Ferner ift der Anwalt befugt, 
in allen Sachen, wo er nicht in Gemäßheit der Deutichen CPO. vom Gerichte 
beigeordnet ift, einen angemeſſenen Vorſchuß vor Uebernahme der Vertretung zu ver- 
langen. Sodann hat er für feine Thätigkeit Gebühren und Erſatz feiner Auslagen, 
insbejondere auch Schreibegebühren und Reiſekoſten (DTagegelder, Nachtquartiere, 
Fuhrtoſten) zu beanjpruchen. Für die Höhe der erjteren ift die Gebührenordnung 
maßgebend, welche die einzelnen Säße auf der Bafis jejter Paufchquanta und be— 
ſtimmter progrefjiver Werthklaſſen feſtſetzt. Wenn aber der Rechtsanwalt einer Partei 
nicht richterlich beigeordnet oder zum Wertheidiger beſtellt worden ijt, kann durch 
Vertrag eine höhere ala die tarmäßige Vergütung vereinbart werden. Der Auftrag: 
geber ift indefjen nur gebunden, wenn er feine Zujage jchriftlich gemacht hat, auch 
kann er, wenn der Rechtsanwalt bei der Ausbedingung eine angemefjene Grenze über- 
ichritten hat, eine Herabminderung bis auf den gejeglichen Betrag, auf dem Wege 
des Prozeffes, in welchem jtets ein Gutachten des Vorftandes der Anwaltstammer 
einzuholen ift, erzielen. Soweit das frühere Recht durch die erwähnten jpeziellen Bes 
ſtimmungen nicht modifizirt wird, ijt dafjelbe für das Verhältniß zwijchen Anwalt 
und Klienten noch maßgebend geblieben. Im Gem. Recht hat man dafjelbe bald als 
Mandat, bald ala Dienftmiethe gefaßt, ja jogar (Wetzell) jede Vertragsbeziehung 
jwifchen beiden Theilen geleugnet. Die Motive zur Deutſchen Rechtsanmwaltsordnung 
haben fich zwar der erjteren Auffafjung angefchloffen, und dieje tritt auch in der wieder: 
holten Bezeichnung des Klienten als Auftraggebers in dem Geſetze mehrfach hervor, 
indeffen tft dadurch die rechtliche Natur des Verhältnifjes immer nicht gejeßlich feit- 
geftellt und es hindert nichts dafjelbe, als einen Vertrag auf entgeltliche Leiſtung 
freier Arbeit, in welcher zugleich die Vertretung des einen Kontrahenten inbegriffen 


ift, zu charatterifiren. 
18 * 


276 Rechtsbeſitz — Rechtshängigkeit. 


Anwaltskammern. Die Anwälte eines jeden Oberlandesgerichtsbejirles 
bilden eine Anwaltskammer. An ihrer Spitze ſteht ein Vorſtand von 9—15 Mit: 
gliedern, welche von den betreffenden Anwälten auf vier Jahre gewählt werden und 
von denen die Hälfte aller zwei Jahre ausſcheidet. Die Hammer ftellt ihre eigene 
Geichäftsordnung, jowie diejenige für den Vorftand auf, bewilligt die durch Beiträge 
aufzubringenden Mittel für die Verwaltung ihrer Angelegenheiten und nimmt die 
Rechnung des Vorjtandes ab. Der Vorſtand führt die disziplinarifche Aufficht über 
die zur Hammer gehörigen Anwälte und handhabt die ehrengerichtliche Strafgewalt 
über diefelben, er vermittelt ferner auf Antrag Streitigkeiten unter ihnen und ſolche 
aus dem NAuftragsverhältniffe zwiſchen Anwal und Auftraggeber, diefe jedoch nur 
auf Antrag des lehteren, er eritattet weiter Gutachten, welche von der Landei- 
juftizverwaltung oder bei Streitigkeiten zwiſchen Anwalt und Auftraggeber von 
den Gerichten erfordert werden, endlich verwaltet er das Vermögen der Hammer ımd 
legt derjelben die jährliche Rechnung. 

Die ehrengerichtliche Beitrafung eines NRechtsanwaltes tritt ein, wenn 
er die ihm obliegenden Pflichten verlegt hat. Die Strafen find: 1) Warnung, 
2) Verweis, 3) Gelditrafe bis zu 3000 Markt und 4) Ausjchließung von der R. 
Das Ehrengericht bildet der Vorjtand der Anwaltsfammer in der Bejegung von fün 
Mitgliedern. Das Verfahren ift dem Strafprozeß nachgebildet. Der Staatsanwalt, 
welcher die öffentliche Klage erhebt und überhaupt bei dem Verfahren funktionitt, 
it der Staatsanwalt beim Oberlandesgeriht. Die Berufung von den Urtheilen 
der Ehrengerichte geht an den Ehrengerichtshof. Diefer ift bei dem Neichsgericht in 
Leipzig gebildet und befteht aus dem Präfidenten, jowie drei Mitgliedern dieſes 
Gerichtes, endlich aus drei Mitgliedern der Anwaltskammer deſſelben. 

Für die Anwälte beim Reichsgericht gilt die Beionderheit, daß fie nicht gleich: 
zeitig bei einem anderen Gericht zugelaffen werden, auch bei einem folchen nicht 
auftreten dürfen, auch können fie die dem Prozekbevollmächtigten zuftehende Ber 
tretung nur auf einen anderen, beim Reichögericht zugelaflenen Anwalt übertragen, 
während ala Bertheidiger oder zur Ausführung der Parteirechte jeder bei einem 
Deutichen Gericht zugelafiene Anwalt auch vor dem Neichögericht auftreten kann. 
Für die Anwälte beim Reichsgerichte ift aus diefen eine eigene Anwaltsfammer 
gebildet, deren Vorſtand für fie ala Ehrengericht fungirt, jedoch ijt die Mitgliedichaft 
in dem leßteren mit der im Ehrengerichtshof unvereinbar. 


Gigb.: Deutſche Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1878. — Deutiche Gebühren: 
ordnung für Rechtsanwälte vom 7. Juli 1879. — Defterr. Advolatenordnung vom 6. Julı 
1868 


git.: 9. ER Die freie Advokatur und ihre Legislative Organifation, Wien 
1868. — Gneift, Freie Advolatur, Berlin 1867. — U. Brir, Organifation ber Advokatur 
in Preußen, Oeſterreich zc., Wien 1868. — F. Meyer, Die (Deutiche) Rechtsanwalt3ordnung, 
erläutert, Berlin 1879; Derfelbe, Die (Deutiche) Gebührenordnung für Rechtsanmälte, 
erläutert, Berlin 1879. — C. Pfafferoth, Handbbud für das er a des 
Deutſchen Reiche, Berlin 1879. — Endemann, Der Deutſche Civilprozeß, Bd. III. ©, 558 5. 
591 ff. — Wach, Vorträge über die RCPO., Bonn 1879, ©. 64 ff. — Beitichr. des Anmwaltä- 
vereing für Bayern, Erlangen jeit 1861. — Preuß. Anwaltäzeitung, herausgeg. von F. und 
P. Hinihius, Berlin 1862—1866. — Inriſt. Wochenjchrift, herausgeg. von ©. Hänle 
und J. Johannjen, Organ bes Deutichen Anwaltsvereing, Berlin feit 1872. 
P. Hinſchius. 


Rechtsbeſitz, ſ. Quaſibeſitz. 


Rechtshängigkeit (Litispendenz) iſt eine aus verſchiedenen Wendungen der 
Quellen (1. 2. C. de litig. 8, 36; rubr. C. 1, 21; rubr. X. 2, 16) abgeleitete 
Bezeichnung, welche von der früheren gemeinrechtlichen Theorie auf den Zuftand 
einer in gerichtlicher Verhandlung begriffenen Streitjache ala die Grundlage gemifier 
Rechtöwirkungen angewendet wurde. Ueber den Zeitpunkt der R. beitand Streit, 
weil jene Wirkungen nicht alle gleichzeitig eintraten; vgl. Renaud, Givilprozek, 


Rechtshuüngigkeit. 277 


$ 72. Jetzt Hat die CPO. $ 235 feſtgeſetzt, daR die R. durch die Erhebung der 
Klage begründet wird, d. i. regelmäßig durch die Zujtellung des Schriftjaßes, 
welher die Klage enthält ($ 230, Abi. 1). Die Wirkungen der R. find theila 
prozeßrechtlicher, theils materieller Natur. Der erjteren Art find folgende: 1) jede 
Partei kann während der Dauer des Prozeffes einer anderweitigen Geltendmachung 
derjelben Streitfache durch den Gegner die progeßhindernde Ginrede der R. (exceptio 
litis pendentis) entgegenjegen (EPD. $ 235, Nr. 1; $ 247, Nr. 3). Diefe Ein- 
rede war dem Elaffiichen Röm. Recht fremd; fie wurde erjeßt dadurch, daß die ein- 
mal big zur litis contestatio geführte actio jogar fonjumirt und damit ihre Wieder- 
holung für alle Zeit (theild ipso iure, theils per exceptionem rei in iudicium de- 
ductae) ausgejchloffen war. Nach dem Wegfall des Konjumtionaprinzips entwidelte 
fich jedoch jene Einrede, weil die VBertheidigungspflicht nicht gleichzeitig mehrmals 
demjelben Anspruch gegenüber beſteht (Wach, in Krit. Vierteljahrsfchrift XIV, 
€. 589). Ihr objektiver Umfang ift derjelbe, wie bei der Einrede der rechtäfräftig 
entichiedenen Sache. Auf die Form, in welcher die neue Geltendmachung des recht3- 
bängigen Anspruchs erfolgt (ob durch Klage, Kompenfationseinrede, Widerflage oder 
PFräjudizialinzidentklage), fommt nichts an. Bon Amtswegen ift die Berüdfichtigung 
der R. nicht geboten. — 2) Die jachliche, wie die Örtliche Zuftändigfeit des Gerichte 
beitimmt fich nach dem Zeitpunkt, in welchem die R. eintrat. Cine fpätere Ver: 
ähderung der Umſtände, welche fie begründet haben, ift unerheblich (jog. perpetuatio 
fori; PO. $ 235, Nr. 2). — 3) Der Kläger hat nach Eintritt der R. nicht 
mehr das Recht, ohne Einwilligung des Beklagten eine Klageänderung (ſ. diefen 
Art.) vorzunehmen (CPO. 3 235, Nr. 3). Daneben ijt oft ala progekrechtliche 
Birkung der R. die Befugniß des Beklagten zur Erhebung einer Widerklage Hin- 
geitellt worden. Allein dieje jegt zwar die R. voraus, aber außerdem auch den 
fpäteren Akt der Streiteinlaffung. Vgl. d. Art. Widerklage. Ueber die mit 
der R. verbundene Litigiojität ſ. diefen Art. Als materielle Wirkungen der R. 
fommen noch in Betracht die Unterbrechung der Verjährung und, was freilich jtreitig 
it, der Erſitzung (f. diefe beiden Art.), die Steigerung der Haftung des Beflagten 
bei der Vindikation (j. dieſen Art.), der Eintritt der VBererblichkeit bei jonit 
undererblichen Klagen u. a. m. Ueber diejelben im einzelnen vgl. Windſcheid, 
Lehrb. I. SS 124—126 und bezüglich des Preuß. Rechts Dernburg, Lehrb., I. 
$ 130-132. Die GPO. $ 239 enthält in Bezug auf Art und Umfang diejer 
Wirkungen nur eine Verweifung auf das bürgerliche Recht. Dagegen fett fie ala 
Zeitpunft des Eintritts für alle gleichmäßig den Moment der Erhebung der Klage 
jeſt, jo daß damit die nach bisherigem Recht jchon mit der Einleitung der Klage 
verbundenen hinausgeichoben, die bisher erft mit der Litisfonteftation eintretenden 
vorgerüdt find. Jedoch darf diefe Neuerung nicht auf ſolche Wirkungen erjtredt 
werden, welche nicht an die R. im Sinne des Prozeßbeginns, jondern an andere, 
zuweilen unter den Begriff der R. gezogene Momente geknüpft find. Co 3. 2. 
bleibt die Haftung desjenigen, der, als Befiter beklagt, fich für einen folchen aus— 
giebt, ohne es zu fein, immer durch den Inhalt feiner Streiteinlaffung bedingt und 
darum an den Zeitpunkt derjelben gebunden. Ob der Augenblid des Eintrittö der 
R. auch für die im Urtheil zu entjcheidende Trage nach dem Vorhandenfein des 
flägerifchen Rechts maßgebend jei, ift beftritten. Für die Bejahung 8. Seuffert, 
Komm. zur CPO., $ 239, Anm. 1; damwider Gaupp, Komm. zu $ 239, Anm. II. 
a. E. Das Richtige ift, daß infoweit als eine Ergänzung, Erweiterung oder Um— 
geftaltung der Klage zuläffig ift (EPD. F 240), auch eine nach der R. eingetvetene 
Veränderung der Umstände bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung, auf welche: 
das Urtheil ergeht, vom Kläger geltend gemacht werden kann. — Die Dauer der 
R, eritredt fich bis zur rechtöfräftigen Enticheidung des Prozefjes oder der ander: 
weitigen Erledigung defjelben durch Zurüdnahme: der Klage, Verzicht auf den An- 
ipruch u. 5. w. Bei Rechtskraft des Endurtheils wird die Einrede der R. abgelöjt 


278 Rechtshülfe. 


durch die Einrede der rechtskräftig entſchiedenen Sache. Lautet das Urtheil auf Ab— 
weiſung nicht des Anſpruchs, ſondern nur der Klage wegen Mangels einer Prozeß— 
vorausfegung, jo hebt es alle an die R. geknüpften Wirkungen wieder auf. 

Ed. 


Mechtshülfe (subsidium juris) ift die auf Erfuchen eine® Gerichts in einem 
fremden Sprengel ftattfindende Vornahme einer richterlichen Handlung feitens des 
örtlich zuftändigen Gerichte. Sie kann nicht mur erforderlich werden, wenn bie 
Gerichtöbarkeit des erfuchenden Gerichts für dasjenige, in deffen Sprengel die Hand: 
(ung bewirkt werden muß, eine fremde ift, vielmehr find auch die Gerichte eine 
und defjelben Staates, trogdem fie ſämmtlich die gleiche, dieſen zuftehende Gerichtk- 
barkeit ausüben, genöthigt, gegenfeitig die Leiftung der R. in Anfpruch zu nehmen, 
weil jedes derjelben eine beitimmte, die jedes anderen ausſchließende Zuftändigfeit 
befigt. Hinfichtlich des heute in Deutichland geltenden Rechts ift zunächſt zu unter: 
jcheiden die Gewährung der R. ſeitens Deuticher Gerichte gegen andere Deutſche und 
die gegen Nichtdeutiche, ferner aber auch, was das Verhältniß der Deutichen Gerichte 
zu einander betrifft, die Leiftung der R. in den zur ordentlichen ftreitigen Gerichte 
barkeit gehörigen, d. 5. in den vor den ordentlichen, reichsgeſetzlich organifirten Ge 
richten zu verhandelnden Givilprozeh-, Straf: und KHonkursjachen, und in and 
Angelegenheiten, wie 3. B. in Prozeſſen, für welche die zugelaffenen Sondergeridte 
zuftändig find, und in Sachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit. 

I. Die Gewährung der R. jeitens eines Deutjchen Gerichtes gegenüber dem 
andern ift a) durch das Deutsche Gerichtöveriaffungsgejeß nur geregelt in Sadıen 
der ordentlichen jtreitigen Gerichtsbarkeit. In dieſer haben fie fich gegenfeitig auf 
Griuchen R. zu leiften, gleichviel ob fie demjelben Bundesjtaate angehören oder 
nicht. Das Erjuchen ift an das Amtögericht desjenigen Bezirks zu richten, in welchem 
die Amtshandlung vorgenommen werden foll. Es darf nur abgelehnt werden, wenn 
es nicht von einem im Inſtanzenzuge vorgefegten Gerichte ausgegangen ift und 
überdies entweder dem erjuchten Gericht die Örtliche Zuftändigkeit mangelt oder die 
vorzunehmende Handlung nad) dem Rechte deffelben verboten it. Wird das Er 
fuchen von dem Amtsgericht unftatthaiter Weile abgelehnt oder beichloffen, demſelben 
in folchen Fällen, wo es nicht zuläffig ift, ftattzugeben, jo enticheidet das vorgeſetzte 
Oberlandesgericht. Die Enticheidung defielben kann nur mittels Beſchwerde beim 
Reichögericht angefochten werden, wenn diejelbe die R. für unzuläffig erflärt und 
das erfuchende und erfuchte Gericht verichiedenen Oberlandesgerichtsbezirken angehören. 
In beiden Inſtanzen ergehen die Entjcheidungen ohne mündliche Verhandlung au! 
Antrag der Betheiligten oder des erjuchenden Gerichtes. Freiheitsſtrafen (nicht aber 
die Haft, injoweit fie Zwangsmittel im Erefutionsverfahren ijt) find, wenn fie die 
Dauer von ſechs Wochen nicht überiteigen, in demjenigen Bundesjtaate, in welchem 
ſich der BVerurtheilte zur Zeit der Strafvollitrefung befindet, zu vollſtrecken, bei 
höheren Strafen kann die lehtere, troß des darauf gehenden Erjuchens, abgelehnt werden, 
nur ift der Verurtheilte auf Erfuchen an denjenigen Bundesftaat, in welchem die 
Strafe erfannt worden ift, auszuliefern. Mit Rückficht darauf, daß nach der Deutichen 
StraPD. die Strafvollitredung der Staatsanwaltichaft zufteht, ift das Erfuchen um 
Vollitretung einer rreiheitsftrafe in dem Bezirk eines anderen Gerichtes oder um 
Ablieferung eines in einem folchen befindlichen Berurtheilten behufs der Strafver: 
büßung an die Staatsanwaltichaft bei dem betreffenden Landgericht zu erlafien. 
Nur im Falle der R. unter den Behörden verjchiedener Bundesftaaten find die 
baaren Auslagen, welche durch eine Ablieferung oder Strafvollftrefung erwachien, der 
erfuchten Behörde von der erfuchenden zu erftatten. Im Uebrigen greift feine Koiten: 
eritattung unter ihnen Pla, wol aber find beim Vorhandenſein einer zahlungs— 
pflichtigen Partei die Koften von derjelben durch die erjuchte Behörde einzuziehen 
und die eingezogenen Beträge der erjuchenden zu übermitteln. — Zu bemerfen vit 


Rechtshülfe. 279 


übrigens, daß ſich der Umſang derjenigen Handlungen, bei welcher die Leiſtung der 
R. nothwendig iſt, durch die Einführung des Prozeßbetriebes der Parteien bei Zus 
ftellungen, Ladungen und Zwangsvollitredungen, jowie des Inftitutes der Gerichts: 
volljieher gegen früher wejentlich verengert hat. Bei der einheitlichen Regelung des 
Veriahrens in den betreffenden Beziehungen und dem die Reichsjuftizgefeßgebung 
beherrichenden Grundſatz, daß die Gerichtägewalt jedes Deutjchen Gerichtes ſich auf 
alle im Deutichen Reich befindlichen Perfonen ohne Rüdficht auf den Bundesitaat, 
dem fie angehören oder in welchem fie fich befinden, erjtredt, bedarf es nur des 
Angehens des betreffenden Gerichtövollziehers bzw. Gerichtsfchreibers, und diejer hat 
die erforderliche Handlung nach Maßgabe der Prozekordnungen vorzunehmen, ohne 
Rüdficht darauf, ob das Prozeßgericht einem anderen Bundesjtaat angehört. b) Für 
die nicht unter a erwähnten Angelegenheiten regelt fich die Gewährung der R. 
zwischen Deutjchen ordentlichen Gerichten, ferner zwiſchen Deutjchen Sondergerichten 
ſowie zwiſchen den Deutichen Staatsanwaltjichaften (mit den unter a erwähnten Aus 
nahmen) und endlich zwischen Deutjchen Staatsanwaltjchaften und Deutfchen Gerichten 
nach dem Geje des Norddeutichen Bundes vom 21. Juni 1869, betr. die Gewäh- 
rung der R., welches auch in Baden und Südheſſen durch den Art. 80 der RBerf. 
vom 15. Nov. 1870, in Württemberg nach Art. 2, Nr. 6 des Vertrages vom 
25. Nov. 1870, in Bayern dur $ 6 des Gef. vom 22. April 1871, und in 
Eljah-Lothringen durch das Gef. vom 11. Dez. 1871 eingeführt worden iſt. Das— 
jelbe bezieht fich allerdings nur auf die R. in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und 
Straffachen, dagegen nicht auf Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit und 
der Juftizverwaltung. Es hat den Gedanken, daß die Deutichen Gerichte fich gegen— 
feitig R. zu gewähren verpflichtet find, wie wenn fie Gerichte ein und defjelben 
Staates wären, joweit dies feiner Zeit bei der Verfchiedenheit der Juftizorganifation, 
des Prozeßverfahrens und des Strafrechtes möglich war, jchon damals praktiſch ver- 
wirflicht. Neben demjelben find endlich die Vorjchriften der zwifchen den einzelnen 
Bundesjtaaten in Betreff der R. geichlofjenen Verträge infoweit in Geltung geblieben 
und haben diejelbe auch noch heute, abgejehen von dem unter a bezeichneten Gebiete, 
infomweit behalten, als dieje Beitimmungen mit dem Bundesgefeße nicht im Wider: 
pruch jtehen. 

II. In Betreff der Gewährung der R. an ausländijche Juftigbehörden enthält 
nur die Deutſche CPO. Vorfchriften über die Zwangsvollitrefung aus Urtheilen 
ausländifcher Gerichte. Eine jolche kann nicht anders ftattfinden, als wenn ihre 
Zuläffigkeit durch ein Volljtrefungsurtheil eines Deutjchen Gerichtes ausgefprochen 
worden iſt. Zur Erwirkung deſſelben hat der Grefutionsjucher Klage gegen den 
Verurtheilten beim Gericht des allgemeinen Gerichtsjtandes des leßteren, eventuell dem 
des belegenen Vermögens zu erheben. Eine Prüfung der Geſetzmäßigkeit der Ent- 
iheidung ſteht dem inländifchen Gericht nicht zu. Dagegen ift der Erlaß des Voll- 
ftredungsurtheiles abzulehnen: 1) wenn die Gegenjeitigfeit jeitens des Staates, 
welchem das ausländifche Gericht angehört, nicht verbürgt it, 2) wenn das aus— 
ländifche Urtheil nach dem fremden Recht noch nicht die Rechtskraft bejchritten hat, 
3) wenn auf Grund des Urtheild eine Handlung erjwungen werden joll, welche 
nach dem Recht des erfennenden Deutjchen Richters nicht erzwungen werben darf, 
4) wenn nad dem Rechte des letzteren die Zuftändigkeit keines der Gerichte des 
fremden Staates, welchem das ausländifche Gericht angehört, (nach anderer Aus— 
legung: die des ausländifchen Gerichtes, welches das in Frage ftehende Urtheil er— 
(offen Hat, nicht) begründet war, 5) wenn das ausländijche Urtheil gegen einen 
Deutichen , ohne daß fich diejer auf den Prozeß eingelaffen hat, ergangen und die 
den letzteren einleitende Ladung oder Verfügung ihm weder im Staate des aus— 
ländifchen Prozeßgerichts in Perſon noch durch Gewährung der R. im Deutjchen 
Reich zugeftellt ift. Im Uebrigen entjcheiden die mit den ausländiichen Staaten ab» 
geichloffenen Verträge. Soweit folche nicht vorhanden find, bejteht eine verbreitete 


280 Rechtskraft. 


völkerrechtliche Praxis, daß die Juſtizbehörden unter Vorausſetzung der Gegenfeitig: 
feit den Erſuchen fremder Gerichte genügen, joiern die Handlung formell jtatthaft 
ift, und in der Zuftändigfeit der erfuchenden Behörde liegt. ©. übrigens auch den 
Art. Auslieferungsverträge. 

Gigb.: Deutiches —— I; 157 fi. — Deutihe EPD. 83 660, 661. — Norbbeutices 
Bundesgeieh vom 21. Juni 1869. 

git . Bar, Dad — Privat: und Strafrecht, ©. 456, 463. — Heffter, 
Nölterreit, "is 35 ff. — Endemann, Die Rehtöhülfe im Norbdeutichen Bunde, in der Zeit: 
ſchrift für Geſehgebung und Rechlspfie e in Preußen, Bd. III. (1869) ©. 398, 605 (au im 
Separatabbrud erichienen). — Wad, Borträge über die REPO., Bonn 1879, ©. 228. 


P. Sinjchius. 


Rechtskraft (civilrechtlich). Mit Rückſicht auf das Verfahren ſpricht man 
von jog. jormeller R., wenn fein Mittel mehr vorhanden ift, um ein vom 
Richter geiprochenes Urtheil (Decifivdekret) anzufechten. Wann dies der Fall ift, iſt 
nach den verjchiedenen Prozeßgeſetzen verichieden (vgl. darüber Th. I. ©. 634), die 
CPO. beitimmt in $ 645, daß die R. vor Ablauf der für die Einlegung des zu: 
läffigen Rechtömitteld oder bei Verfäummißurtheilen des zuläffigen Einfpruches be 
jtimmten Friſt nicht eintreten ſolle. Die frühere Eintheilung, wonach nur diejenigen 
Endurtheile rechtäfräftig find, welche mit einem ordentlichen, d. h. mit einem an eine 
Nothfriſt gebundenen, Rechtsmittel nicht mehr angefochten werden fünnen (vgl. EG 
zur CPO. 19), ift nach der CPO. aufgegeben, weil diefe außerordentliche Rechtömittel 
nicht kennt und an Stelle derjelben die Wiederaufnahme des Verfahrens im Wege 
der Klage geſetzt hat (S 541; vgl. jedoch Bolgiano, Civ. Prz., I. ©. 360, und im 
Arch. 7. civ. Praris Bd. LIX. ©. 420, gegen ihn Hinſchius in der Ztichr. für 
d. Civ.Prz. I. ©. 1 ff). Selbitverftändlich kann auch ausdrüdlich oder ſtillſchweigend 
durch Verzicht auf das Rechtsmittel die R. herbeigeführt werden (CPO. SS 475, 
529). Die R. macht das Urtheil zu einer „sententia indubitata, quae nullo remedio 
attentari potest (l. 23 $ 1 D. 12, 6), fie bewirkt eine Fiktion der Wahrheit, un: 
abänderliches formelles Recht und äußert die erheblichiten Wirkungen auf das unter 
den Parteien beitehende Rechtsverhältniß. Dieſe Wirkungen bilden den Begriff der 
jog. materiellen R. — Der Umfang der R., ob ihr nur die eigentliche richter: 
liche Entjcheidung oder auch das dieſer zu Grunde liegende Wlaterial (Tenor oder 
auch Urtheildgründe) unterworfen jei, iſt außerordentlich beftritten. Für die gem. 
Theorie nahm Savigny (Syitem VI. 350—870, 429—443, 451, 452) au, 
daß auch die in den Gründen enthaltenen Glemente des Urtheils (jog. objektive 
GEnticheidungsgründe), d. h. diejenigen Beitandtheile der Gründe, welche Entjcheidungen 
enthalten, in R. erwachjen; rechtskräftig würden demgemäß auch die Entjcheidungen 
werden, welche über die den Anſpruch des Klägers oder Beklagten bedingenden Rechte 
(Präjudizialpunfte) ergehen. Dieje Anficht vermeidet zwar, was jchon das Römiſche 
Recht in 1. 6 D. 44, 2 hat vermeiden wollen: den möglichen Widerjpruch zweier 
Urtheile über daſſelbe Rechtsverhältniß, allein fie geht über den Willen der Parteien 
hinaus, welche in ihren Anträgen der richterlichen Entjcheidung eine Grenze gezogen 
haben und nur innerhalb diejer einen Spruch verlangen. Unger (Dejterr. Privat: 
recht, II. ©. 615 fi.) und Wetzell (Civ. Prz., ©. 518 ff.) jchränfen die Sa: 
vigny'ſche Anficht ein, fie laffen die R. des Urtheils nur jo weit reichen, als der 
Inhalt defjelben reicht und beziehen diejelbe nur auf den konkreten Klageanſpruch. 
Noch Andere (Buchka, Die Lehre vom Einfluß des Prozeffes, I. ©. 311; Föriter, 
Preuß. Privatrecht, I. 263) firiren die Rechte auf das, was der Nichter entjchieden 
hat, weil er es entjcheiden mußte Ginig it man nur darüber, daß es nicht 
darauf ankommt, an welchen Ort der Ausſpruch des Richters ftehe, jowie daß die 
hiftorischen und deduftiviichen Beitandtheile des Urtheild von der R. außgefchlofien 
find. Die gem. Praris jchwankt (vgl. Gruchot, Beitr., Bd. VII. ©. 175 f.), 
neigt fich jedoch zum großen Theil der Savigny' ſchen Anficht ju. (Ueber das 


Rechtskraft. 281 


ROSG. ſ. Seuffert, Arch. XXV. Nr. 278, Erk. v. 31. März 1871.) — Nach 
Preuß. Allg. Gerichtsordn. ift zwar beftimmt (I. 18 8 38), daß „bloße Ent- 
iheidungsgründe niemals die Kraft eines Urtheils Haben jollen“, und dem ‚ent= 
iprechend hat das Preuß. OTrib. befonders in dem Erfenntniß vom 16. Oft. 1848 
(Entih. Bd. XVII. ©. 462) in den Gründen nur ein Auslegungsmittel des allein 
rechtskräftig werdenden Tenor gejehen, die Theorie des Preuß. Rechts dagegen hat 
die R. in dem weiteren Sinne des gem. Rechts aufgefaßt (Förjter a. a. D., bei. 
©. 264; Dernburg,. Lehrbuch des Preuß. Rechts, I. S. 267— 272). — Die 
Franzöſiſche Theorie und Praris hält zwar daran feſt, daß Alles, was rechts— 
kräftig werden jolle, auch in dem Tenor, jog. dispositif, jtehen müſſe, dieje aber iſt 
durch den Gegenjtand und den Umfang der „conclusions formelles prises par les 
parties“ bejtimmt, jo daß auch präjudizielle Punkte der R. jähig find (Aubry et 
Rau, Cours de droit civ., VI. p. 489 ss.). — Die Deutſche EVD. ſchließt fich, 
wie in den Motiven ©. 291 ausdrüdlich hervorgehoben ift, an die für das Gem. 
Reht von Unger und Wetzell und für das Preuß. Recht von dem früheren 
Berliner OTrib. aufgeftellte Anfiht an. Nach $ 293 find Urtheile der R. nur 
foweit fähig, als über den durch Klage oder Widerklage erhobenen Anſpruch ent= 
ihieden it (vgl. auch 8 292). Es iſt jedoch nach richtiger Meinung nicht 
ertorderlich, daß dies gerade im jog. Tenor gejchieht, jondern es können auch Ent» 
Icheidungen über Einreden und Replifen in den Urtheildgründen vorkommen. Hin— 
fichtlih der Kompenjationseinrede ift in $ 298 Abj. 2 die Beitimmung getroffen, 
daß die Entjcheidung über die Eriftenz der Gegenforderung nur bis zur Höhe des— 
jenigen Betrages, mit welchem aufgerechnet werden joll, der R. jähig if. In NR. 
geht aljo nur dasjenige über, worüber entjchieden iſt, Gründe werden niemals 
rechtäkräftig (vgl. auch $ 695). Dagegen nähert fich die CPO. injofen der Sa— 
digny’ichen Theorie, ala fie auch eine R. der ſog. Elemente des Urtheild, der 
Präjudizgialpuntte, eintreten läßt ($ 231), mit dem Unterjchied jedoch, daß dies nicht 
ichon aus dem Gejete jelbit folgt, jondern von einem ausdrüdlich darauf gerichteten 
Antrag der Parteien abhängig gemacht wird ($ 253). 

Wirkungen der R. Das ältere Römiſche Recht legte nicht ſchon dem Ur— 
theil, jondern jogar der Litisfonteftation fonjumirende Wirkung bei und verhinderte, 
daß eine bereits erhobene Klage nochmals vor den Richter gebracht würde (vgl. den 
Art. Konjumtion). SHerbeigeführt wurde diefe Konjumtion durch die exceptio rei 
Judicatae (jog. negative Funktion). Später aber jah man ein, daß dieje Einrede 
nur dem Beklagten zu Gute fomme und daß es Fälle gäbe, wo der Kläger zur 
Aufrechterhaltung des Urtheild genöthigt werde, auf feinen früheren Anſpruch zurüd- 

. zufommen. Hier gewährte man ihm gegen die exceptio rei judicatae des Beklagten eine 
replicatio rei secundum se judicatae (l. 9 $ 1 D. 44, 2; 1.1685 D. 20, 1). 
Endlich mußte der Kläger dagegen geichügt werden, daß nicht der Beklagte gegen 
ihn einen Anspruch geltend machte, der ihm bereits durch rechtsfräftige Verurtheilung 
zuerkannt war, 3. B. wenn der im Vindikationsprozeſſe unterlegene Beklagte nun— 
mebr die reftituirte Sache jelbjt mit der Vindikation zurückforderte. Auch hier wird 
das erite Urtheil durch die dem Kläger gegebene exc. rei jud. aufrecht erhalten — 
fog. pofitive Funktion — (1.40 $ 2 D. 3, 3; 1.L 15, 19, 30 $1 D.44, 2). So 
trat neben die KHonjumtion bald eine neue Auffaffung der exc. rei jud. zur Auf: 
rechterhaltung des Urtheile, und es bildete jich die Theorie der R. im engeren 
Sinne weiter aus, welche man auch bei Präjudizialenticheidungen, die weder Ver: 
urtheilung noch Freiſprechung enthielten, anerkannte. Sinfichtlich des Beklagten hatte 
aber die exc. rei jud. jet gemäß der in l. 57 D. 50, 17 audgeiprochenen Regel 
die Bedeutung, daß ‚er mit ihr den Kläger zurüdwies, der ihn mit der nämlichen 
Klage belangte. Inſofern hat auch heute noch das Urtheil konjumirende Wirkung 
(Unger, I. ©. 682—685; Buchka, II. ©. 211 u. A.). Mit Unrecht wird dies 
von dv. Savigny, v. Wächter, Keller, Windjcheid für das heutige Recht ge- 


282 Rechtskraft. 


leugnet und behauptet, daß auch 'in dieſem Falle die exe. rei jud. zur Aufrecht⸗ 
erhaltung der R. diene, alſo auch hier eine poſitive Funktion habe. Ebenſo un— 
richtig iſt es, daß Brinz, Bekker u. A. nur die negative Funktion der exc. rei jud. 
anerkennen wollen. Ein praktifches Interefje gewährt jedoch dieſer Streit nicht mehr. — 
Kann aber der Kläger den einmal abgeurtheilten Anfpruch nicht wieder auf's Neue 
gegen den Beklagten vorbringen und ift der Richter an die einmal in einer Civil 
jache gefällte Enticheidung gebunden (wie weit auch die thatjächliche Feſtſtellung de 
Strafrichters für das Givilgericht maßgebend ift, gehört nicht hierher, über die älter 
ichwanfende Praris in Deutjchland vgl. Förfter a. a. D. ©. 258 Anm. 11; 
Zahariä, Lehrbuch des StrafPrz., I. ©. 99 ff., nad dem EG. zur CPO. 14 
Nr. 1 iſt die bindende Kraft der jtrafgerichtlichen Urtheile für den Givilrichter auf 
gehoben, vgl. Kayſer, Das Straigerichtäverfahren u. das Strafverfahren des Deutjchen 
Reiches, 1879, ©. 112 ff.), fo bedarf die frage, wann in einem neuen Verfahren der 
alte Anjpruch als wiedergefehrt zu betrachten jei, einer eingehenden Erörterung. Diejelbe 
richtet fich nach den Vorfchriften des bürgerlichen Rechts, da die CPO. Beltimmungen 
darüber nicht enthält, nur müfjen die Wirkungen über die Rechtshängigfeit (58 235 fi.) 
mindejtens auch die der R. fein, jo namentlich in Bezug auf den Rechtönachtolger 
($$ 236, 238, 665, 671). Das Römische Recht beantwortet diefe Frage mit der vieltac 
(11. 3, 78 4 D. 44, 2; 11. 19, 22, 80 $ 1 D. eod.) ausgedrückten Rechtäregel: 
exceptio rei judicatae obstat, quoties inter easdem personas eadem quaestio re- 
vocatur. Danach) hat man die Identität des Anfpruches in objektiver und jub- 
jeftiver Beziehung zu prüfen. 1. Objektiv. a) Der eingeflagte Gegen: 
ftand. Identität des Gegenftandes ift vorhanden, wenn zuerit das Ganze und 
jpäter ein Theil eingeflagt wird, es fei denn, daß diefer ein jelbjtändiges Dajein 
hat, wie 3. B. die Hausmaterialien (1. 7 $ 2 D. 44, 2). Streitig ift, ob aud) 
das Umgekehrte ftattfinde (bejaht von Windfjcheid, I. ©. 353), was mit Rüd- 
fiht auf 1. 13 D.44, 2; 1. 1 C.3, 1 zu verneinen ift (Wetzell, GCiv.Prz., S 47 
Note 23; Unger, II. ©. 637). Identität liegt auch vor, wenn der frühere An: 
ipruch Vorausjegung des jpäteren ift und der frühere zurückgewieſen wurde (1.1. 8, 11 
S8D.44 2; .181;12588D. 10, 2; 1.18 D. 44, 1; 1.13 D. 20, 
6; 11. 18, 26 S 1 D. 44, 1; 1. 11 8 10; 1. 16 eod.; 1.381 D. 20, 1; 1.7 
D. 25, 3; über 1.783 D. 44, 1 &it. bei Windicheid a. a. D. $ 130 Note 
16; CPO. 88 231, 258). Wird umgekehrt die Vorausjegung eines zuerjt ab» 
erfannten Anjpruches vorgebracht, jo Herricht über die Frage der Identität Streit. 
Prinzipielle Entjcheidungen (1. 1C.3, 8; 1. 3 C. 3, 1) und Anwendungen in fon: 
freten Fällen fprechen für die Verneinung. b) Das eingeflagte Recht. Es it 
feine Identität vorhanden, wenn im fjpäteren Prozeß ein anderes Recht in Anſpruch, 
genommen wird, als in früheren (3. B. erit Eigenthum, dann Befiß); wohl aber 
dann, wenn nur der frühere rechtliche Gefichtspunft geändert und die Sache mit 
einer anderen Klage verfolgt wird (fo erft die mandati actio — dann die negotior. 
gest. II. 5 D. 44, 2]; a. quanti minorisredhibitoria [l.l. 2, 5 $ 1 D. 44, 2] x.). 
c) Der geltend gemachte Erwerbsgrund. Obligatoriihe Rechte können 
auf verjchiedene Erwerbögründe gejtüßt werden und die Abweifung aus dem einen 
ichließt die Verfolgung aus einem andern nicht aus (l. 14 $ 2 D. 44, 2). Be 
dinglichen Rechten fommt es darauf an, ob man nach heutigem Recht die Angabe 
des Erwerbsgrundes für wejentlich hält oder nicht (nach Römischem Recht war über- 
haupt zur Bejchränfung der R. auf den gegenwärtigen Erwerbsgrund eine praescriptio 
pro actore erforderlich), Hält man diefe Angabe für nothiwendig (wofür aud 
IRA. SS 34, 37, 96; 41, 49 fprechen), jo kann ein anderer Grwerbögrund, als 
der in der Klage genannte, jpäter nicht mehr geltend gemacht werden, weil das 
Recht an fich dafjelbe bleibt, wenn es auch aus verjchiedenen Gründen entftanden 
it. Hält man aber bei dinglichen Klagen die Anführungen eines beitinumten Gr: 
werbögrundes (causa specialis, expressa) für jafultativ, jo liegt in der Klage mit 


Rechtskraft. 288 


einem ſolchen eine Beſchränkung im Sinne der Römiſchen praescriptio, und es kann 
daher nach erfolgter Abweiſung ſtets aufs Neue aus einer anderen causa geklagt 
werden. Dat man aber sine c. expr. geklagt, fo jteht der jpäteren Klage cum. c. e. 
die R. der eriteren entgegen und umgelehrt. Nach CPO. $ 230 muß der Klage: 
grund jtet® angegeben werden, und es iſt daher die dingliche Klage auch nur mit 
expressa causa zuläſſig. Selbjtverjtändlich ift endlich, daß einer Klage, deren Er— 
werbägrund jünger iſt ala das gefällte Urtheil (causa superveniens), die R. des 
legteren nicht entgegengehalten werden kann, denn dieſes hat das dingliche Recht 
nicht für alle Ewigkeit, ſondern nur in der gegebenen Zeit geleugnet. 2. Sub- 
jeftiv. Dritte Perfonen werden zunächit von dem Urtheil und deſſen R. nicht 
berührt (1. 2 C. 7, 56). Wol aber find mit den Parteien identifch: deren Univerfal- 
und Singularfuccefforen und die von einer Partei nach der Litisfontejtation ihr 
Recht herleiten (1.9 S 2 D. 44, 2; 1. 63 D. 42, 1, vgl. auch CPD. SS 236, 
238, 665, 671). Das Gleiche gilt im heutigen Recht von der Stellvertretung. 
Ausnahmsweiſe wirft die R. des Urtheild in folgenden Fällen: a) Bei einer Mit- 
berehtigung oder Mitverpflichtung Mehrerer wirkt dad von dem Einen erftrittene 
Urtheil auch zu Gunften der Anderen, das gegen einen Mitverpflichteten ergangene 
Urtheil wirkt nicht gegen die Uebrigen (anderer Meinung Hinfichtlich der Prädial- 
jervituten Savigny, VI. 481; Baron, Geſammtrechtsv., S. 160 ff., Pand., 
©. 172), ebenjo wenn e8 nur gegen einen Mitberechtigten ausgefallen ijt, außer wo 
diejer über das jtreitige Necht allein verfügen konnte. b) Die R. eine Urtheils 
zwischen teftamentarifchen und gefeßlichen Erben wirft auch gegen die Legatarien und 
Gläubiger. c) Hat ein Unberechtigter durch Urtheil auf Grund eines Notherbrechts 
das Teftament umgejtoßen, jo gilt der wirkliche Notherbe mit ihm identisch. d) Wer 
wiſſentlich ſeinen Auftor einen Prozeß führen läßt, muß fich auch die Einrede der 
R. entgegenjtellen laſſen. e) Auf diefe kann ſich aber auch Jedem gegenüber berufen, 
wer in einer (Heut unpraftifchen) Popularklage unterlegen iſt. f) Ein für oder gegen 
den Bafallen ergangenes Urtheil wirft auch in Bezug auf den Lehnsherrn. 
g) Statusurtheile wirken in der Regel gegen Jedermann. 

Die Partikulargefeggebungen ftehen Hinfichtlich der Bedeutung der materiellen 
R. im Wejentlichen auf dem Boden der ratio scripta de Röm. und Gem. Rechts, 
an welche fich die Part. Praris faſt vollitändig anlehnte, jo bei. in Preußen und in 
Sacdjen, welches auch Hier in feinem Geſetzbuch nur die Lehre der Pandeften mit 
geringen Modifitationen darftellt. Der Code civil fnüpft an die l’autorit6 de la 
chose jugée die Wirkungen einer unwiderleglichen Rechtsvermuthung und läßt dieje 
wie im Gem. Recht nur inter easdem personas, bei eadem quaestio (eadem causa, 
idem corpus, idem jus) gelten. 

Die Bedeutung der R. liegt aber nicht blos in der Aufrechterhaltung des 
Urtheild, jondern auch in deifen zwangsweiſen Durchführung ſeitens des fiegreichen 
Klägers. Im Römifchen Recht wird ihm bei einer Verurtheilung auf Geld die 
actio judicati, in anderen Fällen eine imploratio officii judieis (1.3 pr. $ 1D. 48, 
4) gewährt. Mit Unrecht wollen Einige (citirt bei Buchka, II. ©. 214) diefes 
doppelte Rechtämittel aufrecht erhalten, während nach richtiger Meinung nur der 
tormlofe Antrag übrig blieb, mit welchem Kläger bei dem Gericht um Erefution des 
von ihm gefällten Urtheila nachjucht. So auch nach den Part. Gſgb. (3. B. Baden 
$ 837). Nach Justin. Recht konnte bei Geldurtheilen die act. jud. erſt nad) Ab— 
lauf don vier Monaten, innerhalb deren der Zinfenlauf ruhte, angejtellt werden; 
nach dieſer Zeit trat eine Verzinfung mit 12%, ein — eine von der Praris im 
Allgemeinen nicht beiolgte und durch EG. zur CPO. $ 14 Nr. 4 aufgehobene Bor: 
ſchrift. Nach der EPD., welche die Zwangsvollſtreckung faft ausſchließlich in die 
Hände des Gläubigers legt, ift nur ein Gejuch um Grtheilung einer mit der Boll: 
ſtreckungsklauſel verjehenen Ausfertigung des Urtheils (vollſtreckbare Ausfertigung) 
übrig geblieben ($ 662). 


284 Rechtskraft. 


Quellen: D. XLU. 1, XLIV. 2; C. nr 6, 46, 50-58. — X. IL. 27, — In Ve IL 
14. — Clem. II. 11. — Preuß. Fe 2 S 2; 1. a > 7. — Allgem. Ger. Ordn. Einl. 
ss 2 66; I. 10 s 60; L 13 LE I "58 T I. 24 88 2, 3, 5. — Verordnung 

1. Jum 1833 $ 1 Nr. 3. — Sädj. : a ss 196, 17, 38 ‚ 1006, 1857, 1866, 23%. — 
Code eiv. art. 1350, 1351. — EBD. 38 293, 231, 258 


git.: Für ältered Römiſches Recht: Heller, gitißfont. u. Urtheil. — Better, Proyefi. 
Koniumtion. — Krüger, Konſumtion und Rechtötraft b. St. — für m. Redt: Sa: 
vigny, Syſtem, VI. 257— 482. — Außerdem: v. ——— er, Exörterungen, Heft III. — Buchka, 
rg bes Brogefied — Windſcheid, Actio de ömifchen Givilrehtes. — Endemann, 
Prinz. d. Rechtäft. — Kleinſchrod, Die prozeffuale Konſumtion und die Rechtäfraft dei 
Givilurtheils, 1875. — ea a Oefterr. Privatrecht, II. 61576. — Förſter, Preuß. 
Privatrecht $feifferim 1881 von Ecciuß), SS 55, 56; Derielbe, Klage und Einrede, 
175 — 206. erim Archiv für civ. Praxis Bd. XXXVIL, XXXVIII. — Die Lehrbücher 
des Gem. und Part. BAT ſowie die Kommentare zur CPO. — Daun: Scelling, Lehrbuch 
an Giv.Prz., 1880, ©. 208. — Bolgiano, Handbud de RCiv. a en 1879, 

ayſer. 


Rechtskraft Hat im Strafprozeß eine richterliche Verfügung erlangt, wenn 
fie weder einer vom Belieben einer Partei abhängigen Anfechtung noch einer Ab- 
änderung durch freien Entſchluß des Richters mehr unterliegt, und zwar lehteres 
deshalb, weil entweder eine jolche überhaupt unzuläffig iſt oder die Partei alle 
Mittel der Anfechtung ohne Griolg verfucht oder auf diejelben ausdrüdlich oder 
jtilljchweigend verzichtet hat. Wenn auf dem Gebiete des Civ. Prz. das Bedürjiniß 
nie verfannt wurde, daß eine Linie gezogen werden müſſe, bei welcher angelangt der 
Streit als definitiv gejchlichtet, die richterliche Entjcheidung als unumſtößlich an— 
zujehen ift, jo haben auf dem Gebiete des Strafßrz. zuerft die unmenjchliche Härte, 
die man dem Bejchuldigten gegenüber in früheren Jahrhunderten ſich erlaubte, und 
jeit dem lebten Viertel des vorigen Jahrhunderts die maßloſen Webertreibungen, 
welche die Theorie an das jog. Inquifitionsprinzip knüpfte, dahin gerührt, daß im 
Namen der „materiellen Wahrheit“, nad) weldjer der Strafprz. mit allen Mitteln 
zu jtreben habe, dem Prinzip der N. im Kriminalprozeß jede Geltung abgeiprochen 
wurde. Don dieſer Uebertreibung ift man nunmehr längit zurüdgelommen, und 
jet jteht die Frage nur jo, ob unter Umständen eine Wiederaufbhbebung der 
eingetretenen R. (f. unten) ftattfinden fönne. Dagegen iſt allerdings auf dem 
Gebiete des Straffrz. in noch weiterem Maße ald auf dem des Giv.Prz. die Ten: 
denz vorherrichend, die Zahl derjenigen vor der Endenticheidung ergebenden Ber: 
fügungen zu vermehren, welche feiner R. fähig find. Es ift hierfür ein doppelter 
Gefichtspunft maßgebend. Die Enticheidung über Gegenjtände, die ihrer Natur nad 
durch die Endenticheidung ihre Bedeutung verlieren, in unbeſchränkter Weiſe der 
Anfechtung durch Rechtsmittel zu unterftellen, welche auch nur annähernd ähnliche 
Bürgichaften bieten, wie die gegen das Gndurtheil, würde der Verſchleppung der 
Straffachen Thür und Thor öffnen und allaugroße Anforderungen an die Zeit der 
oberen Behörden ſtellen; zudem müßte man entweder jeder folchen Beichwerde auf: 
jchiebende Wirkung beilegen, und dadurch die verfügte Maßregel, oder man müßte 
fie ihr verfagen und damit die Beichwerde jelbjt in vielen Fällen praftifch vereiteln. 
In zahlreichen Fällen ift daher gegen richterliche Verfügungen feine jofortige 
Beichwerde gegeben, daraus aber abzuleiten, daß die Wirkſamkeit diefer Verfügung 
nicht weiter reicht, ald ihr unmittelbarer Zwed, daß fie aljo nicht dem Endurtheil 
einen Theil der GEnticheidung vorwegnehme Umgekehrt giebt es richterliche An— 
ordnungen, die, auch wenn fie der Anfechtung durch Parteien nicht oder nicht mehr 
unterliegen, fich vermöge ihrer von oft vorübergehenden Berhältnifien abhängigen 
Natur jeder R. entziehen, die nämlich der Richter jelbit wieder zurücdzunehmen ebenio 
berechtigt als verpflichtet ift. Das hervorragendite Beiſpiel für Erſteres bietet die 
beſchränkte R. der Entſcheidung über die Verſetzung in Anklageſtand (Eröfinung 
des Hauptverfahrens, j. diefen Art), für leteres die Verfügung der Unter: 
ſuchungshaft, die Ablehnung von Beweiserhebungen. Manchmal wird in eriterer 


Rechtskraft. 285 


Hinficht das Umgekehrte zweckmäßig gefunden; jo 3. B. wird nach der Deutſchen 
StrafPO., da wo eine gerichtliche Borunterfuchung jtattfindet, auf möglichſt rafche 
endgültige Austragung der Trage der örtlichen Zuftändigfeit (SS 17 und 18) 
dingewirft. Im Laufe des Straiverfahrens ergehen hinwieder Entjcheidungen, welche 
Zwiichenfälle des Straiverfahrens endgültig abthun, 3. B. Strafe wegen Ungebühr, 
Ausbleiben von Zeugen u. dgl. Solche Entfcheidungen find eigentlich Endurtheile 
über geringfügige Sachen. Bei diefer Mannigjaltigkeit der Beziehungen muß daher 
von einer eingehenden Beiprechung der R. der im Laufe des Strafverfahrens ergebenden 
Verfügungen bier abgejehen und das Folgende auf die R. des Endurtheiles 
(welchem allerdings dem MWefen nach alle richterlichen Entſcheidungen gleichitehen, 
die das Strafverfahren beenden und zu welchen auch die im $ 172 der Deutjchen 
StraPD. erwähnte Zurüdweifung des Antrages eines Privaten auf Einleitung der 
Unterfuchung gehört) beichränft werden. 

R., Unanfechtbarfeit und Vollſtreckbarkeit find Begriffe, die fich gegenfeitig auf 
das Nächfte berühren aber doch auseinandergehalten werden müſſen, namentlich muß 
nicht unbedingt das rechtäfräftige Urtheil auch vollitredbar oder das vollitredbare 
rechtskräftig jein. Es ijt denkbar, daß z. B. ein Urtheil letzter Inſtanz erit nad) 
der Berfündung oder Zuftellung rechtskräftig wird (wenngleich die Deutiche wie 
die Defterreichifche StrafPO. die Frage nicht in diefem Sinne entjcheiden); aber 
ohne Weiteres ift anzunehmen, daß es erit nach derielben volljtrebar wird (anderer 
Meinung: Löwe bei $ 481 der StrafPD.); jedenfalls können der Vollſtreckbarkeit 
andere Hinderniffe als der Mangel der R. (3. B. Krankheit, Schwangerjchaft, Vor: 
behalt des Ausfpruches über die Nachficht der Todesſtrafe) entgegenstehen. Umgekehrt 
it es denkbar, daß das Urtheil zwar noch nicht rechtskräftig, aber vollſtreckbar iſt. 
Zwar ipricht $ 481 der Deutichen StrafPO. das Gegentheil aus; dagegen kann 
nah der Dejterr. StrafPO. der Angeklagte, welcher nur Berufung, nicht auch Nich- 
tigkeitsbeſchwerde eingelegt hat und erjtere nicht gegen die Strafart, jondern nur gegen 
das Strafmaß richtet, erflären, daß er die Strafe einftweilen antrete ($ 294). — 
Jedenfalls aber ftehen R. und Rechtsmitteligftem in engjter Wechjelwirtung: das 
Urteil iſt rechtskräftig, fobald fein Nechtsmittel gegen dafjelbe mehr offen 
ſteht. Gin Rechtsmittel fteht nicht mehr offen, wenn alle zuläffigen Rechtsmittel 
erichöpft find, aljo in legter Inſtanz erfannt ijt, oder wenn alle zur Ergreifung von 
Rechtämitteln berufenen Perjonen auf dieielben verzichtet Haben, oder wenn für alle 
die Friſt, innerhalb welcher fie ein Rechtömittel ergreifen konnten, unbenußt verftrichen 
ft. Da num zur Ergreifung der Rechtsmittel faft immer mehrere Perjonen berechtigt 
find und jede wieder in der Lage jein fann, nur gewiffe Theile des Urtheils an— 
zufechten, jo ergeben fich die Begriffe der partiellen und der relativen R.; 
erstere tritt für jene Theile des Urtheils ein, welche durch die gegen andere Theile 
gerichteten Rechtsmittel nicht berührt werden; letztere tritt zum Nachtheil derjenigen 
Partei ein, welche unterlafien hat, die ihr ungünftige Enticheidung durch Rechtsmittel 
anzufechten. Gine logiſche Folgerung der relativen R. ift das Verbot der refor- 
matio in peius (j. diefen Art.), der Nenderung zum Nachtheil desjenigen, der 
ein Rechtsmittel eingelegt bat, joweit die aus dem Urtheil der Rechtömittelinitanz 
fich ergebende Verichlimmerung feiner Lage lediglich durch das von ihm eingelegte 
Rechtsmittel herbeigeführt wurde. Zu Gunjten des Angeklagten wird indeR die 
Strenge des Grundjaßes der relativen R. mehrfach gemildert. Jedes Rechtsmittel, 
welches die Aufhebung des Urtheil® nur zum Zwed der Erneuerung des Verfahrens 
bewirft, fann, auch wenn e& lediglich zum Nachtheil des Angeklagten eingelegt 
wurde, die vom Angeklagten gar nicht angefochtenen, ihm ungünftigen Bejtimmungen 
deö früheren Urtheila bejeitigen. Aber ſchon die Rechtsmittelinſtanz kann den 
gleichen Vorgang zu Gunſten des Angeklagten einzuhalten in die Lage kommen. Die 
Deutihe StrafPO. ftellt im $ 343 geradezu den Grundjaß auf, daß jedes von der 
Staatsanwaltſchaft eingelegte Rechtsmittel die Wirkung hat, daß die angefochtene 


286 Neditstraft. 


Entſcheidung auch zu Gunften des Beichuldigten abgeändert werden kann, — eine 
Beitimmung, deren Tragweite nichts weniger ala klar ift; denn da die Rechtsmittel: 
injtany in ihrer -Thätigfeit auf die durch die Anfechtung bezeichneten Grenzen be 
ichränft ift (SS 368, 392) und jelten die Anfechtung zum Nachtheil des Angeklagten 
genau denjelben Punkt, insbejondere denjelben Mangel des Verfahrens, treffen wird, 
welcher zum Bortheil des Angeklagten zu berüdfichtigen ift, jo hängt die dem letzteren 
zugedachte Rechtswohlthat von Bedingungen ab, die nicht immer erfüllt fein werden, 
wo dies wünſchenswerth fcheinen mag, und jedenfalls wird ihre Anwendbarkeit oft 
zweifelhaft jein. Die Defterreihifche StrafP OD. (SS 290, 477) ſucht den gleichen 
Zwed dadurch zu erreichen, daß fie zunächit zwiichen der unrichtigen Anwendung des 
Straigejeges (und der Beitimmungen über die erforderliche Anklage) und anderen 
Anfechtungsgründen unterjcheidet. Jene ift unter allen Umftänden zu berüdfichtigen, 
jobald diejelbe der Nechtsmittelinjtanz aus Anlaß eines von wen immer ergriffenen 
Rechtsmittels befannt wird. Analog damit ift die Beitimmung des $ 397 der 
Deutihen StrafPO., welche jedoch nur dann Anwendung findet, wenn das Ur— 
theil zu Gunsten eines Angeklagten wegen Gejeßesverlegung bei Anwendung des 
Strafigejeßes aufgehoben wird und fich das Urtheil auch auf andere Angeklagte 
eritredt, während die Dejterreihijche Beitimmung auch auf Verlegungen des 
materiellen Rechtes, die nur einen Angeklagten betreffen und von feiner Seite 
gerügt find, Anwendung findet. Die im $ 397 der Deutichen StrafPO. blos für 
den oben bezeichneten Fall ertheilte Anweifung, zu Gunften anderer Angeklagten jo 
zu erkennen, als ob fie gleichfalls das Rechtsmittel eingelegt hätten, ertheilt das 
Deiterr. Gejeß a. a. O. für die Fälle, wo die Rechtsmittelinſtanz eine zum Nachtheil 
eines Mitangeklagten unterlaufene Formverlegung Eonjtatirt. 

Was nun den Umfang der R. des feinem Wechtsmittelzuge mehr unter: 
worfenen Urtheils betrifft, jo ijt für fie der Grundgedanke maßgebend, daß dasjenige, 
was durch dafjelbe entjchieden ift, als endgültig entichieden zu gelten habe, nicht 
neuerlich richterlicher Prüfung und Enticheidung unterworfen werden könne. Der 
Satz gilt zum Nachtheil wie zum Vortheil des Angeklagten: res judicata pro veri- 
tate habetur; joweit es dem Angeklagten zu jtatten fommt, tritt aber neben dieſe 
Forderung juritiicher Logik auch die Billigfeitsregel: Ne bis in idem. So 
far der Grundjag und jeine Berechtigung, jo groß find die Schwierigkeiten bei der 
Anwendung; dieje find jo mannigjaltig und hängen mit jo vielen Details des 
materiellen und Prozeßrechtes zufammen, daß hier mehr nicht geboten werden fann, 
als die Andeutung der allgemeinjten Gefichtspunfte. Rechtskräftig wird auch auf 
dem Gebiete des Strafrecht? nur die Entjcheidung, das heißt die Anwendung des 
Geſetzes auf einen Eonkreten Borfall, und zwar nur in ihrem Schlußrefultat. Die 
Prämiffen dieſer Entjcheidung (die objektiven und jubjektiven Entjcheidungsgründe) 
find der R. nicht fähig, das heißt, daß fie in einer anderen Strafjache neuerdings 
geprüft werden müflen und die dabei angeregten Tragen, troß aller Gleichartigfeit, 
ja Gleichheit der Verhältniffe, anders entichieden werden fünnen. Wenn aljo eine 
Handlung für jtraflos erflärt wurde, weil das Gericht das Straigefeß darauf nicht 
anwendbar jand, und eine andere völlig gleichartige Handlung deffelben Angeklagten 
neuerlich unter Anklage gejtellt wird, jo kann das frühere Urtheil das Gericht 
nicht abhalten, die Frage der Anwendbarkeit des Strafgejeßes neuerdings unabhängig 
zu prüfen, ebenjo wie umgekehrt eine vorausgegangene Verurtheilung wegen einer 
völlig gleichartigen Handlung den Richter nicht von der Pflicht entbindet, fich jeine 
Meinung über die Anwendbarkeit des Strafgefeßes auf das neue Faktum zu bilden. — 
Ebenjowenig ijt die vorausgegangene Entjcheidung über dem Gebiet des materiellen 
wie des formellen Rechts angehörige Erceptionen der neuerlichen Prüfung und Ent: 
icheidung in einer neuen Straffache entrüdt, wenngleich die Frage genau in derfelben 
Geftalt wiederfehrt; 3. B. die nach der geiftigen Gejundheit des Angeklagten zur 
jelben Zeit, wo ev zwei verſchiedene Handlungen beging, nach feinen jtaatsbürger: 


Rechtskraft. 287 


lichen Verhältniſſen, von welchen die Zuſtändigkeit des Gerichtes oder die Anwend— 
barleit des inländiſchen Strafgeſetzes abhängt. Noch viel weniger ſind Feſtſtellungen 
derſelben Thatſache (3. B. eines Alibi, die Herſtellung des Beweiſes der Wahrheit 
in einem Beleidigungsprozeß) in einem anderen Strafprozeß maßgebend. Die frühere 
Entſcheidung kommt alſo nur inſoweit in Betracht, als fie über eine beſtimmte An— 
klage entſchieden hat und mit dieſer diejenige, welche neuerdings vorgebracht wird, 
identiſch iſt. Die Entjcheidung der Frage, ob diefe Identität vorhanden ei, wird 
dadurch erjchwert, daß dafjelbe (einfache) materielle Faktum durch Heranziehung 
biäher unberührter und Ausſcheidung bisher berüdfichtigter Thatmomente eine neue 
Geitalt annehmen kann, daß theilbare Fakta ifolirt und in neue Verbindungen 
gebracht werden können, daß IThatmomente, die bei der einen Anklage ala Neben- 
umjtände anzufehen waren, zur Erhebung einer neuen Anklage Anlaß geben können 
(3. B. Entwendung der bei einem Mordanfall gebrauchten Waffe, Verlegung eines 
Bannverbotes u. dgl.). Die hieraus entjtehenden Fragen find vom Standpunkte 
des materiellen Rechts und zunächit der Konfurrenztheorie allein gar nicht zu ent— 
ſcheiden. Maßgebend iſt vielmehr der prozefjuale Gefichtspunft. Wenn bei der eriten 
Verhandlung eine Erweiterung oder Modifikation der Anklage möglic; war in dem 
Sinne, daß die neu jormulirte Anklage jchon damals hätte zur Geltung gebracht 
werden, d. 5. daß ihr nicht der Einwand Hätte entgegengejeßt werden fünnen, das 
jei ein volljtändiges Abweichen von dem durch die Anklage bezeichneten Gegenjtand 
der Verhandlung, dann jteht der neuen Anklage der Einwand der R. entgegen, 
fotern nicht das Geſetz den Vorbehalt anderweitiger Verfolgung in gewifjen Fällen 
zuläßt und diejer Vorbehalt ausdrüdlich gemacht wurde. Je ftrenger ein Gejeh 
Modififationen der Anklage verhindert, deſto Leichter wird daher eine neue Anklage 
mit verändertem Gefichtöpunfte erhoben werden fünnen. — Die Torderung der 
Nentität bejchränft fich aber nicht auf den Gegenjtand; es muß fich auch um die- 
jelben Berjonen handeln. Hier wird allerdings für die Mehrzahl der Fälle die 
Sache dadurch vereinfacht, daß der Träger der öffentlichen Anklage ſtets der Staat 
it. Bezüglich der anderen Partei, des Angeklagten, wird daran nicht gezweifelt, 
daß fein Angeklagter das gegen einen Andern ergangene Urtheil gegen fich gelten zu 
lafien brauche; wol aber wird mitunter (unjeres Erachtens mit Unrecht) behauptet, 
daß der wegen Theilnahme Angeklagte die NR. des im Prozeß gegen einen der 
TIhäterichaft Angeklagten ergangenen, dag Faktum jelbjt negirenden Urtheil3 anrufen 
könne. — Bejonderer und jehr eingehender Erörterungen bedarf die Frage nach der 
R. der Endentjcheidungen über Gegenftände der Privatankflage.. Wenn durch eine 
jolche Entjcheidung Lediglich ausgejprochen wird, daß die Verfolgung oder Ver— 
urtheilung unzuläffig jet, weil die erforderliche Privatanklage fehle (weil der als An— 
Häger aufgetretene Private zur Anklage nicht berechtigt ei, in Defterreich könnte 
auch eine Öffentliche Anklage zurücdgewiejen werden, weil die Handlung nur 
Gegenitand der Privatanklage jei): jo liegt hierin fein Hinderniß der Erhebung der 
Trivatanflage durch eine andere Perfon wegen derjelben Handlung. Im Uebrigen 
aber ändert die Zuläffigkeit einer Privatanklage nichts an dem Grundjaß, daß das 
ergangene rechtsfräftige Urtheil deſſen Gegenjtand nach allen jeinen Seiten erledigt. 
Es wird aljo auch hier die frage der Identität des Gegenstandes enticheidend 
jein, und wejentli vom Standpunft des materiellen Rechtes beurtheilt werden 
müſſen, ob nämlich neben dem Gegenjtande der durch Urtheil erledigten Anklage 
noch eine oder mehrere Handlungen übrig bleiben, welche Gegenjtand öffentlicher oder 
Privatanflage fein fönnen. 

a3 das gegenjeitige Berhältniß von Eivil- und Kriminalurtheil betrifft, jo ftimmen 
die Deutſche ($ 267) und die Dejterreichijche ($ 5) StrafPD. darin überein, 
daß das Givilurtheil für den Strafrichter nicht bindend, letzterem aber geftattet ift, 
dafjelbe zu berüdfichtigen; bezüglich der über die Gültigkeit der Ehe ergehenden Er- 
fenntniffe macht dag Dejterreichiiche Geje eine Ausnahme, die in das Deutjche 


288 Reditstraft. 


Geſetz nicht überging. Selbjtverjtändlich ift das Givilurtheil maßgebend, wenn eine 
beitimmte civilrichterliche Entſcheidung Vorbedingung der ftrafgerichtlichen Verfolgung 
und Beltrafung ift (38 170, 172 und 238 der StrafPD.; vgl. Löwe, ©. 472). 
Was umgekehrt die Berücfichtigung des Kriminalurtheile im Giv.Prz. betrifft, jo 
find im $ 14 3. 1 de8 EG. zur Deutichen CPO. die Iandesgejeglichen Beitimmungen 
über die bindende Kraft des ftraigerichtlichen Urtheils für den Givilrichter (nach viel: 
fachen Kämpfen und Grörterungen, als mit dem Prinzip der freien Beweiswürdigung 
unvereinbar) außer Kraft gefeßt worden; doch wird es wol als in der Natur der 
Sache liegend erkannt werden müffen, daß das Strafurtheil da maßgebend bleibt, 
wo es nicht blos auf den Beweis einer den Thatbeitand eines Deliktes involvirenden 
Handlung ankommt, jondern geradezu darauf, daß ein Delikt begangen jei (vgl. 
S 543, 3. 2—5 der Deutfchen (PO.). Nach $ 140 der Deutichen CPO. kann 
übrigens der Givilrichter die Verhandlung bis zur Erledigung des Strafverfahrens 
ausjegen, wenn fich im Verlaufe eines Nechtaftreites der Verdacht einer ſtrafbaren 
Handlung ergiebt, deren Grmittelung auf die Entſcheidung Einfluß üben kann 
(vgl. au) $ 543 3. 6). — In Dejterreich hat ein Hofdekret vom 6. März 1821 
ausgeiprochen, „daß Rechtsangelegenheiten, deren Enticheidung von dem Beweiſe und 
der Zurechnung eines Verbrechens abhängt, vor erfolgtem Urtheil des Kriminalrichters 
. . . bei dem Givilgerichte nicht angebracht werden können“, und angeordnet, daR, 
wenn fich im Laufe des Givilprogeffes zeigt, daß der Erfolg einer Strafunterfuchung 
„auf die Entfcheidung der Streitfache einen wejentlichen Einfluß haben könnte“, mit 
dem Givilprozeß innezuhalten und „das Grfenntniß des Strafgerichtes abgewartet“ 
werden ſolle. 

Die Regel über die R. des Strafurtheils iſt jehr erheblichen Einſchränkungen 
unterworfen. Zunächſt unterliegt e8 wol nirgend Bedenken, einfache Schreibiehler 
troß eingetretener formgeller R. zu berichtigen. Im Gegenja zu dieſen geringiten 
Verſehen laffen ſich Fälle in die Augen jpringender gröblicher Mißgriffe denken, die 
wol fajt immer auf abjolute Inkompetenz der Gerichte überhaupt, der Gerichte 
eines bejtimmten Landes oder eines beitimmten Gerichtes oder auf irgend einen gröb- 
(ihen Mißbrauch der Formen des Verfahrens zurüdzuführen fein werden. (Dan 
denfe 3. B. ein Gericht unterjter Ordnung, das ein Todesurtheil fällt, ein Gericht, 
das ein Kind im engjten Sinne des Wortes, einen Wahnfinnigen, oder ein anderes, 
das einen Erterritorialen vor jeine Schranken zieht.) Für jo außerordentliche Fälle 
jorgt faum je ein Geſetz, und es ift auch ſonſt ſchwer, mehr darüber zu jagen, als 
daß im gegebenen Falle eine Abhülfe befchafft werden muß. — Eine andere tie 
eingreifende Alterirung der R. kann durch die Kollifion der Geſetze, und zwar 
jowol durch die örtliche wie durch die zeitliche, herbeigeführt werden. Kein Staat 
vollzieht auswärtige Strafurtheile, daraus muß aber noch nicht folgen, daß ihnen 
jede R. abzufprechen ſei; namentlich zu Gunſten des Angeklagten jollte das fremde 
Urtheil anerfannt werden, joweit im gegebenen Falle hierin nicht eine Verzichtleiftung 
auf die Geltung der eigenen Geſetze auf dem ihnen gebührenden Gebiete läge. — 
Wenn das materielle Strafgeje eines Landes geändert wird, jo liegt darin an ſich 
fein Grund, alle ergangenen und noch nicht vollzogenen Strafurtheile zu revidiren; 
es kann dies aber aus Gründen der Billigfeit bei wejentlicher Milderung der Stra’: 
gejeßgebung angeordnet werden und es kann durch die Gerechtigkeit geboten ſein, 
wenn die neue Gejeggebung den Gedanken der Verwerflichkeit bejtimmter Strafarten 
zum Ausdrud bringt. Gejchieht jodann die Umwandlung der Strafe auch im 
Intereſſe des DVerurtheilten, jo wird immerhin doch der formelle Schub, den die R. 
des Urtheils ihm gewährt, dabei theilweife entfallen. — Ebenſo kann die Noth— 
wendigfeit der Verhängung einer Geſammtſtrafe die R. der ergangenen Einzel: 
urtheile beeinträchtigen. — Ein weiterer Grund der Bejeitigung der eingetretenen R. 
des Strafurtheils liegt in der Wiedereinjfegung gegen die jchuldlos verjäumte 
Frift zur Ergreifung eines Rechtsmittel (Deutiche StrafPO. $ 44; Defterreichiiche 


Rechtsmittel. 289 


StrafPO. 8 364). — Daß die relative N. eines Urtheils zu Gunſten des An— 
gellagten durch nachfolgende Vorgänge wieder aufgehoben werden kann, iſt ſchon oben 
erörtert worden. — Nach der Oeſterreichiſchen StrafPO. ($ 292) kann die Er— 
greiftung der Nichtigkeitsbejchwerde der Staatsanwaltichait „zur Wahrung des Ge- 
ſetes“ die Folge haben, daß ein rechtöfräjtiges Urtheil zu Gunſten des DVerurtheilten 
vom Kaſſationshof aufgehoben wird. — Der wichtigſte Fall der Wieder- 
aufbebung der R. des Strafurtheils Tiegt jedoch in der Wiederaufnahme 
des Strafverfahrens (j. diejen Art.), über welche Hier nur bemerkt werden 
möge, daß diejelbe niemals zur Bejeitigung eines Rechtsirrthums, auf welchem das 
Urtheil beruht, jondern grundjäßlich nur zur Richtigftellung der thatjächlichen Grund- 
lagen des Urteils jtatthat. 

Lit: Klenze, Xehrbuch des Strafverfahrens (Berl. 1836), S. 155, 160. — Mitter: 
maier, Das Zeutfche Strafverfahren, II. ©. 614 ff., oft — Pland, Syflem. Darftell., 
© 148. — Zahariä, Handbud bed Deutihen StrafPrz., = E. 653 — Oppen: 
hoff, Die Preuß. Gejege über dad Verfahren in Strafladen, ©. 12—18, 460-464. — 
Klien, De auctoritate sententiae criminalis absolutoriae (4 Hefte, Xeipz. 1827— 1829). — 
Fabricius, De re criminali iudicata (Jen. 1835) — Wendler, De re iud. inprimis in 
causis criminalibus (Leipz. 1833). — H&lie, Trait& de l’Instr. crim. 1. €d.) Vol. III. $$ 175— 
185, p. 524 s8.; Derjelbe, Pratique eriminelle, N. 505, 922 ss. — Tr&butien, Cours de 
droit crim., IL, p. 634 ss. — Morin, R£pert.: verbo Chose {ug gee. — Mangin, Traite de 
l’action publique, 3. ed. (1876), 88 370-441. — Rolland d@Villargues, Zu art. 360 des 
Code d’Instr. crim. — Borsari, Azione penale, p. 509—575. — Slafer, Die Durchführung 
der Regel: Non bis in idem im — ur Framoſiſchen StrafPrz., Gerichtäfaal 1871, 
S.1ff.; Derfelbe, Anklage u. |. w., im Englifchen Schwurgerichtäverfahren, ©. %-—-113. — 
Arc. für Kriminalrecht, 1850, ©. 497 —520 (Mittermaier. — Gerichtäfaal 1857 Bd. II. 
©. 241—273 (Abegg), 1866 ©. 931 fl. (Berner, Non bis in idem gegen auswärtige Straf: 
we — Goltdammer’3 Arc. IL ©. 785791; III. ©. 22—3 Rn (Küßner); 
II. 3835 —460, — (Berner), Se X. S. 47 472; XVII. ©. 831 ff. (Relative 
Rehtäfraft): XVIII. 153 ff. (Wirkun eines eine ungefe liche ae verhängenden Ur: 
theild); XXVI. ©. 186 2 (Ortloff. — Allg. Deutſche Stra vechtöatg, X. ©. 465 ff. (8003, 


Ueber delative em) — 2. Schwarze in v. a I — II. S. ar? f. — 
Meves, bai., ©. 474 fi. — Löwe, Die StrafPD. für das a 3 — — 730 


N. 2a und die Bl engere Stellen. — rn er, Die —— 7, 278, 408, 


437. — Ullmann, Oeſterr Rn ©. 786, 787. — — dee 
Strajprozehrechts II. — Ueber das Verhältnik vi Etraheritells 3. Civ. Prz. 


Oeſterr. 
——— Re Ba 1. ©. 99 ff. mit ausführlicher Literaturangabe. — 
3. Leu De civilis et crimin 2 causae praejudicio (Hann. 1841). — Berbandlungen be3 
ta — 3 Bb.1.©.3 ff. Planch;, Bd. IL ©. 45 fi. ——— izzth 
2 — v. Bar im der Zeit or. Ir Gef. A en 1871, 
5 im Gerichtsſaal 1870, ©. 124 rud, Hehe b bie präs 
jubdizielle Wirkung des rechtäkräftigen Kriminalurtheils, Berlin 185. Glajer. 


Rechtsmittel (civilproz.). I. Zwed des Giv.Prz. ift e8, einer Privat- 
rechtsjtreitigfeit durch ftaatliche Autorität ein dem Rechte und der Gerechtigkeit ent= 
jprechendes Ende zu machen. Es muß ein Ende gemacht und ein Zuftand gejchaffen 
werden, der weiteren Streit ausfchließt. Das verlangt die Rechtsficherheit. Diejen 
Zuftand nennen wir die Nechtsfrait (f. diefen Art.). Er müßte prinzipiell ſofort 
mit dem Richterausſpruch, welcher die Streitigfeit entjcheidet, eintreten. Und jo war 
es urſprünglich. Res judicata, die abgeurtheilte Sache, war den Römern finis con- 
troversiarum (l. 1 D. de re judic. 42, 1) und für immer blieb ihnen daher der 
Mangel eines techniichen Ausdrudes für die rechtäfräftig abgeurtheilte Sache. Aber 
es Find Menjchen dem Irrthum und der Leidenjchait auögejeßt, in deren Hand der 
Staat die Erledigung der Prozefie gelegt hat. Dieje Erwägung muß dazu führen, 
im Intereſſe der betheiligten Privaten und des Rechtes jelbjt Garantien dafür auf- 
zuftellen, daß jener Zwed des Civ. Prz. durch die Gerichte jo volltommen ala möglich 
erreicht werde. Zu diefen Garantien gehören die R., d. 5. im Allgemeinen die 
Mittel, wodurd ein Richterausſpruch als dem Rechte oder der Gerechtigkeit nicht 
entiprechend angefochten und jein Uebergehen in Rechtskraft gehindert werden Tann. 

Sofort aber dürfen wir diefen weiten Begriff durch den Zuſatz ee, daß die 
». Holtzendorff, Enc. II Rechtslexikon III. 3. Aufl. 


290 Rechtsmittel. 


Anfechtung vor einem ftaatlich übergeordneten Richter geichehen müſſe. Die ftaat: 

liche Autorität, welche den erften Ausspruch gethan, kann nur durch eine höbere 

ftaatliche Autorität forrigirt werden. Daher war die Germaniiche Urtheilsicelte 

noch fein R. im eigentlichen. Sinn (anderer Meinung: Wepell, 8 54 zu N.5 

ef. $ 59 i. f.), denn fie zog die Sache nicht nothwendig an einen ftaatlich über: 

geordneten Richter (Pland, Deutiche Gerichtäverfaffung, I. ©. 284). Grit das 

Römiſche Recht brachte uns R.; unfer Deutjches hatte in der Urtheilsſchelte erit den 

Anſatz zu ſolchen (Wach, Vortr., S. 178). Aber auch im Römischen Recht konnten 

eigentliche R. exit entjtehen, ala mit dem Kaiſerthum die republifanische Gleichheit 

aufhörte und eine Stufenfolge von niederen und höheren Staatsbeamten mit dem 

Princeps an der Spike vorhanden war (Sapigny, Syitem, VI. ©. 291 fl.) 

Jet erſt entwidelte fich die altrepublifanifche appellatio zum wirklichen R. gleichen 

Namens (Savigny, l. c. ©. 485 ff.: „Appellatio und provocatio“): quum non 

oporteat ad compares judices appellationes referri, sed a minore judicio in majus 

tribunal ascendere (nov. 23 c. 4). Pollitändig mit dieſen Rejultaten aus der 

Natur der Sache und aus der Geichichte harmonirt der Begriff der R., wie die 

Motive zur Deutschen CPO. im $ 11 der „Allgemeinen Begründung“ ihn aufftellen 

und das Geſetz ſelbſt ihn fefthält: „prozefjualiiche Rechtsbehelfe, wodurch Enticheidungen, 

welche die Rechtskraft noch micht befchritten Haben, vor einem höheren Richter an- 

geiochten werden.“ Der Gemeine Prozeß und andere Rechte faſſen freilich den Be 

griff der R. weiter, Sie jtreichen das Requifit des höheren Richters; fie ziehen 

außerdem auch die Mittel, wodurch man rechtskräftige Entjcheidungen noch ans 

fechten kann, jei es weil fie in Wahrheit feine zu Recht beftehenden Urtheile find — 

Nichtigkeitsbeſchwerde (f. diefen Art.) —, fei e8 weil fie obwol dem jus 

strietum doch nicht der aequitas entiprehen — Wiedereinjetung (f. den At. 

Wiederaufnahme) — in den Begriff der R. herein, obwol diejelben eigentlich 

überhaupt feine prozefjualifchen Rechtsbehelie find, ſondern civilrechtliche „Klagen, 

welche in Folge ihrer Richtung gegen ein Urtdeil nebenher die Qualität von R. 

angenommen haben” (Wetell, Syſtem, 3. Aufl. ©. 670). Wie aber danach der 
Begriff der R. pofitiv zu faffen fei, darüber konnte man fich nicht einigen. „Zu 
den vieldeutigften, vielgedeutetiten und daher fchillerndften Ausdrüden der progeffualen 
Nomenklatur gehören die termini techniei „R.“ und „Rechtskraft“, jagt mit Recht 
Bolgiano (Mrd. LIX. ©. 420; vgl. Motive zur Deutichen CPO. 1. c.). Warum 
dann aber, wie er es der Deutjchen CPO. gegenüber verjucht, dem Gejeß mit feinem 
ieften Begriff den jchwanfenden der Theorie octroyiren wollen? Das heißt einen 
ichlechten Taufch zumuthen und fann nur zur Verwirrung führen. Dan vgl. 3. B. 
ss 248 Abi. 2, 276 Abi. 2, 503 Abi. 3, 562 Abi. 3, 554, 645 der RCPO.: 
es iſt abfolut nöthig, weil von der größten praftiichen Bedeutung, bier überall — 
auch dem $ 554 gegenüber, trog Bolgiano, Zeitichr. für Deutjchen Civ. Prz., II. 
©. 201 sub 3 — daran fejtzuhalten, daß nur Berufung, Revifion und Befchwerde 
R. im Sinne der REPD. find, nicht auch Einfpruch, Nullitätse und Reftitutions- 
flage, wenn auch nicht geleugnet werden joll, daß diefe Rechtsbehelfe Manches mit 
den R. gemein haben (j. unten). Lediglich um der Rechtögeichichte und der Rechte— 
vergleichung willen hat die Wiſſenſchaft zu betonen, daß der Begriff der R., da er 
fein hiftorijch unmittelbar gegebener ift, auch weiter, als die Deutiche CPO. es thut, 
geiaßt werden fann und bisher meiſt gefaßt worden ift. Der weitere Begriff des 
Gemeinen Prozefjes lautete nach) Wetell, 1.c. ©. 668: „Anſpruch einer Partei au’ 
Abänderung einer fie in ihrer Stellung zur Gegenpartei benachtheiligenden richter: 
lichen Verfügung.“ 

II. Um nun die Bielheit der R. im pofitiven Recht im Allgemeinen ſich zu 
veranschaulichen, erwäge man Folgendes: Die R. dienen, wie ſchon angedeutet, einen 
doppelten Interefje: dem der Parteien, welche ſie gegen Verlegungen durch richterlich: 
Willengerflärungen ſchützen; zugleich aber auch dem öffentlichen Intereſſe, indem fie 


Rechtsmittel. 291 


für die durch die Vielheit der Gerichte gefährdete gleichmäßige Auslegung und An— 
wendung des Rechtes forgen. Lebteres jeßt voraus, daß der Gerichtsorganiamus in 
eine oberjte Einheit auslaufe, bis zu welcher die Sache gebracht werden fann. Kann 
nun jede Sache bis in diefe Höchite Inſtanz gebracht werden, jo bedarf es feiner 
Vielheit von R. Das R., wie es für feinen erften und Hauptzweck, den Schuß der 
Parteien, fonjtruirt ift, erfüllt dann immer zugleich auch den andern Zweck, die 
Nechteinheit zu wahren; denn eine wiederholte Prüfung der Rechtsanwendung muß 
das R. ſchon behufs jenes erjten Zweckes auf alle Fälle herbeiführen. Deswegen 
fannten das Römiſche und das Gemeine Recht nur ein eigentliches R., die 
Appellation; denn prinzipiell konnte jede Sache bis zum Kaiſer reip. bis zu den 
Reichögerichten, ala den „unmittelbaren Organen der faiferlichen Jurisdiktion“ 
gebracht werden. Das NR. änderte in der höheren Inſtanz nur feinen Namen 
(Oberappellation), aber nicht jein Weſen. Und auch als die Ueberlaſtung der 
höchiten Gerichte Kaifer und Neich veranlaßte, die Appellation an die Reichägerichte 
durch das Erforderniß einer im Lauf der Zeit mehr und mehr erhöhten Appellations= 
iumme zu beichränfen, waren die hieraus nach NRömifchem Vorbild (retractationis 
auxilium: nov. 82 c, 12) entitandenen neuen Gebilde der Reviſion und der 
Supplifation (Wepell, Syſtem, $ 59) für das Gemeine Recht feine neuen 
R. fondern lediglich der Appellation nachgebildete Surrogate derjelben, wenn fie 
auch partifularrechtlich vielfach zu jelbjtändigen R. neben der Appellation wurden 
(io inäbej. die Leuteration des Sächfiichen Rechtes). — Ganz anders, wenn die 
zum Schuß der Parteien aufgeftellten R. vor der höchiten Inſtanz enden, dieſe alfo 
nur zum Schuß der NRechtseinheit beiteht. Der Zug der neueren Zeit geht dahin, 
die Garantien für richtige und gerechte Entjcheidungen in die Zeit vor dem Richter: 
ipruch zu verlegen, in die Beitimmungen über die Onalififation zum Richteramt, 
über die Stellung des Richters im Staate, über die Bejehung der Richterbanf, über 
die ganze Konjtruftion des Verfahrens; dementiprechend aber die Zahl der möglichen 
Anfechtungen des nämlichen Urtheild durch die Parteien zu befchränfen. So auch 
die neue Deutjche Geſetzgebung. Sie hat den „Grundſatz der drei Inſtanzen“, dem 
übrigens auch für das Gemeine Recht eine gejegliche Grundlage fehlte (Zimmern, 
GSeichichte des Römiſchen Privatrechtes, III. ©. 508; Wetzell, Syitem, $ 54 
Note 26, $ 57 Note 12), aufgegeben. „Den Anforderungen, twelche die Prozeß— 
parteien an den Staat jtellen fünnen, dürfte völlig genügt fein, wenn der Staat den 
Prozekparteien die Möglichkeit gewährt, ihren Rechtsftreit in einem wohlgeordneten 
Veriahren zweimal zu verhandeln und die Entjcheidung zweier wohlbefetter Gerichte 
zu erwirfen“ (Motive zur Deutihen CPO. 1. c. $ 14, ©. 405). Xediglich im 
Intereſſe der Rechtöeinheit geftattet fie die Anrufung der höchſten Inſtanz im Reich, 
des Meichögerichtes. Dadurch aber gelangte fie von ſelbſt zu einer Doppelheit 
der R. Denn die Wahrung der Rechtseinheil erforderte blos eine revisio in jure, 
feine Nachprüfung in thatjächlicher Beziehung. Hierauf ift das R. der Nevijion 
(f. Diefen Art.) beichränft ($ 511 mit $ 524 der RCPO.). Den Intereffen der 
Barteien dagegen ift durch ein jo konſtruirtes R. in ausreichender Weije nicht Genüge 
gethan. Die Unnatur und oft kaum lösbare Schwierigkeit der Trennung der Rechts- 
frage von der Thatfrage, für das R. zur Wahrung der Rechtseinheit ein „noth- 
wendiges Uebel“, würde die Intereſſen der Parteien jchwer gefährden. Vorzüglich 
mit Rückſicht auf diefe Erwägung ift die von den Entwürfen proponirte Aufnahme 
der Revijion auch ald R. zweiter Inſtanz vom Bundesrath reprobirt (ſ. die reiche 
Yiteratur über dieje Trage bei Strudmann, Komment. zu SS 472 ff. der CRD.) 
und in der Berufung (f. diefen Art.) dev REPO. den Parteien ein Mittel ver- 
liefert worden, gegen jede mögliche Art der Berlegung durch das erftrichterliche Ur- 
theil, gegen Unrichtigkeit der thatfächlichen Tejtitellungen jo gut, wie gegen Ver— 
legungen des materiellen oder des Prozeßrechtes (vgl. v. Krieg, ©. 87, 145) fich 
zu ſchützen. Dabei hat fich die Deutſche CPO. — vor die zweifache Möglichkeit 
19* 


292 Rechtsmittel. 


geſtellt, entweder dem Gemeinen Rechte folgend die Berufung ſo anzulegen, daß der 
Oberrichter lediglich zu beurtheilen hätte, ob der Unterrichter das ihm von den 
Parteien vorgelegte Material richtig geprüft habe, daß alſo das Nachbringen neuen 
Materials in der Berufungsinjtanz ausgeichloffen oder doch nur als beneficium (non- 
dum deducta deducendi et nondum probata probandi) unter dem Gefichtspunft 
einer Reftitution erlaubt wäre (Wetzell, Syſtem, 3 56 zu Note 72 ff.); oder dem 
Römischen Rechte folgend in der Berufung gewiffermaßen eine Wiederholung des 
ganzen Nechtöjtreites mit prinzipiell unbeſchränktem Novenrecht zuzulaffen — im 
Hinblid auf die Münpdlichkeit des Verfahrens (Motive 1. c. $ 12) und auf das 
materielle Recht (Hellweg, Ard. LXI. ©. 132; cf. 1.6 $ 1 C. de appell. 7, 
62) für die legtere Konſtruktion entichieden. So verleiht die Berufung „wenn nicht 
actu jo doch potentia” (v. Kries, ©. 150) ein „neues Judicium“, wie die Motive 
1. c. fih ausdrüden. — Hatte nun endlich jchon das Gemeine Recht neben der 
Appellation und ihren Surrogaten noch die Aufftellung einer querela simplex, eines 
„nur uneigentlich jogenannten R.“ (Wetzell, Spyitem, $ 61 nach Note 2) für 
nöthig gehalten, jo Liegt der nämliche Gedanke auch der Beſchwerde (ſ. dielen 
Art.) der REPD. zu Grunde Sie joll, da Berufung und Reviſion nur gegen 
GEndurtheile zuläffig find (SS 472, 507), Schuß gewähren nicht nur gegen Zwiichen: 
urtheile und infofern zum Erſatz der gemeinrechtlichen Zwiſchenappellation dienen 
(Wach, Vortr., S. 181); jondern auch gegen verlegende Beichlüfle und Verfügungen 
den Parteien und Dritten zuftehen. Sie ſoll in diejen Funktionen zugleich „dur 
Ausscheiden nebenjächlicher Streitpunfte den Stoff des Rechtsjtreites für die übrigen 
R. vereinfachen” (Motive zu SS 506 ff. Einl. ©. 526; CPO. 88 473, 510; val. 
auch die ———— Tabelle bei v. Kries, S. 379). Von selbjt ergiebt ſich 
hieraus, daß die Beſchwerde einerſeits, Berufung und Nevifion andererjeits einander 
ausschließen müffen. 

III. Die bisherige Doktrin jtellte folgende Eintheilungen der R. (im Sinne des 
Gemeinen Prozeſſes) auf: 1) In jolche mit oder ohne Sufpenfiveffett, je nachdem die 
Einlegung des R. die Wirkjamkeit der angefochtenen Entjcheidung aufhält oder nicht. 
Das Gemeine Recht attribuirte den Sufpenfiveffeft der Appellation und der Reftitution ; 
verjagte ihn dagegen der einfachen Beichwerde und der querela nullitatis (insana- 
bilis). Die RCPO. anerkennt als ipso jure aufichiebend nur die Berufung und die 
Revifion (SS 644, 645), dagegen nicht die Beichwerde ($ 535 Abſ. 1). Jedoch iſt 
dieje Regel nach beiden Seiten durchbrochen; es ceifirt der Suipenfiveffelt der Be 
rufung und der Nevifion in den Fällen der vorläufigen Vollſtreckbarkeit des Urtheile 
(SS 648 ff.); die Verfagung des Sufpenfiveffettes der Beſchwerde gegenüber gemäß 
Ss 535 Abſ. 1 eit. in allen Fällen, wo aus der ſofortigen Bolljtrefung der Ent: 
icheidung ein unwiderbringlicher Nachtheil erwachjen würde. Ueberdies ijt es dem 
disfretionären Ermeifen des Richters überlaffen, auch in anderen Fällen die Aus: 
jegung der Vollziehung der mit Beichwerde anfechtbaren Entjcheidung anzuordnen 
($ 535, Abi. 2). Von den uneigentlihen R. der CPO. (Hier nur der Kürze wegen 
jo genannt) hat den Suäpenfiveffeft Lediglich der Einfpruch ($ 645). 2) In ſolche 
mit oder ohne Devolutiveffekt, je nachdem das R. die Sache an den höheren Richter 
bringt oder blos nochmalige Prüfung und Entjcheidung bei einem Richter gleicher 
Inſtanz bewirkt. Bon den gemeinrechtlichen R. waren devolutiv die Appellation 
und die einfache Beſchwerde; nicht devolutiv die Nevifion und die Reſtitution; 
während die Nichtigkeitöbefchtwerde nach Wahl des Jmploranten beim höheren oder 
niederen Richter durchgeführt werden konnte. Iſt hiernach jchon für das Gemeine 
Necht dieje Eintheilung mit Recht als eine nicht durchgreifende bezeichnet worden 
(Renaud, Lehrb. $ 172 zu Note 4), jo mußte fie der RCPO. gegenüber für die 
R. im technifchen Sinne von vornherein wegfallen, da diejelben jchon begriffsmäßig — 
die Beſchwerde wenigſtens, inſoweit ſie wirklich R. iſt und nicht blos die Funktion 
einer Gegenvorſtellung verſieht ($ 534) — die Devolution an eine höhere Inſtanz 


Rechtsmittel, 293 


erfordern. Inwieweit aber die einzelnen R. die Sache an den höheren Richter 
bringen, ob nur zur Entjcheidung über Aufrechthaltung oder Aufhebung des an— 
getochtenen Richterfpruches, oder auch zur Abgabe des an die Stelle des aufgehobenen zu 
iegenden neuen Ausfpruches, darüber vgl. die betr. Spezialartifel. Die uneigentlichen 
R. der RCPO. ermangeln des Devolutiveffeftes ſämmtlich, 3) In ordentliche und 
außerordentliche R., meiſt (vgl. über den verfchiedenen Sinn, der mit dieſer Ein- 
theilung verbunden wird, Renaud, Lehrb., 8172 zu N.8; Bolgiano, Zeitſchr. 
für Deutſchen Civ. Prz., II. ©. 114) je nachdem ein R. binnen der für die R. 
regelmäßig bejtimmten Frift gebraucht werden muß oder an diejelbe nicht gebunden 
ft. Ordentliche R. waren nach Gemeinem Recht Lediglich die Appellation (die 
querela nullitatis sanabilis iſt in diejer feit dem JRA. $ 121 aufgegangen) und die 
Reviſion. Was aber unjer Reichsrecht angeht, jo iſt es „Ficherlich ein Verdienft der 
neuen REPD., die zweifelhaften Ausdrücde ordentliche und außerordentliche R. ver- 
mieden zu haben“ (Hinſchius, ©. 1). Die alte Terminologie darf auch weder 
auf Grund des $ 19 noch des $ 20 des EG. zur CPO. im neuen Recht wieder: 
gerunden werden; beide find nur für das Uebergangsſtadium aufgejtellt, und auch 
s 20 (an welchen fich Bolgiano, nachdem er den $ 19 aufgegeben hat, noch ans 
tlammert) enthält lediglich eine zur Vermittlung des Weberganges aufgeitellte Ver— 
gleihung der Nichtigkeits: und der Reftitutionsflage mit den außerordentlichen R. 
des Gemeinen Prozeſſes. 

IV. Was jchließlich das Verfahren anlangt, jo normiren für daffelbe bei der 
Nichtigkeits- und Reſtitutionsklage, eben weil fie an ſich nicht? ala gewöhnliche 
Klagen find, zunächjt und im Ganzen die für die Erhebung und Durchführung von 
Hagen überhaupt geltenden Borjchriiten (vgl. RCPO. $ 548); weil fie aber doc) 
zugleich gegen ein richterliches Urtheil gerichtete Angriffsmittel find, jo ftehen fie 
allerdings nicht nur unter bejonderen, den Zufammenhang mit dem Vorprozeß 
wahrenden Kompetenzvorichriften (REPO.S 547; vgl. mit Wetzell, Syitem, $ 53 
zu N. 98 ff. und 8 60 zu N. 41 ff.), fondern find den R. auch darin angenähert, 
daß fie gleich diefen bejonderen WVorfchriften über Statthaftigkeit, Form und Frift, 
ſowie der Offizialprüfung des Gerichts Hinfichtlich des VBorhandenjeins diefer Voraus: 
ſetzungen unterliegen (vgl. weiter unten und einftweilen SS 549, 552 der RCPO.). 
Dinfichtlich des Verfahrens beim Einſpruch ſ. diefen Art. Bezüglich der eigent- 
lihen R. aber ift die alte Weitläufigfeit eines getrennten Verfahrens beim judex 
a quo und beim judex ad quem der interpositio, Griirfung der apostoli, Di- 
miffion der Sache an den Oberrichter und Edition der Akten einerjeits; der 
supplicatio pro processibus, Jujtififation der Formalien, Reproduktion der Ladung, 
Ulebergabe der Akten, introductio und weiteres Verfahren andererjeits (vgl. Wetzell, 
Syſtem, 88 55, 56, 57) aufgegeben. Das Berfahren fpielt fi) von Anfang an 
beim Oberrichter ab, bei welchem die R. einfach durch Zuftellung eines Schriftjages 
an den Jmploraten eingelegt werden ($$ 479, 515 der REPD.) Nur bezüglich 
der Beichwerbe gilt, im Hinblid auf ihre Funktion ala Gegenvorftellung, Ab— 
weichendes: $ 532 der RCPO. Die Beichwerde zeichnet fich auch font gegenüber 
dert beiden anderen R. aus; fie ift, da fie gewöhnlich feine Suspenfivfraft hat, auch 
nicht an die für die Einlegung der Berufung und Revifion vorgejchriebene einmonat= 
liche Nothirift (SS 477, 514; vgl. damit für die Wiederaufnahmeflagen $ 549 der 
RECPO.) gebunden — nur die forortige Beichwerde muß nach $ 540 binnen einer 
Nothfrift von zwei Wochen eingelegt werden —; fie unterliegt wegen ihrer „mehr 
untergeordneten, nebenjächlichen Bedeutung“ Hinfichtlicy der Anfechtung jelbjt und 
deren Erledigung „thunlichit einfachen Formen“ (Mot.). Dagegen theilt fie mit den 
beiden anderen R. (übrigens auch mit dem Einspruch und den Wiederaufnahmeklagen 
SS 306, 552) die Nothwendigkeit einer richteramtlichen Vorprüfung der Zuläſſigkeit 
des R. vor dem Eintritt in die Prüfung feiner Begründetheit (SS 497, 529, 537). 
Tas Beriahren über die Begründetheit jelbft wird von den großen Prinzipien des 


294 Rechtsmittel. 


neuen Prozeſſes beherrſcht: von der Mündlichkeit, der Einheitlichkeit der Verhandlung, 
vom Anwaltszwang, don der Verhandlungsmaxime. Die Ausnahmen hinſichtlich 
der Beſchwerde ergeben ſich aus 88 532 Abſ. 2; 536. Die Verhandlungsmaxime 
insbeſondere bringt es mit ſich, daß das Gericht — zwar nicht an die Begründung 
des R. durch die Parteienp, aber — an die von den Parteien geſtellten Anträge 
gebunden ijt (SS 487, 499, 522). Daraus ergiebt fich von jelbjt, daß eine re- 
formatio in peius (ſ. diejen Art.), falls das R. nicht beiderjeits ergriffen war, 
nicht jtattfinden kann, es jei denn, daß der Jmplorat dem R. des Jmploranten 
fich angejchloffen hat, was ihm im Hinblick auf das Novenrecht des Jmploranten 
und auf die Befugniß deflelben, jeine Anträge während der mündlichen Verhandlung 
jederzeit zu ändern, durch SS 482, 518 im meitejten Umfang, inäbejondere ohne 
Rückſicht auf die Konnexität der gegenfeitigen Bejchwerden (Mot. zu SS 461, 462 €E., 
©. 516), geftattet ift. Anders war es im Gemeinen Recht, welches eine reformatio 
in peius nicht nur im Fall der appellatio reciproca oder der unferer Anjchließung 
entiprechenden „acceflorischen Adhäfion“ des Appellaten, jondern auch bei einfeitiger 
Appellation von Amtswegen zuließ, weil vom Moment der Introduftion am der 
Appellat das Recht habe, vom Richter die Berüdfichtigung des Intereſſes, welches 
er an der Abänderung des angefochtenen Urtheils habe, ex officio zu verlangen: ſog. 
Semeinschaftlichkeit der Appellation (Wetzell, S 56 zu N. 51 ff., zu N. 68 fi; 
j. jedoch dagegen Renaud, Lehrb., S 180 zu N. 31 ff.). Ueber Verzicht auf X. 
und Zurüdnahme derjelben vgl. 88 (311), 475, 476, 529, (548) und die Speyial: 
artikel über die einzelnen R. 

Lit: Für das Gemeine Redt: zen) — $ 52 und dort die ältere Lit. über die 
N. inggefammt. — Renaub, Lehrbuch, $ 172. — Für ben Deutjchen u Prz.: —— 
Vorträge, S. 178 ff. — Bolgiano, Archiv 8 bie civ. — Bd. LIX. ©. 420 ff.; 
elbe, Zeitichr. für — wn II. S. 110 ff.; III. ©. 199 ff. — Hinihius, air 


be Deut tich. Giv.Prz. 1. — Für bie fremden” —** v. Harraſowski, Die R 
Civ.Prz., 1879. ten he bei den einzelnen R. cit. Yit. Rirkineyer 


Necdhtsmittel (im Strafprozeß). Ebenjo wie im Civilprozeß eine end- 
gültige Enticheidung nothtvendig it, die jeden weiteren Streit ausjchließt, erfordert 
auch der Straiprogeh ein definitives Urtheil über die Schuld oder Unſchuld eines 
Angeklagten. Hier wie dort muß zumächjt angenommen werden, daß der ergangene 
Nichteripruch ein gerechter jei. Jedoch darf die Möglichkeit eines Irrthums in that: 
jächlicher oder rechtlicher Beziehung nicht in Abrede geitellt werden. Zur Verbeflerung 
eines jolchen dienen die R., d. h. diejenigen prozefjualen Maßnahmen, welche die 
Parteien ergreifen können, um die Abänderung einer richterlichen Enticheidung durch 
eine andere, jowol während des Yaufes als nach Beendigung eines Prozeſſes herbei: 
zuführen. In diefem weitelten Sinne ift aber der Ausdrud R. nicht immer zu ver 
jtehen, vielmehr ijt in den verichiedenen Gefeßgebungen verichieden beitimmt, welche 
von diejen NRechtsbehelten technisch als R. bezeichnet werden jollen. Abgejehen von 
dieſen Verjchiedenheiten unterjcheidet man: 1) R. gegen Endurtheile von jolchen gegen 
richterliche Verfügungen und Bejchlüffe, die dem Urtheile vorausgehen ; 2) juspenfive 
von nichtfuspenfiven, je nachdem die Wirkung der angegriffenen Enticheidung durd 
das R. aufgehalten wird oder nicht; 3) devolutive von nichtdevolutiven, je nachdem 
über das ergriffene R. in einer höheren Inſtanz verhandelt wird oder nicht: 
4) ordentliche von außerordentlichen, welche letzteren ſich gegen ein formell rechts— 
kräftiges Urtheil richten. Bei den R. gegen ein Endurtheil kommt es ferner daranı 
an, ob das letztere a) wegen eines faktiſchen oder rechtlichen Irrthums abgeändert 
oder b) aufgehoben werden foll, weil DVerjtöße gegen formellvechtliche Vorſchriften 
das Urtheil nichtig erjcheinen laſſen. 

Im Germaniſchen Prozeß gab es eigentliche R. nicht, nur ein Anſatz dazu 
war in dem ſogen „Urtheilſchelten“ gegeben. Daſſelbe (vgl. Grimm, Deutſche 
Rechtsalterthümer, ©. 865 ff.; Pland, Das Deutſche Gerichtsverfahren im Mittel— 


Rechtsmittel. 295 


alter, I. ©. 268 ff.) beſtand in der Behauptung, daß der Richter, welcher das an— 
gegriffene Urtheil jand, pflichtwidrig gehandelt habe, verbunden mit dem Vorſchlage 
eines bejleren Urtheild. Das Urtheil jchelten konnten nicht nur die Parteien, jondern 
auch jeder Umftehende, jogar ein Mitglied des Gerichtes jelbjt, fobald nur ein 
Schöffe jeine Meinung geäußert hatte. Das weitere Verfahren bejchränfte fich als- 
dann urfprünglich auf den Streit zwifchen dem Schelter und dem Gefcholtenen. Daß 
die Enticheidung durch einen höheren Richter erfolgen mußte und fich auf den ur« 
iprünglichen Parleienftreit bezog, ift erit ein Ergebniß der jpäteren Entwidelung. — 
Von einem wirklichen R.iyfteme fonnte erit nach NReception der fremden Nechte die 
Rede fein. Hier war vor Allem das Römische Recht maßgebend, dem uriprünglich 
ebenfalla R. fremd waren. Die provocatio ad populum, die als ſolches ericheinen 
fönnte, hatte einen durchaus politichen Charakter, fie follte nicht eine gerechtere Ent» 
iheidung herbeiführen, jondern die Gewalt gewiifer Beamten bejchränten. Auch in 
der Kaijerzeit war die Berufung an das Staatsoberhaupt anfänglich wol nur den 
Magiftraten gegenüber zuläffig, die auf Grund einer kaiſerlichen Delegation Recht 
iprahen (vgl. Mommſen, Römiſches Staatäreht, II. ©. 927 ff.). Mit der 
immer weiteren Ausdehnung diejer Delegation wurde die appellatio ein wejentlicher 
Beitandtheil des Strafverfahrens, das fich im dieſer Beziehung formell nur wenig 
vom Givilprogeß unterjchied (vgl. Geib, Geichichte des Römiſchen Kriminalprozeſſes, 
©. 675 ff.). Uebrigens konnte das Urtheil auch ohne Appellation aus manchen 
Gründen als nichtig aufgehoben werden, vgl. titt. D. quae sententiae sine appel- 
latione rescindantur (49, 8), C. quando provocare necesse non est (7, 44). Das 
Kanoniſche Recht entwidelte die römijcherechtlichen Grundjäße weiter, und jo war es 
denn bezüglich des Akkuſationsprozeſſes zweitellos, daß jowol Kläger wie Bellagter 
fich der Appellation bedienen konnten. Bezüglich des Inquiſitionsprozeſſes war das 
zweiielhait und jedenfalls die Appellation an das Neichstammergericht verboten. Dies 
war ein Zugeftändniß an die Territorialgewalt, ohne daß die betreffenden Reichs: 
gejege (3. B. Abſchied des Meichdtages zu Augsburg 1630 $ 95; Kammer 
gerichtsordnung von 1555 Ih. II. Tit. 28 $ 5) über die Zuläffigkeit von R. inner: 
halb der Territorien jelbft etwas hätten feitjegen wollen. Man nahm jedoch das 
Gegentheil an, und diefe Anficht, der auch Carpzow beitrat, behielt in den Landes— 
geieggebungen das Webergewicht. Da jedoch thatfächlih R. nicht zu entbehren waren, 
führte man ebenfalls auf Grund der Autorität Garpzomw’s ein Remedium ul- 
terioris defensionis ein. Auch der Rekurs an den Landesherrn wurde jtellenmweije 
zugelaffen, jedoch konnte derjelbe nur auf dem Wege der Gnade nachgefucht werden, 
Allmählich jedoch fam auch die Appellation wieder in Aufnahme, jo daß zulekt, ab» 
geiehen von der zuläfligen Beichwerde gegen vorläufige Feſtſetzungen und der In 
integrum restitutio contra rem iudicatam (Wiederaufnahme des Verfahrens) als 
R. des Gemeinen Strafprozeſſes erjcheinen: 1) die Appellation, 2) die weitere Ver— 
theidigung, 3) die Nullitätsquerel. Die Appellation (Provokation, Berufung) jowie 
die weitere Vertheidigung (Läuterung, Supplifation, Revifion) waren auch gegen 
Zwifchenurtheile zuläffig und bezwedten eine Abänderung der erjten Sentenz, welche 
fie als iniqua bezeichnen, eventuell auf Grund neuer Thatjachen, jo daß eine Nach- 
inftruftion nöthig werden konnte. Sie unterjchieden fich dadurch, daß die Appellation 
ſtets Devolutiv- und Suspenfiv-Effeft Hatte, dafür aber an bejtimmte Formen und 
Friſten gebunden war, während die Supplifation eine Devolution niemals und eine 
Suspenfion nur dann berbeiführte, wenn fie innerhalb des Decendium (dev zehn: 
tägigen Appellationsirift) eingelegt war. Sie konnte jo lange wiederholt werden, 
bis tres conformes sententiae ergangen waren. Die Nullitätsquerel (Nichtigkeits- 
beichwerde) ftüßte fich auf die Behauptung, daß das erjte Urtheil formell ungültig 
jei: Sie hatte ftet3 Devolutiv- und Suspenſiv-Effekt und führte nie Abänderung, 
iondern Aufhebung oder Bejtätigung des früheren Urtheils herbei. Außerdem kommt 


296 Rechtsmittel. 


noch eine Revifion ex officio der Obergerichte vor, welche aus dem Oberauffichte- 
rechte des Staates abgeleitet wurde. 

Im Englijchen Recht dienen ala R.: 1) writ of certiorari, durch welches 
die Entjcheidung entweder der ganzen Sache oder einer einzelnen Rechtäfrage vor dem 
höchſten Gerichtähofe Queen’s bench ermöglicht wird; 2) motion in arrest of judge- 
ment, durch welchen Antrag in Fällen einer mangelhaften Prozedur die richterliche 
Enticheidung nad ergangenem Spruch der Geichworenen aufgehalten werden fann. 
Wird der Antrag angenommen, jo muß in einer neuen Verhandlung auch ein neues 
Gejchtworenenverdift erfolgen; 3) writ of error (Nichtigkeitsbeſchwerde), welches eine 
Aufhebung, mit der meift Freifprechung verbunden ift, und neuerdings auch eine Ab: 
änderung des früheren Urtheils herbeiführen kann; 4) motion for a new trial. 
Diefer Antrag auf Anberaumung eines neuen Termines kann zwar bei jeder Rechte: 
verlegung, aber nur in Vergehens- nicht auch Verbrechensfällen geftellt werden und 
unterliegt auch fonft manchen Einſchränkungen. Außerdem kann neuerdings die Ent: 
icheidung einer ftreitigen Rechtsfrage ausgejeßt werden, der Art, daß das gleichwol 
in der Hauptſache gefällte Urtheil bezüglich feiner Rechtsbejtändigkeit von der Ent: 
icheidung über die in suspenso gelafjene Rechtäfrage abhängt. Näheres bei Glaſer, 
Anklage, Wahrſpruch und R. ıc., ©. 424 ff. 

Das Franzöſiſche Necht fteht auch im diefer Materie dem Inquiſitions— 
prozefje weit näher ala das Engliſche. Es ericheinen ala R.: 1) Opposition, d. b. 
Einspruch gegen eine richterliche Verfügung einfchließlich des Urtheils, welche ohne 
Anhörung des von der fraglichen Maßregel Betroffenen ergangen war. Derielbe hat 
feinen Devolutiv-Effeft. 2) Appel, Berufung, welche dazu dient, eine Abänderung 
unrichtiger Verfügungen oder Gntjcheidungen durch den höheren Nichter herbei: 
zuführen. Sie kann von allen Betheiligten, jedoch nicht gegen Urtheile der tri- 
bunaux de simple police, welche eine Geldjtraie von höchitens 5 Franes verhängen, 
und niemal® gegen Urtheile der Geichworenengerichte, innerhalb einer beitimmten 
Frift ergriffen werden und hat Devolutiv- und Suspenfiv-Effeft. Das Appellations- 
gericht (Chambres correctionelles für die Polizeigerichte — Cours d’appel für die 
Chambres correctionelles) entjcheidet nach vorgängiger münbdlicher Verhandlung, in 
welcher beliebig nova vorgebracht werden fönnen, 8) Demande en cassation 
(Nichtigkeitöbefchwerde), die allen Prozeßbetheiligten jedoch nur dann zufteht, wenn 
Berufung entweder nicht möglich oder ſchon verbraucht ift. Ueber fie enticheidet 
ausjchließlich der höchſte Gerichtähof (cour de cassation). 4) Demande en revision, 
der nur in jehr beſchränktem Maße zuläffige Antrag auf Wiederaufnahme des Ver: 
fahrens nach rechtöfräftigem Urtheil. — Außerdem kann der Generalprofurator 
dafür Sorge tragen, daß Urtheile, welche gegen das Geſetz veritoßen und nicht an= 
gefochten worden find, durch den Kaſſationshof für nichtig erklärt werden, sans pre- 
judice du droit des parties interessees. 

Die neuen Deutjchen Strafprozeßgeſetze (jeit 1848) haben ſich meift an das 
Franzöſiſche Recht angelehnt. Als Hauptjächlichitte R. kommen Berufung und 
Nichtigkeitöbeichtverde in Betracht; über Näheres vgl. Zahariä, II. ©. 616 ff. 

Die Defterreihifche StrafPD. gewährt als R.: 1) Beichwerde gegen 
richterliche Verfügungen, welche in der Regel Devolutiv- aber feinen Suapenfiv- 
effeft hat (vgl. 3. B. 88 45, 49, 63, 64, 113, 114, 197, 352, 357, 8392, 
395, 480, 481, 489, 491, 494). 2) Einſpruch gegen die Verfegung in den Ans 
flageftand (58 208 ff., vgl. $ 421), für Zeugen und Sachverftändige gegen eine 
Verurtheilung wegen Ausbleibens ($ 243), gegen ein Kontumazialerfenntniß ($ 427, 
vgl. $ 478), gegen ein Strafmandat ($ 462), gegen eine richterliche Entjcheidung 
im fogen. objektiven Strafverfahren in Preßjachen ($ 493). 8) Berufung, welche 
der Regel nach nur gegen den Ausſpruch über die Straie ($ 288) und in ſchwur— 
gerichtlichen Berhandlungen auch wegen der Enticheidung über privatrechtliche Aus— 
Iprüche ($ 345) ergriffen werden kann. Nur für die Urtheile der Bezirksgerichte 


Rechtsmittel. 297 


vertritt fie zugleich die Nichtigkeitsbeſchwerde ($$ 463 ff.). 4) Nichtigkeitsbeſchwerde, 
welche bezüglich aller Endurtheile auf Grund beſtimmter Nichtigkeitsgründe (88 281, 
344) zuläſſig iſt und an den Kaſſationshof gerichtet werden muß. 5) Wieder— 
aufnahme des Verfahrens (SS 352 ff.). 6) Wiebereinfeßung gegen den Ablauf von 
driften ($ 364). 

Die Entwürfe einer StrafPO. für das Deutjche Reich hatten ala R. nur 
Veihwerde und Revifion aufgenommen, da fie von der Anficht ausgingen, daß 
in einem wirklich auf Mündlichkeit beruhenden Berfahren ein Platz für die Be— 
rufung nicht mehr übrig ſei. Die Reichsjuſtizkommiſſion nahm diejelbe jedoch für 
die Urtheile der Schöffengerichte wieder auf, jo daß jetzt als R. im Sinne der 
StrafPO. Beichwerde, Berufung und Revifion anzufehen find. Diefelben jtellen 
Rechtsbehelfe gegen noch nicht rechtskräftig gewordene richterliche Verfügungen dar, 
durch deren Anwendung ein höheres Gericht mit der Enticheidung betraut wird. 
Suspenfiveffett dagegen iſt fein charakteriftiiches Merkmal der R., da derjelbe nur 
der Berufung und Revifion beigelegt ift, für die Beſchwerde dagegen jein Eintritt 
vom richterlichen Ermeſſen abhängt. Die Beichwerde richtet ſich gegen Beichlüffe 
und Verfügungen, Berufung und Revifion gegen Gndurtheile. Die Revifion ift 
fatthaft, 1) wenn wegen der Verlegung wichtiger Prozeßnormen ein gültiges Urtheil 
überhaupt nicht vorliegt, 2) wenn der Richter aus den von ihm feftgeitellten That— 
ſachen rechtsirrthümliche Folgerungen abgeleitet hat. Auf eine Prüfung des that- 
ſächlichen Materiales darf fich der Revifiongrichter in feinem alle einlafjen. Die 
Berufung dagegen dient recht eigentlich dazu, das ungenügende Material des erjten 
Richters zu ergänzen, wobei es nicht darauf ankommt, ob der gerügte Mangel bei 
Beurtheilung der Thatfrage dem Richter zur Laſt fällt, von den Parteien verjchuldet 
wurde oder ein unvermeidlicher war. Nova können in der Berufungsinftanz vor— 
gebraht werden, auch wenn fie jchon zur Zeit der eriten Verhandlung bekannt 
waren. — Diejer Unterfchied zwischen Berufung und Revifion ift freilich zum Theil 
dadurch verwijcht, daß die Berufung, wo fie zuläffig iſt, die Revifion ausſchließt, 
deren Funktionen aljo mit übernehmen muß, jo daß der Berufungsrichter die Ans 
griffe ſowol auf die formelle Rechtsbeitändigfeit des Verfahrens in erjter Inftanz, 
wie auf die dort getroffenen Entjcheidungen über That» und Rechtsfragen zu 
brüfen bat. (Im Einzelnen vgl. die betreffenden Artikel.) — Keine R. im technifchen 
Sinne find die übrigen in der StrafPO. zugelafjenen Rechtöbehelie, ala: Gejuch um 
Wiedereinjegung in den vorigen Stand, Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens, 
auf gerichtliche Entjcheidung gegenüber einer polizeilichen Strafverfügung, Ein- 
ſpruch gegen den amtärichterlichen Strafbeiehl u. j. w. (vgl. die betr. Artikel). 
Auch der Einwand fann ala R. nicht betrachtet werden. Das verjteht ſich be— 
züglich des Ginwandes der Unzuftändigkeit (SS 16, 18; vgl. den Art. Gerichts- 
ftand, ©. 108) und der Einwendungen gegen die Gröffnung des Hauptverfahrens 
(S 199) von jelbit, da diefelben nicht Rechtsbehelfe gegen richterliche Verfügungen, 
fondern Einreden gegen die Zuläffigkeit des ganzen Verfahrens darjtellen, über welche 
eine richterliche Entjcheidung erft noch zu erfolgen hat. Der Einwand gegen die 
Gröffnung der Vorunterfuchung ($ 179) jteht materiell der Bejchwerde injofern gleich, 
ala er fich gegen eine Verfügung der Straffammer richtet, nur fommen die für jene 
vorgejchriebenen Formen und Friiten nicht zur Anwendung und außerdem fehlt ihm 
der Devolutiveffelt. Der ferner noch zuläffige Einwand gegen die Ablehnung eines 
Antrages auf Aufichub der Strafvollitredung ($ 490) wendet fich gegen eine Ber- 
fügung nicht des Richters, fondern der Staatsanwaltichait und kann jchon deshalb 
als R. nicht bezeichnet werden. Das ift infofern auch praftiich von Bedeutung, ala 
die allgemeinen Beftimmungen, welche im erſten Abjchnitt des dritten Buches der 
StrafPO. für die R. gegeben find, nicht auch. für die übrigen Rechtsbehelie gelten. 
Rırr für die Wiederaufnahme des Verfahrens hat $ 405 auadrüdlich eine Ausnahme 
gemacht (vgl. auch $ 401 N. 2). Daß eine folche auch für die Wiedereinfegung 


298 Rechtsmittel. 


in den vorigen Stand, wenigſtens bezüglich der Berechtigung, ein derartiges Geſuch 
zu Gunſten des Beſchuldigten anbringen zu können, gemacht werden müſſe, nimmt 
Löwe, ©. 236 N. 3b, an. Doch wird man gegenüber den von ihm geltend 
gemachten Gründen der Billigfeit und angeblichen Folgerichtigfeit daran tefthalten 
müffen, daß nach dem Wortlaut des S 44 der betreffende Antrag nur von dem 
geitellt werden kann, der die Friſt ſelbſt verjäumt hat. 

Die den R. gemeinfamen Beltimmungen (SS 338 — 345) betreffen: I. die 
Yegitimation zur Ginlegung; I. die Formen, in welchen ein nicht auf freiem Fuß 
befindlicher Beichuldigter die auf R. bezüglichen Erklärungen abgeben kann; II. die 
Zurüdnahme eines R. und den Verzicht auf ein jolches; IV. die Wirkung der von 
der Staatsanwaltichaft eingelegten R. 

I. Die Einlegung von R. fteht zu: A. Allen Prozeßbetheiligten, alfo 1) dem 
Beichuldigten. Derſelbe fann auch durch Andere vertreten werden, welche a) in 
jeinem Namen handeln. Dahin gehören: der VBertheidiger (F 340), d. b. der 
jenige, welcher in dem vorausgehenden Verjſahren als folcher jungirt hat, nicht aud, 
wer erit in der R.inftany als Vertheidiger auftreten will, wie das v. Kries, 
©. 21, anzunehmen jcheint. Gin jolcher nachträglicher Vertheidiger bedarf einer 
Legitimation von Seiten des Angeklagten, um R. wirkſam für ihn einlegen zu 
fönnen; vgl. Erkenntniß des Reichagerichts vom 16. Januar 1880 (Entjcheidungen, 
1. ©. 71) und 14. Februar 1880 (Nechtiprehung, I. ©. 356). Ferner: die An— 
gehörigen eines abweienden Angeklagten; welche Perjonen darunter zu veritehen 
find, ift ungewiß, in der StrafPO. wird der Musdrud nicht als term. techn. be 
handelt (val. SS 22, 51, 54, 149, 401; ferner 982, 106, 328, 486, auch 483). 
63 wird der Richter alfo im einzelnen Falle zu enticheiden haben, ob die betreffende 
Perjon ein Angehöriger des Angeklagten ijt, ohne daß ihm dabei $ 52 Abi. 2 des 
StrafGB. unbedingt bände, wie v. Schwarze (Kommentar ©. 485 N. 2) an: 
zunehmen jcheint; vgl. v. Kries, ©. 23. Die vermuthete Vollmacht diefer Perſonen 
hält natürlich gegenüber einer ausdrüdlich desavouirenden Erklärung des Be 
ichuldigten nicht Stich. b) Kraft eigenen Rechtes können bei Ginlegung von R. für 
den Beichuldigten vorgehen, alfo auch gegen jeinen Willen handeln: jein geieglicher 
Vertreter jowie der Ehemann einer beichuldigten Frau (S 340). Wer als geieh- 
licher Vertreter anzujehen ift, fann nur auf Grund der geltenden civilrechtlichen Be: 
jtimmungen entjchieden werden. 2) Die ftrafverfolgenden Parteien, d. 5. die Staats— 
anmaltichaft, eventuell auch die Verwaltungsbehörde (SS 464—469), der Privat: 
($S 430, vgl. S 433) und der Nebenkläger (S 441, val. $ 443). B. Andere Per: 
jonen, welche durch die betreffende gerichtliche Entjcheidung beichwert werden. Die 
Grogreiftung von R. gegen Gndurtheile ift in der StrafPO. ($ 479) nur bei dem 
jog. objektiven Strafverfahren für diejenigen gejtattet, welche einen rechtlichen Ans 
ipruch auf den Gegenjtand des Verfahrens haben, wol auch dann, wenn fie in erjter 
Inftanz nicht auftreten (anderer Meinung: Voitus, 466; v. Schwarze, Kom: 
mentar, ©. 600). Bezüglich der Möglichkeit einer analogen Ausdehnung diejer Be— 
ftimmung vgl. v. Kries, ©. 25 ff. Das. der Beichwerde kann ſtets von Allen 
gebraucht werden, welche durch eine Verfügung oder einen Beichluß betroffen werden 
(vgl. $ 346 Abi. 2). Die Staatsanwaltichait und der Beichuldigte find bezüglid) 
des Gebrauches der R. prinzipiell gleichgeitellt. Auch die Friſten zur Ginlegung 
find von gleicher Dauer. Daß fie einen verjchiedenen Aniangstermin haben können, 
3. B. wenn der Angeklagte bei der Verkündigung des Urtheils nicht anweſend war 
($ 355 Abſ. 2, 8 381 Abi. 2), hängt damit zuſammen, daß der Angeklagte erit 
jpäter authentifche Kenntniß don dem ergangenen Urtheile erhielt. Andere jcheinbare 
Verichiedenheiten erklären fich wol daraus, daß nur der ein R. anwenden kann, 
welcher fich durch eine Enticheidung beichwert fühlt. Das ift auf Seiten des An- 
geflagten nicht der Fall, wenn er für unjchuldig erflärt wird; bezieht dagegen die 
Freiſprechung fich nur anf die Strafe, jo wird er ein R. ergreiten fünnen. Gleicher 


Rechtsmittel. 299 


Anfiht: Löwe, ©. 601N. 2b; v. Kries, ©. 49; anderer Meinung: v. Schwarze 
(in v. Holgendorif’ S Handbuch, 1. ©. 251), weil das rechtliche Intereffe des 
Angeklagten fich auf Nichtverhängung einer Strafe beichränfe. Das iſt einmal nicht 
ganz richtig, 3. B. wenn bezüglich eines jugendlichen Verbrechers die erziehende Maß— 
regel der Unterbringung in eine Befjerungsanftalt angeordnet wird, dann aber läßt 
diefe Anficht doch zu jehr die Nüdficht auf das fittliche Empfinden außer Acht, 
deren der Staat fich in feinem eigenjten Intereffe nicht entjchlagen darf. Außerdem 
ioricht jedenfalls die Beitimmung des $ 266 Abi. 4 dafür, daß das Gejeh den 
Unterfchied zwijchen „nicht jchuldig“ und „nicht jtrafbar” keineswegs für irrelevant 
hält. — Daß im Falle des 8 209 Abſ. 2 dem Beichuldigten ein R. verjagt ift, 
welches dem Staatsanwalt zufteht, it nur eine jcheinbare Beeinträchtigung, denn 
der Beichluß, durch welchen das Verfahren eingeftellt wird, fteht in feiner direkten 
Wirkung dem freiiprechenden Endurtheile gleih. Bezüglich der Zuläffigkeit der 
Biederaufnahme des Verfahrens ift allerdings ein Unterjchied vorhanden (val. $ 210 
mit $ 402), welcher ein Endurtheil erwünfchter fcheinen läßt, doch hat der Be— 
ihuldigte einen rechtlichen Anfpruch nur darauf, daß über jeine Schuld oder Uns 
ſchuld eine gerichtliche Enticheidung erfolge, nicht aber darauf, daß dies durch ein 
Endurtheil geichehe. Ebenſowenig wird der Angeklagte * den Beſchluß beſchwert, 
welcher über die ſachliche Zuſtändigkeit nach Maßgabe des S 270 entſcheidet, da er 
das Urtheil des für zuftändig erklärten Gerichtes — auf Grund des 8 377 
N. 4 anfechten kann. — Die Staatsanwaltſchaft iſt keineswegs eine reine Prozeß— 
partei, ſondern eine Vertreterin des ſtaatlichen Intereſſes, das durch die Verurtheilung 
nicht des Angeklagten, jondern des Schuldigen gewahrt, durch ein ungerechtes Urtheil 
aber ftets verlegt wird. Giner jolchen Berlegung gegenüber hat der Staatsanwalt 
die Pflicht, ſich der zuläffigen R. zu bedienen, und es iſt mur eine nothivendige 
ſtonſequenz, wenn $ 338, Abi. 2 der Staatsanwaltichait die Berugniß einräumt, die 
R. auch zu Gunften des Beichuldigten anzumenden. Damit ift nicht ein dispofitiveg 
Recht eingeräumt, jondern eine Pflicht auferlegt, die in allen Fällen ausgeübt werden 
muß, wo die gegen den Beichuldigten ausgefallene Enticheidung ungerecht erjcheint, 
ohne daß auf die im Laufe des Verfahrens von der Staatsanwaltichait geftellten 
Anträge oder den Willen des Bejchuldigten ankäme. Ob im einzelnen alle das 
R. zu Gunften oder Ungunjten des Beichuldigten ergriffen jei, wird das Gericht zu 
enticheiden haben. Vgl. über dieje Trage Löwe, ©. 602 N. 8. — Dieje Pflicht 
geht auf die anderen ftrafverfolgenden Parteien nicht über. Daran ändert auch 
s 430 nichte. Derjelbe räumt allerdings dem Privatkläger (vgl. SS 437, 465 ff.) 
Diejenigen R. ein, welche in dem Berfahren auf erhobene öffentliche Klage der 
Staatsanwaltichaft zuftehen, jagt aber nicht, daß er fich ihrer auch in derjelben 
Weife bedienen könne. Wenn die R. des Privatllägers fchon an fich diefelbe Be— 
deutung hätten wie die der Staatsanwaltjichait, jo wäre es jedenfalls überflüſſig 
geweien, die Anwendbarkeit des S 343 noch beionders hervorzuheben. Die Be: 
rathungen der Meichsjuftizlommiffion (Protof. ©. 664; Hahn, 1097) geben 
sar feinen Auffchluß. Der Antrag v. Schwarze’s, dieſe Befugniß für den Privat: 
fläger ausdrüdlich auszuschließen, wurde abgelehnt, ohne daß fich erfennen ließe, ob 
man ihn für unrichtig oder für überflüflig hielt. (Gleicher Anficht: Dalde, ©. 261; 
Thilo, ©. 483 NR. 1; Bomhard und Koller, ©. 314; v. Kries, ©. 47; 
anderer Meinung: Löwe, ©. 705 N. 2, v. Chwarze, Komment., ©. 571, 
val. Dagegen die Ausführung in vd. Holtzendorff's Handb., II. 250; Keller, 
©. 471 N. 2; Dochow, ©. 95; Puchelt, ©. 725 N. 2.) — Natürlic” macht 
cs bezüglich der Staatsanwaltjichaft einen Unterfchied, ” fie für oder gegen den Be— 
ſchuldigten handelt. Während fie im letzteren alle, 3. B. durch Verlegung von 
Rechtänormen, welche lediglich zu Gunften des Angeklagten gegeben find, nicht ber 
ſchwert ericheint (vgl. $ 378), kann fie im erjten die Reviſion auch auf diejen Grumd 


300 Rechtsmittel. 


ftügen. Eine wirkliche Beichränktung ihrer Thätigkeit zu Gunften des Freigeſprochenen 
enthält dagegen $ 379. 

II. Eine beitimmte Form für die Ginlegung der R. ift nicht vorgeichrieben, fie 
kann jchriftlich oder zu Protokoll des Gerichtsfchreibers bei dem zuftändigen Gerichte 
geichehen, und nur darauf fommt es an, daß die nothiwendigen Erklärungen inner: 
halb der gefeglichen Friſt an das Gericht gelangen, gegen defien Enticheidung das 
R. ergriffen werden joll. Gin Irrthum in der Bezeichnung deſſelben iſt unſchädlich 
($ 342), ein Zweifel im einzelnen Falle auch faum möglich, da eine Wahl zwiſchen 
verichiedenen R. niemals gegeben ift, jobald nur die Erklärung deutlich erfennen 
läßt, daß ein R. ergriffen werden jollte. Dazu genügt allerdings nicht die Bitte 
um Grtheilung einer Abjchrift des Erfenntniffes (vgl. Erfenntniß des Reichsgerichts 
vom 2. Dezember 1879, Rechtipr. I. ©. 110), wol aber eine Erklärung, jotort nad 
Verfündung der GEnticheidung, die eventuell in der Sitzung ſelbſt zu Protofoll 
genommen werden muß. (Anderer Meinung: Löwe, ©. 617 N.5; v. Kries, 
©. 62.) Ob die Einlegung durch ein Telegramm geichehen könne, iſt zweifelhaft; 
das Reichögericht verneint es, vgl. 3. B. Erf. v. 3. Febr. 1880 (Entich. I. ©. 262), 
auh Zimmermann im Gerichtöjaal Bd. XXX. ©. 263 fi. — Tür den nicht 
auf freiem Fuß befindlichen Beichuldigten ift die Ginlegung noch dadurch erleichtert 
($S 341), daß 1) er die betreffenden Erklärungen zu Protokoll des Gerichtäfchreibers 
desjenigen Gerichtes geben kann, in defien Gefängniß er fich befindet und falls das 
Gefängniß fein gerichtliches ift, Ddesjenigen Amtsgerichte, in deſſen Bezirke das 
Gefängniß liegt; 2) die Friſt Schon gewahrt ift, wenn innerhalb derjelben das 
Protokoll aufgenommen wurde, wenn auch die Weberreichung an das zuftändige 
Gericht erit jpäter erfolgt. ‚Schriftliche Erklärungen eines Berhafteten unterliegen 
dagegen den allgemeinen Regeln. 

III. Auf die Einlegung eines R. kann verzichtet werden, entweder ftillfchweigend 
durch Verfäumung der Friſt oder ausdrüdlich durch eine Erklärung, welche zwar 
feiner bejtimmten Formen bedarf, aber in authentifcher und nicht mißzuverſtehender 
Weile zur Kenntniß des Gerichtes gebracht werden muß. Es genügt 3. ®. die 
mündliche Erklärung unmittelbar nach Verkündigung des Urtheile, daß man fich bei 
demjelben beruhige (vgl. Grfenntniß des Neichsgerichtse vom 1. Juni 1880, Entſch. 
1I. ©. 78), welche aladann durch das Situngsprotofoll zu befunden ift. Zurüd- 
genommen kann derjelbe nicht werden, e& jei denn, daß er vorzeitig, 3. B. vor Er: 
Öffnung der Urtheilsgründe ausgeiprochen war, oder die Erklärung, daß man ein 
R. einlegen wolle, früher an das Gericht gelangt ala die vorher, 3. B. zu Protokoll 
eines Gefängnißbeamten, ausgeiprochene Verzichtleiftung (vgl. Erfenntniß des Reich“ 
gericht vom 31. Januar 1880, Entſch. I. ©. 92). — Dem Berzichte gleich jteht 
im Allgemeinen die Zurüdnahme eines jchon eingelegten R. (S 344). Jedoch kann: 
a) ein von der Staatsanwaltichait zu Gunften des Beichuldigten eingelegtes R. ohne 
deſſen Zuftimmung nicht zurüdgenommen werden ($ 344); b) wenn die Entjcheidung 
über das R. auf Grund mündlicher Verhandlung ftattzufinden hat, die Zurüdnahme 
nach Beginn der Hauptverhandlung nur mit Zuftimmung des Gegners erfolgen 
(8 345). Der Grund für dieſe erit von der Reichsjuftizlommilfion aufgenommenen 
Beitimmung war die Erwägung, „daß es der Staatdanwaltichaft nicht zuftehen dürfe, 
das Gericht an der Grlafjung einer dem Beichuldigten günftigen Gnticheidung zu 
hindern“ (vgl. Löwe, ©. 607 N. 2, der mit Recht darauf aufmerffam macht, dat 
diefeg Argument jedenfall unzureichend ſei, da es bei den vom Beichuldigten 
gebrauchten R. feine Bedeutung habe; vgl. auch dv. Kries, ©. 114 N. 49). — 
Die Vorſchrift des 5 344 Abf. 1 findet auf die R., welche der gejeßliche Vertreter 
oder der Ehemann für den Beichuldigten eingelegt haben, feine Anwendung, vielmehr 
fünnen dieſelben auch ohne Zuftimmung des Letzteren zurüdgenommen werben. 
Anderer Meinung: Löwe, ©. 606 N. 8 (vgl. auch die dort pro und contra Gitirten), 
weil der Beichuldigte vielleicht gerade in Rücdficht auf die von anderer Seite 


Rechtsvermuthungen. 301 


geſchehene Einlegung ſeinerſeits das R. nicht angewendet habe. Dieſe zwar un— 
zweifelhaft berechtigte Erwägung dürite dem Schweigen des Geſetzes gegenüber doch 
nicht durchichlagend jein, umfoweniger, als die in $ 340 erwähnten Perjonen in dent 
Gebrauch der R. volllommen jelbitändig find. — Gegen jeinen Willen kann das 
von dem Beichuldigten eingelegte R. von einem Andern natürlich niemals zurück— 
genommen werden. Der Bertheidiger bedarf dazu einer ausdrüdlichen Vollmacht 
($ 344 Abi. 2). 

IV. So weit die angewendeten R. Suöpenfiveffeft haben, erjtredt fich derielbe 
nur auf die Theile der Gnticheidung (de Urtheilstenors), gegen welche fich der 
Angriff richtete. Eine allgemeine Nachprüfung durch das Gericht der höheren Inſtanz 
findet nicht ftatt, dafjelbe bleibt vielmehr bezüglich der Ausdehnung feiner Thätig— 
feit an die Parteienanträge, wenn auch nicht an deren Begründung, gebunden. 
Gin Unterfchied zwiichen Revifion und Berufung beiteht in diejer Beziehung darin, 
daß bei erjterer beitimmte Anträge unerläßlich find ($ 348), bei lehterer eine jolche 
Sprzialifirung nicht erfordert, vielmehr angenommen wird, daß eine auf bejtimmte 
Punkte nicht bejchränfte und nicht näher begründete Berufung den ganzen Inhalt 
des Urtheila anfechte ($ 359). Das iſt im heutigen StrafPrz. um jo eher zuläflig, 
ala das Intereife des Staates durch die Staatsanwaltichaft wahrgenommen wird. 
An diefem Berhältniß will auch $ 343 nichts ändern, derjelbe macht vielmehr nur 
zu Gunſten des Beichuldigten eine Ausnahme von dem Cab, daß ein eingelegtes 
R. nur eine Abänderung zu Gunjten des Einlegenden herbeiführen kann (vgl. den 
Art. Reformatio in peius). Daß jedes von der Staatsanwaltichait eingelegte 
N. die Wirkung hat, daß die angefochtene Entjcheidung auch zu Gunften des Be— 
ihuldigten abgeändert oder aufgehoben werden fann, Heißt nur die Sadje ijt in 
zweiter Inſtanz geradejo zu behandeln, ald wenn fich der Beichuldigte dem R. der 
Staatsanwaltichait angeichloffen hätte. Cine jolche im früheren Recht zuläffige An— 
ichlußerflärung kennt übrigens die StrafPD. nicht, doch wäre die Abgabe einer ſolchen 
innerhalb der geſetzlichen Friſt wol als jelbjtändige Ergreifung des R. zu behandeln. 


(Bal. Ert. des Reichögerichtes vom 10. yebruar 1880, Entich. I. ©. 196.) 

git.: Walther, Die R. im Strafverfahren x. 2. Abth,, München 1853 und 1855; 
dort vgl. auch die Angaben der älteren Lit. -- Mittermaier, Die een u. Redti- 
übung über Strafverfahren nach i — neueſten Fortbildung, 1858, — Pland, 
Spftematiiche Darſtellung T Deut rg Strafv — ©. 499 ff. — 32 gandbuc 
des Deutichen StrafP Per. U ©. 570 fi. — Drtloff im Gerichtafaal 1871 184 ff., 
321 * — — R trafPrz., 3. Aufl., S. 289 ff. — John, Das Deutfche ae 
recht, S — v. une e in vd. Holpenborff' 3 Handbuch des Deutichen Etraf- 
zone ea f. — Geyer, —— des gemeinen Deutſchen — — 
S. — v. Kries, Die R. des Giv rz. und des Strafßrz., 1880. — me Kommentare 
= m. von Bombard u. Koller, ©. Er ff.; Dalde, ©. 07 ff; Keller, 

371 f.; Löwe (2. Aufl), ©. 599 ff.; Pudelt, S . 527 ff.; v. Schwarze, &. 489 ff.; 


Thilo, e. 394 ff., Voitus, ©. 346, v. Lilienthal. 
Rechtsvermuthungen. „Etwas vermuthen“ Heißt im Allgemeinen: es als 
Thatſache annehmen, vorausjegen — ohne vollfommenen Beweis. Ob 


die angenommene IThatjache eine äußere oder innerliche (piychologiiche) ift, ob eine 
vergangene gegenwärtige oder zukünftige, ob Zuftand, Berhältniß oder Er— 
eigniß, ift für den Begriff der Vermuthung an fich gleichgültig. Die Ausdrücke 
„praesumere*, „praesumtio“ find noch ungleich vieldeutiger; fie jchließen auch ziemlich 
abwegige Begriffe, wie „anmaßen“, „Anmaßung“, „vorher thun“, „vorher ges 
brauchen” u. a. in fih. In dem Sinne jedoch, in welchem fie in den Deutfchen 
Sprachgebrauch übergegangen find, — und nur in diefem haben die beiden Worte 
für Die heutige Jurisprudenz technifche Bedeutung — bejagen fie durchaus dafjelbe, 
wie nach dem Vorbemerkten „vermuthen“ und „Vermuthung“. 

Dies vorausgeſchickt erklärt fich zunächit die befannte Eintheilung der Präfum: 
tionen in praes. hominis s. facti (einfache richterliche oder faktiſche Vermuthungen) 
und praes. juris (R.) ohne Schwierigfeit. 


302 Rechtsvermuthungen. 


Faktiſche Vermuthungen find alle Annahmen, Vorausſetzungen von 
Ihatjachen, zu denen ein denfender Menſch — trog Mangel vollfommenen Be: 
weiſes — durch die Erfahrung veranlaßt wird. Hieraus folgt unmittelbar 
ein Doppeltes für die Beantwortung der Frage, welche Rolle den jaktischen Ver: 
muthungen im Prozeß zulommt. Gritens kann eine praes. facti niemals Plat 
greifen, wo es an jeder Beweisführung fehlt, jondern immer nur als Reſultat eines 
unvollftändig erbrachten Beweiſes. Zweitens kann fie nur in Betracht kommen, 
wo und ſoweit dem Richter eine Beurtheilung der vorgebrachten Beweije vom 
Standpunkte der Erfahrung aus überhaupt freifteht. Am umfafjenditen ift demnach 
ihre Bedeutung, wo das Prinzip der freien Beweißwürdigung voll 
Durchführung gefunden. Aber auch Hier fehlte es bis jeht an einer bejonderen 
juriftifchen Theorie der (faktiſchen) Vermuthungen. Und infofern mit Recht, als 
bier die Lehre von den faktiſchen Vermuthungen mit der Lehre vom Beweije über: 
haupt zufammenfällt, da auch der ftriftefte Zeugen- oder Urkundenbeweis im Sinne 
der Logik nur eine dringende Vermuthung begründet. Mit Unrecht dagegen, joiern 
man meint, über faktische VBermuthungen jei überhaupt nichts Allgemeines zu Tagen. 
Ginerjeits bietet die angewandte Logik, die wiffenichaitliche Lehre vom Beweiſe und 
von den Methoden zahlreiche allgemeinere Gefichtspunfte, wie in vernünftiger Weile 
Vermutdungen aufzuftellen find. Andererſeits ſteckt jchon in den rechtlich bindenden 
Beweisregeln des bisherigen Gemeinen Prozebrechts zugleich eine umfangreiche 
Iheorie der für den Prozeßbeweis wichtigen jaktiſchen Vermuthungen, die 
im Großen und Ganzen auch unter der Herrichait des Prinzips der freien Beweis: 
würdigung allgemeines Anjehen genießt und verdient; nur ift dabei nicht jowol an 
die Beweisregeln jelbit (3. B. den Satz, daß die übereinjtimmende Ausſage zweier 
Elaffischer Zeugen vollen Beweis begründe), als vielmehr an die logiſchen Erwägungen 
zu denken, auf welche mehr oder weniger bewußt jene Regeln zurüdweifen. 

Beruht die Bedeutung der „raktischen Vermuthungen“ allein auf der Erfahrung, 
jo gründet fich die der R. als jolcher, wie ſchon der Name andeutet, ausſchließlich 
auf das Recht ſelbſt. Emtiprechend der oben gegebenen Definition der faktifchen 
Vermuthung ift demnach die R. zupörderft zu definiren als Annahme (Voraus: 
jegung) von Thatſachen, zu welcher Jemand trog Mangel volltommener Be 
weife durch das Recht veranlaßt, d. i. verpflichtet wird, gleichviel ob diejelbe 
ohnehin durch die Erfahrung angezeigt ift oder nicht. Durch dieſe Faſſung it 
unmittelbar zweierlei ausgefchloffen. Ginmal die Subjumirung der Filtionen unter 
den Begriff der Präjumtion; fie find zwar auch Annahmen von Thatfachen, zu denen 
das Necht nöthigt, aber nicht blos troß Mangel ausreichender Beweiſe, jondern 
troß dem Bewußtjein von dem Nichtvorhandenjein oder doch Nichtiovorhanden- 
jein der angenommenen IThatjachen. Sodann aber auch alle Annahmen von That— 
jachen, die nur für den Gejeggeber Anlaß, Motiv zur Aufftellung von Rechte» 
vorichriften geweſen find, ohne zugleich diejenigen, an welche fich die betreffenden 
Rechtsvorjchriften richten, zu einer Erneuerung jener Annahme zu veranlaffen. Rechts: 
vorichriiten der leteren Art find 3. B. die Satzungen des Römiſchen Kaiferrechts, 
daß das Gelddarlehn des Soldaten, auch wenn er filiusfamilias ift, klagbar jein 
joll, — daß die mater binuba Schenkungen an ihre Kinder erjter Ehe nicht propter 
ingratitudinem ſoll revoziren können; die Vermuthungen, von denen bier der Ge- 
jeggeber ausgegangen, daß der filiusfamilias miles die Schuld nur zu cajtrenfiichen 
Zweden fontrahiren werde, und daß än Widerruf der mater binuba nicht ſowol in 
der Undankbarkeit der Kinder eriter Ehe, als in der von ihr jelbjt eingegangenen 
Ehe jeinen Grund habe, find für die praktische Anwendung, wie für die ſyſtematiſche 
Daritellung des Rechts völlig irrelevant. 

Unter den letzterwähnten Gefichtspunft jällt auch Vieles, was man bisher 
öfters unter den Begriff einer jog. praesumtio juris et de jure geitellt hat, und 
iſt dieſe Erfenntniß jowol, als die von anderer Seite beliebte Vermifchung mit dem 


Rechtsvermuthungen. 303 


Begriffe der Fiktion für Manche der Beweggrund geworden, die praesumtio juris et 
de jure ganz aus der juriſtiſchen Terminologie zu jtreichen. Auch verfahren hierin 
diejenigen ganz fonjequent, die zugleich den Fiktionen jeden Werth für die juriftifche 
Wiſſenſchaft abiprechen; denn der Werth der praesumtio juris et de jure ijt in der 
That fein anderer, ala der der Fiktionen, mit denen fie die Art der Wirkung 
völlig gemein Hat. Für Jeden dagegen, der den Filtionen — unter gewiflen Voraus— 
jegungen (j. d. Art. Filtionen) — einen relativen wiffenschaftlichen Werth zu— 
erfennt, muß auch der Begriff der praesumtio juris et de jure einen Werth gleich 
dem der Fiktionen behalten. Das will jagen: auch die praesumtio juris et de jure 
bildet, fofern fie in rechter Weile — zur Vereinfachung der Auffafjung oder Dar- 
itellung des Rechts und zumal für Fälle, wo ohnehin eine jaktische Vermuthung 
nahe liegen würde — gebraucht wird, ein nicht zu unterichägendes logiſches und 
dibaktifches Hilfsmittel, jowol für die Syſtematik, als für die juriftiiche Praxis. 
Und genau wie bei den Fiktionen wiederholt ſich auch bei der praesumtio juris et 
de jure die Gricheinung, daß ihre Bejeitigung, wo die Präjumtion berechtigt it, 
nur unter unbewußter Zubülfenahme anderer Präjumtionen zu erfolgen pflegt. Man 
denke 3. B. an die befannten Präfumtionen eines Verzichts in Fällen, wo eine 
Präflufiofrift nicht eingehalten wird. Wenn man eine jolche Präjumtion durch die 
Rechtsregel erjegen will: wer die betreffende Friſt nicht einhält, ſoll fein Recht 
verlieren, — jo läßt fich dies allerdings hören, wo der Verzicht — überhaupt auf das 
betreffende Recht — unzuläffig, reip. rechtlich unwirffam ift. Wenn dagegen der Ber- 
zicht zuläffig, und namentlich jchon vor Ablauf der Friſt in wirffamer Weije 
möglich ift, bedingt die Aufftellung jenes anderen Verluſtmodus einerfeits eine un— 
nöthige Vermehrung des juriftisch-fyftematischen Apparats, andererjeits die Anwendung 
einer neuen Präjumtion: der Richter wird genöthigt, Friftverfäummiß anzu— 
nehmen, wo nicht Verzicht augenfcheinlich zu Tage liegt oder um der weitergehenden 
‚Folgen willen vom Gegner bewiejen wird. 
Uebrigens bat die praesumtio juris et de jure bisweilen noch eine eigenthüntlich 
praktische oder ethiiche Bedeutung ; jo insbejondere die berühmte kanoniſch-rechtliche 
Präjumtion des consensus de praesenti im falle eines coitus zwiſchen bisher nur de 
futuro Deiponfirten, und die Präfumtion der Verzeihung eines vorausgegangenen Ehe— 
bruchs jeitens des unfchuldigen Ehegatten auf Grund der troß Kenntniß davon erneuten 
ehelichen Beimohnung. Gewiß fünnte man auch in diefen beiden Fällen von jeder 
Präfumtion abjehen und demgemäß dem consensus de praesenti al regelmäßigem Ent» 
ftehungsgrunde der Ehe den exrceptionellen des coitus nach vorausgegangenem Ver— 
löbniß de futuro an die Seite jtellen, und ebenjo der Verzeihung als einen be= 
jonderen anderen Ausjchließungsgrund der Eheſcheidung, reip. der separatio per- 
petua, die erneute eheliche Beimohnung, troß Kenntniß don dem vorausgegangenen 
EHebruche. Aber jowol für das natürliche fittliche Gefühl, als für die Syitematif 
empfiehlt fich zweifellos der Weg, den jtatt deffen Gejeggebung und Doktrin bisher 
eingeichlagen. Im Grunde geben dies die Gegner der praesumtio juris et de jure 
jelbft. zu. Sie meinen freilich, die Sache liege vielmehr jo, daß „der Inhalt der 
angeblichen Präjumtionen, als etwas fich von jelbjt verjtehendes, auch von der Maſſe 
des Bolkes lebhaft gefühlt würde, und der bloße Gedanke, daß es hier einer bejon- 
deren gejeglichen Vorſchrift bedürfte, jchon Indignation zu erregen im Stande wäre“. 
Allein jo richtig diefe Bemerkung an fich ift, jo falſch ift fie ala Motivirung der 
Meinung, der Begriff der praesumtio juris et de jure jei auf dieſes „Jich von jelbit 
verftehende“ unanwendbar. In Wahrheit verfteht fich dergleichen doch nur im 
ethijchen, d. h. in dem Sinne von jelbit, daß ein Andershandeln dem allgemeinen 
fittlichen Gefühle Hohn fpricht, aber ala etwas Thatſächliches verjteht fich befanntlich 
das Eittlihhandeln im Gegenſatz zum Unfittlichhandeln nicht von ſelbſt. Wahr an 
jener Bemerkung ift alſo nur, daß unſere Rechtsanſchauung (die hier durchaus 
dem fittlichen Gefühle folgt) die fragliche Annahme als eine unbedingte, auch ohne 


304 Rechtsvermuthungen. 


geſetzliche Vorſchrift fordert, die letztere mithin nur beſtätigt, was ſchon kraft 
allgemein geübter Rechtsanſchauung, oder mit anderen Worten kraft Gewohn: 
heitärechtes für uns gelten würde: und eben darum kommt diefer Annahme gerade 
die Bedeutung einer Rechts vermuthung zu, und zwar, da fie eine unbedingte (mit 
Ausſchluß des Gegenbeweijes, auch wo derjelbe thatjächlich möglich wäre) fein ſoll, 
einer praesumtio juris et de jure. 

Der Begriff der gewöhnlichen R., der praesumtio juris tantum, ift durd 
die vorhergehenden Bemerkungen in zwiefacher Richtung bejtimmt: den faktiſchen Ber: 
muthungen gegenüber als eine Annahme (Borausfegung) von Thatjachen, zu der 
Jemand — im Prozeß insbejondere der Richter — durch das Recht jelbit ge 
nöthigt, alſo juriftiich verpflichtet wird, ohne Rüdficht darauf, ob in concreto zu 
folcher Annahme Eriahrungsgründe vorliegen oder nicht; der praesumtio juris et de 
jure, als einer bejonderen Abart der R. gegenüber durch die ſtets nur bedingte 
Wirkſamkeit, ſofern jolche durch den Beweis des Gegentheils ausgeichloflen, 
reip. aufgehoben wird. Der lebtere Unterjchied reicht tiefer hinab, als es bei der 
oberflächlichen Betrachtung ſcheint. Er weiſt hin auf eine Grundverichiedenheit des 
Zwedes: die praesumtio juris et de jure joll dem Rechte ſelbſt dienen, und 
zwar — wie schon bemerft — in allgemeinfter Weije als ein Hülfsmittel der Syftematif, 
zur Erleichterung der Auffaffung und Darftellung des Rechts; die einfache praesumtio 
juris joll in eriter Linie immer einem und demjelben praftiichen Zwede dienen, der 
Grleihhterung des Beweiſes im einzelnen konkreten Falle. Daß daneben nod) 
gewiflen Forderungen des Rechtsgefühls, reſp. gewiffen berrichenden, fittlichen und 
äfthetiichen Anjchauungen, Rechnung getragen werden foll, fommt bei beiden Arten 
von R. vor, übrigens bier, wie dort, nur bei einzelnen, nicht bei allen. 

Man hat wiederholt Verfuche gemacht, den Begriff der gewöhnlichen R. noch enger 
zu umgrenzen, jedoch ohne rechten Erfolg, joviel Gutes dabei auch über die einzelnen 
Arten von R. gejagt ift. Die Doktrin hat allerdings nicht jelten mit dem Begriff der 
praesumtio juris argen Mißbrauch getrieben, und ſie fonnte dies um jo eher, als die 
Römischen und Kanoniſchen Rechtsquellen in der Verwendung der Ausdrüde „prae- 
sumere“ und „praesumtio* im Allgemeinen feinen jejten Sprachgebrauch aufweiſen, 
wie denn auch die ältejte Klaffifizirung der Präfumtionen erit der Glofjatorenzeit 
angehört. Zu jenem Mißbrauch des Präfumtionsbegriffes gehört insbeſondere die 
Aufftellung der ganz generellen Präjumtionen zu Gunjten des Beklagten, des Be 
figers u. ſ. w., wie fie fich nur erflärt aus einer Verkehrung des richtigen Sabes, 
daß jede R. den Beweis einer gewiſſen Thatſache unnöthig macht, in den ebenjo 
gewiß umrichtigen, daß überall, wo fein Beweis für eine Thatſache gefordert wird, 
eine R. vorliege.. Wenn der Kläger nicht beweift, was er beweifen müßte, wenn 
ihm Staatshülfe (zunächſt in Geftalt des Urtheils, dann in der Vollſtreckung 
deſſelben) zu Theil werden ſoll, jo it er freilich mit feiner Klagforderung abzuweiien, 
reſp. Bellagter von derjelben freizuiprechen, aber nicht auf Grund irgend welcher 
Annahme von Thatjachen zu Gunsten des Letzteren, jondern einfach, weil die geſetz— 
lichen Bedingungen für die Gewährung der Staatshülfe oder mit anderen Worten 
für ein verurtheilendes Erkenntniß feitens des Klägers nicht erfüllt find. Auf der 
anderen Seite geht man aber ebenfall® zu weit, wenn man allen Regeln über 
die Beweislaft, fowie allen Rechtsſätzen, die fih ala einfache Schluf- 
folgerungen aus Dispofitivnormen ergeben, ein für allemal die Bedeutung 
von (einfachen) R. abiprechen will. Rein an fich, ihrem unmittelbaren Inhalte nad), 
find allerdings beide Arten von Nechtäregeln feine R. Und darin liegt allein jchon 
Grund genug, fie von anderen R., die ausfchließlich ala folche zu denfen find, zu 
unterjcheiden. In einer beftimmten Weife verwandt, namentlich ala Grundlage des 
konkreten richterlichen Urtheils, ericheinen fie dennody — wenn nicht alle, jo doch 
zum größten Theile — ala N. 


Rehtsvermuthungen. 305 


Offenbar kann es für ein dem Klagpetitum entiprechendes Urtheil nur zwei 
jureichende Gründe geben: entweder die Annahme, daß das Klagpetitum dem wirk— 
lichen materiellen Recht des Klägers entipricht, oder ein Verfäumniß, aljo eine Art 
Unrehthandeln jeitens des Beflagten, für welches ihn die Urtheilsfällung nach dem 
Rlagpetitum, ohne NRüdficht darauf ob es begründet iſt oder nicht, ala Strafe 
trifft. Inwieweit der eine oder der andere der beiden Gründe Pla greift, iſt 
natürlih nach jedem pofitiven Rechte befonders zu beantworten, und kann dieſe 
Antwort auch nach einem bejtimmten Rechte mitunter recht zweitelhaft fein, wie 
dies insbeſondere auch von dem älteren Gemeinen und unferem heutigen Deutjchen 
Prozeprechte gilt. Unbeftritten jedoch behauptet in den letztgedachten Rechten der 
eritere der beiden Gründe, wenn nicht den ganzen, jo doch weitaus den vorderjten 
Pat. Bezeichnend hierfür ift namentlich die Thatjache, daß jelbjt da, wo man die 
Unterlafjung der Beweisführung jeitens des Beklagten ala Unrecht, ala „Ungehorſam“ 
aufakt, die Strafe durch eine Fiktion — alö poena confessi et convicti — auf 
den erften der beiden Gründe gleichjam reduzirt wird. Sicherlich ift e8 dann viel 
einfacher, an die Unterlafjung des Beweijes jeitens des Beklagten eine R. für das 
Begründetjein der das Klagpetitum rechtfertigenden Thatjachen zu fnüpfen. Hält 
man indeffen diefen einfachen Weg für unverträglich mit den: Intentionen der hier 
in frage kommenden Prozeßgeſetze ſelbſt — wofür fich ja mancherlei jagen läßt —, 
jo it doch unter allen Umftänden unter den zweiten Grund der Fall nicht 
ju bringen, wo dem Beklagten der verfuchte Beweis mißglüdt ift; und eben darum 
nehmen für diejen Fall alle Regeln, durch welche dem Kläger ein Stüd Be— 
weislaft abgenommen wird, nothwendig die Geftalt von R. an. Denn jo gewiß 
dad Mißglücken des Beweiſes, daß der Kläger, der eine Erſitzung behauptet, 
mala fide bejejjen habe, oder daß ein vom Kläger eingefordertes Darlehn zurück— 
gezahlt jei u. j. w., nimmermehr ala Beweis für die bona fides des Klägers oder 
für das Nichtzurüdgezahltfein gelten kann, jo gewiß wird der Richter durch die Be— 
weislaftregeln zugleich verpflichtet, in jolchem Falle bona fides, reſp. Nichtzurück— 
gezahltfein vorauszuſetzen, und diefe Vorausſetzung dem Urtheilsbeiehle zu Grunde 
zu legen. Und wenn man auch biergegen etwa behaupten follte, der Beweis des 
Nichtgezahltſeins des Darlehns und reſp. der bona fides bei der Erfigung fei jchon 
darum überflüffig, weil das, „was einmal vechtlich erijtire“, ja „was nur 
äußerlich ohne Mangel eriftire”, „die Berechtigung feiner Eriftenz in fich trage, 
bis diefe Eriftenz vernichtet werde“, jo läge hierin — ganz abgejehen von der jehr 
fraglichen Richtigkeit diefer Behauptung an ſich — eine Verwechfelung der Eriftenz 
felbjt mit dem Beweiſe der Erijtenz. Daraus, daß etwas eriftirt, und zwar 
jo lange eriftirt, bis es in feiner Exiſtenz vernichtet wird, folgt ficherlich nicht, 
daß es fo lange eriftirt, bis die Vernichtung der Eriftenz bewiejen wird; 
fordert aljo das Recht, daß die Eriftenz dennoch bis zum Beweis der Vernichtung, 
reſp. des Mangels angenommen wird, jo ift dies eben nicht? anderes, ala eine R. 
und an dem Beltreben, folchen „Beweislaftpräjumtionen“ den Titel „R.“ abzu— 
iprechen, iſt nur fo viel richtig, daß diefelben ala eine befondere Gruppe begriffen 
und aus Gründen, die hier nicht näher erörtert werden können, auch jyitematijch, 
oder, bejtimmter gejagt, im Syiteme eines Prozeß- oder Beweisrechts in jelbjtändiger 
Weiſe behandelt werden müſſen. 

Aehnliches — menigjtens im Reſultat Aehnlichee — ift zu jagen von den 
oben gleichfalls jchon berührten „Rechtsinhaltspräfumtionen“, wie fie Burdhard 
genannt hat. Es ift ja gewiß richtig, daß Rechtsſätze, wie 5. B. die jog. prae- 
sumtio Muciana, die Regel, daß Pertinenzen präſumtiv ala mitverkauft gelten, u. ſ. w. 
gar nichts anderes find, als Schlußfolgerungen aus gewiſſen allgenteinen Rechts- 
grundiäßen oder Rechtsbegriffen, und daß ihnen darım im Rechtsſyſteme eine 
Stelle unmittelbar bei den leteren und nur da gebührt. Allein ebenjo gewiß 

v. Holtzendorff, Enc. II. Redtäleriton III. 8. Aufl. 20 


306 Nehtsvermuthungen. 


ericheinen fie in ihrer Verwendung im Prozeß und ala Vorausſetzungen des 
Urtheils in der Geftalt von Annahmen gewiffer IThatfachen ohne genügenden Beweis, 
mithin, da es das Recht jelbit iſt, das fie ala folche erjcheinen läßt, und wie 
übrigens auh Burdhard im Grunde zugiebt, als N. 

Um es mit einem Worte zu fagen: das Weſen der R. liegt allein im der 
bezeichneten Funktion derfelben. Der Unterjchied aber zwijchen den „Beweislaft- 
präjumtionen“ und „Rechtsinhaltspräfumtionen“ einerjeits und R., wie beijpiels- 
weije den Sätzen: pater est, quem nuptiae demonstrant — der Verjchollene it als 
todt zu vermuthen, ſofern jeit feiner Geburt 70 Jahre verfloffen find — wenn Tod: 
feindichaft zwiſchen Erblafjer und Legatar ausgebrochen, ſoll das Vermächtniß als 
adimirt gelten — u. ſ. w. andererjeits, befteht in der Hauptſache nur darin, daß 
die eriteren fozufagen blos gelegentliche, d. h. in gewiſſen Rechtsſätzen implicite 
enthaltene, aber nur unter einem bejtimmten Gefichtspunfte hervortretende R. find, die 
(eßteren dagegen ausſchließliche, in durchaus jelbjtändigen Rechtsjägen formulirte. 
Aus diefem Hauptunterjchiede ergiebt ſich von jelbjt eine Werjchiedenartigfeit der 
Wirkung. Da die in den allgemeinen Regeln über die Beweislaft des Beklagten 
implicite enthaltenen Präfumtionen zu Gunjten des Klägers als jolche erſt wirkſam 
werden, wenn die dem Beklagten zugewiejene Beweisführung unterblieben oder miß— 
glückt ift, jo verfteht jich von jelbit, daß, jtreng genommen, niemals von einem pro 
zeffualiichen „Gegenbeweije“ wider diefe VBermuthungen, jondern nur von einem Be: 
weije des Gegentheil® gejprochen werden kann; woraus weiter folgt, daß mach diejem 
Beweife des Beklagten (der ala ein Hauptbeweis anzufehen) dem Kläger noch der 
Gegenbeweis zuiteht. Und dafjelbe muß nothwendig gelten, wo die Behauptung 
des Bellagten, daß ein Dispofitivgejeß, das in feinen Konfequenzen eventuell eine 
Vermuthung für den Kläger begründen würde, in concreto durch ausdrüdliche wider: 
iprechende, für die Parteien rechtsverbindliche Feſtſetzungen ausgejchloffen ſei, als eine 
Einrede im ‚weiteren Sinne zu betrachten und der darüber zu führende Beweis dem 
nach ebenfalls ein Hauptbeweis ift, — wie dies nach dem früheren Gemeinen Rechte 
wol unbejtritten der Fall war. Auf der anderen Seite iſt klar: ein Rechtsſatz, der 
ausjchließlich eine R. darftellt, und zwar in Bezug auf einzelne bejtimmte 
Umftände, — denn andere ausfchließliche R. giebt es in der That nicht — ein 
jolcher Rechtsjag kann immer nur feine Rolle jpielen in dem Zujammenhange einer 
Beweisführung, die zum mindejten die Bedingungen ala vorhanden zu Eonjtatiren 
hat, von denen die Anwendung jenes Rechtsſatzes abhängt. Iſt es nun der Kläger, 
der die betreffende Vermuthung für fich anführt, jo iſt hierauf nur noch ein wahrer 
Gegenbeweis jeitens des Beklagten denkbar, der nach bisherigem Gemeinen Recht eine 
nochmalige Beweisführung des anderen Theiles ausjchließt. Spricht umgekehrt die 
Vermuthung für den Beklagten, jo fommt e8 darauf an, ob fie fich ſchon aus der 
Klage ſelbſt ergiebt oder erjt aus einer Einrede des Beklagten. In jenem Tralle 
muß der Gegenbeweis feitens des Klägers antizipirt werden, in diefem gehört der 
Gegenbeweis wider die Vermuthung zum Gegenbeweije wider den Einredebeweis. 
Uebrigens ift leicht zu jehen, daß auch der zuletzt beiprochene praftiiche Unterjchied 
zwiſchen „ausſchließlichen“ und „gelegentlichen“ R. für unfer beutiges Deutjches 
Recht hinwegfällt, nachdem dafjelbe in der Deutichen CPO. das jog. Prinzip der 
Beweisverbindung janktionirt bat, wonach von einer jcharfen Scheidung 
zwijchen Hauptbeweis und Gegenbeweis nicht mehr die Rede fein kann, wie denn 
auch die CPO. jogar den letzteren Ausdruck gefliffentlich vermieden hat. 

Ein Syſtem der ausjchließlichen R. giebt e8 jo wenig, wie ein Syſtem der 
„Rechtsinhaltspräfumtionen” ; ſelbſt die jog. Willenspräjumtionen machen Hiervon 
nur eine fcheinbare Ausnahme. Was einer gewiffen Willensäußerung in Worten 
oder Thaten als wirklicher Willensinhalt zu Grunde Liegt, iſt natürlich zunächt 
gerade jo gut eine Sache des Beweifes, wie irgend etwas Aeußerliches. Nur wird 
bezüglich einer ſolchen piychologifchen Ihatjache ein voller Beweis noch viel jeltener 


Recursus ab abusu. 307 


möglich jein, wie bezüglich äußerer Fakta; daher in Bezug auf fie jchon das bis— 
herige Gemeine Prozekrecht den faktiſchen VBermuthungen freien Raum gewährt. 
Alles, was die Doktrin an Regeln über die Interpretation von Verträgen aus ein- 
feitigen,, insbeſondere legtwilligen Verfügungen aufgeitellt hat, it im Grunde nichts 
anderes, als eine Theorie der faktifchen Vermuthungen hinſichtlich aller möglichen 
für das Recht relevanten pfychologiichen Thatſachen; beiläufig ein weiterer Beleg zu 
der ichon im Eingang des Artikels motivirten Behauptung, daß eine Theorie der 
fabtiſchen Vermuthungen durchaus nicht zu den Unmöglichkeiten gehört. Soweit 
ferner das Recht jelbit jolche Regeln janktionirt, jo erhalten fie zugleich noch eine 
beiondere Bedeutung, die aber nicht durchweg die gleiche it. Die allgemeineren 
geiehlich firirten Jnterpretationsregeln ftehen auf genau derjelben Stufe, wie die og. 
geieglichen Beweisregeln. Als einfache ausschließliche R. jtellen fich nur diejenigen 
Billenspräfumtionen dar, die unter ganz bejtimmten thatjächlichen Umſtänden die 
Annahme eines ebenjo bejtimmten, d. h. jogleich inhaltlich bejtimmten Willens vor= 
ihreiben. Und eben dieje Willenspräjumtionen haben unter fich nicht mehr Zus 
jammenhang, als die R. bezüglich einzelner bejtimmter äußerer Greigniffe. 

Zum Schluß noch eine Bemerkung über den Charakter der jog. gejeßlichen 
Beweisregeln, mit denen vorjtehend die allgemeinen gejeglichen Jnterpretationsregeln 
zuiammengeftellt worden find. Man hat diejelben bisweilen ebenfalls unter den 
Begriff der R. jubjumiren wollen. Und geht man aus von dem Begriffe, den die 
Logik mit dem Ausdrud „Beweis“ verbindet, jo müßte diefe Subfumtion ala völlig 
gerechtiertigt erſcheinen; fie wären danach nichts anderes, als eine Art ausſchließ— 
licher R. von generellem Charakter. Geht man Hingegen aus von dem Begriffe des 
Beweiſes im Sinne des einmüthigen juriftiichen Sprachgebrauche, jo bleibt der Begriff 
der Vermuthung nothwendig überall ausgefchloffen, wo jchlechtweg die Be— 
dingungen eines jolchen juriſtiſchen Beweiſes aufgeftellt reip. erfüllt find. 
Kit: Burdhard, Die civiliftiichen Präfumtionen, 1866 (daf. auch ein Ueberblick über 
die ältere Lit). — Die Lit. über einzelne R. |. bei den betr. Rechtämaterien. 

E. Bierling. 


Recursus ab abusu (appellatio oder provocatio tanquam ab abusu, appel 
comme d’abus) ift die gegen einen Mikbrauch der geiftlichen Gewalt jeitens der 
firchlichen Beamten an die Staatäregierung eingelegte Berufung, um dadurch Abhülfe 
zu erlangen. Der Rekurs hat in Frankreich, wo er ſeit mehr als 300 Nahren in 
Uebung gewejen ift, jeine genauefte Ausbildung erfahren, und ift heute auf Grund 
der Articles organiques vom 18. Germinal X (8. April 1802) dahin geregelt: 
Gr kann erhoben werden wegen Anmaßung einer nicht zuftehenden, oder Ueber— 
Ihreitung der gewährten Gewalt, Zumiderhandeln gegen die Gejege und Verordnungen 
des Staates, Verlegung der durch die in Frankreich rezipirten Kanones aufgeftellten 
Grundſätze, Verübung von Attentaten auf die Freiheiten und Gewohnheiten der 
gallicanischen Kirche, endlich wegen jeder Unternehmung oder Handlung, welche bei 
Ausübung des Kultus die Ehre der Bürger beeinträchtigen, willkürlich ihr Gewiſſen 
beimruhigen oder gegen fie in Unterdrüdung, Beleidigung oder in öffentlichen Skandal 
ausarten kann. Berechtigt zur Geltendmachung ift jede intereffirte Perfon, eventuell 
Mangels eines Privatantrages der Präfekt. Die zur Entjcheidung kompetente Bes 
börde iſt — früher waren e8 die Parlamente — jetzt der Staatsrath, welcher im 
Wege des Adminiftrativverfahrens, aljo in geheimer Situng und ohne Intervention 
von Anwälten, verhandelt. Bei gegründetem appel kann der Staatsrath wol Ab- 
hülfe ſchaffen, 3. B. durch Unterdrüdung des mißbräuchlichen Schriftjtüdes, Ver— 
weifung der Angelegenheit an das Strafgericht, durch Beiehl an den Getftlichen, die 
| berweigerte Handlung vorzunehmen, aber ein Recht, auf Strafen gegen die Geift- 
lichen zu erkennen, befigt er nicht. Andererſeits gewährt aber die Franzöſiſche Ge— 
fegebung auch umgekehrt der Kirche und den Geiftlichen den appel, wenn die 

20 * 


308 Recursus ab abusu. 


Staatöbeamten die öffentliche Ausübung des Kultus oder die den Geistlichen durch 
die Gejege und Reglements garantirten Freiheiten beeinträchtigen. — In Deutſch— 
(and war zu Zeiten des Deutichen Reichs ein folcher Rekurs ebenfalls ala Deutiches 
Gem. Recht anerkannt, indem die Befugniß des Kaiſers, gegen den Mißbrauch der 
geiftlichen Amtsgewalt einzufchreiten, auf jeine Stellung ald advocatus ecclesise 
gegründet wurde. Die beiden höchiten Deutichen Reichögerichte haben über eine 
Reihe von ſolchen Rekurfen entjchieden, jedoch konnten die Beſchwerden auch an den 
Kaifer direft oder durch Vermittelung des Neichötages, des Kurfürftenkollegiums und 
der Corpora Catholicorum und Evangelicorum gebracht werden. Zur Erhebung 
des Rekurjes war ſowol der Verletzte ala auch der Reichsfisfal befugt. Uebrigens 
war die Anrufung des Kaiferd gleichmäßig gegen Uebergriffe der katholiſchen Kirchen: 
beamten wie der protejtantifchen, namentlich der proteftantischen Landesherren als 
Träger der oberiten Sirchengewalt, geitattet. Das neuere Deutiche Partitular: 
Staatskirchenrecht, welches bi8 zu den Bewegungen des Jahres 1848 die 
Ausübung der aus der ftaatlichen Souveränetät herfließenden Kirchenhoheit von 
einem mehr polizeilichen Standpunkte aus geregelt und daher ein Syſtem von 
gegen die Kirche anmendbaren Präventivmaßregeln ausgebildet hatte, iſt im Bezug 
auf den bier in Rede ftehenden Punkt lüdenhaft, weil man nach Aufgeben jene 
Präventivſyſtems es vielfach verfäumt hat, ein genügendes Repreffivfgitem gegen den 
Mißbrauch der geiftlichen Gewalt zu entwideln. Das Bayer. Religionsedift von 
1818, 88 52 ff., geitattet den Genoffen einer Kirchengejellichaft, welche durch Hand— 
lungen der geiftlichen Gewalt gegen die jeitgefegte Ordnung bejchwert werden, den 
Rekurs bei der einfchlägigen Regierungsbehörde oder bei dem König unmittelbar 
anzubringen. Ueber die Rekurſe befindet das Minifterium des Innern für Kirchen: 
und Schulweien, und zwar in der Regel nur nach Bernehmung der betreffenden 
geiftlichen Behörden. Daß auch die Regierungsbehörden ſelbſt gegen einen Amte- 
mißbrauch einjchreiten können, ift mehr vorausgeſetzt als auägeiprochen. Für die 
oberrheinifche Kirchenprovinz hat das gemeinfame Edikt vom 30. Jan. 1830 
$ 36 „den Geiftlichen, ſowie den Weltlichen, wo immer ein Mißbrauch der geiit- 
lichen Gewalt gegen fie jtattfindet, den Rekurs an die Landesbehörden geitattet“, 
und der gemeinfame Grlaß vom 1. März 1853 hat hierin nichts geändert. In 
Württemberg gilt diefe Beitimmung heut noch unzweifelhaft, da hier das Geich 
von 1862, betr. die Regelung des Verhältniffes der Staatsgewalt zur katholiſchen 
Kirche, nur die ihm widerfprechenden früheren Beltimmungen aufgehoben bat und 
dafjelbe das ftaatliche Auffichts- und Schußrecht Feithält. Für Baden iſt daflelbe 
troß der nicht geſchickt gefaßten kaſſatoriſchen Klauſel des Gejeges vom Jahre 1860 
über die rechtliche Stellung der Kirchen („alle Gejege und Verordnungen, die mit 
obigen Beitimmungen nicht vereinbar find, werden aufgehoben“) anzunehmen. Gbenio 
entiteht für die früher felbjtändigen Gebiete von Kurheſſen, Naſſau und 
Frankfurt a. M., welche gleichfalls zur oberrheinifchen Kirchenprovinz gehören, 
jeit Einführung der Preußiſchen Verfaſſung, welche eines Refurjes nicht ge 
denkt, die Frage, ob jene Beitimmung des Edikts befeitigt if. Da indeflen die 
gedachte Verf. Urk. fein Aufgeben des jtaatlichen Hoheitsrechtes über die katholiſche 
Kirche und überdies feine Autorifation für diefelbe, die Gejege zu verlegen, enthält, 
jo wird man die Frage verneinen müfjen. Auch wird man für Altpreußen jelbit 
Mangels einer befonderen Beitimmung die Beichwerde wegen Mißbrauchs der Amta- 
gewalt bei der Regierung Niemandem unterfagen können. Die Berfaffung für das 
Königreih Sachfen enthält, ähnlich wie die älteren Verfaſſungen einiger Heineren 
Deutſchen Staaten, nur die Vorſchrift: „Bejchwerden über den Mikbrauch der kirch— 
lichen Gewalt können auch bis zu der oberjten weltlichen Staatsbehörde gebracht werden“ . 
Erſt in neuerer Zeit hat der Rekurs, jetzt „Berufung“ genannt, eine bejondere Regelung 
in dem für die Preußiiche Monarchie geltenden Geſetze über die firchliche Disziplinar- 
gewalt vom 12. Mai 1873 für diejenigen Fälle gefunden, wo dieje den Vorſchriften 


Redakteur. 309 


deſſelben (SS. 10 ff.) zumider ausgeübt worden ift. Die Berufung, welche ſowol 
von dem von einer Disziplinarenticheidung betroffenen Eirchlichen Beamten ala auch 
dem Oberpräfidenten im öffentlichen Interefje eingelegt werden fann, wird in pro- 
jefualifchen Formen und vor einem beſonderen jtändig befeßten, in jeiner Mehrheit 
aus richterlichen Beamten beftehenden „Gerichtshof für firchliche Angelegenheiten“ 
verhandelt, und kann zur Kaſſirung des Disziplinarerfenntniffes führen. Der Ge- 
danke, daß auch umgekehrt den Geiftlichen eine Berufung wegen Mißbrauchs der 
Staatsgewalt zufteht, hat in dem Preuß. Geſetze über die Vorbildung ꝛc. der Geijt- 
lihen (vom 11. Mai 1873) infofern Verwirklichung gefunden, ala bdafjelbe eine 
Berufung an den gedachten Gerichtshof gejtattet, wenn die Gejegmäßigfeit der vom 
Kultusminifter verhängten Maßregeln gegen geiftliche Bildungsanjtalten oder des 
vom Oberpräfidenten gegen die Anjtellung von Geiftlichen erhobenen Einſpruchs in 
Zweifel gezogen wird. Ferner in dem Reichsgeſetz vom 4. Mai 1874, betr. die 
Verhinderung der unbefugten Ausübung von SKirchenämtern, welches dem aus— 
gewieſenen, internirten oder feiner Staatsangehörigkeit für verluftig erklärten Geijt- 
lihen die Berufung an das höchite Straigericht des Landes, in Preußen an den 
gedachten Gerichtshof darüber gejtattet, daß die thatjächlichen, die erwähnten Maß— 
tegeln rechtfertigenden Vorausſetzungen nicht vorliegen. Außerdem Hat die neuejte 
Geichgebung einzelner Deutjchen Staaten, nämlich Preußens (Gejeß vom 13. Mai 
1873), Badens (Gejeg vom 19. Febr. 1874) und Hejjens (Gejeh vom 23. April 
1375) einzelne Fälle des Mißbrauchs der geiftlichen Amtögewalt, jo namentlich 
der Strafe und Zuchtmittelgewalt, unter Kriminalftrafe geftellt. 
fit: Van Espen, Tractat. de recursu ad principem. — friebberg in Dove’3 
u. feiner Zeitichr. für Kirchenrecht III. 68; IV. 258; V1. 184; VIII 280; IX. 397; Derfelbe, 
Grenzen zwiichen Staat und Kirche, Tübingen 1872 (f. Regifter unter appellatio ab abusu ı. 
Rekurs) — Für Preußen: » Hinihius, Die Dreub, Kirchengeſetze des Jahres 1873, 
Berlin 1873, und von 1875, ebendaf. 1875; Nachtragsheft ebendaf. 1881. — v. Sicherer, 
Staat und Kirche in Bayern, 1873. — P. Hinihius, Die ftrafrechtl. Berantwortlichkeit der 
Kirchendiener, in v. Holendorff, Handbuch des Deutfchen Strafrechte, Bd. IV. ©. 497 ff. 
P. Hinſchius. 
Redakteur. I. Die Herausgabe einer periodiſchen Drudjchrift erſcheint nicht 
nur ala ein literarifches, jondern auch als ein gewerbliche Unternehmen. 
Denn fie erfordert — man denke an ein modernes Zeitungsblatt im großen Stile — 
bedeutendes Anlagefapital, werthvolles Betriebsmaterial; eine Anzahl von Preß— 
gewerben fteht im Dienfte des Unternehmens oder ijt unmittelbar mit demfelben 
vereinigt; die interne Verbindung mit den Mitgliedern der Redaktion, mit dem 
Berfonale der Druderei, der Erpedition, der Adminiſtration ift gejchäftlicher Natur; 
das Annoncenwejen bejorgt in großartiger Weife die Vermittelung zwiſchen Nach: 
frage und Angebot, und in den meilten Fällen wird gewerblicher Gewinn beab— 
fihtigt und erreicht. Bei einfachen Verhältniffen Liegt die Gefammtleitung ſowol 
der gewerblichen wie der literariſchen Thätigkeit des Zeitungsunternehmens in der 
Hand derjelben Perfon; größere Ausdehnung des Unternehmens, jei es nach der 
einen oder der anderen, jei e& nach beiden Richtungen hin, zwingt zur Arbeits- 
theilung. So entiteht der Begriff des „R.“; er ift diejenige Perfon, welche die 
literariſche Thätigkeit der periodifchen Drudichrift ganz oder zum Theile 
leitet. Ihm gegenüber fteht der gewerbliche Leiter des Blattes, der Herausgeber 
oder Berleger, der mit dem Eigenthümer des Blattes identifch oder eine von 
dieſem verichiedene Perfon fein kann (f. d. Art. Herausgeber). Sobald nun die 
Preßgefehgebung es unternimmt, die Verantwortlichkeit für die durch die periodijche 
Druckſchrift begangenen Preßdelikte zu regeln, muß fie diejen Verhältniſſen Rechnung 
tragen. So lange man — ausgehend von dem nur theilweife richtigen Gedanken, daß 
Subjekt eines Deliktes nur eine phyſiſche Perfönlichkeit jein könne — Bedenken trägt, 
direft gegen das Unternehmen als ſolches gerichtete Strafen (Gelditrafen, zeitweilige 
oder dauernde Einftellung) zuzulaffen, wird der R. ala der geeignete Träger der 


310 Redakteur. 


Verantwortlichkeit ſich darſtellen. Konſequenter als das Franzöſiſche Recht, nach 

welchem der gerant Tesponsable Miteigenthümer des Blattes (propriétaire au moins 

d’une part ou action dans l’entreprise) jein muß, hat die Deutjche Gejeßgebung 

die literarische und die gewerbliche Seite des Unternehmens vollftändig getrennt 

= Auge gefaßt. Ihr ift der R. nichts weiter als der Literarifche Leiter des 
attes. 

Aber auch innerhalb der redaktionellen Thätigkeit iſt die Arbeitstheilung noth— 
wendig geworden. Nicht der R., ſondern die Redaktion leitet das Blatt. Ein 
vielföpfiges Individuum mit theilweije getrennten, theilweife ineinander übergreifenden, 
bald foordinirten, bald jubordinirten Funktionen; eine Gejammtperfönlichkeit , die 
wiederum nicht geeignet ift, die Werantwortlichkeit zu tragen. Darum hebt die 
Gejeßgebung aus den Mitgliedern der Redaktion Einen hervor, um ihn haftbar 
machen zu fönnen für das, was die Redaktion verjchuldet hat: den verantwort: 
lichen R.; und fie mildert die Widerjprüche, in welche diefer gejegliche Begriff 
mit den thatfächlichen Verhältniffen zu gerathen droht, indem fie die Aufftellung 
mehrerer verantwortlicher R. zuläßt. Den R. hat das Leben gefchaffen; der 
verantwortliche R. ift ein Produkt der Gefeßgebung. 

Der geießliche Begriff des verantwortlichen R. fett fich aus zwei Elementen 
zufammen. 1) Niemand iſt verantwortlicher R., der nicht ala ſolcher auf der 
Drudichriit genannt ift. Jede Nummer der Drudichriitt muß Name und Mohnort 
des verantwortlichen R. angeben (ſ. d. Art. Preßpolizei); Nichtnennung oder 
faliche Angabe macht jeden Betheiligten, insbefondere aber den Verleger, jtrafbar 
(Preßgej. SS 7, 18, 19). Durch die Nennung übernimmt der Genannte die Ber: 
antwortlichkeit.. Wer nicht genannt ift, den trifft die vom Geſetze dem verantiwort- 
lichen R. übertragene Haftung nicht, mag er auch thatjächlich diejenigen Funktionen 
ausüben, die das Geſetz bei dem verantwortlichen R. vorausjeßt. 2) Die Nennung 
allein genügt aber nicht. Verantwortlicher R. wird man nicht einfach durch die 
Angabe auf der Drudichrift; die Nennung muß vielmehr den thatjächlichen Ber: 
hältniffen entjprechen. Nicht jeder auf dem Blatte Genannte ift verantwortlicher 
R., jondern nur derjenige, der die vom Gejege vorausgejegten Funk— 
tionen ausübt. In der Beitimmung diefer vom Geſetze jelbjt nicht beftimmten 
Funktionen liegt der Kernpunkt der Schwierigkeiten, mit welchen Theorie und Praris 
zu kämpfen haben. Die Funktion des verantwortlichen R. befteht in der Ober: 
aufſicht über den Gejammtgang der Redaktionsgeſchäfte, joweit 
die etwaige friminelle Bedeutung des Inhaltes der Nummer in 
Trage fommt Es gemüge aljo einerjeits nicht, wenn er nur in irgend einer 
Weiſe an der Redaktion betheiligt ift; es iſt andererjeits nicht erforderlich, daß er ala 
der geiftige Mittelpuntt des ganzen Unternehmens erjcheint. Nur wenn dieſe 
Stellung zur Redaktion und die Nennung als verantwortlicher R. auf dem 
Dlatte zufammentreffen, ift der gejegliche Begriff des verantwortlichen R. gegeben. — 
Theilweife abweichend iſt die Auffaffung des Oeſterr. Rechts. Diejes verlanat 
(Preßgeſ. $ 8) die Nennung wenigjtens eines verantwortlichen R., und deutet 
damit an, daß der Genannte nicht nothwendig mit der Oberaufficht betraut jein 
muß, daß es vielmehr genügt, wenn er Mitglied der Redaktion ift. — Die Nennung 
mehrerer verantwortlicher R. ift in dem RPreßgeſ. dann geftattet, wenn 
aus Form und Inhalt der Benennung mit Bejtimmtheit zu erjehen ift, für welchen 
Theil der Drudichrift jede der benannten Perſonen die Redaktion führt. — 

Der verantwortliche R. hat für die Aufnahme von amtlichen Belanntmachungen 
und von Berichtigungen (f. d. Art. Preßpolizei) Sorge zu tragen; er haftet 
ferner für den Inhalt des Blattes. Dieje Haftung bedarf näherer Betrachtung. 

II. Das RPreßgeſ. präjumirt zunächſt ($ 20) die doloje Thäterjchait 
des verantwortlichen R. in Bezug auf die durch die Drudjchriit begangenen Preß— 
delifte. Es betrachtet den R. als den Verfaſſer der ganzen Zeitung, weil er durch 


Redakteur. 311 


Auswahl aus dem ihm von den Mitarbeitern und Korrefpondenten zur Verfügung 
geitellten Materiale die einzelne Nummer zujammenftellt, weil er jeden Artikel prüft 
und durch die Aufnahme zu dem jeinigen macht, weil er Haltung und Nichtung 
des Blattes bejtimmt, und demjelben den Stempel feiner Individualität aufprägt ; 
weil es mithin feine Gedanken find, welche die Drudjchrift äußert. Es mag dahin 
geitellt bleiben, ob dieje Annahme eines R., der das ganze Blatt leitet, den that- 

lählihen Verhältniffen entjpricht; gewiß paßt fie nicht gegenüber der Stellung des 
verantwortlichen R., der ja nur die juriftifche Kontrole zu führen, nur eventuell 
feine warnende Stimme zu erheben hat, der aljo nur dadurch jchuldig werden kann, 
dab er den Einjpruch unterläßt, wo er ihn einzulegen Veranlaffung und Verpflichtung 
gehabt Hätte. Wir haben uns aber, dieſe Bedenken bei Seite laffend, mit dem 
gegebenen Gejege zu beichäftigen. Das Geſetz betrachtet den verantwortlichen R. 
als doloſen Thäter der durch den Inhalt der Druckſchrift begründeten Delikte, wenn 
nicht durch befondere Umftände die Annahme feiner Thäterſchaft ausgeſchloſſen ift. 
Durch diefe Präfumtion befreit die Gejeggebung den Ankläger von der 
Führung des Schuldbeweijes. Sie will die allgemein jtrafrechtlichen Grund— 
läge durch diefe Annahme weder abändern noch ergänzen, jondern nur anwenden 
auf die konkreten Verhältniffe der Zeitungäpreffe. Die präfumirte Thäterſchaft des 
R. it, von der Präfumtion abgefehen, feine andere nach dem Preßrechte ala nach 
dem Strafrechte; fie jet fich auß den gleichen Elementen zujammen bier und dort, 
fie wird Hier und dort ausgejchloffen durch das Fehlen eines diejer Elemente. Aber 
fie braucht nicht nachgewiejen zu werden; es genügt die Thatjache, daß der An— 
geflagte verantwortlicher R. ift, um feine Thäterfchaft anzunehmen. Gegen dieſe 
Präfumtion ift der Gegenbeweis zuläfſig. Während aber gegenüber der Annahme 
der ahrläffigkeit die Führung des Gegenbeweijes dem Angeklagten obliegt, der 
Richter von Amtswegen feine Erhebungen vorzunehmen hat, fehlt hier eine analoge 
Beitimmung. Es bleibt aljo bei der jtrafprogefjualen Grundregel, daß die Feſt— 
tellung des Sachverhaltes durch gemeinschaftliche Thätigkeit des Gerichtes und der 
Parteien, ohne Vertheilung der Beweislaft, ftattzufinden hat. Das ift nun aller 
dings eine wejentliche Abſchwächung der aufgejtellten Präfumtion. Dieje wirkt aber 
infoweit, ala der Richter ohne bejondere Beranlafjung zur Erhebung der 
die Präſumtion entkräftenden Ihatjachen nicht jchreiten darf. Die „bejonderen Um— 
fände”, von welchen das Geſetz fpricht, find alſo nicht jolche Umjtände, welche die 
Thäterſchaft ausfchließen, jondern folche, welche die Annahme der Thäterjchaft 
erihütten. Mit anderen Worten: a) der Gegenbeweis gegen die Präfumtion fteht 
dem angeflagten R. ſelbſt uneingejchränft offen; b) von Amtswegen aber 
ift jo lange an der Präjumtion feftzuhalten, als nicht bejondere Umſtände eine Er— 
hebung der Bertheidigungsthatfachen nahelegen. — So entfällt die Beitrafung 3. B., 
wenn der verantwortliche R. ein wejentliches Thatbeſtandsmerkmal nicht gekannt hat. 
Daß dies der Fall gewejen, bedarf befonderer Feſtſtellung, in deren Ermangelung 
die DVerurtheilung des NR. auszufprechen it. Die Teititellung des Irrthums kann 
nur erfolgen entweder auf Grund des von dem Angeklagten geführten Nachweiſes 
oder von Amtswegen; lebtereg aber nur dann, wenn bejondere Umjtände die Ans 
nahme eines Jrrthums nahe legen. — 

Das RpPreßgeſ. präfumirt ferner, wenn der R. nicht ala Thäter oder Theil— 
nehmer zu betrafen ijt, feine Fahrläſſigkeit; dieſer Präfumtion gegenüber kann 
er entweder den Gegenbeweis führen, daß er die pflichtgemäße Sorgfalt angewendet 
babe, bzw. daß ihm die Anwendung derjelben unmöglich gewejen jei, oder aber fich 
auf feinen Bormann (Verfaffer oder Einjender) berufen (f. d. Art. Preß ſtrafrecht). — 

Das Dejterr. Recht kennt die Präjumtion der dolboſen Thäterjchaft des ver- 
antwortlichen R. nicht, wol aber die Beitrafung defjelben wegen Vernachläſſigung 
der pflichtgemäßen Aufmerffamfeit; doc hat in diefem Falle der Ankläger den 
Nachweis des Verfchuldens zu erbringen. 


312 Redaktionsverſehen — Redefreigeit. 


III. Die erhöhte Verantwortlichkeit, welche das Geſetz an die Perſon des ver: 
antwortlichen R. knüpft, veranlaßt diejelbe, die Fähigkeit zur Uebernahme der ver: 
antwortlichen Redaktion einer periodifchen Drudichrift von dem Vorliegen gewiſſer 
perfönlicher Eigenjchaften abhängig zu machen, Eigenſchaften, welche einerjeits eine 
dem Geſetze entiprechende Haltung des Blattes verbürgen, andererjeits dem traf 
gerichtlichen Einjchreiten Erfolg fichern follen. Das RPreßgeſ. verlangt ($ 8): 
1) VBerfügungsfähigkeit; 2) Befi der bürgerlichen Ehrenrechte; 3) Wohnſitz oder 
gewöhnlichen Aufenthalt im Deutjchen Reiche. — Theilweife jtrenger das Oeſterr. 
Recht, welches von dem verantwortlichen R. verlangt, daß er Defterr. Staatsbürger 
jei und an dem Drte feinen Wohnfig habe, an welchem die periodiiche Drudichritt 
ericheint. — Die Beftellung eines gejeglich Unfähigen zum verantwortlichen R. und 
jeine Nennung auf der Drudjchrift ift (RPreßgeſ. 8 19) mit Geldtrafe bis zu 
150 Mark oder mit Haft bedroht. Die Strafe trifft alle diejenigen, welchen ein 
Verſchulden nachgewiefen werden fann. Dagegen wird nach Dejterr. Recht (Preßgeſ. 
$ 11) die Namhaftmachung eines gejeglich Unfähigen als verantwortlichen R. in 
der vor Herausgabe der periodijchen Drudichrift an die Behörden zu machenden 
Anzeige (ſ. d. Art. Herausgeber) mit einer Geldjtrafe von 50—500 Gulden 
und außerdem mit Arreft von einer Woche bis zu einem Monat belegt. 

Lit.: ©. hinter dem Art. Preßgeieggebung. — Vgl. aud die Art. Herauägeber, 
Breßgewerbe, Prebpolizei, Preßftrafredt. — v. Liszt. 

Nedaktionsverfehen. Unter R. eines Geſetzes verfteht man im Allgemeinen 
jede mangelhafte Ausdrucksweiſe eines geſetzgeberiſchen Gedankens. Dafjelbe ift zu 
trennen einerſeits von denjenigen Fällen, in welchen der Gedanke des Gejehgeber: 
zwar forreft ausgedrüdt, aber inhaltlich verfehlt ift (Denkfehler), ſowie andererjeits 
von denen, in welchen der forrefte Ausdrud, den der Gejeßgeber wählte, bei 
der Publikation des Tertes unrichtig wiedergegeben wird (Druckfehler). Während 
die Befeitigung von Drudfehlern ebenjo unbedingt gejtattet, wie die Berichtigung 
von Denkjehlern verjagt ift, muß bezüglich der Stellung des Richterd gegenüber den 
R. folgendermaßen unterjchieden werden. In der Regel wird der vom Gefehgeber 
gebrauchte, mangelhafte Ausdrud zu eng oder zu weit fein, den Gedanken aljo nur 
unvolltommen wiedergeben. Hier ift auf dem Wege der ertenfiven oder rejtriftiven 
Auslegung Abhülfe zu jchaffen. Dagegen giebt e8 andere, freilich jelten vorfommende 
Fälle, in denen ſich Gedanke und Ausdrud durchaus widersprechen. Ihnen gegen: 
über ift die Auslegung offenbar machtlos, und es bleibt nur die Alternative, ent- 
weder den publizirten Wortlaut troß feines nachweisbaren Widerfpruches mit dem 
gejeßgeberifchen Gedanken zur Anwendung zu bringen, oder den Gejeßestert dem 
Gedanken des Gejegebers entiprechend abzuändern. Nur wenige Schriftjteller ent- 
jcheiden fich für eine ſolche Zertesforreftur und auch unter diefen bejtehen noch 
mannigfache Meinungsverjchiedenheiten. 

Lit ütze in Goltdammeer's Archiv 1872 ©. 350-373. — Sontag, Die R. 
F —— reib. 1874. — Merkel in v. Holtzendorff's Handbuch bes —E 


— v. Wächter, a Tragen IH. (Aladem. Programm), Leipz. 1877 
(aud) im Gerichtsfaal 1877 ©. 321—839 Sontag. 


Nedefreiheit. - Die R. der Mitglieder gejehgebender Berfammlungen, d. h. die 
Nichtverfolgbarfeit derjelben vor den ordentlichen Gerichten des Landes wegen ihrer 
Abjtimmungen und wegen ihrer in den gejeßgebenden Verſammlungen gehaltenen 
Reden, jet für das Deutjche Reich durch Art. 30 der Verfaffung für das Deutiche 
Reich und $ 11 des Deutichen StrafGB. unbedingt und ausnahmalos an 
erkannt, eriftirte zur Zeit des früheren Reichajtaatsrechtes nicht; wurde auch von 
den älteren Publiziften gar nicht gefordert. Johann Jakob Mojer verlangt — 
gegenüber den gewaltthätigen Gingriffen, welche einzelne Landesherren, bejonders 
von Medlenburg und von Württemberg, gegen die Mitglieder der Stände: 
verjammlungen fich erlaubt Hatten — nur den Schuß der ordentlichen Gerichte, wie 


Redefreiheit. 313 


derielbe jedem, auch dem geringften Unterthan nicht entzogen werden dürfe. Die 
neueren Deutjchen Verfaſſungsurkunden haben aber den Grundſatz anerfannt, daß die 
Mitglieder der gejeßgebenden Verſammlungen in diefer ihrer Eigenſchaft unverleglich 
fein — (vgl. 3. B. Preuß. Verf. Urk. Art. 84) — und als ein Theil diefer Un- 
verleglichkeit ftellt fich denn auch ihre Unverfolgbarkeit wegen der von ihnen in der 
gejeßgebenden Berfammlung gehaltenen Reden heraus. Doch waren hierbei folgende 
Verichiedenheiten bemerkenswerth: 1) Einige VBerfaffungen ftüßten fih auf Art. 9 
der bill of rights (That the freedom of speech and debates er proceedings in 
Parliament ought not to be impeached or questioned in any court or place out 
of Parliament) und fchloffen jegliche Verfolgbarfeit der von Mitgliedern geſetzgebender 
Verrammlungen gemachten Neußerungen aus. Nur innerhalb des Haufes war auf 
Grund der Gejchäftsordnung defjelben gegen fie zu verfahren. Die Geichäftsordnungen 
Deuticher Parlamente unterjcheiden fich aber darin von der des Engliichen, daß die 
legtere außer den Rügen auch Einkerlerungen und Ausftoßungen der Mitglieder aus 
dem Parlamente gejtattet, während erjtere nur Rügen des Präfidenten gegen die 
erzedirenden Mitglieder kennen — nur die Bayerifche Geichäftsordnung der zweiten 
Kammer vom 28. Febr. 1825 und das Meiningenſche Verfafjungsgejeß von 1829 
fennen auch die Ausfchliegung erzedirender Mitglieder aus der Kammer. Dieje die 
volle Unverantwortlichkeit der Kammermitglieder anerfennenden Berfaffungen find: 
Die Bayerifhe Verfaffung (26. Mai 1818, Art. 27); die Sadjen- 
Meiningenjche Berfaffung (1829, Art. 99); Preußiſche Berfaffung (31. Jan. 
1850, Art. 48: „Sie [die Mitglieder beider Kammern] können für ihre Abjtimmungen 
in der Kammer niemals, für ihre darin ausgefprochenen Meinungen nur innerhalb 
der Kammer auf den Grund der Gefchäftsordnung [Art. 87] zur Rechenfchaft gezogen 
werden”); die Verfaffung des Norddeutichen Bundes Art. 30: „Kein Mit— 
glied des Keichstages darf zu irgend einer Zeit wegen jeiner Abjtimmung oder wegen 
der in Ausübung feines Berufes gethanen Aeußerungen gerichtlich oder disziplinariich 
verfolgt oder ſonſt außerhalb der VBerfammlung zur Verantwortung gezogen werden“. 
Dieſe Beitimmung reproduzirte den Art. 4 des von der Frankfurter National- 
verfammlung beichloffenen Geſetzes vom 30. Sept. 1848, und iſt unverändert in 
die Verfafſung für das Deutiche Neich übergegangen. 2) Gine zweite Kategorie von 
Verfaffungen ließ die Umverantwortlichkeit der Kammermitglieder zwar der Regel 
nach beftehen, machte jedoch von diejer Regel Ausnahmen, und zwar theils in der 
Beife, daß von der Nichtverfolgbarkeit nur ausgenommen werden folche Delikte, 
welche die Verlegung einer Privatperjon enthalten — Heffen-Darmitadt (Verf.Urf. 
1820, $ 83), die frühere Kurheffiiche (1831, $ 87), jowie die frühere Hohenzollern 
Siegmaringenſche Verf. Urk. (1833, $ 183); theils in der Weife, daß außer Privat: 
deliften auch einzelne gegen den Staat gerichtete Delikte — Aeußerungen hochver- 
rätherifchen Inhalts, Beleidigung der Majeftät und der Regierung, Beleidigungen 
und Berleumdungen der Ständeverfammlungen, des Bundestages, und ähnliches — 
ausgenommen wurden. Zu den Berfafjungen der letzteren Art gehören: die frühere 
Hannöveriſche Berfaffung (1833, $ 110); die Württembergijche VBerf.Urf. 
(1819, $ 185); die er Weimariiche Verf. Urk. (1816, $ 68); die Wal: 
dedje Verf.Ukf. (1852, $ 68) und die Königl. Sächſiſche Verf. Urk. (1831, 
s 83). 3) Die Braunfchweigifche Verfaffung (1832, $ 134) und die Ver— 
— von Reuß jüngerer Linie (1849, 8 111) kennen für die Abgeordneten 
teinerlei Eremtion von den Landesgeſetzen. 4) Die Oldenburgijche Verfaſſung 
(1849, Art. 148) geſtattete, daß der Landtag ein von einem Abgeordneten in Aus— 
übung feines Berufes begangenes Delikt, abgejehen von der eigenen förmlichen Miß- 
billigung, auch an die Gerichte verweijen dürfe. 
Dieje Berichiedenheiten find nun durch 8 11 des Deutjchen StrafGB. in der 
Weile bejeitigt, daß der in Art. 30 der Verfaffung für das Deutjche Neich aner- 
fannte Grundſatz auch auf die Mitglieder der Landtage oder Kammern der zum 


314 Reduktion der Geihworenenliite. 


Deutichen Reiche gehörenden Staaten übertragen worden iſt. Es bezieht fich dieſe 
Vorschrift auf die Mitglieder der Vertretung des Staats, nicht aber auf die Mit— 
glieder von Provinzial, Gemeinde-, Kreisverwaltungen; auch bezieht fich dieje Bor: 
jchrift nur darauf, daß die betreffenden Perfonen nicht außerhalb der Verfammlung, 
welcher fie angehören, zu Verantwortung — ftrafrechtlich oder disziplinariſch — 
zogen werden dürfen. Die partifulären Verjchiedenheiten der Disziplin, welde in 
den parlamentarischen VBerfammlungen gegen deren Mitglieder geltend zu machen if, 
find jelbjtverjtändlich beitehen geblieben. 

Lit: & Herrmann, Die ftrafrehtliche Verantwortlichkeit der ge ber Stänke: 
verfammlung (Archiv des Krim. Rechts, 1853, ©. 341 ff.) — v. Bar, Die Rechte der Mit: 
lieder geſetzgebender erg rn mit befonderer Beziehung auf Preußen, Leipz. 1868. — 
$, A Sadariä. Ueber Art der Preuß. Verf. Urk. (Leipz. 1866). — Beſchluß bes tal. 
Trib, vom 29. Januar 1866, betr. ben Art. 84 ber Preuß. Verf. Urk. vom 31. Jan. 1850, 
mit einem frit. Kommentar verfehen in John, Kritiken firafrehtliher Enticheidungen dei 
OTrib. (Berl. 1866). — Buyn, La liberte de la ole (Amsterdam 1867) und hierzu 
v. Holgendorff im feiner Gtrafrechtäztg., 1868 24. — dv. Rönne, Staatsrecht ber 
zus onardhie, Ib ©. 428, 794. — —— Schulze, Dad Preuß. Staatäredt, I. 


. 165. — v. Schwarze, Kommentar en StrafGB. für das Deutiche Reich (4. Aufl.) 
. 177}. — Laband, Staatsrecht, Bb. I. ©. 570 ff. John. 


Reduktion der Geihworenenlifte — im Gegenjage zu der durch Wahl und 
Ausloojung bewerfitelligten Bildung der Jahres» und der Dienitlifte (Spruchlifte) — 
ift jener Vorgang, vermöge deffen ein Beamter, kraft des ihm durch das Geſetz ein- 
geräumten Rechtes, aus der ihm vorgelegten Lifte eine Anzahl von Namen jtreict. 
So ward nach der Preuß. Verordnung von 1849 (SS 67, 68) dem Schwurgerichtö- 
präfidenten vom Negierungspräfidenten ein Verzeichniß von 60 aus der Jahresliſte 
herausgegogenen Perfonen überjendet, das er auf 36 Namen reduzirte. Desgleichen 
überjendete ihm nach der StrafP OD. für die anneftirten Preußifchen Provinzen ($ 287) 
der erite Präfident des Appellationsgerichts ein Verzeichniß von 48 Namen, das 
er auf 30 reduzirte. Gine andere Form der R. trat in Baden ein, wo der Prü- 
fident des NKreisgerichtes die Jahreslifte auf 100 Namen für jede Seſſion herabſetzte, 
worauf dann erft durch Ausloofung die Dienjtlifte (30 Namen) gebildet ward. — 
Eine ähnlihe R. um nahm in Württemberg der Vorſitzende des Kreisgerichts 
im Verein mit den zwei ältejten Räthen vor, worauf erjt die Auslooſung der 30 
Gejchworenen für die Seffion erfolgte. — Nach dem königl. Sächſ. Geſetz vom 14. 
September 1868 jeßte der Präfident der lebten Schwurgerichtsfigung die Jahre: 
lite auf die Hälfte herab. Auch das Deutiche GVG. jchreibt einen Vorgang vor, 
den man als einer Reduktion der Jahreslifte gleichfommend anjehen kann. Die Jahres 
lifte entjteht nämlich dadurch, daß ein bei dem Amtsgerichte unter VBorfit des Amte- 
richters zufammentretender Ausschuß von VBertrauensmännern ($ 40) diejenigen Per: 
jonen aus der Urlifte auswählt, welche er zu Gefchworenen für das nächite Ge 
ichäftsjahr vorjchlägt. Diefe Vorſchläge find nach dem dreifachen Betrage der 
auf den Amtsgerichtsbezirt vertheilten Zahl der Gejchworenen zu bemeſſen (S 87). 
Dieſe Vorichlagsliite gelangt an den Präfidenten des Landgerichtes und wird in einer 
Situng deffelben, an welcher fünf Mitglieder mit Einſchluß des Präfidenten und 
der Direktoren theilnehmen, dadurch auf ein Drittel reduzirt, daß aus der (wie 
gejagt die dreifache Zahl umfaffenden) Lifte die für das Schwurgericht beftimmte Zahl 
von Hauptgejchworenen und Hülfsgefchworenen „gewählt“ wird ($ 89). So entiteht 
die Jahreslifte, aus welcher die Dienftlifte Lediglich durch VBerloofung gewonnen wir. 
(Die Bildung der Jahreslifte in Defterreich beruht zwar auf einer ähnlichen Opera: 
tion, einer beim Kreisgerichte zufammengejegten, aus Richtern und VBertrauensmännern 
der Bevölferung beitehenden Kommiſſion [SS 11—65 des Ge}. vom 23. Mat 1873 — 
R.G.Bl. Nr. 121]; allein da Hier freie Auswahl aus der vollen Urlifte ftattfindet, 
fällt der Vorgang nicht unter den Gefichtspunft der R.) 


Gtajer. 


Reeves — Reformatio in peius. 315 


Reeves, John, & 1752, wurde 1791 Chief Justice of Newfoundland, 
29. 


118 
Schriften: An inquiry into the nature of property and estates, Lond. 1779. — Chart 
of Penal laws, 1779. — History of tbe English law from the Saxons to the end of the 
reign of Henry VII. 1784, 2. ed. — to the reign of Elizabeth, 1787—1829, new edit. by 
Finlason, Lond. 1869; new Amer. ed. Philadelphia, 1880. — Legal considerations on the 
regeney as far as regards Ireland 1789. — Hist. of the government of the Island of New- 
foundland, 1793. — Hist. of the Law of Shipping and Navigation from Edward III. to 


1806, 2. ed. 1807. 
git.: Allibone, Dictionary, 1870. — Krit. B. J.Schr. XII. 228. Teichmann. 


Nefaktie, Franz.: refaction. Bei zahlreichen Waaren, welche nach Gewicht verkauft 
werden, ift eine Beimifchung fremder Bejtandtheile unvermeidlich; mit Rüdjicht be— 
rechnet der Käufer einen Gewichtsabzug für die etwa vorhandenen Unreinigkeiten und 
im Zufammenhang damit einen Abzug vom Kaufpreis, R. (Art. 352 de HGB.). 
Vielfach jet der Verkäufer bereit? den üblichen Betrag in der Rechnung ab. Der 
Betrag der R. kann auch vertragsmäßig feſtgeſetzt oder geſetzlich tarifirt fein. Die 
R. führt fich auf einen Qualitätsmangel zurüd, es wird damit das Recht des Käufers, 
vom Bertrage zurüdzutreten, auf eine Preisminderung eingeſchränkt. Val. auch d. Art. 
Gutgewicht. — Im Gifenbahnfrachtverfehr wird unter R. eine Rüdvergütung an , 
den Berrachter zur Verringerung des tarifmäßigen Frrachtjages verbunden. Der Bes 
günftigung einzelner Spediteure ꝛc. durch die Bewilligung von R. wird entgegen= 
gewirkt und verlangt die Defterr. R.-Verordnung vom 12. Mär; 1879 (Gold= 
ihmidt ꝛc., Zeitſchrift ſ. d. gei. H.K. XXVI. 530) die Veröffentlichung. 

Lit.: Thöl, H.R., 6. Aufl, S. 813. — Entſch. d. ROHG. Bd. VII. ©. 9 und die 


dort angeführte Lit. — Mittermaier in Goldjhmidt zc., Ztichr. f. d. ge. H.R., Bd. XII. 
Beilageheft S. 79. — Lyon-Caen & Renault, Precis de droit commercial, I. 348. — 


Gareis, H.R. ©. 343. Keyßner. 


Reformatio in peius. Unter reformatio in peius, in durius verſteht man 
die Abänderung des ergangenen Urtheils zu Ungunften des Beichuldigten in einer 
höheren Inſtanz. Im Römischen Recht kommt der Ausdrud in diefer Bedeutung 
nicht vor, vielmehr bezeichnet Ulpian in 1. 1 pr. D. de appell. 49, 1 mit in 
peius reformare das Fällen eines weniger guten Urtheils in der Appellinftanz. Jedoch 
fonnte eine Beränderung des Spruchs immer nur zu Gunjten des Appellanten ge= 
ihehen, das entjprach einzig der humanitatis ratio, auf welcher die Zulafjung des 
Rechtämittelö überhaupt geichehen (vgl. 1.6 D. 1. c.), und geht auch aus 1. 39 pr. 
C. de appell. 7, 62 deutlich hervor. Dieje Auffaffung bildete auch in Deutichland 
jowol für den Akkuſations- wie den Angquifitionsprozeß die Regel. Bei lekterem 
fonnte man jogar von einem abfoluten Verbot der r. i. p. jprechen, indem Rechtsmittel, 
fomweit fie überhaupt zuläffig waren, alö ein beneficium des Verurtheilten erjchienen. 
Ein Vertreter des jtaatlichen Interefies war neben dem Richter nicht vorhanden, 
und daß dieſer fein eigenes Urtheil angegriffen hätte, war natürlich ebenſo undenkbar 
mie unzuläſſig. Der in zweiter Injtanz zuftändige Richter hatte daher das fragliche 
Urtheil nur aus dem Gefichtspunfte der unzuläffigen Beichwerung des Remedenten 
zu prüfen und mußte das Nechtsmittel ebenſo zurüdweifen, wenn er den Spruch 
des früheren Richters für zu milde, als wenn er ihn nur für gerecht hielt. Don 
diefem durch die communis opinio gebilligten Verbote der r. i. p. wich aber die 
gemeinrechtliche Praris jowol, wie die Gejeßgebung einzelner Staaten, 3. B. Bayern, 
Heften, Württemberg, ab, weil man einen Berftoß gegen das Streben nach materieller 
Wahrheit darin erblidte, wenn der zweite Richter in irgend einer Weije be- 
ichränft würde. Doch kann diefe Rückſicht für die Rechtsmittelinſtanz nicht maß— 
gebend fein. Wenn der Staat in öffentlichem Intereffe die Rechtmäßigkeit der erjten 
Urtheile prüfen will, jo fonnte das im Inquiſitionsprozeſſe nur durch eine von 
Amtswegen vorzunehmende Nevifion feitens der Obergerichte gefchehen , wenigſtens 
wäre es faum rationell gewejen, den Gintritt einer jolchen Prüfung davon abhängig 


— — — 


316 Reformatio in peius. 


zu machen, daß der Verurtheilte fich beichwert fühlt. — Im öffentlich mündlichen 
Verfahren kann von einem abjoluten Verbote der r. i. p. nicht mehr die Rede fein, 
jedoch wird man ihre Zuläffigkeit auf die von der Staatsanwaltjchaft ergriffenen 
Rechtsmittel beichränfen müſſen. Die Rechtsmittel find eben Rechtsbehelfe der jtrei- 
tenden Parteien, von denen die eine das öffentliche, die andere nur ihr eigenes 
Interefje vertritt. Wenn nun auch die Prüfung des angegriffenen Urtheils jeitens 
des zweiten Richter noch jo weit gehen fann, wenn auch da® neu eingeleitete Ver: 
fahren fich auch ganz wie ein iudicium novum anläßt, jo ijt es doch immer nur 
durch einen Parteiantrag hervorgerufen und kann ohne bejondere gefeliche Beitimmung 
feinen anderen Griolg haben ala die erwünjchte Remedur herbeizuführen oder das 
alte Urtheil beitehen zu laffen. Durch diefe Erwägung erledigen fich wol auch die 
Bedenken, welche v. Kries, ©. 112 ff., gegen das ®erbot der r. i. p. bei der 
Berufung de lege ferenda hegt. 

Die Oeſterreichiſche StrafPO. (vgl. bezüglich der Nichtigkeitöbejchwerde 
$ 290 4. 2, der Berufung $ 295 4. 2 und $ 4729. 2, der Wiederaufnahme des 
Verfahrens $ 359 A. 4) und ebenjo die Deutjche ftehen auf diefem Standpuntt. 
In der leßteren ift auch die r. i. p. verboten, jowol bezüglich der Rechtsmittel 
(Berufung $ 372, Revifion $ 398 U. 2) wie der Wiederaufnahme des Verfahren: 
($ 413), wenn das neue Urtheil herbeigeführt wurde von dem Angeklagten (reip. 
DVerurtheilten) oder zu Gunften deffelben von der Staatsanmwaltichaft oder dem ge 
jeglichen Vertreter eines Beichuldigten bzw. dem Ehemanne einer bejchuldigten Frau. 
Daß auch die für den Angeklagten auf Grund einer vermutheten Vollmacht von den 
dazu berechtigten Perfonen (vgl. 88 324, 339) eingelegten Rechtsmittel diejelbe 
Wirkung haben, verjteht fich von ſelbſt. — Bezüglich des Inhalts diejes Verbote 
it die Ausdrucksweiſe des Geſetzes nicht vollkommen übereinftimmend. Während 
$ 372 (Berufung) vorjchreibt, daß das Urtheil nicht zum Nachtheile des Angeklagten 
abgeändert werden darf, foll bei der Revifion ($ 398 N. 2) und der Wiederauf- 
nahme ($ 413) das neue Urtheil eine härtere Strafe ald die in dem erjteren früheren 
erkannte nicht verhängen. Nach der communis opinio (vgl. Löwe, $ 638 N. 2) 
joll diefer Unterfchied in dem Wortlaute der Gejebesftellen feine Bedeutung haben. 
Anderer Meinung ift BPuchelt ($ 583 N. 3) und wol mit Recht. Wenn man aud 
zugeben mag, daß ein Grund für diefe Verfchiedenheit faum vorhanden jein dürfte, 
fo reicht doch die Erklärung, welche Löwe darin finden will, „daß $ 398 fchon in dem 
Entwurfe enthalten war, während $ 372 erſt von der Reichsjuſtizkommiſſion aufgenommen 
worden iſt“, ſchwerlich aus. Uebrigens geben die Protokolle gar feine Aufklärung 
über die Meinung der Kommiffion, welche in erjter Leſung (vgl. v. Hahn, ©. 1025) 
auf den Antrag Thilo’s Hin den Paragraphen in folgender Faſſung annahm: „daß 
fein Urtheil eine härtere Strafe als die in dem erften erkannte verhängen dart“, 
während in zweiter Lefung ein Antrag Strudmann’s (vgl.v. Hahn, ©. 1387 u. 
1397) durchging, welcher die Abänderung zum Nachtheil des Angeklagten verbot, 
ohne daß diefe Faſſung überhaupt diskutirt worden wäre. Daß die Redaktions— 
kommiſſion jpäter die Verjchiedenheit überjehen hat, ift war denfbar, aber der Richter 
darf ihr nicht folgen, wenigſtens dann nicht, wenn mit den verfchiedenen Worten ſich 
ein verjchiedener Sinn verbindet, wie das bier unzweifelhaft der Fall ift. Das Ver— 
bot einer Abänderung zum Nachtheil des Beichuldigten hindert das zweite Gericht 
an einer nachtheiligen rechtlichen Dualififation der That, während bei dem Werbote 
der härteren Beftrafung auf die zu Grunde gelegte Qualifitation nicht? anfommt. 
Es kann alfo der Berufungsrichter 3. B. nicht ftatt Unterjchlagung, welche das erite 
Gericht angenommen hatte, wegen Diebitahls bejtrafen, was für den Angeklagten 
nachtheiliger wäre, weil dieje Berurtheilung jpäter eventuell die Zuläffigkeit der 
Beitrafung wegen Rüdfalls begründen könnte (vgl. dagegen Thilo, ©. 423 M. 4, 
weil fein gegenwärtiger, jondern erft ein zukünftig möglicher Nachteil in Trage 
täme). Unrichtig wäre e8 aber jedenfalls, wenn man daraus die Nothwendigkeit 


Reformatio in peius, 317 


einer Freiſprechung folgern wollte, falls die geringere Qualifikation als rechtsirrthümlich 

ericheint (Yömwe, J. c.;v. Kries, ©. 114). Es wird vielmehr das erjte Urtheil uns 

verändert bleiben müflen, denn ein darin begangenes Verſehen kann die Aufhebung 
nur dann veranlaffen, wenn e8 den Remedenten beſchwert. Damit erledigt ſich auch der 
von Löwe hervorgehobene Fall, daß der zweite Richter in die Lage fommen fönnte, 

eine gejehlich unzuläffige Strafe zu verhängen, 3. B. wenn wegen Unterjchlagung 
ju einer Geldftrafe verurtheilt war und er Diebjtahl annähme — Von Einfluß 
it der erwähnte Unterjchied auch dann, wenn in erjter Inftanz eine Gefammtitrafe 
verhängt wurde, während in zweiter theilweife Freiſprechung erfolgte. Die Nicht: 
berüdfichtigung der letzten bei Ausmeffung der Gefammtitrafe ftellt eine Aenderung 
zum Nachtheil des Angeklagten dar, denn dafjelbe Endrefultat hätte nicht erreicht 
werden fönnen, wenn das zweite Urtheil die noch übrig bleibenden Einzelftrafen nicht 
anders behandelt hätte, ala das in erſter Inſtanz geſchehen (vgl. Erk. des Reichsger. 

vom 30, Oktober 1879, Rechtſpr. I, ©. 25; auch Oppenhoff, StrafGB., ©. 207 
R. 28, 212 N. 8; Olshaufen, Kommentar zum StrafGB., ©. 328 N. 1). 

Natürlich fann der Verurtheilte nicht verlangen, daß der volle Betrag der nunmehr 
torttallenden Einzelftrafe von der Geſammtſtrafe in Abzug gebracht werde, eine r. i. p. 
liegt nicht vor, wenn die noch beftehenbleibende Einzelitrafe in ihrem vollen Umfange 
verhängt wird, oder eine etwa noch nöthige Gejammtitrafe den Betrag der ver- 
wirkten Ginzelftrafen nicht erreicht und eine Reduktion mit Rückſicht auf die fort- 
gefallene Strafe jtattgefunden hat. — Gegenüber dem Verbote, eine härtere Strafe 
zu verhängen, muß dagegen die Gefammtitrafe als Einheit erjcheinen, ohne daß es 
auf die einzelnen Faktoren ankäme, aus welchen fie fich zufammenfegte. So Löwe 

S. 639 N. 4b; Keller, ©. 408; Puchelt, ©. 584 N. 4; vgl. Erf. des Reichsgerichts 
vom 12. Juli und vom 22. September 1880; Rechtipr. I. ©. 186 und 239. — 
Ein weiterer als der durch die abweichende Faffung von 88 372 und 398 bedingte 
Unterschied befteht in Bezug auf die r. i. p. zwiſchen Berufung und Revifion nicht. 
Co gilt das betreffende Verbot auch dann, wenn der Berufungsrichter die Sache zur 
Enticheidung an die erite Inſtanz zurüdverwies ($ 369 A. 2). Anderer Meinung: 
v.Kries, ©. 118, weil fih in dem 3. Abfchnitte fein Hinweis darauf fände, daß 
$ 398 A. 2 analog zur Anwendung kommen jolle. Giner Analogie bedarf e8 aber 
gar nicht, weil das in $ 372 enthaltene Verbot ganz allgemein gegeben ift, ohne 
daß der Gejeßgeber auf die Möglichkeit der verjchiedenartigen Erledigung bejondere 
Rüdficht genommen hätte. 

Eine härtere Strafe kann alſo in feinem Falle verhängt werden. Dies Verbot 
bezieht fich auch auf die Verbindung mit einer Nebenjtrafe, die Ertheilung der Be: 
fugniß zur Publikation des Urtheils zc., auch darf die Anrechnung einer etwa er— 
littenen Unterfuchungshait in zweiter Inſtam nicht abweichend von dem erſten 
Urtheile unterbleiben (vgl. Erk. des Reichsgerichts vom 4. Dezember 1880; Rechtſpr. 
I. S. 602). Ebenſowenig wäre eine Umwandlung der Strafe, abgeſehen von der 
einer Gelditrafe für den Unvermögenzfall, zuläffig und könnte der zweite Richter, 
wenn er ftatt einfachen Diebftahls jchweren annähme, jtatt auf 18 Monate Gefängnik 
auf 1 Jahr Zuchthaus erkennen. Troß des $ 21 des StrafGB. ift, ganz abgejehen 
davon, daß Zuchthaugftrafe wegen der nothwendigen und möglichen damit ver- 
bundenen Ehrenfolgen ($$ 31, 32, vgl. auch $ 20 des StrafGB.) fchwerer als jede 
andere erjcheint, jchon wegen der Art der Vollſtreckung, Zuchthaus härter als Gefängniß 
und Gefängniß härter als Feſtungshaft. 

Etwa denkbare jchädliche Folgen des Verbotes der r. i. p. können deshalb nicht 
eintreten, weil der Staatsanwalt geeigneten Falles durch Ergreifung don Rechts— 
mitteln dafür forgen wird, daß der Richter das Urtheil auch zu Ungunjten des 
Angeklagten abzuändern vermag. Jedoch wird man eine folche Wirkung des von 
der Staatsanwaltichait ergriffenen Nechtsmittel® nur dann annehmen dürfen, wenn 
daffefbe nicht als unbegründet zurüdgewieien wird. So Geyer, ©. 835; Bom- 


318 Regalien. 


hard und Koller, ©. 289 N. 2; Löwe, 668 N. 5. Ausdrücklich iſt dieſer 
Fall im Geſetze nicht vorgejehen, doch wäre hier eine ftrifte Buchitabeninterpretation 
nicht angebracht, da eine ſolche dahin führen könnte, das Verbot der r. i. p. 
illuforisch zu machen. 


Lit.: depr in der Zeitichr. für enge —— N. F. 2b. TI. (1844 
S. 297 fl. — Goltdammer in feinem Archiv Bd. IV. .; 2b. VII. ©. 314 fi. — 
v. Schwarze im Gerichtsſaal 1857 I. ©. 450 ff.; 1862 © "279 f.; 1868 ©. 380 ff. — Wr: 
nold im Geridhtäjaal 1858 ©. 207 ff. — Seufiert, 35 die r.ı. p. x, Münch. 1861. — 
en im Gerichtslaal 1865 ©. 473 ff. — Bahariä, Handbuch des Deutichen al 
Bd. => 581, 606, 630, 659 u. fonft. — v. Krieg, Die Rechtsmittel x., ©. 112 


252 286 ff. — v. Schwarze in vd. olpenborff: 8 Handbuch bes Strafprogeijrechts 
Bd. Il. ©. 264, 284. — augen, RStrafßrz. (3. Aufl.), ©. ff., 320, 328. — John, Tas 
Deutiche Strafprogehreht, S — Geyer, Lehrbuch des gemeinen Deutichen trafprogeh; 


rechts, ©. 813 ff., 852. — * Kommentare zur Deutichen StrafPO. bei den betreffenden 
Paragraphen, ae Bomharb und Koller, Dalde, BEIN: Löwe (2. Aufl.) 
Pudelt,v. Schwarze, Thilo, Voitus. v. Lilienthal. 


Negalien. Der Ausdrud „regalia‘‘ hat in den amtlichen Aktenſtücken der 
Reichsfanzlei, in denen er fich zuerft findet — dem Konkordat von 1122 und der 
constitutio Friderici I. de regalibus von 1158 — , nicht die technifche Bedeutung, 
die wir demjelben gegenwärtig beilegen; dort find die den geiftlichen Fürſten vom 
König geliehenen weltlichen Rechte, — hier die dem König überhaupt (umd zwar 
in Oberitalien) zustehenden Regierungsrechte und Beiuguiffe jo genannt. (Vgl. aud 
die Rechtiprüche von 1234 und 1238 bei Franklin, Sententiae curiae regiae, 
Nr. XII, XIII und LVII). Die Goldene Bulle, welche c. IX. den Kurfürſten den 
ruhigen Befit des Bergwerf:-, Salz: und Salinenregals zufichert, gebraucht das 
Mort „R.“ dabei nicht, wol aber gejchieht dies in der Wahlfapitulation von 1519, 
wo der Ausdrud joviel wie NRegierungsbeiugnifje überhaupt bedeutet. Ebenſo auch 
in der damaligen Literatur und ähnlich im J. P. O.a. VIII. $ 1. Seit der Mitte 
des 16. Jahrhunderts findet fich aber jchon bei den Schriftitellern die befannte 
Unterfcheidung von regalia maiora und minora, wobei es freilich jtreitig blieb, was 
zu diefen und was zu jenen zu rechnen jei; auch der Gattungsbegriff: Regal erlangte 
feine bejtimmte juriftiiche, allgemein anerfannte Bedeutung. Im 17. und 18. Jahr: 
hundert gewöhnte man fich den Ausdrud: R. auf nutzbringende R. der Landes: 
herrſchaften zu bejchränfen, und nannte diefe: R. im eigentlichen Sinne, reg. minora, 
accidentalia, im Gegenjaß zu den unveräußerlichen, unübertragbaren Hoheitsrechten, 
reg. majora, essentialia; in diefem Sinne etwa werden Hoheitsrechte und R. auch 
in den Wahlfapitulationen von 1790 und 1792 neben einander genannt. Ebenſo 
ging man bei der Nedaction des Preuß. Allg. ER. im Wefentlichen von diefer Unter: 
icheidung aus. „Unter R. überhaupt”, lehrte Suarez, „werden alle Rechte des 
Staates und jeines Oberhauptes über die bürgerliche Geſellſchaft und deren einzelne 
Mitglieder verjtanden“ ; fie jeien aber zu theilen in Majejtäts- oder Hoheitsrechte 
und in nußbare Rechte, Zu den nußbaren Rechten num rechnet das Gejeßbuch alle 
Staatseinfünfte aus dem Belteuerungsrecht (welches zugleich ein Majeftätsrecht ift) 
und aus dem Staatäeigenthum; das letztere ift entweder bejonderes Staat: 
eigenthum (Domänen) oder gemeines (Land- und Heerftraßen, jchiffbare Ströme, 
das Ufer des Meeres und die Häfen: Tit. 15 Th. II., — herrenloje Sachen und 
Güter: Tit. 16, — Abfahrts- und Abzugsgelder, Konfisfation, gewiſſe Gelditrafen: 
zit. 17). Die Nutungsrechte diejer eben genannten. Arten de8 gemeinen 
Eigenthums des Staates nennt dann das Geſetzbuch niedere R.: $ 24 Tit. 14 Th. 
II. Preuß. Allg. ER. 

In neuerer Zeit hat man fic vielfach mit dem ſtets ſtreitig geweſenen Begriff 
der R. beſchäftigt, iſt aber zu einem allgemein befriedigenden Refultat nicht gelangt. 
Die Kameraliſten haben wenigſtens den Vorzug, daß für ſie der ſyſtematiſche Ge— 
ſichtspunkt, von welchem aus die Lehre zu behandeln, von vornherein gegeben iſt, 


Negalien. 319 


weil man allgemein die R. ala Einnahmequellen für den Staat auffaßte. Davon 
aber abgejehen, findet man auch bei ihnen die verfchiedenjten Begriffsbejtimmungen. 
Rau 3. B. verfteht darunter „Vorrechte der Staatägewalt in Beziehung auf ein 
Gewerbe, welches ohne eine bejondere gejegliche Beitimmung zu den bürgerlichen 
Rahrungszweigen‘ gehören würde”, und bezeichnet ala Gegenftände der R. Erd arbeiten 
(Bergbau, Förderung des Steinfalzes und der Salzjoole, Sammeln von Salpeter— 
erde, Goldwäfcherei, Jagd, Fiicherei), Handwerksarbeiten (Salzfieden, Münz— 
prägung, Tabaksbereitung zc.), Handelsgeichäfte (Salzhandel), Dienjtgeichäfte 
(Bolt, Telegraph, Eijenbahn, Lotterie), jo daß alſo Berechtigungen der verjchiedenjten 
Art demjelben Begriffe unterjtellt werden (Grundfäße der Finanzwiſſenſchaft, 1. Abth. 
$ 85 und 166, 5. Aufl), Mar Wirth definirt: „Das R. oder Hoheitärecht 
it diejenige Befugniß des Landesherrn, reip. des Staates, welche er aus jeiner 
Egenſchaft als Obereigenthümer jchöpft“, und führt als R., die noch heute eriftirten, 
folgende auf: Bergwerk, Salze, Salpeter-, Münze, Papiergeld», Poſt-, Eijenbahnz, 
Zelegraphen-, Tabak-, Kalender-, Spielkarten», Fähr:, Floß- und Schiffahrts-, ſowie 
endlich das Lotterie-R. (Grundzüge der Nationalökonomie, II. ©. 350, 2. Aufl.). 
Schäffle bezeichnet die R. oder nutzbaren Hoheitsrechte ala „Gewerbszweige, welche 
die Regierung vermöge eines die Konkurrenz der Bürger ausſchließenden Vorrechts 
betreibt” und konſtatirt ein ſolches Vorrecht hinſichtlich des Betriebes von Bergbau, 
Salzerzeugung, Münze, Tabak, Lotterie, Poſt, Eiſenbahn, Telegraphen (National— 
öfonomie, $ 277 ©. 533, 2. Aufl.). Ad. Wagner (Finanzwiſſenſchaft, 2. Aufl. 
1877) unterfcheidet privatwirthichaftliche und jtaatäwirthichaftliche Einnahmen des 
Staates und unter leßteren wieder Steuern und Gebühren: beide fünnen in der 
Rechtsform der R. vorkommen; die Ginnahmen aus regalifirter gebührenpflichtiger 
Staatsthätigkeit (Poſt-, Münz-, Telegraphenwejen) jeien Gebühren; dagegen müßten 
die jog. FinanzR. (gewerbliche, grundherrichaftliche und folche, die fich auf gewifje 
Benugung der öffentlichen Gewäſſer beziehen) entichieden als Steuern betrachtet 
werden. Andere wieder andere. 

In erheblich ungünftigerer Lage befinden fich die Juriften. Zunächſt Liegt die 
Frage: find die R. jtaatsrechtlicher oder privatrechtlicher Natur? Für jene jpricht 
der biftorische Urjpruug der R., der jtaatswirthichaftliche Zweck derjelben und der 
Umftand, daß eben der Staat dad Subjekt der Berechtigung: ift, — für den privat 
rechtlichen Charakter dagegen der Inhalt und dag Objekt der R.; fieht man lebteren 
Gefihtspunft als den wichtigeren an, jo muß man nicht nur die durch Verleihung 
eines Regals für den Beliehenen begründete Gerechtigkeit, jondern dag Regal 
jelbjt in jeiner Totalität als ein Privatrecht bezeichnen. (So neuerdings auch 
Stobbe, Handbud, II. $ 83 Note 6.) 

Sodann: läßt fich der Begriff der R. überhaupt juriftiich Eonjtruiren? Pan 
bat es geleugnet: das Regal jei fein juriftifcher Begriff, es ſei unverträglich mit 
der Herrschaft des Rechtsbewußtſeins. Nun fann man ja zugeben, daß die Ent— 
ftehung der R. nicht ſowol auf die bewußte Anerkennung eines Rechtsprinzips, ala 
vielmehr auf zufällige politifche und wirthichaftliche Verhältniffe zurüdzuführen ift, — 
man fann auch zugejtehen, daß zwar nicht das Nechtsbewußtjein, aber, jo zu jagen, 
die wirthichaftliche Erfenntniß der Fortdauer der R. widerjtrebt; — indeß kann man 
doch nicht leugnen, daß die R., jo lange fie überhaupt beitehen, ala Rechts inftitute 
beitanden haben, als folche vom Rechtsbewußtſein, wenn auch oft widerjtrebend, 
anerkannt waren und zur Zeit noch bejtehen und noch anerkannt find. Sie werden 
früher oder jpäter ganz gewiß aus dem Privatrecht verjchwinden, aber jo lange fie 
nicht verſchwunden find, müfjen fie auch ala Nechtsinftitute behandelt und juriftifch 
fonftruirt werben. 

Für die Begriffsbeftimmung ift nun anerkannt von der entjchiedenften Bedeu— 
tung die Gegenüberjtellung von Hoheitsrechten und R. Das Unterfcheidende aber 
ift micht nur der publiziftifche Charakter der jog. Hoheitsrechte — auch nicht nur der 


320 Negalien. 


Umjtand, daß leßtere wejentlich, unveräußerlih, unübertragbar find, alfo nur vom 
Staate auögeübt werden dürfen — jondern das ift das eigentlich Charakteriftiiche, daß 
die Hoheitörechte nach unjerer Anfiht vom Staate und der Staatsgewalt dem 
Staate immer zuftehen müjjen; fie find nicht Befugniffe, welche der Staat haben 
fann oder nicht haben kann, fie find überhaupt nicht jelbitändig zu denkende Rechte 
des Staates, jondern fie find Aeußerungen der Staatögewalt und in leßterer jo be 
gründet, wie etwa einzelne Rechte des Gigenthümers im Eigenthum enthalten find. 
Dagegen ijt das Beitehen von R. befanntlich für den Begriff und die Wirkſamkeit 
der Staatögewalt unerheblic” — jelbitverftändlich aber nur in jtaatsrechtlicher Be 
ziehung — und die Aufgabe derjelben jeitens des Staates durchaus gleichgültig; 
eben deshalb kann auch die Ausübung eines Regals auf andere übertragen werden. 
Nicht minder wichtig ift es aber, die R. von anderen VBermögensrechten des Staates 
— zufälligen, wie man jebt jagt, 3. B. an Domänen, Forſten ꝛc. — genau zu 
trennen; fie unterjcheiden ſich von leßteren zunächſt hinſichtlich der Möglichkeit des 
GErwerbes, infofern die der Regalität unterivorfenen Objekte der Regel nach überhaupt 
nicht ohne Verleihung der Staatögewalt erworben werden können; jodann hinſichtlich 
des Grundes der Zuftändigfeit: der Staat erwirbt die R. nicht, wie etwa das 
EigentHum an Domänen, nach den Grundjäßen des Privatrechts, jondern fie ftehen 
nach dem Rechte des betreffenden Landes dem Staate als folchem zu; endlich in 
Beziehung auf den Inhalt des Rechts: denn das aus dem Regal fich ergebende X. 
ift nicht als eine einzelne Berechtigung, jondern als die ausjchließliche Möglichkeit, 
überhaupt Nechte Hinfichtlich der regalen Objekte zu erwerben, zu qualifiziren. Aber 
weder in der Gejehgebung, noch in der Xiteratur, noch bei der Rechtiprechung 
find dieje Grenzlinien immer beobachtet worden, und fo ift es gefommen, daß vieliad) 
Hoheitörechte oder zufällige WVermögensrechte des Staates ald R. bezeichnet und 
behandelt wurden; Nußungen aus der Juftizverwaltung 3. B., das Recht ferner auf 
herrenloje Güter, die Zollgerechtigkeit gar, find feine R. und werden im Allg. ER. 
doch als folche angejehen. In den Partikularrechten iſt die Zahl der R. jehr ver: 
ichieden angegeben; dies erklärt fi zum Theil eben aus der erwähnten Berjchiebung 
der Begriffe, zum Theil aber auch daraus, daß nach den Yandesrechten bald mehrere, 
bald wenigere Objekte der Regalität unterworfen find. Iſt doch jelbit die Zahl der 
gemeinrechtlichen R. ftreitig; nannte 3. B. v. Gerber früher mit anderen Schrift 
jtellern deren vier: Mühlen- und Fiſchereiregal in öffentlichen Flüffen, Jagd», Berg: 
und Salinen=, Poftregal, jo kennen andere eine größere, andere eine geringere Zahl, 
wie 3. B. einer der neueſten Schrüftjteller über diejen Gegenftand (Böhlau) die 
Griftenz nur zweier R. (de Bergwerks- und Salzregals) behauptete und alle fonft 
genannten als auf den Hoheitsrechten des Staates beruhende Berugnifje bezeichnete. 
Neuerdings ſpricht v. Gerber (13. Aufl. $ 67) auch den eben genannten R. den 
Charakter der Gemeinrechtlichkeit im eigentlichen Sinne überhaupt ab und nähert 
fich hiermit der Anficht von Beſeler ($ 95 unter IV.), welcher die R. alg ein 
Anftitut des von ihm ſog. bedingt Gemeinen Rechts bezeichnet, jo daß eine Ber: 
muthung für die Geltung defielben in den einzelnen Staaten nicht bejtebe. 
Unverfennbar iſt es, daß die Richtung unſerer Zeit der fortdauernden Anerken— 
nung der R. längit widerjtrebt. Es erjcheint mit der Forderung nach wirthichait- 
licher und gewerblicher Freiheit auf der einen, nach vollfommener Rechtsgleichheit 
auf der anderen Seite nicht vereinbar, daß der Staat fich die ausfchließliche Mög— 
lichkeit des Erwerbes gewiſſer Privatrechte vorbehält und die Unterthanen an deren 
Ausübung ganz verhindert oder letztere wenigjtens von der erlangten ftaatlichen 
Konzeſſion abhängig macht. Und wenn auch der Staat ein wejentliche® Interefie 
hat, die Einnahmequellen, welche ihm aus der Griftenz der R. erfloffen, nicht ver- 
fiegen zu lafjen, jo hat die Volkswirthſchaftspolitik nach Mitteln zu ſuchen, diele 
finanziellen Intereffen zu wahren, ohne die grundherrichaftlichen oder Gewerbe. 
dauernd zu Eonjerviren. (Ueber die hier in Betracht kommende Fragen vgl. Ad. 


Regentſchaftsgeſetze. 321 


Wagner, Finanzwiſſenſchaft, 2. Aufl. 88 145, 146). Dieſem Zuge der Zeit ift 
denn auch die Geſetzgebung gefolgt, indem die drückendſten grundherrlichen R. ſeit 
den letzten drei Jahrzehnten beſeitigt find. (Wegen des Jagdregals ſiehe die Zu— 
ſammenſtellung bei Stobbe, II. $ 151, — wegen des Bergregals aber Brafſert 
in der Zeitichrift für Bergreht XVII. ©. 17 ff.) Das jüngjte der R., das Poft- 
regal — der Inbegriff aller von der Staatspojtanjtalt in Anfpruch genommenen 
Velörderungärechte — ift auch das wichtigfte. Auch die Exiſtenz dieſer ftaatlichen 
Grflufivberechtigung — des Poſtregals im engeren Sinne und des Pojtzwanges 
(j. oben d. Art. Poſt) — ijt aus volfswirthichaftlichen Gründen lebhaft befämpft 
worden: man fordert, daß der Staat jedes ausjchließliche Poftrecht aufgebe und eine 
unbedingt freie Konkurrenz geſtatte. Allein abgejehen von den gerade hier jehr 
ihwer wiegenden finanziellen Intereſſen, kommen doch auch noch andere Rückſichten 
in Betracht, welche gegen die Aufgabe des Negals in feiner Totalität jprechen. 
(Neber das geltende Reichsrecht vgl. den oben angeführten Artikel und Laband, 
Staatörecht, II. $ 71. — Telegraphenregal? daj. IL. 311 ff. 

Für die Gefchichte der R. und Hinfichtlich der Rechtsverhältniſſe, welche fich 
aus der Verleihung eines Regals an Privatperjonen ergeben, ift auf die betreffenden 
Abihnitte in den Lehrbüchern der Deutichen Rechtögefchichte, des Staats- und Pri- 
vatrecht3 zu verweilen. Im Allgemeinen vgl. die folgende Literatur. 


Lit: Gemeiner, Beitrag zur Lehre von den R., München 1842. — H. A. Zahariä, 
Ueber R. überhaupt und das Salzregal insbejondere, in "der Zeitſchr. für Deutſches Recht, 1852. 
3b. XI. S. 319 ff. — Zöpfl, Art. Hoheitsrechte, in Weiste’s Rechtslex. V. ©. 321 ff. — 
Boehlau, De regalium Ben et de salinarum iure regali, 1855. — Straud, lieber 
Uriprung und Natur ber R., Erl. 1865. — Arndt, Zur Gefchichte und Theorie des Berg: 
regal, Halle 1879. — Roider, ae der Nationalöfonomit, Münden 1874, an ver- 
ihiedenen Stellen, ag ©. 158 ff. — v0. Gerber, $ 67. — Beieler, 8 9. — "Stobbe, 
I. 88, — Roth, $ 240. — Zr das Preuß. Recht insbeſ. vgl. Düsberg, Ueber dag 
Suftem der R. im ig ER., er Zeitjchr. für wiſſenſchaftliche Bearbeitung bes Preuß. 
Rechts, II. ©. 59 ff. Franklin. 


Regentſchaftsgeſetze. (Th. J. ©. 856 ff.) Die Minderjährigkeit des 
Monarchen macht nach allen Deutjchen Berfaffungen die Ginjegung eines 
Reichsverweſers, Regenten, Regierungsvormundes nothiwendig, welcher die Funk— 
tionen des minderjährigen Souveränd auszuüben hat. Außerdem muß, obgleich 
die Deutichen Berfaffungen darüber nichts befagen, eine Negentichaft dann 
eintreten, wenn der legte Throninhaber ohne jucceffionsfähige Defcendenz verftirbt, 
aber eine ſchwangere Wittwe Hinterläßt, bzw. wenn der nmächjtberufene Agnat vor 
dem legten Throninhaber mit Hinterlaſſung einer noch beim Tode des Letzteren 
ihwangeren Wittwe verftirbt. Endlich Liegt die Nothwendigkeit einer Regentſchaft 
ftet3 dann vor, wenn der Monarch auf jo lange Zeit — nach der Bayerifchen und 
Württembergiichen Berfaffung Ein Jahr — an der Führung der Regierung gehindert 
it, daß die Regierungsgeichäfte zu ſtocken beginnen, weil die nur unter perjönlicher 
Mitwirkung oder Initiative des Souveräns möglichen Regierungshandlungen nicht 
vorgenommen werden können. Cine jchwere geiftige oder förperliche Krankheit, welche 
dem Souverän die Ausübung der ihm zugewiejenen Funktionen unmöglich macht, 
führt daher wie in den älteren, jo auch in den neueren Deutjchen Berfaffungen zu 
der Einfegung einer Regentjchaft. 

Dagegen differiren die früheren Bejtimmungen über die Wirkungen der geiftigen 
oder förperlichen Regierungsunfähigkeit des zur Thronfolge berufenen Agnaten von 
den einfchlagenden Süßen der gegenwärtigen Berfafjungen. Wie nämlich der Sachjen- 
ipiegel und das Longobardifche Lehnrecht den nächjtberufenen, aber zum Lehndienft 
unfähigen, tauben, ſtummen, blinden, lahmen oder mit jonftwelchem förperlichen 
Mangel behafteten Agnaten des lebten Vaſallen wenigitens dann, wenn er mit 
diefem Gebrechen geboren war, von der Lehnsfolge und damit auch von der Suc— 
ceffion in die Landeshoheit ausſchloß, To beitimmte auch die Goldene Bulle, daß 

dv. Holkenborff, Ene. II. Rechtslexiton III. 3. Aufl. 2 


322 Regentichaftsgeiege. 


Wahnſinn, Blödfinn oder ein jonftiger Fehler, welcher die Führung der Herrſchaft 
unmöglich macht, an der Succeffion in den Kurfürftenthümern hindern jolle. 
Während aljo das frühere R. den bei dem Anfall des Succeffionsrechts in Folge 
eined unheilbaren geiftigen oder körperlichen Gebrechens regierungsunfähigen Agnaten 
zu Gunsten des ihm zunächitftehenden regierungsfähigen Agnaten überging, laſſen 
die Deutichen Verfaffungen der Gegenwart jelbit bei vollftändiger Unbeilbarfeit des 
Gebrechens, welches den Thronfolger regierungsunfähig macht, doch nur eine Regent: 
ichaft eintreten. Welche geiftigen oder körperlichen Fehler Hierzu Beranlafjung 
geben können, ijt regelmäßig in den Berfaflungen nicht gefagt; doch war jchon zu 
Neichäzeiten zweifellos, daß nicht mehr der Standpunkt des Feudalrechts, ſondern 
derjenige der Goldenen Bulle, nach welcher die Fähigkeit zur Führung der Regie 
rung ausfchlaggebend jein ſoll, das Deutſche Staatsrecht beherriche. 

Die Perjönlichkeit des Regenten ift in den verjchiedenen Berfaffungen verſchieden 
beitimmt: in einzelnen Staaten, wie Bayern, Altenburg, Braunschweig, Koburg: 
Gotha, hat der Monarch das Recht, einen Regierungsvormund für den Thronfolger 
aus der Zahl der volljährigen fürftlichen Agnaten frei zu wählen, in Oldenburg 
wählt der Monarch den Regenten jogar vollkommen unbeſchränkt, ijt aber ebenio 
wie in Koburg-Gotha an den Konſens der Landjtände gebunden. In anderen 
Staaten, wie Preußen, Sachſen, Württemberg, muß die Regentjchait jtets, alfo ohne 
jede Nüdficht auf den Willen des lebten regierungsfähigen oder des jeßigen regie— 
rungsunfähigen Souveräns, auf den nächiten regierungsfähigen Agnaten übergeben, 
welcher das für die Volljährigkeit des Souveräns feitgeftellte Lebensalter erreicht hat, 
jollte auch der Volljährigkeitstermin der Prinzen des regierenden Hauſes auf ein 
jpäteres Lebensalter fejtgejet jein. Einzelne Verfaſſungen geben für den all, daß 
eine Beitimmung des lebten Monarchen über die Perjon des Regenten nicht vor: 
liegt, zunächit, d. i. vor allen Agnaten, der Mutter oder väterlichen Großmutter 
des minderjährigen Thronfolgers, wenn fie fich nicht wieder verheirathet haben, ein 
Recht auf die Negentichaitt — Altenburg, Koburg-Gotha, Reuß j. 2%. Andere 
Staaten — Oldenburg, Bayern, Württemberg u. a. — geben der Mutter, bzw. 
väterlichen Großmutter die Negentichaft nur beim Mangel eines volljährigen regie 
rungsfähigen Agnaten, während in anderen Staaten — Preußen und Sachien — 
die Frauen fchlechthin von der Negentichaft ausgeichloffen find, beim Mangel eine 
regierungsfähigen Agnaten jomit durch ein bejonderes Geſetz ein Regent beitellt 
werden muß. Sit nun aber ein folches unter der Gerrichaft des letzten Souveräns 
nicht zu Stande gekommen, jo fann bei der Minderjährigfeit oder Regierung: 
unfähigkeit des derzeitigen Souveräns fein R. gegeben werden, weil die Sanktion 
deffelben von Seiten des Monarchen deſſen Regierungsfähigkeit zur Vorausfegung 
hat. In diefem Falle ift daher in der Braunfchweigiichen und Preußifchen Ber: 
faffung die Wahl eines Regenten dem Landtag zugewieſen und zwar hat diejelbe in 
Preußen in vereinigter Sigung beider Häufer zu erfolgen. Zu diefem Zwecke muß 
das durch die Verfaffung unterdeffen mit der Regierung betraute Staatsminijterium 
jofort nach der Throngelangung des minderjährigen Thronfolger® oder nach dem 
Eintritt der dauernden Verhinderung des regierenden Souveräns den Landtag be 
rufen, welcher zuerſt über die Nothwendigkeit der Regentſchaft zu enticheiden und 
hierauf die Wahl vorzunehmen hat. Nach der Bayerischen Berfaffung gebt, wenn 
weder ein volljähriger regierungsfähiger Agnat vorhanden, noch die Wittwe de 
Vorgängers am Leben ift, auch der legte Monarch über die Perfon des Regenten 
feine Beitimmung getroffen bat, die Regentichait auf den erjten Kronbeamten über. 
Uebrigens verliert nach der richtigeren Anficht der gewählte oder durch jein Amt 
berufene Regent die Regentichaft, jobald ein Agnat des fürftlichen Hauſes die Voll— 
jährigfeit erreicht und damit fähig wird, jelbit Regent zu fein. 

Die den Eintritt einer Regentſchaft einleitenden Handlungen find nach den ver: 
ſchiedenen Verfaſſungen verjchieden: Regelmäßig ift hierzu, ſofern es fih nicht um 


Regentichaftsgeiege. 323 


die Regentichait während der Minderjährigkeit deg Souveräns Handelt, auch nicht 
eine verfaffungsmäßig gültige Anordnung des lehten Monarchen vorliegt, ein von 
den Landſtänden zu genehmigender Beſchluß des aus den volljährigen Agnaten des 
regierenden Hauſes, wol auch mit Ausſchluß des zunächit zur Regentſchaft Berufenen 
(Württemberg, Sachen, Oldenburg, Koburg:Gotha), gebildeten Familienraths 
nothwendig. In Preußen und Bayern dagegen iſt der verfaſſungsmäßig berufene 
Agnat berechtigt, aus eigener Initiative die Regentſchaft zu übernehmen, felbit- 
verftändlich unter Mitwirkung des verantwortlichen und überdies zur Legaliftrung 
jedes Regierungsaftes nothwendigen Staatsminifteriums. Doch müffen die Kammern 
unverzüglich vom Regenten zujammenberufen werden, um — nad der Preußiichen 
Verjaſſung — in vereinigter Situng über die Nothwendigfeit der Negentjchaft zu 
beichließen. Doch kann den Kammern das Recht, die Nothiwendigkeit der Regent: 
Ihaft zu verneinen, nicht bei der Succeſſion eines minderjährigen Herrichers, jondern 
nur dann zujtehen, wenn es fich um die geiltige oder förperliche Regierungsfähigkeit 
des Monarchen handelt; denn die Verjaſſung ſelbſt knüpft die Regierungsfähigkeit 
jedes Souveränd an die Erreichung eines bejtimmten Alters, und nicht ein ein= 
jacher Beichluß der Landitände, jondern nur eine von diejen befchloffene und vom 
Regenten genehmigte VBerfafjungsänderung fönnte den minderjährigen Monarchen 
Ihon vor dem verfafjungsmäßigen Volljährigkeitstermin für volljährig erklären. 
Nur die Altenburgische Verfaffung kennt eine an die Mitwirkung der Stände nicht 
gebundene WVolljährigfeitserflärung des minorennen Herzogs durch den Senior des 
Sächſiſchen Geſammthauſes aller ‚Linien. 

Der Regent übernimmt die Führung der Regierung erjt nach Ableiſtung des 
in einzelnen Staaten, wie Bayern, Hefjen-Darmitadt, Preußen, bejonders formulirten 
Regentichaftäeides, bzw. des regelmäßig vom Souverän zu leiftenden Verfaſſungseides 
oder Verſprechens. Bis zu diejer Eidesleiftung bat das Staatsminiſterium die Re— 
gierung zu führen. Gine Weigerung, den Eid oder das Verſprechen zu leiten, ift 
als Verzicht auf die Negentichaft anzujehen. 

Die Machtiphäre des Negenten ift verjchieden bejtimmt: in einzelnen Ländern, 
„B. in Preußen, hat er alle Befugniffe des wirklichen Souveränd; in anderen, 
J. B. in Bayern, ift die definitive Beſetzung erledigter, jowie die Begründung neuer 
Aemter, vor Allem aber die Vornahme von Berfaffungsänderungen auch auf ver- 
afungsmäßigem Wege dem Regenten entweder ganz unterfagt oder an den Konſens 
eines meijt aus dem Gefjammtminijterium bejtehenden Regentſchaftsraths (Bayern), 
bzw. des aus den volljährigen Prinzen gebildeten Familienraths (Sachſen) gebunden 
oder endlich nur für die Dauer der Regentſchaft gültig (Württemberg). In ein- 
zelnen Ländern ift dem Regenten die Berathung mit dem Regentſchaftsrathe in jeder 
wichtigen oder jchlechthin in jeder Regierungsangelegenheit zur Pflicht gemacht. Der 
Regent ift überall, obgleich dies in den meiſten Verfaffungen, auch der Preußifchen, 
nicht ausgeſprochen iſt, unverantwortlich und zwar nicht blos für die Dauer der 
Regentichait. Auch ijt derjelbe durch einen bejonderen jtrafrechtlichen Schu aus— 
gezeichnet (RStrafGB. SS 96, 97, 100, 101). Die Gültigkeit feiner Regierungs— 
bandlungen wird nach den für die Gültigkeit der Handlungen des Souveräns auf: 
geitellten Bejtimmungen beurtheilt, ſoweit diejelben nicht durch die vorgenannten 
Verfaſſungsſätze modifizirt find. Die öfonomifche Ausjtattung des Regenten iſt regel- 
mäßig aus der Givillifte zu beitreiten. 

Die Erziehung des minderjährigen Monarchen ift der Mutter, bzw. der väter: 
lihen Großmutter (Bayern, Sachſen u. a.) oder dem privatrechtlichen Vormunde 
überlaffen, regelmäßig unter Aufficht des Regenten, wol auch des Regentichaftsraths 
(Sachſen, Württemberg). In einzelnen BVerfaffungen darf der Regent nicht zugleich 
Vormund des minderjährigen Souveräns fein, außer wenn die Mutter oder Groß- 
mutter die Regentjchait führt (Oldenburg). In anderen ift die Verbindung beider 
Aemter ausdrüdlich gejtattet (Altenburg, Koburg-Gotha). Meiſtens, 5. B. auch in 

21” 


324 Regierungsitellvertretung. 


Preußen, kann der privatrechtliche Vormund für den minderjährigen Souverän durd 
teftamentarische Verfügung des legten Monarchen ernannt werden. 

Die Regentichaft ift beendigt, jobald der Souverän volljährig, bzw. regierungs- 
fähig getworden. Ueber die frage, ob die Regentichaft wegen eingetretener Regie: 
rungstähigleit des geiftig oder körperlich kranken Souveräns aufgehoben werden jolle, 
muß in derjelben Weife wie über die Einjegung der Regentichaft bei überkommener 
Regierungsunfähigkeit entichieden werden: es haben aljo entweder die Landftände über 
einen vom Regentſchaftsrathe gefaßten Beichluß fich zu enticheiden, oder der Regent 
hat ihnen die frage nach der Nothwendigkeit der Fortdauer, bzw. nach der Mög: 
lichkeit der Aufhebung der Regentichaft zur — vorzulegen. 

Quellen: Sachſenſpiegel I. Art. 4; Il. Feud — Aurea Bulla Cap. 25 $ 3. — 
Bayern: Verf. Urk. Tit. II. 88 98222 Sachen Verf. Urk. SS 9—15. — Preußen: 
Verf. Urkl. Art. 56-58. — Württemberg: Verf. Urk. 88 11—17. — Altenburg: Staatögrund 
gele ss 16-17. — Koburg-Gotha : Staatsgrundgeſe $$ 12—18. — Braunſchweig: — 
tan gaftäorbuung 85 16—22. — Oldenburg: Rev. Staatögrundgejeg Art. 16, 20— 

2it.: Außer den älteren foftematifcern Darftellungen bes eutjchen Siaals rechts 
J Mever, Lehrbuch des Deutichen Staatsrechts, Leipz. 1878, SS 92, 93. — Terme: 
R.v. Mohl, Staatsrecht, Völferreht und Politit, Bd. r ©. 111-206. — Kraut, Die 
Dormundichaft nach den — des De Rechts, Bd. II. ©. 111—216. — Preuß, 


Jahrbücher, heraudgeg — De ©. 351, 488 fi. — Fricker, Zeitichr. für die 

— Staatswi er d. 10 f. — v. Rönne, Staatäredht ber Preuß, 
onarchie, 4. Aufl., Bd. I. —8 70. — v. Kirhenheim, Die Regenticaft, 

Zeipz. 1880. 5. Brodhaus. 


Negierungsftellvertretung. Auch die Regentichaft ift eine ftellvertretende 
Regierung. In gewiflen landesrechtlich jeitgeftellten Fällen ber Gejchäftsunfähigfeit 
erhält der Monarch für die Dauer derjelben in dem verfaffungsmäßig berufenen 
Reichsverweier einen Stellvertreter, welcher fraft eigenen Rechts, wenn audy im 
Namen des regierungsunfähigen Fürſten, die Negierungsgewalt zu üben bat. Im 
Gegenſatz zur Regentichaft bezeichnet man nun aber mit dem Ausdruck R. den Fall, 
daß der Inhaber der Regierungsgewalt, aljo Monarch oder Regent, bei einer vor: 
ausfichtlich vorübergehenden Behinderung, an eine von ihm bezeichnete Perjon, 3. 2. 
den Thronfolger, oder Behörde, 3. B. das Staatsminifterium, den jederzeit wider: 
ruflichen Auftrag ertheilt hat, ihm zuftehende Negierungsafte an feiner Statt, in 
jeinem Namen und nach Maßgabe gegebener oder einzuholender Injtruftionen zu 
beforgen. Ein folches Verhältniß findet feine Erklärung darin, daß das Staat: 
oberhaupt durch Erkrankung oder Aufenthalt im Auslande in die Lage gejegt werden 
fann, die regelmäßige Erledigung der Regierungägeichäfte, insbeſondere Entgegen: 
nahme von Vorträgen und Vollziehung der Unterfchriften, eine Zeit lang unterbrechen 
zu müffen, ohne daß es einerjeits angeht die Sachen bis zur Hebung der Behin— 
derung aufzufchieben, ohne daß andererjeits der Fall rechtlich dazu angethan tit, 
oder jeitens der fonıpetenten Stellen ala rechtlicher Grund anerkannt wird, um eine 
Regentſchaft, alfo einen Regierungswechiel, eintreten zu lafjen. So jehen denn aud) 
mehrere Deutjche Verf. Urf. neben und in Sonderung von der Regentichaft die Zu- 
läffigfeit einer R. ausdrüdlich vor; von den jet geltenden namentlich das Olden— 
burgiiche Staatögrundgejeß Art. 16 cf. 20; deögleichen die Bayerische Verf. Urk. II. S 9b 
11; val. Pözl, Bayer. Bert. Recht, Art. V. 8145 N. 6; desgleichen die Sädi. 
Berf.Unt. $ 9; vgl. v. Friefen, Erinnerungen aus meinem Xeben, I. (1880) 
p. 157, 178 und passim. Andere jchweigen allerdings. Indeſſen wenn fie durch— 
gehends als Grund einer Regentichaft, neben der Minderjährigfeit, die „dauernde“, 
die „auf längere Zeit eintretende” Verhinderung des Souberäng zu regieren, aus: 
drüdlich fordern oder doch vorausſetzen laſſen, jo weifen fie damit darauf bin, wie 
es auch jolche Behinderungsfälle giebt, die eine Reichsverweſung nicht erforderlich 
machen, wie es demnach als Recht und Pflicht des zu eigener Verrichtung eines 
unaufichiebbaren Regierungsaftes zeitweilig nicht befähigten Staatsoberhauptes er: 
jcheint, Sorge dafür zu tragen, daß eine Stodung in den Gefchäften nicht eintrete, 


Regierungsitellvertretung. 325 


daß jederzeit die Möglichkeit beſtehe, Regierungsentjchließungen einzuholen. Recht: 
liches Mittel hierzu iſt die Ertheilung eines zugleich eine Vollmacht in fich fchließenden 
Auftrags, vermöge deffen die in Gtellvertretung bewirkte GEntichliegung ala vom 
Staatsoberhaupt ausgegangen rechtlich anzuerkennen iſt. Bolllommen unbegründet 
it demnach der Einwand, der gegen die Zuläffigfeit einer R. aus dem Grunde er- 
hoben wird, weil die dem Monarchen zu perjönlicher Ausübung übertragenen Rechte 
nur auf Grund verfaffungsmäßiger Beitimmung auf eine andere Perjon übergehen 
dürften. Es handelt fich bei der R. keineswegs um den Uebergang von fürjtlichen 
Regierungsrechten, etwa des Geſetzgebungsrechts, an eine andere Perſon, fjondern 
(ediglih um die Erfüllung eines fürftlichen, generellen oder jpeziellen Auftrags. Der 
Monarch bleibt Inhaber der NRegierungsgewalt, auch wenn er jolche Aufträge er- 
theilt. Durch feine Vollmacht drüdt er der vertretungsweife gezeichneten Verfügung 
den Charakter einer Regentenhandlung auf, und das „in höchſtem Auftrage“ durch 
den Regierungsvertreter vollzogene Gejeß it als ein vom Geſetzgeber ausgehendes 
rechtsbeſtändig. Aus den Berfaffungsvorichriften, welche die Machtiphäre der Krone 
normiren und abgrenzen, fann an fich mit Nichten gefolgert werden, daß die mon- 
archiſchen Entſchließungen actus legitimi find, deren der Monarch fich höchſt per- 
fönlih zu unterziehen hat. 

In ſolchem Sinne ift denn eine R. nirgends zu vermeiden und in einer Reihe 
Deuticher Staaten, auch jolcher, deren Gefete fie nicht vorjehen, zu wiederholten 
Malen vorgelommen, ohne daß gegen die jtaatsrechtliche Gültigkeit der vertretungs- 
weife gezeichneten Urkunden, und waren es ſelbſt Gejegesurfunden, eine ernjthafte 
Einwendung erhoben worden wäre. In Baden ertheilte Großherzog Leopold 
unter dem 21. Februar 1852 auf Grund „anhaltenden Hnwohljeins“ dem Prinzen 
Friedrich, dem gegenwärtig regierenden Großherzog, die Vollmacht, die der groß- 
berzoglichen „Unterjchrift bedürfenden Geſetze, Verordnungen und Entjchließungen“ in 
des Großherzog Namen zu unterzeichnen.“ Grit mit dem Tode Xeopold’3, am 
24. April ej., fand die Uebernahme einer Regentichaft für dem (regierungsunfähigen) 
Großherzog Ludwig ftatt. Zahlreiche Präzedenzfälle einer R. liegen ſodann aus 
Württemberg vor, wo jowol unter der langjährigen Regierung des Königs Wilhelm, 
ala auch ſeines Nachfolgers, des jehigen Königs, oftmals Vertretungen des verreiften 
oder erkrankten Monarchen unter den verichiedenjten Modalitäten eingerichtet und 
anftandslos hingenommen worden find. In Preußen ijt jeit Beſtehen der Verfaſſung 
eine R. zu zwei verichiedenen Malen eingetreten. In Folge der Erkrankung König 
Friedrich Wilhelm's IV. wurde am 23. Oktober 1857 der Thronfolger, damalige 
Prinz von Preußen, auf drei Monate mit der „vollen Stellvertretung des Königs 
in den Regierungsgeichäften“ betraut. Der Fall erregte Bedenken, die darum er: 
beblich waren, weil es zweifelhaft erichien und bei der dreimal immer auf ein weis 
teres Vierteljahr erfolgten Prolongation immer zweifelhafter werden mußte, ob es 
Ah in Wahrheit um eine blos vorübergehende Behinderung de3 Monarchen und 
nicht vielmehr um eine Regierungsunfähigkeit defjelben von ganz unbeftimmter Dauer 
bandle, ob aljo nicht der all der Regentichaft gegeben jei, wie denn eine jolche 
auch mit dem 9. Dftober 1858 eintrat. Das zweite Mal wurde eine R. am 
4. Jumi 1878 in Folge des Nobilingfchen Attentats für Preußen, und da bie 
Preußifche Krone in Realunion mit der Deutjchen Kaiſerkrone jteht, gleichzeitig auch 
für das Reich angeordnet, indem der König und Kaiſer dem KHronprinzen für die 
Dauer Seiner Behinderung Seine „Vertretung in der oberen Leitung der Regie: 
rungsgeſchäfte“ übertrug. 

Auch in der jtaatsrechtlichen Doktrin kann der Zweifel über verfaffungsmäßige 
Zuläffigfeit einer R., wie ihn die Preußifchen Vorgänge von 1857—1858 hervor: 
riefen, als überwunden gelten. Der damals jeitens der politifchen Publiziftit aus: 
gefprochenen Behauptung, daß für Preußen die Reichsverweſung die einzige, über: 

haupt ſtatthafte Form jtellvertretender Regierung jei, hat fich allerdings einer der 


326 | Regierungsitellvertretung. 


eriten Iheoretifer des Preußifchen Staatsrechts, nämlich v. Rönne, angeichlofien, 
der jeine in der eriten Auflage des „Staatörechts der Preußifchen Monarchie”, 1. 
$ 85, ausgeführte entgegengejeßte Anficht in den späteren Auflagen zurücknahm. 
Indeſſen auch diefer Autor findet in der vierten Auflage feines Werkes, I. $ 51, 
N. 1, gegen die in DVeranlafjung des Attentats von 1878 getroffene Einrichtung 
nichts zu erinnern. a, troß feines prinzipiellen Bedenkens erklärt er, fich hierbei 
wörtlih an R. Mohl, Völkerr. Staatör. Politik, I. 149, N. 1, anichließend, daß 
der König bei kürzeren Unterbrechungen feiner Regierungsthätigfeit die Befugniffe der 
Minifter erweitern, die Unterfchriften an den Thronfolger übertragen dürfe „oder 
dergleichen“ ; überhaupt, meint er, müfje in jedem einzelnen alle „die freie Wahl 
des Mittels, und namentlich der Umfang des den vorläufigen Stellvertretern über 
tragenen Rechts“ dem Könige überlafjen bleiben. Seine Argumentation jcheint fi 
aljo darauf zu richten, daß eine R. nicht Mittel werden darf, um eine verfafjungs- 
mäßig nothiwendige Regentjchaft zu umgehen. Und in der That, auch die weitet: 
gehende R. wird durch eine jo tiefe Kluft von der Regentichaft unterjchieden ; erjcheint 
als ein in Vorausfegung, Dauer und Wirkſamkeit jo beichränktes Verhältniß, daß 
jeder Verſuch, fie Über die ihr durch die Natur des monarchiichen Rechts geitedten 
Grenzen auszudehnen, eine Verwirrung des öffentlichen Rechtszuftandes herbeiführen muß. 

Denn während die Regentichaft kraft des Geſekes einzutreten hat in Fällen, in 
welchen eine thatjächliche Regierungsunfähigfeit de8 Monarchen von nicht abzufehender 
Dauer feſtgeſtellt wird, jeßt die R. allemal einen Vollmachtsauftrag des regierung# 
fähigen Monarchen voraus, welcher für eine von ihm als vorübergehend in Ausficht 
zu nehmende Behinderung betreff3 der erforderlich erfcheinenden Erledigung der ihm 
obliegenden Geſchäfte VBorforge trifft. Während der Reichsverweſer jtellvertretender 
Inhaber der Regierungsgewalt ijt, die Regierung unverantwortlich nach feinem eigenen 
und freien Ermeſſen führt, die Gejege feinen Namen tragen, während er weder durd) 
perfönliche Eingriffe des Monarchen behindert wird noch deſſen Abberufung unter 
worfen ift, geht bei der R., möge ihr ein noch jo weiter Spielraum eröffnet fein, 
die Vollmacht immer nur auf einzelne Gejchäfte oder Gefichäftsfomplere oder eine 
Summe von jolchen. Der Stellvertreter fühlt fich durch die „Intentionen“ feines 
Machtgeberö überall gebunden. Er darf nur jolche Entichliegungen fafjen, für welche 
der Auftrag hinreichende Legitimation giebt und iſt für die pünktliche Ausführung 
deflelben dem Fürſten verantwortlid. Wenn nach verbreiteter Anficht dieſe Ver— 
antwortlichkeit auch von den Gerichten und von der Volfävertretung geltend gemacht 
werden darf, jo kann das allerdings für den Bereich jeiner Regierungshandlungen, 
von denen jelbjtverjtändlich eine jede minifterieller Kontrafignatur bedarf, nicht zu— 
geitanden werden. Für diefe wird er durch die landesherrliche Vollmacht gededt. 

Das legt denn aber die Frage nach den Mitteln nahe, über welche das Land 
gebietet, um eine mißbräuchliche Verwendung der R. abzumenden oder zu bejeitigen? 
Der monarchiſchen Jnftitution liegt in Deuticher Auffaffung der Gedanke zu Grunde, 
daß der Monarch die Regierung jelber und nicht durch einen Andern zu führen hat. 
Eine gelegentliche Zeichnung landesherrlicher Erlaffe durch eine andere Perfon, „auf 
allerhöchiten Spezialbeiehl” wird heutzutage ohne rechtlichen Effekt; und eine will 
fürlihe und formloje Webertragung der Unterfchriften an eine jolche würde ver- 
affungswidrig fein. Vielmehr ift jede Beftellung einer R. ein verantwortlicher, der 
Publikation in den landesgeſetzlichen Formen bedürftiger NRegierungsaft, der als 
jolcher der Prüfung des Staatsminifteriums bedarf und der rechtlichen und politischen 
Kontrole der Landesvertretung unterliegt. 

Lit.: Eine ausführliche und gründliche Beiprechung bed Gegenftandes hat zuerft Mitt: 
nacht, Ueber Stellvertretung des vorübergehend an der Regierung verhinderten Fürſten, in 
Gotta’3 Deuticher B.J.Schr. 1864 Heft II. ©. 222 —7 — demnächſt Fricker, Thron: 
dere Sp und Reichöverwelung, in Zeitichr. für Staatäwiflenihaft XXXI. ©. 266 #. Neuer: 


dinge Schulze im Lehrb. d. Teutſchen Staatärechtes (1880), S. 270 ff., u. U.v. Kirchen: 
beim, Die Regentichaft (1880), ©. 57 ff. F. v. Marti, 


Negiiter — Reglement der Eiienbahnen. 327 


Regifter, j. Standesregifter. R 


Reglement der Eiſenbahnen. Für die Beförderung von Perjonen, Reife: 
gepäd, Leichen, Fahrzeugen und Thieren, jowie von Gütern gelten auf jämmtlichen 
Eiſenbahnen Deutichlands einheitliche Beitimmungen, welche ala „Betriebö- 
reglement für die GEifenbahnen Deutichlande vom 1. Juni 1874“ im Gentral- 
blatt für das Deutiche Reich 1874, ©. 179 bzw. für Bayern fraft des Rejervat- 
rechts (Geſetz- und Verordnungsblatt 1874) publizirt find. 

In Oeſterreich-Ungarn gilt das gleiche Betriebsreglement jeit 10. Juni 1874. 
Der Deutiche Eifenbahnverein, zu welchem außer Deutjchland und Defterreich-Ingarn 
noch die nachgenannten Bahnen gehören, hat das Reglement ebenfalls feit 1. Juni 
1876 für denjenigen Vereinsverkehr eingeführt, welcher die Grenzen des Deutjchen 
Reihes oder der Defterreihijhen Monarchie überfchreitet, jo daß es noch 
auf nachjtehenden Bahnen Geltung Hat: PrinzeHeinrich-Eifenbahn in Luremburg 
(103,11). Ghimay- Eifenbahn in Chimay (Belgien, 59,53). Gijenbahn grand 
central beige in Brüffel (705,07). Aachen » Maftrichter - Eifenbahn. Holländiſche 
Eiſenbahn in Amfterdam (353,08). Lüttich-Maftrichter-Eifenbahn in Lüttich (29,08). 
Niederländische Gentral-Eijenbahn in Utrecht (101,41). Niederländifche Rhein-Eijen- 
bahn in Utrecht (248,85). Niederländiiche Staatöbahnen in Utrecht (1024,55). 
Lüttich- Limburger und Almelo » Salzbergener Privatbahnen. Nordbrabant » Deutjche 
Gifenbahn in Gennep (100,37). Rumänifche Eifenbahnen, Aktiengejellichaft in 
Berlin (921,00). Warjchau- Wiener und Warjchau »Bromberger Eifenbahn in 
Barihau (506,42). 

Das Bahnreglement reproduzirt, ſyſtematiſirt und erläutert zunächſt die Pro— 
hibitivbeftimmungen des Allg. Deutichen HGB. über das Frachtgeſchäft überhaupt, 
ſowie über das Frachtgeichäft der Eijenbahnen, macht ferner von dem Nechte, 
tafultative Transportbedingungen aufftellen zu dürfen, innerhalb der Grenzen 
dee HGB. (Art. 423) Gebrauch und firirt jomit den Umfang der Rechte und 
Pflichten der Eifenbahnen, bzw. des diejelben benugenden Publikums. 

Das Bahnreglement erjchöpft damit jedoch keineswegs die überhaupt mög- 
lichen und zuläffigen Bedingungen, an welche die Gijenbahnen den Abjchluß eines 
Berörderungd- oder Frachtvertrags knüpfen können. 

Durch den Haupttert des Bahnreglements haben die Staatäregierungen vielmehr nur 
die allgemeinen Normen über das Beförderungsgeſchäft im Perfonen- und Sachen- 
verkehr aufgeftellt, und es ift den Bahnverwaltungen durch Abj. 2 der Einleitung 
zum Bahnreglement ausdrüdlich freigeftellt, Zufagbeitimmungen zu erlaflen, 
welche jedoch mit dem Hauptterte nicht im Widerſpruch jtehen dürfen. 

Don diefem Rechte Haben jämmtliche Deutjche und Defterreichiich-Ungarifche Eiſen— 
babnverwaltungen Gebrauch gemacht, und es find im Deutjchen Reiche dermalen (Mitte 
1881) Verhandlungen im Gange, nach welchen auch diefe Zuſatz beftimmungen zum 
Bahnreglement einheitliche werden follen. Das Bahnreglement ift an fich eine 
im öffentlichen Intereffe begründete Verwaltungsvorfchrift und hat nicht gejeßliche 
Kraft (Entidh. d. ROHG. Bd. XIX. ©. 186). 

Die Bedeutung von privatrechtlichen Normen für den Paſſagier- und Frachtvertrag 
erlangen die meiften Beitimmungen des Bahnreglements erft dadurch, daß der Paflagier, 
bzw. Verfrachter fich denfelben unterwirft. Stillſchweigende Unterwerfung ift beim 
Perſonentransport bei richtig erfolgter Publikation des Bahnreglements und der Zuſatz- 
beftimmungen nach Löfung eines Billets oder Benußung der Fahrt ohne Billet, 
ebenjo bei Aufgabe von Gepäck, Vieh und Gquipagen gegen Transportichein an— 
zunehmen; denn die Bezugnahme auf das Bahnreglement in den Billeten oder Trans 

porticheinen giebt fein Recht, ausdrüdliche Unterwerfung unter das Bahnreglement 
wie beim Frachtbrief anzunehmen, weil die Billete und Scheine als Quittungen und 
Zegitimationspapiere erit nach Vertragsabſchluß einfeitig ertheilt werden (Gohd— 


328 Reglement der Eifenbahnen. 


ſchmidt, Zeitſchr. 7. d. gei. H.R., V. 597), und der Abjender vor dem Vertrags— 
abſchluß dieje Urkunden nicht prüfen kann, endlich der Aufdrud auf denſelben nicht 
publizirt ift. 

Beim Gütertrangport unterwirft fich der Verjender dem Bahnreglement durd 
Unterzeichnung des vorgejchriebenen Frachtbriefformulars, welches die ausdrüdliche 
Bezugnahme auf die Betriebsreglements und Tarife der betreffenden Bahnen, welde 
das Gut bereift, enthält (Entich. d. ROHG. Bd. XIX. ©. 186). 

Das Betriebsreglement enthält endlich auch Beitimmungen, welche rein polizei: 
licher Natur und im Intereſſe der Ordnung und Sicherheit des Verkehrs getroffen 
find (3. B. 88 17, 19). Auf Zumwiderhandlungen gegen dieje find nicht die Grund- 
läge über Erfüllung von VBertragäbedingungen, ſondern die Grundſätze von den 
Delitten anzuwenden (Deutiche Verkehrs: Zeitung 1880, ©. 609). 

Das Bahnreglement zerfällt in IV Abjchnitte: Abjchnitt I. Allgemeine 
Beitimmungen. $S 1—6 regeln das allgemeine Verhalten der Bahnbeamten gegen: 
über dem Publikum und das für die Ordnung des Eiſenbahnbetriebs nothiwendige 
Verhalten des lebteren gegenüber den Beamten. Diejelben regeln ferner die Ent: 
ſcheidung von Streitigkeiten zwifchen Publitum und Dienftperfonal ($ 3), das Recht 
der Beichwerdeführung und dad Verbot des Betretens der Bahnhöfe und des Bahn: 
förpers (ſ. auch SS 54 und 55 des Deutichen und Bayerischen Bahnpolizeireglements). 
S 6 jtellt die allgemeine Transportpilicht der Bahnen für Perjonen, Thiere und 
Sachen auf, ausgenommen in folgenden 3 Fällen, welche eine Konjequenz des Grund: 
ſatzes: „ultra posso nemo tenetur“ find: a) wenn außergewöhnliche Hindernifie, 
d. h. Betrieböftörungen, welche nicht ſofort bejeitigt werden fönnen, vorliegen; 
b) wenn höhere Gewalt vorliegt; c) bei Injuffizienz der regelmäßigen Transport: 
mittel, d. 5. derjenigen, welche für den burchjchnittlichen, jährlichen jowie in regel: 
mäßigen Zeitabjchnitten wiederkehrenden gejteigerten Verkehr genügen. 

Abſchnitt Il. a) Beförderung von Perjonen. Ueber die Verpflichtung 
der Eijenbahnen zum Transport von Perjonen, über Rechte und Pflichten der 
Paflagiere gegenüber den erjteren und umgekehrt, ferner über die Modalitäten des 
Perjonentransportes eriftiven in Deutjchland gejegliche Beitimmungen nicht, mit 
Ausnahme des Neichögejehes vom 7. Auni 1871, „die Entichädigungspflicht der 
Gijenbahnen bei Tödtungen und Verlegungen der Reifenden betreffend“. Der Paflagier: 
vertrag wird daher in der Regel unter die Vertragsgruppen des Givilrechts eingereibt 
und erttweder ala locatio conductio operis, oder als Innominatkontrakt (Koch, Anl., 
©. 371) oder ala locatio conductio rei (v. Hahn, Komment. 3. HGB. ©. 539) 
aufgefaßt. Endemann, ©. 706, nennt ihn „Arbeitsgeichäft”. 

Da es beim Perjonentransport der Eifenbahnen, der nach Art. 272, Abſ. 3 
des HGB. ein Handelsgeſchäft ift, nicht angeht, in jedem einzelnen all mit 
einem Paflagier die Bedingungen de8 Transports zu verabreden, jo haben die Eijen- 
bahnauffichtsbehörden generelle Bedingungen publizirt, die für jeden Perjonen- 
transport gelten, d. i. Abjchnitt IIa des Betriebsreglementse. Fahrplan und Zarıt, 
deren Publikation nach SS 7 und 8 des Betrieböreglements obligatorijch il, 
regeln die Fahrzeiten, die Yahrpreije und Transportweije, 3. B. ob in 
Schnelle, Vergnügungszügen, ob fie Ertraiahrten gewähren x. Für Ertra- 
fahrten bejtehen jeit 1. März 1878 einheitliche Tarifbeftimmungen im Gebiet 
des Deutichen Eijenbahnvereins, ebenjo über die Beförderung von Salon=, Perfonen:, 
Kranken und bejonderen Gepädwagen, welche die direkte Abfertigung im ganzen 
Vereinsgebiet ermöglichen. 

Der Paflagiervertrag ift perfekt in dem Momente, in welchem der Billetpreis 
bezahlt ift. Die Aushändigung des Billets, welches den Charakter einer nachträglich 
und einfeitig ertheilten Quittung und eines Legitimationspapiers hat, ift nicht Voraus 
jeßung für die Perfektion, wenn auch der Nachweis des Vertragsabjchluffes dem nicht 
im Befit eines Billets befindlichen Paffagier erfchwert jein wird. Der Billetverkaui 


Reglement der Eifenbahnen. 329 


it binfichtlic” der Zeit im Betriebsreglement infofern beſchränkt, als die Zeit, in 
welher vor Abgang eines Zugs Billete verfäuflich find, firirt ift. 

Auf dem Fahrbillet muß die beiderjeitige Willenameinung der Vertragskontra— 
benten bezüglich) a) der Transportitrede, b) des Fahrpreiſes, c) der Wagenklafie, 
d) der Zeit oder e) des Zuges, wofür das Billet gültig ift, zum Ausdrud gebracht 
fin, und die Reiſenden find berechtigt, in vorjtehenden 4 Punkten auf Tour und 
Retourbilleten kontroliren zu können, ob fie das richtige Billet erhalten haben. 

Die Entgegennahme eines anderen Billets als des verlangten ift eigenes 
Verfihulden des Reiſenden, jelbit wenn ein Verſehen des Schalterbeamten in 
Mitte läge ($ 10). 

Gelöfte Fahrbillets werden nur dann zurüdgenommen, wenn wegen Mangels 
an Platz die Beförderung unmöglich ift. 

Jedes Billet berechtigt an fich nur zur ununterbrochenen Fahrt. Mit 
Genehmigung einer Zwijchenftation ift einmalige Fahrtunterbrechung und eventuell 
Verlängerung der Gültigkeitsdauer eines Billets zuläffig und ift dies auch mit 
Abonnements, Militär: und fonjtigen Billeten zu ermäßigten Preifen zuläfftg, aus— 
nahmlich von Schulbejuchsfarten. Bei Retour: und Rundreifebillet? darf die Gültig- 
feitsdauer in Folge der Fahrtunterbrechung nicht verlängert werden ($ 10, Al. 3). 

Ueber Beiörderung von Kindern unter 10 Jahren wurden auf der General» 
verfammlung des Deutjchen Eiſenbahnvereins in Baden-Baden, vom 2. Auguſt 1880 
einheitliche Beſtimmungen im Vereinsgebiet beſchloſſen. Kinder bis zu 3 Jahren 
frei, von 3—10 Jahren 50 Prozent Ermäßigung.) 

Jeder Paffagier ift verpflichtet, dad Billet vom Beginn der Fahrt an bis zum 
Endpunkte derjelben bei fich zu behalten und vorzuzeigen. Wird er ohne dafjelbe 
betroffen, jo hat er für die von ihm zurüdgelegte Strede, oder wann die Zugangs 
ftation nicht ſofort unzweifelhaft nachgewiejen werden kann, für die vom Zug zurück— 
gelegte Strede das Doppelte des gewöhnlichen Fahrpreiſes, in minimo 6 Mark, als 
Konvdentionalftrafe für feine Unachtſamkeit zu zahlen, ohne Nüdficht ob er jchon ein 
Billet gelöft hatte oder nicht; eine Nüdforderung des doppelt gezahlten Fahrgelds 
findet nicht jtatt, wenn der Reifende etwa das urfprünglich gelöſte Billet verloren 
hatte und wiederauffindet (Koch, Deutjchlands Eifenbahnen, II. ©. 158). 

Bor der Abfahrt eines Zuges kann eine Konventionalſtrafe nicht erhoben werden. 

Nach dem Bahnpolizeireglement kann das Fahren ohne Billet mit Geld bis 
zu 30 Mark polizeilich beftraft werden und wenn der billetlofe Pafjagier bei dem 
Zugäperfjonal den Irrthum hervorrufen wollte, als habe er ein Billet gelöft, jo iſt 
der Thatbeſtand des Betrugs gegeben ($ 263 des RStrafGB.). 

Verſäumniß der Abjahrtszeit begründet von Seite der Eijenbahn feinen An— 
ſpruch auf NRüderjtattung des Fahrgeldes oder Entichädigung, nur wenn der Zug 
bor der jahrplanmäßigen Abfahrtäzeit die Station verläßt, ift ein Entſchädigungs— 
anfpruch begründet, weil das Publikum ein Recht auf Einhaltung der Abfahrtäzeit 
bat. Grfteren Falls kann der ſäumige Paffagier am nämlichen oder nachfolgenden 
Tage mit einem Zuge gleicher Gattung jein Billet benußen, wenn er jofort die 
Gültigkeitsdauer des Billets durch den Stationsvorftand verlängern läßt. 

Das Zugäperjonal ift verpflichtet, bei Ankunft auf jeder Station den Namen 
derjelben auszurufen und die Thüren derjenigen Wagen, in welchen fich Reifende 
jener Station befinden, zu öffnen. Wenn daher ein Paſſagier fein Reifeziel über- 

fährt, weil der Schaffner den Namen der Station gar nicht oder unrichtig aus— 
gerufen hat, oder weil die Wagenthüre nicht geöffnet wurde, fo ift ein Ent— 
ichädigungsanfpruch gegen die Bahn begründet. 

Die Nichteinhaltung der durch den Fahrplan veröffentlichten Fahrzeit der Züge 
giebt Fein Recht auf Schadenserfag zu Elagen, wenn auch die Verſpãtung eine 
von der Eiſenbahn verſchuldete iſt (3. B. verſpätetes Eintreffen zu einem Gerichts— 


termin). 


330 Reglement der Eifenbahnen. 


Wird ein Anfchluß durch Zugsverfpätung verfäumt, ohne daß höhere Gewalt 
die Urfache der lebteren war, und der Reiſende weift nach, daß er im Belike 
direkter Fahrkarte war und mit dem nächſten Zuge wieder zur Abgangaftation 
zurüdgefehrt ift, jo wird ihm der Preis für Hin- und Rückreiſe erjtattet, wenn er 
jeinen Anfpruch ſofort nach Ankunft des verjpäteten Zuges beim Stationsvorfteher 
anmeldet. . 

b) Beförderung von Reijegepäd. Der Gepädtransport Fällt rechtlich 
unter den Begriff des Trachtvertrags und das Deutihe HGB., injoweit nicht das 
Bedürfniß des Neifeverfehrs geboten hat, bejondere Beitimmungen bezüglich der 
Eingehung des Trachtvertrags beim Reiſegepäck im Betriebsreglement aufzuftellen. 
Neben dieſen bejonderen Beitimmungen gelten daher für den Gepädtranaport aud 
die Beitimmungen über den Güterverkehr (Abſchnitt III.), joweit beide vereinbart 
find. Der Umftand, daß nicht jelten der Preis für den Gepädtransport in dem 
Preis für den Transport der Perfon inbegriffen ift, ändert nichts an der juriftifchen 
Qualififation des Rechtsverhältniſſes. Der Gepädtransport ift Acceſſorium des 
Perjonentransports, weshalb im Betrieböreglement die Beftimmungen über die 
Sepädbeförderung unmittelbar Hinter den Beitimmungen über den Perfonentransport 
eingereiht find. 

Als Reijegepäd muß von den Eifenbahnen angenommen werden, was ein Reifender 
zu feinem und feiner Angehörigen Bebürfniß gebraucht, ausnahmsweiſe werden auch 
faufmännische Waarenballots, Kiſten ꝛc. zugelafien. 

Steuerbare Getränke, feuergefährliche und erplodirende Gegenitände, endlich 
lebende Thiere find von der Beförderung ala Reifegepäd ausgeſchloſſen, theils weil 
die Zeit zur fteueramtlichen Abfertigung fehlt, theil® aus Sicherheitögründen. 

Die Obfjorge für ordnungsgemäße VBerpadung ift Sache des Aufgebers. Wird 
jedoch Gepäd, deſſen Verpadung erjichtlich mangelhaft iſt, unbeanftandet von ber 
Eifenbahn angenommen, jo wird ftilljchweigende Billigung der mangelhaften Ber: 
packung angenommen und iſt die Eifenbahn eventuell jchadenserfaßpflichtig. Der 
Gepädaufgeber ift verpflichtet, ältere Poſt- oder Eifenbahnzeichen von dem Gepäd 
zu entfernen. Berfchleppungen, welche aus der Belaffung jolcher Zeichen hervor: 
gehen, hat die Eifenbahn nicht zu vertreten. Das Gepäd ift 15 Minuten vor 
Zugsabgang aufzuliefern. Wird jpäter aufgegebenes Gepäd wegen Mangel an Zeit 
unerpedirt mitgenommen, jo wird es biß zum Zeitpunfte der Nacherpedition nicht 
ald zum Transport aufgegeben betrachtet und die Eifenbahn haftet nur dann für 
Verluft und Beihädigung (nicht Lieferfriftüberjchreitung), wenn ein mit dem Schaden 
zujammenhängendes Verſchulden der Eiſenbahn oder ihrer Leute nachgewiejen wird. 
Solchem unerpedirten Gepäd (8 29) jteht das Handgepäck gleich, das unentgeltlich 
in den Perfonenwagen mitgenommen werden darf. In beiden Tyällen wird an 
genommen, daß die Beförderung jolchen Gepädes Auafluß des Paflagiervertrags it, 
weshalb die Eifenbahn in Berluft- und Beichädigungsfällen nur zu haften bat, 
wenn Verſchulden ihrerfeits oder ihrer Leute vorliegt, was vom Gepädaufigeber nad: 
zumweifen ift. Dieſe Haftung fann fie vertragamäßig weder befeitigen, noch be 
ichränfen (v. Hahn, UI. 541). 

Die custodia über das Handgepäd hat nach dem Betriebsreglement der 
Reijende jelbit; ift daher Verluft oder Beichädiguug auf einen Mangel von custodia 
zurüdzuführen, jo ift dies niemals dem Eiſenbahnperſonal zuzurechnen. 

Der Gepädaufgeber erhält einen Gepädjchein ala Dokument über die von der 
Gifenbahn übernommene Berpflichtung. Deffen Inhaber iſt ausjchließlih zur Rüd- 
nahme des Gepäds legitimirt; wenn erhebliche VBerdachtsgründe zur Verweigerung 
der Aushändigung an den Inhaber vorliegen, kann diejelbe verweigert werden. Die 
Rückgabe des Scheins entbindet die Bahn von jeder Verantwortlichkeit, e8 jei denn, 
daß Berluft — partieller — oder Beichädigung bei der Ablieferung äußerlich nicht 
erfennbar waren, in welchem Fall nachträgliche Reklamation zuläffig it. 


a . 


Reglement der Eiſenbahnen. 331 


Das Recht, die Aushändigung des Gepäds zu verlangen, und die Verpflichtung, 
das Gepäck auszuhändigen, beginnen mit der Ankunft desjenigen Zuges, zu welchem 
das Gepäck aufgegeben wurde, auf der Beitimmungaftation; mit diefem Zeitpunkt 
beginnt die etwaige Verſäumniß der Xieferfrift, wenn auch diefer Zug verjpätet 
angefommen iſt, weil bei verfpäteter Abfahrt oder Ankunft der Züge von 
Paffagieren weder für ihre Perfon, noch für Reiſegepäck Schadenserfa gefordert 
werden kann. 

Für den Verluſt und Beichädigung von Reifegepäd, welches ordnungsmäßig zum 
Transport aufgegeben ift, haftet die Eifenbahn im Allgemeinen nach den Beitimmungen 
des Abſchnittes II. für Güter, joweit folche auf die Beförderung vom Reifegepäd 
anwendbar find und mit folgenden Modifikationen: a) In Ermangelung einer Werth» 
deflaration (Werficherung gegen ungenügende Entjchädigungsfumme dur Zahlung 
höherer Fracht, als Frachtzufchlag, Prämie) ift der wirkliche Schaden (damnum 
emergens) jedoch in maximo mit 12 Mark pro Kilogramm nach Abzug des Gewichts 
des umderficherten Inhalts bei bloßer Beichädigung eines Gepäcksſtücks zu erjegen. 
b) Im Fall einer Werthdellaration, welche von der Aufgabejtation im Gepäckſchein 
eingefchrieben fein muß, ift der vom Gepädaufgeber nachzuweijende gemeine Handels— 
werth bis zur Höhe der deflarirten Summe zu erfegen. c) Die Eifenbahn ift von 
jeder Verantwortlichkeit und Rechenjchaftsablegung für den Verluft (nicht Be- 
Ihädigung) von Reiſegepäck frei, wenn es nicht binnen acht Tagen nad) Anktunit 
des Zugs, zu welchem es aufgegeben ift, auf der Beitimmungsftation abgefordert 
wird. Diefe Beſchränkung der Haftpflicht verpflichtet den Gepäckintereſſenten, eine 
Reklamation zeitig geltend zu machen, damit deroutirte Gepäckſtücke verfolgt werden 
fönnen. Die Abforderung des Gepädes binnen acht Tagen bildet die Vorausſetzung 
der Geltendmachung des Anfpruch& auf Entichädigung, wenn das Gepäd verloren ift, 
nicht aber die Bedingung der Entjtehung diejes Anspruchs. Die Abforderung unter 
bricht den Lauf der achttägigen Frift. 

Iſt das Gut nach Ablauf diefer Friſt noch vorhanden, jo ift der Anspruch auf 
Herausgabe auch nach der achttägigen Frift noch begründet. Die Berechnung der 
Lieferfrift beim Neifegepäd erfolgt nicht wie beim Güterverkehr nach Kalendertagen 
von Mitternacht zu Mitternacht, jondern die Lieferfrift endet mit der jaktifchen, wenn 
auch veripäteten Ankunft des Zuges, zu welchem das Gepäd aufgegeben wurde; von 
diefem Moment ab wird der Tag zu 24 Stunden berechnet. Bis zum Ablauf von 
drei Tagen nach Ankunft des Zuges haftet die Bahn wegen Ueberfchreitung der 
Lieferfriſt. Nach Ablauf von dreimal 24 Stunden wird das Gepäck ala verloren 
betrachtet, und die Eifenbahn ift nicht mehr rüdgabeberechtigt, jondern nur rüdgabe= 
pflichtig.. Für Verſäumniß der Lieferfrift wird Erſatz geleiftet in der Höhe von 
0,20 Mark für jedes Kilogramm des ausgebliebenen Gepäds und jeden angejangenen 
Tag der Verſäumniß (in maximo drei Tage, da von da an Verluft angenommen 
wird). 
Im Falle einer Lieferungsfriftintereffe-Deklaration, welche eine halbe Stunde 
vor Abgang des betreffenden Zugs erfolgen und im Gepädfchein von der Aufgabe- 
ftation vermerkt fein muß, wird derjenige Betrag erſetzt, welcher als Schaden inner: 
halb des deflarirten Betrags nachgewiejen werden fann. 

Beweift die Eifenbahn, daß fie die Verſpätung durch Anwendung der Sorgfalt 
eines ordentlichen Frachtführers nicht habe abwenden können, jo ift fie von der Haf— 
tung für den Schaden, welcher durch Verſäumniß der Sieferfrift entitanden iſt, frei, 
weil man annahm, daß es fchtwieriger jei, eine Verzögerung der Reife zu vermeiden, 
als Berluft oder Beichädigung. 

Der zollamtlichen Revifion des Reifegepäds haben die Reiſenden ſtets perjönlich 
anzuwohnen und alle Deroutirungen oder Berfpätungen aus der Nichtbeachtung diejer 
Peftimmung jelbit zu vertreten. 


332 Reglement der Eifenbahnen. 


Der Trandport von und nach dem Gepäderpeditionslofal iſt Sache der 
Reiſenden; bedient fich das Publitum zu diefem Zwede der an größeren Stationen 
aufgeitellten Gepädträger (Kofferträger), jo thut es dies auf eigene Haft und Gefahr. 
$ 63 findet feine Anwendung, auch wenn die letteren Bahnbedienftete find, weil 
derjelbe nur vom Transport mitteld der Eifenbahn Handelt. Doch muß ein Zarii 
von der Eifenbahn angejchlagen jein zum Schuß gegen Uebervortheilung des Publikums. 
Wird dem Eijenbahnperfonal — Portier ꝛc. — Reiſegepäck zur Aufbewahrung über: 
geben, jo haftet hierfür die Eifenbahn gleichfalls nicht. Dieje Einrichtung, welche auf 
größeren Stationen obligatorifch ift, ift lediglich zur Bequemlichkeit des Publikums 
geichaffen. Alle von Paſſagieren in den Wagen oder im örtlichen Bezirk der Bahn: 
verwaltung (d. i. Wartefäle, Rejtaurationen, Perrons, Aborte, Geleifeanlagen ꝛc. 
zurüdgelaffenen Gegenftände werden, wenn fie vom Gijenbahnperjonal gefunden und 
an die Gijenbahnverwaltung abgeliefert wurden, drei Monate aufbewahrt. Unter 
liegen fie dem jchnellen Verderben, jo werden fie veräußert, und der Erlös drei Monate 
lang zur Dispofition des Berechtigten gehalten. Diejes Verfahren müffen die ver: 
lierenden Eigenthümer (Paffagiere) anerkennen, weil fie fich dem Bahnreglement durd 
Löfung des Billets, bzw. Benußung der Fahrt unterworfen haben. Finden dritte 
Perjonen im örtlichen Bezirke der Bahnverwaltung Gegenftände, jo unterliegen die: 
jelben der in den einjchlägigen Gefegen des Fundortes vorgezeichneten Behandlung. 

c) Zeichen. Die Beiörderung von „Leichen“ Hat man noch ala eine Art der 
Perjonenbeförderung betrachtet und hat die Aufgabe, wie die Auslieferung bei den: 
jelben, gleichwie beim Reifegepäd zu erfolgen. Auch die Beförderung erfolgt mit den 
Perjonenzügen. Einzelne jpeziele ITransportbedingungen find die vorgängige Ans 
meldung des Transports, luftdichter Verjchluß im Sarge mit hölzerner Kiſte, Bei— 
gabe eines Begleiters, eines YLeichenpafies, Vorauszahlung der Taren und Abholung 
der Leichen innerhalb jechs Stunden nach Ankunft am Beitimmungsorte. 

Zu Abſchnitt II. lit. c, d und e find bereits einheitliche Zufagbeftimmungen über 
die Abfertigung und Tarifvorfchriiten im Deutichen Reich jeit 1. März 1880 publizirt. 

d) Equipagen und andere Fahrzeuge. In Folge der erwähnten ein: 
beitlichen Zujagbeitimmungen befteht nun auch ein einheitlicher Abfertigungsmodus 
in ganz Deutichland für „Hahrzeuge* Nach demjelben ift zu untericheiden 
zwiſchen Equipagen und anderen nicht auf eigenen Rädern laufenden unbeladenen 
Fahrzeugen einerjeits und den auf eigenen Rädern laufenden Fahrzeugen (Xofomotiven, 
Tendern und anderen Eifenbahnfahrzeugen). Letztere find bei den Güterexpeditionen, 
eritere mittels Beförderungsſcheins bei der Gepäderpedition aufzugeben. Lokomotiven 
und Tender werden nach dem Gewicht tarifirt, bei den übrigen Eifenbahnjahrzeugen 
wird eine beftimmte Stredentare per Kilometer und verwendeten Eifenbahnmwagen er 
hoben. Reiſende dürfen während der Fahrt nicht in den „Fahrzeugen“ bleiben, um 
einer Umgehung der Beitimmungen über Perfonenbeförderung vorzubeugen und die 
Öffentliche Sicherheit nicht zu gefährden. Die Aufgabe muß eine Stunde vor Zuge 
abgang jtattfinden. 

e) Beförderung von Thieren. Die SS 40—45 des Bahnreglements 
bejtimmen, unter welchen Bedingungen lebende Thiere zur Beförderung auf den 
Gifenbahnen angenommen werden und in welchem Umfang die lehteren Schaden zu 
präftiren haben. Im Allgemeinen richtet fich die Haftpflicht nach den in Abjchnitt 
III. für den Güterverkehr enthaltenen Vertragsbedingungen, joweit diefe anwendbar 
find. Lebteren gegenüber treten jedoch beim Viehtransport nach drei Seiten hin 
Beichränkungen ein: 1) Da die Thiere durch den Verſender jelbit auf und durch den 
Empfänger abgeladen werden müſſen, jo fällt die Haftung für den Schaden hinweg, 
welcher aus der mit dem Auf- und Abladen oder mit mangelhafter Ber: 
ladung verbundenen Gefahr entjtanden ift. 2) Haftet die Bahn nicht für den 
Schaden, welcher aus der mit dem Transport für diejelben verbundenen be: 
jönderen Gefahr (Entipringen, Fallen, Stoßen, Erjtiden) verbunden ift. 3) Haftet 


Reglement der Eiſenbahnen. 333 


die Bahn nicht für den Schaden, welcher aus der Gefahr entjtanden ift, deren Ab— 
wendung durch die vorgejchriebene Begleitung bezwedt wird, 3. B. Mangel an 
Wartung, Fütterung, Tränkung. 

Abſchnitt III. Beförderung von Gütern. Die Deutichen und Defter- 
reicheUlngarifchen bzw. Vereinsbahnen transportiren „Güter“ von und nach allen 
für den Güterverkehr eingerichteten Stationen jämmtlicher Vereinsbahnen auf Grund 
eines Frachtbriefs, jo daß jämmtliche Eifenbahnen dem Publitum gegenüber nur 
ala unter einer Verwaltung jtehend erjcheinen und auf den Webergangsitationen 
das Eijenbahnperjonal die Uebergabe an die anfchließende Bahn bejorgt. 

Bezüglich der Annahme der Güter zum Transport eriftiren von der den 
Eiienbahnen als öffentlichen Anstalten durch das HGB. auferlegten Transportpflicht 
die gleichen Ausnahmen wie bei Zurüdmweifung des Transports, nämlich: 
1) wenn außergewöhnliche Hinderniffe (Betriebajtörung), 2) wenn höhere Gewalt 
entgegenitehen, 3) bei Inſuffizienz der Transportmittel (S 6). In diefen drei Fällen 
können die Eifenbahnen, um Aufftauungen der Güter zu vermeiden, auch die Ein— 
magazinirung zum jpäteren Transport jo lange verweigern, bis der Hinderungsgrund 
wegfällt ($ 55), fie müfjen aber die Güter „zur vorläufigen Lagerung“ annehmen, 
wenn Räumlichkeiten disponibel find; jedoch haften die Eifenbahnen dann nur ala 
Verwahrer bis zu dem Zeitpunkt, in welchem die Verladung möglich ift, indem von 
da an erft die Annahme des Guts zum „Transporte“ als geichehen und der 
Frachtvertrag erjt durch Aufdrüden des Expeditionsſtempels auf den Frachtbrief ala 
abgeichlofjen gilt. 

Die Eifenbahnen fönnen aber die Annahme von Gütern auch verweigern: 
4) wenn die Güter „an ſich“ fich nicht eignen, 3. B. kranke Thiere ($ 40), der 
Selbjtentzündung unterworfene Gegenftände ($ 48); 5) wenn fie „vermöge ihrer 
Verpadung“ zum Transport nicht geeignet find ($ 47). Was die Verpadung 
anlangt, jo ijt durch Art. 422 des HGB. den Neglements verbindliche Kraft bei- 
gelegt. Den dieje erlafjenden Adminiftrativbehörden ift aljo Freiheit gelafien, Vor— 
ichriften über die Beichaffenheit der Verpadung im Allgemeinen oder für einzelne 
Arten von Gütern zu erlaffen. Demgemäß ermächtigt $ 47 die Eifenbahnen, gar 
nicht oder nicht ordnnungsmäßig verpadtes Gut, wenn die Natur defjelben eine Ver— 
padung zum Schuß gegen Berluft der Beichädigung auf dem Transport erfordert, 
nur dann zu befördern, wenn der Abjender das Fehlen oder die Mängel der Ber- 
padung auf dem Frachtbrief anerfennt und außerdem hierüber noch ein Revers- 
tormular ausfüllt. Unbeanjtandete Annahme eines äußerlich mangelhaft verpadten 
Guts macht die Eijenbahnen erfagpflichtig. 

Perfektion des Frachtvertrags. Der Trrachtvertrag ift abgeichloffen, jobald 
das Gut mit dem Frachtbrief zur Beförderung — nicht zur Einlagerung — an— 
genommen ift; denn die Eijenbahnen Haften nach Art. 395 des HGB. von der 
„Empiangnahme“ des Guts zur Beförderung an und fünnen, da Art. 395 1. c. 
Prohibitivbeitimmung ift, die Dauer diefer Haftung durch Reglements nicht ein- 
ichränfen. Unter dieſer „Empfangnahme“ ijt derjenige Alt zu verjtehen, durch welchen 
die Eifenbahn bekundet, daß fie die Offerte des Abjenders zur Eingehung des Fracht- 
vertrags nach Frachtbrief und Frachtgut reglementmäßig erachte und den Transport 
übernehme. 

Während das HGB. weder die Auäftellung eines Frachtbriefes noch die Auf: 
drückung des Expeditionsſtempels (derjelbe enthält nur Name der Station, Monat 
und Tag der Uebernahme) für den rechtäverbindlichen Abjchluß eines Frachtvertrags 
fordert, war es im Gijenbahnfrachtverfehr mit Rüdficht auf die zu gleicher Zeit und 
an verjchiedenen Pläßen jtattfindende Mafjenauflieferung geboten, den Zeitpunkt, in 
welchem die Auflieferung, bzw. Verladung des in demjelben Frachtbrief deflarirten 
Guts vollftändig geichehen ift und von welchem an der Frachtvertrag rechtliche 
Wirkſamkeit haben foll, in einer Jedermann leicht fichtbaren Weile zu firiren und, 


334 Reglement der Eiienbahnen. 


abweichend von dem Abichluß des gewöhnlichen Frachtvertrags, im Reglement ipeziell 
auszusprechen, wie die Uebergabe fjtattfinden muß und wodurch die „Einpfang: 
nahme”, d. i. die Erklärung der Annahme der Frachtvertragsofferte des Abjenders, 
fonftatirt wird. Die Aufdrüdung des Expeditionsſtempels joll übrigens das regel: 
mäßige, nicht das ausſchließliche Zeichen des eingetretenen Konjenjes bilden, 
und es hängt von den konkreten Umſtänden ab, ob, jalla die Aufdrüdung des 
Expeditionsſtempels unterblieben ift, die Thatſache des eingetretenen Konſenſes, bzw. 
erfolgten Vertragsabichluffes auf andere Weije erwiejen werden kann. 

Die Beidrüdung des Stempels der Aufgabeftation hat die Vermuthung für 
fih, daß fie 1) von den dazu kompetenten Beamten, 2) erſt nach volljtändiger 
Auflieferung des im Frachtbrief deflarirten Gutes erfolgte. Diefe Fixirung des 
Moments des Beginns der Verantwortlichkeit ift fowol in Bezug auf Berechnung 
der Lieferfrift (diefelbe beginnt mit der auf den Tag des Vertragsabichluffes folgenden 
Mitternacht) ala in Bezug auf den Beginn der Haftpflicht der Eifenbahn nach $ 64, 
Abi. 1 von wejentlicher Bedeutung. Läßt die Eiſenbahn die Güter durch eigene 
NRollfuhrleute von den Abjendern abholen, jo ijt jchon mit der Uebergabe an diele 
der Frachtvertrag abgeichloffen. 

Frachtbriefe. Das Betrieböreglement enthält ala Beilage das Frachtbriej⸗ 
mufter, welches jeder Sendung beigegeben jein muß. In diefem erklärt der Ber: 
jender, daß er fich den Beitimmungen des Betriebsreglements und der Tarife unter: 
werfe, welche für die betreffende Sendung zur Anwendung kommen. 

Hierdurch, jowie durch das Gebot, daß der Frachtbrief andere Erklärungen und 
Vereinbarungen als fte das HGB. oder das Betriebsreglement zuläßt, nicht enthalten 
darf, iſt im öffentlichen Intereffe ein jogenannter Normalirachtvertrag ge 
ichaffen, den jeder Verſender eingehen muß. Ebenſo find über Form und Inhalt 
des Frachtbriefes bindende Vorſchriften durch das Betriebäreglement erlaflen; er 
muß die Unterjchrift des Abſenders oder eine gedrudte, bzw. gejtempelte Zeichnung 
jeines Namens, jowie die deutliche und genaue Bezeichnung des Empfängers umd 
des Beitimmungsortes, und, wenn nach leßterem verichiedene Wege führen, die Ans 
gabe des Transportiweges enthalten. Auch die zur zolle und jteueramtlichen Be 
handlung beigefügten Begleitpapiere find darin zu verzeichnen. 

Der Trachtbrief ift nicht das einzige und ausſchließliche Beweismittel für den 
Trachtvertrag. Auch ift Gegenbeweis gegen den Inhalt deifelben zuläſſig. Bei 
Gütern, deren Auf und Abladen nah Beitimmung des Reglemente, des Tarije 
oder bejonderer Vereinbarung mit dem Abjender, von diefem oder dem Empfänger 
bejorgt wird, macht die Angabe des Gewichts oder der Menge des Gutes in dem 
Frachtbriefe feinen Beweis gegen die Eifenbahn, jofern nicht die Verwiegung der 
Wagenladung oder der Güter, welche diejelbe bilden, erfolgt, und die Stückzahl oder 
das Gewicht, leteres durch den Wägejtempel von der Abgangsjtation auf dem 
Frachtbriefe bejcheinigt ift. Die Eifenbahn Hat bei der Annahme des Frachtbriefee 
die Einträge in demjelben zu prüfen und erfennt die Angaben — ausnahmlich des 
Gewichts und der Menge im Falle der Selbjtverladung — mit der Abjtempelung 
des Frachtbriefes als richtig und bindend an. Ginjeitige Abänderungen der 
Frachtbriefangaben nach der Annahme und Abſtempelung find unzuläſſig und ohne 
Wirkung auf die Verpflichtungen des andern Theils. Der Beweisfrait des ab: 
gejtempelten Frachtbriefs jteht die Haftung des Abjenders für die Richtigkeit defjelben 
gegenüber. 

Der Abjender ift zur richtigen Bezeichnung des Inhalts und des Gewichts 
der Gijenbahn verpflichtet und haftet für den daraus entjtehenden Schaden und für 
eine Konventionalſtrafe. Dieſe verfällt bei falfcher Angabe ohne Rüdjicht auf 
eine Schuld des Abjenders, welchem eine pofitive Verpflichtung bezüglich der 
Richtigkeit der Angabe gemacht ift, und iſt alfo Lediglich an die Thatjache der 
Nichterfüllung der gejtellten Vertragsbedingung geknüpft. 


Reglement der Eiſenbahnen. 335 


Auch bei Stüdgut ift Erhebung der Konventionalftrafe, obwol die Gewichts- 
fontrole obligatorijch ift, wegen unrichtiger Angabe des Gewichts zuläffig, da 
die Zuficherung der amtlichen Feititellung des Gewichts behufs der richtigen Fracht- 
berehnung und der eventuellen Firirung der Entjchädigungsjumme die Bedingung, 
das Gewicht richtig anzugeben, und die Berechtigung, im Falle der Nichterfüllung 
diefer Bedingung Konventionalſtrafe zu verlangen, nicht befeitigt. 

Der Abjender muß die Route vorjchreiben, über welche das Gut geleitet werden 
jol, wenn e& verjchiedene Routen vom Abjendungs- bis zum Beitimmungsort 
giebt. Die Bahn ift aladann an dieje Vorfchrift gebunden. Iſt der Transportweg 
nicht vorgejchrieben, jo wird angenommen, daß er es der befjer informirten Verſandt⸗ 
erpedition überläßt und muß die Verfandterpedition denjenigen Weg wählen, der 
ihr im Intereije des Abjenders am zweckmäßigſten erſcheint. 

Die Wahl der Route erfolgt auf Gefahr des Abfenders, d. h. die Bahn über: 
nimmt nur für die unrichtige Wahl (Mehrfracht, nothivendige Verzögerung gegenüber 
der fürzeren Route) feine Verantwortung; für den Transport auf der von ihr 
gewählten Route haftet fie jelbjtverjtändlih. Geht das Gut auf der gewählten Route 
durch vis major zu Grunde, jo haftet fie ebenfalls nicht. 

Die Bahn hat bei der Wahl der Inftradirungsroute nur gewöhnliche diligentia 
zu präftiren, joweit nicht ein direkter Tarifſatz der Aufgabejtation, welche fie jelbit- 
verftändlich alle kennen muß, anzuwenden ift ($ 52, Abj. 1). Auf der vom Ab— 
jender vorgefchriebenen, wie auf der von der Abjendejtation gewählten Route ijt 
zunächſt der publizirte direkte Tarif, eventuell, d. 5. wenn ein direkter Tarif 
nicht publizirt ift, der zufammenzufeßende gebrochene Tarif anzuwenden. Deshalb 
iſt Grundjaß, daß jede Sendung, wenn die Beitimmungsftation feine Verbanditation 
it, auf Die nächft vorgelegene Berbandsjftation zu fartiren iſt, joweit 
nicht jpezielle Ausnahmen — 3. B. Uebergangsftation — gemacht find. 

Zoll- und Steuervorjhriiten. Dem Abjender allein liegt die Ver— 
bindlichfeit ob, die Bahn zur Erfüllung der zoll- und fteueramtlichen Obliegenheiten 
in den Stand zu ſetzen („das Gut transportbereit zu machen”), da die Beichaffung 
der Papiere feine zum Transport gehörige Handlung, jondern ein jelbjtändiges 
Nebengeichäft it. Aus der Annahme des Guts zum Transport ohne Bollpapiere 
oder mit unzulänglichen Papieren und der Ausführung des Transports darf aljo 
fein Verzicht der Bahn auf Beichaffung der Papiere ſeitens des Abjenders abgeleitet, 
folche Annahme auch nicht als „Verſchulden“ der Bahn zugerechnet werden. 
Der Abjender iſt troßdem für alle Strafen und Schäden haftbar, welche die Eifen- 
bahn wegen Unrichtigfeit oder Unzulänglichkeit der zur Zollabfertigung erforderlichen 
Begleitpapiere treffen und ijt der bei der Zollabfertigung ohne ihr Verſchulden ge— 
Ichädigten Bahn jtets haftbar, mag ihn ein Verſchulden treiien oder 
nicht. — Fällt jedoch der Eijenbahn jelbjt ein Verſchulden zur Laft, jo hat fie 
feinen Rüdgriff bezüglich der über fie verhängten Zollftrafe. 

Hat die Eiſenbahn bei der Zollverwaltung eine unrichtige zoll- oder jteuer- 
amtliche Abfertigung auf Antrag des Verſenders oder ohne folchen veranlaßt, jo hat 
fie für alle Strafen und Schäden Regreß an den Abjender. Unfenntniß der Zoll 
geieße und Regulative, Irrthum eines Kontravenienten über Sinn und Tragweite 
einer zollfisfalifchen Strafbeitimmung, ebenjo der Mangel der Abficht, ihr zuwider— 
zubandeln, jchließen die Strafbarkeit nicht aus (Entſch. d. ROHG. Bd. XVII. 
©. 245). 

Berehnung und Zahlung der Fracht. GEritere erfolgt auf Grund 
der publizirten Tarife, in welchen die Preije für den Eijenbahntransport von vorn= 
herein feſt normirt find. Mit Anwendung der betr. Tarife erklärt fich der Ver— 

jender bei Gingehung des Frachtvertrags durch Unterzeichnung des Normalfracht: 
briefes einverjtanden. In diefen Tarifen Liegt der Frachtberechnung bei Stüdgut das 
PAruttogewicht, bei Wagenladungen die Tragkrait des Wagens, bei Vieh auch der 


336 Reglement der Eifenbahnen. 


Zaderaum deffelben zu Grunde. Bei Wagenladungen obliegt die Verladung dem 
Berfender. Die Ueberfchreitung der am Wagen vermerkten Tragiähigkeitäziffer ift 
bis zur Höhe von 5 Prozent bei Wagen von 10000 kg Tragkraft zuläffig, andem- 
falls wird Kopventionalftrafe im doppelten Betrag der für das Uebergewicht zu er 
hebenden Fracht vom Verjender oder Empfänger erhoben. 

Die Aufgabe eines Guts erfolgt entweder „in Frankatur“ oder „in Leber: 
weijung”. Griteren Falls hat der Abjender die Fracht ſofort zu bezahlen, Leßteren 
"alles erhält die Eifenbahn vom Abjender den Auftrag, die Fracht vom Empfänger 
einzufaffiren. Es fteht jomit im Belieben des Abſenders, ob er das eine oder das 
andere thun will. Der Empfänger tritt durch Annahme des Frachtguts und Fracht—- 
briefs in den Frachtvertrag ein und übernimmt die in dem letzteren ftipulicte 
Zahlungspflicht der Eifenbahn gegenüber. Nimmt der Adreffat das Gut nicht an, 
jo erwächlt ihm auch feine Verpflichtung zu einer Frachtzahlung. Der Adreffat kann 
fi aber jchon durch Annahme des Frachtbrieis allein zur Frachtzahlung obligiren. 
Auch eine Verfügung des Adreffaten, das Gut mit dem alten Frachtbrief weiter 
zu befördern, jchließt die Annahme des Guts und Frachtbrieis in fich und verpflichtet 
zur Zahlung der Fracht. 

Die Zahlung der Tracht hat zu erfolgen nach Maßgabe des im Frachtbrief in 
Bezug genommenen Bahnreglements, und nach diefem jollen unrichtige Anwendungen 
des Tarifs oder fehler bei der Gebührenberechnung weder der Eijenbahn noch dem 
zur Zahlung Berpflichteten zum Nachtheil gereichen. 

Der auf dem Frachtbrief in der Nota ausgeworfene Betrag ijt daher nicht 
maßgebend und find zu wenig erhobene Frachtbeträge von den Parteien nachzuzahlen, 
wie auch zu viel erhobene zurücdvergütet werden. 

Auh „Nahnahmen“ auf Güter find zuläffig und müfjen vom Empfänger 
bei Selbithaftung der Bahn im Unterlaffungsfalle eingezogen werden, jei es, daß es 
fih um Nachnahme bereits erwachjener Verſendungs- und ITransportkojten, oder um 
Nachnahme des Kaufpreijes handelt. Der Abjender kann vom Tyrachtvertrag zurüd- 
treten, wenn der Antritt oder die Fortſetzung der Reife durch Naturereigniffe oder 
ſonſtige Zufälle zeitweilig verhindert wird. Die Eiſenbahn hat fein Rücktrittsrecht, 
aber das Recht, das Gut beim Vorhandenfein einer Hülfsroute auf diejer feinem 
Beitimmungsort zuzuführen. 

Tritt der Abfender aus anderen als vorftehend erwähnten Gründen zurüd, io 
muß er der Eifenbahn den bereits erwachjenen Aufwand erjeßen; unterwegs fann 
der Rüdruf eines Guts außerdem nur mit Zuftimmung der Eifenbahn und gegen 
Zahlung eines Reugeldes erfolgen ($ 60). 


Ablieferung. Der „Transport“ eines Guts begreift nicht die Verpflichtung 
in fich, dafjelbe am Ablieferungsorte in die Wohnung des Empfängers zu ſchaffen; 
die Eifenbahnen können fich vielmehr im Reglement von der diesfallfigen, dem Fracht: 
führer im HGB. auferlegten Pflicht frei machen und da8 Gut dem Empfänger aui 
dem Bahnhof des Beitimmungsortes zur Verfügung jtellen. 

Der Abjender kann jedoch nachträglich einen anderen Empfänger, als im 
Frachtbrief vereinbart, und auch einen anderen Beltimmungsort fubitituiren. 
Doc darf der Verjender nicht einjeitig die vereinbarte Transportitrede verlängern, 
überhaupt den Umfang der Pflichten der Eifenbahn nicht ohne ihre RE 
nachträglich erweitern. 

Im Verband der Deutichen Eifenbahnverwaltungen ift ala Regel die — 
von Anweiſungen, bei welchen die Beſtimmungsſtation verändert wird, unterſagt 
und nur bei Wagenladungsgütern ausnahmsweiſe gejtattet. 


Solche Anweiſungen müſſen durch Bermittlung der Aufgabejtation erfolgen, da 


diefe fich nur vergewifjern kann, ob ein Brief, Telegramm ꝛc. vom Abjender woirklich 
herrührt. 


Reglement der Eiienbahnen. 337 


Die „Dispoſitionsbefugniß“ des Abfenders über das Gut erlifcht, ſo— 
bald das Gut am Bejtimmungsort angelommen und der Trachtbrief übergeben ift, 
ferner wenn der Empfänger nach Ankunft des Guts am Ablieferungsorte Klage auf 
Ausantwortung von Trachtbrief oder Gut jtellt. In denjelben Momenten beginnt 
die ausschließliche Dispofitionsbefugnig des Empfängers. 

Die Eijenbahn iſt verpflichtet, wenn fie dad Gut am Beltimmungsort nicht 
jelbit an die Behaufung führt, den Empfänger von der Ankunft deifelben durch 
Boten, Poſt ꝛc. zu benachrichtigen. 

Führt fie das Gut durch Rollfuhrunternehmer ſelbſt zu, jo ift Avifirung nicht 
geboten. Es ift Sache jedes Einzelnen, ob er Güter, die an ihn ankommen, jelbft 
abholen oder fich der bahmjeitig aufgeitellten Rolltuhrunternehmer bedienen will. 
Nah dem Bahnreglement braucht die Eifenbahn nur gegen fofortige Bezahlung der 
Fracht und jonftigen auf dem Gut haftenden Gebühren abzuliefern. 

Gleichwie Verzug in der Auflieferung der Güter die Verpflichtung des Abjenders 
nach fich zieht, Lagergeld oder Konventionalftrafe für zu lange Inanfpruchnahme 
der Räumlichkeiten oder Wagen der Eifenbahn zu zahlen, ebenjo fann Verzug in 
der Abtührung, Abnahme oder Ausladung der Güter die Verpflichtung des Empfängers 
begründen, Zagergeld oder Konventionaljtrafe zu zahlen. 

Für alle auf dem Frachtgut haftenden Anfprüche, jomweit fie durch den Fracht— 
vertrag begründet find, ferner für Zollgelder und andere Auslagen (excl. Nach- 
nahmen nach Gingang) haftet das Frachtgut der Eiſenbahn als Piand. 

Die Realifirung des Piandrecht? erfolgt, wenn die Eifenbahn noch im Befit 
des Piandobjektes ift, nach Art. 407 des HGB. dadurch), daß fie den Antrag auf 
Verkauf des Guts bei dem kompetenten Gerichte (Art. 310 des HGB.) einreicht. 
Da die Eifenbahnen Vorauszahlung vor Ablieferung der Güter verlangen, fommen fie 
jelten in die Lage, von dem Pfandrecht Gebrauch zu machen. 

Die Eifenbahnen haben ala Kaufleute im Sinne des Art. 4 des HGB. unter 
den Vorausfegungen der Art. 313 und 314 auch das kaufmännische Retentionsrecht 
und außerdem jelbjtredend die ordentlichen Rechtöbehelie gegen ihren Schuldner. 

Ablieferungshindernijje Wenn die Ab» oder Annahme des Guts 
vom Empfänger verweigert wird, wenn die Abgabe eines Guts überhaupt nicht 
thunlich geworden und wenn Bahnhoflagernd aufgegebene Güter innerhalb der 
vorgeichriebenen Friſt nicht abgeholt werden, Haben die GEifenbahnen die Wahl: 
a) entweder die Güter auf Gefahr und Koften der Verſender auf der betreffenden 
Station zu lagern — von da an haften fie nur als Depofitare —, b) oder die 
Güter unter Nachnahme ihrer Koften und Auslagen in ein öffentliches Lagerhaus 
oder einem ihnen als bewährt befannten Spediteur zu übergeben — hiermit ift das 
Frachtgeſchäft für die Eifenbahn vollftändig erledigt —, oder c) das Gut außer- 
gerichtlich (muß nicht öffentlich fein) zu verkaufen. 

Letzteres jet jedoch noch weiter voraus, daß die Güter dem jchnellen Berderben 
auägefegt find und zugleich mit dem Adreffaten der Abjender die angebotene Zurüd- 
nahme verweigert, oder falls der Empfänger die Annahme verweigert, oder nicht zu 
ermitteln ift, daß zugleich der Verſender nicht zu ermitteln it. 

Dat die Gifenbahn zwiſchen diejen ihr offenjtehenden Wegen gewählt, jo darf 
fie nicht zum Nachtheil des Verſenders variiren (Entich. des ROHG. VIII. ©. 317). 

Daitpilicht der Eiſenbahn. Hinfichtlic” der Ausführung des Transports 
auf der ganzen Strede jtehen mehrere Eifenbahnverwaltungen dem Ab— 

iender ala Korrealſchuldner gegenüber (Entidh. dee ROHG. XI. ©. 212). 

Die erite Eijenbahn fontrahirt Namens ihrer Transportnachfolger und für 
Rechnung derjelben. Der Rüdgriff der Eifenbahnen untereinander iſt in Ermange— 
fung gefeglicer Regelung nach den Bejtimmungen des bürgerlichen Rechts über den 
Regreß ber Korrealichuldner untereinander zu beurtheilen. 

v. Holgenborff, Enc. II. Rechtslexikon II. 3. Aufl. 22 


338 Neglement der Eiienbahnen. 


Was die Haftpflicht der Eijenbahn für ihr Perfonal anlangt, jo haftet fie 
qua Frachtführer (Art. 400 des HGB.): 

1) nur für ſolches Perſonal, deſſen fie ſich zur Ausführung des Transports 
bedient, das alſo mit der Erpedition und Beförderung der Güter im urſächlichen 
Zufammenhang jtehende Handlungen vorzunehmen hat; 

2) nur für folche Handlungen und Unterlaflungen diejes Perjonals, welde 
dafjelbe in Ausübung feiner Dienjtesfunftionen begangen hat; und 

3) welche weder vor dem Abſchluß, noch nach Erfüllung des Frachtvertrages 
begangen wurden, ferner nicht für Mandatserzefle dieſes Perjonale. 

In allen diefen Ausnahmsfällen ift ihre Haftung nicht nach Art. 400 des HGB. 
fondern nach Art. 47 des HGB. zu bemefjen. Da die Eijenbahn einen Transport 
ala Ganzes (opus) übernimmt mit der Verpflichtung, rem salvam fore, jo haftet 
fie für den Schaden, welcher durch Berluft oder VBeichädigung des Guts vom Zeit: 
punfte des Abjchluffes des Frachtvertrags bis zur Ablieferung entjtanden ift, ohne 
Rückſicht, ob ihr ein Verſchulden zur Laſt fällt (Art. 395 des HGB.). 

Nur in drei Fällen ift fie erfulpirt, wenn a) höhere Gewalt, b) natürliche 
Beichaffenheit des Gut, c) äußerlich nicht erfennbare Mängel der Verpadung die 
Urſache des Schadens find. Obwol Art. 395 1. c. eigenes Verjchulden des Ab- 
ſenders, oder jeiner Leute als Exkulpationsgrund nicht enthält, hat die Eifenbahn 
folches doch nicht zu vertreten. 

Zur Begründung der Einrede der „höheren Gewalt“ gehört ein Greignik, 
„das unter den gegebenen Umftänden auch durch die Äußerite, 
diejen Umftänden angemeijene und vernünftiger Weife zu er: 
wartende Sorgfalt weder abzuwehren, noch in ſeinen ſchädlichen 
Folgen zu vermeiden war” (Entidh. des ROHG. II. ©. 259; VIH. ©. 29, 
159). Wäre der durch „höhere Gewalt“ entitandene Schaden zwar zu vermeiden 
gewejen, aber nur durch außerordentliche ungewöhnliche Vorſichtsmaß— 
regeln, jo haftet die Eiſenbahn nicht (Entich. des ROHG. XII. ©. 321). Die 
Gifenbahn Hat hiernach auch für den bei der Abwejenheit jeglichen 
Verſchuldens vorliegenden einfachen Zufall einzuftehen, 3. B. jede 
mangelhafte Funktion der Betriebs- und Transportmittel; diefe müſſen bei jedem 
—— ſo beſchaffen ſein, daß ſie das Gut nicht beſchädigen. 

erluſt oder Beſchädigung durch die natürliche Beſchaffenheit des Guts muß 
nach Naturgeſetzen, 3. B. durch unvermeidliche rüttelnde Bewegung des Wagens, 
durch den Transport in offenen Wagen, bzw. die Einflüſſe der Witterung 
(Hitze, Kälte), alſo von innen heraus entſtanden ſein (innerer Verderb, Schwinden, 
gewöhnliche Leckage). 

Nachdem die ordentliche Verpackung Sache des Abſenders iſt, gilt mangelhafte 
Verpackung als eigenes Verſchulden defjelben oder feiner Leute. Fit fie äußerlich 
fichtbar und die Eifenbahn nimmt das Gut doch an, jo wird darin jtillfchweigende 
Billigung der Verpackung gefunden, welche ihre Haftung begründet. 

Abgabe des Frachtguts zur Zolle oder Steuerabfertigung auf der Beitimmungs 
ſtation gilt als Ablieferung und macht die Eiſenbahn haftfrei. — Iſt dem Empfänger 
vier Wochen nach Ablauf der Lieferfriſt ein Gut nicht abgeliefert, ſo kann er es als 
verloren betrachten und Erſatz für Verluft fordern. Die Eiſenbahn ijt nach dieſer 
Frift nicht mehr rüdgabeberechtigt, wol aber rüdgabepflichtig, wenn es wieder auf: 
gefunden und vom Empfänger verlangt wird. 

Unbeanjtandete Annahme eines Guts und Bezahlung der Fracht (jedoch mur 
fopulativ) gilt als thatfächliche Billigung des Transports und macht die Eifenbahn 
haftfrei; bei Frankoſendungen ift diefer Grundja nicht anwendbar, weil die Fracht 
vorausbezahlt ift. Ebenſo dauert die Kontraktsklage gegen die Gifenbahn fort, wenn 
der Empfänger des Guts bei der Annahme deilelben und Zahlung der Fracht die 
Mängel deffelben äußerlich nicht wahrnehmen konnte, jo daß alſo auch eine ſtill— 


Reglement der Eiſenbahnen. 339 


ihweigende Genehmigung des Transportvertrags nicht zu präfumiren ift. In ſolchem 
Falle muß jedoch die Feſtſtellung der Mängel ohne Verzug nach der Entdedung 
nachgejucht, die Reklamation bei der Eiſenbahn binnen vier Wochen chriitlich 
angemeldet und nachgewiefen werden, daß die Mängel in der Zeit, im welcher 
das Gut im Gewahrjam der Eifenbahn war, entitanden find. Erſt dann ijt 
actio nata. 

Für Anjprühe aus Verluft, Beihädigung und Verſpätung gegen 
die Eifenbahnen iſt einjährige Verjährungsfriſt gejchaffen, alle übrigen 
Forderungen verjähren nach Landesgejeglichen Beitimmungen, 3. B. Nachzahlung zu 
wenig, Rückzahlung zu viel erhobener Fracht. 

Im Fall der Nihtabliejerung beginnt die Verjährung mit dem Ablauf 
des Tages, an welchem das Gut hätte abgeliefert werden müffen, bei Beichädigung 
oder Verminderung, jowie verjpäteter Ablieferung mit dem Tag der Ablieferung. 

Ueber das Schidjal und den Verbleib eines nicht abgelieferten Guts haben die 
Eiſenbahnen die eingehendjten Recherchen anzujtellen und dem Publitum aftenmäßige 
Mittheilungen zu machen (Entjch. des ROHG. XXI. ©. 21). 

Die Haftpflicht der Eiſenbahnen ift für folche Gefahren beſchränkt, welche 
nach den eigenthümlichen Einrichtungen derjelben in der Regel und vorausfichtlic) 
ohne Schuld der Eijenbahnen eintreten ($ 67 des Bahnreglements), jo bei leichter 
Verlegbarfeit des Guts (außergewöhnlicher Ledage), bein Transport in offenen 
Wagen (Diebftahl, Witterungseinflüffe), bei Mängeln der VBerpadung, in Anjehung 
derjenigen Güter, welche vom Abſender jelbjt verladen und vom Empfänger jelbjt 
entladen werden, endlich bei jolchen Sachen (Fahrzeuge, lebende Thiere), in Ans 
jehung deren verabredet iſt, daß fie begleitet werden. In diejen fünf Fällen braucht 
die Eiſenbahn lediglich die Möglichkeit zu erweiien, daß der Schaden in erfenn- 
barem Zufammenhang mit diejen Gefahren jtehe; aladann tritt die Präfumtion ein, 
daß der Schaden wirklich aus diejen nicht zu vertretenden Gefahren entjtanden tit, 
gegen welche Präjumtion dem Reklamanten der Gegenbeweis offen jteht. 

Die Höhe der von den Eijenbahnen zu zahlenden Entichädigungsjumme bemißt 
fih in ihrem Geldwerthe (Erfaß in natura fann nicht gefordert werden): 

a) bei Verluſt und Beichädigung nach dem gemeinen Handelswerth eines Gut? 
gleicher Qualität am Ablieferungsorte, in Grmangelung eines jolchen nach dem 
Werth, um den man e8 am Ablieferungsorte gemeinhin kaufen kann. Es bleibt alfo 
das individuelle Interefje, der Affektionswerth, fowie derentgangene 
Gewinn außer Anja und nur das damnum emergens ijt die omnis causa, welche 
die Eiſenbahn zu erjegen hat. In Ermangelung einer höheren Werthdeklaration be= 
trägt der gemeine Werth in maximo 60 Mark pro 50 kg Brutto (Normaljat), wenn 
auch der wirkliche Werth denjelben überfteigt. Im Fall einer gültigen Werth: 
deflaration auf dem Frachtbrief ijt der deflarirte Betrag der Marimalgarantiebetrag. 

Die Höhe des Schadens innerhalb und bis zum Normaljaß, beziehungs- 
weife zur deflarirten Summe hat der Entichädigungsberechtigte in jedem Falle 
zu erweiien. Im Fall einer Beichädigung von Gut wird von der entjtandenen Werth: 
minderung jene Quote vergütet, welche ſich nach Verhältniß des von dem Bejchädigten 
nachzumweijenden Handels- bzw. gemeinen Werths des befchädigten Guts zu dem 
Normaljag von 1 Mark 20 Pi. pro kg (eventuell deklarirten Werths) herausſtellt. 
Nur im Fall einer böslichen Handlungsweile der Eijenbahn oder ihrer Leute 
ceffiren alle Haftpflichtbejchränfungen und kann auch lucrum cessans gefordert werden. 
Die Judikatur des ROHG. Hat den Begriff „bösliche Handlungsweiſe“ 
dahin firirt, daß er den dolus im eminenten Sinne, außerdem auch den höchiten 
Grad der Nachläffigkeit, namentlich aber die luxuria umfaßt, jenen frevelhaften 
Muthwillen, der zwar die Beichädigung nicht beabfichtigt, jich aber bei jeinem 
Dandeln der damit verbundenen Gejahr bewußt iſt und dennod 


das Handeln nicht ändert. 
22* 


340 Regredienterbin, 


b) Entichädigung bei Lieferfriftüberfichreitung (SS 69 und 70). Die publizirten 
Lieferfriften (8 57 des Bahnreglements) find gewahrt, wenn innerhalb derjelben das Gut 
dem Empfänger vor die Wohnung oder das Gefchäftslofal zugeführt ift oder im Fall 
der bedungenen Selbitabholung, wenn Avifirung innerhalb der Lieferfrift erfolgt ift. 

Für die Entichädigung im Fall einer Lieferfriftüberfchreitung gelten folgende 
Normen: 

1) Der Entjchädigung Beanfpruchende hat den Nachweis des durch die Ber: 
ipätung ihm erwachjenen Schadens zu liefern. 

2) Ohne Nachweis erhält er nur theilweiien Frachtnachlaß (*/, oder ). 

3) Ohne nterefjedeflaration bildet die Hälfte, bzw. die ganze Fracht die 
Marimalentichädigung. 

4) Bei Intereſſedeklaration bildet die deflarirte Summe die Marimalgrenze 
der Entichädigung. 

Im Fall einer „böslihen Handlungsweiſe“ ceffiren wie bei a alle 
Haftpflichtbeichräntungen und bildet weder der Normalfag, noch die Werth- oder 
Intereſſedeklaration eine Grenze für die Höhe der Entichädigung. 

Lit.: Eger, Deutiches Frachtrecht, 1879, Bd. J. I. — Ruckdeſchel, Kommentar zum 
Betrieböreglement, 1880. — Wehrmann, Das Eijenbahntransportgeihäft, 1880. 
Rudbeidel. 

Negredienterbin. (Th. I. S. 853.) Das Deutiche Erbrecht hatte ſchon 
im jpäteren Mittelalter die Töchter nicht mehr zu Gunften der Söhne von ber 
Erbfolge in Stammgüter ausgefchloffen, und vom 16. Jahrh. an war in Deutich- 
land unter dem Einfluffe des Römischen Rechts die Anficht zur allgemeinen Herr: 
ichaft gelangt, daß das Erbrecht wenigitens Hinfichtlich aller Allodialgüter über: 
haupt einen Vorzug de Mannsftammes vor den Frauen nicht fenne Da nun 
aber der Vorzug des Mannsftammes innerhalb der reichajtändifchen Käufer zur Er: 
haltung des Familienglanzes nöthig jchien und deshalb überall da, wo er fich nicht 
herkömmlich behauptet hatte, wiederhergeitellt werden jollte, jo bediente man fid 
zum 3wede der von dem Rechte nicht mehr geforderten Ausjchliegung der Frauen 
eines bejonderen Rechtsgeſchäftes: man veranlaßte nämlich die Töchter der 
Deutſchen hochadligen und veichäritterichaftlichen Häuſer, das ihnen zuftehende Erbrecht 
durch ausdrüdliche, meiſtens eidliche Erbverzichte entweder definitiv für fich und ihre 
ganze Dejcendenz zu bejeitigen oder doch bis zum Grlöfchen des Mannsjtammes — 
big auf den ledigen Anfall — zu juspendiren. Starb hierauf die männliche Linie 
aus, jo war diejenige rau, bzw. die Linie derjenigen rau, welche bei der erit 
eingetretenen Konkurrenz mit einem männlichen Erben unter dem Vorbehalte des 
ledigen Anfalla auf ihr Erbrecht verzichtet hatte, jucceffionsberechtigt: die R. 

Nachdem aber aus dem im 14. Yahrh. zuerjt Hervortretenden Beftreben, die 
Stellung der hochadligen Häufer durch das Zufammenhalten der in ihrem Beſitze 
befindlichen Güter zu fichern, eine bejondere durch Hausgeſetze und Obſervanzen jeſt— 
gejtellte Succeffionsordnung hervorgegangen war, welche meijtens die Primogenitur 
und jtetö den Vorzug des Mannsſtammes anerkannte, konnte auch den Erbverzichten 
der Frauen und den ihnen beigefügten Vorbehalten eine rechtliche Bedeutung regel: 
mäßig nicht mehr zugefprochen werden. Hausgeſetze und Herkommen hatten die 
Ausſchließung der Frauen zum objektiven Rechtsfage erhoben: das Recht, auf welches 
fie Verzicht leisteten, jtand ihnen überhaupt nicht mehr zu; es war deshalb aud 
unmöglich, fich dafjelbe für den Tall des Erlöſchens des Mannsjtammes vor 
zubehalten. Vielmehr wurde der Verzicht der hochadligen Töchter, ſeitdem dieſe 
rechtlich gezwungen waren, ihn zu leiſten, ein Scheingeichäft, welches den Inhalt 
eines an ſich bereits vollfommen gültigen Rechtsſatzes in der Geftalt eine® über: 
lieferten, aber an fich vollkommen überflüffigen NRechtsgeichäfites wiederholte. Beim 
Ausgange der männlichen Linie eines reichsftändiichen Haufe konnte daher nicht 
mehr die R. und ihre Defcendenz berufen werden; vielmehr gelangte, trog mehr: 


Regreß. 341 


jachen Widerſpruchs die richtige Meinung zu allgemeiner Herrſchaft, daß die Tochter, 
überhaupt die nächjte Verwandte des lebten Agnaten, die jog. Erbtochter, vor allen 
Regredienterben fuccediren müfle, weil der Eintritt der kognatiſchen Erbfolge ſchlechthin 
nach der Nähe der Berwandtichaft mit dem Erblaffer zu bejtimmen jei. 

So weit diefer — nur auf jehr alte Erbverzichte nicht immer anwendbare — 
Grundfag die Succeffion in den Deutjchen regierenden Häufern betrifft, ift er 
überall da, wo überhaupt ein Succejfionsrecht der Kognaten nach dem Ausjterben 
des Mannaftammes anerkannt ift, in den Verfaffungsurkunden ausdrüdlich janktionirt 
worden. 

Quellen: Bayern: Vexf. Urt. Zit. IL 88 4, 5. — Sadien: Verf. Urk. $ 7. — Württem: 
berg: Verf. Urk. 57. — Großh. Heſſen: Verf. Urk. ©; Alin. 2. — Braunfchweig: Neue Land: 
Ihaftsorbnnun ; 14 Alin. 2, — Schwarzburg- Sonberöhaufen: Landesgrundgeſetz 8 13 
Ain. 2. — Walde: Verf. Urk. $ 15. 

git.: Die erg älteren Schriften für und wider die a = R —— 
Pbei H. A. Zahariä, Deutſches Staats- u. Bundesrecht, 3. Aufl., 375 Po 
Die jept geltende Lehre findet fich mol in den Lehrbüchern bes — ——— — 
al. vd. Gerber, * em des Deutſchen Privatrechts, 11. ie 5 82, 251 und bei. $ 264 

eieler, Syftem ed gemeinen Deutſchen Privatreht?, 2. Aufl. ©. wor 635. — 

Hillebrand, Lehrbud des heutigen gemeinen Deutichen ei ts, 2. Key ©. 774 
bis 776 m. U. — ald auch in denen des Deutichen Staatsrechts — HU Zahariä, 
a.a. D., ©. 375-377. — Zöpfl, Grundzüge bed gem. Deutfhen Siontsredts. 5. Aufl. 
Bd. J. ©. 77-710. — ©. Meyer, Lehrbuh des Deutſchen ir Si Leipz. 1878, 
©. 194 u. 9. F. Brodhaus. 


reß (Rüdgrisi) Heißt der Anfpruch auf Erſatz desjenigen Schadens, den 
Jemand in der Verhandlung mit einem Dritten erlitten hat, fei es, daß diefer als 
Gläubiger gegen ihn, jei e8, daß er jelbit ala Gläubiger gegen den Dritten auf— 
getreten war. In den Quellen fommt der Ausdruck R. nur vereinzelt vor, 3. B. 
l. 34 pr. D. de evict. 21, 2. $Häufiger wird er Heutzutage gebraudt. Doc 
wendet man ihn weder auf alle Fälle an, auf welche er paßt, noch find die Gründe 
und Wirkungen des R. in allen Fällen diejelben, jo daß er fich ala einheitliches 
Rechtsinſtitut darjtellen ließe. Vielmehr ift es nur möglich, die Sauptfälle, in denen 
man von R. zu fprechen pflegt, aufzuzählen. Dahin gehört: I. der R. des 
Pürgen, der vom Gläubiger in Anſpruch genommen worden iſt. Da die Bürg- 
Ichaft regelmäßig im Auftrage oder in Führung der Geſchäfte des Hauptſchuldners 
übernommen wird, jo hat der Bürge daraus einen direkten R. gegen den Haupt⸗ 
ſchuldner ($ 6 I. de fidej. 3, 20) (anders freilich bei Verbürgung in rem suam 
oder donandi animo, j. den rt. Bürgſchaft); und zwar erlangt er damit Erjaß 
deffen, was er zur Beiriedigung des Gläubigers und Befreiung des Hauptſchuldners 
geleiftet hat. Nur darf er dabei nicht durch Nachläffigkeit die Intereffen des Haupt- 
ſchuldners gejchädigt haben, 3. B. indem er die demjelben zuitehenden Einreden un— 
benußt ließ oder ihn durch Verſäumniß der Benachrichtigung zum zweiten Male zu 
leiften veranlaßte zc.: in welchen Fällen er vom Hauptſchuldner nur die Abtretung 
feiner Klage (condictio indebiti) gegen den Gläubiger fordern kann (1. 10 88 11, 
12; 1. 29 D. mand. 17, 1). Ausnahmäweife hat der Bürge gegen den Haupt— 
ſchuldner R.anjprüche, auch ohne jelbjt geleiftet zu Haben: nämlich wenn der Gläu— 
biger ihm die Schuld erlaffen Hat, weil er ihm ſchenken wollte oder wenn ein 
Dritter für den Bürgen gezahlt hat ıc. (1. 10 $ 13; 1. 12 pr. $$ 1, 2D. mand.). 
Abgeſehen von den bisher bejprochenen direkten Klagen hat aber der Bürge in allen 
Fällen auch noch indirekte Mittel des R. dadurch, daß er vom Gläubiger gegen 
Zahlung die Abtretung der diefem zuftehenden Rechte gegen den Hauptſchuldner er— 
zwingen fann (beneficium cedendarum actionum); 1. 386 D. de fidej. 46, 1; 
l. 95 $ 11 D. de solut. 46, 3; nov. 4 c. 1). Ja dieje Rechtswohlthat ift 
allmählich dahin erweitert worden, daß die Zahlung von Seiten des Bürgen im 
Zweifel als Kauf der Hauptforderung behandelt und dadurch auch ohne bejondere 


342 Regreß. 


Ceſſion das Klagerecht des befriedigten Gläubigers erworben wird. Arg. 1. 28 D. 
mand.; J. 36 D. de fidejuss.; Arndts, Xehrb., $ 356 Anm. 2; Seuffert, 
Arch. VO. 313; Defterr. BGB. $ 1358; Preuß. Allg. ER. I. 14 88 338 fi. 
Damwider freilich wegen 1. 76 D. de solut. Puchta, Pand., $ 405; Seufiert, 
Arch. XII. 117 u. a. m. Uebrigens verfteht ſich, daß auch gegen die cedirte 
Klage der Hauptichuldner den Einwand behält, daß die Verbürgung in rem suam 
oder animo donandi eingegangen jei. Ueber den R. des Bürgen, der den Gläubiger 
mit einer geringeren als der Schuldjumme abgefunden hat, vgl. neueftens F. Keil, 
Zur Xehre von dem beneficium cedend. act., Jnaug. Diff., Halle 1880. Neben 
dem Hauptſchuldner ift dem Bürgen auch fein Mitbürge regreßpflichtig, zwar nicht 
regelmäßig als folcher ($ 4 I. de fidejuss.; 1. 39 D. de fidej.; 1. 11 C. eod. 
8, 40; Seuffert, Ar. XVII. 39), wol aber mittelbar, injofern der aus 
geflagte Mitbürge von dem Gläubiger Abtretung feiner Forderung erlangt hat (1. 17; 
1. 36; 1.41 $ 1 D. eod.; 1. 11 C, eit.), und zwar dann bis zu dem Betrage, 
den auch der Gläubiger von dem R.pflichtigen hätte einziehen können, abzüglich der 
auf den R.nehmer ſelbſt fallenden Quote (Seuffert, Arch. XVII. 144). Doch iſt 
dabei bejtritten, ob der Bürge vom Gläubiger diefe Abtretung erzwingen kann oder 
nicht. Für die Verneinung ohne Grund Savigny, Oblig.Reht, I. ©. 273. 
Ueber alle diefe Fragen Girtanner, Bürgichaft, ©. 211 ff., 248 ff. 418 ff, 
533 f. II. Der. eines Gefammtjchuldners gegen die übrigen. Ein Korreal- 
jchuldner, der dem Gläubiger das Ganze geleiftet hat, kann von den übrigen ver: 
hältnigmäßigen Erſatz nur dann begehren, wenn das Rechtäverhältniß, welches ihrer 
Gejammtverpflichtung zu Grunde lag, einen folchen Anſpruch gewährt; ſonſt mich. 
Als Rechtsverhältniffe diefer Art laffen fich denken Sozietät, Auftrag, Gejchäfts- 
führung und grundlofe Bereicherung, womit fich denn von jelbit auch die R.klagen 
beitimmen (l. 62 D. ad leg. Falc. 35, 2; 1. (2) $ 1 C. de duob. reis 8, 
39). Zugleich hat in folchen Fällen der zahlende Korrealichuldner auch das bene- 
ficium cedendarum actionum dahin, daß der Gläubiger ihm feine Klagen gegen die 
Mitichuldner abtrete (1. 47 D. loc. 19, 2; 1. 13 C. de loc. 4, 65; Seuffert, 
Arch. XX. 21; v. Vangerow, II. g 573 Ann. 3 [S. 75)). Dagegen ift es um 
richtig, mit Savigny (Oblig.Recht, I. ©. 241—246) zu behaupten, daß das 
benef. ced. act. wie dem Bürgen, jo auch dem Korrealichuldner als jolchem zu: 
fomme, und daß jogar eventuell auch ohne Geffton der zahlende correus gegen die 
übrigen eine actio utilis zum Zwecke des R. anjtellen fünne. Dies wird auch durch 
l. 65 D. de evict. 21, 2 nicht erwiefen und iſt gründlich widerlegt von 
v. Bangerow, a.a. O. "Bei bloßen (nicht gemeinichaftlichen) Solidarjchulden findet 
umgekehrt ein R. regelmäßig ftatt. Denn bier hebt der zahlende Schuldner mit 
jeiner Obligation zufammen immer auch die jelbftändige Verpflichtung der übrigen 
auf. Daher muß ihm entweder actio negotiorum gestorum contraria oder die Klage 
des Gläubigers kraft ausdrüdlicher oder ftillichweigender Ceſſion auf theilweiſen Eriat 
gewährt werden. Nur wo die Solidarobligation durch Delikt begründet war, fann 
vom Grwerbe eines R.anfpruchs aus demjelben feine Rede jein (1. 1 $S 18, 14 D. 
de tut. et rat. distr. 27, 3; 1. 29 (30) D. de neg. gest. 8, 5; 1.2 C. de 
contr. jud. 5, 58; v. Bangerow, III. $ 573 Anm. 3 [S. 73)). Unter den neueren 
Gejebüchern, welche jolidarifche und Korrealobligationen nicht unterjcheiden, Hat das 
Preuß. den R. grundjäßlich anerfannt (Allg. EUR. I. 5 8 445), das Sächſ. dagegen 
($ 1036) außer im Falle eıner Gemeinſchaft oder eines Auftragsverhältnifies ver 
worfen. III. Conitige Tälle, in denen man von R. eine Schuldners rede, 
bilden der Anspruch des Käufers wegen Entwährung (j. diejen Art.), jowie auch 
der des Mandatars und Geichäftstührere auf Schadenserſatz (ij. die Art. Mandat 
und negotiorum gestio). IV. Bon dem R. eines Gläubigers fpricht man 
im Wechjelrecht, indem bier der Wechielinhaber aus drei Gründen gegen feine In: 
doffanten und den Ausfteller R. nehmen fann: und zwar weil der Bezogene die 


Reihsämter. 343 


Annahme verweigert hat, weil derjelbe nach erflärter Annahme unficher geworden ift, 
und weil der Wechjel am Werfalltage nicht bezahlt wird. In allen drei Fällen ift 
die Richtigkeit des R.grundes durch einen Proteft feftzuitellen und darf dann ſowol 
in ala außer der Reihenfolge der Indofjamente regredirt werden. Das Ziel der 
Reklage iſt in den erjten beiden Fällen Sicherftellung, in dem dritten Falle Zahlung 
der Wechjelfumme nebit Verzugszinſen, Proteſtkoſten und Provifion. Doch find 
behuts dieſes letzteren R. (Mangels Zahlung) noch bejondere Vorſchriften zu erfüllen. 
Näheres enthält die Deutiche WHO. Art. 25—29 und 41—55. Ed. 


Neihsamter. Die Verfaffung des Deutichen Reichs weiſt im Art. 4 der 
Beauffichtigung und der Geſetzgebung des Reichs eine Reihe von Angelegenheiten zu. 
Hierdurch wird die Nothwendigkeit einer DVerwaltungsthätigkeit des Neichs in der 
Kontrole jener Angelegenheiten und in der Vorbereitung der Werke der Reichs— 
geießgebung, jowie in der Aufficht über die Ausführung der erlaffenen Geſetze be= 
gründet. In gewiffen Gebieten hat aber die Verfaffung und die weitere Geſetzgebung 
des Reich auch die unmittelbare Verwaltung bejtimmter Angelegenheiten für das 
Reich jelbit in Anspruch genommen. Der jo begrenzte, erhebliche und ſtets wachjende 
Kreis von Gejchäften wird durch R. verwaltet, d. h. durch faiferliche Behörden, 
welche ihre Amtsbefugniſſe von der Reichsgewalt Herleiten. Zu den R. müſſen auch 
folhe Landesbehörden gerechnet werden, welchen von Reichswegen bejtimmte Gejchäfte 
übertragen find, wie 3. B. die Neichsjchuldenverwaltung der Preußifchen Verwaltung 
der Staatsſchulden übertragen ift. Dadurch, daR eine jolche Behörde zugleich Reichs: 
behörde wird, hört fie nicht auf Landesbehörde zu jein. Iſt die Verwaltung be= 
ftimmter Angelegenheiten nach reichögejeglicher Ordnung und im Interefje des Reichs 
den Bundesjtaaten unter Aufficht des Reichs überlafjen, jo bleiben dieje Angelegen- 
heiten Sache des Ginzeljtaats, und die Erledigung derjelben begründet für die damit 
betraute Yandesbehörde nicht die Rechtsſtellung eines R. 

Die Verwaltung der R. iſt zu führen nach den Gejegen des Reichs und nach 
den vom Bundesrath auf Grund des Art. 7 Nr. 2 der RVerf. gegebenen allgemeinen 
Berwaltungsvorjchriften, regelmäßig unter der Leitung des Neichsfanzlers, als des 
Trägers der Verantwortlichkeit für alle Anordnungen und Verfügungen des mit der 
leberwachung der Ausführung der RGeſ. im Art. 17 der RVerf. betrauten Kaiſers. 
In diefer leitenden Thätigkeit war dem Kanzler durch den Präfidialerlaß vom 
12. Aug. 1867 (B. G. Bl. ©. 29) das Bundeskanzleramt zugeordnet worden, aus welchem 
fich allmählich eine Reihe nebeneinander jtehender und in gleicher Weije dem Reichsfanzler 
unterftellter höchjter R. entwicdelt hat. Es find dies das Reichsamt des Innern, das 
Reichspoitamt, das Reichseifenbahnamt, das NReichsjuftizamt, das Reichsſchatzamt und 
das Reichsamt für die Verwaltung der NReichseifenbahnen. Zwei andere höchſte R. von 
gleicher Rechtsſtellung haben fich direkt aus Preußifchen Minifterien herausgeſtaltet: das 
Auswärtige Amt und die Admiralität. Die Mehrzahl diejer Aemter wird von Staats— 
jefretäten oder Unterjtaatäfetretären, die Admiralität von einem Chef der Admiralität, 
die Verwaltung der NReichseifenbahnen von dem Preußifchen Minifter der öffentlichen 
Arbeiten, als Vertretern des Reichskanzlers in den Grenzen ihres Amtes, geleitet. 
Die Bertretung im Gebiete der Verwaltung erjtredt fich nicht auf die Funktionen 
des Reichskanzlers, in welchen die Verantwortlichkeit defielben für die Anordnungen 
und Verfügungen des Kaiſers hewortritt. Nach diefer Richtung hat Fortentwidelung 
der RDerf. die Zuläffigkeit einer widerruflichen generellen oder jpeziellen Vertretung 
des Reichskanzlers eröffnet. Eine eigenthümliche Rechtsjtellung nehmen die zur 
Aufficht und Leitung der Reichsbank bejtimmten Organe des Reichs, das Banf- 
furatorium und das Banfdireftorium, ein, weil es fich bei’ der Bank nicht um eine 
behördliche Verwaltung mit obrigkeitlichem Kurator, jondern um ein jelbjtändiges 
Inſtitut handelt, in welchem das Neich durch feine Betheiligung feine Intereſſen zu 
wahren bat. — Das Reichögericht, die Reichäfonfulargerichte und die Reichadisziplinar- 


344 Reihsanwaltidaft. 


gerichte, ebenjo die Marinegerichte üben die ihmen zugewieſene richterliche Thätigkeit, 
dem Weſen des Nichteramts entiprechend, unabhängig von der Leitung des Reichs 
fanzlers. Nach vderjchiedenen Richtungen bat fich auch eine Reichsverwaltungsjuris 
diftion entwidelt: hierher gehört insbejondere die Ihätigkeit des Patentamts, des 
Bundesamts für das Heimathweien, der Behörde für die Unterfuhung von Ser 
unfällen und der nach dem Gejeße, betreffend die gemeingefährlichen Beitrebungen der 
Sozialdemokratie, bejtehenden Kommiffion. Das verjtärkte NReichseifenbahnamt, dem 
eine analoge Thätigkeit zugedacht war, befteht nur auf dem Papier. Eine follegialiiche 
Verfaſſung und Unabhängigkeit vom Reichskanzler iſt auch gewifjen Kontrolorganen, 
dem Rechnungshofe des Deutichen Reichs, der Reichsichuldentommiffion und der Ver: 
waltung des Reichsinvalidenfonds, eingeräumt. Auch die Neichsjchuldenverwaltung 
jteht nur in gewiffen Beziehungen unter der Leitung des Reichskanzlers, für eine Reihe 
von Gejchäften ift die Hauptverwaltung der Staatsſchulden unbedingt verantwortlid. 

Die nähere Gliederung der R. in den der Selbitverwaltung des Reichs unter: 
jtellten Angelegenheiten entzieht fich an diefem Orte der Daritellung. 

Auch die Nemter der Landesverwaltung von Eljaß-Lothringen find als R. zu 
bezeichnen, da Eljaß-Lothringen NReichsland ift. Die durch die Gefege dem Reiche 
fanzler in Glaß-Lothringifchen Angelegenheiten eingeräumte Stellung mit ihren Ob» 
Viegenheiten iſt ſeit 1879 auf den Efaiferlichen Statthalter übertragen. Vgl. ind 
bejondere Laband, Das Staatörecht des Deutichen Reihe, Bd. I. ©. 291 ff.; 
j. auch d. Art. Reichsbeamte. Eccius. 

NReihsanwaltichaft. (Vgl. d. Art. Staatsanwaltſchaft.) „Das Amt der 
Staatsanwaltichaft wird ausgeübt: 1) bei dem Neichsgericht durch einen Oberreich: 
anwalt und durch einen oder mehrere NReichdanwälte” ... (GVG. $ 143). Die 
jenigen VBorichriften, welche das Geſetz bezüglich der Staatsanwaltjchaft getroffen hat, 
beziehen fich jomit im Allgemeinen auch auf die R. Doch find folgende, die R. 
ipeziell betreffenden Beitimmungen hervorzuheben: 

1) Der Oberreichdanwalt und die Reichdanwälte werden auf Vorſchlag des 
Bundesrath3 vom Kaiſer ernannt (GBG. $ 150 Abi. 1). Wer in Gemäßheit des 
GBG. 8 149 Abf. 2 zum Staatsanwalt bei den Oberlandesgerichten und den Land— 
gerichten ernannt werden fann, d. h. wer die Qualififation zu einem Richteramte 
bat, ift auch befähigt zum Oberreichsanwalt oder Reichsanwalt ernannt zu werden. 

2) Während das GBG. es der Landesgejeggebung überlafjen hat, darüber zu 
befinden, ob die Staatsanwaltichaft ein ftändiges Amt oder ob dafjelbe ein von 
richterlichen Beamten auf Grund eines widerruflichen Auftrages ausgeübtes Amt jein 
jolle (3. B. Württemberg, Gef. über die Gerichtsverfaffung Art. 27; Braun: 
ihweig, Ge. vom 17. Yan. 1870; Oldenburg, Gef. über die Gerichtsverfaffung 
Art. 32), ift für die R. beitimmt worden, daß diejelbe ein jtändiges Amt ift. 

3) Da in denjenigen Staaten, in denen dad Amt eines Staatsanwalts au 
Grund eines widerruflichen Auftrages von richterlichen Beamten ausgeübt wird, der 
mit den Funktionen der Staatsanwaltſchaft Betraute nicht aufhört Richter zu fein, 
jo veriteht es Jich von ſelbſt, daß nur in denjenigen Staaten die Staatsanwälte 
mit Wartegeld zur Dispofition geftellt werden fönnen, in denen (wie in Preußen) 
das Amt des Staatsanwaltes ein jtändiges Amt if. Das GVBG. hat fich für die 
R. dem Preußifchen Syſtem auch darin angejchloffen, daR es $ 150 in Bezug auf 
den DOberreichsanwalt und die Reichsanwälte beitimmt, daß diejelben durch Eaiferliche 
Verfügung jederzeit mit Gewährung des gejeßlichen Wartegeldes einjtweilig in den 
Ruheſtand verjegt werden können. 

4) Für die Mitglieder der R. ſteht das Recht der Aufficht und Leitung dem 
Reichsfanzler zu. Daß auch dem Dberreichsanwalt das Recht der Aufficht und 
Leitung in Bezug auf die NReichsanwälte zuftehe, jagt dad GBG. nicht. Es dürfte 
fich dies aber aus dem Zufammenhalt der SS 148 Nr. 3 und 145 und der analogen 
Anwendung derjelben auf die VBerhältniffe der R. ergeben. Dem Reichsgericht gegen: 





Reichsbanl. 345 


über ſind die dem Oberreichsanwalt beigeordneten Reichsanwälte die kraft ihres 
Amtes legitimirten Vertreter des erſteren. In denjenigen Fällen jedoch, wo das 
Geſetz ausdrücklich die Mitwirkung des Oberreichsanwaltes vorgeſchrieben hat (GVG. 
Z 128, 129, 131; vgl. den Art. Plenum), wird die Vertretung des Oberreichs— 
anwaltes durch einen Reichsanwalt nur auf Grund eines jpeziellen Mandates für 
zuläſſig zu erachten fein. Das Gefe jagt auch diefes nicht. Aber eine Ergänzung 
» des Geſetzes wird in der Praris nicht entbehrt werden können. Wo es dem Gejeh 
gleichgültig ift, ob der Oberreichdanwalt oder einer der ihm beigeordneten Reichs: 
anwälte vor dem Reichsgerichte auftritt, da bedient fich daflelbe des allgemeineren 
Ausdrudes: „die Staatsanwaltichait“ (vgl. StrafPD. 88 391, 394) oder auch 
„Staatsanwaltjchaft bei dem Reichsgerichte“ (vgl. $ 92 der Rechtanwaltsordn. vom 
1. Juli 1878). 

5) Die Zuftändigfeit der R. beftimmt fich theils durch die Zuftändigfeit des 
Reichögerichts , theils dadurch, ob die vom Neichögerichte zu treffende Entjcheidung 
nur getroffen werden darf, wenn ein Mitglied der R. vorher gehört worden ift. 
In Betracht fommen: Straffachen in der Reviſionsinſtanz und in denjenigen Fällen, 
in denen das Neichögericht in erjter umd letter Inſtanz entfcheidet (vgl. d. Art. 
Reihsgericht). In bürgerlichen Rechtaftreitigkeiten wird eine Mitwirkung der 
Staatsanwaltjchait nur bei Ehefachen und Entmündigungsfachen gefordert; von 
diefen können aber die Entmündigungsjachen (vgl. EPO. 88 594, 507; GBG. 
$ 71) an das Reichögericht nicht gelangen, und jo wird fich die Mitwirkung der 
R. bei bürgerlichen Nechtäftreitigfeiten auf Ehejachen bejchränten. Bezüglich der— 
jenigen Strafjachen, in denen das Neichögericht in erjter und letzter Inſtanz ent= 
ſcheidet, iſt es vom Geſetz ausdrüdlich anerfannt, daß alle Beamte der Staats— 
anmwaltichaft den Anweifungen des Oberreichganmwaltes Folge zu leilten haben (GBG. 
5 147 Abf. 2), und daffelbe ergiebt fi) aus dem GVG. ($ 153) für alle Beamten 
des Polizeis und Sicherheitsdienjtes, inſoweit diejelben in Gemäßheit landesgejeh- 
licher Beitimmungen ala Hülfsbeamte der Staatsanwaltichait anzujehen find. Bal. 
a auch die Art. Plenum und Ehrengerichte. 

Quellen find im Zerte angegeben. 

Lit.: ©. hinter dem Art. —— ——— John. 

Reichsbank. Zugleich als allgemeiner Artikel über Bankrecht, beſonders 
Recht der Zettelbanten und der Notenausgabe. 

I. Begriff und Wejen der Bank. 1) Banken im modernen Sinne des 
Wortes find freditvermittelnde Geichäftsanftalten, genauer Anjtalten, welche von 
den einen Perfonen in den jog. Pasfivgejchäften Kredit aufnehmen, um denjelben an 
andere Perfonen in den fog. Aktivgejchäften wieder zu gewähren: fie treten, im 
Unterichied von anderen Mittelöperfonen (Maflern, Agenten), jelbjt in das Rechts— 
verhältniß des Schuldners zum eriten Sreditgeber und des Gläubigers zum end— 
gültigen Kreditnehmer ein. Die wichtigiten Paſſivegeſchäfte folcher neueren Banken 
find das ſog. Depofitengejhäft, d. h. im banktechnifchen Sinne die An— 
nahme von Geld „zur Benußung“ (nicht nur „zur Aufbewahrung“), deſſen 
Rüdzahlung jofort oder nach kurzen Kündigungsfrijten verlangt werden kann (jtet3- 
und furziällige Depofiten); femer das Geichäft der Banfnotenausgabe, 
d. b. der Ausgabe don Anweifungen der Bank auf ſich ſelbſt, welche zahlbar 
an den Ueberbringer auf Sicht find, gewohnheitsmäßig über runde Geldbeträge 
lauten und im Verkehr an Geldesftatt ala Umlaufsmittel dienen; endlich das 
Geichäft der Aufnahme von Geld auf längere Termine, wofür dann etwa 
beitimmte langterminlihe Schuldfcheine (in Form von Piandbriefen u. ſ. mw.) 
ausgeftellt werden. Außer dieſen jpezifiih banktartigen Paſſivgeſchäften kommen 
bei den Banken noch die gewöhnlichen paffiven Kreditgeſchäfte des Verkehrs vor, 
3. B. die Ausjtellung von Anweifungen, von Wechjeln, die Aumahme von Pfand» 
ichulden, bejonders von hypothefarifchen, die Weiterbegebung von disfontirten Wechjeln 


346 Reichsbank. 


(ſog. Rediskontgeſchäft), auch das paſſive Kontokorrentgeſchäft mit Geſchäftskunden, 
in welchem eine. Bank Schuldner iſt. Die wichtigſten Aktivgeſchäfte der Bank find 
die Wechjeldisfontirung (Ankauf von Wechjeln), die Beleihung von Fauſt— 
pfändern (das fog. Lombardgeihäit), die Beleihung von Jmmobilien 
(Hypothekengeſchäft), das aktive Kontoforrentgeichäft, in welchem die Bant 
Darlehen giebt, das Effektengeſchäft, d. h. der Ankauf von börjengängigen 
MWerthpapieren zur zeitweiligen Anlage von Kapitalien. Dazu kommen auch einzelne 
andere der gewöhnlichen Aktivgeſchäfte des Kreditverfehrs, Darlehnägewährung in 
den üblichen Rechtsformen u. ſ. w. Dieje Paſſiv- und Aktivgeichäfte betreibt eine 
Bank auf Grund eines eigenen Stammfapitals, das im Mllgemeinen mehr 
Garantiefonds für die Verbindlichkeiten der Bank aus den Paifivgeichäften, als 
eigentliches Geichäftsfapital ift. Zum Stammkapital tritt der Reſervefonds, 
welcher drei Funktionen haben kann: das Stammkapital allmählich zu erhöhen und 
dann wie diejes zu fungiren, WVerlufte im Bankbetrieb unmittelbar zu deden, die ver- 
jchiedenen Yahresgewinne auszugleichen, bzw. zu ergänzen. Die ökonomiſch-techniſche 
Hauptaufgabe der Banken, als jelbitichuldende Areditvermittler, iſt die richtige Kom: 
bination von Paffiv- und Aktivgeichäften und der verjchiedenen Gefchäfte jeder diejer 
beiden Kategorien untereinander. Hier ergiebt fich dann als erjtes Geſetz des Bank— 
betriebes: die Beichaffenheit der Aktivgeſchäfte muß fich nach derjenigen der Paſſiv— 
geichäfte richten. Letztere find aljo das Maßgebende. Der Ruin von Banken ift regel: 
mäßig auf Berftöße gegen dieſes Geſetz zurüdzuführen. Die Rüdficht auf die Natur 
der Bankgeſchäfte muß auch den Rüdfichten auf die Mreditbedürfniffe der Gejchäftäwelt 
vorangehen. Diefe Bedürfniffe dürfen für die Errichtung und den Betrieb der 
Banken nur foweit in Betracht fommen, ala es die Technik des Bankweſens zuläßt. 

2) Dieje modernen Banken find mwejentlich etwas anderes ala die mit demielben 
Nanıen bezeichneten Einrichtungen der früheren Zeit: der Münzmwechjel, der An= und 
Verkauf von edlen Metallen, die reine Depofitene oder Hinterlege- und Girobant, 
bei welcher von Dritten Geldfummen, die im ganzen Betrage bei der Bank Liegen 
bleiben mußten (Depofiten „zur Aufbewahrung“), eingelegt und die Zahlungen 
zwiſchen den Deponenten durch Abr und Zujchreiben auf den Kontis bewerkitelligt 
wurden. Dieſe Banken (ältere Italienische, bei. Venetianifche, Bank von Amfterdam 
1609, von Kamburg 1619, von Nürnberg 1621 u. a. m.) waren „Geld banten” 
und dienten zur ficheren Aufbewahrung von Geld, zur Verhütung von Münz— 
verichlechterungen, zur gejchilderten Zahlungsvermittelung, alfo dem Geldverkehr, 
während die modernen Banken Kreditbanten zur Vermittelung des Kredit: 
verkehrs find. Jene älteren Geldbankgeichäfte fommen aber gegenwärtig in Ver 
bindung mit folchen neueren Banken vor, zum Theil mobdifizirt, 3. B. das Giro: 
geichäft auf Grund von „Depofiten zur Benußung“, nicht wie ehedem von „Depofiten 
zur Aufbewahrung“. In einem mit dem älteren wie dem neueren Bankweſen ver 
wandten Sinne wird übrigens der Ausdrud „Bank“ auch noch für BVerficherunge- 
und ähnliche Anftalten wol gebraucht. Im Folgenden haben wir e8 nur mit den 
erit beiprochenen modernen Kreditbanken zu thun. 

II. Banfreht im Allgemeinen. Gntwidelung und Normen des Banl- 
rechts, ſowol desjenigen, welches in's Privatrecht, ala welches in’s öffentliche Recht 
gehört, laſſen fich nicht richtig verftehen und behandeln, ohne Anknüpfung an Begriff 
und Welen der modernen Banken. 

1) Für die Rechtsordnung famen und kommen die Banken zunächft nach der 
Rechtsform in Betracht, in welcher fie jelbitändige Unternehmungen, 
bzw. Geſchäfte find. Hier können einzelne Aktiv» und Baffivgeichäite ala Theil 
allgemeiner Handelsgeichäfte des Kaufmanns vorkommen, oder auch als eigene: 
jelbjtändiges „Bankgeſchäft“ zu einer befonderen Art von (Handels-)Unternehmungen 
führen. Dann jpriht man wol — und ganz paſſend — im engiten oder eigent: 
lihen Sinne von „Privatbantgeihäit“, „Brivatbant“, „Bantier: 


Reihsbant, 347 


geſchäft“ und hat es, wie font, mit Unternehmungen zu thin, deren leitendes 
Rechts und Wirthſchaftsſubjekt eine einzelne phyſiſche Perfon ift oder auch mit Ge- 
ihäften in der Rechtsform der offenen Sandelögejellichait und der gewöhnlichen 
itillen oder Kommanditgejellihaft. Für die Errichtung und den Betrieb folcher 
Bankgeſchäfte gelten in privatrechtlicher Hinficht die gewöhnlichen Sahungen des 
Privatrechts, bzw. des Handelärechts, in verwaltungsrechtlicher Hinficht die Be— 
fimmungen des Gewerberechts (Gewerbeordnung). Doch finden fich wol auch für jolche 
„Privatbanfen“ einzelne Abweichungen vom Gemeinen Recht, bejonders gewifle Be— 
ihränfungen in Betreff einzelner Geichäfte, 3. B. Verbot der Banfnotenausgabe, ala 
Folge der Monopole oder Privilegien anderer („Öffentlicher”) Banken oder eines 
allgemeinen Notenregals. Uebrigens wird in der Terminologie de pofitiven Rechts 
einzelner Länder der Ausdruck „Privatbank“ mitunter in einem befonderen technifchen 
Sinne genommen, fo in England für Bantgefchäfte mit höchſtens ſechs Partnern, in 
Preußen hießen die neben der Preußifchen Bank jeit dem Jahre 1848 konzeſſionirten 
Heinen Notenbanten (meijt Aktiengejellichaiten, auch Kommunalanftalten, ſ. u.) in 
den Provinzen „Privatbanfen“. 

2) Wichtiger in verwaltungsrechtlicher Beziehung find diejenigen meiſtens er- 
beblich größeren Banken, welche theils in der Rechtsform der Aktiengeſellſchaft 
(oder einer verwandten Form), theild als Korporationd= und dgl. Anftalten 
errichtet worden find. Bei ihnen jchien regelmäßig ein größeres öffentliches In— 
terefje mitzufpielen, defjentwegen fie entweder in der Abficht einer gewiffen Be— 
Ihränfung unter eine unmittelbarere Kontrole der Gejeßgebung und der Verwaltung 
des Staates geitellt oder auch in der Abficht einer bejonderen Beförderung mit 
Privilegien u. dgl. m. ausgeſtattet wurden. Man kann fie jenen Privatbanten 
gegenüber insgeſammt ala „öffenthiche“ Banken zujammentafien. 

a) Unter diefen Banken haben in der geichichtlichen Entwidelung diejenigen, welche 
Banknoten auögeben („Zettelbanfen“, Notenbanfen, Emiffionsbanfen), 
in unjeren modernen Staaten regelmäßig in bevorzugten Maße eine befondere In— 
tervention der Gejeßgebung und Verwaltung erfahren und find unter ein bejonderes 
Recht geftellt worden (f. u. unter III.). 

b) Andere Banken, welche fich mit der Notenausgabe nicht befaffen, find 
davon verhältnigmäßig freier geblieben. Für fie famen meift nur die allgemeinen 
Beitimmungen des Rechts der Erwerbung der juriftiichen Perjönlichkeit, des Aktien- 
gejellichaftsrechts, auch etwa die Vorfchriften über die Ausstellung von Inhabers 
dapieren in Betracht, während der bejondere Zwed des Unternehmens, eben der 
Betrieb von Bankgejchäften, gar nicht oder nur ausnahmaweife und in einzelnen 
Punkten zu aparten Rechtönormen für diefe Banken führte. Wo daher 3. B. die 
Errichtung einer Aktiengejellichait (wie bis 1870 in Deutichland) nach dem Rechts» 
prinzip des Konzeffionszwangs an die Staatsgenehmigung gebunden war, unterlagen 
der letzteren folgerichtig auch Bankaktiengeſellſchaften. Diejelben waren aber im 
Uebrigen rechtlich nicht bejonders geftellt, nur daß etwa wieder jpezielle Arten von 
Banten, 3. B. Grundfreditbanten oder allgemeine Banken für einzelne Geſchäfts— 
zweige, 3. B. für die Annahme verzinslicher Depofiten, für die Ausgabe von Pfand» 
briefen, einer ausdrüdlichen Konzeſſion ſpeziell hierfür bedurften. Gewifle Bes 
ichränfungen in Betreff einzelner Geſchäfte waren auch für jolche Bankgeſellſchaften 
mitunter die Rechtöfolge des Privileg anderer, bejonders der Zettelbanten. 

3) Die Richtung auf Gewerbefreiheit, auf Bejeitigung des Konzeffionszwangs, 
auf Erleichterung der Errichtung von Aftiengejellichaften u. j. w. hat in den meijten 
neueren Kulturſtaaten das Geſellſchafts-, bejonders das Aktiengeſellſchaftsbankweſen 

fich mächtig entwideln laffen. Die oben genannten Aftivgeichäfte unterliegen dabei, 
mit Ausnahme der Banken, welche gleichzeitig Banknoten ausgeben, gewöhnlich feiner 
beionderen gejeglichen Regelung oder Beichränfung mehr, was ihre Wahl, ihre Kom: 
bination unter einander und mit Paſſivgeſchäften (außer der Notenausgabe) und ihre 


348 Neihsbant. 


Ausführung im Edizelnen anlangt. Bon den erwähnten Pajfivgeichäften, ebenialls 
mit Ausnahme der Notenausgabe, gilt im Allgemeinen dafjelbe, nur daß etwa auch die 
Piandbriefausftellung noch einer bejonderen Genehmigung bedarf und einer Kontrole 
des Staats unterfteht (mitunter nach dem Wunjch der Bank ſelbſt, die dadurch den 
Kredit ihrer Piandbriefe erhöhen will). Da die meiften dieſer Banken neuerdings 
in der Form der Altiengefellichaft, hier und da auch der Kommanditgeſellſchaft 
auf Aktien, ferner bei uns öfters auch in der Form der neueren (Erwerbs: und 
Wirthſchafts-) Genoſſenſchaft errichtet werden, jo ift jeßt in Betreff des Deutichen 
Nechts auf die bezüglichen Abjchnitte des HGB. (Buch 2 Tit. 1 Art. 85—149, 
Tit. 2 Art. 173— 206), auf die Novelle dazu vom 11. Juni 1870 (Geſetz des 
Norddeutichen Bundes, jet ala RGeſ. geltend) und auf dad Norddeutiche, nunmehr 
Deutiche (in Bayern nicht eingeführte) Genofjenfchaftägejeg vom 4. Juli 1868, ferner 
auf die bezüglichen Spezialartifel dieſes Wertes über Attiengejellichaiten, 
Genoſſenſchaften u. f. w. zu verweilen. Nach der RVerf. Art. 4 Nr. 4 unter 
liegen jet „der Beauflichtigung feitens des Reiches und der Gejeßgebung defjelben ... 
die allgemeinen Beftimmungen über das Bankweſen“. Demnad kann 
das Reich auch für die Banken, welche nicht Noten ausgeben, bezügliche allgemeine 
Normen treffen. Für die Grundfreditbanfen und deren Prandbriefemiffion, bzw. für 
die Fauſtpfandbeſtellung der erworbenen hypothekariſchen Forderungen zu Gunjten 
der Piandbriefe, ift eine reichägejegliche Regelung auch jchon in Angriff genommen. 

Auf einige Verhältniffe des älteren allgemeinen Bankrechts in Großbritannien 
und in Preußen wird unten (Nr. III.) im Zuſammenhang mit dem Recht der Noten: 
ausgabe noch eingegangen werden. 

4) Ob, die Frage aus dem Gefichtöpunfte de lege ferenda betrachtet, die 
Entwidelung des allgemeinen Bankrechts zum Nechte der „Bantkfreiheit“, wie 
man es wol bezeichnen fann, unbedingt gebilligt werden fann und muß, darüber 
werden die Nuffaffungen auseinandergehen, je nachdem man überhaupt den Stand: 
punft der Liberalsindividualiftiichen wirthichaftlichen Rechtsordnung, jpeziell der Ge— 
werbefreiheit und der „Aktiengejellichaftsfreiheit“ (Tortiall der Staatsgenehmigung 
und der Staatsfontrole über den Betrieb, Syſtem der Normativbedingungen), vertritt 
oder mehr oder weniger davon abweicht und je nachdem man dann noch bejonders 
die Wirkungen folcher Bankfreiheit beurtheilt. 

a) Im Ganzen möchte zuzugeben fein, daß einer der Hauptgründe der älteren 
beſchränkenden Bankpolitif, nämlich die Furcht vor einem öfonomifh-tehniid 
ichlechten und ſchlecht betriebenen Bankweſen, in der Regel nicht mehr ala zutreffend 
gelten kann. Theils liegen hier überhaupt feine bejonderen fpezifiichen Gefahren im 
Bankıwejen, wie denn 3. B. der Bankbetrieb fich für Aktiengejellichaften techniich ganz 
gut eignet (mit etwaiger Ausnahme des jpefulativen Bankgeſchäfts), theils Eönnen 
bier die nächjten Intereffenten, Aktionäre und Gläubiger, wol für fich jelbit jorgen. 
Eine Ausnahme in leßterer Hinficht bedingt etwa das Pfandbriefgeſchäft der 
Hypothekenbanken, wo eben deshalb noch Staatsfontrole am Platze jcheint, 
zumal es fich hier um jehr langfriſtige Kreditgeichäfte zu handeln pflegt; ferner das 
Sparfafjenwejen — banfktechnijch eine Art des Depoſitenbankweſens — , das 
jeines Kumdenkreifes im Paſſivgeſchäft (Geldeinlagen) wegen mit Recht bejonderen 
Vorſchriften, in Betreff der Garantien, der Kapitalanlage u. ſ. w. zu unterliegen pflegt. 

b) Etwas Anderes iſt die allgemein=wirthichaftliche und die ſozial— 
politijche Seite der Frage, von denen die leßtere gar nicht, die erjtere faum bei 
der früheren Bankpolitik beachtet wurde. 

«) Das jpekulative Gründungs-, Eifekten-Emiſſionsgeſchäft 
und dad Börſenſpiel gewifler Banken, der jog. Credits mobiliers („Kredit— 
anjtalten” im engeren Sinne), übt einen verhängnißvollen Einfluß auf Gang, 
Ausdehnung und Uebertreibung der wirtbichaftlichen Spekulation und folgeweije aui 
die großen Kriſen aus, je daß hier eine Beichränfung, befonders für den Betrieb 


Reichsbank. 349 


ſolcher Geſchäfte in Aktiengejellichaftsform, ſehr wohl zu erwägen ſein kann, kaum 
weniger als es beim Zettelbankweſen geſchieht. 

d) Die an und für ſich techniſch höchſt großartige Entwickelung des Depoſiten— 
geſchäfts, in Verbindung mit Kontokorrentgeſchäft, Checkweſen, Ausgleichungshaus 
(Clearing-house), beſonders in England, Schottland und einzelnen Nordamerikaniſchen 
Staaten New- York, Mafjachufetts) führt zu einer immer größeren Erjparung 
anBaarrejerven in den Banken — eben Mittel und Zwed jener Entwidelung. — 
Daraus entfteht aber eine außerordentlihe Künftlichfeit des ganzen 
Bank», Kredit» und Geldſyſtems eines Landes, die in fritifchen Zeiten ihre 
allgemeinen Gefahren — Wanken, Zufammenbruch des Syſtems — mit fich führt. 
Das legt die Erwägung nahe, Hier doch im Wege der Gefeßgebung, 3. B. durch 
Leitimmungen über dag Minimum der Baarreferve für die ſtets- und furztälligen 
Verbindlichkeiten, Vorkehrungen zu treffen. 

+) Endlich find die modernen großen Banken die Haupthebel der Ent» 
widelung der Macht des Privatfapitals, der neuen Geld- und Börjen- 
ariftofratie und bieten in diefer Hinficht gerade auch in der Form der Aftiengejell- 
ſchaften große fozialpolitifche Bedenken. Das würde zur Erwägung führen, ob man 
nicht auch Hier, ähnlich wie bei Verkehrsanftalten, im VBerficherungswejen u. ſ. w., 
das große Öffentliche Bankweſen mehr und mehr aus der privatwirthichaftlichen in 
die gemeinwirthichaftliche und Öffentlich-rehtliche Form von Anftalten 
des Staats und der Selbitverwaltungsförper, der Provinzen, Kreife, Ge— 
meinden, hinüberführen fünnte und ſollte. Technifch und ökonomisch find diefe Körper 
durchaus geeignet, im Allgemeinen ebenjo, wie die Aktiengejellichaiten, Bankgeſchäfte 
ordentlich zu führen. Das Sparkaſſenweſen iſt jehr allgemein ſchon Sache folcher 
Körper, einzelne andere Banken bejtehen bei uns und anderswo auch jchon ale 
Kommunal:, Bezirks-, Staatsanftalten. Namentlich möchte ein umfafjendes Grund- 
freditbantwejen in Form von Staats-, Provinziale und Kommunalanftalten wol viel 
befler fungiren, als das bejtehende der Aktiengejellichaften. Ein prinzipieller Ausschluß 
der leßteren von diefem Gebiete durch die Rechtsordnung wäre dann zu erwägen. 

III. Bettelbanfreht und Bantnotenausgabe insbejondere. 

1) Eharafter im Ganzen. Biel allgemeiner und tiefergreifend war von 
ieher jajt überall die Intervention der Staatögefehgebung auf diejem bejonderen Ge— 
biete. Und während diefelbe beim jonjtigen Bankweſen fich allmählich verringert hat, 
ift gerade hier eine entgegengejegte Tendenz ziemlich allgemein zur Entwidelung ge- 
langt. Mehriach ift ein förmliches Notenregal fonftituirt oder auch ohne ein 
jolches die Banknotenausgabe allgemein an die Staatsgenehmigung ge— 
fnüpft und dabei wenigitens in Guropa gewöhnlich mehr oder weniger (Groß: 
britannien, Deutichland, Italien u. a.), ſelbſt völlig bei einer einzigen Anjtalt 
centralifirt worden („Monopolbant“, Frankreich, Oeſterreich- Ungarn, Belgien, 
Dolland u. a. m.). Auch wo aber das Recht zur Notenausgabe einer Reihe von 
Banfen ertheilt wurde, alfo im Prinzip Dezentralifation blieb (Nordamerika), traten 
in Betreff der Errichtung und des Betriebes dieſer Zettelbanken die eingreifenditen 
Beichränfungen durch die Gefeßgebung ein. Gerade das Recht der Notenausgabe 
wurde ferner vielfach einer Bank zu dem Zweck verliehen (oder es wurde auch eine 
Staatsanftalt damit betraut), um mittels eines folchen Privilegg, dem fich dann 
auch wol noch andere Vorrechte für jonitige Banfgeichäfte anjchloffen, eine Bank zu 
einer mächtigen Anjtalt für die Hebung des Kreditweſens und der ganzen Volks— 
wirtbichaft eines Landes zu machen: das Syſtem der „privilegirten Zettel» 
banken“ nach Gefichtspuntten der Wohlfahrtöpolizei oder Volkswirthſchaftspolitik, 
mit denen fich auch wol fisfalifche Intereffen verbanden. In neuerer Zeit find 
zwar dieje Gefichtspunfte zurücgetreten, aber andere tauchten auf und wirkten in 
derielben Richtung. Gerade die Notenausgabe jchien im Interefje des gefammten 
Verkehrs wie der Noteninhaber einer bejonderen legislativen und adminijtrativen 


350 Neihsbant. 


Regelung jeitens des Staates dringend zu bedürfen, um Mißbräuche mit ihr thun— 
lichſt zu verhüten (vermeintliche Gefahr der „Ueberemiffion“ oder Zuvielausgabe von 
Noten, angenommener Einfluß davon auf Spekulation und Preife, gefährliche Zu: 
jammenziehung des Notenumlaufs in Kriſen, Einftellung der Baarzahlungen oder 
jelbit völliger Zufammenbruch von Zettelbanken, Ruin der Noteninhaber, Zerrüttung 
des Geldweſens u. ſ. w.). Bejonders werden folche Gefahren (faum allgemein mit 
Necht) vom dezentralifirten Zettelbankweien, jchon wegen der Konkurrenz der einzelnen 
Banken untereinander, gefürchtet. Daher hier, ſelbſt unter den Vertretern der liberal: 
individualijtiichen Wirthichaftäpolitit, das Streben nach inhibirenden und 
reitringirenden Bankgeſetzen, womöglich zugleich nach größerer oder völliger 
Gentralijation der Notenausgabe bei einer einzigen großen Banf, welche dann 
als Aktiengeſellſchaft unter unmittelbarer Staatsfontrole ſtehen jollte oder 
ſelbſt als Staatsanftalt einzurichten wäre. An fie dann aber einerjeits „im 
Verkehrsintereffe” und „zur Regelung des Geldumlaufs im Lande“, alſo wieder aus 
volfswirthichaftsepolitiichen Gründen Gewährung eines umfaſſenden Notenprivilegs, 
andererjeitd aus Nücdfichten auf die Sicherheit und Gejundheit des Geld» und 
Bankweſens wieder gewifle Beichränkungen auch folcher Gentralbanfen, in Betreff der 
Höhe, öfter nach der Dedung des Banfnotenumlaufs, der Größe der einzelnen No: 
tenjtüde, des Betriebes anderweiter Bankgeichäfte, der Größe des Stammkapitals und 
Reſervefonds u. ſ. w.; endlich Wahrnehmung der finanziellen Staatsinter: 
eſſen gegenüber diefen Banken durch Antheile am Gewinn, Steuern, beitändige 
Darlehen an den Staat als Entjchädigung für das Notenprivileg. Eine, wenn aud 
nur die Hauptpunkte hervorhebende Darlegung der Entwidelung des Zettelbankrechts 
in Großbritannien und Deutſchland möge etwas näher im Einzelnen zeigen, 
wie fich diefe Dinge geitaltet haben. 

2) Britifches Recht. a) England. Die berühmte, 1694 gegründete 
Bank von England war jchon nach ihrer erften Karte eine eigentliche Aktien 
gejellichaft mit Korporationsrecht, mit begrenzter Haftbarkeit ihrer Theilhaber für 
den eingejchoffenen Betrag. Ein ausſchließliches Privileg erhielt fie erit 1708 für 
die Notenausgabe und für den Betrieb gewiffer anderer Bankgeichäfte, aber nur ge 
genüber Bankgefellichaften von mehr ala jechs Partnern. Kleinere (fog. Privat: 
banfen, j. oben) durften jolche Gefchäfte betreiben und auch Noten ausgeben, was 
auch im Laufe des vorigen Jahrhunderts in bedeutendem Maße geichah. Exit 
im Sabre 1826 wurden in Gngland, aber zunächſt nur außerhalb Londons, 
größere Gejellichaitsbanfen, jog. joint-stock-companies, geftattet und zwar 
ohne bejondere Staatögenehmigung. Diejelben unterjtanden in rechtlicher Hinficht 
dem allgemeinen Gngliihen Gompanies-Recht, d. 5. insbefondere fie hatten 
das Prinzip der unbegrenzten Haftbarfeit zur Bafts, waren alfo nicht Aktienbanken 
in unferem technifchen Sinne. Sie durften alle Bankgeſchäfte betreiben, ein: 
Ihließlich der Notenausgabe, und bald, beionders in den dreißiger Jahren, 
entitanden zahlreiche jolche Zettelbanfen. Im Jahre 1833 wurden ſolche Joint: 
Stock-Banken auch in London jelbit, Hier jedoch ohne das Necht der Notenausgabe 
zugelafien. Die Noten der Bank von England wurden damals auch zum geſeß— 
lihen Zahlmittel (legal tender) für alle Zahlungen in England (nicht in 
Schottland und Irland), jo lange fie prompt eingelöft wurden, erklärt. Bis dahin 
bat im Uebrigen der Staat die Banfnotenausgabe der Hauptbanf, wie der Privat: 
und Joint-Stod-Banken nicht weiter geregelt, ala daß jchon Ende des vorigen Jahrh., 
dann von Neuem jeit 1826 verboten war, Noten unter 5 Pd. Sterling aus: 
zugeben. Während der Franzöſiſchen Kriegszeit von 1797 bis in die zwanziger 
Jahre, wo großentheild die Noten der Englischen Bank uneinlösbar waren und 
Zwangsturs hatten, galt diefe Beichränfung nicht. Vorſchriften über die Höhe des 
Notenumlaufs und die Dedung deijelben fehlten allgemein. 


Reichsbank. 351 


In den dreißiger Jahren entwickelte ſich dann der Notenumlauf, beſonders 
auch der Joint-Stock-Banken ſtark, weshalb man dieſen Banken (übertreibend) einen 
ſchlimmen Einfluß auf die damaligen Spekulationen und Kriſen zuſchrieb. Zugleich 
operirte die Engliſche Bank nicht geſchickt. Das Alles, neben gewiſſen, im Weſent— 
lichen unrichtigen Doftrinen über Geld, Banken und Noten (jog. Currency Theorie), 
lihrte im Jahre 1844 zu einer einfchneidenden neuen Gejeßgebung über die 
Englifchen, im Jahre 1845 auch über die Schottifchen und Iriſchen Zettelbanken 
durch Sir Robert Peel („PBeel’ihe Bankacte“). Die Bank von England 
wurde danach im zwei ganz getrennte Abtheilungen getheilt, da department 
of issue für die Notenausgabe, und das banking department für die anderen Bankgeſchäfte. 
Dem erfteren wurden al3 Aktiva die Schuld des Staats an die Bank (11015100 
Pf. St.) und ein weiterer Betrag don Fonds ıc., zujammen 14 Mill. Pi. St. 
überwiejen, für welchen Betrag die Bank metalliih ungededte Banknoten ausgeben 
darf. Jede weitere Note muß voll mit Metall gededt fein. Im Bankfdepartement 
teht das Depofitengeichäft, das regelmäßig den größten Theil feines Baarfonds an 
das andere Departement übergiebt und dafür Noten empfängt, ferner figurirt hier auf 
der PBaifivjeite das Aktienkapital (14553000 Pf. St.) und der Nejervefonds der 
Bank (über drei Mill. Pi. St.), auf der Aktivjeite jtehen die Ausleihungen und der, 
wie gejagt, jaft ganz in Noten (neben einer Eleinen Gejchäftsfaffe) gehaltene Baar- 
fonds diejer (Depofiten-) Abtheilung. Auf diefe — wenig zwedmäßige, in Kriſen 
verhängnißvolle — Weife ift der metalliich ungededte Notenumlauf der Englifchen 
Bank gejeglich feſtbeſchränkt, jegt jchon jeit länger auf 15 Mill. Pi. St. 
(og. „direkte Kontingentirung“), der wirkliche Notenumlauf (abgejehen von 
den Noten in der Bankabtheilung) iſt neuerdings meijt ca. 25—28 Mill. Pi. St. 
Beitere beſchränkende Vorfchriften über den Notenumlauf, feine abjolute Höhe, Deckung 
u. j. w. bejtehen für die Englische Bank nicht, nur dürfen die Noten auch jet nicht 
auf weniger als 5 Pf. St. lauten. Den übrigen zahlreichen Privat: und Joint» 
Stod-Zettelbanten Englands blieb zwar das Recht der Notenauögabe, doch wurde 
dafjelbe für eine jede Banf auf den Betrag der Notenemifjion von 1843—1844 
beichräntt, neue Zettelbanken durften nicht errichtet werden, die alten verloren in 
gewifien Fällen ihr Notenrecht, das dann theilweife der Bank von England zuwächſt, 
ihre Gejammtzahl und die Summe des Notenumlaufs der fleinen Banken hat fich 
vermindert, indeſſen gab es 1873 noch immer 175 (wovon 119 Privat-, 56 Joint- 
Stod-) Banken mit 5 Mill. Pi. St. Notenumlauf. Weitere Vorſchriften über die 
Deckung der Noten u. j. w. fehlen im Engliſchen Bankrecht auch für diefe Banten. 

b) In Schottland war die Entwickelung etwas anders als in England. 
Die dort im Jahre 1695 gegründete Bauk von Schottland (mit Korporationsrecht, 
bejchränfter Haftbarkeit) erhielt gleih Anfangs ein ausjchließliches Bankprivileg, 
das aber 1726 aus politifchen Gründen nicht erneuert wurde. So fonnte jchon 
1727 eine Konfurrenzbant, ebenfalls mit Korporationsrecht, die Royal-Bank von 
Schottland entjtehen, der jpäter noch eine dritte Bank mit Korporationsrecht zur 
Seite trat. Neben diefen bildeten jich aber von der Mitte des 18. Jahrhunderts 
an allmählich eine größere Anzahl Joint-Stock-Banken, alle mit unbegrenzter Haft- 
barkeit. Beide Kategorien von Banken betrieben dad umfaſſendſte Bankgeſchäft, 
jpäter bejonders Depofitengeichäit, aber alle gaben auch Noten, bis auf 1 Pi. St.- 
Noten herab, aus, die fich vollitändig einbürgerten. Eine gejegliche Beſchränkung 
beitand nicht weiter. So bietet Schottland ein Beiipiel großartigen, joliden, ganz 
decentralifirten, freien Bank» und Zettelbanfweiend. Im Jahre 1845 wurde jedoch 
ebenso wie in Irland die Peel'ſche Bankacte, etwas modifizirt, auch in Schottland 
eingeführt, namentlich der Notenumlauf jeder Bank auf den Durchichnitt der Gir- 
fulation im voraufgehenden Jahre beichräntt.e Doch dürfen die Banken "darüber 
hinaus Noten ausgeben, aber nur gegen volle Metalldefung, von welcher Befugniß 
fie auch reichlich Gebrauch machen. Neue Zettelbanfen würden auch hier eines Ge— 


352 Reichsbant. 


ſetzes bedürfen. Vorſchriften über die ſonſtige Notendedung und die anderen Bank— 
geichäfte fehlen. Freiwillig haben die Schottiichen Banken, welche mit einem Neb 
von Filialen das ganze Land eng umipannen, ein Syftem des regelmäßigen Notenaus— 
taufches eingerichtet, welches als ein Kontrol- und Beichränfungsmittel des Noten 
umlaufs wirft und den Noten die allgemeine Brauchbarfeit im Verkehr, gleich den 
Noten einer Gentralbant, verbürgt. Die Zahl diefer Schottifchen Banken war 1873 
11 mit 5,6 Mill. Pf. St. Notenumlauf, über 700 Filialen und 60—70 Will. 
Pi. St. Depofitenschulden. Nehnlichkeit mit diefem Schottifchen Zettelbankweſen zeigt 
dasjenige einiger Nordamerikanischer Staaten, befonders von Mafjachujetts, auch das 
Schweizeriiche. 

c) Während jo im Britifchen Zettelbankweſen ein rejtringirendes bantpoli- 
tiiches Prinzip im Bankrecht zur Geltung fam, Hat fich in einem entjcheidenden 
Punkte das Bankrecht für die übrigen, nicht Noten ausgebenden Banken freier 
geitaltet. Allmählich, befonders ſeit 1837, hat nämlich das Prinzip der begrenzten 
Haftbarfeit im Gejellichaftsrecht für die jog. Joint-Stod-Gompanie® Eingang gefunden, 
jo daß lettere dadurch zu Aftiengejellfchaften im fontinentalen Sinne wurden. Für 
einzelne Arten von Gejellichaiten, darunter auch für Bankgeſellſchaften, blieb aber 
wegen des beionderen Zweds der Unternehmung diejes Prinzip noch auägeichlofien. 
Man hielt dafür, daß durch den Grundjaß der unbeſchränkten Gaftbarfeit ein Map 
der geichäftlichen Solidität gefichert werde, wie auf faum eine andere Weiſe und 
glaubte namentlich bei Banken an diefem Grundſatz fefthalten zu follen. Indeſſen 
ging die Richtung der Zeit doch auch hier auf die Umgeftaltung des Rechts und 
manche neuere Griahrungen, beſonders in der Kriſis von 1857, wo auch eine große 
Schottiiche Bank zuſammenbrach und eine andere ftodte, zeigte, daß jener Grundſatz 
doch nicht ficher die gepriefenen Folgen habe, andererfeit3 aber für die Aktionäre 
verhängnißvoll wurde. So haben denn Geſetze von 1858 und 1862 auch für 
Banken die begrenzte Haftbarfeit zugelaffen. Zahlreiche Banken find jeitdem nad 
diejem Rechtsprinzip errichtet, befonders auch ſog. Finanztompagnien (jpefulative, 
Credits-mobiliersartige Banken), von denen freilich manche feine erbauliche Entwide: 
lung nahmen. Die Zettelbanfen, mit Ausnahme der alten inkorporirten (Bank von 
England ſelbſt, drei Schottifche, Bank von Irland), beruhen aber ſämmtlich auf dem 
alten Prinzip und würden auch ohne Verluſt ihres Notenrechts nicht in der neuen 
Weiſe umgeftaltet werden können. Auch die wichtigjten und folideften Depofitenbanten, 
jo die großen Londoner Joint-Stock-Banken, haben noch die unbegrenzte Haftbarfeit. 

3) In Deutichland genügt es für unferen Zwed nur bis zur Periode der 
zwanziger und dreißiger, bzw. vierziger Yahre des 19. Jahrhunderts zurüdzugeben, 
von two erft eine Gejchichte des eigentlichen Zettelbanfwejen® und wirklicher Bank— 
notenausgabe datirt. Einzelne ältere öffentliche Banken waren meijtens mehr jtaat# 
finanzielle als freditwirthichaftliche Einrichtungen und die etwaigen Banffcheine jolcher 
Banken mehr eine Art Staatspapiergeld. ine unmittelbare Verbindung des neueren 
Zettelbankweſens und der Banknotenausgabe mit diejen älteren Banken beiteht nicht. 
Selbft die Preußiſche Bank, obwol aus der älteren Königlichen Bank hervor: 
gegangen, ijt doch erit durch die wichtige Reform von 1846 eine moderne Zettel: 
bant geworden. Natürlich) war bis 1866/67, bzw. 1870 das Deutiche Zettelbantf- 
recht fein einheitliches Deutiches, fondern ein jtreng partifuläres, verjchieden in jedem 
Staate, wenn auch mehrfach auf gleichen oder Ähnlichen Nechtsprinzipien beruhen. 

a) In Preußen war die Errichtung von Aftiengejellichaiten, daher 
auch von Banken in diefer Form jeit Alters an Staatsgenehmigung ge 
fnüpft, jo auch im Geje vom 9. November 1843 über Aftiengejellichaiten. Das 
Recht, die Erlaubniß zur Ausgabe von Banknoten zu geben, vindizirte fich der Staat 
ebenfalfs, ähnlich wie in anderen Ländern, ein ſolches Recht wol als Konjequenz des 
Münzregals betrachtend, — gewiß bei der Nothwendigkeit, ein jolches Regal ftrikte 
zu interpretiren, eine vechtlich nicht haltbare Auffaffung. Seit dem Geſetz vom 


Reichsbank. 353 


17. Juni 1833 war aber für die Banfnotenausgabe der Rechtsboden unzweifelhaft, 
indem dieſes Geſetz in $ 1 bejtimmte, daß „Papiere, wodurch die Zahlung einer 
beitimmten Geldfumme an jeden Inhaber verjprochen wird, von Niemandem aus— 
getellt und in Umlauf gejeßt werden dürfen, der dazu nicht die königliche Ge— 
nehmigung erhalten hat“. Hierunter fallen vor Allem Banknoten (übrigens auch 
auf den Inhaber lautende Depofitenfcheine, einerlei ob auf Sicht oder auf beftimmte 
Zermine zahlbar). Schon vordem hatte die Pommerjche ritterfchaftliche Privatbank 
im Jahre 1824 das Recht zur Ausgabe von Banffcheinen für 1 Mill. Thaler, 
den Betrag ihres Stammkapital, erhalten. 1833, bzw. 1836 wurde es ihr ent— 
yogen, ihr dafür aber ein Vorſchuß von Y, Mill. Thaler Staatzkaffenanweifungen ge— 
geben. Auch die in 100—1000 Thalerſtücken ausgegebenen Bankkafjenjcheine der 
Königlichen Bank, damals einer reinen Staatsanftalt, wurden 1836—37 eingezogen 
und dafür der Bant 6 Mill. Thaler Staatäkaffenanweijungen überwiejen. Grit 
im Jahre 1846 wurde diefe Bank in die Preußische Bank unter Betheiligung von 
Privatperfonen mit einem Kapital von 10 Mill. Thaler verwandelt, woneben der 
Staat jelbjt mit einem kleinen Aktivfapital bei der Bank betheiligt blieb. Diele 
Banf wurde dann als Zettelbant eingerichtet. (S. Kabinetsordre® vom 11. April 
und vom 18. Juli 1846, und befonder Banfordnung vom 5. Oftober 1846.) 
Sie war zwar nicht in allen rechtlichen Formalien eine eigentliche Aftiengejellichait, 
aber doch ein derjelben nahe verwandtes Inftitut. Die Hauptbant wie ihre Kon— 
tore und Kommanditen hatten ausdrüdlich die Gigenfchaft juriftifcher Perſonen. 
Die Einfchüffe der Privaten lauteten über 1000 Thaler und auf den Namen, jog. 
Bankantheilsjcheine, deren Webertragung durch) Ab- und Zufchreiben in den Büchern 
der Banf nach vorgejchriebener Form erfolgte. 

Diefe Preußiiche Bank beſaß nun lange Zeit, zum Theil bis zu ihrer Auflöfung, 
bw. bis zu ihrem UWebergang in die Deutiche R. in Preußen jehr wichtige 
Frivilegien, denen freilich auch wejentliche, namentlich finanzielle Laſten und 
Prlihten zu Gunſten der Staatsfaffe und gewiſſer wirthichaftlicher Intereſſen ent— 
iprahen. Man muß dabei berüdjichtigen, daß die Bank zwar ihrem Stammtlapital 
nach überwiegend Privaten gehörte, doch ganz unter Staatöverwaltung jtand und in 
vieler Hinficht doch wie eine wirkliche Staatsbank anzufehen war, indem namentlich 
ihr Ertrag in bedeutendem Maße dem Staate zufloß. Aus dem NReinertrag erhielt 
nämlich zunächſt der Staat für fein Aftivkapital in der Bank (zulett ca. zwei Mill. 
Thaler) 34/,, die Privatbetheiligten für das ihre 41/, Prozent, der Reit fiel, nad) 
erfolgter Dotation des Reſervefonds, beiden Antereifenten je zur Hälfte zu. Außer 
den aus dem Charakter eines Quafi-Staatsinftituts fich erflärenden Rechten des 
Fiskus, welche die Bank im Allgemeinen genoß, der Stempel-, Sportel= und Porto- 
freiheit, gewifjen vom Gemeinen Recht abweichenden Vorrechten im Lombardgeichäft 
hatte die Preußiiche Bank als Bank vier wichtige Privilegien: 1) Sie war und 
blieb lange Zeit neben der Pommerſchen Bank in Stettin die einzige größere 
ditentliche Bank, indem andere Bankaktiengejellfchaiten nicht Eonzeffionirt wurden, 
weswegen man in Preußen zeitweilig für folche Banten die Form der Kommandit- 
geiellichaft auf Aktien wählte, bis auch diefe mit der Ginführung des HGB. an 
Staatögenehmigung geknüpft wurde. — 2) Die Preußifche Bank hatte zwar rechtlich 
niemals, aber thatjählich nahezu immer in Preußen daa Monopol als 
Zettelbank. Erſt vom Jahre 1848 an wurde die Errichtung von kleinen Noten— 
banfen auf Grund ziemlich ſchwerer Normativbeſtimmungen zugelaſſen, die aber ins— 
gefammıt nur für 7 Mill, Thlr. Noten jollten ausgeben dürfen. 1848 entitand nur 
eine, 1850 eine zweite, dann 1856 einige weitere kleine folche Banken, regelmäßig 
mit je einer Mill. Thaler Notenausgabe. Die Preußische Bank durfte dagegen ſchon 
1846 15, bzw. 21 Mill. Thaler Noten ausgeben und 1856, — wo ihr privates 
Stammtapital auf 15 (1866 auf 20) Mill. Thaler erhöht und mn Staat und 

v. Dolkenborff, Euc. II. Rechtslexikon III. 3. Aufl. 


354 Reichsbanl. 


Bank ein Vertrag über die Einziehung von 15 Mill. Thaler Kaſſenanweiſungen 
mittels. einer von der Bank zu verzinſenden und zu tilgenden Staatsanleihe ab: 
geichlofien wurde, — ward das Notenrecht der Bank ein unbeſchränktes (dod 
durften blos 10 Mill. Thaler in Zehnthalernoten bejtehen) gegen die Verpflichtung, 
mindejtens , baar und den Reit der Noten mit bankmäßigen Wechjeln zu deden. 
Geitdem hat die Bank auch ihren Notenumlauf ſtark ausgedehnt und die beherr— 
chende Bankſtellung nicht nur in Preußen, jondern jchon vor 1866 in ganz Deutid: 
land errungen. — 3) Ferner mußten alle Depofiten der Vormundſchafts- und 
Gerichtäbehörden, Kirchen, Schulen zc. bei der Bank angelegt und von dieſer nur 
mäßig verzinft werden. — 4) Endlich wurde die Annahme verzinslicer 
Depojiten anderen öffentlichen Banken unterjagt. Sie ift den Privatnotenbanten 
erit im Jahre 1857 in beichränkten Maße erlaubt worden. Die Preußifche Bank 
hat daher eine in fjeltenem Umfange privilegirte Stellung eingenommen. Die An: 
nahme ihrer Noten an den öffentlichen Kaſſen kam ihr ebenfalls jehr zu statten. 
In den großen politischen Krifen von 1866 und 1870 bewährte die Preußiſche Bant 
voll und ganz die Leiftungsfähigleit einer großen nationalen Gentralbant 
und erwarb fich berechtigter Maßen die Anwartichaft, zur Deutichen R. erhoben zu 
werden, wie e8 denn auch gejichah. 

b) Nicht unerheblich, aber keineswegs durchaus erfreulich war die Entwidelung 
des Zettelbankweiens in den übrigen Deutihen Staaten. Der leitende 
Rechtsgrundſatz war auch Hier überall dag Erforderniß der Staatsgeneh— 
migung jpeziell für die Errichtung einer Zettelbant oder für die Notenausgabe. 

a) Die Mitteljtaaten waren im Nllgemeinen mit der Ertheilung von 
Notenprivilegien ſehr rejervirt. Den Anfang machte Bayern, welches jeiner 
wejentlich für andere Bank- und ſogar Verficherungsgejchätte gegründeten Bayertichen 
Hypotheken und MWechjelbant durch Gejeß vom 1. Juli 1834 jogar ein aus: 
ſchließliches Privileg der Notenausgabe auf 99 Jahre (!) für 8 (jeit 1866 für 
12) Mill. Gulden (nicht unter 10 Gulden das Stüd) ertheilte: ein Privileg, das 
bei der Banfreform von Reichswegen in den fiebziger Jahren noch bejondere Be 
rücfichtigung finden mußte. Im gewerbreichen Königreich Sachſen wurde die 
Leipziger Bank 1839 mit einem unbejchränften Notenrecht (nicht unter 
Zwanzigthalerjtüden und mit %, Baardedung jedoch), jpäter noch drei Eleiner 
Banken mit einem fleinen Notenrecht, 1865 dann die in größerem Maßſtab errich— 
tete Sächſiſche Bank in Dresden ebenfalld mit einem unbeſchränkten Noten: 
recht fonzeffionirt. In Medlenburg: Schwerin erfolgte 1850, in Hannover 
1856, im Großherzogthum Hejjen 1855 die Konzejlion einer eigenen Notenbant. 
Baden jchritt dazu, richtiger Weife auf Grund eines bejonderen Gejeges (5. Juni 
1860), welches die Ausgabe von Banknoten an den Erlaß eines Geſetzes knüpite, 
erit 1870, Württemberg 1871. Bon den jelbftändigen Stadtitaaten, wo ein reelle 
Bedürfniß nach Zettelbanten vorlag, haben Frankfurt a. M. 1854, Bremen 
1856, Yübed 1856, bzw. 1865 (zwei Inſtitute) Zettelbanken erhalten. Nur 
Hamburg hat fich nicht zu einer Konzeſſion verftanden und war, ala eine dortige 
Bank Anjtalten zur Notenausgabe traf, was nach dem bejtehenden Recht kaum zu 
hindern gewejen wäre, daran, im adminijtrativen Wege dagegen einzujchreiten, 
worauf jene Banf auf ihre Abficht verzichtete (1864). 

8) In kaum zuläffiger Weiſe wurde dagegen in einer Reihe Deuticher Klein: 
jtaaten das Konzeſſionsſyſtem dazu benußt, um für Bettelbanfen in einem jolcen 
Staate das Domizil zu erlangen und von da aus in den benachbarten größeren 
Staaten, bejonders in Preußen und Sachſen, durch Filialen und Agenturen Ge 
ichäfte treiben und die Noten hier verbreiten zu laffen. Dieje Banfen waren zudem 
mehrfach in zu großem Maßjtabe angelegt, hatten umfangreiche, zum Theil um 
bejchränfte Notenrechte, öfters einen für eine Zettelbanf zu weit gegriffenen und jelbi 
unpaffenden Gejchäftsfreis, nicht immer hinlänglich jolide Vorfchriften iiber die Noten: 


Neihsbant. 355 


defung, und endlich ganz unverhältnigmäßig lange Konzeſſionsdauer, bis Ende dieſes, 
Anfang, ja Mitte des 20. Jahrhunderts. Auf Grund folder Konzeffionen wurde 
Ihon 1847 eine Zettelbant in Anhalt-Deffau, dann, während der Spekulations— 
beriode Mitte der fünfziger Jahre, weitere zu Weimar 1853, zu Gera 1854, zu 
Gotha, Meiningen, Sondershauſen, Büdeburg (!), Homburg (!) 1856 errichtet. 
Man muß zwar zugeitehen, daß alle diefe Banken befjer waren ala ihr Ruf, daß 
ihre gefammte Notenausgabe fich nicht allzu jehr ausdehnen konnte, troß der Be— 
fugniffe dazu, daß eine Stodung der Baarzahlung bei feiner, nicht einmal im Mit: 
teldeutfchen Kriege von 1866 vorgefommen iſt. Aber die Noten diefer Banken 
waren jehr mannigfaltig, gingen auf kleine Beträge herab, wurden oft fünftlich weit 
vom Domizil der Bank, wo fie allein eingelöft wurden, in Umlauf gefeßt und er- 
halten, und bildeten jo eine läjtige Art von Umlaufsmitteln, ganz ähnlich wie das 
Heinftaatliche Staatspapiergeld, das meiſtens dieſelben Staaten ebenfalls in einer 
zur Kleinheit diefer Staaten in Mißverhältniß ftehenden Menge ausgegeben hatten. 
Auch unterftügten manche diefer Banken unſolide Geſchäfte und jchadeten dadurch. 
Die Preußische und mitteljtaatliche Bantpolitit, welche im Ganzen die Entwidelung 
Heiner Zettelbanten innerhalb des eigenen Staates zu hemmen juchte, wurde nicht 
ohne Erfolg von diejer Eleinjtaatlichen Bankpolitik gefreuzt, jo daß in der That in 
den Konzeffiongertheilungen diefer SKleinftaaten (3. B. vom Staate Schaumburg- 
Lippe für eine Bank mit unbegrenzter Notenausgabe, in den verjchiedeniten Wäh— 
rungen, jelbft in Hamburger Mark Banko, mit Hundertjähriger Konzeffionsdauer!) 
ein für die politifchen und öffentlich-rechtlichen Berhältniffe im alten Deutfchen Bunde 
nur zu charakteriftiicher Mißbrauch der Souveränetät gefunden werden muß. 

c) Die größeren Staaten, Preußen, Bayern, Sachen, Baden u. a. m., glaubten 
diefem Zuftand gegenüber zu Repreffalien greifen zu müſſen, welche freilich dem 
Bundesverhältniß und vollends der Einheit des Wirthſchaftsgebietes im Zoll: 
verein wenig entiprachen, auch nur theilweiſe Erfolg hatten, aber nur die Konſequenz 
des Zettelbanfrechts diefer Staaten waren: fie jchritten zu theilweiien oder gänzlichen 
Verboten aller oder gewifler Sorten ausländijchen Staatspapiergeldes und Bank— 
noten (1855, 1857) und jtellten die Zahlungsleijtung damit unter Strafe. Das 
Königreih Sachſen ließ fremde Noten über 10 Thaler nur zu, wenn die betreffenden 
Banken in Sachſen Einlöfungsitellen errichteten. Rechtlich entjtanden dadurch ganz 
unbaltbare Zuftände, millionenfache Straifälle, — thatſächlich änderte fich wenig, 
nur ettva, daß die Notenftüde unter 10 Thaler, die beſonders verpönt waren, durch 
größere vielfach erjegt wurden. Bereinbarungen über eine gemeinfame Regelung 
diefer Dinge wurden im Zollverein angeregt, es kam aber nicht einmal zu ernit= 
lichen Verhandlungen darüber. 

d) So entwidelte fich das Deutiche Zettelbankwejen auf diefer ganz parti= 
fularrehtlichen Bafis weiter, noch über 1866 und 1870 hinaus, bis das 
Deutfche Reich eine neue einheitliche gejegliche Regelung in die Hand nahm, die in 
der That jehr nothiwendig war. Die Preußiiche Bank dehnte nach 1866 ihre Ge- 
ichäfte auf die neuen Provinzen, 1871 auf Eljaß-Lothringen aus. Die Kriegsereig— 
niffe, dann die Einftrömung der Franzöſiſchen Milliarden, der ungeheuere Spekula- 
tions⸗ und Geſchäftsaufſchwung 1871—73 führte zu einer ſtarken Vermehrung des 
Notenumlaufs, was zu neuen, aber faum jpeziell begründeten Vorwürfen bejonders 
gegen die Eleinftaatlichen Banken Anlaß gab, da wenigjtens bei den anderen, be— 
fonders der Ton angebenden Preußiichen Bank, der Entwidelungsgang im Ganzen 
derfelbe und eben durch die Verhältniffe bedingt war. Der geſammte Deutiche 
Rotenumlauf war Mitte 1870 258, Mär; 1873 (ungefähr der Höhepunkt) 480 
Mill. Thaler, davon durch Kaffe (meift Metallgeld) nicht gededt bzw. 121 und 
183 Mill. Thaler. Der Notenumlauf der Preußiichen Bank allein betrug an dieſen 
beiden den Anfang des Krieges und das Ende der großen Aufichiwungsperiode be= 

23 * 


356 Reihsbant. 


zeichnenden Terminen 168 und 336 Mill. Thaler, wovon ungededt 78 und 120 
Mill. Thaler. Die Deutiche Zettelbankreform wurde nur verzögert durch die ihr 
mit Recht vorangehende Reform der Münzgejeßgebung, und noc etwas erichwert 
durch die Verhältnifie des Deutichen Staatspapiergeldes, welches leßtere faſt nod) 
mehr einer Reform bedurfte. Bevor aber zum Schluß diefe Bankreform jelbit hier 
behandelt wird, erjcheint c3 nothwendig, auf einige Punkte, welche bei der Ge 
ftaltung des Zettelbanfrechts und des Nechts der Notenausgabe bejonders jchwierig 
und ftreitig find, und auch bei uns mitjpielten, in Kürze aus dem Gefichtäpunfte 
de lege ferenda einzugehen. 

IV. Streitiragen des Zettelbanfrehts. 1) Iſt das Recht der Noten- 
ausgabe „ſelbſtverſtändlich“ ein nur dem Staate zujtehendes, nur von 
Seiten des Staats zu verleihendes Recht, infofern ein „Regal”? Rechtsphiloſo— 
phijch entjchieden nicht! Nach dem pofitiven öffentlichen Recht eines Landes jedenfalls 
nur dann, wenn ein unvordenfliches Herfommen oder ein beftimmtes Geſetz dafür 
nachzumeien ift. Erſteres wird jchwer zu begründen, mindeſtens leicht jtreitig jein, 
leßteres ift daher regelmäßig für den Fall zu verlangen, daß der Staat ein joldes 
Recht beanſprucht. Die beliebte Ableitung diejes Rechts aus dem Müngzregal (in 
England, Defterreih, Preußen und anderen Ländern mehr in parlamentarifchen Ver: 
handlungen vorgefommen, gewöhnlich, aber nicht immer, ohne Widerſpruch zu fin 
den) ijt oben jchon ala unhaltbar bezeichnet worden. Wol das Recht, Papiergeld 
mit Zwangskurs auszugeben, aber nicht die Notenausgabe, fann ohne Weiteres 
als ausjchließliches Recht des Staats gelten. Es ift daher der allein Lorrefte Weg, 
den man in Baden (j. oben) und neuerdings im Norddeutichen Bunde und Deutichen 
Reiche (j. unten) beichritten hat, durch ein befonderes Geſetz dem Staate das 
Recht zu übertragen, allein die Beiugniß zur Notenausgabe zu ertheilen, womit ein 
„Notenregal” begründet ericheint. 

2) Iſt aber die Konftituirung eines ſolchen Notenregals — va 
der Trage, ob dajjelbe und an wen eventuell e8 zur Ausnutzung - überlaffen werden 
joll, noch abgejehen — richtig und nothbwendig? Das läßt fich natürlid) 
nicht abjolut beantworten, jondern ift wie alle jolche Fragen über den ausichlieh- 
lichen Vorbehalt von Rechten für den Staat nad den Umſtänden, aljo weientlid 
mit nah Zwedmäßigfeitsrüdfichten zu enticheiden. Zu behaupten ift nur, 
dab aus dem Wejen der Banknote, aus ihrer rechtlichen Natur wie aus 
ihrer wirthichaftlihen Funktion eine jolche „Regalifirung der Notenausgabe“ 
nicht nothwendig folgt, einerlei, welche Auffaffung man in den eben genannten 
beiden Beziehungen von der Banknote hat. Nach unjerer, auch von Juriften, aber 
nicht allgemein, und von vielen, aber auch nicht allen Nationalöfonomen getheilten 
Auffaffung ift die gewöhnliche Banknote, welche nicht ausdrüdlich, wie die Note der 
Bank von England, die Eigenschaft des geieglichen Zahlungsmittel® hat, rechtlich 
nicht Geld, fondern Anweifung auf Geld, wird mit ihr rechtlih nicht Zahlung 
geleiftet, jondern nur wenn der Empfänger einwilligt (satisfactio pro solutione est), 
it die Banknote troß einiger abweichenden juriftiichen Formalien nicht prinzipiell, 
jondern nur gradmweife nach ihrer Yunktion im Verkehr von anderen Zahlungs: 
mitteln des Kreditverkehrs, Anweifungen, Wechieln, Checks u. j. w. verjchieden. 
Namentlich wirkt fie auch nicht anders auf den Münzumlauf, verdrängt die Münze 
an fich nicht mehr aus dem Verkehr als andere Kreditumlaufsmittel und Kredit: 
wirthichaftliche Einrichtungen (Girogeſchäft, Chedweien, Ausgleihungshaus), welche 
Münze „eriparen“. Much diejenigen Defonomiften und Jurijten, welche die Bank— 
note rechtlich und ökonomisch mehr dem Gelde, bejonders dem Papiergelde (deſſen 
wejentliche Merkmale nach unferer Auffaſſung Zwangskurs und Uneinlösbarfeit 
gegen ein anderes „Geld“ find) gleichjegen, können dieje mwejentlich gleiche Werkehrs- 
funktion der Note mit jonjtigen Zahlmitteln und Einrichtungen der KHreditwirthichait, 
d. h. offenkundige Griahrungsthatjachen, nicht überjehen. Soll ein Notenregal abjolut 


Reichsbank. 357 


nothwendig ſein, ſo müßte es die Regaliſirung aller ſolcher Zahlmittel und Ein— 
richtungen auch ſein. 

3) Wie verhält es ſich dann mit der Zweckmäßigkeit der Konſtituirung 
eines Notenregals und des Erforderniſſes der Staatsgenehmigung (die 
wieder im Wege des Geſetzes oder im adminiſtrativen Verordnungswege 
errolgen kann) für die Banfnotenausgabe? Cine Trage, welche mit der weiteren 
nah der Gentralijation oder Dezentralijation der Notenausgabe fich 
zwar nicht det, aber zufammenhängt. Kann und darf etwa ftatt folcher Regalifirung 
und der Staatögenehmigung für jeden einzelnen Fall (Syitem des Konzeſſions— 
jwanges) auch ein Syitem der Normativbedingungen für Zettelbanfen 
Mat greiten, wo dann die Staatöverwaltung fi darauf beſchränkt, fich in jedem 
einzelnen Fall die Erfüllung folcher Bedingungen nachweifen zu laſſen? Oder kann 
und darf etwa jelbft daa Gemeine Recht (dad H.R. für Handelögefellichaften, das 
Atiengejellichaitsrecht) Hier ohne Weiteres Ammwendung finden, etwa mit einigen 
wenigen Spezialbeitimmungen gerade für Zettelbanken wegen des Zwedes der 
Unternehmung, mit anderen Worten fann, im vollen Gegenfag gegen das Noten- 
regal und gegen die Monopolifirung der Notenausgabe in einem einzigen Central— 
inftitut „Zettelbankfreiheit“ gewährt werden, worau® dann gewöhnlich eine 
mehr oder weniger jtarfe Dezentralifation des Zettelbankweſens hervorgehen wird ? 
Beijpiele liefert das pofitive Necht verichiedener Länder. So kann man bis 1845 
in Schottland, von 1826 bzw. 1833 bis 1844 in England von Zettelbanf- 
freiheit jprechen. Das jchon ältere Recht von New-York, das neuere von ganz 
Nordamerika (allgemeines Gejeg vom 30. Juni 1864) charakterifirt fich ala ein 
Syſtem (ſehr ftrenger) Normativbedingungen. 

a) Eine prinzipielle allgemeine Verwertung jelbit der Zettelbankfreiheit ift 
nit mit dem öfonomifch-tehnifchen Moment zu begründen, daß daraus 
nothwendig ein unjolides Banks, Kredit und Geldweſen hervorgehe. Dieſe Be- 
fürchtung läßt fich durch Beifpiele der Erfahrung (Schottland, Schweiz, einzelne 
nordamerifanische Staaten) und auch allgemein theoretiih aus den Funktionen der 
Bettelbanf und ihrer Noten widerlegen. Soweit die Bankfreiheit hier mit De: 
jentralifation zufammenhängt, ergiebt eine unbefangene Unterfuchung gewiffe Schwächen, 
aber auch gewiſſe Vorzüge der Dezentralijation vor der Gentralifation der Noten- 
ausgabe, jo daß das Urtheil wenigſtens in großem Umfang ein nur relatives 
fein wird. Gewiſſe Nachtheile der dezentralifirten Notenausgabe, bejonders die 
Vielfältigkeit der Noten, die beichränktere Umlaufsfähigkeit, die Einlöfung an Neben- 
pläßen, lafjen fich theils durch freiwillige Einrichtungen, zu denen dag eigene Intereſſe 
die Banken führt (gegenjeitige Zahlungsannahme der Noten, Notenumtaufch, Schott- 
land, Mafjachujetts, Syitem der Schweizeriichen Konkordats-Banken), theil® durch 
einige geſetzliche Vorſchriften im Weſentlichen beſeitigen, wodurch das Prinzip der 
Zettelbankfreiheit nur wenig modifizirt würde (Borjchriften ‚Über die ‚eben genannten, 


Roteneinlöfung an Gentralpunkten des Verkehrs für alle Banten — Nordamerikan. 
Gefetz, Deutjches Bankgefeg —, weitergehend: das Verbot, feine Noten unter einer 
gewiſſen Höhe auszugeben, um die Eleineren Leute eventuell zu ſchützen und die 
Münze nicht aus den Eleineren Verkehrskanälen zu jehr verdrängen zu laffen). Die 
Banknote wird hier nicht jo leicht dem Gelde im Verkehr gleichgeftellt werden, wie 
die Note einer mächtigen Gentral- oder Monopolbank, was in mancher Hinficht fein 
Gutes hat. Ueberragt eine ſolche Bank auch die Fleineren Banken des deyentra= 
Liftifchen und Bankfreiheitsſyſtems durch ihre größere Leiftungsfähigfeit in Kriſen — 
ein jehr wichtiger, und faft der entjcheidende Punkt Für Gentralifation der Noten= 
ausgabe —, kann eine große Gentralbant durch ein gutes Filialnetz die kleinen Pläße 
auch mit berücdfichtigen und den Geld- und KHreditverfehr eines großen Landes gut 
zufammenfaffen, jo vermag ſich andererjeits die Kleine Bank in fapitalarmen Ländern 


358 Reichsbank. 


(Nordamerika) durch Notenausgabe Kapital zu verſchaffen, da ſie am Meiſten in der 
Lage iſt, individuell richtig nach den Lokalbedürfniſſen zu verleihen, mehr als die 
immer nothwendig etwas ſchematiſch operirende Centralbank mit ihren Filialen. Die 
kleine Zettelbank hat auch mehr Trieb und Fähigkeit, das Depoſitengeſchäft zu ent: 
wideln, ala die Gentralbant, der die Notenemiffion alles erforderliche Kapital leicht 
zuführt. 

b) Andererſeits aber wird gerade die Zettelbankfreiheit thatſächlich am Meiſten, 
oft allein von reichen Privatkapitaliſten für die Gründung von Banken ausgenutzt 
werden fönnen. Solche Banken und überhaupt diejenigen (auch im Syſtem der 
Normativbedingungen), welche nicht unter jpeziellerer Staatsfontrole ſtehen, werden 
(eichter dem bejonderen Klaffenintereffe einflußreicher privater Geichäftsfreife dienen. 
Die Kautelen gegen mißbräuchliche Kreditgewährung der Kleinen Zettelbanken bieten 
fich zwar in der Kontrole des Publikums, in der gegenjeitigen Kontrole der Banken 
jelbit, aber diefe Kautelen find fchwerer zu handhaben. In kritischen Zeiten ſchwankt 
und wanft der Kredit jolcher Banken und ihrer Noten eher, woraus weitere allgemeine 
wirtbichaftliche Geiahren hervorgehen. Lauter Gründe, welche eine größere Staats 
intervention auf diefem Gebiete, die Gentralifirung der Notenausgabe und das Prinzip 
der Staatögenehmigung «wenigſtens oftmals rechtfertigen. 

c) Im Uebrigen wird hier aber auch ſonſt der hiſtoriſch gegebene all: 
gemeine politijche und volfswirthichaftliche Charakter eines Landes mit 
zu entjcheiden haben. In den größeren Staaten Europa’s, zumal des Kontinente, 
hat fich micht nur Hiftorisch die Staatögenehmigung, die Gentralijation im Zettel: 
bankweſen eingebürgert: fie entipricht auch dem modernen Zuge im Wirthichaftäleben 
und im Bankweſen jpeziell. Die abweichenden Verhältniffe anderer Länder (Schweiz, 
wo aber Gentralijation der Notenausgabe jchon öfters angeregt iſt, Schweden, Nord: 
amerika, theilweife Schottland und England) zeigen nur, daß jolche allgemeine 
Momente überall mitjpielen, auch in der Geftaltung eine Spezialrechts wie des 
Zettelbankrechts. Daraus wird man maßgebende Fingerzeige für die Richtung einer 
Reform des Bankrecht entnehmen dürfen. 

d) Und zwar umſomehr, da jedenfalls neben manchen jpezifiichen banktechniſchen 
und bantöfonomijchen Vortheilen der Regalifirung der Notenausgabe, des Prinzips 
der Staatögenehmigung für Zettelbanfen und der jtärferen oder ſelbſt völligen Gen 
tralifation feine entjcheidenden Nachtheile dieſer Geitaltung des Rechts, 
mindeftens unter unferen fontinentalen Berhältniffen, abgeleitet und durch die Er: 
jahrung belegt werden können. Dan hat wol, im Hinblick auf manche Beifpiele, 
vor der Gefahr einer Verquickung der Banken mit den Staatsfinanzen gewarnt. 
Indeſſen laſſen fich hiergegen in ruhigen Zeiten ausreichende ſtaatsrechtliche Kautelen 
ichaffen. In unruhigen Zeiten zeigt das neue amerikanische Beispiel im Bürgerkrieg, 
daß auch die Dezentralijation des Zettelbankweiens die Banken nicht vor finanzieller 
Ausbeutung ſchützt, oder der Staat giebt dann von ſich aus Papiergeld aus 
(Defterreich, Nordamerika). Andererfeit? aber haben die großen Gentralbanfen in 
fritiichen Zeiten auch für die Staatöfinanzen eine finanziell und politifch wichtige 
Stüße geboten (Bank von England in den Revolutionäfriegen, Defterr. Nationalbant 
1848 ff., Preuß. Bank 1866, 1870, bejonders Franzöſiſche Bank 1870—71), ein 
Moment, das bei der Entjcheidung wol mit zu beachten ift. 

e) Speziell in den Deutſchen Verhältniffen wird man fich demnach Tür 
Notenregal und Staatsgenehmigung und, wenn nicht für völlige, jo doch 
für überwiegende Gentralijation der Notenausgabe bei einer großen Gentral- 
banf erklären dürfen. In diefer Weile iſt auch die Deutiche Bankreform durch: 
geführt worden. Die völlige Gentralifation (Monopolbant) ift fachlich nict 
geboten, hat auch einige Mißſtände. Im Deutichen Reich wie in Großbritannien 
war fie, wenigſtens zunächit, durch den bejtehenden Rechtszuftand, wo es vorhanden: 
Rechte zu jchonen galt, ausgeichloffen. 

® 


Reihsbant, 359 


4) Soll inabejondere die Gentral=- oder Monopolbanfalß reine Staatd- 
anftalt oder, wenigjtens nach dem Eigenthumsverhältniß, ala Privatunter- 
nehmen, daher ala Aftiengejellichaft oder dgl. errichtet werden? Sollen eventuell 
au die übrigen Eleineren Zettelbanten als wirkliche öffentliche Anftalten den 
Selbitverwaltungstörpern (3. B. den Provinzen) übertragen werden, ausjchließlich 
oder neben privatwirthichaftlichen Zettelbanfunternehmungen, ala welche dann meijteng 
nur Aftiengejelljichaften zur Erwägung kommen werden ? 

Diefe Fragen find wiederum nicht abfjolut, jondern nach den konkreten Verhält- 
niſſen zu enticheiden. In bankttehnijcher Hinficht kann weder von einem all« 
gemeinen Vorzug noch einem jolchen Nachtheil des einen oder des anderen Syſtems 
die Rede jein. Nach jeiner technifchen Natur, welche vollends hier alles ſpekulative 
Moment ausschließt, eignet fich das Zettelbankgefchäft und die Notenausgabe jowol 
fir die Beſorgung durch einen öffentlichen Körper (Staat u. ſ. w.), ala durch Aftien- 
geiellihaften. Die üblichen Gründe gegen jolchen Gejellichaitt- und gegen Staats— 
betrieb treffen nicht zu. Gegen große eigentliche Staatsbanfen hat man politifche, 
namentlich kriegs politiſche Bedenken geltend gemacht, indem deren Fonds bei einem 
unglüdlichen Kriege gefährdet fein würden, und zu erwägen bleibt dies Moment, 
das bei ung mit für die Errichtung der R. ala Privatunternehmen den Ausſchlag 
gab. Andererjeits hat man allgemein=volfswirthichaftliche, finanzielle und jozials 
bolitiiche Gründe für reine Staatäbanfen vorgebracht, die wol entjcheiden dürften. 
Indeſſen ift zuzugeitehen, daß man, wie bei uns, auch eine Gentralbant ala Privat- 
unternehmen ganz unter Staatsverwaltung jtellen, die jachmännijch = technifche 
Beihülfe von Vertretungsorganen der Privatinterefjenten dann bejonders leicht und 
zwedmäßig einrichten fann, ohne doch den Einfluß diefer Kreiſe zu jehr zu ſtärken, 
und daß fich durch Gewinnbetheiligung des Staates deſſen finanzielle Jnterefjen 
an der Ausnutzung eines Notenregals genügend wahrnehmen laffen. So ift, wie bei 
der Preußifchen und jet der R., der Unterjchied nicht groß. Namentlich müßte der 
Staat ja doch die Bank mit einem eigenen Kapital ausftatten, das ihm direkt oder 
indireft (bei Beichaffung durch Anleihen oder aus disponiblen Staatsfonds) wenigjteng 
großentheils die Zinſen Eoften würde, welche im anderen Falle die Aktionäre als 
Dividende für ihr Kapital beziehen. Die Fortentwidelung der Dinge möchte gleichtwol 
bei ung zur reinen Staatäbanf hinführen, d. 5. zur vollen gemeinmwirthichaftlichen 
Organijation des Zettelbankweſens. 

Weniger noch ala bei der Gentralbanf iſt bei Eleinen Banken eines ohnehin 
einmal auf dem Konzeffionsprinzip und der Staatäfontrole beruhenden Zettelbanf- 
weiens für die Form der Aktiengejellichaft zu jagen. Körper, wie in Deutichland 
die Mittelitaaten und die Preußifchen Provinzen, wären ganz geeignet, jolche Kleinere 
Zettelbanfen auf eigene Rechnung zu betreiben. Die. Schwierigkeiten der materiellen 
Kontrole der Verwaltung würden folchen Banken gegenüber erheblich geringer als 
bei Aktienbanken fein. 

5) Welches ift, unter Vorausjegung des Notenregals und des Konzeſſionsſyſtems 
als der Rechtsbafis des Zettelbankweſens, die paſſendſte Geftaltung des Rechts für 
die Ginrihtung und den Betrieb der Banten? 

Ginzelnes wird auch hier nach den Landes- und Zeitverhältniffen zu beftimmen 
ſein. Die leitenden Grundzüge der Einrichtung und des Betriebes folgen aber 
aus dem Weſen und der Funktion der Zettelbant. Im Ganzen werden die Vor— 
schriften für die Gentralbant und für die etwaigen feinen Banken übereinjtimmen 
fönnen, doch wird der erfteren ein größeres Notenrecht zu gewähren, aber aud) 
ein ftärferes Stammkapital und die Haltung eine größeren Baar— 
vorraths vorzufchreiben, vielleicht auch der Gejchäftsfreis in den Aktiv» und den 
übrigen Pajfivgeichäiten etwas zu verengern fein. Die wichtigeren Bejtimmungen 
betreffen folgende Punkte: 


360 Reihsbant. 


a) Vorichriiten über die Banknoten ſelbſt. Kein Zwangskurs (auch bei 
Einlösbarfeit) für die Banknoten der Kleinen Banken, nicht unbedingt, aber dod 
eventuell ein jolcher für die Noten der Gentralbanf. — Keine unbedingte Verpflichtung 
zur Annahme der Noten an den Staatskaſſen, indefjen thatjächliche Zulaffung, 
mindejtens für die Gentralbantnoten. — Verbot kleiner Noten, aber nur umter einer 
nicht zu großen Höhe (50 Mark bei uns paflender ala 100 Mark ala Minimum); 
Entjcheidung mit nach den Währungs und Münzverhältniffen. — Zulaffung weitere 
Noten nur in beitimmten runden Abjchnitten. — Ginlöfung der Gentralbanfnoten 
auch thunlichſt, doch ohne unbedingte Verpflichtung, an den größeren Filialen, der Noten 
der kleinen Banken außer am Domizil auch an Gentralgeldplägen. — Gegenjeitige An- 
nahme der Noten bei den Banken jelbit und Austaufch bzw. Einjendung zur Einlöfung. 

b) Vorſchriften über die Notenausgabe und die ſpezielle Notendedung, 
d. h. über diejenigen Aktiven, welche der Notenjchuld unmittelbar gegenüber ftehen 
und die jederzeitige Einlöfung der Noten ermöglichen jollen. Für die Gentralbant 
empfiehlt fich bier das Recht der unbejchräntten Notenausgabe, unter der Be 
dingung einer bejtimmten Notendedung. Letztere muß, nach der Natur der ſtets 
fälligen Notenjchuld, die jog. „banftmäßige“ fein, d. h. aus einem Baarvorrath 
in Edelmetall (theils geprägtem inländifchen, mit voller Währungseigenfchaft ver: 
jehenen Gelde, theild Barren und fremden Münzen des Währungsmetalls) und aus 
ficheren, nicht zu lange laufenden (ungefähr drei Monate) Wechjeln bejtehen. Als 
gejegliches Minimum des Baarvorraths ift am beften eine Quote, !/,, bei der 
Gentralbanf jelbjt ",,, vorzuichreiben, aber Lieber feine weitere Norm über ba: 
Verhältniß zwiichen Notenumlauf und Baarfonds, namentlich nicht die „Direkte 
Kontingentirung wie bei der Englifchen Bank (ſ. oben Nr. II.), aber beſſer aud 
nicht die „indirefte Kontingentirung“ wie jet in Deutichland (ſ. unten Nr. V.). — 
Den Eleineren Banken muß dagegen nur ein beſchränktes Notenrecht gewährt 
werden, mit den gleichen Dedungsvorichriiten wie bei der Gentralbant (doch nur 
Drittelbaarminimum). — Unfähigkeit, die Noten auf Verlangen einzulöjen, bedingt 
den Verluſt des Notenrechts bei den Eleinen Banken, eventuell den Zwang zur 
Liquidation, Bei der Gentralbanf würden in jolchem Falle Ausnahmevorjchritten 
faum zu vermeiden fein. 

c) Vorjchriiten über das Stammkapital und den Reſervefonds. Die 
Gentralbant iſt mit einem abjolut und relativ großen, d. h. im richtigen Ber 
hältniß zu ihrer Gejchäftsentwidelung, namentlich ihrem Noten» und Depofiten 
geichäft jtehenden Kapital auszuſtatten, wodurch ihre Leiftungsfähigfeit gejteigert umd 
für die Paffiven eine größere Garantie beichafft wird. Die Hleinen Banken find 
mit mäßigen, einzeln auch im Berhältniß zum Notenrecht ftehenden Stamm: 
fapitalien zu verfehen. Die Größe der einzelnen Aktien bei Aktienbanken, dann ob die 
Inhaber oder Namenpapiere find, ift von untergeordneter Wichtigkeit. Der Reſerve— 
fonds iſt auf eine mäßige Quote des Stammkapitals zu bringen, jalla dies nict 
erſt durch ihn bejonders verjtärft werden joll. Er ift aus Ertraeinnahmen (Agio— 
gewinn bei Aftienemiffion) und aus dem laufenden Reinertrag auf die vorgejchriebent 
Höhe zu bringen und dadurch darauf zu erhalten. Er dient zur Dedung von Ver: 
luften und zur Ergänzung der Aftiendividende auf eine beitimmte Höhe. Stamm: 
fapital und Rejervefonds find im Uebrigen im allgemeinen Bankgeſchäft mit anzu: 
legen, aljo nur rechnungsweije, nicht in den Aktiven jelbjt apart zu halten. — Die 
Konzejjionsdauer für Zettelbanfen ijt auf eine nicht zu große Zeit auszu— 
dehnen, etwa 10—15 Jahre: nicht weniger, um eine gewiffe Stabilität in den 
Verhältniffen zu ermöglichen, nicht mehr, um wünfchenswerthe Veränderungen des 
Rechts leicht durchführen zu fönnen. 

d) Vorjchriiten über die jonjtigen Paſſiv- und Aftivgefhäite. Im 
Ganzen pafjend ein engerer Wirkungsfreis als bei allgemeinen Banken und twiederum 
ein etwas engerer bei der Gentralbanf als bei den Kleinen Banken, denen jo Gelegenheit 


Reichsbank. 361 


zu geben iſt, auch ohne Notenausgabe eine leidliche Rente zu erzielen. Von Paſſiv— 
geſchäften iſt ſtatthaft und wünſchenswerth das Depoſitengeſchäft (Depoſiten ohne und 
mit Kündigungsfriſt, unverzinsliche und verzinsliche), an welches ſich Kontokorrent— 
geſchäft, Girogeſchäft, Checkweſen anſchließen; dabei womöglich Entwickelung des 
Gebrauchs, die von der Bank, gemachten Darlehen zunächſt als Guthaben 
gutzuſchreiben (England, Nordamerika), ſtatt fie ſofort baar oder in Noten 
(Kontinent) auszuzahlen. Die großen Centralbanken werden beſonders unverzinsliche, 
ftetsfällige Depoſiten führen und ſich dadurch regelmäßig, namentlich auch in 
Krifen, bedeutende Fonds neben der Notenausgabe zur Verfügung bringen (Englifche, 
Franzöſiſche, Deutiche R.). Die Vorſchrift einer Minimalquote Baarvorrath für 
ftetsfällige Depofiten ift aber dann zu erwägen, bei fleinen Banken wohl zu geben. 
Rückdiskontirung von Wechjeln iſt nicht auszufchließen, aber nicht zu begünftigen. 
Wechielacceptirung und Zeitgejchäfte in Waaren und Werthpapieren werden paflend 
unterfagt (Deutjches Bankgeſetz). Die normalen Aktivgeſchäfte find die Mechjel- 
diefontirung und die Lombardirung (Beleihung von Fauftpfändern), mit näheren 
geſetzlichen Borfchriften über die Marimaldauer der hierbei gemachten Darlehen 
(90—100 Zage) und über gewiffe Sicherheitsmomente (Zahl der Unterjchriiten bei 
Wechſeln, Art der Piänder, Werthverhältniß zwoijchen Piand und Darlehn). Im 
Lombardgeichäft kann den Banken, wenn das gemeinrechtlich ſonſt nicht gejtattet ift, 
zugeitanden werden, fich bei unterbliebener Rüdzahlung des Darlehns oder Ergänzung 
des Pfandes durch Nachichüffe im Fall finfenden Pfandwerths ſelbſt durch Verkauf 
des Piandes ſofort bezahlt zu machen. Ferner ift den Banken der An- und Ver— 
kauf edler Metalle und fremder Münzen, nur in bejchränkttem Maße aber das 
Effeltengeſchäft zu geftatten, was die Art der Effeten und die Höhe der Anlage 
darin betrifft. Aktive Kontokorrentgeichäite ohne bankmäßige Wechjel- oder Lombard- 
deckung, dann namentlich Hypothekengeſchäfte find regelmäßig auszufchließen, dauernder 
Bei von Immobilien ift nur für die eigenen Geſchäftszwecke zu geftatten. 

e) Vorſchriften über Befteuerung und finanzielle Entfhädigung 
des Staatd. Die Zettelbanfen umnterjtehen pafjend dem allgemeinen Staats- und 
Kommunalſteuerrecht. Ausnahmen (3. B. für eine R., wie bei uns, in Betreff der 
Beitenerung durch die Ginzeljtaaten) find bejonders zu begründen. In Betreff der 
Stempel u. dgl. empfiehlt fich ein Abfindungsſyſtem (England). Dem Noten- 
regal und Konzeſſionsſyſtem entipriht &, daß der Gewinn aus der (ungededten) 
Notenausgabe dem Staate mil zufällt. Daher bei Aktienbanken am Beften eine 
Betheiligung des Staates an demjenigen Gewinn, welcher eine landesübliche 
Berzinfung des Kapitals überfteigt, eventuell ein progreffiv fteigender Antheil bei 
höherem Gewinn (Deutjchland, Belgien). Dieſe Einrichtung ift befjer ala die Ge- 
währung eines jeften Darlehns aus der Bank an den Staat (Bank von England, 
Franzöſiſche, Defterreichifche Bank), weil dadurch ein Theil des Kapitals dem Ge— 
Ihäft entzogen wird. ine weitere Entichädigung für das Notenprivileg kann in der 
unentgeltlichen Führung von Kaffengejchäiten der Bank für den Staat liegen, eine 
Einrichtung, die bejonders bei großen Gentralbanten paffend ift. 

f) Vorschriften über gefchäftliche Verbindung zwifchen den Banken 
und dem Staat (eventuell einem anderen öffentlichen Körper). Zu begünftigen 
find Pajfivgeichäfte der Bank, befonders der Gentralbant mit dem Staate, wobei 
diefer, bzw. die Staatskaſſe Geld in die Bank (Steuereingänge) legt und mit ihr in 
Kontokorrent tritt („Örfentliche Depofiten“, England, Frankreich u. a. Länder 
mehr). Bis zum Betrage feines Guthabens Hat die Bank dann Zahlungen für 
den Staat zu leijten. Es empfiehlt fich, befonders nah Englijchem Borgange, 
der Gentralbanf hier einen Theil der Kafjengeichäfte des Staats zu übertragen, jo 
diejenigen, welche die Staatsſchuld betreffen (Zinszahlung u. j. w). Für Aktiv— 
geichäfte der Bank, in welchen diefe dem Staat Darlehen gewährt, find aus kon— 

jtitutionellen und aus banktechnifch-finanziellen Gründen befondere Borfchriften in 


362 Reichsbank. 


allen denjenigen Fällen nothwendig, wo die Normen für das gewöhnliche Attiv- 
geichätt der Bank nicht ftreng zur Anwendung gelangen. Daher 3. B. Griordemiß 
der Zuftimmung (nicht blos des Beiraths) von Gomites der Privatinterefjenten 
zu folchen Geichäften auch bei Gentralbanten, welche unter Staatöverwaltung ftehen 
(Preußiiche, Deutiche R.). 

g) Vorichrüiten über Deffentlichkeit, Verantwortlichfeit, Kontrole 

«) Der mit Recht im modernen Aktiengejellichaitsrecht und auf verwandten Ge 
bieten zur Anerkennung gelangte Grundjaß der Deffentlichfeit in Bezug auf 
alle die Errichtung und den Betrieb folcher Gejellichaiten betreffenden Verhältniſſe 
bat feine bejondere Bedeutung noch im Bankweſen und wiederum zumal im Zettel: 
banfweien. Hier muß aber jchon das Geſetz, mindeitens das von der Staat 
verwaltung zu beitätigende Statut („Banfordnung“), eventuell auch eine bejondere 
Verordnung der ftaatlichen Auffichtsbehörde nothwendig etwas fajuijtijch ver 
fahren, d. 5. e8 find die Punkte genauer zufpezialifiren, welche in Gemäßheit 
jenes Grundjaßes öffentlich ungweideutig dargelegt werden müſſen. Beſonders her- 
vorzuheben ift in diefer Hinficht der „Status“ oder die „Bilanz“ (,Bankaus— 
weis“), d. h. die ziffermäßige Aufftellung der Aktiva und Paifiva der Bank. Dafür 
ift ein hinreichend ſpezialiſirendes Schema vorzufchreiben, ferner muß eine regel: 
mäßige periodijche Veröffentlichung des Ausweijes, wenigitens nach Haupt: 
poiten, mit etwaiger Abrundung der Summen, bei Gentralbanten wöcentlid 
oder viertelmonatlich, bei Hleineren Banken ebenjo oder wenigſtens monatlid 
jtattfinden. Am Jahresichluß muß diefer Ausweis, in Verbindung mit dem Rechen: 
ichaftabericht der Bank, no genauer ins Einzelne gehen. Dieje Ausweiſt 
jollen einmal die Lage der Banken möglichit genau erfennen laffen und fodann der 
Geichäftäwelt als eine Art Barometer der Beurtheilung der Lage des Geldmarfte 
dienen. Seit den dreißiger und vierziger Jahren iſt gerade bei Zettelbanfen die 
regelmäßige Veröffentlichung des Status allgemein üblich geworden. Ebenſo iſt die 
Veröffentlichung des Jahres», Geſchäfts- und Rechenſchaftsberichts vor 
zuichreiben und werden auch dafür paffend genauere Beitimmungen gegeben. Die 
Veröffentlichungen haben am Beften in einem allgemeinen Staatsanzeiger und 
in verbreiteten öffentlichen Blättern zu geichehen. 

P) Die Berantwortlichfeit der Organe der Bankverwaltung (Direktion, 
Vorſtand, NAuffichte-, VBerwaltungsrath) bejtimmt fich ähnlich wie diejenige von 
Drganen jonjtiger Aktien- oder dgl. Gefellichaften, muß aber bei Banken in jtrai- 
und civilrechtlicher Sinficht eher noch verichärft werden (ähnlich wie bei Verficherungs 
anftalten), eben weil es fich hier um möglichite Garantien gegen den jo leichten 
Vertrauenamißbrauch Handelt. Strafbeitimmungen find bejonders für die Verlegung 
der gefjeglichen und ftatutarischen Vorſchriften, u. a. auch für Unterlaffung oder gar 
für Fälſchung der öffentlichen Ausweiſe u. ſ. w. erforderlich. 

y) Die Kontrole durch jtaatliche Verwaltungsbehörden wird ſogar bei dem 
Syitem der Banffreiheit oder bei einem Syſtem einfacher Normativbedingungen aut 
Erwägung fommen können: hier in der Form einer „jormellen“ (im Gegenjag 
zur jachlicheeingreifenden, „materiellen“) SKontrole, etwa ausgeübt durch ein 
ftaatliches ftändiges, aus juriftiichen und banktechniich-jachveritändigen Mitgliedern 
zufammengeießtes „Banfkontrolamt“. Dafjelbe würde hier insbejondere das 
Recht erhalten müfjen, Einficht in die Bankbücher u. ſ. w. zu nehmen und über 
den Berund, jo auch über die Uebereinſtimmung der öffentlichen Ausweife und Be 
richte mit jenen Büchern öffentlich Bericht zu erftatten. — Bei dem ftrengeren 
Syitem des individuellen Konzeffionszwangs und des Kechtöprinzips des Notenregals 
ift dieſe Kontrolbefugniß für ftaatliche Verwaltungsorgane noch zu verſchärfen, 
indem insbefondere an die kompetente höhere Behörde Anträge zum Einfchreiten und 
Strafanträge gegen Bankverwaltungsorgane in allen Fällen geſetz- oder jtatuten- 
widriger Handlungen oder Unterlaffungen zu richten find. Auch Hier handelt es 


Reichsbank. 363 


ſich darum, Kontrobbefugniſſe dev Staatsverwaltung den Alktiengeſellſchaften gegen— 
über — ein bei uns noch nicht endgültig befriedigend geregeltes Gebiet — nach den 
ſpeziellen Verhältniſſen der Zettelbanken zu geſtalten. Im Deutſchen Bankrecht, 
auch im Bankgeſetz von 1875 finden ſich bezügliche, doch noch nicht ſicher ausreichende 
Beitimmungen. Manches Einzelne ift in diejer Hinficht zwedmäßig im Nord— 
amerifanijchen Zettelbanfrecht geordnet. — 

Die wichtigeren, befonderd die grundjäßlichen Beitimmungen, welche im 
Vorausgehenden vorgeführt worden find, gehören in eigentliche Bankgeſetze, in 
allgemeine, wo es ſich um die Nechtäbafis für ein Syſtem verjchiedener Zettel: 
banken handelt (Nordamerika, Großbritannien, Deutiches Reich), in jpezielle, wo 
insbefondere die rechtliche Stellung einer Gentralbanf zu regeln ift. Die weiteren 
Beitimmungen, welche mehr den Charakter von Ausführungsvorfchriften in Bezug 
auf die gejeglichen Normen haben, werden im Verordnungswege, insbejondere 
au in der Form von zu beftätigenden oder eigens zu gebenden Bankſtatuten, 
„Banfordnungen“ u. ſ. w. zu erlaffen fein. Die Scheidung beider Reihen von 
Beitimmungen ift natürlich im Einzelnen etwas willfürlih. Die Rechtöprinzipien 
der Notenregalifirung und des Konzeſſionszwanges bringen eine größere Ausdehnung 
des eigentlich geſetzlichen Rechts auf diefem Gebiete unvermeidlich mit fih. Das 
neue Deutiche Bantgejeg von 1875 geht zum Theil jehr ins Ginzelne ein, hier und 
da wol etwas zu weit. 

V. Die Zettelbank- und Papiergeldrejorm im Deutjchen Reiche. 
1) Wie oben jchon erwähnt, verzögerte fich die allgemein für nothwendig befundene, 
endgültige reichsgeſetzliche Regelung des Deutichen Zettelbankrechts durch den 
Deutich = Fyranzöfiichen Krieg von 1870—1871 und durch den Wunjch, ihr die 
Währungs: und Müngzreform vorangehen zu laffen. Die Norddeutiche wie die 
Deutiche RVerf. ließ glücklicher Weife feinen Zweifel über die volle und ausjchließ- 
liche Kompetenz der Reichögejeßgebung auf diefem Gebiete, da in Art. 4 Nr. 3 und 4 
nicht nur „die allgemeinen Beitimmungen über das Bankweſen“, fondern jpeziell auch 
„die Feſtſtellung der Grundjäße über die Emijfion von fundirtem 
und unfundirtem Papiergelde” als Gegenjtand. der Beauffichtigung und Ge— 
ſetzgebung des Neich® bezeichnet werden. Unter den freilich juriftifch ftrittigen Be— 
griff „Papiergeld“ gehörten jedenfall® die Banknoten, aber auch das von den meiften 
Einzelitaaten auögegebene Staatspapiergeld. Letzteres war in Deutichland 
nirgends eigentliches, den Zwangsfurs führendes Papiergeld , fondern feine Annahme 
war freigeftellt, gewöhnlich war es auch auf Verlangen an gewiffen Kaſſen gegen 
Geld einlösbar und allgemein wurde es zu Zahlungen an öffentlichen Kafjen (für 
Steuern u. ſ. w.) angenommen, früher mußte auch mitunter eine bejtimmte Quote 
der Steuerzahlung in diefem Papiergeld erfolgen. Bei dem engen Zujammenhang 
des — meiltens nur in fleineren Abjichnitten, in Preußen in Ein- und Fünfthaler— 
Icheinen ausgegebenen — Staatöpapiergeldes mit den Banknoten und bei den Wirr- 
jalen, welche beſonders die Mannigfaltigkeit und relative (im Verhältniß zur Größe 
diefer Staaten) Menge des Eleinjtaatlichen Papiergeldes bewirkten, that eine reichs— 
gejegliche Regelung diejes partifulären Papiergeldes ebenjo noth, wie diejenige der 
Banknoten und Zettelbanfen. Da aber bei diefem Papiergeld unmittelbare Finanz— 
intereffen der Einzelftaaten mitjpielten und die verichiedenen Staaten in jehr ver: 
ichiedenem Maße den unverzinslichen Kredit in diejer Form benußt hatten, jo war 
die Regelung dieſes Umlaufmittels in einer Hinſicht noch jehwieriger. Sie ift denn 
auch nicht in ganz befriedigender Weife gelungen. 

2) Zunächſt juchte man nun im Norddeutichen Bunde und im Deutichen Reiche 
durch proviſoriſche Geſetze einigermaßen im Zettelbanf-, Banknoten und Papier« 
geldweſen eine weitere Entwidelung und Ausdehnung auf der bisherigen partikular— 
rechtlichen Grundlage zu hemmen und den status quo im Ganzen erhaltend dem 
Reiche feine Mitwirkung bei jeder neuen Veränderung zu wahren. Dies geichah 


364 Reihsbant. 


in Betreff des Staatöpapiergeldes durch das NorddeutſcheGeſetz vom 16. Juni 
1870, welches jpäter auch in den Süddeutichen Staaten zur Geltung gelangte; für 
die Banknoten u. j. w. durch das Geje vom 27. Mär; 1870, das, weil es 
auf eine bejtimmte Dauer erlafien war, bis zu der die Regelung des Bankıveiens 
noch nicht gelang, mehrmals verlängert wurde (Gejeß vom 16. Juni 1872, 30, Juni 
1873, 21. Dez. 1874, leßteres mit einigen weiteren Beſtimmungen über die Ban: 
noten und Zettelbanten, durch welche die Bankreform eingeleitet wurde). Auch das 
Geſetz vom 27. März 1870 trat in den Süddeutſchen Staaten in Wirkjamteit 
(Anfang Januar 1872). 

3) Die Regelung des Staatspapiergeldes. Durch das Gejch vom 
16. Juni 1870 wurde bejtimmt, daß bis zur gejeglichen, in der Verfaflung vor: 
behaltenen Feſtſtellung der Grundjäge über die Emiffion von Papiergeld von den 
einzelnen Staaten des Bundes neues Papiergeld nur auf Grund eines auf den Antrag 
der betheiligten Landesregierung erlaffenen Bundesgejeges ausgegeben ode 
deffen Ausgabe geftattet werden dürfe. Das zur Zeit umlaufende Papier 
geld durfte nicht vermehrt, nur durch neue Scheine erjeßt werden, letztere aber nicht 
auf einen geringeren Nennwerth als die alten lauten. Eine beitimmte Gültigfeits- 
frift Hatte dies Gefeß nicht. Noch vor dem Bankgeſetz fam es aber dann zu einem 
definitiven Gejeß über das Staatspapiergeld vom 30. April 1874. Der große 
Fortjchritt darin lag in der Unifikation des eingelftaatlichen Papiergeldes, indem 
dafjelbe gänzlich bejeitigt und großentheils durch ein neues Reichs papiergeld, jog. 
Reichskafſſenſcheine, erfeßt wurde. Der damalige Gejammtbetrag des Papier: 
geldes, das in einzelnen Staaten exit ſeit 1866 neu eingeführt (Bayern, Medlenburg) 
oder ſtark vermehrt worden war (Königreich Sachjen), war damals 61 374000 Thaler 
(davon auf Preußen 30475000, Bayern und Sachen je 12 Mill., Württemberg 
3428571, Baden 3714286, Hefien 2457143, Medlenburg-Schwerin 1 Mill. 
Thlr., die anderen Kleinftaaten zwifchen 1 Mill. und 0,18 Mill. Thlr., nur die 
drei Öanfeftädte, Oldenburg, Lippe-Detmold und Eljaß-Lothringen hatten feinee). 
An Stelle diejes Papiergeldes jollte endgültig die Summe von 40 Mill. Thlm. 
oder 120 Mill. Mark Reichskaffenicheine in Abjchnitten von 5, 20 und 50 Marl 
treten und nach der Kopfzahl auf die einzelnen Staaten vertheilt werden. Dafür 
hatten dieje da® bisherige Papiergeld bis 1. Juli 1875 einzuziehen. Denjenigen 
Staaten, welche bisher mehr Landespapiergeld als den nach diefem Vertheilungs— 
fchlüffel von der Summe von 120 Mill. Mark ihnen zulommenden Betrag emittirt 
hatten (d: 5. alle, mit Ausnahme Preußens), wurde indeffen für 2, der Differenz 
ihres bisherigen und ihres neuen Betrags ein Vorſchuß in Reichskaſſenſcheinen 
(nach dem Geje eventuell baar, was aber jogut wie gar nicht geichah) vom Reich 
überwieſen. Diefer Vorſchuß, 18247370 Thlr., ift vom 1. Jan. 1876 an in 15 
gleichen Jahresraten von den Einzelftaaten zu tilgen. Im Ganzen find bie Mär; 
1880 auf Grund dieſes Gejehes 174082100 Mark Neichkafjenicheine verausgabt, 
die fich bis dahin durch die Tilgungen auf 159,44 Mill. Mark vermindert hatten; 
davon bejtanden 44,38 Mill. Markt in 5-Marf-, 42,79 in 20-Mark-, 71,28 Mill. 
Markt in 50:Markicheinen. Ausdrüdlich wiederholt das Geſetz von 1874 die Be 
jtimmung des Gejeges von 1870, daß ein Bundesjtaat in Zukunft nur auf Grund 
eines Reichsgeſetzes Papiergeld ausgeben oder deffen Ausgabe geitatten darf. 

So groß und erfreulich num gegenüber dem bisherigen Zuftande diefe Reform 
war, fo erfcheint fie doch nicht befriedigend. Das neue Reichspapiergeld muß bei 
allen Reichs- und Einzeljtaatäfaffen nad) jeinem Nennwerth in Zahlung angenommen 
werden, wird von der Reichshauptkaſſe (die damit die R. betraut hat) für Rechnung 
des Reichs jederzeit auf Verlangen gegen baares Geld (d. h. nach den Münzgejegen 
gegen Deutiches Goldgeld und annoch gegen Silberthaler) eingelöft und ausdrüdlic 
findet im Privatverfehr fein Zwang zur Annahme ftatt. Allein dag Reih Hat gar 
feine disponiblen Kafjenbeftände für jolche Einlöfung, eine andere unmittelbare 


Reichsbank. 365 


Deckung, wie bei den Banknoten in den kurzfriſtigen Wechſeln, fehlt. Die Folge 
it, daß einfach die R. mit ihren Mitteln eintreten muß, die dadurch verhältnik- 
mäßig geschwächt werden. Schon jet liegen meiſtens einige 40 Mill. Mark 
in diefer Bank, mehr ala ein Viertel der Emiffion. In unruhigen Zeiten drohen 
hier bedenkliche Krifen. Ein folches reines Staatspapiergeld kann überhaupt nicht 
genügend gededt werden, ſolide Banknoten find ihm jehr vorzuziehen. In Kleinen 
Abichnitten beläftigt es den Verkehr, in großen jtrömt es noch leichter in gewiffen 
Zeiten zur Einlöfungsftätte. Gerade die Unifikation bat bier die Lage er- 
ihwert, das klein- und mitteljtaatliche Papiergeld halte ehedem einen viel mehr 
(ofal gebundenen Umlauf, jein Erſatz, das Reichspapiergeld, hat einen allgemeinen 
Umlauf, jtrömt aber deswegen auch leichter nach den Gentralpunften. Es wäre 
daher richtiger gewejen, entweder mit dem Prinzip des Staats-, bzw. Reichspapier— 
geldes ganz zu brechen, es völlig zu befeitigen, was damals aus den Mitteln der 
Franzöſiſchen Kriegsfontribution nicht jo ſchwer geweien, oder es (wie 1856 in 
Preußen, wo diejes fein Papiergeld von 30—31 auf 15—16 Mill. Thlr. durch 
jolhe Maßregeln verminderte) durch eine Anleihe einzuziehen und etwa der R. das 
Recht zu geben, unter Verpflichtung der Verzinfung und Tilgung diefer Anleihe, 
fleinere Banknoten von 50-, eventuell von 50- und 20-Markjtücden gegen die 
übliche oder gegen eine etwas modifizirte Dedung auszugeben. Der jegige Zujtand 
ift nachtheilig und bietet in Verbindung mit unferer ſtecken gebliebenen Münzreform 
erhebliche Bedenken, zumal in politischen Krifen. Eine Reform der angedeuteten Art 
wäre noch jet am Plate. Auch die fpätere Summe von 120 Mill. Mark „uns 
fundirten“ Papiergeldes ijt zu groß, ala daß man dieſe Dinge einfach belaffen könnte. 

4) Die Banfreform. a) Proviforifhe Maßregeln. Durd das 
erwähnte proviforiiche Bundesgejeg vom 27. März 1870 wurde der Erwerb einer 
neuen Befugniß zur Ausgabe von Banknoten ebenfall3 an ein (auf Antrag der be- 
theiligten Landesregierung zu erlaffendes) Bundesgejet gefmüpft, nicht minder 
die Aenderung einer bisherigen Beihränfung, die Erhöhung eines 
geltenden Notenrehtes, die Verlängerung eines folchen. Doch konnte bei 
Ablauf von Notenprivilegien ohne Weiteres eine Verlängerung einjtweilen eintreten, 
wenn die betreffende Bank fich einer einjährigen Kündigung von da an unterwarf. 
Nach diefer Bedingung wurde auch das Ende 1871 ablaufende Privileg der Preußiichen 
Bank (und die Ähnlich geregelten Privilegien der Preußifchen Privatbanten) vorläufig 
noch immer auf ein Jahr verlängert. So war aber einer weiteren Ausdehnung 
des Notenbankweſens ein Riegel vorgeichoben und zum Theil jchon der Boden für 
eine reichsgeſetzliche Bankreform geebnet. Bis zu lehterer war auf diefe Weife ein 
Rechtäverhältniß begründet, dad man wol als ein Reichsnotenregal bezeichnen 
fann, und ein ähnliches Verhältniß, ein Neihspapiergeldregal beitand nun 
auch für Papiergeld. Verglichen mit den ehemaligen Zuftänden, tritt auch hier in 
Folge der Erreigniffe von 1866 und 1870 ein großer Fortſchritt hervor. 

b) Die Vorbereitung der Bankgeſetzgebung des Reihe. Erit im 
Jahre 1874 begannen aber die unmittelbaren Arbeiten der Legislation für die Bank— 
reform ſelbſt. Diefelben und die dem Reichtage vorgelegten Gejegentwürfe haben 
mancherlei Phaſen durchgemacht, auf die hier nicht näher eingegangen werden fann. 
63 genüge die Bemerkung in Betreff des wichtigjten Punkts, daß in dem dem Reichs— 
tage vorgelegten erjten Entwurf der Plan der Errichtung einer „R.“, bzw. der Um— 
wandlung der Preuß. Bank in eine folche, fehlte, woran, neben anderen, politijchen 
und fonjtigen Gründen, auch das fpezielle Finanzintereffe des Preuß. Staats an der 
Preuß. Bank feinen Antheil gehabt hat. Auf Wunsch des Reichstags wurde jedoch 
die Aenderung dahin zielend vorgenommen, die Preuß. Bank, unter finanzieller 
Gntihädigung des Preuß. Staats, zur R. um und auszubilden. Die rechtlichen 
Schwierigkeiten, welche die einzelitaatlichen Bankprivilegien, beſonders auch die Elein- 
itaatlichen (j. 0.) wegen der Größe der Notenrechte, der Länge der Konzeſſions— 


366 Reichsbank. 
I} 

dauer u. j. w. bildeten, erledigte man großentheils jchon dadurch, daß man diele 
Notenrechte und die jonftigen Beiugniffe der Zettelbanten eben, nach jtrifter Inter: 
pretation, nur ftreng für das Staatögebiet des Konzejfionsftaats gelten ließ. Zur 
weiteren „freiwilligen“ Tügiamkeit der Banken unter die Beitimmungen des neuen 
Bankrecht? des Reichs brauchte man einerſeits einige andere, fich bietende Preifions: 
mittel und andererjeits einige in Ausſicht geftellte Erleichterungen und Begünftigungen 
(jo u. a. Bayern und feiner eines ausſchließlichen Notenprivilegs bis 1933 
fih erfreuenden Bank gegenüber, j. o.). Im Uebrigen jei zur Charakteriſtik der 
Reichägejeßgebung bemerkt, daß die lehtere bei vielem Richtigen und Guten, das fie 
erjtrebte und erzielte, von etwas zu viel Antagonismus, ja Animofität gegen die 
Notenausgabe, zumal die metalliich ungededte, und fpeziell gegen die Fleinjtaatlichen 
Zettelbanfen, aber theilweife auch gegen die Preuß. Bank und deren bisherige, be: 
jonders legtjährige Politit, vom erſten Gejegentwurf bis zur endgültigen Gejtaltung 
des Geſetzes getragen war. Much faljche oder doch einjeitige Theorien in Bezug auf 
die Funktion der Banknote fpielten dabei mit, offenbar ſchon in denjenigen Kreiſen, 
wo das Geſetz entworfen war. Einzelnes Ungwedmäßige, Kleinliche, mindeſtens 
Unnöthige ijt daher in das Gejeh gekommen. Weber einige wichtigere Punkte, jo ob 
die R. reine Staatd- oder Aktienbank werden, ob vollends fie auch der jog. „in 
direkten Kontingentirung“ (f. u.) zu unterwerfen fei, gehen die Anfichten noch jetzt 
auseinander. Im Ganzen wird man aber doch dem gegen den eriten Entwur 
wejentlich verbefjerten Gejeg das Lob ertheilen dürfen, daß es eine an fich jchwierige, 
unter den eigenthümlichen Deutichen Verhältniffen noch beionders verwidelte Materie 
befriedigend geordnet hat, — mindeitens für den zunächit ins Auge geiaßten Zeitraum. 
Diejer bildet eine Uebergangsperiode bis Ende 1890. Bon da an jteht, dant 
den Beitimmungen des Gejeßes, einer noch tiefer greifenden Umgeitaltung des Bank— 
rechts, aladann auf rein reichögejeglicher Grundlage, fein Hinderniß entgegen, da bie 
dahin alle Notenprivilegien erlöfchen, bzw. die Banken ſich ohne Weiteres allen 
Aenderungen der Gejeßgebung fügen müſſen. Ein centraliftifcher Zug ift in 
der Bankreform ohne Zweifel vorhanden, derjelbe ijt jeit der Wirkſamkeit des Geſetzes 
bereits jtärfer geworden. Ob man 1891 zur völligen Gentralifation der Noten: 
ausgabe übergehen will, kann noch dahin geitellt bleiben; unmöglich, ſelbſt unmwahr: 
fcheinlich ift e8 nicht, und ein rechtliches Hinderniß wird dann nicht beitehen. 

c) Die Bankgeſetzgebung des Reichs. Das nach langen Verhandlungen 
zu Stande gefommene „Bankgeſetz“ datirt vom 14. März 1875, feine Wirkſamkeit 
trat für einige Beitimmungen erſt am 1. Jan. 1876 ein. Zu diejem Gejeg kommt 
das Statut der R. vom 21. Mai 1875. In Verbindung mit dem Banfgeiet 
jteht der Vertrag zwifchen Preußen und dem Deutſchen Reich über die 
Abtretung der Preuß. Bank an das letere vom 17./18. Mai 1875, ein Vertrag, 
zu dem Preußen durch das Preuß. Gejeg vom 27. März 1875 (das ſich gleichzeitig 
auf die jorortige Ermächtigung der Preuß. Bank zur Errichtung von Zweiganſtalten 
im außerpreußifchen NReichsgebiet bezog) ermächtigt worden ift. Die Umwandlung 
der Preuß. Bank in die Reichsbank und die Erhöhung des Stammkapital derjelben 
ift durch zwei Bekanntmachungen des Reichöfanzlers vom 24. Mai 1875, bett. den 
Umtausch der Antheilfcheine der Preuß. Bank gegen folche der R., und ebenfalls 
vom 24. Mai 1875, betr. die Begebung von 20000 Stüd R.antheilen eingeleitet 
worden. In Bayern wurde über die Aufhebung des der dortigen Bayeriſchen 
Hypotheken- und Wechjelbant nach dem Geſetz vom 1. Juli 1834 zuftehenden aus 
jchließlichen Notenprivilegs und über die Errichtung einer jelbftändigen Bayerijchen 
Notenbank, die ganz dem R.geieß unterjtehen follte, ein Vertrag zwijchen dem 
Bayeriſchen Staate und jener älteren Bank am 20. März 1875 geichloffen, und 
durch ein Bayeriiches Gejeh vom 15. April 1875 wurden drei ältere Bayerische Geſetze, 
welche die Hypotheken- und Wechielbant betrafen, darımter das genannte vom 1. Juli 
1834 aufgehoben. Dadurch ijt in Bayern der Boden für die R.geſetzgebung geebnet 


Reichsbank. 367 


worden. Unter den zahlreichen Landes- und Reichsverordnungen, zu denen die neue 
Geſetzgebung den Anlaß gegeben, verdient die Hamburgiſche Bekanntmachung 
vom 19. Nov. 1875 hervorgehoben zu werden, durch welche, zur Ausführung des 
Beſchluſſes des Senats Und der Bürgerſchaft zu Hamburg vom 13./20. Oft. 1875, 
die alte Hamburger Girobanf vom Jahre 1619 nad) einer mehr als ein- 
vierteltaufendjährigen Wirkfamfeit am 31. Dez. 1875 aufgehoben, die Girokonten 
geichloffen und die nicht jaldirten Konten auf die neue R.hauptitelle übertragen 
wurden. Auf diejen Quaſiübergang der Hamburger Bank in die R. bezieht fi) auch 
ein Vertrag zwifchen dem Hamburger Senat und dem Preuß. Hauptbankdireftorium 
vom 7.11. Okt. 1875. Damit war wieder ein altes charakteriftiiches Stüd par: 
titularrechtlichen Münz- und Bankweſens, gewiß nicht das werthlofejte, vom Deutichen 
Boden verschwunden. 

d) Der Inhalt des R.rehts. Es kann fich Hier nur um die Angabe 
der wejentlichjten Beitimmungen Handeln. Für das Einzelne ift auf das Geſetz ſelbſt, 
auf das Statut der R. und die verjchiedenen Ausführungsverordnungen und Bes 
fanntmachungen zu verweifen. In vielen Punkten find die Anforderungen an ein 
rationelles Bankgejeg auf dem Boden des Syſtems des Notenregals und des Kon— 
zeſſionszwangs, welche in dem vorigen Abjchnitt IV. unter Nr. 5 dargelegt und 
begründet wurden, erfüllt worden. Auch für die Kritik der getroffenen Beſtim— 
mungen ift vornehmlich auf das früher Geſagte Bezug zu nehmen. Nur über ein 
paar Punkte wird im Folgenden noch eine fritifche Bemerkung hinzugefügt. 

Das R.gejeg zerfällt in fünf Titel. Der erjte enthält die allgemeinen 
Beitimmungen (58 1—11), zu denen auch die in Titel 4 befindlichen Strai- 
beftimmungen (58 55—59) zu rechnen find. — Der zweite Titel beichäftigt ſich 
mit der R. (55 12—41). Dazu gehört jpeziell das nach $ 40 des Bankgeſetzes vom 
Kaijer im Einvernehmen mit dem Bundesrath erlaffene Statut der R., ferner ein 
Theil der im Titel 5 enthaltenen Schlußbeitimmungen, bejonders $$ 61 und 62, 
wo die Grundlagen geſetzlich fejtgeitellt werden, auf denen der Reichsfanzler mit 
der Preuß. Regierung den Vertrag über Abtretung der Preuß. Bank an das Reich 
abzuichließen Hat. Auch $ 66 ijt hier noch zu erwähnen, welcher — vielleicht ein 
hors d’oeuvre, aber abfichtlich eingefügt, um allen etwaigen jurijtiichen Bedenken 
der Gerichte Rechnung zu tragen — vorjchreibt, daß „die Beitimmungen des HGB. 
über die Eintragung in das Handelsregiſter und die rechtlichen Folgen derjelben 
auf die R. feine Anwendung finden“, — Der dritte Titel des Bankgeſetzes endlich 
(SS 42—54) betrifft das neue R.recht für die „Brivatnotenbanten“ (jefiger 
technischer Name aller anderen Zettelbanten) und ijt verwaltungsrechtlich in mancher 
Hinſicht der intereflanteite. 

a) Allgemeine Vorſchriften. In dem „allgemeinen“ Bankrecht des 
zit. 1 find zum Theil die Bejtimmungen über Notenreht, Banknoten und Noten- 
ausgabe enthalten, welche oben unter IV. Nr. 1, dann Nr. 5 sub a und b ala be= 
ſonders wichtig hervorgehoben worden find. Doch finden fich die weiteren Vor: 
ichriften über die gegenjeitige Notenannahme unter den Banken und über 
die Notendedfung für die R. und die Privatnotenbanten in den Titeln 2 und 3. 

A Auch in dem Bankrecht des neuen Bankgeſetzes (gleich in $ 1) it die Haupt» 
beitimmung des Gejeßes vom 27. März 1870 beibehalten worden: „Die Befugniß 
zur Ausgabe von Banknoten kann nur durch ein Reichsgeſetz erworben oder 
über den bei Erlaß des gegenwärtigen Gejeßes zuläffigen Betrag hinaus erweitert 
werden.“ Nach der Sadjlage ganz mit Recht. 

Nach den weiteren bejonderen Vorjchriiten über die Banknoten — eine auch 
pridatrechtlich beionders wichtige Materie — dürfen diefe nur auf Beträge von 
100 (ein, gegenüber unjerem jchwer zu dedenden Goldgeldbedart wol zu hoch ge— 
griffenes, wenigjtens für die R. beſſer auf 50 Mark zu jtellendes Minimum), 200, 
500, 1000 Mark oder ein vielfaches von 1000 lauten. (Thatjächlich geben alle 


368 Reichsbant. 


beſtehenden Deutſchen Zettelbanken überwiegend 100-Marfnoten, etwa im Betrage 
von 60 Prozent des ganzen Notenumlaufs, aus, 200. Martnoien giebt es nur in 
einem kleinen Betrage bei der Provinzalaktienbant in Poſen, 500: Marfnoten bei der 
R., in relativ ſtarkem Betrage bei der Sächfiichen Bank ih Dresden und bei drei 
anderen Banken, 1000: Marfnoten nur bei der R., der Frankfurter und der Städtifchen 
Bank zu Breslau.) Die Banknoten haben ausdrüdlich feinen Zwangsfurs im 
Privatverfehr und auch nicht für Zahlungen an Staatsfaffen, fie find ſofort auf 
Präfentation zum vollen Nennwerth einzulöfen, die R.noten bei den Zweiganftalten 
der R., joweit es deren Baarbeitände und Geldbedürfniffe geftatten (S 18). Die 
Privatbanfen, welche ſich unter das RGeſ. ftellen ($ 44), müſſen außer am Sitz 
der Bank entweder in Berlin oder in Frankfurt a. M. eine Einlöjungsftelle für 
ihre Noten haben. Die R. muß die Noten diefer Banken in Berlin und an den 
Filialen in größeren Städten in Zahlung nehmen, darf diefelben aber nur zur Ein 
löfung präfentiren oder zur Zahlung an die Emiffionsbanf oder am Orte, wo letztere 
ihren Hauptſitz hat, verwenden ($ 19). Andererjeits müſſen die Privatbanten die 
R.noten und ihre Noten untereinander am Hauptfiß und an den Filialen in größeren 
Städten annehmen, dürfen aber die fremden Privatnoten ebenfalls nur jo verwenden, 
wie die R. ($ 44 Nr. 5). Durch diefe Vorfchriften wird die Umlaufsfähigkeit aller 
Noten al pari im ganzen Reiche ermöglicht, aber es werden die Privatbanknoten 
auch jtet3 wieder bald zur Emiſſionsſtelle zurücdgetrieben, jowie fie fich weiter davon 
entfernen. — Ausländij he Banknoten und ähnliche Werthzeichen,, welche ſich 
ausjchließlich oder daneben auf Deutjche Reiche oder auf eine Landeswährung be 
ziehen, dürfen im Reichsgebiet nicht zu Zahlungen verwendet werden. Ganz 
pafiende Vorichriften find auch für die Einziehung befchädigter Noten und für den 
Aufruf und die endgültige Einziehung von Noten gegeben, wodurch manchen früheren 
Mißbräuchen geftenert ift. Eine Verpflichtung, für vernichtete oder verlorene Noten 
Erſatz zu leiſten, — eine die Banknoten am Mteiften rechtlich dem Gelde gleichjtellende 
Beltimmung — ift ausgeſchloſſen. 

Weitere allgemeine Vorſchriften find über die Veröffentlichung viertel: 
monatlicher und jährlicher Bilanzen, nach beitimmtem Schema, gegeben. Ein 
jpezialijirteres Schema für die Jahresbilanzen hat der Bundesrath in einer 
Bekanntmachung vom 15. Januar 1877 aufgeitellt. 

Die Bankgeſchäfte anlangend, jo find allen Notenbanten, auch der R., die 
Acceptirung von Wechſeln (nicht die Weiterbegebung disfontirter Wechjel mit dem 
Giro der Bank — eine Befugniß, welche eine Bank zwar vorfichtig anwenden joll, 
aber nicht immer leicht entbehrt) und der Kauf oder Verkauf von Waaren oder 
furshabenden Papieren auf Zeit, einerlei ob für eigene oder fremde Rechnung, 
ſowie die Bürgfchaftsleiftung für folche Geichäfte unterfagt. 

Für den jog. ungededten Notenumlauf aller Banken ift ferner ein Nor: 
malgejammtbetrag von 385 Mill. Mark, eine ziemlich willtürlich gewählte 
Ziffer, fejtgeftellt und nach einem ebenfalls ziemlich willfürlichen Verhältniß auf die 
zur Zeit des Erlaffes des Gejeßes beftehenden 33 Zettelbanfen vertheilt. Als un: 
gedecdt gilt derjenige Theil des Notenumlaufs einer Bank, welcher den Baar: 
vorrath überfteigt. Unter leßterem wird aber nicht blos der baare Geld», 
betrag, jondern auch der Goldfonds in Barren und fremden Münzen, femer der 
Betrag an Reichslafjenjcheinen und an fremden Noten in der Bank verftanden. Auf 
die „R.“ fallen von jenem Normalbetrage 250, auf die anderen Banken 135 Mill. 
Mark, davon 32 auf die Bayerifche, 16 771000 auf die Sächfiiche, je 10 Mill. 
auf die Frankfurter, Wiürttembergifche, Badifche, Hefftiche (Bank für Süddeutichland), 
6 Mill. auf die Hannoverſche, 44, Mill. auf die Bremer Banf, der Reft vertheilt 
fi) in Beträgen von 5438000 (Leipziger Bank) bis herab auf 159000 Mart 
(Geſſen-Homburger Ban) auf die übrigen 24 Eleineren Zettelbanfen. Zugleich wurde 
(ähnlich wie in England) beftimmt, daß das betreffende ungededte Notengquantum 


— 
Reichsbank. 369 


von ſolchen Banken, welche ihr Notenrecht verlören oder aufgäben, dem Quantum 
der R. Hier zuwachſen jole.. Auf Grund dieſes „Ncerescenzrechts“ Hat die R. jetzt 
das betreffende Quantum von 15 Zettelbanfen, die ſeitdem auf ihr Recht verzichteten 
(zum Theil gegen Entichädigung, zu deren vertraggmäßiger Gewährung die R, er— 
mächtigt iit), übertragen erhalten, jo daß das Normalquantum der R. jet 273875 000 
Mark beträgt. 

Eine Notenausgabe über diejen Betrag hinaus ift num der R., 
wie den anderen Banken, — übrigens immer nur innerhalb der ſonſtigen reiche, 
landeögejeglichen oder ftatutarifchen Grenzen für die gefammte Notenausgabe, was 
deren Höhe und Dedung anlangt — zwar gejtattet, aber fie haben für die 
Ueberichreitung eine Steuer von 5 Prozent jährlich für den Betrag des Plus 
an die Reichsfafle zu entrichten, nach einem im Gejeg näher angegebenen Berech— 
nungsmodus ($ 10). Daher wird jenes eventuell ungededte Notenquantum auch 
als die „jteuerfreie“ Notenſumme und der Betrag, um welchen die jeweilig 
wirtlih „ungededte*“ Summe Noten hinter diefem jteuerfreien Betrag zu = 
rüdbleibt, als die „jteuerjreie Notenreſerve“ bezeichnet. Das ganze, 
etwas künſtlich ausgedachte und mechanische Syitem aber follte als eine „indi— 
tefte Kontingentirung“ des „ungededten Notenumlaufs“ wirken. Bei einer 
Epannung auf dem Geldmarkt, bei hochgehender Spekulation, bei Abfluß von Metall 
ins Ausland wegen jchlechten Standes der Wechſelkurſe jollte die Verminderung der 
Notenreferve eine Zettelbant nöthigen, das zu thun, was freilich in jolchen 
Fällen qgutgeleitete Banfen ohnehin in der Erfenntniß richtiger Diskontopolitik von 
jelbit thun werden: eine Erhöhung des Diskonts mit dämpfender Wirkung 
tür die Spekulation und Hindernder Wirkung für den Metallabfluß rechtzeitig 
und genügend eintreten zu laffen. Es ift dies ein ähnlicher Gedanfe, wie der der 
Peel'ſchen Acte bei der Englischen Bank zu Grunde liegende (j. oben III. 2). In 
der Ausführung wi) man nur ab, weil fich die Engliſche Vorfchrift zu ftarr 
mechanisch erwiejen und in den drei großen Krijen von 1847, 1857, 1866 jedesmal 
hatte vom Ministerium (gegen jpätere parlamentarifche Indemnität) fuspendirt werden 
müflen. Eine Verbejjerung diefes Mechanismus liegt auch ohne Zweifel vor 
und da die R. im Uebrigen, unter Innehaltung bejtimmter Dedungsvorfchriiten, ein 
unbeihränftes Notenrecht Hat, wird auch faum eine ähnlich nachtheilige, die 
Paniks fteigernde Wirkung der gejelichen VBorjchrift wie in England bei uns ein- 
treten können. Gine eigentliche Probe hat aber in dem verflofjenen Zeitraum noch 
nicht ftattgefunden, eine Ueberichreitung der gejtatteten jteuerfreien ungededten Noten— 
ausgabe nur bei wenigen Privatbanten in kleinem Maße (am meiften bei der Sächſ. 
Banf), weshalb denn auch bisher die Einnahme des Reich aus dieſer „Steuer“ 
ganz unbedeutend war. Bei den Privatbanfen wird es fich eventuell in kritiſchen 
Zeiten um rüdfichtölofe Einſchränkung der Disfontirung und des Notenumlaufs 
handeln, was unter Umftänden bedenklich werden fann, oder um fehr ſtarke, mehr 
als jachlich nothwendige Diskontoerhöhung, was ebenfalls nicht unbedingt gerecht- 
fertigt ift, ober endlich — und wol meiſtens — um vorübergehende Belaftung des 
Banfgewinnd mit der Steuer: dann wird aber der Zweck der Einrichtung nicht er- 
reicht. Bei der R. werden andere Rüdfichten doch wol mit Recht meift noch mehr 
maßgebend jein, als die, die Steuer auf den Verkehr abzumälzen. Da das Reich 
ohnehin den halben Gewinn dieſer Bank bezieht, fällt auch die Notenfteuer den 
Privateigenthümern der Bank nur eventuell zur Hälfte zur Laſt. Gerade um die 
R. in politischen und merfantilen Krijen ganz die fachlich richtige Stellung wählen 
und fie frei nach beiten Ermeſſen ihre Aufgabe erfüllen zu laffen, wäre e& wol 
beffer, wenn fie diefer „indirekten Kontingentirung“ nicht unterjtellt worden wäre. 
Dafür ſpricht auch die Gefchichte der Preußifchen und der Franzöſiſchen Bank. 

Bon diejen Vorfchriften find noch diejenigen zu untericheiden, welche das Geſetz 

für die jpezielle Notendedung feititellt. Diefe muß bei der R. und bei den— 
v. Holgenborff, Enc. II. Rechtslexikon III. 3. Aufl. 24 


370 Reichsbant. 


jenigen Privatbanken, welche allgemein im Reiche zugelaſſen ſein wollen (j. unten), 
die in Deutjchland übliche und bewährte „bankmäßige“ fein: mindejtens Y, 
des Notenumlaufs in kursfähigem Deutichen Geld, in Gold in Barren oder aus: 
ländiihen Münzen, oder in Reichskaſſenſcheinen (letzteres bedenklich, denn dieſe 
Scheine find eben fein Geld, aber, wie die Dinge liegen — ſ. oben —, eine kaum 
zu vermeidende Beitimmung), der Reit des Notenumlaufs durch disfontirte Wechſel 
mit höchitens drei Monat Berfallzeit und mindeſtens zwei, in der Regel drei guten 
Unterichriften (58 17, 45 Nr. 3). 

Tür die Strafbeſtimmungen, joweit fie allgemeiner Art find, ſei auf das 
Geſetz jelbjt verwiejen (SS 55 ff.) 

PB) Die „R.“ Sie iſt aus der Preußifchen Bank hervorgegangen. Der Preußiſche 
Staat zog am 1. Januar 1876 jein Einfchußfapital (5720400 Mark) und die 
Hälfte des Reſervefonds aus der Preußifchen Bank heraus und erhielt für die Ab: 
tretung feiner Rechte aus den Mitteln der R. 15 Mill. Mark. Zugleich blieb aut 
leßterer die Rente haften, welche die Preußische Bank nad dem Vertrag vom 
28./31. Januar 1856 bis 1. Juli 1925 dem Preußischen Staate im Betrage von 
1865 730 Mark zu leiften hatte. Für jpäter, wenn die Konzeffion der R. nicht 
verlängert werden oder feine andere Bank in diefe Verpflichtung eintreten follte, 
fteht eventuell das Weich dem Preußiſchen Staate für diefe Rente gut. Die R. 
wurde rein mit Privatlapital ausgejtattet, juriftiich aber nicht als eine förmliche 
Aktiengejellichait, jedoch als ein verwandtes Ynftitut, mit den Gigenjchaften einer 
juriftiichen Perfon und mit dem Hauptſitz in Berlin, errichtet. Das Kapital wurde 
gegenüber dem der Preußifchen Bank verdoppelt (120 Mill. Mark in auf Namen 
lautenden Antheilen zu 3000 Mark), worüber hinaus feine Haftung der Gigner 
ftattfindet. Die neuen Antheile wurden den alten Antheilseignern, die man jo zur 
Konverfion bereitwillig fand, für den Betrag ihrer bisherigen Preußiſchen Bank— 
antheile überlafien. 20000 neue Antheile wurden zu 130 Prozent begeben, ein 
„Agiogewinn“, welcher zur Abfindung Preußens und zur Dotirung des Reſerve— 
fonds die Mittel lieferte. Aus dem Neingewinn wird zunächit eine Dividende von 
4; Prozent vertheilt, aus dem verbleibenden Reit eine Quote von 20 Prozent dem 
Reſervefonds gutgefchrieben, bis Ddiejer ein Viertel des Grundkapitals (30 Mill. 
Mark!), der dann noch reſtirende Betrag des Gewinns fällt je zur Hälfte an die 
Eigner und an das Reich, doch nur bis zur Höhe von 8 Prozent Dividende an 
jene, von wo an das Reich ?/, des Ueberichuffes erhält. Die bisherigen Dividenden 
haben, troß der bedeutenden Entwidelung des Giro» und Depofitengefchäfts, den gan; 
übertriebenen Grwartungen zur Zeit des Grlafles des Geſetzes in feiner Weiſe ent: 
iprochen (Dividende von 1876—80 6,25; 6,29; 6,3; 5; 6 Prozent, eigentlich aber 
für einen Einſchuß von 130, nicht von 100 zu rechnen, aljo noch viel Eleiner). 
Auch die R. ift zunächft nur auf 15 Jahre, bis 1. Januar 1891, konzeſſionirt. 
Alzdann kann eventuell das Reich die Bank aufheben, die Grunditüde gegen den 
Buchwerth, die Anteile zum Nennwerth erwerben, der dann vorhandene Rejerve 
ionds geht zur Hälfte an die Antheilgeigner, zur anderen an das Reich über (er war 
Gnde 1880 16,42 Mill. Mark). Zu einer Verlängerung des Privilegs ift die Zu: 
jtimmung des Reichstags erforderlich. 

Die Berwaltungsorganijation der R. ift im Wefentlichen derjenigen 
der Preußiichen Bank nachgebildet. Die Leitung und Verwaltung ift in den 
Händen des Reichs, das dafür die betreffenden Beamten ernennt (Reiche: 
fanzler, R.direftorium, Reichsaufficht durch ein R.furatorium). Die Rechnungen der 
Bank werden vom Rechnungshof des Deutichen Reichs revidirt. Die Antheils: 
eigner nehmen an der Verwaltung nur durch die Generalverfammlung und durch 
den aus ihrer Mitte gewählten ftändigen Gentralausihuß Theil. Ueber 
jeine Stellung und Kompetenz ſ. die SS 31—35 des Bankgefeßes und auch das 
Bankjtatut. Gr hat zuzuftimmen zu Gefchäften mit den Finanzverwaltungen des 


Reichsbank. 371 


Reichs oder Deutſcher Staaten, für die nicht die allgemeinen Bedingungen des 
Bankverkehrs anwendbar find (K 35). — Auch an den provinzialen R.hauptitellen 
beitehen eventuell Bezirksausſchüſſe aus dem dort wohnenden Antheildeignern. 
Die R. hat — ähnlich, aber etwas abweichend von der betreffenden Faſſung 
der Preußiichen Bankordnung von 1846 — „die Aufgabe, den Geldumlauf im ge: 
fammten Reichögebiete zu regeln, die Zahlungsausgleichungen zu erleichtern und für 
die Nugbarmachung verfügbaren Kapitals zu jorgen“ ($ 12), allgemeine, wenig faß— 
bare Sätze ohne rechtliche Bedeutung, wie fie eigentlich in ein Gejeg nicht 
gehören, eine Neminiscenz älterer Auffaffungen. Der Geſchäftskreis der R. iſt 
der übliche folider Zettelbanfen, bier und da, jo im Lombardgefchäft, wol mit etwas 
zu weitgehender Entjcheidung von Details durch das Geſetz jelbit ($ 13). Wichtig 
it die (müngpolitifche, der Englifchen Bank nachgeahmte) Verpflichtung der Bant, 
Barrengold zum feiten Sa von 1392 Mark für das Pfund fein Gold umzutaufchen 
($ 14); jodann die Verpflichtung, unentgeltlich Für Rechnung des Reiche 
Zahlungen anzunehmen und bis auf die Höhe des Guthabens zu leijten (eine 
gleihe Berechtigung bejteht für die Bank in Betreff anderer Bundesftaaten). 
Unter Vorausſetzung der vorgejchriebenen Dedung darf die Bank beliebig viel 
(„nady Bedürfniß des Verkehrs") Noten ausgeben. Sehr bedeutfam war jchon 
bei der Preußischen Bank das Filialnetz. Die R. ift berechtigt, aller Orten 
im Reichögebiete Zweiganftalten zu errichten, der Bundesrath kann die Erridh- 
tung von folchen auch an bejtimmten Plägen anordnen. Anfang 1881 hatte die 
R. nicht weniger als 222 Anftalten (inkl. Berlin) verfchiedenen Ranges (R.haupt- 
ftellen, R.itellen, Mebenſtellen, Kommanditen, -Waarendepots), in diefer Hinficht 
alle großen Europäifchen Banken weit hinter fich laffend (Franzöſiſche, Defterreichtiche, 
Engliiche Bank). Mit Hülfe diefer Organifation vermochte die Bank in großartiger 
Weiſe ihr Girogejchäft zu Zahlungen auf Grund ftets Tälliger Depofitenguthaben 
an demjelben Orte und an anderen Orten, wo Bantjtellen find, zu entwideln. Sie 
bewerfitelligt diefe Zahlungen unentgeltlich für ihre Kunden und hat fich durch diefe 
Einrichtung die Verfügung über pr. pr. 125 Mill. Mark Geld verichafft, das freilich 
einen jehr beweglichen nnd infofern vorfichtig zu behandelnden Poften bildet und, 
nebenbei bemerkt, das ganze Syitem der „indireften Notenkontingentirung“ ziemlich 
illuſoriſch macht. — Bon ftaatlihen Einfommen- und Gewerbefteuern iſt die 
R. nebſt ihren Filialen gejeßlich befreit. 
Auf die Entwidelung der Gefchäfte der R. jeit 1876 ift hier nicht einzugehen. 
Die Bank hat unter der Flauheit in der Volkswirthſchaft mit gelitten. Bemerkens— 
werth ijt ihre (ob ganz richtige, jteht dahin) völlige Losſagung vom Geichäft 
mit verzinslichen Depofiten, auch der ehemals „öffentlichen“ u. j. w. der Preu— 
ßiſchen Bank, wogegen der Beitand der jtets fälligen unverzinslichen 
„Girofapitalien“, inkl. verwandter Posten und Reichsguthaben, zeitweilig 
ihon an 250 Mill. Mark erreicht hat. In Zeiten geringeren Kreditanjpruchs der 
Privaten (im Diskonto- und Lombardgeichäft) hat die Bank neuerdings ſtarke An 
lagen in Effekten bewerfjtelligt, — im Intereſſe ihrer Rentabilität, was nicht 
immer unbedenklich ericheint. Im Ganzen Hat fich aber ein Bedürfniß nach 
veränderter Gejeßgebung für die R. bisher auch in Nebenpuntten kaum fühlbar ge 
macht. Die Ausweiſe der Bank find immer mehr, gleich denen der Engliichen und 
Franzöſiſchen Bank, ein wichtiges Spiegelbild des Geldmarftes geworden. Zu wünjchen 
wäre nur, daß die Bank getrennt ihre Silber: und Goldbeitände veröffentlichte, was 
bisher nicht geichieht. 
y) Die Privatnotenbanfen. Allen Banken, welche zur Zeit des Grlafjes 
des Meichägejeßes die Befugniß zur Notenausgabe bejaßen und ausübten, damals 32 
(ohne die Preußische Bank), wurde dieſes Recht belaffen, doch durften fie außer: 
halb des Konzeſſionsſtaates Bankgefchäfte durch Zweiganftalten nicht be— 
treiben, noch durch Agenten für ihre Rechnung betreiben laſſen, noch als Gejell- 
24* 


373 Reihsbant. 


ichafter an Bankhäufern fich betheiligen ($ 42). Ebenjowenig durften ihre Noten 
außerhalb diejes Staates zu Zahlungen gebraucht werden (S 43). Das erite Verbot 
wurde mit einer jchweren, das zweite mit einer leichteren Gelditrafe bedroht (SS 58, 
56). Solche Verbote mußten vorausfichtlich bei der jeßigen Neugeitaltung des 
Banfrechts viel eher wirkſam werden, als die Verbote der fünfziger Jahre (f. oben 
III. Nr. 3). Den Eleinftaatlichen Banken, welche meist den Schwerpunft ihres Ge 
ichäfts außerhalb des Domizilitaates hatten oder doch anderswo Geſchäfte betrieben 
oder Noten umlaufen hatten, war fo das Leben jehr erichwert: die Abficht des Ge 
jeges. Deswegen konnte man erwarten, daß manche Banken fich gewiſſen Beſchrän— 
fungen unterziehen, um auch außerhalb ihres engeren VBaterlandes operiren zu können, 
oder auch von vornherein oder wenn ihnen diefe, ebenjalld noch läſtigen Beſchrän— 
tungen nicht behagten, ganz auf ihr Notenrecht verzichten würden. Das ift denn 
auch eingetreten. 

Zunächſt wurden diejenigen Banken, welche bis 1. Januar 1876 gewifle reiche: 
gejegliche Vorausſetzungen erfüllten, von dem zweiten, ihren Notenumlauf 
außerhalb des Konzeifionslandes betreffenden Verbot entbunden. Sie 
mußten namentlich ihre Geichäfte auf das Wechſel-, Lombard- und (mit einer wei- 
teren Beſchränkung) das Effektengeſchäft beichränfen, den Refervefonds aus dem 
Reingewinn ſtark dotiren, ihre Noten wie die R. deden, fie auch noch in Berlin 
oder Frankfurt einlöfen, fie gegenfeitig in Zahlung annehmen und die fremden Noten 
nach den oben mitgetheilten näheren Vorſchriften behandeln, auf gewwiffe Privilegien 
für ihre Noten verzichten und fich eine eventuelle Kündigung ihres Notenrechts bis 
1. Januar 1891 ohne Gntichädigungsanfpruch gefallen laffen ($ 44, Nr. 1—7). 

Ein weiteres Zugeftändniß, nämlich eine Befreiung von dem erſten Verbot, 
anderswo im Neichögebiet durch Zweiganitalten und Agenturen Bankgeſchäfte zu be 
treiben, wurde denjenigen Banken gemacht, die bis 1. Januar 1876 nachwieien, 
daß der Betrag der ihnen durch Statut oder Privileg geitatteten Notenausgabe auf 
den am 1. Januar 1874 eingezahlten Betrag des Grundfapitals eingejchräntt jei. 
Dazu traten eventuell fernere Grleichterungen in Betreff des Geſchäftskreiſes und der 
Dotation des Reſervefonds ($ 44). 

Die ih nicht fügenden Banken wurden außerdem mit der Nichterneuerung 
ihres Notenrechts, falls dafjelbe nach den Bundesgeiegen oder Statuten abliefe, be— 
droht. Es Hat fich gezeigt, daß dieje, allerdings jehr einfchneidenden Beitimmungen 
genügten, um die Banken faſt jämmtlich zur Beugung unter das Reichsgeſetz oder 
zum Verzicht auf die Notenbefugniß zu bringen. Schon nach Bekanntmachungen des 
Reichskanzlers vom 29. Dezember 1875 und 7. Januar 1876 waren, weil fie die 
betreffenden Bedingungen erfüllt hatten, für 10 Banken die genannten beiden Ber 
bote, für 6 andere wenigitens das zweite (wegen de Notenumlauis außerhalb des 
Konzeffionsftaates) außer Kraft gejegt. Wichtiger noch war, daß jchon Anfang 1876 
13 andere Banken (darunter die ſpäter jchmählich bantbrůchige ritterſchaftliche Pri— 
vatbank in Pommern, der ein großes Giro» und Clearinginſtitut darſtellende Berliner 
Kafjenverein, für den die Notenausgabe faft werthlos war, die Preußifche Privatbank 
zu Görlik, die Oldenburger Bank, die Lübeder Privatbank, die fieben Eleinftadtlichen 
Banken zu Weimar, Gotha, Gera, Meiningen, Sonderöhaufen, Deffau, Bückeburg, 
endlich fogar die Leipziger Bank mit einem fteuerfreien Notenbetrag von 5348 000 
Markt) auf ihre Notenbeiugniß ganz verzichtet hatten, weil fie es für 
vortheilhafter hielten, ohne diejelbe, von den Beichränfungen des Neichögejeßes befreit, 
Bantgeſchäfte zu betreiben (Bekanntmachung des Reichsfanzlers vom 1. April 1876). 
Bald darauf hat auch die kleine Landesbank in Homburg, 1877 noch die Rojtoder 
Bant, bisher alfo im Ganzen 15 Banfen, auf das Notenrecht verzichtet. Die ein: 
ige Bank, welche fih nicht gefügt hat, für deren Noten und Gejchäfte daher 
die genannten beiden Berbote und die ſich daran jchließenden Strafbeitimmungen in 
Kraft find, it die Braunſchweiger Bank (mit jteuerfreiem Notenbetrag von 


Reichsbank. 373 


2829000 Mark und im Durchſchnitt von 1879 wirklichem Notenumlauf von 2,488, 
ungededtem von 1,61 Mill. Mark). Es giebt daher im Reiche jet außer der R. 
noh 17 Notenbanten, von denen gerade die größten, die fünf mitteljtaatlichen 
(Bayer., Württemb., Bad., Heſſ., Sächſ.) und die Frankfurter feine Bankgeſchäfte 
außerhalb des Heimathsſtaates betreiben dürfen. Diefe 17 Banken haben einen 
fteuerfreien ungededten Notenbetrag von 111115 000 Mark, gegenüber den 273 875 000 
Mark der R. allein. Bayern wurde im Bankgefeß ermächtigt, feiner Bank einen 
‚ NRotenumlauf bis zu 70 Mill. Mark im Ganzen zu geftatten ($ 47). 

Für Abänderungen landesgejeglicher oder ftatutarischer Vorfchriften, welche 
für dad Notengefchätt relevant erjcheinen, ift die Genehmigung des Bundesraths er: 
torderlih. Das Reich hat auch ein Aufſichts- und Reviſionsrecht gegenüber 
den Zettelbanken, umbejchadet des landeöherrlichen. Endlich geht das Notenrecht 
außer durch Ablauf der Konzeffionsdauer, Verzicht, landesherrliche Verfügung nach 
Maßgabe der Statuten und Privilegien auch dur Eröffnung des Konkurs: 
verfahrens und durch Entziehung kraft richterlichen Urtheils auf 
Klage des Reichskanzlers oder der Regierung des Sihes der Bank im Fall gewiſſer 
Berlegungen des Geſetzes, Privilegs oder der Statuten, oder eines Verluſtes des 
Grundtapitals um ein Drittel, oder bei fehlender Einlöfung der präfentirten Noten 
(mit Spezialbeftimmungen in $ 50 Nr. 3) verloren. Für das Verfahren dabei ıc. 
1. die $$ 50—53 des Geſetzes. Bisher find Konkurſe und gerichtliche Entziehungen 
des Notenrechts nicht vorgelommen. 

Auf diefer gefeglichen Grundlage hat fich jeit 1. Januar 1876 das Deutiche 
Zettelbankweſen entwidelt.e Der Notenumlauf bat fich jehr vermindert, von März 
1873 mit 1440 und Ende 1874 mit 1325,4 Mill. Mark auf 1050,5—989,2— 
918,1—857,8— 990,1 Mill. Markt Ende 1875—79, September 1880 984 Mill. 
Marl. Bringt man aber die jeßt faſt ſämmtlich eingezogenen Noten unter dem 
Werthbetrage von 100 Mart, dem Minimum des jehigen Notenjtüds, in Abzug, 
die für 1874 539,6 Mill. Mark betrugen, jo erfcheint die Verminderung nicht 
einmal jo ſehr ſtark. Die wirtbichaftliche Krifis Hat dabei auch noch vermindernd 
auf den Notenumlauf gewirkt. Die in unjerem Gejeß einfeitig betonte Baardeckung 
ift relativ nicht gewachjen, auch wenn man, was jaljch ift, diefe Dedung jetzt nicht 
auf das bei der R. jo groß gewordene Girodepofitengefchäit mit in Anrechnung 
bringt. Inſofern find die Erwartungen der eifrigiten Befürworter der Noten- 
einfchränfung, in der Neichsregierung wie im Parlament, nicht ganz in Erfüllung 
gegangen. Jmplicite folgt daraus, daß die Verhältniffe vor dem Bankgeſetz nicht jo 
im Argen lagen, als öfters behauptet worden iſt. Die centraliftijche Tendenz 
des Bankgeſetzes hat fich mehr und mehr verwirklicht, indem die Quote der R.noten 
vom gefammten Notenumlauf eine größere geworden ift, fie ftieg jeit Anfang 1876 
von ca. 70 auf 80 Prozent. Wenn in 9—10 Jahren die bisherigen Notenrechte 
ablaufen, wird es auch thatjächlich nicht fchwer fein, ganz zum Notenmonopol über: 
zugehen oder, was auch jachlih Manches für fich hat, nur einige der größeren 
Banfen in den Mittelitaaten neben der R. beitehen zu laffen. 

Seieße u. ſ. w.: Die wichtigeren, bei. für Deutichland, find im Artikel felbft genannt. 

ar dad Bankgeſetz vom 14. März 1875 ift beſonders auf den forgfältigen und reichhaltigen 

ommentar (au auf bie parlamentariichen Verhandlungen u. |. w. näher eingehend) von 
A. Sötbeer, Deutiche Bankverfaffung, Erlangen 1875, mit Nachtrag 1881 (aus Bezold's 
Gejegebung bes Deutichen Reichs, 2. Theil, Staatd: und PVerwaltungsrecht, Bd. I. Heft 3 
und 6) zu verweilen. Ueber das Geſetz über Reichätaflenicheine j. ebenfallda Sötbeer in dem: 
ielben Werte, Die ug —— Deutichlande, ©. 181 ff., und N. Wagner in Hilde: 
branb’3 Jahrbüchern 1874, II. 54—61. 

Lit.: Dad Bank, auch at wird in ben Werfen über Verwaltungsrecht, 
dann in den nationaldfonomiichen Werten über Bankweſen und Bankpolitit und in denen 
über Bantgeihichte mehr oder weniger eingehend mit behandelt. Cine Heberficht über Deutfche 
Banfliter. bis 1875 ſ. bei Sötbeer, Die Bantverfaffung, ©. 401—407. Die beionders 
reichhaltige Engliiche und Franzoſiſche Lit. kann hier nicht genannt werden. — Ueber das 


374 Reichsbeamte. 


heutige öffentliche Zettelbankrecht u. — (Papiergeld) Deutſchlands ſ.: v. Rönne, 
Stantörecht des Deutſchen Reiche, 2. Aufl. II. 1. Abth. S. 265 268 ff. — Saband, 


Staatäreht des Deutichen Reichs (Tüb. 1878), “ ©. 380 eber das Preuß. Recht: 
= Rönne, Staatörecht der Preuß. Monarchie, Pr rn En — ©. 146 ff., 2. Abth. 
515 ff. Meber das Papiergeld, I. 1. Abth. ©. 448; . ©. 49 ). — lebe 


rd Pözl, Baper. Verwaltun ärecht, 3. Aufl. diye. er ‚472. — 8.0. Stein, 
Dt ber erioa tungalehre, 2, Aufl. De 1876), ©. 445 Hr. 538 ff. — R.v. Mopl, 

ee 3, Aufl. (Züb. 1866), II. 184, 185. Rösler, Soziales Ber: 
waltungsrecht, 2 . Abt, (Erl. 1873), ©. CR: 2. — Rau, Bo ——— 8. Aufl., 
Bd. II. ©. 483 71 ff.; Derielbe, Boltewizthicaftspolitit, 5. Aufl., Bd. I. ©. 1% fi. 
31 ff. — 1. a ner, Finanzwiffenihaft, 2. . 509—519. — Spez Vanie und 
Papiergeldlit.: O. a Die Banten, Leipz. 1a — M. Wirth, Bankweien (Bd. II. 
feiner NRationalölon.), 2 . Aufl, Köln 1874. — Geyer, Zettelbantweien, 1875. — Knie, 
Der Kredit, 2. Abth,, Berl. 1879 (bei. S. 215 ff, 417—478 über Notenbanten, in deren 
und in der Banknote Kuffaflung zum Theil abweichend vom Berfaffer). Zur weiteren Begründung 
ber Darlegung im obigen Artikel erlaubt fich Verf. auf feine — Arbeiten zu verweiſen, 
beſ.: Beiträge zur Lehre von den Banken, u 1857 ; Gelb: und Kredittheorie der Peel’ichen 
Acte, Wien 1862; alt ber Settelbantpo itik, 2. Aufl, Freib. 1873 (mit umfafjender 
Verarbeitung des legielat. und ftatut. Materiald und bei. —— des Bankrechts); 
Staatöpapiergeld, Reichstaffenfheine und Banknoten, Berl. 1874 (Kritik ber Reichslaſſenſchein⸗ 
Vorlage); Die ———— im Deutſchen Reich, Berl. 1875; dann die beiden größeren 
.. Dr ber Papiergeld und Zettelbankweſen in Blunt] li’8 Staats Bört-®. 
Bd. V — Für die Deutiche Bantgeihichte: |. Bars — önigl. Bank in Berlin 
(1765 - sn Bert 1854. — dv. Poſchingex, Bankgeſchichte Bayerns und anderer Deutichen 
Staaten, Erlangen 1874 ff.; Derfelbe, Banlweſen und Bankpolitik in Preußen, 3 Bde. 
Berl. 1878—1879. — Naife, Preuß. Bant, 1866. — Hedt, a und Bankvolitif 
in den lübddeutichen Staaten 1819— 1875, Jena 1880. Adolph Wagner. 


Reichsbeamte. Im Art. 18 der RVerf. iſt beſtimmt, daß der Kaiſer die 
R. ernennt. Damit hat nicht die Nothwendigkeit der direkten Ernennung eines 
jeden R. durch den Kaiſer ſelbſt ausgedrüdt fein ſollen; e8 genügt, wenn Die Er 
nennung im Namen des Kaifers und kraft eines auf denjelben zurücdtührenden Rechts 
itattfindet. Der $ 1 des RGeſetzes vom 31. März 1873 (R.G.Bl. ©. 61), 
in Uebereinftimmung mit dem Gefeg vom 2. Yuni 1869 über die Kaution der 
Bundesbeamten erweitert den Begriff. R. im Sinne diejes Geſetzes ift jeder Beamte, 
welcher entweder vom Kaiſer angeftellt oder nach Vorſchrift der RVerf. den An- 
ordnnungen des Kaiſers Folge zu leiften verpflichtet ift. Der gefehliche Begriff des R. 
deckt ich hiernach nicht mit dem Begriff: Träger eines Neichsamts. In einem Reiche: 
amt kann Jemand als Beamter regelmäßig nur durch den Kaifer angeftellt werden. 
Gewiſſe Reichsämter find aber derartig mit Landesämtern verbunden, daß die Landes— 
behörde als folche zugleich Reichsbehörde iſt, ohne daß die Mitglieder der Landes— 
behörde einer befonderen Anftellung im Reichsamt bedürfen. Dies gilt 3. B. von 
den Beamten der Preußiichen Staatsjchuldenverwaltung, die alfo, troß ihrer Befaffung 
nit veichgamtlicher Thätigkeit, lediglich Landesbeamte find. Auch giebt es Fälle, in 
denen die Berufung in das Reichsamt gejelich nicht vom Kaiſer, jondern vom 
Bundesrath oder vom Reichsſtag ausgeht. Hier find die Träger des Reichsamts 
nicht R. im Sinne des RGeſetzes. Die von dem einzelnen Staate innerhalb jeiner 
Zuftändigfeit und für die von ihm zu erledigenden Angelegenheiten bejtellten Beamten 
find an und für fich Yandesbeamte, fie bekleiden fein Reichsamt. Inſoweit fie aber 
nach der RBerf. den Anordnungen des Kaiſers Folge zu leiften verpflichtet find, 
werden fie troßdem als R. angejehen, ihr Dienjtverhältniß unterliegt den Bejtim- 
mungen des RGeſetzes. Hiernach find die im Art. 50 Abſ. 5 bezeichneten Telegraphen- 
und Poſtbeamten R., nach der Abficht des Geſetzes ebenjo die Militärbeamten (außer 
den Bayeriſchen), wenngleich dies im Geſetz genügenden Ausdruck nicht gefunden hat. 
Den Beamten der Reichsbank, die ein Reichsamt nicht bekleiden, und den Reiche: | 
tagsbeamten, die nicht unter $ 1 des R.gejehes fallen, iſt die Stellung als R. durd | 
bejondere gejegliche Beſtimmungen beigelegt. | 

Das Verhältniß als R. wird begründet durch die Anftellung, die nach S 4 | 
des RGeſ. fich durch Aushändigung der Anitellungsurfunde manifejtirt. Das Gefet 


Reihsfinanzweien. 375 


beitimmt nicht, daß Jemand ohne jeine Zuftimmung R. werden könne, es muß 
alio die Zurückweiſung der Anftellungsurfunde möglich jein. Der Uebernahme des 
Amtes ſoll die Ableiftung des Dienfteides vorangehen (S 3). Jeder R. hat die 
allgemeine Pflicht eines achtungswürdigen Betragens ($ 10); die Pflicht des 
Gehorfam® gegen die Geſetze jteigert fich bei ihm zur Pflicht der Treue, welche die 
Amtsverfchwiegenheit im fich schließt ($ 11), und zum dienſtlichen Gehorſam, 
ohne daß jedoch der Beamte deshalb aufhört, Für die Geſetzmäßigkeit feiner 
Öandlungen verantwortlich zu jein ($ 41); der Beamte hat überhaupt fein Amt 
der Berfaffung und den Gefegen entiprechend gewiſſenhaft wahrzunehmen ($ 10). 
Der ala Beamter zu einer Kautionäbeftellung verpflichtet ift, beitimmt das Geſetz 
($ 2) im Allgemeinen, die Einzelheiten find durch Kaiferliche Verordnung im Ein— 
vernehmen mit dem Bundesrath geregelt. Der R. hat das im Rechtswege geltend- 
jzumachende Recht auf die ihm zugeficherte Bejoldung und einen Wohnungsgeldzuſchuß 
in Gemäßheit des Gejeßes vom 30. Juni 1873 (R.G. Bl. S. 166), bei dauernder 
Verlegung in den Ruheſtand auf eine gejeglich bejtimmte Penfion, bei einjtweiliger 
Verfegung in den Ruheſtand auf Wartegeld. Auch der Wittwe und den ehelichen 
Nachkommen eines R. ftehen beitimmte Rechte zu. Die Art, wie dem Beamten 
Auslagen und Reiſekoſten zu erjegen find, ift gefelich geregelt. Die Anftellung eines 
R. gilt als auf Lebenszeit erfolgt, wenn nicht der ausdrüdliche Vorbehalt einer 
Kündigung oder des Widerrufs gemacht ift. 

Jeder R. — außer den richterlichen — muß fich die Verfehung in ein anderes 
Amt geiallen laſſen, fofern deſſen Rang und Dienfteinfommen nicht geringer find 
ala das bisherige ($ 23). Sonſt kann derfelbe feines Amtes ohne jeinen Antrag nur 
zur Strafe im Nechtswege oder im Diöziplinarveriahren beraubt werden. Bei 
Organifationsveränderungen und für die im 8 25 des RGeſ. bezeichneten Be— 
amten findet eine einftweilige Verjegung in den Ruheftand ftatt. Eine vorläufige 
Dienftenthebung kann ferner in Folge eines Strafverfahrens oder eines Disziplinar- 
berfahrens eintreten. 

Gin R., welcher die ihm obliegenden Pflichten verlegt, begeht ein Dienit- 
vergehen und hat Disziplinarbeitrafung verwirkt ($ 72). Als Strafen fommen vor 
die unter der Bezeichnung „Ordnungsſtrafen“ zufammengefaßten: Warnung, Verweis 
und Gelditraie (S 74), und die Entiernung aus dem Amte (S 75), die als Straf- 
verjegung oder Dienjtentlafjung im gerichtlichen Disziplinarverfahren erfannt twerden 
fann, während die Ordnungsitrafe im Verwaltungswege verhängt wird. Für die 
Mitglieder des Reichögerichts und gewiffe andere Beamte (RGeſ. $ 158) iſt ein Die- 
ziplinarverfahren nicht — 

Lit.: Freiherr v. Zedlitz-Reukirch, Die Rechtsverhältniſſe der R., Berl. 1874. — 
ſKtanngießer, Das Recht der Deutſchen R., Berlin 1874. — Laband, Deutſches Staats— 
zu Le 382. — Thudichum, Das RReht (in Hirth’3 Annalen, —— 

ect . 


Neichsfinanzweien. I. Prinzipielle Erörterung. Die finanziellen 
Mittel zur Erfüllung der Staatszwede zu beichaffen, ift die Aufgabe der jtaatlichen 
Finanzgewalt; diefelbe iſt eines der Hoheitsrechte, welche in ihrer Einheit die 
Souveränetät Eonftituiren, und theilt mit leßterer demnach auch die begrifflichen 
Merkmale. Im Bundesjtaat find die jtaatlichen Aufgaben getheilt zwiſchen Gentral- 
gewalt und Ginzelftaaten: beide bedürfen demnach finanzieller Mittel. In welcher 
Weiſe die inanzquellen, welche überhaupt für den Staat in Betracht fommen, im 
Bundesitaat zwijchen Gentralgewalt und Einzelitaaten zu vertheilen feien, ift lediglich 
Sache der pofitiven Gejeßgebung: prinzipielle Richtpunfte für die letztere find nicht 
vorhanden. Ebenſogut kann die Gentralgewalt auf die indirekte, die Einzelſtaaten 
auf Die direfte Bejteuerung der Unterthanen angewiejen jein als umgefehrt. Nur 
das iſt prinzipiell nothwendig, daß die Gentralgewalt ihre eigenen jelbitändigen 
Finanzquellen befige. Die Beichaffung der finanziellen Mittel für die Gentralgewalt 


376 Neihsfinanzweien. 


durch Beiträge der Bundesglieder, Matritularbeiträge, ift demnach als dem Begriffe 
des Bundesftaates widerjprechend zu erachten; Matrikularbeiträge find vielmehr ein 
Gharakteriftifum des Staatenbundese. Wie der lebtere nicht ein einheitliches ſtaat— 
liches Gemeinwejen, jondern eine Verbindung von mehreren jolcher Gemeinwefen ift, 
jo fehlt demjelben auch die eigene Finanzgewalt; was an finanziellen Mitteln für 
Zwede der Verbindung erforderlich, ift einfach auf die Bundesglieder zu matrikuliren, 
durch die Finanzgewalt derjelben zu beichaffen und aus den Kaſſen derjelben an die 
Bundesbehörde abzuliefern. Die Yinanzwirtbichaft eines Staatenbundes, welche auf 
Matrikularbeiträgen beruht, ift Sozietätswirthichait, wie der Staatenbund jelbit eine 
ftaatsrechtliche Sozietät ift. Dem Bundesftaat dagegen widerfpricht diejes Trinanz 
ſyſtem durchaus. Tür den Bundesjtaat, der eine eigene Finanzgewalt beſitzt, müſſen 
in jedem Falle auch Finanzquellen eröffnet werden, welche ausreichen, um die Be: 
dürfniffe der Gentralgewalt volljtändig zu deden: der Bundesjtaat als jelbjtändige 
Rechtsfubjelt muß unabhängig jein von den Beiträgen der Bundeäglieder. Der 
Staatenbund kann begrifflich feine „eigenen“ Ginnahmen haben, der Bundesitaat 
muß begrifflich „eigene“ Einnahmen haben, welche ausreichen, feine Bedürfnifje zu 
deden. Die hiſtoriſche Genefis eine Bundesjtaates mag es mit fich bringen, daß 
die finanziellen Bedürfniffe der Gentralgewalt zuerſt durch Matrikularbeiträge be- 
ichafft werden. Es wird aber die Aufgabe der Gejebgebung fein, die hierin Liegende 
Inkongruenz mit dem Bundesftaatäbegriff möglichit zu bejeitigen. Bei Aufrichtung 
des Norddeutichen Bundes, ebenjo bei verjchiedenen anderen Anläffen wurde die 
Richtigkeit diefer prinzipiellen Gefichtspunfte auch für den Deutichen Bundesitaat 
ſowol von Seiten der Regierungen, als auch der Volfsvertretung anerkannt und demnad 
die Inſtitution der Meatritularbeiträge nur ala proviforifcher Nothbeheli betrachtet. 

U. Reihsfisfus und Reichſeigenthum. Das Deutiche Reich als 
ſtaatsrechtliches Nechtsjubjekt ift nach allgemeinen Grundjäßen eigenthums-, erwerbe- 
und verpflichtungsfähig: das Reich ald Subjekt des Vermögenärechtes wird repräjentirt 
durch den Reichsfiskus, für welchen alle diejenigen Rechtsgrundfäße gelten, welche 
überhaupt für den Fiskus vorhanden find (Steuerfreiheit, Gerichtäftand ıc.). Das 
Reichsvermögen befteht aus allen zu Zweden der Reichsverwaltung dienenden Ver: 
mögengobjeften, Jmmobilien wie Mobilien,, welche entweder für dad Reich neu er 
tworben oder von den Ginzeljtaaten in das Eigenthum des Reiches übernommen 
wurden. Sauptbejtandtheile des Reichövermögens find ferner die Reichseiſenbahnen 
in Gljaß-Lothringen (Zuf. Art. 1 zum Frankfurter Frieden: der Kaufpreis von 
325 Mill. Franks wurde aus der Kriegskoſtenentſchädigung entnommen, dazu 
Geſetz vom 18. Juni 1873), ſowie folgende dauernd vorhandenen Baarfonde: der 
Reichskriegsſchatz und der Neichsinvalidentond. (Dazu kommen als provijoriich vor: 
bandene Fonds der Neichsfeftungsbaufond,, jowie der Reichstagsgebäudebaufond ; der 
allgemeine Betriebsfond für die Verwaltung ift in jedem Gtat neu zu bewilligen.) 
Der Reichäkriegsfchag bejteht in gemünztem Gelde und darf nur zu Kriegszwecken 
verwendet werden, die Zinjen des Invalidenfonds dienen in erjter Linie zur Ve 
zahlung der durch Kriege veranlaften Militärpenfionen ; außerdem werden noch ver: 
ichiedene andere Ausgaben, insbejondere die Chrenzulage der Inhaber des eiſernen 
Kreuzes auf die Zinjen des Invalidenfonds übernommen; der etwa vorhandene 
Zinſenreſt fließt in die Reichskaſſe. 

Mas zu Zweden der NReichöverwaltung an Immobilien und Mobilien neu be- 
ihafft wurde, jteht unzweifelhart im Gigenthum des Reiches, ebenjo was ausdrücklich 
von den Ginzeljtaaten dem Reich zu Gigenthum übertragen wurde. Außerdem find 
kraft pofitiver Vorſchrijt der Reichsgejeßgebung alle diejenigen Objekte, welche früher 
im Yandeseigenthum jtanden, nunmehr aber für Neichöztwede verwendet werden, in 
das Gigenthum des Neiches übergegangen, jedoch mit dem Vorbehalt, daß Rückgabe 
an bie Einzeljtaaten erfolgen muß, jobald die betreffenden Objekte unbrauchbar oder 
entbehrlich für das Neich werden, ohne daß ein Erjaß zu beichaffen ift. 


Reichsfinanzweſen. 377 


III. Die einzelnen Einnahmsquellen des Reiches. 1) Gebühren. 
a) Die ftaatlichen Funktionen werden vom Reiche theilweije ohne Entgelt, theilweije 
gegen Entrichtung von Gebühren bethätigt: jolche werden erhoben beim Reichsgericht, 
bei einzelnen der oberften Berwaltungsbehörden, bei den Konfulaten und den Gejandt- 
Ihaften. Dazu kommt noch die fog. ftatiftifche Gebühr, welche für die vorgejchriebene 
Anmeldung von Waaren, die die Grenze zum Zweck der Ein-, Aus- oder Durch- 
fuhr paifiren, erhoben wird. 

Erhebliche Bedeutung für die Finanzen des Reiches haben dieje Kategorien von 
Gebühren nicht. (Statiftiiche Gebühr im Etat für 1881 netto 300000 Mark, die 
verichiedenen Berwaltungseinnahmen etwas über 61/, Mill. Marf.) 

b) Bon großer Wichtigkeit für die Finanzwirthſchaft des Neiches dagegen find 
die Einkünfte aus dem Poſt- und Telegraphenweſen. Die Poft- und 
Telegraphenanftalten find im Gefammtgebiete des Reiches ala Staatsverkehrsanftalten 
organifirt und zwar unter Verwaltung der Gentralgewalt; nur Bayern und Württem- 
berg haben ihre jelbitändige Verwaltung ala Sonderrecht fich rejervirt. Die Ver— 
gätung, welche für Benutzung jener Staatöanjtalten des Reiches zu entrichten ift, 
fällt jomit ftaatsrechtlich auch unter den Begriff der „Gebühr“; die Gebühren Für 
Venugung der Reichspoſt- und ZTelegraphenanitalten fallen in die Reichskaſſe; 
die Höhe derjelben ijt für die Poftanftalten durch Geſetz, für die Telegraphenanftalten 
durch Verordnung des Bundesrathes normirt. 

c) Böllig unter den gleichen rechtlichen Gefichtöpunften find die Eljaß- 
Lothringischen Neichgeifenbahnen zu betrachten. Auch fie find gemäß den Be- 
fimmungen des Frankfurter Friedens, bzw. der hieran angeknüpften Reichsgeſetzgebung, 
Staatsanftalten des Reiches, die Vergütung für Benutzung derjelben jomit ftaatliche 
Gebühr, welche in die Reichskaſſe fällt. 

Die Beitimmung der RVerf. Art. 49, daß die Einnahmen aus den Poſt- und 
Telegraphenanitalten in erſter Linie zur Dedung der Ausgaben zu verwenden jeien 
und die „Ueberichüffe” in die Reichskaſſe fließen, ift gegenjtandslos: die Verrechnung 
der Einnahmen und Ausgaben erfolgt lediglich im Etat, ohne daß beide Poſten auf 
einander nothwendig influiren müßten; auch wenn jtatt „Ueberſchüſſen“ der Einnahmen 
Defizits vorhanden wären, müßte das Neich doch die Ausgaben für die „Staatsverkehrs— 
anftalten“ tragen (die Bruttverträgniffe von Poſt und Telegraphen betragen ca. 135, 
die Nettoerträgnifje ca. 18%/, Mill. Mark, die der Etienbahnen 36 u. 10 Mill. Mar). 

d) Unter die Kategorie der Gebühren jällt endlich noch derjenige Betrag, welcher 
an die Reichskaſſe von Privaten für Benußung der ftaatlichen Prägeanjtalten ent- 
richtet werden muß (Münzgeſetz Art. 12 Abi. 4). 

2) Reichsſteuern. Als jolche beitehen bis jeßt nur a) die Stempel: 
abgabe von Wechjeln (ca 6 Mill. Mark); b) die Stempelabgabe für 
Spielfarten (ca. 1 Mill. Marf). 

a) Alle Wechjel, welche im Deutjchen Reiche ausgeſtellt werden oder cirkuliren 
oder irgendwelchen anderen rechtlichen Funktionen genügen jollen, bedürfen eines 
ftaatlichen Stempel, für deſſen Ertheilung eine nach der Höhe des Wechſels ver- 
fchteden bemefjene Abgabe erhoben wird. Die Art der Erhebung diejer Abgabe ift 
die nämliche wie bei den Poft- umd Telegraphengeiällen, nämlich vermittelft zu 
löjender und auf den Wechjel aufzuklebender Marken. Doch kann hier der Begriff 
„Gebühr“ nicht verwendet werden, da feine „Anstalt“ des Staates benußt wird. 
Die Berwaltung der Reichöftempelftener erfolgt durch die Poitanitalten. 

b) Ebenfo bedürfen alle Karten, welche im Deutfchen Reiche zum Zwecke des 
Spieles jabrizirt oder verwendet werden, eines jtaatlichen Stempel, für deſſen Er- 
theilung eine bejtimmte Abgabe berechnet wird; der Stempel wird von den Steuer: 
behörden ertheilt. 

c) Ferner ift Hier zu nennen die allgemeine Steuer, welche von der Reichabant, 
ſowie von den übrigen, Noten emittirenden Banken unter gewiffen Vorausfegungen 


378 Reichsfinanzweſen. 


(Bankgeſetz $ 9), ſowie die ſpezielle Abgabe, welche von der Reichsbank aus ihren 
Grträgnifjen (ibid. S 24) an die Neichäfaffe zu bezahlen ijt (ca. 19, Mill. Mart). 

3) Die fog. indirekten Steuern (Berbrauchsabgaben). In die Reide- 
kaſſe fließen ferner prinzipiell die gejeglich firirten Steuerſätze für die Konſumtion 
folgender Artikel: a) Salz (f. d. Art. Salziteuer); b) Tabak (f. d. At. 
Tabaksſteuer); c) Branntwein (f. d. Art. Branntweinfteuer); d) Bier 
(j. d. Art. Bierfteuer); e) Zuder und Syrup (f. d. Art. Rübenyuder: 
jteuer. Aus der Neichäfafje find jedoch andererjeits diejenigen Steuervergütungen 
und Ermäßigungen in Bezug auf die bezeichneten Artikel zu bezahlen, welche au 
Geſetzen oder allgemeinen Verwaltungsvorichriiten beruhen, ferner die Rüderjtattungen 
für unrichtige Erhebungen, endlich die Erhebungs- und Verwaltungskoſten (RBer. 
Art. 38). GErimirt von der Neichögefeßgebung über die Befteuerung von Bier und 
Branntwein find Bayern, Württemberg, Baden, bezüglich des Bieres auch Eliah- 
Lothringen, ſowie die Großherzogl. Sächfifche Gemeinde Oſtheim und die Sachſen— 
Koburgiſche Ortſchaft Königsberg. 

4) Die Zölle (Etat von 1881/1882 für Zölle und Verbrauchsſteuern: 
3421, Mill. Mark.) Die Haupteinnahmsquelle der Reichafafje bilden die Zölle. 
Das Deutiche Neichögebiet ift nach Außen eine abgejchloffene Zolleinheit. Im 
Innern des Reiches dürfen Zölle beim MUebergang von Waaren aus einem 
Staate in den anderen prinzipiell nicht erhoben werden. Cine Ausnahme von dieiem 
Grundiaß bildet nur die Uebergangsabgabe, welche von Bier und Branntwein beim 
Uebergang aus den von der Neichögejeßgebung in diefem Punkt erimirten Staaten 
in das denjelben untertworfene KReichägebiet erhoben wird. Der Zolltarif für Import 
und Erport von Waaren in das oder aus dem Neichözollgebiet ift vor furzer Zeit 
vollitändig neu geregelt worden. Vom Neichszollgebiete find verfaffungsmäßig aus 
geichloffen die beiden Hanſeſtädte Bremen und Hamburg (bis 1868 auch Yübed); 
das Freihafenrecht diefer Städte (nicht aber die Eremtion der übrigen vom Reid: 
zollgebiet ausgeſchloſſenen Territorien) ift Rejervatrecht im Sinne von RVerf. Art. 78 ?. 
Zum Freihafenbezirt der beiden Hanſeſtädte gehört nach der Verfaffung auch „ein 
dem Zweck entiprechender Bezirk ihres oder des umliegenden Gebietes“ (RVerf. Art. 34). 
Die Abgrenzung diefes Bezirkes ift lediglich Sache des Bundesrathes, verfafjung: 
mäßig geichügt und zwar nach Maßgabe von RBerf. Art. 78? iſt nur das Frei— 
hafenrecht der Städte Hamburg und Bremen, aber auch diejes wurde feiner Zeit 
bei Berathung der Norddeutichen Bundesveriaffung nur ala Provijorium betrachtet 
(Hänel, Studien, I. 200 N. 96). Ausgeſchlofſen vom Neichszollgebiet find 
außerdem noch feine Gebietötheile von Baden, Preußen, Oldenburg (die gemaum 
Angaben ſ. bei Wagner, 593?, inzwifchen find allerdings noch weitere Modi— 
fifationen eingetreten); andererjeits gehört das Großherzogthum Luxemburg (Staat? 
vertrag vom 20./25. Oftober 1865) und die Dejterreichiiche Gemeinde Jungholz 
(Staatövertrag vom 3. Mai 1868), obwol nicht zum Reiche, doch zum Reiche 
zollgebiet. Die Eremtion der oben genannten Gebietstheile des Reiches vom 
Reichözollrecht ift nur eine negative; eine jelbjtändige pofitive Zollgeießgebung durch 
die betheiligten Einzelſtaaten ift dagegen nicht ftatthait. Die Zölle fließen nad 
der Verfaffung prinzipiell zur Reichskaſſe: abzüglich jedoch der auf Geje beruhenden 
Vergütungen und Ermäßigungen, der Rüderftattungen für unrichtige Erhebungen, 
jowie der Erhebungstoften (inkl. des Grenzichuges) an der Neichözollgrenze. Das 
verfafjungsmäßige Prinzip, daß die jämmtlichen Zolleinnahmen in die Reichatafie 
fließen, hat eine Modifikation erfahren durch S 7 des Gejehes vom 15. Juli 1879 
(„Antrag dv. Franckenſtein“); danach fließt nur der Betrag von 130 Mill. Marf 
Zollgefälle und PVerbrauchsabgaben in die Neichsfaffe, der Mehrbetrag ift an die 
Einzeljtaaten herauszubezahlen. 

5) Eine weitere Gruppe der Reichdeinnahmen bilden die Renten, welche das 
Reichsvermögen abwirft, in erfter Linie alfo die Zinjen aus belegten Reichafonds, 


Reichsfinanzweſen. 379 


jerner die Erträgniſſe von Privatgeſchäften, welche das Reich auf eigene Rechnung 
betreibt ; in leßterer Beziehung kommt bis jet nur die Reichsdruderei in Betracht 
(Renten ca. 5, Reichödruderei ca. 1 Mill. Mark im Etat für 1881). 

6) Matritularbeiträge (Etat von 1881/1882: 106 Mill. Mark). Soweit 
die eigenen Ginnahmsquellen des Reiches zur Dedung der finanziellen Bebürfniffe 
defielben nicht zureichen, find Beiträge von den Gingeljtaaten zu erheben. Die 
prinzipiellen Bedenken gegen diefen Modus der Beichaffung finanzieller Mittel für 
Erfüllung der Staatszwecke im Bundesjtaat wurden oben bereits erörtert: die Durch» 
führung der in der Verfaffung niedergelegten Grundfäge im Zujammenhang mit der 
neueren Zollgejeggebung würde auch eine Bejeitigung der Matrikularbeiträge zur 
Folge gehabt haben: die in der Verfaffung firirten eigenen Ginnahmsquellen des 
Reiches werfen dermalen einen höheren Ertrag ab, als welchen das Reich zur Er— 
füllung feiner Zwecke bedarf. Durch die oben bezeichnete Modifikation der Ver— 
fafung (daß der oben citirte $ 7 in der That eine Modifikation von Art. 38 Abi. 1 
der RVerf. enthält, wird kaum bezweitelt werden können), wonach nur 130 Mill. Mark 
in die Reichskaſſe, alle weiteren Einnahmen aber in die Kaſſen der Bundeöglieder 
fließen, werden die Matrikularbeiträge künstlich konjervirt. 

Die Matrifularbeiträge find von den Bundesgliedern nach Maßgabe ihrer 
ortsanwejenden jtaatsangehörigen Bevölkerung (Verordn. d. Bundesrathes v. 21. Dez. 
1868) zu erheben. Sie müſſen gejeglich im Etat firirt werden und find aladann 
vom Reichsfanzler für die Reichskaſſe „bis zur Höhe des budgetmäßigen Betrages“ 
einzuziehen, und zwar erfolgt die Einziehung in monatlichen Raten (RVerf. Art. 70). 
Erweiſt fich die etatsmäßige Firirung der Matrikularbeiträge ala unzureichend, jo 
muß die erforderliche Erhöhung durch Nachtragsgeſetz erfolgen; andererjeits kann der 
Reichskanzler auch die Matrifularbeiträge zum Theil unerhoben laſſen, falls die 
anderweitigen Einnahmen des Reiches zur Berriedigung der Bedürfniffe ausreichen. 

IV. Die Erhebung, Berehnung und Verwaltung der Reichs— 
einnahmen. Die Gentralbehörde für Verwaltung der Reichsfinanzen war ur- 
Iprünglich die Finanzabtheilung des Reichskanzleramtes; die jelbjtändige Konftituirung 
des Reichsſchatzamtes erfolgte durch KHaiferl. Verordn. vom 14. Juli 1879 
(RG.Bl. 196); der Reichsſchatzſekretär wurde gemäß dem Geſetz vom 18. März 
1878 zum ‚verantwortlichen Stellvertreter des Reichskanzlers ernannt (Reichsanzeiger 
vom 18. Aug. 1879). Vom Schakamt reffortirt insbefondere die Reichshauptkaſſe, 
fowie die Reich&beamten und Neichöbehörden für das Zoll- und Steuerwejen. 

Mit der Finanzverwaltung des Reiches ftehen noch in Zufammenhang die Ver— 
waltungsbehörden der jelbitändigen Reichsfonds, nämlich des Reichsinvalidenfonds, 
ſowie des Reichskriegsſchatzes; diejelben find jedoch nicht dem Reichsſchatzamt, jon- 
dern unmittelbar dem Reichskanzler unteritellt; die gleiche ftaatsrechtliche Stellung 
hat das Reichöbankdireftorium. — 

Die Erhebung der Gebühren, welche für die Benutzung von Reichsanftalten zu 
entrichten find, geichieht durch die den betreffenden Behörden beigeordneten finanziellen 
Organe, von welchen die Abrührung der eingenommenen Beträge direkt an die Reiche» 
kaffe erfolgt. Hinfichtlich der Abrechnung der Poſt- und Zelegraphengeiälle bedurfte 
es bei dem vor 1867 jo überaus fomplizirten Zuftande der Berwaltung diefer 
Anstalten eines längeren Webergangsitadiums, um die Prinzipien der Verfaffung zu 
voller Durchführung bringen zu können (RVerf. Art. 51). Der Abichluß dieſes 
Uebergangsitadiums trat mit dem Jahre 1880 ein (Baden, Eljaß - Lothringen; vgl. 
hierüber Meyer, ©. 545). Die Gefälle der Posten, Telegraphen und Reichseiſen— 
bahnen werden nunmehr von den einzelnen Behörden und Beamten erhoben und 
durch die provinziellen Gentralinftanzen an die Reichskaſſe abgeführt. — 

Was die Reichafteuern betrifft, jo wird die Abgabe für den Wechjelitempel 
durch die Organe der Pojtverwaltung erhoben und zugleich mit den Pojtgefällen 


380 Neihsfinanzweien. 


verrechnet, jedoch unter jelbftändiger Buchtührung. Die Wechjelitempeliteuer muß 
genau nach dem Grtrage in den Ginzelftaaten berechnet werden, da gejetlich jedem 
Einzeljtaat 2 Progent von den in feinem Gebiete fällig gewordenen Beträgen dieler 
Steuer auszubezahlen find; die übrigen 98 Prozent fließen direkt in die Neichstafie. 
Für Bayern und Württemberg, wo die Poftgefälle in die Landeskaſſen fließen, wird 
doch die Wechfelitempelfteuer ebenfo wie für das übrige Reichsgebiet erhoben und 
berechnet. Der Ertrag der Steuer wird periodiich im Gentralblatt publizirt. 

Der Spielfartenitempel wird durch die Steuerbehörden (vgl. die Angabe der 
bier in Frage kommenden Steuerbehörden im Gentralbl. 1880, ©. 669) ertheilt und 
die Gebühr von »diefen verrechnet und zur Neichsfaffe abgeführt. Auch Hinfichtlic 
diefer Steuer muß der Ertrag in jedem Einzelſtaat fejtgeftellt werden, da geſehlich 
jedem Ginzelitaat 5 Prozent für die Verwaltungskoften hinauszubezahlen find. 

Die Banknotenfteuer wird direft von den betreffenden Banken zur Reichatafle 
abgeführt. 

-Die Erhebung der Verbrauchsiteuern und der Zölle erfolgt durch einzelitaatlice 
Behörden im Namen des Reiches (nur in Hamburg und Bremen find Reichäzoll: 
ämter). Die Zolleinheit der Deutichen Staaten ift viel älter ala die ſtaatsrecht— 
liche Einheit des Reiches. Die Genefis der heutigen Zollgejeßgebung beruht im 
legten Ende auf der berühmten Preußifchen Zollreorganijation vom Jahre 1818. 
Dem Preußifchen Zolliyiteme jchloffen fich allmählich die meiften Nord» und Mittel: 
deutjchen Kleinftaaten an, weiterhin auch in Folge der Initiative König Ludwig 1. 
Bayern, jo daß vom 1. Januar 1834 ab der größte Theil von Deutichland eine 
Zolleinheit gegenüber dem Auslande bildete. Die jo hergeftellte Zolleinheit kraft 
Staatövertrages blieb in der Hauptiache big zur Aufrichtung des Norbdeutichen 
Bundesftaates unverändert. Durch leßtere wurde die biäherige völferrechtliche Ber: 
bindung in eine ftaatsrechtliche Einheit umgewandelt (auch für die Süddeutichen 
Staaten geſchah dies Schon 1867). Die Zollgejeggebung richtet fich ſeit dieſer 
Umgeftaltung einfach nach den allgemeinen Normen für bie Bundesgejehgebung: die 
Zollverwaltung dagegen blieb im MWejentlichen jo erhalten, wie fie jeiner Zeit 
unter der Herrſchaft des völferrechtlichen Zollbündniffes eingerichtet worden war. 

Die Verwaltung des Zolle und indirekten Steuermwejens durch die Behörden 
der Einzelſtaaten hat jedoch nach gleichheitfichen — an geichehen, demgemäh 
wurden durch den YZollvereinsvertrag von 1867 (Art. 3 5 Art. 16 3. 4) ge 
meinjame Grundzüge für die Organifation dieſer Behörden hart Die materiellen 
Grundjäße ferner, nach welchen die Verwaltung zu gejchehen hat, beruhen entweder 
auf der Reichögefeßgebung oder auf Verordnungen des Bundesrathes. Die Durd— 
führung diefer Normen wird endlich in Beziehung auf die Gleichmäßigkeit Lontrolirt 
durch befondere Reichsbeamte. Seit den Zeiten des Zollvereins erfolgt jene Kontrol: 
in der eigenthümlichen Weife: daß höhere Zollbeamte des einen Staates unter for: 
meller Aufrechterhaltung ihres einzeljtaatlichen Beamtenverhältnifjes mit der Weber: 
wachung eines beftimmten Zollbezirfes eines anderen Einzelitaates beauftragt werden. 
Dieje Kontrolbeamten führen jet den Titel: Neichöbevollmächtigte für Zoll und 
Steuertvefen und werden vom Kaiſer ernannt; unter den Bevollmächtigten stehen 
noch Stationsfontroleure (RVerf. Art. 36 Abi. 2). 

Die Zolle und Steuererträgnifje werden dem Weiche zur Verfügung geitellt, 
„Sobald diefe Zölle und Abgaben nach den bejtehenden Gejegen und den über die 
Friſten der Zoll- und Steuerkredite getroffenen Verabredungen für ihre Kaſſen fällig 
geworden find“. Ebenfo werden die Steuern behandelt (Etatsgef. vom 4. Dez. 187183). 


Die Abrechnung geichieht in folgender Weile (RBeri. Art. 39): alle Nemter, welchen 


die direkte Erhebung der Zoll- und Gteuergeiälle obliegt, haben an die ihnen 
vorgejegten Hauptämter Monats- und Cuartalberechnungen einzujenden ; von den 


Hauptämtern find diefe Rechnungen zu prüfen und alsdann den einzelftaatlichen 


Gentrals(Direktiv-)Behörden einzufenden; von Seiten der leßteren hat Mittheilung 


NReihsfinanzweien. 381 


an die Reichsbevollmächtigten zu erfolgen. In gleicher Weife find nach Ablauf des 
ganzen Rechnungsjahres Finalabſchlüſſe Herzuitellen. Nach Abſchluß der einzelftaat- 
lichen Rechnungsmanipulation erfolgt die definitive Feititellung der Rechnung von 
Reichemegen. Die Hiermit betraute Behörde ift der Bundesrath durch jeinen Auge 
ſchuß für Rechnungsweſen, das ehemalige Centralbureau des Zollvereins. Dieſem 
Ausihuß Haben die einzelſtaatlichen Centralbehörden ihre Rechnungsabſchlüſſe, in 
Sauptüberfichten, nach den einzelnen Abgaben geordnet, einzureihen. Danach wird 
quartaliter diejenige Summe fejtgeftellt, welche der betreffende Ginzelftaat an bie 
Reichskaſſe abzuführen Hat, indem von dem Bruttoertrag die Koſten abgezogen werden, 
welche von Reichswegen den Einzeljtaaten vergütet werden müſſen. Endlich jet das 
Menum des Bundesrathes den zu entrichtenden Baarbetrag definitiv feſt, nachdem 
dor die Berechnung des NRechnungsausichufles dem Einzeljtaate notifizirt und ihm 
dadurch Gelegenheit zur Rüdäußerung geboten war. Die Summen, welche den 
Ginzelitaaten auf Grund der neuen Zollgejeßgebung binauszubezahlen find, werden 
als Ausgabepojten in den Etat eingejtellt. 

Bon der zur Reichskaſſe einzuziehenden Summe der Zoll- und Steuergefälle 
tommen in Abzug: 1) die Vergütungen und Ermäßigungen, welche auf Gejegen oder 
allgemeinen Verwaltungsvorſchriften beruhen. 2) Rüderjtattungen für unrichtige 
Erhebungen. 3) Die Erhebungs- und Berwaltungsfojten, und zwar a) bei der 
Salziteuer die Bejoldung der mit Erhebung und Kontrolirung diefer Steuer auf 
den Salzwerfen beauftragten Beamten. b) Bei der Zuder- und Tabaföjteuer werden 
die zu vergütenden Verwaltungsfojten vom Bundesjtaat für jeden Ginzeljtaat jpeziell 
teitgeitellt. c) Bei den übrigen Steuern erhält jeder Einzelftaat für Verwaltungs— 
koſten 15 Prozent der geſammten, in feinem Gebiet erzielten Einnahme. d) Bei den 
Zöllen werden die Koften für den Grenzihug und für alle Erhebungsbehörden an 
der Zollgrenze zwar vom Weiche vergütet, dagegen nicht die Koiten für die 
übrigen Verwaltungsbehörden (RVerf. Art. 38). 

Der Betrag der zur Reichskaſſe geflofienen Ginnahmen wird in Quartalüber- 
fichten im Gentralblatt für das Deutiche Reich publizirt. 

V. Die finanziellen Sonderrehte. 1) Das Reichsgeſandtſchaftsweſen 
wird aus der Reichskaſſe beitritten, alle Bundesglieder tragen die Laſten diefer In— 
ſtitution in gleicher Weiſe. Gejandtichaiten der Bundesglieder hingegen find aus— 
ſchließlich von diejen zu beftreiten; nur Bayern, Sachſen, Württemberg und Braun: 
ſchweig erhalten eine Vergütung aus der Reichskaſſe für die durch das Beitehen von 
Landesgeſandtſchaften den Reichsgeſandtſchaften erwachſende Geſchäftserleichterung, 
ſowie Bayern für die eventuelle Vertretung des Reiches durch ſeine Geſandten 
(Berfailler Schlußprotofoll VII. VIII). 

2) Soweit einzelne Bundesglieder von der Kompetenz einzelner Reichabehörden 
erimirt find, tragen fie zu den Koſten derjelben nicht bei, jo die drei Süddeutſchen 
Staaten nicht für die Kontrole der Bier- und Branntweinbejteuerung, Bayern nicht 
für dad Bundesamt für Heimathweſen, die NReichänormaleichungstommiifion. 
Andererjeitö zahlen einzelne NReichätheile einen Mehrbetrag für gewifje Inſtitutionen, 
io Preußen für das Auswärtige Amt. Die angeführten Beifpiele erichöpien die in 
diefer Beziehung vorhandenen Sonderrechte nicht. Ihren rechnerischen Ausdrud finden 
diefe Sonderrechte bei Feititellung der Matrikularbeiträge. 

3) Neben den 40 Direktionen, in welche das Reichäpoftgebiet getheilt iſt und 
welche in direkter Verrechnung mit der Reichäfafje jtehen, haben Bayern und Württem- 
berg ſich ihre jelbjtändigen Poitverwaltungen rejervirt, deren Gefälle in die betreffenden 
Sandestaflen fließen. Dafür bezahlen die beiden genannten Staaten je eine bejtimmte | 
Summe alö Nequivalent an das Reich an Stelle der für ihre Landeskaſſen ein— 
zezogenen Poftgefälle; diejes Averfum wird in die Matrifularbeiträge eingerechnet. 

+) Bon der Reichägefehgebung über die Beiteuerung des Bieres find frei Bayern, 
Mürttemberg, Baden, Elſaß-Lothringen. In diefen Theilen des Reichsgebietes iſt 


- 


382 Reichsfinanzweſen. 


die Bierbeſteuerung durch die Landesgeſetzgebung zu regeln, und die Steuer jelbit 
fließt in die Landesfaflen. Dafür bezahlen die betreffenden Staaten je ein Averfum 
an die Reichskaſſe, welches für die drei eritgenannten Staaten in die Matrifular: 
beiträge ein», für Elſaß-Lothringen aber jelbjtändig berechnet wird. 

5) Die sub 3 angegebenen Süße gelten für die angeführten Staaten, aus— 
genommen Elſaß-Lothringen, ebenjo binfichtlich der Beiteuerung des Branntweins. 

6) Die vom Reichszollgebiet ausgeichloffenen Gebietötheile des Neiches bezahlen 
anjtatt der Zölle ebenfalls ein beitimmtes Averfum zur Reichskaſſe, welches nad) 
der Bevölkerungsziffer (die Zollabrechnungsbevölkerung iſt alle drei Jahre feitzuftellen, 
Zollvereins-Vertrag Art. 11) zu berechnen ift, wozu für die Städte Bremen 
und Hamburg noch ein Mehrbetrag von 3 Mark pro Kopf der Bevölkerung ge 
ichlagen wird. 

VI. Die formelle Feititellung derReichseinnahmen und Reichs— 
ausgaben. Die jämmtlichen Einnahmen und Ausgaben des Reiches find nad) der 
Verfaſſung alljährlich in einen genau geordneten Voranſchlag zu bringen, der 
durch Geſetz feftgeitellt wird (Reihshaushalt, Etat, Budget, RVerf. Art. 69). 
Ueber die rechtliche Natur des Budgetgeſetzes bejteht in der Theorie ein mit großer 
Lebhaftigkeit geführter Streit: nach der Meinung von Gneijt und Zaband, 
welcher fich faft alle Theoretifer des Staatsrechtes angejchloffen haben (ausgenommen 
nur dv. Rönne), iſt das Budgetgeſetz fein Gejeg im materiellen Sinne de 
Mortes und fteht in Konſequenz hiervon auch nicht unter den für „materielle 
Geſetze geltenden Nechtsgrundjägen, wobei e8 dann gleichgültig ift, ob man 
dem Budget den Charakter des Geſetzes überhaupt abſpricht (Gneiſt) oder ob 
man eine bejondere Kategorie von „formellen“ Gejeßen fonftruirt, denen alle 
rechtlichen Eigenſchaften der Gejeße fehlen, da fie nicht „Rechtsvorſchriften“, Ton: 
dern „Rechnungspoften“, „Wirthichaitspläne“ u. dgl. enthalten (Zaband). Eine 
juriftiiche Bafis wird fich für diefe Lehre vom Budget nicht gewinnen lafjfen, wie 
dies auch neuerdings v. Martitz treffend ausgeführt hat. Mag man politijch mit 
Gneift noch jo lebhaft von der Reformbedürftigkeit des Deutjchen Budgetrechtes 
überzeugt fein, juriftiich werden für das Budgetgeſetz feinerlei andere Grundiäge 
maßgebend jein können als für alle übrigen Gejeße. Der juriftiiche Sinn des Bud— 
getgeießes wird aber hiernach dahin bezeichnet werden müffen: die gefammte Finanz— 
wirthichaft des Reiches ift alljährlich auf gejegliche Grundlage zu ftellen, indem durd 
„Voranſchlag“ auf Grund der bisherigen Erfahrungen und Berechnungen 1) die Ein: 
nahmepojten approrimativ firirt werden; dadurch wird der Regierung einmal die 
juriftiiche Möglichkeit gegeben, die betreffenden Ginnahmen nach Maßgabe der vor 
bandenen Geſetze für das Gtatsjahr überhaupt zu erheben (Zölle, Steuern, Gerälle xc.); 
die dauernd für die einjchlägigen Materien vorhandenen Gejege bedürfen jomit, um 
ausgeführt werden zu können, alljährlich eines neuen, bejonderen Ausführungsgeiekes, 
als welches das Budgetgejeß in feinen auf die Einnahmen bezüglichen Pofitionen 
fi) darſtellt. Die Berechnung der einzelnen Poften ſelbſt kann freilich der Natur 
der Sache nad) nur ein „Voranjchlag“, eine approrimative Feſtftellung jein und bat 
wejentlich nur rechnerifche Bedeutung. Wird diefer Anſchlag nicht erreicht, fo iſt 
es die Aufgabe der Gejeßgebung, auf dem Wege eines Nachtragsgejehes das Grior- 
liche anzuordnen, wird der Anjchlag überjchritten, jo wird über den erzielten Ueber: 
ſchuß gleichialls durch Nachtragsgeieß oder bei Gelegenheit des nädhitjährigen Etate 
zu bejtimmen fein. Immer aber werden Ausjälle wie Weberichüffe gegenüber dem 
Voranſchlag auf geielichem Wege wie der Etat ſelbſt zu reguliren jein. 2) Dir 
zweite Gruppe des Etats bilden die Ausgabepofitionen. Auch fie können nur 
approrimativ, nur im „Voranſchlag“ in das Gejet eingeftellt werden. Der juriftiiche 
Sinn dabei ift auch Hier zumächit der, daß die Regierung die betreffenden Ausgaben 
für die im Geſetz bezeichneten Zwecke überhaupt zu machen juriſtiſch berechtigt iſt 
Es bedürfen alſo die Geſetze, welche jene Inſtitutionen dauernd normiren, hinſichtlid 


Neihsfinanzweien. 383 


der hierfür erforderlichen finanziellen Mittel eines alljährlich zu erneuernden Aus— 
führungsgejeßes. Dabei ift die Regierung binfichtlich der Ausgaben an die im Gtat 
vorgeichriebene Zwedbeitimmung gebunden. Griparnifje an den im Gtat bejtimmten 
Ausgabepofitionen, welche ohne Gefährdung des zu erreichenden Zweckes gemacht 
werden können, dürfen demnach nicht ohne Weiteres auf andere Pofitionen übertragen 
werden, es muß vielmehr über diejelben durch Nachtragsgejeg oder im nächitjährigen 
Gtat verfügt werden. Ebenſo bedarf jede Mehrausgabe, die nicht im Etat vorgejehen 
it, gejeglicher Unterlage; unzweifelhaft wird die Regierung in dringenden Fällen 
auch ohne vorherige Bewilligung jolche Mehrausgaben zu machen für befugt erachtet 
werden müſſen, vorbehaltlich jedoch immer der von der Volfävertretung zu erholenden 
„Indennität“. Wird diejelbe verweigert oder wird die Bewilligung des gejammten 
Budgets von der Volksvertretung verweigert, jo fehlen für folchen Fall Rechts ſätze 
gänzlih. Selbjtverftändlich wird in ſolchem Falle der Gang der Staatöverwaltung 
micht eingejtellt werden dürfen, eine formell juriftiiche Grundlage aber für diefen 
Zuftand wird vergeblich auf dem Wege fünftlicher Konſtruktionen gejucht werden. 
Daß gerade bezüglich der ftaatlichen Finanzwirthſchaft mehr als in allen übrigen 
Funktionen des Staotes ein Zuſpitzen der geltenden Rechtsſätze bis zu ihren äußerſten 
Konjequenzen leicht verhängnißvoll für das Staatöleben werden kann, daß die ruhige 
Entwidelung eines Staates gerade auf diefem Gebiete mehr als auf jedem anderen 
von einem verftändnißvollen Zufammenwirken der Regierung und der Volksvertretung 
bedingt ift, muß gewiß zugegeben werden. Dies berechtigt aber nicht dazu, die be— 
ftehenden Nechtsjäge überhaupt ala nicht vorhanden zu betrachten oder durch künſt— 
lie Konjtruftionen oder Eremplififationen auf fremde Rechtsjyjteme aus dem Wege 
zu ſchaffen. Darin aber hat Gneiſt in jedem Falle Recht, daß unjer Deutiches 
Budgetrecht dringend der Vereinfachung bedarf; je mehr die Einnahme» und Aus 
gabepofitionen auf wenige große Kategorien reduzirt werden (wie dies in England 
der Fall), dejto weniger Anhaltspunkte für muthwillige und frivole Konflikte werden 
fh bieten, und die Regierung würde dadurch die gerade auf dem Gebiete der 
Finanzwirthſchaft erforderliche Freiheit der Bewegung gewinnen, welche durd) das 
geltende Recht und die dermalen geübte Praris allerdings ungebührlich bejchränft iſt 
(vgl. d. Art. Budget und darin jpeziell die Angaben über das Englische Recht). 
Der weitaus bedeutendjte Beitandtheil der Ausgabepofitionen des Reichshaus— 
haltzetatö ijt der Militäretat (im Voranjchlag für 1881/1882 372 Mill. Mark, 
einschließlich der Dtarine bei einem Gefammtbetrag der Ausgaben von 597 Mill. 
Mark). Bis zum Jahre 1875 hatte derjelbe lediglich formelle Bedeutung, erſt feit 
1875 jteht auch der Militäretat unter den allgemeinen Rechtsgrundfäßen über den 
Hauptetat. Durch die Verfaffung war dem Kaiſer bis zum 31. Dez. 1871 und 
dann weiterhin durch Spezialgefeß bis zum 31. Dez. 1874 eine Summe von 
225 Thalern jährlich pro Kopf der auf 1 Prozent der Gefammtbevölferung feſtgeſetzten 
riedenspräjenzitärfe des Heeres (401 659 Mann) zur Dispofition gejtellt worden. 
Ueber diefe Summe follte allerdings Gtat und Rechnung aufgeftellt, aber dem 
Bundesrath und Reichstag nur „zur Kenntnignahme und Erinnerung“ vorgelegt werden 
RVerj. Art. 71 Abſ. 2). Die geſetzgebenden Faktoren des Reiches hatten danadı 
bei Fixirung der finanziellen Bedürfniſſe für das Reichsheer eine wirkliche ſtaats— 
rechtliche Kompetenz nicht, jondern Lediglich eine mit feinerlei Rechtsfolgen verknüpfte 
Kontrole. Seit 1875 find diefelben jedoch auch für den Militäretat ganz in die 
Berugniffe eingetreten, welche ihnen bezüglich der übrigen Etatspofitionen zufommen. 
Es fönnen demnach auch bezüglich des Militäretats alle diejenigen Rechtsfolgen ein= 
treten, welche überhaupt die parlamentarische Mitwirkung bei Feſtſtellung des Etats 
nach Deutjchem Budgetrecht begleiten. Dies wird auch nicht ausgefchloffen durch 
die Vorſchrift der Berfaffung, daß bei TFeititellung des Etats die „gejelich feſtſtehende 
Organijation des Neichsheeres zu Grunde gelegt“ werden müſſe (RVerf. Art. 62 
Abi. 4); dieſe Beitimmung kann nicht den Sinn haben, als ob hierdurch eine Ab- 


384 Reichsfinanzweſen. 


änderung der Militärorganiſation im Rahmen des Etatsgeſetzes ausgeſchloſſen jein 
jolle; da der Etat verfaffungsmäßig als Geſetz zu verabjchieden ift, jo folgt daraus 
nothwendig, daß negativ jedes Gejeh im Rahmen des Gtats mit Rechtskraft ab: 
geändert werben fünne, ebenjo, daß pofitiv im Rahmen des Etats „organifirt“ werden 
fönne (jo wurde 3. B. das Reichsjuftigamt errichtet), obwol ficher bei der eigen: 
thümlichen Stellung des jährlichen Bubdgetgejeges weder dieſes noch jenes wün— 
ichenswerth erjcheint. Formell wird der Militäretat vierfach gegliedert gemäß den 
vier jelbftändigen Armeeverwaltungen, die im Reiche vorhanden find: der Preußiichen, 
unter welcher alle einzeljtaatlichen Kontingente jtehen, mit Ausnahme des Sächfüichen, 
Württembergiichen und Bayeriſchen, welche jelbitändig verwaltet werden. Dabei 
bejteht noch ein beionderes Rechtsverhältniß hinfichtlich des Bayeriſchen Militäretats: 
für Bayern wird nämlich der Militäretat von Reichawegen nur als durchlaufender 
Poſten eingeftellt, die betreffende Summe an die Bayerische Armeeverwaltung aus 
der Reichskaſſe hinausbezahlt und darüber dem Bundesrath und Reichstag nur Nach— 
weifung gegeben. Die Spezialifirung der Einnahmen und Ausgaben tft den Bayertichen 
gejeßgebenden Faktoren vorbehalten. In diefem Sinne trägt Bayern die Koſten und 
Laſten jeines Truppentheiles jelbit. Für die Spezialifirung des Bayerischen Militär 
etats jollen jedoch die Sätze des Reichsmilitäretats „zur Richtichnur” dienen. — 
Das Korrelat zum Voranſchlag bildet die Deharge nach Abjchluß des 
Rechnungsjahree. Auf dem Gtatögejeg und dem Dechargebeichluß beruht jormell 
die ganze Yinanzwirthichaft des Reiches. Ueber die Verwendung aller Ginnahmen 
des Reiches muß der Reichsfanzler alljährlich dem Bundesrath und dem Reichstag 
zur Entlaftung Rechnung legen (RBerf. Art. 72). Der Dechargebeichluß wird nicht 
wie der Gtat in die Form eines Geſetzes gebracht, jondern ganz jelbitändig vom 
Bundesrath wie vom Reichstag ertheilt. Die Decharge befteht in folgender Prozedur: 
nach Abfchluß des Rechnungsjahres hat der Reihsrehnungshof die gefammte 
Finanzwirthſchaft des abgelaufenen Jahres zu prüfen; für diefe Funktion des Reiche 
rechnungshoies gelten materiell die Vorjchriiten des Preußifchen Rechtes, wie aud 
der Reichsrechnungshof jelbjt nichts anderes iſt als eine Erweiterung der Preußiichen 
Oberrechnungskammer. Eine definitive Ordnung der SKontrole des Etats ijt Für 
das Reich noch nicht getroffen, die geltenden Normen find als proviforifch zu be 
trachten. Die Regierung muß zum Zwede diefer Prüfung den Nachweis Führen, 
daß die gefammte Verwaltung den gefeglichen Vorſchriften gemäß erfolgt ſei; ins 
befondere find Mehreinnahmen und Mehrausgaben unter Angabe der Gründe nad) 
zuweilen. Alle Rechnungen und Beläge find dem Rechnungshof in Vorlage zu 
bringen und von demjelben zu prüfen. Die Kontrole des Rechnungshofes reicht 
joweit als die jelbftändige Fyinanzwirtbichaft des Reiches. Unkontrolirt bleiben mur 
die jog. Dispofitionsfonde. Der Rechnungshoi hat ferner alljährlich die gefammten 
Aktiva des Reiches auf Grund der einzureichenden Inventarien zu prüfen. Ebenſo 
führt er die oberjte Kontrole über das Reichsſchulden-, ſowie über das Kautions— 
weien. Die Thätigkeit des Rechnungshofes ift einmal eine kalkulatoriſche Super: 
revifion, ferner die Prüfung darüber, ob bei Erwerb oder Veräußerung von Reiche 
eigenthum, bei Erhebung und Verwendung der Reichgeinnahmen den beftehenden 
Gejegen und Vorſchriften, jpeziell dem Gtatögejeß gemäß, fowie unter Beachtung der 
maßgebenden VBerwaltungsgrundjäße verfahren worden ſei. Verordnungen und In— 
itruftionen der Regierung und Gentralbehörden, welche das Finanzweſen betreffen, 
find dem Rechnungshof unverzüglich mitzutheilen, Verordnungen der Unterbehörben 
aber vor ihrem Erlaß demjelben zu Eritifcher Prüfung vorzulegen. Zum Zweck jeiner 
Kontrole kann der Rechnungshof von allen Behörden Mittheilungen, auch Einjendung 
der Akten verlangen, Kommifjäre und Kommiffionen an Ort und Stelle entjenden, 
die Unterbehörden jelbjt mit Ordnungsſtrafen belegen. Den Unterbehörden ertheilt 
der Rechnungshof jelbit Decharge. Nach durchgeführter Kontrole geht das gefammte 
Material in Form einer Denkſchrift an den Bundesrat wie an den Reichstag; 


Reichsfinanzweſen. 385 


jeder Theil beſchließt ſelbſtändig über Ertheilung der Decharge. Monita des Rech- 
nungshofes abzuſtellen, wird in erſter Linie der Reichskanzler ala berufen anzuſehen 
ſein. Ueber die durchgeführte Kontrole erſtattet der Rechnungshof alljährlich auch 
dem Kaifer einen Jmmediatbericht. 

Der Reichsrechnungshoi ift demnach ala Kontrolbehörde über die ganze finanzielle 
Seite der Reichöverwaltung als den Behörden der lehteren, auch dem Reichskanzler 
übergeordnet zu betrachten und ift in feiner TIhätigfeit genau jo unabhängig wie 


die Gerichte. 

VI. Anlehen. In außerordentlichen Fällen fann das Reich behufs Dedung 
feiner Bedürfniſſe auch Anlehen fontrahiren. Berfaffungsgemäß iſt hierfür jedoch 
immer die Form des Gefeßes erforderlich (NDeri. Art. 73). Solche Anlehen wurden 
fontrahirt für die Zwede des Heeres und der Marine, jowie für Poſt- und Tele— 
graphenweien; die für den Deutſch-Franzöſiſchen Krieg fontrahirten Anlehen find 
zurückbezahlt. Die gegenwärtigen Schulden des Reiches belaufen fich auf die Summe 
von 344 Mill. Mark (1878). 

Die Verwaltung erfolgt durch die Preußijche Staatsjchuldenverwaltung unter 
der „oberen Leitung des Reichskanzlers“. Die Kontrole über die Verwaltung führt 
die Reichsichuldenfommiffion, welche aus drei vom Reichstag gewählten Mitgliedern, 
dem Präfidenten des Rechnungshofes, zwei vom Bundesrath zu wählenden Mit- 
gliedern des Rechnungsausichuffes unter dem Präfidium des Vorfigenden dieſes 
letzteren gebildet wird. 

Gigb.: I. Der Etat: ABerf. Art. 69, 71; Geſetz vom 29. Februar 1876 (R.G.BL. ©. 121) 
über das Etatsjahr. Dazır die rg Etatsgeſetze, Spezialgelege, welchen der Etat jelbft 
in Anlage beigefügt iſt. Ueber den Militäretat fpeziell: RVerf. Art. 58, 60, 62, 67, 
Abi. 2; die Schlußbeft. zu Abichn. XI. und XII. ber RBerf.; Bayer. Vertr. IL 88 5, 6; 
Württemb. Milit.Konv. SS 12—14. — U. Die Decharge: Aderf. Art. 72; Preuß. Gejek 
vom 27. März 1872 über Ginritung und Befugniffe der Oberrechnun älamıner (Preuß. 
Geſ. Samml. 1872, ©. 278 ff.); RGeſ. v. 4. Juli 1868 (R.G.BL. ©. 438); Ge v. 11. Februar 
1875 (R.G. Bl. ©. 61); dazu die alljährlihen Spezialgejeße über die Kontrole des — — 
haltsetats. — III. Anlehen: RVerf. Art. 73; Geſetz vom 19. Juni 1868 (B. G. Bl. ©. 339) 
über die Verwaltung der Reichafchulden ; dazu die zahlreichen Spegiaigelebe über Anleihen 
feit 1867. — IV. Das Reihseigenthum: Gele vom 25. Mai 1 (R.G.BL ©. 113) über 
die Rechtäverhältnifie der zum dienstlichen Gebraud einer Reichsverwaltung beftiminten Gegen: 
ftände. — Reihöfriegäihag: Gejeg vom 11. Nov. 1871 (R.G.BL. ©. 408). — Reichs— 
feftung3baufonb: Gejek vom 30. Mai 1873 (R. G. Bl. ©. 123). — Reichsinvalibdenfond: 
Gejek vom 23. Mai 1873 (R.G.B1. ©. 117); Gejeh vom 23. Febr. 1876 (R.G.BL. ©. 24); Geſetz 
vom 11. Mai 1877 (R.G.B1. ©. 495); Gele vom 2. Juni 1878 (R. G. Bl. S. 99); Gejeg vom 
17. Juni 1878 (R.G. Bl. ©. 127); wie 30. Mär; 1879 (R.G. Bl. ©. 119). — Reichs: 
dDruderei: Gejieh vom 15. Mai und 6. Juli 1879 (R.G.BL. ©. 139, 174). — V. Die Finanz: 
auellen des Reiches: RBerf. Art. 70. — 1) Gebühren. Statiftiiche Gebühr: .. v. 
20. Juli 1879 (R.G. Bl. ©. 261). Konſular v4 Geſetz v. 1. * 1872 (R.G. Bl. ©. 245); 
GSerichtäfoftengejeg vom 18. Juni 1878 (R. GBl. ©. 141 ff.). Poſt- und Telegraphengebühren: 
RVerf. Art. —— 49, 51, 52; Geſetz vom 28. Oft. 1871 (. G. Bl. ©. 358) über das Poſtlaxweſen; 
dazu die Geſetze vom 17. Mai 1873 (K. G. Bl. ©. 107) u. 3. Nov. 1874 (R. G. Bl. ©. 127); Tele: 
graphenordnung dv. 18, I 1880 (Gentralbl, ©. 560). — 2) Wecjelftempelfteuer: Geſetz 
v. 10. Juni 1869 (8.6.81. ©. 193); Geſetz dv. 4. Juni 1879 (R. G. Bl. S. 151) nebft — 
Vollzugsverordnungen. — 3) Spieltartenſtempel: Geſetz vom 3. Juli 1878 (R.G. Bl. 
S. 133); dazu eine x von ——— — 4) Salzſteuer: RVerf. Art. 35—40; 

Geſetz vom 12. Oft. 1867 verb. Staatövertrag vom 8. Mai 1867 (B. G. Bl. ©. 41, 49). — 
5) Zabaföfteuer: RBDerf. Art. 3540; Gefe vom 16. Juli 1879 (R.G.Bl. ©. 245). — 
6) Zuderfteuer: RVerf. Art. 35—40; Gejek vom 26. Juni 1869 (B. G. Bl. ©. 282); Geſetz 
vom 2. Mai 1870 (8.6.81. ©. 311). — 7) Braufteuer: RBDerf. Art. 35—40; Geſeß vom 
31. Mai 1872 R.G.Bl. S. 173); Geſetz vom 26. Dez. 1875 (R.G.HL. ©. 377). — 8) Brannt: 
mweinfteuer: RBerf. Art. 35—40; Geſetz dv. 8. Juli 1868 (B.G. Bl. ©. 384, 404); Geſetz v. 
16. Mai 1873 (R.6.Bl. ©. 111); Elſaß-Lothringen, betr. Geſetz v. 19. Juli 1879 über jteuer: 
freien Branntwein (R.G.BL. S. 259). — 9) Zölle: RBerf. Art. 3340; Follvereindvertrag 
v. 8. Juli 1867 (B. G. Bl. ©. 81). Bolltarif: sieh v. 15. Juli 1879 (R.G.BL. ©. 207); bayıı 
Gejeg vom 6. Juni 1880 (R. G. Bl. ©. 120). 30 eu: Geſetz vom 28. Mai 1868 (B. G. Bl. 
S. 225); Geſetz vom 8. Juli 1868 (B.G. Bl. S. 403); Geſetz vom 1. Juli 1869 (B. G. Bl. ©. 370): 
Gele v. 28. Juni 1879 (R. G. Bl. ©. 159). Dazu eine jehr große Anzahl Vollzugsverordnungen 
zum neuen Zolltarif, jümmtlid im Gentralblatt publizirt. 

v. Holtzendorff, Enc. II. Rechtslexikon III. 3. Aufl. 25 


386 Reichsgericht. 


— Georg Meyer, Lehrbuch, SS 204 209. — Rönne, Staatäreht, 
38 85 f. — Laband in er. Annalen 1873, 405568. — 1. a ner in v. Holen: 
orff' N, Jahrbuch I. 581 60 ff. — Seybel, Das Deutiche Reich ala Privatredti: 


jubjelt, in Zeitichr. für Deut dr, Gefeßgebung VII. 226 fi. — lleber das ee a 
Steuerverwilligung u inanzg 15, in Züb. Ztichr. für das gef. Staatöreht X 

Gneift, Budget und eich, Derfelbe, Gejeg und Budget, 1880. — Laband, er 
Budgetrecht, 867. — Das Finanz recht, in Grünhut's Ztichr. für Privat: 
und a I Redt, I. ae — v. War Di — 98 ff.; Derſelbe in 
Tüb. Ztiſchr. für das gei. at XXXVI Meyer in Grün: 


dig E ar. vn. u. ferner die betr. Abihnite, ind. — ſtaatsrechtl. Tr * 
Rönne, Schulze, v. Gerber, ahariä, v. Mohl, v. Zöpfl, v. re 
Bluntieli — leber * As &hof ‚8 die anonyme ne Ubhanblung in Züb. yılar. 1 * 
gel, Staatsrecht XXXU. > RXKIIL. 23 ff. — Ueber das Bollmeien |. die Arbeiten von 
Aufſeß in Hirth's B3 1873—1876 ſowie die einfchlägigen Artikel dieſes Autors in 
Diefem Werte. — Eine Hanptquelle für die Erfenntnif des Reichsfinanzrechts bilden ferner die 
— das Finanzweſen betreffenden Verhandlungen des Reichstags. Zorn. 
Bee Ihe (Vgl. d. Art. Gerichtsverfaſſung.) Die Gerichtabarteit, 
— das R. ausübt, erſtreckt ſich über das geſammte Gebiet des Deutſchen Reichs. 
Dieſes Reſultat wäre zu erreichen geweſen auch ohne die Schaffung eines Gerichts, 
welches ſtaatsrechtlich den Charakter eines R., d. h. eines Gerichtes des Deutſchen 
Reiches, gehabt hätte. Denn es giebt Oberlandesgerichte und auch Landgerichte, 
deren Gerichtsbarkeit nicht durch die Grenzen eines einzelnen Bundesſtaates ein— 
geichränkt ift, fondern die Gebiete mehrerer Bundesjtaaten umfaßt. Dieſes Rejultat 
ift aber ohne irgend welche Mitwirkung des Reiches durch Verträge unter den ein 
zelnen Bundesjtaaten erreicht, und die von folchen Gerichten ausgeübte Gerichts— 
barkeit ijt aus diefem Grunde auch eine landesjtaatliche Gerichtsbarkeit. In ähn: 
licher Weife wäre es nun an ſich auch möglich geweien, daß jämmtliche Deutſche 
Bundesitaaten vertragsmäßig dahin übereingefommen wären, einen gemeinjamen 
höchſten Gerichtshof zu errichten und diejem eine vertragsmäßig beitimmte fachliche 
Zuftändigfeit für das gefammte Gebiet des Deutjchen Reiches zu übertragen. In 
ſolchem Falle wäre ein Gericht geichaffen, welches, troß jeines Charakters als Hödhit- 
initanzlichen Gerichts und troß ‚des Umfanges feiner Gerichtsbarkeit über das ganze 
Reich, doch nur Tandesjtaatliche Gerichtsbarkeit ausgeübt hätte und des ſtaatsrecht⸗ 
lichen Charakters eines R. entbehrt Hätte. Der ftaatsrechtliche Unterfchied , welcher 
zwiſchen dem R. und allen anderen ordentlichen Gerichten im Deutichen Reiche be— 
jteht, ift aber gerade der, daß das R. die Gerichtsbarkeit des Deutſchen Reiche 
ausübt. Daß nun aber dem Deutjchen Reiche überhaupt richterliche Gewalt zuftebe, 
das ift in der Verfaffung des Deutfchen Reichs vom 16. April 1871 nicht zum 
Ausdrude gekommen. Die Artikel 74 und 75 berüdfichtigten zwar den Fall, daß 
das Reich auch des richterlichen Schußes gegen widerrechtliche Angriffe bedürfen 
könnte. Aber jelbjt wenn die Beitimmungen der Art. 74 und 75 zur Ausführung 
gefommen wären, jo würde doch das Oberappellationsgericht zu Lübeck micht ein 
N. geworden, jondern ein Landesgericht geblieben fein, welches im Intereſſe des 
Reiches richterliche Funktionen ausgeübt hätte. Daß die richterlihe Gewalt ein 
Attribut der Reichögewalt jei, ift erit durch das Gerichtsverfaſſungsgeſetz, ſowie durd) 
die Givilprozeß: und Strafprozeßordnung zum Ausdrud gefommen; das R. übt die 
dem Neiche zuftehende richterliche Gewalt in dem Umfange und unter Beobachtung 
degjenigen Verfahrens aus, wie jolches durch die Reichsgeſetze beſtimmt ijt. 

Aus der Natur des R. als eines Gerichts, welches dazu bejtimmt ift, die Ge 
richtöbarfeit des Deutjchen Reiches auszuüben, ergeben fich für die Organijation 
defjelben folgende Einzelnheiten. 

Die Mitglieder des R. find Reichsbeamte; fein Landesherr kann ein Mitglied 
des R. ernennen. Die Emennung des Präfidenten, der Senatöpräfidenten und der 
Räthe erfolgt durch den Kaiſer auf Vorſchlag des Bundesrathes (GBG. 8 127), 
d. h. die Emennung bleibt auf diejenigen bejchränft, welche der Bundesrath vor: 
ichlägt; aber der Kaifer ift berechtigt, die VBorgefchlagenen abzulehnen und neue Vor: 


Reichsgericht. 387 


ſchläge zu verlangen. Die Mitglieder des R. werden als Reichsbeamte in Gemäß— 
heit des Art. 18 der RVerf. für das Reich vereidigt. Zu einem Mitgliede des R. 
dürfen nur ſolche Perſonen vorgeſchlagen werden, welche in Gemäßheit der SS 2, 
4,5 des GBG. überhaupt zum Richteramte beiähigt find, und welche überdem das 
fünfunddreißigfte Lebensjahr erreicht haben. Daß der Ernannte vorher eine bejtimmte 
Zeit hindurch, oder daß er bei Gerichten bejtimmter Art als Richter oder Staatö- 
onwalt thätig gewefen fein müſſe, it fein Eriorderniß für die Ernennung. Noch 
weniger kann daran gedacht werden, daß bei Bejegung des R. den einzelnen Staaten 
das Recht zuftände, das Vorſchlagsrecht für eine bejtimmte Anzahl von Stellen bei 
dem R. zu beanspruchen.“ Bei Neubefegung einer Stelle ftehen dem Reiche ſämmt— 
liche zum Richteramte qualifizirten Perfonen innerhalb des Deutfchen Reiches — 
inforern fie das fünfunddreißigfte Lebensjahr vollendet haben — zur Dispofition,; und 
es darf aus den bei der eriten Ernennung ftattgehabten Vorgängen nicht gejchlofjen 
werden, daß, wenn ein Si im R. erledigt wird, den bis dahin beifpielaweije ein 
Sache eingenommen hätte, nunmehr wiederum ein Unterthan des Königreichs Sachjen 
an dieſen Pla zu bringen jei; denn die Realifirung eines jolchen Gedankens würde 
dad R. zu einer ftaatenbundlichen Einrichtung degradiren. 

Die Bejoldung der Mitglieder des R. erfolgt aus der Reichskaſſe. Die hierzu, 
fowie zur Suftentation des R. überhaupt erforderlichen Mittel werden durch das 
Reichshaushaltsgeſetz feftgeftellt (Verfaſſung des Deutjchen Reichs Art. 69). Reichs— 
gejeglich find auch die Penfionsverhältniffe der Mitglieder des R. geregelt (GBG. 
$$ 130, 131), und zwar jowol in Bezug auf die Vorausjegungen des Eintritts der 
Penfionirung , wie auch in Bezug auf die Höhe des Ruhegehalts. Als Voraus— 
jegung für die „Verſetzung in den Ruheſtand“ bezeichnet das Gejek „ein körperliches 
Gebrechen oder Schwäche der körperlichen oder geiftigen Kräfte“, durch welches ein 
Mitglied des R. zur Erfüllung feiner Amtäpflichten dauernd unfähig wird. Unter 
diefer Vorausjegung hat das unfähig gewordene Mitglied nicht nur ein Recht, fich 
in den Ruheſtand verjeßen zu laſſen, jondern im Intereſſe der Leiftungsjähigfeit des 
R. ift daffelbe verpflichtet, feine Verſetzung in den Ruheftand zu beantragen, derartig, 
daß wenn dieſer Antrag, obwol die Vorausfeßungen zur Stellung defjelben vor- 
biegen, nicht geftellt werden follte, die Verjegung in den Ruheſtand nach Anhörung 
des betreffenden Mitgliedes und des Oberreichsanwalts durch Plenarbeſchluß des 
R. auszufprechen ift. Den Fall, daß die Verjegung in den Ruheſtand beantragt 
werden könnte, ohne daß die gejeßlichen Vorausſetzungen zu demjelben vorlägen, er- 
wähnt das Geſetz nicht; es durfte eben erwartet werden, daß ein Mitglied des R., 
welches jeinen Amtäpflichten zwar nachlommen kann, aber nicht nachkommen will, 
ftatt der Verfegung in den Ruheſtand feine Dienftentlaffung beantragen werde. Die 
Höhe des zu gewährenden Ruhegehaltes beftimmt fich nach der Dauer der Dienftzeit. 
Die Verfaffung des Deutichen Reichs bejtimmte ſchon in Art. 18 Abſ. 2 Hinfichtlich 
aller Reichsbeamten: „Den zu einem Reichsamte berufenen Beamten eines Bundes» 
ftaates jtehen, fjofern nicht vor ihrem Eintritt in den Reichsdienſt im Wege der 
Reichsgeſetzgebung etwas Anderes beftimmt ift, dem Weiche gegenüber diejenigen 
Rechte zu, welche ihnen in ihrem Heimathslande aus ihrer dienftlichen Stellung 
zugeftanden Hatten.” Hätte demnach das GBG. über die Zahl der bei der Ber: 
jegung in den Ruheſtand in Berechnung zu ziehenden Dienftjahre nichts gejagt, jo 
würden doch jedem Mitgliede des R. diejenigen Jahre, während welcher dajjelbe in 
feiner früheren dienstlichen Stellung penfionsberechtigt war, bei feiner Verſetzung in 
Ruheftand mit zu Gute zu rechnen gewejen ſein. Das GB. hat aber gegenüber 
den anderen Reichgbeamten die Mitglieder des R. in hervorragender Weife begünftigt, 
inden es anordnet, daß bei Berechnung der Dienstzeit diejenige Zeit mitgerechnet 
werden joll, während welcher das Mitglied ſich im Dienſte des Reichs oder im 
Staats: oder Gemeindedienite eines Bundesſtaates befunden oder in einem Bundes— 
ftaate als Anwalt, Advokat, Notar, Patrimonialrichter oder als öffentlicher Lehrer 

25 * 


IK 


388 Reichsgericht. 


des Rechts an einer Deutſchen Univerſität fungirt hat. Unter Zugrundelegung dieſer 
Berechnung der Dienſtjahre beträgt das jährliche Ruhegehalt bis zur Vollendung 
des zehnten Dienſtjahres ein Drittel des Gehalts; d. h. ein Drittel des Gehaltes 
iſt jedem Mitgliede des R. ala Ruhegehalt geſichert, ſelbſt wenn daſſelbe ſchon inner: 
halb des erſten Dienſtjahres zur Erfüllung ſeiner Amtspflichten dauernd unfähig 
werden ſollte. Nach Vollendung des zehnten Dienſtjahres erhöht ſich das Ruhe— 
gehalt mit der Vollendung eines jeden folgenden Dienſtjahres um !/go des Gehalts, 
jo daß mit Vollendung des fünfzigiten Dienftjahres das Ruhegehalt dem Gehalte 
jelbjt gleich wird. 

Für die Organifation des R. find außer denjenigen Garantien, welche das 
GVG. für die Unabhängigkeit der Gerichte überhaupt aufgeftellt Hat, noch einzelne, 
diejelben erhöhenden Garantien hinzugetreten. folgendes iſt namentlich hervorzuheben. 
Während nah GBG. $ 69 die Vertretung eines Mitgliedes des Landgerichts auf 
den Antrag des Präfidiums durch die Yandesjuftizverwaltung, und zwar aucd aus 
der Zahl der nicht ftändig angeitellten zum Richteramte qualifizirten Perſonen er: 
folgen fann; während bei den Oberlandesgerichten auf Antrag des Präfidiums von 
der Kandesjuftizverwaltung ebenfalls Hülfsrichter, wenn auch nur aus der Zahl der 
ftändig angeitellten Richter berufen werden dürfen (GBG. $ 122), ift für das N. 
die Zuziehung von Hilfsrichtern überhaupt unzuläffig (GVG. $ 134). Zivar 
fünnen (EG. zum GBG. SS 15, 16) zur Verhandlung und Entjcheidung derjenigen 
Sachen, welche nach den bisherigen -Prozeßgejegen von dem oberiten Yandesgerichte 
zu erledigen gewejen wären, bei dem R. mit Zuftimmung des Bundesrathes durch 
faiferliche Verordnung Hülfsſenate eingerichtet, und dieſe außer durch Mitglieder des 
R. jelbft auch durch Mitglieder der früheren oberjten Gerichte oder durch Mitglieder 
der Oberlandeögerichte bejeßt werden. Aber jelbit diejenigen Richter, welche, ohne 
Mitglieder des R. zu fein, lediglih mit Wahrnehmung der richterlichen Gejchäfte 
in dieſen Hülfsſenaten beauftragt werden, dürfen als Gülfsrichter für die Arbeiten 
der bei dem R. dauernd zu bildenden Givil- und Straffenate nicht herangezogen 
werden. (Vgl. Verordn. des Reichsjuftizamts vom 28. Sept. 1879, abgedrudt in 
den Annalen des R. von Braun und Blum, 1880 ©. 6.) 

Wenn auch in Gemäßheit des GVG. SS 6, 8 die Ernennung der Richter auf 
Lebenszeit erfolgt und die Richter im Allgemeinen unabjegbar find und wider ihren 
Willen nicht verſetzbar find, jo unterjtehen doch die Richter dem Disziplinarverfahren, 
wie folches durch die Disziplinargefege der einzelnen Bundesjtaaten geregelt if. 
Nach dem PVorgange des Gefeßes vom 12. Juni 1869, betr. die Errichtung eines 
oberiten Gerichtshofes für Handelsjachen, welches Geſetz für die Organijation des 
R in mehrfacher Beziehung maßgebend geworden ift, find alle landesgejeßlichen 
Disziplinarmaßregeln gegen die Mitglieder 'des R. unanwendbar. Das GVG. be 
ichränft fi darauf (SS 128, 129) BVorichriiten darüber zu treffen, unter welchen 
Vorausfegungen ein Mitglied des R. jeines Amtes und Gehaltes für verluftig er— 
Härt, und wann eine vorläufige Enthebung deffelben von feinem Amte eintreten 
jolle. Daß der Verluft des Amtes und des Gehaltes dann einzutreten bat, wenn 
ein Mitglied des R. von den ordentlichen Gerichten auf Grund der Straigeicke 
direft oder indirekt zum dauernden oder zeitigen Verluſt des Amtes verurtheilt wird 
(StraiGB. $$ 35, 36, 128, 129, 358), jagt das GBG. nicht; aber es verftcht 
fich dies von jelbit, da die Mitglieder des R. von dem Gem. Recht in feiner Weiſe 
erimirt find. Aber auch dann, wenn auf Grund der Straigefege von den ordent— 
lichen Gerichten der Verluſt des Amtes nicht ausgeiprochen ift, jo fann dies do 
durch Plenarbeichluß des R. nach Anhörung des betreffenden Mitgliedes und des 
Oberreichsanwaltes geichehen, wenn ein Mitglied zu einer Strafe wegen einer ent: 
ehrenden Handlung oder zu einer Freiheitsſtrafe von einer längeren als einjährigen 
Dauer rechtäfräftig verurtheilt ift. Die „vorläufige Gnthebung eines Mitgliedes des 
R. von feinem Amte“ kann ausgeiprochen werden, wenn, gleichviel wegen welches 


Neichsgericht. 389 


Verbrechens oder Vergehens, das Hauptveriahren gegen das Mitglied eröffnet ift. 
Die Eröffnung der Vorunterfuchung bleibt mithin auf die Amtsführung des Mit- 
gliedes einflußlos, falls nicht jchon im Laufe der Vorunterfuchung die Unterfuchungs- 
haft verhängt wird. Denn diefe zieht in allen Fällen, ohne Plenarbeichluß des R., 
die „vorläufige Enthebung von Rechtswegen nach ſich“. Iſt aber die Unterfuchungs- 
haft nicht verhängt worden, jo wird die Frage, ob wegen ftattgehabter Gröffnung 
des Hauptverfahrens die vorläufige Enthebung vom Amte auszuſprechen jei, mit 
Rükficht darauf zu erörtern und zu entjcheiden fein, ob das eröffnete Hauptverfahren 
zu einer rechtäfräftigen Verurtheilung führen dürfte, in deren Folge das Mitglied feines 
Amtes und Gehaltes für verluftig erklärt werden müßte. Die „vorläufige Enthebung 
dom Amte“ berührt nicht das Recht auf den Genuß des Gehaltes. 

Die Zuftändigfeit des R. ift mit Rückſicht darauf geregelt, daß dafjelbe 
das höchfte Gericht des Deutjchen Reiches ift, ſowie mit Rüdficht darauf, daß dafielbe 
berufen ift, die Rechtseinheit innerhalb des Deutjchen Reiches zu wahren. 

Da das R. das höchſte Gericht des Deutjchen Reiches ift, fo find feine Ent- 
Iheidungen in allen Fällen Entjcheidungen der letzten Inſtanz, wennſchon dieje 
legte Inſtanz bald die erite, bald die zweite, bald die dritte Inſtanz fein kann. 

I. Zuftändigfeit des R. in erjter Inſtanz. Dieje findet nur in Straf- 
fachen ftatt, und zwar für die Fälle des Hochverraths und des Landesverraths, in- 
fotern diefe Verbrechen gegen den Kaiſer oder das Reich gerichtet find (StrafGB. 
88 80--98). Das R. iſt im diefen Fällen ſowol Unterfuchungsgericht wie auch 
erfennendes Gericht. Als Unterfuchungsgericht fungirt der erjte Straffenat, und ala 
erfennendes Gericht der vereinigte zweite und dritte Straffenat (GVG. $ 138). 
Diefe Zuftändigkeit des R. hängt zufammen mit Art. 75 der Verfaffung für das 
Deutiche Reih. Dort war bejtimmt: „Für diejenigen im Art. 75 bezeichneten 
Unternehmungen gegen das Deutjche Reich, welche, wenn gegen einen der einzelnen 
Bundesftaaten gerichtet, als Hochverrath oder Landesverrath zu qualifiziren wären, 
it das gemeinschaftliche ONpp.Ger. der drei freien und Hanſeſtädte in Lübeck die 
zuftändige Spruchbehörde in erfter und letzter Inſtanz. Die näheren Beitimmungen 
über die Zuftändigfeit und das Verfahren des OApp.Ger. erfolgen im Wege der 
Reichsgeſetzgebung. Bis zum Grlaffe eines Reichsgeſetzes bewendet es bei der jeit- 
berigen Zuftändigfeit der Gerichte und den auf das Veriahren diejer Gerichte fich 
beziehenden Beitimmungen.“ Diejenigen Reichagejeße, durch welche das DApp.Ger. 
zu Lübeck in Funktion geſetzt wäre, find nicht. erlaffen worden. Durch $ 136 des 
GBG. ift Art. 75 der Berfaffung für das Deutjche Reich außer Kraft gejeßt worden, 
ebenio wie jchon früher Art. 74 durch die Publikation des Straf®B. außer Kraft 
gejegt wurde. In denjenigen Sachen, in denen das R. als Straigeriht eriter 
Instanz fungiert, tritt die Juſtizhoheit des Reiches auch darin zu Tage, daß alle 
Gerichte und jonftige bei Führung der Vorunterfuchung in Anſpruch zu nehmenden 
Behörden den von dem R. ausgehenden Weifungen als jolchen nachzukommen ver- 
pflichtet find. Alle Beamte der Staatsanwaltichaft haben den Anweifungen des 
Oberreichdanwalts Folge zu leiften (GBG. $ 147). Wird der Unterfuchungsrichter 
von dem Präfidenten des R. aus der Zahl der Mitglieder beftellt, jo ift jeder Amts- 
richter verpflichtet, dem Erſuchen des Unterfuchungsrichters um Vornahme einzelner 
Unterfuchungshandlungen nachzukommen. Der Präfident des R. kann aber auch 
jedes Mitglied eines anderen Deutjchen Gerichts und jeden Amtörichter zum Unter: 
ſuchungsrichter beftellen ; ſowie anordnen, daß jeder von ihm hierzu bejtimmte Richter 
des Deutichen Reich für einen Theil der Gefchäfte des Unterfuchungsrichters als 
Bertreter deflelben handele (Straß OD. $ 184). Diejen Anordnungen des Präfidenten 
des R. muß nachgelommen werden. Ob und welchen Einfluß eine ſolche Anz 
ordnung des Präfidenten des R. auf den Gejchäftsgang der Landesgerichte ausüben 
möchte, in welcher Weile an diefen Stellen für etwaige Vertretungen u. ſ. w. Sorge 
zu tragen ift, das iſt lediglich Sache der Landesjuftizverwaltung. Der von dem 


390 Reichsgericht. 


Präfidenten des R. in Anfpruch genommene Richter hat feiner Landesjujtizverwaltung 
hiervon Anzeige zu machen, und unweigerlich das zu thun, was der Präfident dei 
R. von ihm verlangt. Die Beitimmung der StrafPO. $ 494 läßt darüber feinen 
Zweifel, daß das R. bezüglich der von ihm im erfter Inſtanz ergangenen Ber: 
urtheilungen auch Strafvollitredungsgericht ift. Die Strafvollitredung jelbit würde 
in Gemäßheit der StrafPO. $ 483 durch den Oberreihsanwalt zu erfolgen haben; 
und die hieraus für das R. fich ergebenden praftifchen Schwierigkeiten würden dur 
die ganz allgemein gehaltene Vorſchrift des GBG. $ 147 Abi. 2, welche die Ueber: 
tragung auch der Strafvollftredung auf jeden Beamten der Staatsanwaltjchait ge 
ftattet, zu befeitigen fein. In denjenigen Straffachen, in denen das R. in eriter 
Inſtanz erkennt, fteht das Begnadigungsrecht ausjchließlich dem Kaifer zu, der 
dafjelbe ala perfönliches Recht ohne Mitwirkung des Bundesrathes ausübt (StrafPO. 
$ 485). 

I. Zuftändigfeit des R. in zweiter Inftanz. Dieſe findet nur in 
Straffachen ftatt. Das R. iſt Revifionsgericht in Bezug auf alle Urtheile der 
Schwurgerichte, jowie in Bezug auf diejenigen Urtheile der Straffammern , welde 
von denfelben ala Gerichtshöfen erſter Inftanz erlaffen, und für welche nicht die 
Oberlandesgerichte die Revifionsgerichte find (GBG. $ 136 Nr. 2, $ 123 Nr. 3; 
vgl. d. Art. Oberlandesgerichte). Sowol Unterfuchung wie auch Verhandlung 
der vorjtehend bezeichneten Straffachen fünnen zu „Beſchwerden“ Beranlaffung geben. 
Zur Erledigung derjelben ift aber nicht das R., jondern find die Oberlandesgerichte 
zuftändig (GBG. $ 123 Nr. 5). Wenn jedoch eine Entjcheidung des Schwur- 
gerichts oder der Straflammer zwar an fich das Rechtsmittel der Beſchwerde recht: 
fertigen würde, aber auch Hinfichtlich ihrer Wirkung als eine ſolche anzufehen ift, 
auf welcher das Urtheil beruht, jo wird das NR. auch diefe Entjcheidung, wegen 
ihres Zufammenhangens mit dem GEndurtheile, feiner Beurtheilung zu unterziehen 
haben (StrafPO. $ 375). 

II. Zuftändigfeit des R. in dritter Inſtanz. A) Im bürger: 
lihen Rechtsſtreitigkeiten. 1) Das R. ift zuftändig für die Ber: 
handlung und Entiheidung über das Rechtsmittel der Revijion 
gegen die Endurtheile der Oberlandesgerihte (GBG. $ 135 Nr. 1). 
Da nun nah CPO. $ 507 die Nevifion in bürgerlichen Nechtsftreitigkeiten nur 
gegen die in der Berufungsinftanz von den Oberlandesgerichten erlaflenen Endurtbeile 
jtattfinden, da ferner die Oberlandesgerichte in bürgerlichen Rechtaftreitigkeiten nie 
mals Revifionsgerichte, jondern nur Berufungs- oder Beichwerdegerichte jein können, 
jo folgt hieraus, daß das R., abgefehen von der weiter unten noch hervorzuhebenden 
Beitimmung de $ 8 des EG. zum GBG., in bürgerlichen Rechtäftreitigkeiten das 
einzige Revifionsgericht ift. Der Umfang der Zuftändigkeit des R. als Revifions- 
gerichtö ift aber bedingt durch die Vorausfegungen, von welchen die Zuläffigkeit der 
Reviftion abhängig ift. Es find dies die folgenden. Die Revifion darf nur daran 
gejtüßt werden, daß eine Vorjchrift des materiellen Rechts oder des Verfahrens ver: 
let jei. Dies genügt aber nicht, Tondern es muß auch dasjenige Gefe oder Ge 
wohnheitärecht, deffen Verlegung behauptet wird, entweder ein Reichsgeſetz oder ein 
jolches Geſetz, reip. Gewohnheitsrecht fein, welches außer in dem Bezirke des Be 
rufungsgerichtes noch in dem Bezirke eines anderen Berufungsgerichtes gilt (CPO. 
$ 511). Hiernad wird es nöthig, für das im Deutichland geltende bürgerliche 
Recht die Eintheilung zu machen: Recht, welches innerhalb eines Oberlandes— 
gerichtäbezirtes gilt; Recht, welches in mehr ala einem Sberlandesgerichtäbezirte 
gilt, und Recht, welches in allen Oberlandesgerichtsbezirken gilt. Die Revifion 
ift zuläffig für die beiden leßteren Arten von Recht, und bleibt ausgeichloffen für 
die erite Art von Recht. Auf die Schwierigkeiten, die hieraus für die Praris ſich 
ergeben werden, näher einzugehen, ift Hier nicht der Ort; nur darauf ijt bin 
zuweilen, daß nach $ 6 des EG. zur CPO. mit Zuftimmung des Bundesrathes 


Reichsgericht. 391 


durch kaiſerliche Verordnung — nachträgliche Genehmigung des Reichstages vor— 
behalten — beſtimmt werden kann, ſowol daß die Verletzung beſtimmter, in der 
Verordnung zu bezeichnender Geſetze, obwol fie nur in einem Oberlandesgerichts- 
bezirfe gelten, dennoch die Reviftion begründen, wie auch, daß die Verlegung folcher 
Geieße, welche in mehr ala einem Oberlandeögerichtsbezirfe gelten, die Zuläffigkeit 
der Revifion nicht begründen jolle. (Vgl. die Verordnung, betr. die Begründung 
der Revifion in bürgerlichen Rechtsjtreitigfeiten, vom 28. Sept. 1879; R.G.Bl. 
©. 599.) Die Vorſchriften der CPO. $ 511 und des EG. $ 6 zeigen die Noth- 
wendigkeit einer thunlichiten förderung derjenigen Gejeßgebungsarbeiten, aus denen 
das bürgerliche Gejegbuch für das Deutiche Reich hervorzugehen beftimmt ift. Sind 
bezüglich des Geltungsbereiches der verlegten Rechtsnorm die Erforderniffe der CPO. 
$ 511 erfüllt, fo ijt in Rechtajtreitigfeiten über vermögensrechtliche Anfprüche die 
Zuläffigkeit der Revifion der Regel nach durch einen den Betrag von 1500 Mark 
überfteigenden Werth des Beichwerdegegenjtandes bedingt (GVG. 8 508). Diejed 
Eriorderniß fällt aber fort in den Rechtsftreitigfeiten über Anfprüche, für welche die 
Sandgerichte ohne Rüdficht auf den Werth des Streitgegenjtandes ausschließlich zu— 
fändig find (GVG. 5 70 Abi. 2, 3; vgl. d. Art. Landgerichte), fowie in allen 
denjenigen Fällen, in denen Unzuftändigfeit des Gerichts, Unzuläffigfeit des Rechte- 
weges oder Unzuläffigkeit der Berufung den Inhalt der Revifionsbejchwerde bildet. — 
Diefe Zuftändigkeit des R. ala Revifionsgerichts in bürgerlichen Rechtsſtreitig— 
feiten wird in Gemäßheit des $ 8 des EG. zum GBG. für Bayern nicht ftatt- 
finden. Bayern beitellt für fich ein oberſtes Landesgericht ala Revifionsgericht 
für bürgerliche Rechtöftreitigfeiten.. Es werden aber nicht von diefem Bayerijchen, 
fondern von dem R. entichieden werden diejenigen Reviſionsſachen, welche vor dem 
1. Oft. 1879 von dem Reichdoberhandelägerichte zu entjcheiden geweien wären, ſowie 
diejenigen Revifionsfachen, welche durch jpätere Neichägeiege, mit Ausichluß des 
Bayerifchen oberften Gerichtshofes, dem R. werden zugewieſen werden. 
2) Das R. ift ala Beihwerdegericht zuftändig für die dem Rechtsmittel 
der Beſchwerde unterrworfenen Entjcheidungen der Oberlandesgerichte (GVG. $ 185 
Ar. 2). Die Rechtäftreitigkeit kommt durch die Beſchwerde gegen die Entſcheidung 
des Oberlandesgerichts allemal in die dritte Inſtanz. Eine Beichwerde über die in 
Folge einer Beichwerde an das Dberlandeägericht getroffene Entſcheidung, die ſog. 
„weitere Beſchwerde“ kann nach der CPO. $ 531 nur dann ſtattfinden, wenn in 
diejer Entjcheidung ein neuer jelbjtändiger Beichwerdegrund enthalten ift. Auch in 
feiner Eigenschaft ala Beichtwerdegericht wird die Zuftändigfeit des R. durch den vorhin 
erwähnten oberften Bayerischen Gerichtshof in dem dort erwähnten Umſange beichränft. 
B) In Strafſachen. Nach dem GBG. $ 123 ift in den jchöffengerichtlichen 
Straffachen, in denen nach dem GBG. $ 76 die Straflammern die Berufungägerichte 
find, das Rechtsmittel der Revifion den Oberlandesgerichten zugewiejen. Statt der 
Dberlandesgerichte joll nun aber (GBG. 5 136 Abi. 2) das R. Revifionsgericht jein 
in Straffachen wegen Zumwiderhandlungen gegen die Vorjchriiten über die Erhebung 
Öffentlicher in die Reichskaſſe fließender Abgaben und Gefälle. Dieſe Vorjchrift 
wäre für diejenigen der eben bezeichneten Straffälle, welche ſchon in erjter Inſtanz 
zur Zuftändigfeit der Straflammern gehören, überflüffig geweien; denn für dieſe 
Sachen ift die Zuftändigfeit des R. auch da, wo es ſich um Straffachen wegen 
Zumiderhandlungen gegen die Vorſchriften über die Erhebung öffentlicher in die 
Reichstafje fließender Abgaben und Gefälle handelt, jchon dur) das GBVG. $ 130 
Abi. 1 Nr. 2 beitimmt worden. Es hat demnach Abi. 2 nur eine Bedeutung für 
diejenigen Straffachen der bezeichneten Art, welche in erjter Inftanz zur Zuftändigfeit 
der Schöffengerichte gehören (GBG. 5 27 Nr. 1, 2; vgl. StrafPO. SS 459 fi., 
462). Aber auch unter diefer Vorausſetzung bleibt das Oberlandesgericht „das zu- 
ftändige Revifionägericht, wenn nicht die Staatsanwaltichaft bei Einjendung der Akten 
an das Oberlandeögericht die Enticheidung des R. beantragt. (Vgl. hierzu StrafPO. 


392 Reichsgericht. 


8388 Abi. 2; 8 346 Abi. 3.) Das R. entſcheidet, falls das Oberlandesgericht 
die Sache an daflelbe verweift, über die Revifion an Stelle des Oberlandesgericts, 
d. 5. die Revifion kann auch in Fällen diefer Art einen weiteren Umfang nicht 
haben, ala derjelbe durch die StrafPO. $ 380 beitimmt ift. (Die in die Reihe 
kaſſe fließenden Abgaben und Gerälle find: Die Zölle und gemeinjchaftlichen Ber: 
brauchafteuern, nämlich Rübenzuderfteuer, Salziteuer, Tabakfteuer, Branntwein und 
Braufteuer; Spielkartenſtempel; Poſt- und Telegraphengebühren; Steuer von dm 
durch dem entiprechenden Baarvorrath nicht gededten Banknoten.) 

C) Die Zuftändigfeit des N. ala Gerichtshof dritter Inſtanz tritt jowol in 
bürgerlichen Rechtöftreitigfeiten wie auch in Straffacdhen ein, wenn es fi) um Ge 
währung der Rechtshülie handelt. Wird dieſe abgelehnt, und die Ablehnung von 
dem Oberlandesgerichte (zu deſſen Bezirk das erjuchte Gericht gehört) beitätigt, fo 
fann eine Anfechtung diejer, die Ablehnung der Rechtshülfe beftätigenden Entjcheidung 
durch das R. auf dem Beichwerdeivege an das R. gebracht werden, falls das 
erfuchende und das erjuchte Gericht den Bezirken verichiedener Oberlandesgerichte an: 
gehört (GBG. 8 160). 

IV. Das R. wird ala das im Inſtanzenzuge Junächit höhere Gericht (aljo bald 
als Gericht zweiter, bald ala Gericht dritter Inftanz) jowol in bürgerlichen Rechts— 
jtreitigfeiten, wie auch in Straffachen zuftändig, wenn in Gemäßbeit der Beitimmungen 
ber CPO. $ 36 oder in Gemäßheit des $ 15 der Straf OD. die Beitimmung des 
mit der Entjcheidung der Sache zu betrauenden Gerichts durch das im Inſtanzenzuge 
zunächit höhere Gericht zu erfolgen hat. 

V. Ueber Zuftändigkeit des R. in folchen Fällen, welche zur Zuftändigkeit der 
Konjulargerichte gehören, vgl. Gejeß vom 10. Juli 1879 SS 34—36. Cine Er— 
weiterung des im Borjtehenden angeführten Umfanges der Zuftändigfeit des R. 
fann dauernd herbeigeführt werden im Hinblid:.1) auf $ 3 des EG. zum GBG 
in Verbindung mit $ 14 des GBG.; 2) auf $ 17 des EG. zum GBG. in Ver 
bindung mit $ 17 des GBG.; 3) auf 8 11 des EG. zum GBG. Eine vor: 
übergehende Erweiterung der Zuftändigkeit des R. kann durch die Vorſchriften 
der SS 14 und 15 des EG. zum GVBGé. herbeigeführt werden. 

Die Einheit der Nechtiprechung, welche durch das R. herbeigeführt werden joll, 
ift dadurch bedingt, daß Einheit in der Nechtiprechung beim R. ſelbſt jtattfindet. 
Diefem Bedürfniß der Gleichmäßigfeit in der NRechtiprechung fteht aber gegenüber 
die Nothiwendigfeit, daß die Rechtiprechung nicht in Präjudizien-Jurisprudenz erjtart. 
Letzteres wird dadurch erreicht, daß jeder Giviljenat und jeder Straffenat die ihm 
zur Enticheidung vorliegende Sache jo entjcheide, wie dies durch die juriftifche An: 
fiht der Majorität der Mitglieder diejes Senates geboten ift. Hierdurch ift die 
Grundlage für die Rechtſprechung des R. feftgelegt. Frühere Entjcheidungen des R. 
in der gleichen Nechtsfrage werden, wie für andere Gerichte, jo auch für die Senat: 
des R. jelbit die beachtenswertheite Autorität ‚bilden, aber eben auh nur eine 
Autorität, die durch befjere als die bisherigen Gründe erſchüttert und bejeitigt werden 
fann, die aber auch nur dann erjchüttert und bejeitigt werden foll, wenn die neue 
Würdigung der Rechtöfrage eine beſſere als die frühere fein folltee Soll demnach 
gegenüber der früheren eine andere Enticheidung einer Nechtöfrage jeitens des NR. er 
folgen, jo bedarf es eines Organes, welches darüber entjcheidet, ob die frühere oder 
die jet beliebte Enticheidung der Rechtsfrage den Vorzug verdient. Dieſes Organ 
bilden für jtrafrechtliche Rechtsfragen die vereinigten Senate für Straffachen und für 
civilrechtliche Rechtsfragen die vereinigten Givilfenate; wobei denn natürlich unter 
Itrafrechtlichen Rechtsfragen auch die auf den Strafprozeß und unter civilrechtlichen 
Rechtsfragen auch die auf den Givilprozeß bezüglichen Rechtsfragen mit zu verfteben 
find. Das Geſetz (GBG. $ 137) erwähnt nur die Fälle, daß ein Giviljenat in 
einer Rechtäfrage von einer früheren Enticheidung eines anderen Givilfenats oder 
der vereinigten Givilfenate, oder daß ein Straffenat in einer Rechtsfrage von einer 


Neichsgericht. 393 


früheren Entſcheidung eines anderen Strafſenates oder der vereinigten Gtraffenate 
abweichen will. Für diefe Fälle verlangt das Geſetz, daß der Givilfenat oder 
der Straffenat, der eine von der früheren abweichende Entjcheidung der Rechtäfrage 
treffen will, diejenige Givilfache oder Straffache, die zu diejer veränderten Rechts— 
aufafung Veranlaſſung giebt, überhaupt gar nicht entjcheide, jondern die Entjcheidung 
diefer Sache jelbft — und nicht blos die abftraft formulirte Rechtsfrage — vor die 
vereinigten Civil- reſp. vor die vereinigten Straffenate verweife. Das Geſetz erwähnt 
dagegen nicht den all, daß ein Givilfenat oder ein Strafjenat in einer Rechtsfrage 
von feiner eigenen früheren Enticheidung abweichen will. Es mag immerhin be= 
jweitelt werden können, ob die Intention des Geſetzes dahin gegangen jei, in Fällen 
diefer Art eine Aenderung der Rechtsauffaffung ohne weiteres jtatuiren zu wollen. 
Denn Für die Nechtsficherheit. fommt e8 darauf an, daß das R. als etwas Einheit: 
liches gedacht, die Rechtsfragen gleichmäßig entſcheide; ob Aenderungen dadurch ent: 
ftehen, daß der Senat A anders entjcheidet ala der Senat B entichieden hat, oder 
dadurch, daß der .Senat A jeht anders entjcheidet, als er früher entjchieden hat, 
das ift dem Rejultate nach für die Nechtjuchenden ganz gleichgültig. Dieje juchen 
ihr Recht bei dem R. ſelbſt, nicht bei einem Senate defjelben. Aber obwol diejes 
fo ift, wird man doch Bedenken tragen müſſen, auch in dem Falle, wenn ein Senat 
von feiner eigenen Rechtäauffaffung abgehen will, denfelben für berechtigt zu erachten, 
die Sache an die vereinigten Givil- oder die vereinigten Strafjenate zu verweijen. 
Dies würde vielleicht zuläffig fein, wenn die vereinigten Senate darauf beſchränkt 
wären, nur präparatoriich die Rechtöfrage zu entjcheiden, während dann der einzelne 
Senat die Sache jelbit auf Grundlage der präparatorijchen Entjcheidung der ver— 
einigten Senate entichiede. Da aber das GBG. die vereinigten Givil- und Straf: 
jenate zur Entſcheidung in der Sache jelbjt berufen Hat, fo dürfen diejelben auch 
ihre durch das Geſetz beftimmte Zuftändigfeit nicht überfchreiten, d. h. fie dürfen 
die Entjcheidung einer Sache dann nicht übernehmen, wenn ein Senat nur von 
jeiner eigenen früheren Rechtsanfchauung abweichen will. 

Das Gejeß, durch welches dem R. fein Sit in Leipzig angewieſen ift, datirt 
vom 11. April 1877. Wenn durch $ 1 dieſes Gejehes bejtimmt it, daß auf den- 
jenigen Bundesftaat, in deffen Gebiet das R. jeinen Sit hat, $ 8 des EG. zum 
GVBG. feine Anwendung finden jolle, jo würde dieſe Vorjchrift eine Bedeutung nur 
unter der Vorausfeßung haben, daß das Königreich Sachſen mehr als ein Ober: 
landesgericht einzujegen fich veranlaßt gejehen hätte. Da nun aber für das König— 
reich Sachſen nur ein Oberlandesgericht eingefegt ift, jo hat das R. mit dem bür- 
gerlichen Rechte des Staates, in welchem dafjelbe jeinen Sit hat, um deswillen 
nichts zu thun, weil nunmehr das Sächfische bürgerliche Geſetzbuch vom 2. Januar 
1863 /1. März 1865 zu demjenigen Gejegen gehört, deren Verlegung die Reviſion 
in Gemäßheit des $ 511 der CPO. ausſchließt. Sollte durch das Geſetz vom 
11. Aprit 1877 es erreicht werden, daß Sadjen dem R. gegenüber eine andere 
Stellung einnehme ala Bayern, fo Hätte noch beitimmt werden müffen, daß der: 
jenige Bundesftaat, in deſſen Gebiet das N. feinen Sitz hat, mindeftens zwei Ober: 
londeögerichte einjegen müſſe. Diefe Vorſchrift ift nun aber nicht getroffen, und jo 
bleibt $ 1 des Gejehe vom 11. April 1877 fo lange eine abfolut nichtsfagende 
Vorichrift, bis e& dem Königreich Sachſen genehm fein wird, noch ein zweites Ober: 
Landesgericht einzufeßen. 

Zit.: Bol. den Artikel Gerichtsverfaſſung. Speziell über die Vorfchrift bes $ 511: 
John in Behrend's Zeitichr. VII. ©. 161 ff. ler in den — Jahrbb. Bd. XXXI. 
S. 335. — Wernz in der Zeitſchr. für Reichs- und Landesrecht III. ©. 379, 380. — Ueber 
die Verordnung vom 28, September 1879 vgl. Eccius, Die Revifſionsinſtanz und das Landes— 
recht (Berlin 1880). — An Sammlungen der Entſcheidungen bes Reichsgerichts find bis 
et vier erjchienen: Enticheidungen des Reichsgerichts — heraudg. von den Mitgliebern des 
keichsgerichts, Eiviljahen und Strafladhen je getrennt, fog. offisiöfe Ausgabe (Xeipzig) —; 
Rechtiprehung bed Deutſchen Reichsgerichts in Strafſachen — herausg. von Mitgliedern der 


394 Reichsjuſtizamt — Reichskanzler. 


Reichsanwaltſchaft (München und Leipzig) —; Archiv civilrechtlicher Entſcheidungen — herausg. 
von Mecke und Fennex (Berlin) —; und Annalen des Reichsgerichts, Sammlung aller 
wichtigen Entſcheidungen des Reichägerichts ſowie aller auf die Reichsrechtſprechung bezüglichen 
Erlafie und 3 ungen. Unter Mitwirkung von Karl Braum berauögeg. von Dr. dans 
Blum Ark n dem erſten Hefte dieſer „Annalen“ finden fi ©. 74 die Derfügungen 
über die Geichäftäorganifation des Reichögerichts für dad Jahr 1879 und ©. 18 ff. die gleichen 
Verfügungen für bad Jahr 1880. John. 
Reichs juſtizamt. Als Erweiterung des Reichskanzleramts wurde im Jahre 
1875 eine vierte Abtheilung dieſes oberjten Reichsamts für die Juftizangelegenpeiten 
des Reichs begründet. Cine ald Anlage I. zum Reichshaushaltsetat für 1875 ab: 
gedruckte Denkſchrift bezeichnete die dienftlichen Aufgaben, denen das Reichskanzleramt 
nach Ddiefer Erweiterung gerecht werden ſollte. Im Neichshaushaltsetat für das 
Vierteljahr vom 1. Januar bis 31. März 1877 (R.G. Bl. 1876, ©. 239) ericheint 
das R. als jelbjtändiges oberites Reichsamt neben dem Reichskanzleramt; als ſolches 
beſteht dafjelbe feit Anfang 1877 unter Leitung eines Staatsſekretärs. Nach dem Etat 
des Jahres 1881—82 ift das R. unter dem Staatöjefretär und einem Direktor mit 
6 vortragenden Räthen und zwei etatsmäßigen Hülfsarbeitern bejegt. Seitdem 1879 
die Betheiligung des R. an den Gejchäften der Landesverwaltung von Eljaß-Lothringen 
bejeitigt worden, bejchränft fich der Kreis der Verwaltungsgeichäfte des R. auf die 
Bearbeitung der Angelegenheiten, welche das Reichögericht und die Reichganwaltichatt 
jowie die Kommiffion zur Ausarbeitung des bürgerlichen Geſetzbuchs betreffen. Im 
Uebrigen übt das R. eine begutachtende Thätigfeit in allen ihm zu dieſem YZinede 
zugewieſenen Angelegenheiten des Reiche, e8 hat die Aufgabe, die Gejeßgebung des 
Reichd auf den Gebieten des bürgerlichen Rechts, des Strafrecht und des Ver: 
fahrens vorzubereiten. An und für fich hat der Reichskanzler (als oberjter Beamter 
der Reichäverwaltung) und aljo auch des R. veriaffungsmäßig nicht das Recht, Ge 
jeßentwürfe dem Bundesrath zur Beichlußfaffung vorzulegen. Aber theild hat der 
Bundesrath jelbftändig oder auf Anregung des Reichstages, der dem Reichskanzler 
eine gejeßgeberische Aufgabe zur Erwägung überwies, die Ausarbeitung von Geich- 
entwürfen bei dem Reichskanzler wiederholt angeregt, theild wird das R. für ver 
pflichtet erachtet werden müffen, die der Reichsgejeßgebung überwiejenen Angelegen— 
heiten dauernd auf das hervortretende Bebürfniß gejeßgeberifcher Neuerungen zu prüfen, 
und nach der Teititellung des Bedürfniffes unter Zuftimmung des Reichsfanzlers das 
gervonnene Ergebniß den einzelnen Staaten zu unterbreiten. In diefer Weife find 
eine große Reihe von Gejegentwürfen, 3. B. die Rechtsanwaltsordnung, Die ver: 
jchiedenen Koftengejeße des Reiche, das Gejeß über Anfechtung von Rechtshandlungen 
außerhalb des Konkurſes, im R. ausgearbeitet, ald Preußifche Vorlage von dem 
Bundesrath genehmigt, und im Auftrage des Kaiſers von dem Reichsfanzler an den 
Bundesrath gebracht und zu Gefegen geworden. Dafjelbe gilt von dem im Jahre 
1880 dem Reichstag vorgelegten Wuchergejeß, während zwei umfangreiche Entwürt 
eines Geſetzes über das Fauftpiandrecht Für Pfandbriefe und ähnliche Schuld- 
verfchreibungen und eines Geſetzes betreffend das Pfandrecht an Eifenbahnen und die 
Zwangsvollitredung in diejelben, die auf Anregung des Reichstags ausgearbeitet 
waren, nach zweimaliger Vorlegung im Reichstage unerledigt geblieben und 1881 
nicht wieder vorgelegt find. — Eine erhebliche Tätigkeit Hat das R. jerner bei der 
Ausführung der Neichsjuftizgefeße in der Ueberwachung der ZLandesgejeßgebung zu 
üben gehabt; die gleiche Aufgabe wird vorausfichtlich auch fernerhin die Thätigkeit 
mannigfach in Anfpruch nehmen. Eccius. 
Reichskanzler. Durch Präfidialverordnung vom 14. Juli 1867 (B.G Bl. 
23) war der Preußiiche Minister de8 Auswärtigen Graf von Bismard- Schön: 
haufen zum Bundesfanzler des Norddeutichen Bundes „in Ausführung der Bejtim: 
mungen der Verfaffung“ emannt worden. Die Beitimmungen der Norddeuticen 
Bundesverfaffung über dad Amt des Bundeskanzlers find unverändert in Die Deutice 
Neichöveriaffung übergegangen. Der R. wird vom Kaiſer ernannt (RVerf. Art. 15, 


— 


Reichskanzler. 395 


Abſ. 1), der Bundesrath iſt hierbei in keiner Weiſe betheiligt; die Entlaſſung des 
R. erfolgt gleichfalls durch den Kaiſer. Der R. kann jederzeit vom Kaiſer zur Dis— 
pofition gejtellt oder penfionirt werben; er fann ferner jederzeit jeine Entlaſſung 
iorden und Hat nach zweijähriger Dienftzeit immer Penſionsanſpruch (Reichsbeamten- 
gefe vom 31. März 1873, 88 25, 35). 

Für das Amt des R. find materiell zwei Reihen von Funktionen zu unter- 
iheiden: die eine derjelben bezieht fich auf den Borji im Bundesrathe, die 
andere auf die oberjte Verwaltung im Reiche. 

1) Der R. ift nach der Verfaffung Vorfigender des Bundesrathes. Als jolcher 
hat er die Leitung der Gejchäfte deffelben (RBerf. Art. 15, Abſ. 1). Daraus ergiebt 
ih, daß der R. jedenfalls Bevollmächtigter zum Bunbdesrath fein muß; daß er 
Preußiicher Bevollmächtigter fein müffe, ift zwar nicht pofitiv in der Verfafjung vor- 
geichrieben, wol aber jolgt das indireft aus dem zwiſchen dem Kaifer und dem R. 
beitehenden Rechtsverhältniß (ganz abgejehen von thatfächlichen Verhältniffen) mit 
Rothwendigkeit. Der R. kann fich kraft fchriftlicher Subjtitution im Vorſitz des 
Bımdesrathes durch jedes Mitglied vertreten laffen, ohne daß Hierzu faiferliche Ge— 
nehmigung erforderlich wäre; ift fein Preußischer Bevollmächtigter anweſend, jo führt 
Bayern den Vorſitz. (Verfaill. Schlußprot. 3. IX. Die Interpretation diejer Bes 
ftimmung von Hänel [Studien, II. 25] ift jchwerlich zutreffend.) Als Vorfigender 
des Bundesrathes eröffnet der R. alle Einläufe und entjcheidet in minder wichtigen 
Saden jelbft, die übrigen find dem Bunbdesrafhe vorzulegen. 

2) Der R. ift ferner Chef der Reichöverwaltung. Derjelbe hat nach der Ver: 
taffung alle Anordnungen und Berfügungen des Kaiſers (ausgenommen nur die kraft 
des militärischen Oberbefehles erlaffenen) zu kontrafigniren mit dem Rechtäeffett: 
1) daß durch dieje Kontrafignatur die faiferlichen Anordnungen gültig werden und 
2) daB die fonjtitutionelle Verantwortlichkeit des R. hierdurch begründet wird (RVerf. 
Art. 17). Der R. ift nach der Berjajjung dereinzige verantwortliche 
Reihsminifter. Für Anordnungen des Bundesrathes beiteht feine Verantwortlich: 
keit des R. Die Verantwortlichkeit des R. deckt einerjeitö den Kaijer, welcher ala zwar 
nicht alleiniger, aber Mitträger der Neichsfouveränetät nach monarchiſchem Staatö- 
recht unverantwortlich ift; die Verantwortlichkeit des R. involvirt andererjeitö die 
ftaatörechtliche Haftung für die Thätigkeit aller untergeordneten Behörden. Die 
Thätigkfeit aller diejer Behörden ift in leßter Inſtanz Thätigfeit 
DEE R. Kraft diefer allgemeinen Grundjäße mußte dem R. auch das Recht zu— 
geiprochen werden, in die Thätigkeit aller Reichsbehörden jederzeit einzugreifen; an— 
erkannt ift dies auch bezüglich der Verwaltungsbehörden, pofitiv ausgeſchloſſen da— 
gegen für die Gerichte (GVG. $ 1) und den Nechnungshof, nur in weſentlich mo— 
difizirter Weiſe anerkannt für die übrigen Finanzbehörden des Reiches. 

Die Berantwortlichkeit des NR. beruht Lediglich auf den unbejtimmten Bor: 
ichrüiten der RVerf. Art. 17. Daraus wird juriftiich nur gefolgert werden 
fönnen, daß der R. dem Reichstage Rechenſchaft abzulegen nicht verweigern darf. 
Weitere Rechtäfolgen aber find an die Verantwortlichkeit des R. nicht geknüpft. 

In der Reichöverwaltung kann der R. nach dem Gejeg vom 17. März 1878 
(R.GBL. 7) Stellvertreter erhalten. Und zwar kann nach dem Gejeß ein- 
maf ein allgemeiner Stellvertreter des R. (Vizekanzler), jodann können Gtell- 
vertreter für einzelne Reſſorts der Reichöverwaltung beftellt werden. Die Er- 
nennung folcher Stellvertreter erfolgt durch den Kaiſer auf Antrag des R.; dem 

Aundesrath fteht eine Mitwirkung nicht zu. Die Inftitution diefer Stellvertretung 
ift nur ein fafultativer Beitandtheil des Reichsftaatsrechtes (der Kaifer — — „fann“). 
Die Stellvertretung darf gejeglich nur eintreten „in Fällen der Behinderung“ des 
R.; die Interpretation diefer Worte in der Praris erfolgte dahin, daß als „Ber 
hinderung“ vor allem der ungeheuere Umfang, welchen die amtlichen Funktionen des 
R. mit der Zeit angenommen hatten, betrachtet wurde. Die vom Kaiſer ernannten 


396 Reichskanzler. 


Stellvertreter des R. tragen für ihren Geſchäftskreis die konſtitutionelle Verantwort— 
lichkeit nach der RVerf. Art. 17 wie der R. ſelbſt; fie dürfen ſomit kaiſerliche 
Anordnungen für den Umkreis der ihnen übertragenen Stellvertretung fontrafigniren 
und werden dadurch dem Reichstage zur Rechenſchaft verpflichtet. Auf Grund jenes 
Gejeßes wurden ein General= und eine Anzahl von Spegialjtellvertretern beftellt. Auf 
den Vorſitz im Bundesrath bezieht fich die allgemeine Stellvertretung des R. nicht, 
fondern nur auf die Leitung der Reichäverwaltung und die Kontrafignatur der faijer: 
lichen Anordnungen. Im Uebrigen fteht die Vertheilung der Gejichäfte völlig im 
Belieben des R. In jedem Wall ift der NR. berechtigt, jederzeit „jede Amtshandlung 
auch während der Dauer jeiner Stellvertretung felbjt vorzunehmen“. Damit ift der 
Umfang der Stellvertretung völlig vom Belieben des R. abhängig gemadht. 

Eine bejondere Stellvertretung des R. iſt nur ftatthaft „für diejenigen 
einzelnen Amtszweige, welche fih in der eigenen und unmittel- 
baren Verwaltung des NReiches befinden“ Wo dem Reich nur Aut: 
fihtsfunftionen zufommen, foll eine Stellvertretung des R. nach Ausweis der 
Motive nicht jtattfinden; wo die Verwaltung theils vom Reiche theils von den Ein: 
zelftaaten geführt wird, ſoll eine Stellvertretung nur dann zuläffig fein, wenn die 
Verwaltung „vorwiegend“ vom Reiche gehandhabt wird. Mit der Stellvertretung 
des R. dürfen nur beauftragt werden „die Borjtände der dem R. unter: 
geordneten oberjten Reihabehörden“; die Stellvertretung kann fich au’ 
den ganzen Umfang des betreffenden Reſſorts oder nur auf einzelne Theile deflelben 
beziehen. Durch die legtere Beitimmung ift die Möglichkeit noch weiterer Spezialifirung 
der verantwortlichen oberſten Reichsbehörden vorgefehen. In der Praris werden aud 
proviforiiche Chefs von oberjten Neichabehörden zu Stellvertretern des R. ernannt. 

Der Berfuch (des Abgeordneten Profeffor Hänel), bei Berathung des Stell: 
vertretungsgejeßes eine gefegliche Firirung derjenigen Reſſorts, für welche Etell- 
vertreter bejtellt werden fünnen, zu erreichen, blieb vejultatlos; e8 werden demgemäß 
nach) dem Gejeß die Stellvertreter perjönlich ernannt. Man vermeinte naiver 
Weiſe, hierdurch die befürchtete Entwidelung dieſer Stellvertretungsämter zu Reich: 
minifterien abjchneiden zu können (vgl. Hänel, Studien, II. ©. 22). Thatſächlich 
hat fich jedoch das Verhältniß in rafcher Folge dahin fejtgejtellt: I. An der Spike 
der jämmtlichen Reſſorts, welche in eigener und unmittelbarer Verwaltung de 
Reiches ſich befinden, jtehen Miniſter mit dem Titel „Staatsſekretär“, nämlıd 
1) für die auswärtigen Angelegenheiten (Auswärtiges Amt), 2) für die Kriegs 
marine (Ndmiralität), 3) für die finanzen (Reichsſchatzamt), 4) für das Poſt- und 
Telegraphenwejen (Generalpoftamt), 5) für die Justiz (Reichsjuſtizamt), 6) für die 
Verwaltung der WReichseifenbahnen (Reichsamt für die Verwaltung der Reid: 
eiienbahnen), 7) für das Innere (Neichsamt des Inneren). Die Vorftände dieſer 
fieben NReichsminijterien find ſämmtlich durch kaiſerliche Spezialordres zu Stell: 
vertretern des R. ernannt (dad Staatöfefretariat des Auswärtigen ift zur Zeit 
vakant; die Staatzjekretäre für das Eiſenbahnweſen und das Innere find zugleich 
Preußiſche Minifter). II. Neben den fieben Spezialftellvertretem des R. beiteht 
ein Generaljtellvertreter (der gleichfalls Preußiſcher Minifter ift). III. Der oberite 
Chef aller vorgenannten Reflorts ift der R. jelbi. Ein follegialijch or: 
ganijirtes Reihsminifterium, Ddejjen einzelne Rejjortvoritänd: 
jelbjtändige oberjte Chefs ihrer Verwaltungen wären, bejtebt jo: 
mit allerdings nicht, wol aber beftehen fürjämmtlide Zweige deı 
Neihäsverwaltung verantwortlihe Stellvertreter des R.; di: 
ſämmtlichen Staatsjelretäre des Reiches find aber dem AR. unter: 
geordnet, der demnach jtaatsrehtlih auch jet nod alle Funk— 
tionen der Reihsverwaltung in fich fonzentrirt. 

Die thatjächliche Entwidelung Hat jet bereits ziemlich weit über die beim 
Stellvertretungsgefeß beabjichtigte Organifation Hinausgeführt: ob nah dem Einni 


Reichskriegsſchatz. 397 


des Stellvertretungsgeſetzes die Ernennung verantwortlicher Stellvertreter für die 
Juftiz, das Eiſenbahnweſen und das Innere als zuläſſig erachtet werden dürfte, 
fann bezweifelt werden (die Motive nennen dieſe Reſſorts nicht), da für alle dieje 
Refforts die „eigene und unmittelbare Verwaltung“ unzweifelhaft „vorwiegend“ in 
der Sand der Einzeljtaaten liegt. 

Ueber die Stellvertretung des R. durch den Statthalter von Eljaß-Lothringen 
ſ. d. Art. Reichsland. 

Als unmittelbares Bureau des R. beſteht ſeit 1879 eine beſondere „Reichs— 


tanzlei“. 
Gigb. u. Lit.: RVerf. Art. 15—18; Geſetz vom 17. März 1878 (R.G. Bl. 7) über bie 


j 

Stellverkretung bes Reichslanzlers (die faiferl. Stellvertretungsordres find im Reichdanzeiger 
en dazu die Stenogr. Berichte über die Berathung des — 1878, 
8.321 fi, 373 fi, 401 ff., 381 ff. — Laband, Staatöreht, I. 2, 33. — Meyer, 
Lehrbuch, 8 185. — Riedel, Kommentar, $ 9. — Seybel, Kommentar, ©. 126 fi. — 
v. Rönne, Staatsrecht, I. $ 42. — Zorn, Lehrbuch, I. $S 9u. 12. — Hänel, Studien, II. 
S. 24 fi. — Joel, Die Subftitutionsbefugniß des R., in Hirth'3 Annalen 1878 ©. 402 ff. 
(im Grundgedanfen verfehlt), 761 fi. Zorn. 


Reichskriegsſchatz. J. Der Preußiſche Staatsſchatz. 1) Die Inftitus 
tion eines Staatsſchatzes beiteht in Preußen jeit Friedrich Wilhelm I. Derjelbe 
hatte im vorigen Jahrhundert wejentlich die Aufgabe, reichliche Mittel für alle Fälle, 
namentlich aber für den Fall eines Krieges bereit zu Halten, und den Staat der 
damals ſehr £oftipieligen und nur in beſchränktem Maße möglichen Anleihen ganz 
zu überheben; es fam darauf an, den Staatsicha auf jolche Höhe zu bringen, daß 
er auch für längere Kriege die Mittel bot; es war das gleichjam eine Erweiterung 
der Generalitaatskaffe. 

2) Bei Gelegenheit der Neuordnung des gefammten Finanzweſens nach den 

Freiheitöfriegen wurden nun folgende Grundjäße maßgebend. Zunächjt wurden dem 
Staatsſchatz beitimmte Ginnahmen gejeglich zugewieſen; es verfügte nämlich zunächſt 
die Kab.Ordre vom 17. Januar 1820 im Allgemeinen, daß Erſparniſſe, welche im 
Yaufe der Adminiftration erzielt würden, und andere zufällige Ginnahmen zur Bil- 
dung eines Staatsſchatzes abgeliefert werden jollten, umd es jeßte die Kab. Ordre 
vom 17. Januar 1826 jpeziell jet, daß zu diejen zufälligen Ginnahmen gehören 
follten zuvörderſt der Erlös aus der Veräußerung und Bererbpachtung jolcher Ber 
figungen und Anlagen des Staats, die nicht unter den Domänen begriffen und mit 
ihren Nutungen dem Tilgungs- und Verzinſungsfonds der Staatsfchulden nicht über- 
wieſen find, 3. B. Hütten, Hammer, Salzwerfe, gewerbliche Anlagen; ferner das 
Entgelt aus Ablöfungen und Präftationen, die zu den genannten Staatsgütern ge— 
hören; endlich die zurüczuzahlenden Darlehen und Vorſchüſſe, welche aus dem Ertra- 
ordinarium der Generaljtaatsfaffe an Kommunen oder Privatperfonen gegeben 
find. An feſten Grundfägen über die aus dem Staatsſchatz zu machenden Verwen— 
dungen fehlte es dagegen, und wenn auch allerdings nach feftitehender Verwaltungs— 
marime die Beitände in eriter Linie für die Zwecke der Kriegführung refervirt wurden, 
jo find doch in den folgenden Dezennien im Drange der Verhältniffe auch andere 
Ausgaben, nicht blos zu militärischen Zweden, 3. B. zur Dedung von Ausfällen, 
welche der Staatäfaffe in theuren Jahren durch den Einkauf von Proviant und 
Fourage erwachſen waren, jondern auch Ausgaben zu anderweiten Staatsbedürfnifien, 
J. B. zur Bildung eines Betriebsfonds, zu diplomatifchen Zweden, zur Dedung des 
Defizits der Bank, zu Gnadenbewilligungen, daraus bejtritten worden, ganz ab- 
geſehen von der Verwendung, welche während des Jahres 1848 eintrat. (Vgl. 
darüber die Dentjchriit des Miniſters Thile über die Verwaltung des Staatsichaßes 
vom 6. April 1847, in „Der erite Vereinigte Landtag“, Bd. I. ©. 226 ff., femer 
die Nachweiſung bei Gelegenheit der eriten Budgetberathung in den Drudjchriften 
der II. Kammer 1849/50 Nr. 449 — Stenogr. Berichte der II. Kammer 1849/50 
Ad. IV. ©. 2217 ff, 2223 fi.) 


398 Reichskriegsſchatz. 


3) Es mag dahingeſtellt bleiben, inwieweit die finanziellen Beſtimmungen der 
Verf. Urk. die bisherige Machtvollkommenheit der Regierung auf dieſem Gebiete ſtreng 
genommen vielleicht beſchränkt hätten. In der ſtaatsrechtlichen Praxis bildete ſich 
alsbald der bei einzelnen Veranlaffungen allerdings beſtrittene Grundſatz aus, daß 
die in den Kab.Ordres von 1820 und 1826 dem Staatöfchag zugewiefene Ein: 
nahme auch ferner ohne eine Bewilligung des Landtages dem Staatsſchatz zuflöfle, 
alſo insbejondere der Ueberihuß der Einnahmen über die Ausgaben, Hinfichtlic 
deren Verwendung feine Vereinbarung erzielt war, außerdem aber die oben auf: 
geführten zufälligen Einnahmen, hinfichtlich deren noch in Betracht kommt, daß die 
Regierung fi) damals in ziemlich weitem Maße die Befugniß, Staatsvermögen 
ohne Zuftimmung des Landtages zu veräußern, beilegte, eine Bewilligung des Land: 
tages war nur erforderlih, wenn dem Staatsſchatz eine unter die Kategorie jemer 
Kab.Ordres nicht zu jubjumirende Einnahmequelle, wie 3. B. der Reſt der Anleihe 
von 1859, zugeführt werben ſollte; an einer Marimalgrenze fehlte e8 ganz. — Eine 
Nachweifung des Beitandes des Staatsſchatzes, jowie ein Etat der vorausfichtlichen 
Einnahmen und Ausgaben defjelben iſt zwar in den Jahren 1851—1853 den 
Kammern vorgelegt, dieſe Kontrole des Landtags aber jeit dem Staatshaushalts— 
geich von 1854 darauf beſchränkt, daß eine derartige Veröffentlichung durch den Drud 
nicht mehr ftattfand, und nur die Mbfchlüffe der Rechnungen der Budgetkommiſſion 
vertraulich zur Prüfung vorgelegt wurden, die dann ihrerjeits den Kammern all: 
gemein gehaltene Mittheilungen machte. 

4) Als nun in Folge der Kriege von 1864 und 1866 der Staatsſchatz geleert 
war, aus dem vorher fchon 5%, Millionen ala Kojten für die Grundfteuerregulirung 
entnommen waren, die jedoch nach den Geſetze von 1861 von den Belafteten erſetzt 
werden mußten, jo nahm die Regierung nach Beendigung des Krieges von 1866 
Anfangs ala jelbftveritändli an, daß dem Staatsſchatz aus den Krriegskoſtenentſchä⸗ 
digungsgeldern diejenigen Summen, welche demjelben im Gejammtbetrage von etwa 
22 Millionen für die beiden letzten Kriege entnommen waren, ohne bejondere Zu: 
jtimmung des Landtags wieder zugeführt werden müßten. Der noch aus Nikolaburg 
zwei Tage nach dem Abjchluffe der Präliminarien (28. Juli 1866) datirte Geſetz— 
entwurf, betreffend den außerordentlichen Bedarf der Militär- und Marineverwaltung, 
enthält weder jelbjt noch in feinen Motiven ein Wort vom Staatsſchatz, außer der 
Mittheilung, daß demjelben ein Theil der zur Kriegführung verwendeten Summen 
entnommen jei, und erjt bei der Einbringung diejes Geſetzentwurfs (jog. 60-Millionen: 
vorlage) in das Abgeordnetenhaus am 14. Auguft ſprach fich der Finanzminiſter 
beiläufig dahin aus, daß die Regierung beabfichtige, aus den eingehenden Kriegs 
fontributionen vor allen Dingen den Staatsſchatz bis zum Betrage von 22 Millionen 
wieder zu füllen. Indeſſen hat die Regierung diefen Standpunkt ſchon in der Kom: 
miffion aufgegeben und fich mit der Aufnahme einer desfallfigen Beitimmung in den 
vorliegenden Gejeßentwurf einverftanden erklärt. Diefer jedoch, wie er aus den 
Beichlüffen der Kommiffion hervorgegangen war, enthält eine derartige Ermächtigung 
nicht nur nicht, jondern es war durch die in demfelben verfügte Verwendung über 
die Kriegskontribution der Regierung thatjächlich unmöglich gemacht, irgend etwas 
in den Staatöfchaß zu legen. Bei der Plenarverhandlung über die 60-Millionen- 
vorlage drehte fich aber Alles gerade um dieje Frage. Es wurde damals die Notb- 
wendigfeit des ganzen Inſtituts ausführlich erörtert, indem man von der einen Seite 
auf die finanziellen und volfswirthichaftlichen Nachtheile eines jo bedeutenden zinälos 
daliegenden Beſtandes umd auf die fonftitutionelle Gefährlichkeit der Einrichtung, 
von der anderen Seite aber darauf Hinmwies, daß ein folches Opfer nothiwendig ſei, 
um über die finanziellen Schwierigkeiten im Augenblide einer Kriegserklärung bin: 
wegzubelien, die um jo bedeutender jeien, je größer bei dem Syitem allgemeiner 
Wehrpflicht die Differenz zwiſchen der Friedens- und Kriegsformation fih heraus— 
jtelle. Das Reſultat waren die Al. 3 und 4 des $ 2 des Gejeßes, betr. den außer: 


Neichstriegsihag. 399 


ordentlichen Bedarf der Militäi und Marineverwaltung und die Dotirung des 
Staatsjchaßes vom 28. Sept. 1866, beruhend auf einem Amendement Michaelis- 
Roepell und (im lebten Sabe) auf einem Unteramendement Lasker. Dana 
jollte der Staatsſchatz aus den Kriegsentſchädigungsgeldern zunächit auf 27%, Mill. 
(mdem man davon Abjtand nahm, die Grundjteuerkoften von den Berpflichteten 
einzuziehen) wieder dotirt werden. Es wurden ferner die dem Staatsſchatz durch die 
Kab.Ordres vom 17. Yan. 1820 und 17. Yuni 1826 zufließenden Einnahmen 
demjelben von Neuem zugefichert. Es wurde aber gleichzeitig Teftgejeßt, daR dieſe 
Einnahmen, jobald die baaren Bejtände des Staatäfchages auf 30 Millionen erhöht 
werden würden, dem allgemeinen Staatsfonds zufließen follten, und daß dieſe, 
joweit nicht über fie als Dedungsmittel im Staatshaushalte oder anderweitig unter 
Zuftimmung des Landtages verfügt werde, zur Tilgung von Staatsfchulden zu ver- 
wenden jeien. Es war aljo der Staatsſchatz Eontingentirt, und es durfte die Re— 
gierung damit um fo mehr einverftanden fein, als die Aufgabe des Staatsſchatzes 
bei der Entwidelung des heutigen Kredits nicht mehr die fein kann, die Mittel zur 
Kriegführung anzufammeln, jondern nur die, die für die eigentlihe Mobilmachung 
fotort erforderlichen Mittel zu gewähren. Ein Amendement Tweften, wonach der 
Staatsihag nur mit einer Nefolutivbedingung, mit einem terminus ad quem, 
nämlich bis Anfang 1870, bewilligt werden follte, jo daß aljo der Regierung mur 
die Mittel zu einer augenblidlichen Sriegsbereitichaft geboten wären, gelangte nicht 
jur Annahme. 
5) Obgleich der Art. 48 der Berfaffung des Norddeutichen Bundes lautet: 
„Die Koften und Laften des gefammten Kriegsweſens des Bundes find von allen 
Bundesitaaten und ihren Angehörigen gleichmäßig zu tragen, jo daß weder Bevor: 
augungen noch Prägravationen einzelner Staaten oder Hlaffen grundſätzlich zuläffig 
find“, und obgleich der Preußifche Finanzminifter in der Situng des Abgeordneten- 
hauſes vom 25. Sept. 1866 ala die Abficht der Regierung hingeftellt hatte, daß 
von den übrigen Regierungen des Norddeutſchen Bundes eine verhältnigmäßige 
Duote in den Staatsſchatz gelegt werden follte, jo ift das nicht einmal Hinfichtlich 
derjenigen Staaten gejchehen, welche mit Preußen Militärfonventionen abgeichlofien 
Haben. Deffenungeachtet fam der Preußifche Staatsfchat bei der Mobilmachung im 
Jahre 1870 dem ganzen Norddeutichen Bunde zu Gute, und wenn allerdings 
Sadjen davon feinen Gebrauch gemacht hat, jo find dagegen nah Süddeutſchland 
Beträge aus dem Staatsſchatz abgegeben worden. Uebrigens hat ſich damals der 
Nupen eines ſolchen Inſtituts von Neuem in jolchem Maße herausgeftellt, daß, nad) 
den Worten Bismard’3: „wenn wir den Staatsſchatz nicht gehabt hätten, wir 
pofitiv nicht im Stande gewejen fein würden, die Paar Tage zu gewinnen, welche 
binreichten , das gejammte linke Rheinufer vor der Frranzöfiichen Invafion zu ſchützen“ 
(Situng des Reichätages vom 4. November 1871). Es ergiebt fich das doch auch 
auf das Klarſte, wenn man bedenkt, wie viel Zeit die Legislative Behandlung der 
Kreditfrage unter allen Umjtänden in Anfpruch nimmt, und daß, obgleich der 
Reichstag unmittelbar bei Eintritt der Kriegsgefahr und noch vor der offiziellen 
Kriegserklärung berufen wurde, und obgleich derjelbe mit größter Beichleunigung die 
Geldforderungen der Bundesregierungen bewilligte, der Termin für die Subſtription 
auf die beichloffene Anleihe aber jo nahe gerüdt war, daß der Erfolg derjelben 
darunter gelitten bat, doch zwifchen der Mobilmachung und der Eubjfription mehr 
als vierzehn Tage in der Mitte lagen. Dazu kommt, daß in der Zeit vom 15. Juli 
bis zum 3. Auguft die täglichen Mobilmachjungsausgaben etwa 2 Millionen be— 
trugen, jo daß der Tag der Subfkription von der Regierung fjehnfüchtig erwartet 
wurde. Und dabei darf endlich nicht vergeffen werden, daß die damalige Kriegs— 
anleihe beim Kurſe von 88 zu 5 Prozent noch nicht einmal zu zwei Drittheilen 
zu Stande gekommen ift und daß die 5=progentigen Preußifchen Papiere vom 5. bie 
19. Juli von 1023), auf 87 gewichen find. 


400 Neihstriegsihag, 


I. Der R. 1) Die Einnahmequellen. Aber obgleich der Nuten der In— 
jtitution fich auf das Evidenteſte erwiejen hatte, und obgleich für den größten Theil 
des MReichögebietes ein Staatsichag in unangreifbarer gejeglicher Gültigkeit beitand, 
obgleich man endlich nach einem ftegreichen Kriege über reiche Geldmittel gebot, jo 
ift doch die Mebertragung der Inftitution auf das Neich nur nach jchweren Kämpfen 
erfolgt. Und zwar it dabei viel weniger der Gefichtspunft des Nußens oder der 
Nothwendigkeit eines Staatsfchages an und für fich, als vielmehr der Umſtand 
ichließlich entjcheidend gewejen, daß der Preußische Staatsjcha eine nicht Leicht zu 
bejeitigende gejeßliche Grijtenz hatte. Insbeſondere Hatte fi) die Kommiffion nur 
zu einer einmaligen Bewilligung, wenn auch nicht unter einen terminus ad quem, 
aber nur unter Vorausfeßung des Wegfalls des Preußiſchen Staatsichages, nicht aber 
zu einer dauernden Inſtitution mit jelbitändigen Ginnahmequellen verjtanden. Um 
diefe Frage drehte fich der parlamentarische Kampf. In demjelben bat die Regie 
rung infofern den Sieg davon getragen, als der $ 2 des Gejeßes, betr. die Bildung 
des R., vom 11. November 1871 dahin gefaßt ijt, daß, bei eingetretener Vermin— 
derung des Beitandes, bis zur Wiederherjtellung defjelben der R. ergänzt werden 
jolle durcdy Zuführung der aus anderen als den im Reichshaushaltsetat aufgerührten 
Bezugsquellen fließenden Einnahmen des Reichs und im Webrigen nach der darüber 
durch den NReichshaushaltsetat zu treffenden Beitimmung. Indeflen war diejer Sieg 
der Regierung, wenn man fich dieje jelbjtändigen Ginnahmequellen genauer anfieht, 
doch mehr ein jcheinbarer; das Prinzip, wonach die Füllung des Staatsjchageg un- 
abhängig jein jolle von parlamentarifchen Bewilligungen, ift zwar gerettet, dieſe 
Ginnahmequellen an jich aber find höchjt problematischer Art, und es iſt demnad 
der R. im diefer Hinficht jehr viel ungünitiger geftellt als bisher der Preußiſche 
Staatsjhag. So jehr man nämlich) die Preußischen Beitimmungen vor Augen 
gehabt Hat, jo konnte doch von Verwaltungsüberichüffen von vornherein feine Rede 
jein, da über dieſe der Art. 70 der Neichöverfaffung bereits verfügt hatte; was aber die 
zufälligen Einnahmen betrifft, die zwar in einem Staatöwejen mit großem Beltz 
erheblich fein können, jo reduziren fich diefe für einen Staat wie das Reich jofort 
auf einen geringen Betrag. Diefer aber wird noch dadurch erheblich eingejchränft, 
daß der Ausdrud zufällige Einnahmen als ein zu ſchwankender ganz vermieden und 
nur von jolchen Ginnahmen die Rede ift, deren Bezugsquellen im Reichshaushaltsetat 
nicht aufgeführt find; denn es ift nun bei der jegigen Faſſung faum in Abrede zu 
itellen, daß nicht etwa das Plus der im Etat aufgeführten Ginnahmequellen, wi 
3. B. jpäter eingehende, freditirt gewejene Steuern, in den R. fließen, da es fi ın 
diefen und anderen zahlreichen Fällen nur um Ginnahmen handelt, die in der That 
den im Gtat aufgeführten Bezugsquellen ihre Entjtehung verdanken; es iſt jermer 
zuzugejtehen, daß auch die Einnahmen von veräußerten VBermögensobjeften nicht obne 
Weiteres dem R. zufließen, da unter der Bezeichnung „Einnahmen von veräußerten 
Vermögensobjekten“ fich ein Titel im Budget findet. Es laffen fi unter diejen 
Umftänden überhaupt jchwer Fälle konftruiren, in denen eine Einnahme dem R. ohne 
Weiteres zufließt, man wird fich auf ſolche Möglichkeiten beſchränken müfjen, daß 
Jemand das Neich zum Erben jeines Vermögens einfeßt, auf Fälle, die fein Menih 
vorher jehen konnte, die ald reine Glüdsfälle fich darftellen. Dahin gehört aller 
dings auch eine Kontribution im alle eines glüdlichen Krieges, und es mag hier 
die Thatjache feitgeitellt werden, daß in jolchem alle nach der übereinjtimmenden 
Meinung der hervorragenditen Redner die Yüllung des R. ohne bejondere Zuftim- 
mung des Reichstages jtattfinden würde. Uebrigens aber, und namentlich aljo im 
Falle eines unglüdlichen Krieges, iſt man auf die periodifchen Jahresbemwilligungen 
des Reichstages verwieien, und dieſe gefegliche Zuficherung einer Wiederfüllung des 
R. hat wieder nur theoretiichen Werth. Denn wenn auch aus diejer Beltimmung 
dem WReichstage allerdings die jtaatsrechtliche Verpflichtung zu derartigen Bemil: | 


Reichskriegsſchatz. 401 


ligungen erwächſt, ſo iſt dieſe doch jo wenig ſubſtantiirt, daß in dieſer Hinſicht Alles 
auf den guten Willen des Reichstags ankommt, der dieſer Forderung an ſich ſchon 
durch jährliche Bewilligungen ganz geringer Summen entjprechen würde, und zwar 
deito wahrfcheinlicher, je fnapper die allgemeinen Staatsmittel nach einem unglüd- 
lihen Kriege fein würden. 

Die normale Höhe des R. iſt auf 40 Millionen feftgejegt worden, während 
eine proportionelle Berechnung zu einer Höhe von 48 Millionen geführt haben 
würde. Es ift dabei übrigens unter Hinweis auf die Erfahrungen von 1870 aus— 
drüdlich feftgeftellt worden, daß die Summe von 40 Millionen noch nicht einmal 
ausreicht, um die einmaligen Mobilmachungskoſten zu deden. 

2) Was die Verwendung de R. betrifft, jo ift zumächit ausdrüdlich vor- 
geihrieben, daß derjelbe jeiner offiziellen Bezeichnung gemäß nur für Zwecke der 
Mobilmachung benußt werden joll. Diefe Benutzung joll ferner mittels Kaiferlicher 
Anordnung, aber nur unter vorgängig oder nachträglich einzuholender Zuftimmung 
des Bundesrathes und des Reichstages verfügt werden. Die Zuftimmung des 
Bundesrates rechtfertigt fich aus der ganzen Struktur der Reichsverf., wenn auch 
gerade in militärifchen Dingen, und aljo auch in Mobilmachungsfragen, der Kaiſer 
an fi vom Bundesrathe unabhängig ift; nur zu einer Kriegserklärung ift in ge 
wifien fällen die Zuftimmung des Bundesrathes erforderlih. Die Zuftimmung des 
Reihstages enthält eine ftarfe Erweiterung der Eonjtitutionellen Befugnifje, die aber 
doch Lediglich die Bedeutung einer ornamentalen Berzierung hat; denn da dieje 
Zuftimmung erſt nachträglich eingeholt zu werden braucht, jo ift es ein völliges 
Räthiel, welche Wirkungen die nachträglich verweigerte Zuftimmung eigentlich haben 
toll; das Räthſel ift in der That unlösbar, und jo hat man fi) damit begnügt, 
die ganze Trage für unpraftiich zu erklären. Das ift fie auch in Wahrheit genau 
ebenfo jehr, wie das Recht der Verweigerung von Kriegsanleihen. 

3) Die Verwaltung des R. ift dem Reichskanzler übertragen, welcher diejelbe 
nah den darüber mit Zuftimmung des Bundesrathes ergebenden Anordnungen des 
Kaifers unter Kontrole der Reichsſchuldenkommiſſion zu führen hat. Die Reiche» 
ihuldenfommiffion erhält von dem Reichsfanzler alljährlich eine Nachweifung über 
den Beitand des R. und außerdem in kürzeſter Friſt Mittheilung von allen in Ans 
ehung deffelben ergebenden Anordnungen und vorkommenden Veränderungen. Sie 
hat die Befugniß, jich von dem Vorhandenfein und der ficheren Verwahrung Ueber: 
jeugung zu verichaffen. Dem Bundesrathe und dem Neichötage ift bei deren regel- 
mäßigem Zufammentritt von der Reichsſchuldenkommiſſion Bericht zu erjtatten. Auf 
Grund dieſer Beitimmungen bat eine Kaiferliche Verordnung, betreffend die Ver— 
waltung des R., vom 22. Januar 1874 das Nähere angeordnet, insbejondere auch 
($ 1), daß der zur Bildung des R. beitimmte Betrag von 40 Millionen Thalern 
in gemünztem Gelde in dem Juliusthurm der Gitadelle von Spandau verwahrlich 
niederzulegen iſt. 

4) Die Bildung des R. war jedoch noch von der Suspenfivbedingung abhängig, 
daß der Preußiſche Staatsichag aufgehoben würde. Dieje Aufhebung ift durch das 
Serie vom 18. Dezember 1871 erfolgt, und zwar vom 2. Januar 1872 an. Die 
dadurch disponibel gewordenen 80 Millionen find dann in ihrem Hauptbeſtande in 
Höhe von 26%, Millionen zur Tilgung der am höchiten verzinften Preußifchen 
Staatsjchuld, der fünfprogentigen Anleihe von 1859, außerdem aber im Betrage von 
etwa 31/, Millionen zur Tilgung folcher Paflivrenten verwandt worden, die zum 
wanzigiachen Betrage ablösbar find, alfo gleichialls eine fünfprogentige Staatsſchuld 
tepräfentiren. Alle bisherigen Ginnahmen des Staatsſchatzes endlich jollen hinfort 
dern allgemeinen Staatsfonds zufließen und find nach einem Zuſatze des Abgeord— 
netenhaufes zur Schuldentilgung zu verwenden, jomweit darüber nicht im Staats— 
daushalt oder ſonſt in gejeglicher Weiſe verfügt wird. 

db. Holgendorff, Ene. U. Redhtöleriton II. 3. Aufl. 26 


402 Reichsland. 


Lit.: Kletke, Lit. über das Finanzweſen d. Preuß. Staate, 3. Aufl. 1876, ©. 318 #.; 
Derfelbe, Der Preubiiche Staatsichaß (Zeitichr, für Preuß. Geſch. und Landeskunde Jahre. 
IV. [1867] ©. 100 fi., 288 ff). — Riedel, Der Brandenb.-Preub. Staatshaushalt, Berlin 
1866. — Abolph Wagner, Reichäfinangiweien, in dv. Holgendborff’3 Jahrb. Bb. II 
(1874) ©. 67, 152. — Stenogr. Bericht des Preuß. Yandtags 1866/67, bei. Drudi. des Abe. 
Nr. 20 und 63, und 1871/72 bei. Drudi. des Abg.H. Nr. 14. — Stenogr, Ber. bed Reihe: 
tags, 1871. I. Legisl. Per. 2. Seſſ., Bd. 1. ©. 24 ff., 117 fi., 148 fi.; 2b. II. Nr. 5, 90. 

Ernft Meier. 


Reichsland ift das in Art. I. des DVerfailler Präliminar » Friedensvertrag 
vom 26. Februar 1871 und in Art. I. des definitiven Frankfurter Tyriedensver: 
trages vom 10. Mai 1871 von Frankreich dem Deutjchen Reiche abgetretene und 
durch das RGeſ. vom 9. Juni 1871 mit dem leßteren für immer vereinigte Gebiet, 
deflen Grenzen in den erwähnten Friedensverträgen und deren Nachtragstonventionen 
(vom 12. Oktober 1871 Art. 10 [R.G.BL. ©. 367, 368], vom 24.27. 
August und 28./31. Auguft 1872 [G.BL. j. Eljaß-Lothringen S. 283, 287]) 
näher jeftgejett find (Eljaß-Lothringen). Bereits in der Kab. Ordre vom 14. umd 
21. Auguft 1870, durch welche ein Generalgouvernement für das Elſaß errichtet 
wurde und in der Proflamation des Generalgouverneurs vom 30. Auguft deſſelben 
Jahres ift ausdrüdlich ausgeiprochen, daß die Bejeung des Landes feine vorüber: 
gehende jein ſollte. Die Befigergreitung erfolgte von vornherein mit dem animus 
domini. Nach richtiger Meinung ift daher der völkerrechtliche Erwerbstitel des X. 
für das Reich in der debellatio zu jehen, welche durch die Friedensverträge ihre 
fürmliche Sanktion erhielt (Rayjer in v. Holtzendorff's Jahrb. IV. ©. 152 fi.; 
Zorn, Staatsrecht, I. ©. 422), während andere (Löning, Verwaltung des Ge 
neralgouvernements, ©. 8 ff., 27 ff.; Bluntſchli in v. Holtzendorff's Jahr 
buch I. ©. 307; Laband, Staatäredht, II. ©. 121) den völferrechtlichen Titel 
in den Friedensverträgen und den ftaatsrechtlichen in dem Bereinigungsgejeß jehen 
wollen. Praktiſch ift die Trage bezüglich der Geltung verjchiedener von der Fran— 
zöſiſchen Regierung de la defense nationale erlafjenen Gejege für jolche Gebiete von 
Eljaß-Lothringen, welche wie 3. B. die Feſtung Bitſch zur Zeit des Erlaſſes ſich 
noch in Feindeshand befanden (Zöning, a. a. D. ©. 181—196; v. Nidt: 
hofen, Ueber die jtaatsrechtliche Gültigkeit der während des Krieges jeitens der 
Franzöſiſchen Regierung erlaffenen Gejeße und Dekrete für Eljaß-Lothringen 1874; 
Kayjer, a. a. O. ©. 137, 151—153). Gerichtlich ift die Frage dahin ent 
ichieden, daß die Gültigkeit der Tranzöfiichen Anordnungen für diejenigen Lande: 
theile angenommen wurde, welche am Tage des Ablaufs der Publikationsfriſt nicht 
ichon von den Deutjchen Heeren bejeßt waren. Wenngleih von Anfang der Ein: 
verleibung an fein Zweifel darüber obwaltete, daß Eljaß-Lothringen nicht den Bundes: 
gliedern des Neichs gleich jtand, jo war man fich doch über die Natur feine 
Stellung zum Reich nicht klar (Stenogr.Ber. 1871, I. Sefj. ©. 833). Der Aus 
drud „unmittelbares R.“ findet fich bereits in den Motiven zu dem Bereinigung:: 
gejeß (Drudf. des Reichstages 1871, I. Seſſ, Nr. 61, ©. 6) und iſt fodann un 
das Gejeß vom 25. Juni 1873 (R.G. Bl. ©. 61) übergegangen, welches bei Ein 
führung der Verfaffung in $ 2 bejtimmt, daß dem in Art. 1 der BVBerfaffung be 
zeichneten Bundesgebiet das Gebiet des R. Eljaß-Lothringen Hinzutritt. Ueber 
dafielbe fteht die Yandeshoheit, die Staatögewalt dem Reiche ala jolchem zu, nict, 
wie mit Unrecht Seydel (Hommentar zur RVerf., ©. 93 ff.) will, den verbündeten 


Regierungen; die Ausübung der Staatsgewalt ift aber dem Kaiſer im Namen der | 


Reichs übertragen (Gef. vom 9. Juni 1871, $ 3). Nach diefer Richtung ift die 


Stellung des R. zum Weich und zu den einzelnen Bundesjtaaten immer eine un: | 


veränderte geblieben. Die Folgerungen hieraus werden fich jedoch erft ziehen Laflen, ' 


wenn eine Darjtellung der Verfaſſung des R., wie fie jeßt befteht, gegeben ift. Vor: 


her aber muß ein Bli auf die gejchichtliche Enttwidelung dieſer Verfaſſung geworten 


werden. 


— 


Reichsland. 408 


J. Geſchichtliche Entwickelung der Verfaſſung des R. 

1) Die Verwaltung des Generalgouvernements (vom 14. Auguſt 
1870 bis zum 28. Juni 1871, dem Tage der Rechtäfraft des Gejehes vom 9. Juni 
1871) ift lediglich die einer militärischen Diktatur; jo raftlos auch die Thätigkeit 
derfelben war (vgl. Amtliche Nachrichten für Eljaß-Lothringen, Bekanntmachungen 
des Generalgouverneurs zc., Straßburg 1879), um die einzelnen Zweige der Ber: 
waltung nach Deutſchem Mufter zu geftalten, jo wenig war fie geeignet und Willens, 
die ftaatlichen Verhältniſſe des Landes zu konfolidiren. 

2) Die kaiſerliche Diktatur (vom 28. Juni 1871 bis zum 1. Januar 
1874). Indem das Bereinigungsgejeg dem Kaiſer die Ausübung der Souveränetät 
delegirte, wurde gleichzeitig beftimmt, daß bis zur Einführung der RVerf. die Ge- 
jeßgebung dem Kaiſer in Gemeinschaft mit dem Bundesrath zuftehen jolltee Dem 
Reichstage war nur die Genehmigung von Anlehen oder von Garantieübernahmen 
für dad R. zu Laften des Reichs vorbehalten, auch jollte ihm ein jährlicher Rechen: 
Ihaftsbericht gegeben werden. In diejer Periode beginnt man, die Verwaltung des 
R. von der des Reiches jelbftändig zu gejtalten, wenn fie auch durch Organe des 
Reiches ausgeübt wird. Im Bundesrath wird ein bejonderer Ausſchuß für Elſaß— 
Lothringen gebildet; verantwortlicher Minifter ift der Reichskanzler, der für die Ver: 
waltung des R. eine bejondere Abtheilung im Reichskanzleramt einrichtet; ein be— 
ſonderes gejeßliches Publifationsorgan (G. Bl. für Elfaß-Lothringen) wird gegründet. 
Die Organifation der Gerichte erfolgte durch das Gejeh vom 14. Juli 1871, wobei das 
ROHG. an die Stelle des Franzöſiſchen Kaflationshofes trat, und Kriegsgerichten 
(legte Organifation: Gej. vom 12. Juli 1873) die Aburtheilung der fchwereren po= 
litiſchen Verbrechen überwiejen wurde. Endlich wird die Ablöfung der verkäuflichen 
Stellen im Juſtizdienſt ins Werk gejeßt (Gef. vom 10. Juni 1872). Die Orga: 
nifation der Verwaltungsbehörden war der Inhalt des Gef. vom 30. Dez. 1871, 
welches zu den Grundlagen der Tranzöfiichen Verwaltung, wie fie namentlich durch 
das Gef. vom 28 pluviose VIII. geichaffen waren, ala oberjte Verwaltungsbehörde 
im Lande den Oberpräfidenten hinzufügte. Ihm ift befonders durch $ 10 des Gei. 
die Beiugniß beigelegt, alle erforderlichen Maßregeln bei Gefahr für die öffentliche 
Sicherheit zu treffen und namentlich die Rechte auszuüben, welche das Franz. Gef. 
vom 9. August 1849 der Militärbehörde für den Fall des Belagerungszuftandes 
zumeift. Außerdem wurden dem Oberpräfidenten vielfache Ermächtigungen ertheilt, 
welche nach Franzöſiſchen Gejegen den Miniſtern zuftanden, wie andererjeits auf den 
Reichskanzler Berugnifje übergingen, welche das Franzöſiſche Gejeg dem Staatsober- 

„haupt zumwies (3. B. die Ertheilung von Chedispenjen durch Gej. vom 25. Februar 
1872). Die Funktionen des Franzöſiſchen Staatsraths wurden, ſoweit es fih um 
recours comme d’abus handelte, dem Bundesrath, joweit die oberjte Verwaltungs: 
jurisdiftion in Frage fommt, einem aus Räthen des Oberpräfidium gebildeten „kaijer- 
lihen Rath in Eljaß-Lothringen“ übertragen (Erlaffe vom 1. Sept. 1872 und 
22. Febr. 1873). Ueberall machte fich ein Streben nach Dezentralifation geltend, 
und fo wurde auch den an die Stelle der sous-prefets getretenen Kreisdireftoren 
und den für die Präfeften jubjtituirten Bezirkspräfidenten eine weiterreichende Amts— 
thätigfeit beigelegt. Von demjelben Geifte ift das Gefeh vom 30. Dezember 1871 
über die Einrichtung der Forjtverwaltung bejeelt; das Gejeg vom 16. Dez. 1873 
regelte die Bergverwaltung im Sinne des Preußifchen Berggejeßes vom 24. Juni 
1865. Während fo die innere Organijation des Landes vollzogen wurde, gleich als 
ob es fih um einen jelbjtändigen Staat handelte, wurde das R. andererjeits auch 
allmählich einzelnen Beſtimmungen der RVerf. zugänglic” gemadt. Schon das 
Bereinigungsgefeß Hatte Art. 3 der RBerf. eingeführt und beftimmt, daß mit dem 
1. Ianuar 1873 (durch Ge. vom 20. Juni 1872 [R.G.B. ©. 208] auj 
den 1. Januar 1874 erſtreckt) die VBerfaffung in Eljaß - Lothringen Geltung haben 
follte und jchon vor diefem Zeitraume von dem Kaiſer mit Zuftimmung des Bundes» 
26* 


404 Reichsland. 


raths einzelne Artikel derſelben eingeführt werden könnten. Letzteres geſchah auf 
dem Gebiete des Zollweſens (Art. 33 — Kaiſerl. Verordn. vom 17. Juli 1871 
[R.G.Bl. ©. 825)) nebſt Verordn. vom 19. und 30. Aug. 1871 [R. G. Bl. ©. 
326, 329), auf dem des Poſt- und Telegraphenweiens (Art. 48—52 — Kaiſerl. 
Verordn. vom 14. Oft. 1871 [R.G.B. ©. 443]), auf dem des Eiſenbahnweſens 
(Art. 41—47 — Kaiſerl. Verordn. vom 11. Dez. 1871 [R.G.Bl. ©. 444]), der 
geitalt jedoch, daß die Verwaltung der Eifenbahnen des R. der Landesverwaltung 
entzogen und auf die Verwaltung des Neiches jelbjt übertragen wurde, auf dem 
Gebiet des Kriegsweſens (Art. 57, 59, 61, 63, 65, — Kaiſerl. VBerordn. vom 
23. Januar 1872 [R.G.BL. ©. 31]) nebit dem Geſ. vom 9. Nov. 1867 über die 
Verpflichtung zum Kriegsdienſt. Schon zufolge diefer Berfaffungsbeitimmungen 
wurde das R. obwol fein jelbitändiges Bundesglied, fondern Provinz des Reichs 
in feinem VBerhältniß zu dieſem thatjächlic wie ein jelbitändiger Gliedjtaat des 
Reichs behandelt, und das Gleiche erfolgte durch Einführung einer Reihe von Reiche 
gelegen, welche eine ſolche Eriftenz zur Vorausſetzung haben, wie das Geje über 
die Rechtöhülfe vom 21. Juni 1869 (Gef. vom 11. Dezember 1871 [R.G.B. 
©. 445]), über die Rinderpeft vom 7. April 1869 (Gej. vom 11. Dezember 1871 
[a. a. O. P, das Feitungsrayongejeß vom 21. Dez. 1871 (Gef. vom 21. Februar 
1872 [R.G.BL. ©. 55]), $ 29 der Gew.O. vom 21. Juni 1869 (Gef. vom 15. 
und PVerordn. vom 19. Juli 1872 [R.G.Bl. ©. 350, 351]) u. j. w. 

3) Die unmittelbare Herrſchaft der Reichögeiekgebung (vom 
1. Januar 1874 bis 2. Mai 1877). Durch Geſetz vom 25. Juni 1873 (R.G.B. 
©. 61) trat mit dem 1. Januar 1874 die RVerf. in Gljaß-Lothringen in Kraft, 
dergeitalt, daß das Land dem Bundesgebiet hinzutrat, 15 Abgeordnete zum Reiche 
tage erhielt (Wahlgei. vom 31. Mai 1869 und Berordn. des Bundesraths vom 
1. Dezember 1873 [R.6.B. S. 375] betreffend die Abgrenzung der Wahlkreife) 
und daß die Reichägefege über die Bierfteuer feine Anwendung finden, die Landes 
gejeße über das Octroi aber beibehalten bleiben jollten. Fortan ftand Elſaß— 
Lothringen unter dem Schuße der RBerf.; freilich in anderer Weife als die Bun- 
desjtaaten. Denn während in diefen Aenderungen der RVerf. nur im Wege des 
Art. 78 vor fich gehen fönnen, kann das Reich im R., wo die Verfaffung nur dur) 
ein Geje eingeführt ift, eine Veränderung und Aufhebung derjelben auch wieder im 
Wege eines einfachen Reichsgejees erfolgen lafien. Zur Landesgeſetzgebung im R. bedurfte 
es fortan eines Reichsgeſetzes mit der Mopdififation, daß der Kaiſer mit Zuftimmung 
des Bundesrathe, während der Reichstag nicht verfammelt war, Verordnungen mit 
Geſetzeskraft erlaffen konnte, die jedoch dem Reichstage bei feinem Zuſammentritt 
vorgelegt werden mußten und ihre Wirkjamfeit verloren, wenn er feine Genehmigung 
verfagte. Während in der vorigen Periode der Kaiſer als delegirter Landesherr von 
Eljaß-Lothringen gleichberechtigt in Fragen der Gefeßgebung dem Bundesrath gegen: 
überjtand und feine Sanktion als ein bejonderer Faktor der Gejehgebung galt, war 
iortan ein reichsländifches Partikulargejeg materiell und formell Reichsgeſetz, zu 
welchem es nur der Zuftimmung von Bundesrath und Reichstag bedurfte und der 
Kaifer als jelbitändiger Faktor der Gefeßgebung außer Wirkſamkeit trat. (Bal. 
Laband, Staatärecht, II. S. 144 ; anderer Meinung: Zorn, Staatsredht, I. ©. 433.) 
Nur Hinfichtlich der Nothitandsverordnnungen war das biöherige ftaatsrechtliche Ber: 
hältniß jtehen geblieben, doch durften fie nicht eine Veränderung der Berjaffung oder 
eines in Elfaß-Lothringen geltenden Reichsgefeges oder Anleihen und Garantien zu 
Lajten des R. zum Gegenjtand haben. 

4) Der Uebergang zur Selbftändigfeit (vom 2. Mai 1877 bis 
1. Oftober 1879). Bereits durch Erlaß vom 29. Oktober 1874 (R.G. Bl. 1877, 
©. 492) war der Reichsfanzler ermächtigt worden, den Yandeshaushalt und die 
innere Gejeggebung des R. betreffende Entwürfe gutachtlich einem Landesausſchuß 
vorzulegen, welcher durch die drei Bezirfötage des Landes (Unter-, Ober-Eljaß und 


Reichsland. 405 


Lothringen) aus ſeinen Mitgliedern gewählt wurde und aus 30 Mitgliedern und 9 
Stellvertretern beſtand. Durch Geſetz vom 2. Mai 1877 (R.G. Bl. ©. 491) wurde 
der Landesausſchuß zu einem ſtaatsrechtlichen Faktor der Geſetzgebung erhoben und 
ein zweiter fakultativer Weg für den Erlaß reichsländiſcher Geſetze eingeführt. Da— 
nad konnte der Kaijfer mit Zuftimmung des Bundesraths und des Landesausfchufies 
Gejege für Elſaß-Lothringen erlaflen, dergeitalt, daß nunmehr wieder wie vor dem 
Geieg vom 25. Juni 1873 der Kaiſer Faktor der Gejeßgebung wurde und neben 
ihm der Bundesrath die Stelle eines Oberhaufes, der Landesausſchuß die Stelle 
eines Unterhaufes vertrat. Letzterer jollte auch neben den: Bundesrath die Entlaftung 
für den Landeshaushalt ertheilen, diefe aber bei einer Verweigerung jeitens des 
Landesausfchuffes durch den Reichstag erfolgen. Im Uebrigen ift das Gejeß vom 
25. Juni 1873 in Kraft geblieben, und namentlich hat diefer zweiten Form der Ge- 
jeßgebung nicht die Berugniß beigelegt werden jollen, Gejeße, welche durch die Reichs— 
geſetzgebung gefchaffen waren, abzuändern oder aufzuheben (Qaband, II. ©. 147). 

5) Die Selbjtändigfeit (vom 1. Oftober 1879). Im Anjchluß an die 
vom Reichstag am 27. März 1879 angenommene Rejolution, daß Eljaß-Lothringen 
eine jelbjtändige im Lande befindliche Regierung erhalte, erging das Gejeg vom 
4. Juli 1879 (R.G. Bl. ©. 165), welches laut Verordn. vom 23. Juli 1879 
(R.G.Bl. ©. 281) mit dem 1. Oktober 1879 in Kraft trat. An dem Verhältniß 
von Eljaß-Lothringen zum Reich wird Nichts geändert, jo daß für das N. auch 
noch ferner Landesgefehe im Wege der Reichsgeſetzgebung erlaffen werden können 
(Gef. vom 2. Mai 1877) und der Kaifer mit Zuftimmung des Bundesraths befugt 
bleibt, Nothitandsverordnungen zu erlaffen (Gef. vom 25. Juni 1873, $ 8). Die 
Ausübung der Staatshoheit fteht nach wie vor dem Kaiſer zu, dem jedoch das Necht 
beigelegt ift, fich in der Ausübung feiner landesherrlichen Machtbefugniffe durch 
einen Statthalter, welcher im Lande refidirt, vertreten zu laffen. Dagegen jcheidet 
die Gentralbehörde des Reichs — der Reichskanzler — völlig aus der Verwaltung 
von Eljaß-Lothringen aus, und er jteht eigenthümlicher Weife zu dem R. in feinem 
anderen Berhältniß als zu einem Bundesjtaate, dagegen würde jedoch auch der 
Statthalter Eljaß-Lothringifche Landeögejege, welche im Wege der Reichägejeßgebung 
zu Stande fommen, nicht an Stelle des Reichskanzlers zu fontrafigniren haben (Geſetz 
$ 3). Die Aenderung der Staatöverfafjung im R. iſt alfo lediglich im Sinne der 
Reichstagsrefolution erfolgt; e8 ift nunmehr eine Regierung im Lande geichaffen. 
Diejelbe gipfelt in dem Statthalter, welcher an die Stelle des Reichskanzlers und 
bisherigen Oberpräfidenten tritt und endlich im verjchiedenen Richtungen vermöge 
Kaijerlicher Delegation landesherrliche Rechte ausüben kann. 

I. Gegenwärtige Verfaſſung des N. 

A. Der Statthalter. Die Ernennung und Abberufung deffelben erfolgt 
durch den Kaiſer unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers (Art. 17 der RVerf.). 
Die Refidenz des Statthalters iſt Straßburg. 

1) Der Statthalter ala Inhaber landesherrliher Befugniſſe. 
In Betracht gezogen find: die Vollziehung allgemeiner Verordnungen 
zur Ausführung von Gejeßen, die Vollziehung bejtimmter, aus— 
drücdlich bezeichneter Verordnungen (Abänderung der Kreis: und Bezirks: 
grenzen, Grmädtigung von Bezirken und Gemeinden zur Aufnahme von Anleihen 
und Steuerzuichlägen, Octroi, Brüden- und Fährgeld, Teititellung des Haushalts der 
Bezirke, Anerkennung gemeinnüßiger Anftalten, Ermächtigung zur Annahme leht- 
williger Zuwendungen u. j. w.), die Befugniß zum Erlaß von Geldftraien 
und Die Beiugniß zur Gewährung der Rehabilitation jowie zum 
Grlaß von Steuern, Gebühren, Gefällen, die Ernennung und Ab— 
berufung verihiedener mittelbarer Staatädiener (Bürgermeifter, Bei: 
geordnete, Geiſtliche aller Belenntniffe). In diefen Grenzen hat der Sailer jeine 
fandesherrlichen Rechte durch DVerordn. vom 23. Juli 1879 (R.G.BL. ©. 232) dem 


406 Reichsland. 


erſten Statthalter Freiherrn v. Manteuffel perſönlich übertragen. Als Delegirter 
Kaiſerlicher Rechte iſt der Statthalter unverantwortlich. Auf dieſem Gebiete bedürfen 
daher ſeine Erlaſſe behufs Uebernahme der konſtitutionellen Verantwortlichkeit einer 
miniſteriellen Gegenzeichnung durch den Staatsſekretär ($ 4 Abi. 1 des Geſetzes). 

2) Der Statthalter an Stelle des Reichskanzlers. De jure lag 
die oberite Leitung der gefammten Landesverwaltung in den Händen des Reichs— 
kanzlers, welcher auch die fonftitutionelle Verantwortung hierfür dem Bundesrath 
und Reichstag gegenüber trug. Gin Theil davon war bereits durch die Verordn. 
vom 29. Januar 1872 auf den Oberpräfidenten übergegangen, während die dem 
Reichskanzler verbliebenen minifteriellen Befugniffe auswärtige und militärifche Ans 
gelegenheiten, Yuftiz (Gef. vom 14. Juli 1871, $ 3), Verwaltung der indirekten 
Steuern, Foritverwaltung (Gef. vom 30. Dez. 1871, $ 1), Bergweſen (Gef. vom 
16. Dez. 1873, $S 164, 165), Vorbereitung der Gefege und Berichterjtattung an 
den Kaiſer (Gef. vom 9. Juni 1871, 8 4) jeit dem Stellvertretungsgejeß vom 
17. März 1878 (R.G. Bl. ©. 7) von den Vorftänden des Reichsjuftizamts und des 
Reichöfanzleramts für Eljaß-Lothringen ausgeübt wurden. Letzteres Amt ſowie das 
DOberpräfidium in Straßburg wurden aufgelöft und die Juftizverwaltung des R. 
dem Reichsjuftizamt entzogen und alle minifteriellen Pflichten — einschließlich der 
fonftitutionellen Berantwortlichfeit — und Rechte dem Statthalter übertragen. 
Diefer hat jomit in Elſaß-Lothringiſchen Angelegenheiten die Stelle eines verant: 
wortlichen Minifters und fann fich in diefer, wie der Reichsfanzler e8 nach Maßgabe 
des Gejehes vom 17. März 1878 konnte, durch den Staatäjekretär vertreten laſſen. 
Dem Landesausschuß gegenüber ift eine Verantwortlichkeit nicht begründet. 

3) Der Statthalter an Stelle des Oberpräfidenten hat die durch 
das Gef. vom 30. Dez. 1871, $ 10 geichaffenen außerordentlichen Vollmachten bei 
Gefahr für die öffentliche Sicherheit. (Die Anficht von Stengel in den Annalen des 
Deutichen Reiche 1878, ©. 113 ff., daß $ 10 durch Einführung der RBerf. in Eljaß- 
Lothringen aufgehoben ſei, beruht auf der jaljchen Anficht, daf Art. 68 der RBerf. die 
landesgefeglichen Vorſchriften über den Belagerungszuftand außer Wirkſamkeit gejet habe.) 

B. Die Gentralverwaltung wird unter dem Statthalter durch ein 
Landesminijterium gerührt, an deſſen Spite ein Staatsſekretär fteht und welche 
in Abtheilungen unter der Leitung von Unterſtaatsſekretären zerfällt ($ 6) und deſſen 
Beamte ſämmtlich Landesbeamte find. Das Minifterium gilt im Sinne des Be 
amtengejeges als oberjte Kandesbehörde und ift infofern an die Stelle des Bundes 
raths getreten (Ge. $ 8). Im MUebrigen ift die Organifation des Ministeriums 
durch die Verordn. vom 23. Juli 1879 erfolgt; danach zerfällt leßteres in vier Abs 
theilungen: Inneres nebit Kultus und Unterricht, Juſtiz, Yinanzen und Domänen, 
Gewerbe nebjt Landwirthichaft und öffentlichen Arbeiten. Die Refjorts find jedoch 
nicht jelbjtändig nebeneinander wirkende Behörden, vielmehr alle der oberen Leitung 
des Staatsſekretärs untergeordnet, welcher alle Entjcheidungen trifft und fich in den 
Adtheilungen oder im Plenum oder blos vom Referenten allein jede ihm beliebige 
Angelegenheit zum Vortrag vorlegen laſſen kann. 

C. Der Staat3rath. Der Franzöſiſche conseil d’etat hatte in der bie 
herigen Organijation von Eljaß-Lothringen feinen vollen Erja gefunden; der 
recours comme d’abus war auf den Bundesrath, die Verwaltungsbeiugniffe auf den 
Oberpräfidenten, die VBerwaltungsgerichtöbarfeit auf den Kaiferlichen Rath in Elijah: 
Lothringen übergegangen (Gef. vom 30. Dez. 1871, 588 8, 9; Stengel, in 
Hirth’3 Annalen 1875, ©. 1321 ff.; 1876 ©. 808 ff., 897 ff.). Die weiteren 
Befugniſſe des Staatsraths wie die Entjcheidung von Kompetenztonflitten , die be 
gutachtende Thätigfeit, die Defretur des rex in parlamento waren außer Wirkjam- 
feit getreten. Nach der neuen Berfaffung wird unter dem Vorſitz des Statthalter 
ein Staatsrat eingejeßt, welcher aus den Borftänden des Minifterium, dem Prä- 
fidenten und Oberſtaatsanwalt beim Oberlandesgericht, drei auf Vorjchlag des Landes- 


Reichsland. 407 


ausſchufſes ernannten und noch fünf bis ſieben aus Allerhöchſtem Vertrauen be— 
rufenen Mitgliedern beſteht, und welchem die Begutachtung von Geſetzentwürfen und 
allgemeinen Ausführungsverordnungen jowie von anderen ihm durch den Statthalter 
überwiefenen Angelegenheiten obliegt. Außerdem können dem Staatsrath durch die 
Yandesgejeßgebung noch andere, inäbejondere bejchließende Funktionen übertragen 
werden, wobei namentlich in Ausficht genommen ift, daß aus demjelben ein oberjter Ver⸗ 
waltungsgerichtshof gebildet werde, auf den die Beiugniffe des Kaiferl. Rechts und die 
Entſcheidung von Kompetenzkonflitten (GBG. & 17) übertragen werden können (Gef. $ 9). 

D. Der Landesausſchuß. Die Zahl der Mitglieder ijt auf 58 erhöht, 
von denen 34 durch die Bezirkötage, 4 in den vier großen Städten des Landes 
(Straßburg, Mülhauſen, Met, Colmar) und 20 von den 20 Landkreifen gewählt 
werden. Die Abgeordneten der Städte werden von den Gemeinderäthen aus deren 
Mitte, die Abgeordneten der Kreiſe indireft durch Wahlmänner gewählt, die von 
den Gemeinderäthen aus ihrer Mitte ernannt werden. Die Wahl ift geheim, die 
Dauer der Wahlperiode beträgt drei Jahre (SS 12—18), das Wahlreglement er- 
folgte durch Kaiſerliche Verordn. vom 1. Oktober 1879. Erweitert find die Rechte 
des Landesausſchuſſes durch das ihm verlichene Recht der Gejeßesinitiative umd der 
Ueberweifung von Petitionen an das Minifterium. Die Mitglieder des lebteren 
haben das Recht, den Situngen des Landesausschuffes und feiner Kommiffionen bei- 
juwohnen, und müſſen jederzeit gehört werden ($$ 20, 21). Die Gejchäftsfprache ift 
nach dem RGeſ. vom 23. Mai 1881, welches am 1. März 1882 in Kraft tritt, die 
Deutiche. Eine Indemnität für Meußerungen im Landesausſchuß ift nicht gewährleiftet. 

E. Bundesrath. Cine PVertretung des R. im Bundesrath würde aus 
demjelben einen jelbjtändigen Gliedftaat des Reiches gemacht haben und eine Sou— 
veränetät bedingen, die nicht im Weiche felbjt ruhen kann. Mtateriell ift aber zur 
Vertretung der Vorlagen aus dem Bereiche der Landesgejehgebung, jowie der Intereſſen 
de3 R. bei Gegenftänden der Reichsgejeßgebung der Statthalter befugt, Kommifjare 
in den Bundesrat zu jenden, welche an deflen Berathungen Theil nehmen (Geſetz 
z 7); fie haben das Recht, Anträge zu ftellen und Referate zu erftatten, auch find 
ihnen die Vorlagen zuzujtellen (Gejchäftsordn. d. Bundesraths vom 26. April 1880, $ 5). 

F. Die Gejeßgebung im R. kann hiernach in folgender Weiſe erfolgen: 

1) Formelle Landesgejege; fie werden vom Kaiſer in Webereinjtimmung von 
Bundesrath und Landesausſchuß erlaffen. 

2) YLandesherrliche Verordnungen; fie werden vom Kaiſer oder kraft deſſen 
Delegation vom Statthalter oder endlich von demjenigen Organe erlaffen, dem ein 
Yandesgejeg die Ausführung überträgt. 

3) Landesgefeße in den Formen der Reichsgeſetzgebung; fie werden vom Kaifer 
nah Zuftimmung des Bundesraths und Reichstags verkündet. 

-4) Landesherrliche Notbitandsverordnungen; fie werden vom Kaiſer mit Zus 
ftimmung des Bundesraths erlaffen, wenn der Reichstag nicht verfammelt ift, nach 
Maßgabe des Gejeßes vom 25. Juni 1873, 8 5. 

5) Ausführungsverordnungen zu den im Wege der Reichägejeßgebung erlaffenen 
Landesgeſetzen; fie ergehen vom Kaifer oder dem durch das Geſetz delegirten Organe. 

a Die bejondere Stellung des R. im Reid. Die Deutfche 
RBerf. ſetzt die Selbitändigfeit der zu einem Bunde vereinigten ſouveränen Staaten 
voraus, in denen neben ber Reichsgewalt noch eine eigene, von ihr völlig losgelöfte 
und unabhängige Zandesgewalt in den diefer durch die RVerf. belaffenen Gebieten 
mit eigener Hoheit fortbeiteht. Diefe jouveräne Selbjtändigteit fehlte dem R.; letz⸗ 
teres iſt eine Provinz des Reichs, hat keine eigene Selbſtverwaltung, ſondem wird 
von dem Reiche als ſolchem regiert, Reichsgewalt und Landesgewalt fallen in ihm 
zuſammen. Dieſe Konſequenzen ſind jedoch von Anfang an nicht vollſtändig 
gezogen, indem ſofort ſeit der Einverleibung in finanzieller Hinſicht das R. den 
Bundesſtaaten gleich behandelt wurde; der Landesfiskus wird von dem Reichsfiskus 


408 Neihsiand. 


unterichieden, es giebt jelbjtändige Landesichulden und eigenes Landesvermögen , die 
Landesverwaltung wird auf Koſten der Landeskaſſe geführt, die Beamten des R. werden 
aus diejer Kaſſe bejoldet. Wie die Bundesjtaaten hat Eljaß-Lothringen nad) Ver: 
hältniß feiner Bevölkerung Matrikularbeiträge zu entrichten und vermöge feines 
Ausfchluffes aus der Braufteuergemeinjchaft ein Averfum für die Brauftener zu 
zahlen. (Vgl. befonders Laband in Hirth's Annalen 1873, ©. 562 ff. und fein 
Staatäredt, I. ©. 605 ff.) Die Einführung der RBeri. in das R. hat diefe Son: 
deritellung nicht bejeitigt, jondern nur gemildert. Alljeitig herrſcht in der Theorie 
Einverjtändniß (Yöning, a. a O. ©. 178 ff.; Meyer, Staatäredht, ©. 347 ff; 
Laband, Staatöreht, I. ©. 578 ff.), daß die mobdififationsloje Einführung der 
RVerf. in Elfaß-Lothringen, wie fie in der That erfolgt ift, Widerſprüche in fid 
jelbft enthält, Art. 3, 6, 19, 36, 42, 51, 54, 58, 62, 70 jprechen von Bundes: 
jtaaten, Art. 33, 35, 38, 39, 41, 56, 59, 66, 67, 76, 77, 78 Abi. 2 haben die 
Griftenz eines Bundesjtaats zur Vorausſetzung. Für die Bundesjtaaten it di 
RVerf. ein Grundgejeß, deren Menderung nur im Wege der BVBerfaffungsänderung 
zuläffig it. Das R. hat fein verfaffungsmäßiges Recht auf das Beſtehen der Ver: 
faſſung, das Reich kann jeiner Provinz diefes Benefizium ebenfo entziehen, wie « 
ihr erteilt worden ift. Es ergeben fich hieraus eine Neihe von Unterſchieden 
zwiſchen dem R. und den Bundesjtaaten (Yaband, Staatsrecht, I. ©. 578 ff.). 
Allmählich ift man jedoch thatjächlich immer weiter vorgefchritten, um dem R. eine 
von der Neichögewalt jelbjtändige Verwaltung zu geben, und dies ift in der möglich! 
vollfommenen Weife durch das Gejeß vom 4. Juli 1879 geichehen. Hiernach iſt Elſaß— 
Lothringen innerhalb des Reichs ſoweit ein jelbjtändiger Staat, ala e8 nicht eine Ver: 
tretung im Bundesrath beanjprucht ; aber e8 ift davon auszugehen, daß dieje Selbſtändig— 
feit nur eine faktiſche ift — wenn fie gleich auf Gejeßen beruht —, denn Souverän 
ijt das Reich auch auf den Gebieten der Landesgeſetzgebung und Verwaltung geblieben. 


Quellen: Gelegblatt für Eljah-Lothringen, welches jeit dem 1. Oft. 1879 von dem 
Zanbdedminifterium in —— herausgegeben wird; ſoweit vorſtehend nicht bad R.G.DBL 
eitirt ift, befinden fich die angeführten Gejeke in dem Gef. Bl. für Eljah-Lothringen. — Amt: 
liche Nachrichten für ENDEN. Vexordn. u. Belanntm. d. Gen.-Öouvern.-Biv.-Kommitt. 
und Oberpräfibenten vom Aug. 1870 bis März 1879, Straßb. 1879. — Sammlung der ın 
Elfaß-Lothringen geltenden Ge i7 auf Anregung bed früheren Oberpräfidenten v. Möller 
herauögegeben von Althoff, Fi Harjeim, Keller, Leoni, Bd. I. Berfafjungi- 
recht und Gejegbücher, 1880. — Sammlung von Gejehen, Berorbnungen, Erlaſſen und Ber: 
fügungen, betr. die Yuftizverwaltung in Eljaß-Lothringen, bearbeitet ım Parfet bed General- 
Profuratord in Colmar, 1873 ff. — Belanntmachungen des Oberpräfidenten von Elſaß— 
Lothringen, betr. die Verwaltung der direlten Steuern, Etat? und Kaſſenweſen, 1875 fi. — 
Marimilian du Prel, Deutiche Verwaltung in Elfaf-Lothringen, 1880. 

Lit.: Löning, Die Verwaltung d. Generalgouvernements im Eljah, 1874. — ragt 
a E unter Deuticher Verwaltung, in den Preuß. Jahrb. XXXIL ©. 269 fi. 
338 fi.; XXXIV. ©, 404 ff. 473 fi. (im Separatabdrud erichienen Berlin 18%). — 
Laband, Staatöredt, I. SS 6, 54, 55; 11. $ 62. — Meyer, Staatärecht, SS 69, 138—141, 
166. — Seybel, Kommentar zur RBerf., ©. 31, 92 ff. (im föderaliftifchen Sinne gejchrieben, 
der einzige Autor, welcher Eljah-Lothringen für einen Staat erflärt). — v. Rinne, Staatä: 
recht des Deutichen Reiche, I. 89. — Zorn, Staatdreht, I. ©. 420 fi. — Innere Geſet— 
gebung und Verwaltung: Förtſch, Code penal in Elſaß-Lothringen, 1871. — Förtid u 

eont, Franzöſiſche Strafgeſetze ın Elfaß-Lothringen, I. u. II. 1875. — Kahſer, Dai 
Sonderſtrafrecht in Eljah-Lothringen (in v. Holkendorff, Ergänzungen zum Handbuch des 
Strafrechts, IV. ©. 637—744); Derfelbe, Die Franzöſiſche Prefgefeßgebung in Elijah: 
Lothringen (in v. Holtzendoxff's Jahrb. IV. ©. 135—189, 349—394). — Soli und 
Mitſcher, Forſt- und Jagdgeſetze in Eljah-Lothringen, Strafb. 1876. — Elſaß-Lothringiſche— 
Forſtſtrafrecht und FForftitrafverfahren vom 28. April 1880, Straßburg 1880. — Berggeiet 
in Eljaß:Lothringen von Braffert, Bonn 1873. — Puchelt u. Maurer, Yurift. Stichr 
für Gljaß-Lothringen, 1876 Sl — AG, zu den Reichsjuſtizgeſetzen, Straßb. 1880. — Durin, 
Staatslirchenrecht in Eljaß-Lothringen, 2 Bde. 1876, 1879. — Leydbheder, Zölle und in: 
direfte Steuern in Eljaß-Lothringen, 1877. — Jacob, Enregiftrement in Elſaß-Lothringen, 
1874. — Zahlreiche Broichürenliteratur, u. A. engen Vergangenheit und Zukunft, 
2. Aufl., Straßb. 1877. — Eliah-Lothringen ala Kaiſerl. Kronland, Berlin 1878. — Schramm 
Kronprinzenland (Eljaß-Lothringen), Mailand 1878. Rapier. 


Reichstag. 409 


Neichötag. 1. Das konftitutionelle Prinzip im Deutjchen Reiche. 
Der (abgejehen von Medlenburg) gemeindeutichen ftaatsrechtlichen Entwidelung ent- 
iprechend erfolgte auch die ftaatliche Konftituirung des Deutjchen Reiches, wie zuvor ſchon 
des Norddeutichen Bundes in fonftitutioneller Yyorm. Das in Vertretung des Volkes 
der Reichöregierung, insbefondere für die Gejeßgebung zur Seite ftehende Organ ift 
der R. Nothwendige Logische Borausjegung für die Ausübung parlamentarifcher 
Funktionen ift die Erijtenz eines Staates, deſſen Bevölkerung eben im Parlament 
ihre ftaatsrechtliche Vertretung zu finden Hat; daraus folgt, daß das im Februar 
1867 zur Berathung der Norddeutichen Bundesverfafjung berufene Parlament ſtaats— 
rehtlih nur als Notablenverfammlung, nicht aber als fonjtitutioneller Regierungs- 
jaktor betrachtet werden fann, und zwar ganz ebenfo, wenn ihm eine „verfaffungs- 
vereinbarende” als wenn ihm eine „verfaffunggberathende*“ Funktion durch 
die Staatöverträge und Einzelſtaatsgeſetze zugewiejen wurde. 

Der jetzige Deutſche R. ift die einheitliche (e8 giebt feine zwei Kammern 
im Reiche) Bertretung des Deutichen Volkes, jedes einzelne Mitglied des R. ift 
Vertreter des ganzen Volkes. Damit jtand es in Widerjpruch, wenn die RBer. 
urſprünglich (Art. 28 Ab. 2) für Mtaterien, welche nicht dem ganzen Reiche nach 
der Berfaffung gemeinfam find, die Antheilnahme von Abgeordneten, welche in 
Staaten gewählt waren, auf welche die Neichögejeßgebung in der betreffenden Materie 
feine Anwendung fand, ausjchloß: dieſe Prinzipwidrigfeit wurde durch Spezialgefek 
vom 24. Februar 1873 bejeitigt. Daß die Wahlfreife zum R. nach den einzel: 
ftaatlichen Grenzen beftimmt find, ift an fich auch prinzipwidrig, war aber durch 
praftiihe Erwägungen geboten. Jeder Deutiche aber kann prinzipiell an jedem 
Orte des Reichögebietes wählen und gewählt werden. 

I. Die Bildung des R. Die Grundlage für die Bildung des R. ift der 
Sat: daß auf je 100000 Seelen je ein Abgeordneter zu wählen ift, mit der Mo— 
dififation jedoch, daß mindeftens in jedem Einzelſtaate ein Abgeordneter gewählt 
werden muß und daß ein Bruchtheil der Normalzahl, welcher die Hälfte über: 
ichreitet, für voll zu zählen ift. Die Feſtſtellung der Wahlfreife beruht auf Gejeß: 
die Zahl derjelben beträgt dermalen 397, was jedoch dem Stand der Bevölkerung 
nicht mehr entipricht (Preußen 236, Bayern 48, Sachſen 23, Württemberg 17, 
Eljah-Lothringen 15, Baden 14, Heflen 9, Medlenburg- Schwerin 6, Sachſen-Wei— 
mar, Oldenburg, Braunfchweig, Hamburg je 3, Sachjen-Meiningen, Sachſen-Koburg— 
Gotha, Anhalt je 2, Medlenburg-Strelit, Sachjen-Altenburg, Schwarzburg-Rudol- 
jtadt, Schwarzburg-Sondershaujen, Walde, Neuß ä. L., Reuß j. L., Schaumburg- 
Lippe, Lippe, Lübel, Bremen je 1 Abgeordneten). Die Abgeordneten find nicht an 
Aufträge oder Inſtruktionen gebunden, fie find für die Ausübung ihres Abgeordneten- 
rechtes („Mandates“) Niemandem verantwortlich. 

Der R. geht hervor aus allgemeinen direkten Wahlen, welche in geheimer Ab— 
ftimmung vorzunehmen find. Das Wahlrecht ift auf breiter demofratifcher Baſis 
normirt, im Wejentlichen entiprechend den Beitimmungen des „Reichswahlgeießes“ 
vom 12. April 1849. Wahlberechtigt it jeder Reichsangehörige männlichen Ge— 
jchlechtes nach vollendetem 25. Lebensjahre, falls er nicht unter VBormundjchaft fteht, 
fih in Konkurs befindet, während des laufenden oder leßtvergangenen Jahres Armen: 
unterftügung aus öffentlichen oder Gemeindemitteln empfangen hat oder durch 
gerichtliches Urtheil die bürgerlichen Ehrenrechte verloren hat; das Wahlrecht „ruht“, 
d. 5. Darf nicht ausgeübt werden bei Militärperfonen des aktiven Dienititandes, fo 
lange fie bei den Fahnen ftehen, ausfchließlich der Militärbeamten, ferner bei den— 
jenigen Perjonen, die nicht in den Wahlliften verzeichnet find, endlich bei denjenigen, 
welche fich zur Zeit der Wahl nicht am Ort ihres Domizils befinden. — Wählbar 
find alle mwahlberechtigten Perfonen, auch diejenigen, deren aktives Wahlrecht ruht; 
der zu Wählende muß jedoch mindejtens jeit einem Jahre die Deutiche Staats: 
angehörigkeit beſitzen. Nicht wählbar find: die Souveräne und deren Vertreter im 


410 Reichstag. 


Regierungsfollegium des Neiches, dem Bundesrat. — Die Mitgliedichait zum R. 
erlifcht durch Verluſt einer der Vorausjegungen der Wählbarkeit, durch Berzicht, 
durch Annahme eines bejoldeten Staatsamtes und Beförderung im Staatsdienft zu 
höherem Rang oder Gehalt, durch Auflöfung des R., endlich durch Ablauf der drei- 
jährigen Wahlperiode. 

Das Wahlverfahren erfolgt in der Art, daß die gejeglichen Wahlkreije in Wahl: 
bezirfe mit einer Normalzahl von ca. 3500 Seelen zerlegt werden. Für jeden 
Wahlbezirk wird durch die Gemeindebehörde eine Wählerlifte angefertigt, welche die 
Namen aller Wahlberechtigten enthalten muß. Dieje Lifte ift vier Wochen vor der 
Wahl auf mindejtens acht Tage öffentlich auszulegen, damit etwaige Reklamationen, 
jei es behufſs Aufnahme fei es behuſs Streichung gewifjer Perfonen angebradt 
werden fönnen. Nach Abſchluß diefes Verfahrens ift die Lifte durch Unterjchrift des 
Gemeindevorftandes abzujchließen. Bei Neuwahlen find neue Liſten anzufertigen, 
wenn nicht die Neuwahl in das der erften Wahl folgende Jahr fällt. Die Koften 
für Herſtellung der Lijten fallen den Gemeinden zur Laft. Der Wahltag wird durd 
Verordnung des Kaiſers beftimmt, und zwar haben die allgemeinen Wahlen im 
ganzen Reiche am nämlichen Tage ftattzufinden. Der R. muß mindejtens alljährlich 
einmal einberufen werden; nach Ablauf der gefeglichen Wahlperiode müfjen demnach 
die Neumahlen jo rechtzeitig angeordnet werden, daß jener BVerfafjungsporjchrift 
genügt werden kann; bei Auflöfung des R. während der Wahlperiode haben die 
Neuwahlen jedenfalls innerhalb der dem Auflöfungstermine nachjolgenden 60 Tage 
zu erfolgen. Nur bei Ablehnung, Verzicht und Ungültigfeitserflärung dürfen Spe— 
zialwahlen ftattfinden. Ueber die Wahlhandlung jelbft enthält das Wahlreglement 
(eine Verordnung des Bundesrathes, welche jedoch nur mit Zuftimmung des R. 
abgeändert werden darf) jehr jpezielle Vorfchriften, welche fih auf Wahllofal, Wahl: 
vorjtand und Stimmabgabe beziehen. Letztere erfolgt durch Zettel, die verdeckt in 
eine Urne zu legen find; das Geheimniß der Wahl ift jtrengftens zu wahren. Die 
Stimmabgabe fann nicht durch Stellvertreter erfolgen, die Stimmzettel müſſen von 
weißem Papier jein und dürfen fein äußeres Kennzeichen tragen, auch nicht im Wahl: 
Lofal jelbjt geichrieben fein. Im Wahllofal dürfen feine Anfprachen gehalten oder 
Diskuffionen gepflogen werden. Das Wahlrejultat wird zunächit für den Wahl- 
bezirk, weiterhin durch den von Staatäwegen ernannten Wahltommifjar für den 
Wahlkreis fejtgeftellt, und zwar jpätejtens am dritten Tage nach der Wahlhandlung; 
die Feſtſtellung und Publikation erfolgt unter Zuziehung einer Kommiffion von 
Wählern, das Wahlprotofoll ijt dem R. einzufenden. Gewählt ift derjenige, welchem 
die abjolute Mehrheit aller abgegebenen Stimmen zugefallen ift; hat fich eine ſolche 
Mehrheit nicht ergeben, jo findet engere Wahl ftatt, die juriftiich nur ala Fort: 
jegung der erjten Wahl zu betrachten ift. Die engere Wahl erfolgt zwijchen den: 
jenigen beiden Kandidaten, welche die meiften Stimmen erhalten haben; tritt bei 
der engeren Wahl Stimmengleichheit ein, jo enticheidet das durch den Wahl: 
fommiffar zu ziehende Loos. Die engere Wahl Hat binnen 14 Tagen nach der 
eriten Wahl ftattzufinden. Die Notifitation des Wahlergebniffes an den Gewählten 
erfolgt durch den Wahllommiffar, dem binnen 8 Tagen eine Erklärung über An- 
nahme oder Ablehnung der Wahl jammt den nöthigen Nachweifungen hinſichtlich 
der gejelichen Erforderniffe der Wählbarfeit einzufenden if. Die Wähler find be 
rechtigt, Vereine zu bilden ſowie VBerfammlungen zu veranftalten, die die R.wahl 
zum Gegenjtand Haben; jolche Verſammlungen müſſen jedoch öffentlich und un: 
bewaffnet jtattfinden, im MUebrigen gelten die landesrechtlichen Vorſchriften über 
Vereins- und Verſammlungsweſen. Das Wahlrecht ift in befonderer Weiſe ftrai- 
rechtlich gejchügt ( KStrafGB. SS 107, 109, 339); ſoweit ſtrafrechtliche Normen 
nicht exijtiren, ift jede Art von Wahlagitation juriftiich erlaubt; amtliche Wahl- 
beeinflufjungen hat der R. in der Regel ala ausreichenden Grund zur Ungültigkeite 
erflärung von Wahlen betrachtet. Der R. emtjcheidet über die Gültigkeit der 


Reichstag. 411 


Bahlen jelbit und. allein, die Wahlprüfungen erfolgen primär durch die Abthei- 
lungen des R., eventuell durch die jpeziell zu beftellende Wahlprüfungstommiffion 
gemäß den Vorſchriften der Geſchäftsordnung. 

Il. Die Rehtsverhältnijfeder Mitglieder des R. Die Mitglieder des 
R. dürfen wegen ihrer Abitimmung oder der in Ausübung ihres parlamentarifchen Be— 
rufes gethanen Aeußerungen weder jtrafrechtlich noch disziplinarifch verfolgt werden. 
Gine Disziplin wird gegen Mitglieder des R. im Parlament nur nad Maßgabe 
der Geichäftsordnnung, welche feiner Zeit vom berathenden Parlament des Norddeutichen 
Bundes feftgeftellt und feitdem mit geringen Mopdififationen von jedem jpäteren R. 
angenommen wurde, geübt. Dieſe Disziplinargewalt wird durch den Präfidenten 
gehandhabt, Disziplinarmittel find Ordnungsruf und Entziehung des Wortes: die 
sehr viel ſchärferen Disziplinarmittel des Englischen und Franzöſiſchen Parlaments- 
rechtes find dem Deutichen unbefannt. Beamte bedürfen zum Eintritt in den R. 
feines Urlaubes; ald Beamte find zu betrachten die Staats-, Kommunal und Kirchen- 
beamten der Landeskirchen, ferner die Offiziere; Gehaltsabzug und Stellvertretungse 
often gegen Beamte, welche in den R. eingetreten find, find als unzuläffig zu be= 
traten. Während der Situngsperiode kann fein Mitglied des R. ohne defien, 
Genehmigung wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Unterfuchung gezogen 
oder verhaftet werden, außer wenn die Ergreifung auf Handhafter That oder im Laufe 
des nächjitfolgenden Tages geichah. Selbftverftändlich bezieht fich diefe Immunität 
nicht auf rechtskräftig erkannte Strafen (vgl. jedoch Hierher Gej. vom 31. Mai 
1880, $ 2 [R.G.BL. ©. 117], über die Verlängerung und authentifche Erklärung 
des Gef. vom 21. Oft. 1878 gegen die gemeingefährlichen Beitrebungen der Sozial« 
demofratie). Wegen Schulden oder zum Sicherungsarreft kann ein Mitglied des R. 
während der Situngsperiode nur verhaftet werden mit Genehmigung des R. Durch 
Beihluß des R., dem entjprochen werden muß, kann während der Sikungsperiode 
die Siftirung jedes Strafverfahrens gegen ein Mitglied, ſowie jeder Unterfuchungs- 
und Civil⸗ (nicht Straf⸗) Haft eines folchen verlangt werden. Die Mitglieder des 
R. dürfen als jolche feine Bejoldung oder Entſchädigung beziehen, weder aus 
öffentlichen noch aus privaten Mitteln; doch jehlt diefem Verbote der ftrafrechtliche 
Schuß, und auch ſonſtige Rechtsfolgen find an daffelbe nicht geknüpft. Wahrheits- 
getreue Berichte über Verhandlungen des R. (nicht aber Bruchftüde von folchen) 
find von jeder Verantwortlichkeit frei. 

IV. Die Funktionen des R. Was die Kompetenz des R. betrifft, jo hat 
derjelbe zuvörderit das Recht der Autonomie; darin liegt die Befugniß, jein Prä— 
fidium zu wählen, die Gültigkeit der Wahlen jeiner Mitglieder zu prüfen und 
darüber allein zu enticheiden, feine Gejchäftsordnnung zu normiren. Das Präfidium 
beiteht aus einem Präfidenten, zwei Vizepräfidenten und acht Schriftführern,; der 
Präfident übt die Disziplinargewalt über die Mitglieder des R., jowie die Sitzungs— 
volizei während der Berathungen, er ernennt ferner die Beamten des R. — Die 
Hauptfunktion des R. ijt die Theilnahme an der Gejegebung. Die Mitwirkung, 
welche parlamentarifchen Faktoren nach dem monarchiſchen Staatsrechte, ſowie fich 
daffelbe in Deutichland entwidelt Hat, zufommt, darf nicht dahin charakterifirt 
werden, daß die Volfövertretung mit dem Monarchen gemeinfam die Gejeggebung 
ausübt; in diefem Sinne find die Parlamente nach Deutichem Staatsrecht keines— 
wegs „geieß gebende“ Verfammlungen. Vielmehr ift das den beiden genannten 
Faktoren zulommende Recht an der Geſetzgebung ein prinzipiell höchſt verfchiedenes ; 
bei jedem Gefege ift zu unterjcheiden zwifchen Gejegesinhalt und Geſetzesbefehl; 
den letzteren, welcher in der Sanktion liegt, giebt im monarchifchen Staat nur der 
Monarch, er allein ift demnach der Gefeggeber umd ihm jteht folglich auch das 
negative Recht zu, jedem Gejegentwurfe die Sanfktion zu verfagen (Veto), Das 
Tarlament Hingegen ijt nur betheiligt an der Feititellung des Gejegesinhaltes, 
nicht an der Ertheilung des Geſetzesbefehles. So auch nach Reichsftaatsrecht, indem 


412 Reichstag. 


fein Reichsgeſetz juriftiich eriftent werden fann, ohne daß der R. den Inhalt 
deilelben genehmigt hätte. Der R. kann auch die Initiative zum Grlaß von Ge: 
jegen ergreifen: in der Regel aber gelangen die Gejegentwürfe erit nach erfolgte 
Veitjtellung des Jnhaltes im Bundesrathe an den R. Der Verkehr zwiſchen Bun: 
desraih und R. ift durch das Präfidium des leßteren und den Reichskanzler zu 
vermitteln. Gejegentwürfe, welche zuerſt vom R. befchloffen werden, müſſen jeden: 
falls vom Reichsfanzler dem Bundesrath in Vorlage gebracht werden, lebterer it 
aber nicht verpflichtet, einen materiellen Beichluß über die Vorlage zu faſſen, wäh 
rend der R. Hinfichtlich der vom Bundesrath an ihn gebrachten Vorlagen dies zu 
thun vechtlich verbunden ift. Die Vorlage der vom Bundesrath feſtgeſtellten Gejeh: 
entwirfe an den R. geichieht durch den Reichskanzler „im Namen des Kaiſers“; 
von fi) aus die Jnitiative zum Erlaß von Gefeßen zu ergreiien, ift der Kaiſer ala 
folcher nicht kompetent (wol aber das Bundesglied Preußen). Gejegentwürfe, welche 
der Bundesrath feftgeitellt hat, müſſen jedenfalls durch den Kaifer dem R. in Bor: 
lage gebracht werden, und zwar in unveränderter Faſſung. Ergeben fich Differenzen 
zwifchen Bundesrath und R., jo ift jo lange zu verhandeln, bis entweder Weberein: 
. ftimmung beider oder Ablehnung in Folge verneinenden Beichluffes eines der beiden 
Faktoren erzielt ift. (Weber die Sanktion der Neichögejege |. d. Art. Bundes: 
rath.) Bon der Theilnahme des NR. an der Gejehgebung noch eine beſondere 
Gruppe von Materien zu fondern, im welchen der R. eine juriftiich befonders zu 
faffende „Genehmigung“ zu ertheilen habe (Laband), ift unbegründet. Auch das 
Budgetgeſetz kann jtaatsrechtlich nicht umter befondere, von der übrigen Gejeßgebung 
abweichende Grundſätze geitellt werden (dies nehmen Laband und Gnetjt an: 
dagegen hat fich inäbefondere v. Marti erklärt. — Dem R. fteht endlich ein 
ganz generelles Kontrolvecht bezüglich aller NReichsangelegenheiten zu; daſſelbe wird 
geübt bei der Berathung des Neichshaushaltsetats, kann aber auch die Form der 
Snterpellation annehmen und ebenjo durch Petitionen von außen angeregt werden. 
Die Kontrole des R. bezieht fich insbeſondere auf die Finanzwirthichaft des Reiches: 
über die Verwendung aller Einnahmen und Ausgaben des Reiches hat der Reicht: 
fanzler alljährlich dem R. Bericht zu erftatten und deſſen Decharge einzuholen. 
Ueber alle bedeutenderen einzelnen Finanzverwaltungen des Reiches übt der R. femer 
noch eine fpezielle Kontrole aus, indem diefe Verwaltungen an die Reichsjchulden: 
fommiffion Bericht zu erftatten haben, in welcher der R. durch drei gewählte Mit: 
glieder vertreten ift, die ihrerjeits wieder dem Plenum des R. referiren. 

V. Die Verhandlungen des R. Die Berufung des R. erfolgt durch kaiſerliche 
Verordnung. Die Verhandlungen werden vom Kaiſer oder in feinem Auftrag durch 
einen Stellvertreter eröffnet. In der nämlichen Weife werden diejelben geichlofien. 
Nur der Kaifer kann den R. während der Situngsperiode vertagen, wiederholt: 
Vertagung aber jowie eine Vertagung von über 30 Tagen bedarf der Zuftimmung 
des R. jelbft. Mit Schluß des R. hören auch alle Kommiſſionsarbeiten auf (mur 
ausnahmsweiſe können die Arbeiten bejtimmter Kommiſſionen auf Grund eines Reich“ 
gejeges auch nach Schluß des R. fortgefeßt werden), und alle Vorlagen werden ber 
kömmlich neu behandelt (Prinzip der „Disfontinwität“). Die Verhandlungen find 
öffentlich, geheime Sitzungen wären verfaffungstwidrig; der Präfident kann jedod 
bei Ruheftörungen die Tribünen räumen laſſen. Die Mitglieder des R. werden 
beim Zufammentritt deffelben in Abtheilungen verloojt, welchen fpeziell die Prüfung 
der Wahlen obliegt. Außerdem werden nach Eriorderniß noch befondere Kommiſ— 
ftonen, speziell zur Vorberathung von Gejehen beftellt. Die Kommilfionsfigungen 
find geheim, Alle Gefegentwürfe ſowie alle vom Bundesrath an den R. geleiteten 
Vorlagen müſſen dreimal berathen werden, die erſte Berathung iſt nach der Ge 
ſchäftsordnung nur eine allgemeine, die artikelweiſe Diskuffion erfolgt exit bei der 
zweiten „Leſung“. Ueber die Zeitfriften, welche zwiſchen den verfchiedenen „ Lefungen‘ 
liegen müffen, ſowie über die eventuelle Verbindung mehrerer Lejungen enthält die 


Reichs- und Staatsangehörigteit. 413 


Geichäftsordnung genaue Vorjchriiten. Wird die Vorlage bei der zweiten Leſung 
abgelehnt, ſo wird in die dritte nicht mehr eingetreten. Andernfalls hat bei der 
dritten Leſung eine General- und eine Spezialberathung zu erfolgen und ebenſo hat 
die Abftimmung jowol über jeden einzelnen Artikel als zum Schluß über die ganze 
Vorlage zu geichehen. Anträge von Mitgliedern des R., welche nicht den Charakter 
von Gejegentwürfen tragen, werden in einmaliger Berathung erledigt. Die Beſchluß— 
iaffung erfolgt mit einfacher Stimmenmehrheit; eine folche darf überhaupt nur er- 
iolgen, wenn mehr als die Hälfte der geieglichen Mitgliederzahl des R. anweſend 
ft, Dies wird regelmäßig präjumirt, doch fan jedes Mitglied jeder Zeit Aus— 
zählung verlangen. Die Berhandlungen des R. find zu protofolliven: die Proto— 
folle enthalten jedoch nur die gefaßten Beichlüffe und gejtellten Interpellationen bzw. 
deren Beantwortung im Wortlaut, ferner die offiziellen Anzeigen des Präfidenten; 
diefelben find vom Präfidenten und zwei Schriftführern zu vollziehen, jie find die 
einzigen offiziellen Urkunden über die Thätigkeit des R. Die ftenographifchen Be— 
richte, welche einen wortgetreuen Bericht über die Situngen geben, find nicht offi= 
jiell, werden aber von den Schriftführern revidirt. Die Verhandlungen des R. find 
durch beiondere Straffanktionen geichügt (RStrafGB. SI 105 u. 106). 

Gigb.: RVerf. Art. 5, 12, 13, 16, 20-32, 6973. — Wahlgeie vom 31. Mai 1869 
8.6.81. ©. 145), dazu Vollzugs-Verordn. des Bundesrathes vom 28./31. Mai 1870 (Wahl: 
reglement), 27. fyebruar 1871, 1. Dez. 1873 GB. G. Bl. 1870 ©. 25, 289; R. G. Bl. 1871 ©. 35; 
XG.Bl. 1873 ©. 373). — Geſeß vom 24. Febr. 1873 (R. G. Bl. S. 45) betr. Aufhebung bes 
Art. 28 Abſ. 2 der Rerf. — Gele vom 20. Juni 1873 (R.G. Bl. S. 144) Abänderung zweier 
Wahlfreife betr. — RStrafGB. 38 105—109, 339, 11, 12. — Militär-Geje vom 2. Mat 1874 
(R.G.B. ©. 45). 49. — Geſchäfts-Ordnung bed Reichdtages vom 10. Febr. 1876 (die neuefte 
Faffung bei Hirth, Annalen 1879 ©. 490 fi). — CPO. 55 785, 347, 367, 786. — StrafPD. 
ss 49, 72. — GBG. $$ 35, 85. 

git.: Laband, Staatsrecht, I. SS 47—53. — Meyer, Lehrbuch, 88 128—133. — 
Thudichum, Verfaffungsrecht 132, 219. — v. Mohl, Reichsſtaatérecht, 331 ff. — Riedel, 
Romment., 31 ff. — Seydel, Komment., 138 ff. — Held, RVerf. 118 ff. — v. Rönne, 
L 88 840. — Zorn, Lebrb., 1. 88 6, 7, 11. — Weftertamp, ARerf., 35 ff. 222 fi. — 
Jolly, Der Reichstag und die Parteien, 1880. — v. Mohl, Kritiſche Bemerkungen über 
die Wahlen zum Deutichen Reichätag, 1874. — Seybel, Der Reichätag, in Hirth's Annalen 
1880 ©. 352 ff. — v. Martib, Neber den konftitutionellen Begriff des Gejeßes, in Tübinger 
Zeitichr. für Staatswiſſenſchaft 36. Jahrg. S. 208 A; — Dagegen G. Meyer in Grün: 
hut's Zeitſchr. für Privat» und öffentliches Recht VIII. 1 fi. Zorn. 


Reihe. und Staatsangehörigkeit. I. Geſchichte. 1) Die frage, wie das 
Breußijche Indigenat erworben werde, und welche Perjonen als Preußijche Unter: 
thanen anzujehen ſeien, hatte im Allg. ER. feine zureichende Antwort gefunden, und 
war auch noch beinahe ein halbes Jahrhundert jpäter nicht beitimmt entſchieden; 
im Allgemeinen wurde jedoch angenommen, daß ſchon der Wohnfi innerhalb der 
Preußischen Staaten die Eigenjchait als Preuße begründe, bejondere Uebereinkünfte 
mit den meilten Deutfchen Regierungen ergänzten den jchwanfenden Begriff der 
Staatdangehörigfeit. 

Erit das Geſetz vom 31. Dez. 1842 über die Erwerbung und den Verluſt der 
Gigenschaft als Preußifcher Unterthan, welches mit den beiden anderen Gejegen von 
demjelben Tage über die Aufnahme neu anziehender Perjonen und über die Armen- 
pflege ein zulammenhängendes Syitem bildet (vgl. d. Art. Freizügigkeit), hat 
einen feiten Rechtäzuftand begründet. Die Eigenſchaft als Preuße entjtand danad) 
durch Abſtammung, reip. Legitimation, durch DVerheirathung und durch Verleihung, 
reip. Anjtellung; dagegen hatte der Wohnfit innerhalb des Preußiichen Staates für 
fih allein diefe Wirkung nicht mehr. Die Begründung der Eigenſchaft als Preußifcher 
Unterthan durch PBerleihung erfolgte mittels Ausfertigung einer Naturalijations- 
urfunde jeitens der Landespolizeibehörden (Provinzialregierungen reſp. Polizeipräfidium 


zu Berlin). 


414 Reichs» und Staatsangehörigfeit. 


Die Verraffungsurkunde enthält nur die Vorichriit, daß die Berfaffung und 
das Geſetz beftimmen, unter welchen Bedingungen die Eigenſchaft eines Preußen 
und die ftaatsbürgerlichen Rechte erworben, ausgeübt und verloren werden. Die 
Berfaffungsfommiffion der Nationalverfammlung, von der dieje Faflung Herrührt, 
hatte übrigens ein bejonderes Geje über das Staatsbürgerrecht ausgearbeitet, welches 
gleichzeitig mit der Verfaſſungsurkunde erlaffen werden jollte. 

Das Geſetz vom 31. Dez. 1842 ift auch für die Hohenzollern'ſchen Lande als 
wejentlicher Beitandtheil der dort eingeführten Berfaffungsurfunde ohne bejonder 
Publikation nach der damaligen Auffaffung der Staatsregierung maßgebend ge 
worden. Dieje Auffaffung ift indeffen jpäter mit Recht aufgegeben und demgemäß 
das Geſetz vom 31. Dez. 1842 zwar durch ausdrüdliche Beftimmung im Jade 
gebiete, jorwie in der vormals Bayerifchen Enklave Kaulsdorf und in dem zur vor: 
maligen Landgrafichait Heſſen-Homburg gehörig gewejenen Oberamte Meifenheim 
(VBerordn. vom 20. Aug. 1855, 22. Mai 1867, 20. Sept. 1867), nicht aber in 
den übrigen durch die Gejege vom 20. Sept. und 24. Dez. 1866 mit der Monardjie 
vereinigten Yändern eingeführt. Es traten daher der Altpreußifchen noch acht andere 
Gejeggebungen über den Erwerb und Berluft des Staatsbürgerrechts (Hannover, 
Schleswig-Holſtein, Kurhefien, Großherzogthum Heſſen, Heſſen-Homburg mit Aus 
nahme von Meifenheim, Naffau, Frankfurt, Bayern mit Ausnahme von Kaulsdor) 
hinzu, die zum Theil bis in die Grundlagen von einander abweichen, indem 3. ®2. 
in Hannover die Staatsangehörigkeit ala Ausfluß und Zubehör der Gemeindeangehörig: 
feit betrachtet wurde, jo daß für den Erwerb derjelben lediglich die Gemeinde- und 
‚Heimathögeießgebung maßgebend war, mit der Einjchränfung, daß die Gemeinden Aus 
länder nur mit Genehmigung der Regierung zu Mitgliedern aufnehmen konnten. Diet 
Verichiedenheiten bezogen fich jedoch jeit der Vereinigung jener Länder mit dem 
Preußifchen Staate nur auf den Erwerb, nicht auch auf die Wirkungen des Indigenats, 
da die Angehörigen diefer Länder durch die Einverleibungsgejege, reſp. durch die 
vollzogene Befitergreifung in den Preußischen Staatöverband aufgenommen, daber 
als Ausländer nicht ferner zu behandeln waren, und ein jpeziell Hannoverjches, Kur: 
heſſiſches ꝛc. Indigenat jeitdem nicht mehr möglich war. 

Die ftaatsrechtliche Einheit der Monarchie machte e8 aber unerläßlich, gleid- 
mäßige Vorjchriiten über den Erwerb und Berluft des Preußifchen Indigenats au’ 
zuftellen. ine einfache Ausdehnung des Geſetzes vom 31. Dez. 1842 auf die neuen 
Provinzen hatte jedoch infofern Bedenken, ala manche Borjchriften defjelben nad 
Anhalt und Faſſung der inzwifchen geänderten fonftigen Gefeßgebung nicht mehr 
entiprachen, auch während der 25jährigen Anwendung fich einige Unzuträglichkeiten 
bherauägeftellt hatten. Die Staatöregierung legte daher in der Seſſion 1868/1869 
dem Landtage einen neuen auf den Grundlagen des Geſetzes von 1842 ruhenden 
Gejegentwurf für den ganzen nunmehrigen Umfang des Staates vor. Dieſer Geich- 
entwurf wurde dom Herrenhauſe ohne wejentliche Abänderungen angenommen; das 
Abgeordnetenhaus trat zwar in den meilten Punkten den Beichlüffen des Herren: 
hauſes bei, bejchloß jedoch in dem ganzen Geſetzentwurf das Wort Unterthan durd 
das Wort Preuße zu erfeßen. Dies wurde vom Herrenhaufe abgelehnt, und wegen 
diejer Differenz ift das Gejeß nicht zu Stande gefommen. 

2) Inzwifchen war bereits durch Art. III. der Rord deutſchen Bundesverjafung 
ein gemeinfamer Bundesindigenat begründet, mit der Wirkung, daß der Angehörig: 
eines jeden Bundesjtaates in jedem anderen Bundesjtaate ala Inländer zu behan— 
deln, und demgemäß zum feſten Wohnfite, zum Gewerbebetriebe, zu öffentlichen | 
Aemtern, zür Erwerbung von Grundftüden, zur Erlangung des Staatsbürgerrehti | 
und zum Genufje aller jonftigen bürgerlichen Rechte unter denjelben Vorausfegungen | 
wie der Einheimifche zuzulaffen ſei. Diejer Bundesindigenat des Art. III. hatte alio 
feinen fpezifiichen Inhalt, jondern ließ die Landesindigenate ihrem Inhalte nah 
unberührt, und nahm nur die Schranken hinweg, welche innerhalb des Ginzelftaate: | 


Neihs: und Staatsangehörigfeit. 415 


die eigenen Angehörigen von fonjtigen Norddeutjchen trennte Vor allen Dingen 
blieben auch die Indigenatsgeſetze der Einzeljtaaten maßgebend für die Voraus— 
fehungen, unter denen der Erwerb und DVerluft des Landes- und Bundesindigenats 
Rattfand. 

Je mehr nun aber durch die organiſche Geſetzgebung des Norddeutjchen Bundes auf 
den verjchiedenften wirthichaftlichen Gebieten der Bundesindigenat mit einheitlichen 
pofitiven Inhalte erfüllt wurde, das Norddeutſche Bürgerrecht zu einem Inbegriff 
materiell gleichartiger politifcher und bürgerlicher Rechte fich geftaltete, die der Nord» 
deutiche überall im Bundesgebiete geltend machen konnte, ohne zu fühlen, daß er fich 
aut dem Boden eines Ginzeljtaates bewegt, um jo mehr entjtand das Bedürfniß 
von Bundeswegen in einheitlicher Weife auch diejenigen Normen zu geftalten, welche 
fih auf den Erwerb und den Berluft diefer Bundesangehörigkeit beziehen. Es wieder- 
holte fich gleichjam für den Norddeutichen Bund derjenige Zuftand, der auch in 
Preußen der Abhülfe bedurfte. Da nun die Norddeutiche Bundesverfaffung Fürjorge 
zur Bejeitigung dieſes Zuftandes getroffen hatte, indem fie im Art. IV. auch die 
Beltimmungen über Staatsbürgerrecht unter denjenigen Gegenftänden aufzählt, auf 
welche jich die Kompetenz des Bundes beziehen joll, jo hat in Folge eines Reichs— 
tagäbeichluffes vom 20. Mai 1869 das Bundespräfidium unterm 14. Febr. 1870 
einen vom Bundesrathe befchlofjenen Gejegentwurf dem Reichstage vorgelegt, um 
an Stelle der verjchiedenen Zerritorialgefeßgebungen ein einheitliches nationales Recht 
zu jegen. Das Rejultat ift das Geſetz vom 1. Juni 1870 über die Erwerbung 
und den Berluft der Bundes= und Staatsangehörigkeit, deffen Wirkſamkeit am 1. Jan. 
1871 beginnen ſollte. Auf Grund der Verſailler Verträge ift dafjelbe dann von dem— 
jelben Zeitpuntte ab auch für Baden, Südheſſen und Württemberg, auf Grund des 
Geſetzes, betr. die Einführung Norddeuticher Bundesgejege in Bayern, vom 22. April 
1871, vom Zage der Wirkjamkeit dieſes Gejees an auch für Bayern, endlich auf 
Grund des RGeſ. vom 8. Jan. 1873 auch für Eljaß-Lothringen in Kraft getreten. 
In dem auf Bayern bezüglichen Gejeg vom 22. April 1871 find übrigens einige 
redaktionelle Aenderungen des Gejehes vom 1. Juni 1870 erfolgt. 

I. Das geltende Recht. A. Der Erwerb der R.- und ©. Wie in 
jedem Bundesjtaate, jo giebt es auch gegenwärtig im Deutjchland ein doppeltes 
Bürgerrecht, das Reichs- und das Staatöbürgerrecht, da ſowol das Neich wie die 
Einzelftaaten unmittelbare Unterthanen, je nach der Abgrenzung der Kompetenz 
zwiſchen Reich und Einzelftaaten befigen. Es kann Jemand ebenfowenig nur Staats- 
bürger, als nur Reichsbürger jein, jo daß jelbft diejenigen Ausländer, welche im 
Reichsdienſte angeftellt werden, eine bejtimmte Staatsangehörigkeit erlangen. Und zwar 
ericheint Hinfichtlich des Erwerbs die Staatsangehörigkeit ala das Prinzipale, die Reichs— 
angehörigfeit ala das Acceſſorium. Es wird Niemand zunächit Deuticher, jondern zu= 
nächit Preuße, Sachje ıc. Das Reich als jolches tritt bei dem Erwerbe der Reichsangehörig- 
feit gar nicht in Aktion, die Reichsangehörigkeit ift aber die natürliche und nothiwendige 
Folge der Staatsangehörigkeit. Der Erwerb der Staatsangehörigfeit erfolgt: 

1) Durch Abftammung von Deutichen Eltern, der weitaus häufigste Fall; und 
zwar ijt es dabei gleichgültig, ob die Abjtammung eine eheliche oder uneheliche 
war, nur daß im lebteren Falle die Staatsangehörigkeit der Mutter entjcheidet. In 
Uebereinjtimmung mit dem früheren Preußifchen Recht, mit der Gejeßgebung der meijten 
Deutjchen Staaten, jowie der von Frankreich, Italien und Belgien ift übrigens der 
Grundjaß aufgeftellt, daß die Nationalität der Eltern auch dann entjcheidet, wenn das 
Kind etwa im Auslande geboren wurde (Code Nap. art. 10: Tout enfant ne d’un 
Frangais en pays 6tranger est Frangais), während das Angloameritanifche Recht 
noch immer von dem mittelalterlichen Grundjaße, wonach die Kinder als Erzeugnifie 

des Bodens erjcheinen, fich nicht vollitändig losgemacht hat, denn man hat in Eng: 
land zmwar neuerdings anerfannt, daß die von Englijchen Eltern im Auslande ge 
borenen Sinder Engländer feien, man hält aber troßdem ganz infonjequenter Weije 


416 Reichs- und Staatsangehörigkeit. 


daran feſt, daß die von Preußifchen oder Franzöſiſchen Eltern in England geborenen 
Kinder gleichjalld Engländer jeien. 

2) Durch Legitimation, indem die gejeglich erfolgte Legitimation, für welche in 
iormeller und materieller Hinficht die Landeögejeße maßgebend find, dem Kinde die 
Staatsangehörigkeit des Waters giebt, infofern diefer ein Deuticher, die uneheliche 
Mutter aber eine Ausländerin iſt. Die Adoption hat diefe Wirfung nicht. 

3) Durch Verheiratdung, indem die Frau nicht blos dem Domizile des Mannes 
folgt, jondern auch durch die Eheichließung defjen Staatöangehörigkeit erwirbt ; daflelbe 
Prinzip gilt auch in den meiſten anderen Ländern, während man in England wiederum 
infonfequent ift, da zwar diejenige Ausländerin, die einen Engländer geheirathet hat, 
als Engländerin, aber auch diejenige Engländerin, welche einen Ausländer geheirathet 
bat, noch immer als Gngländerin betrachtet wird. 

4) Durch Berleihung auf Antrag. Hierbei ift zu unterjcheiden, ob es fich um 
den Erwerb einer Staatsangehörigkeit feitens eines Ausländers oder jeitens eines Deut: 
ichen handelt. Der Erwerb der Staatsangehörigkfeit jeitens eines Ausländers erfolgt 
im Wege der Naturalifation. Auf jolche hat zwar fein Ausländer ein Recht, es find 
aber die Einzeljtaaten gebunden, die Praris im Sinne der internationalen Freizügigkeit 
zu üben, wie folche namentlich in Preußen bisher fchon nach dem Prinzip der Frei— 
heit der Einwanderung gehandhabt wurde. Insbeſondere wird fein längerer vor: 
heriger Aufenthalt verlangt, wie jolches jelbft in den Vereinigten Staaten gejchiebt, 
die doch auf die Begünftigung der Ginwanderung bingewiejen find, indem gegen- 
wärtig ala Bedingung der Naturalifation ein fünfjähriger Aufenthalt verlangt wird, 
während die Englifchen Beitimmungen einem Verbote der Naturalifation gleichjtehen. 
Die Naturalifationgurfunde darf jedoch nur denjenigen Ausländern ertheilt werden, 
die nach den Geſetzen ihrer bisherigen Heimath dispofitionsfähig find , ſofern nicht 
der Mangel der Dispofitionsfähigfeit durch die Zuftimmung des Water oder des 
Vormundes ergänzt wird; ferner nur Denen, die einen unbejcholtenen Lebenswandel 
geführt haben, die an dem Orte, wo fie fich niederlaffen wollen, ein Unterfommen 
finden, und nach den daſelbſt beitehenden Verhältniffen fi und ihre Angehörigen 
zu ernähren im Stande find, worüber die Gemeinden mit ihrer Erklärung vor Er— 
theilung der Naturalifationsurfunde gehört werden müſſen. Die Naturalifation erfolgt 
nicht wie in England durch Geſetz, auch nicht wie bisher in manchen Kleinſtaaten 
durch das Staatsoberhaupt, jondern nach dem VBorgange Preußens durch die höheren 
Verwaltungsbehörden, die Bezirföregierungen, rejp. die Regierungspräfidenten. Die 
Naturalifationsurfunde begründet mit dem Zeitpunfte der Aushändigung alle mit 
der Staatsangehörigfeit verbundenen Rechte und Pflichten, wenn nicht die Ausübung der 
politijchen Rechte an eine längere Staatsangehörigkeit gefnüpft ift, die aber in Deutſch— 
land nur gering bemefjen ift, während in den Vereinigten Staaten die Wählbarfeit 
in den Kongreß und in die gejeßgebenden Berjammlungen der Einzeljtaaten von einem 
fieben= reſp. neunjährigen Bejit des Unionsbürgerrechts abhängig erjcheint, die Wähl- 
barkeit zum Präfidenten aber eingewanderten Bürgern ganz entzogen ift. Die 
Naturalifation erjtredt fich, joweit nicht eine Ausnahme gemacht ijt, zugleich in 
Folge der Einheit der Familie auf die Ehefrau und die noch in väterlicher Gewalt 
jtehenden minderjährigen Kinder. Diejenigen Ausländer endlich, welche die Natura- 
(ijation nicht erwerben, find der Fremdenpolizei unterworfen, deren Regulirung gleich 
jalls in die Kompetenz des Reiches Fällt. — Die Verleihung der Staatsangehörigteit 
an einen Deutfchen erfolgt durch Aufnahme, die fich von der Naturalijation materiell 
durch eime größere Leichtigkeit unterjcheidet; eine jolche ift um deswillen gerechtfertigt, 
weil es fich nicht um Einwandernng, jondern blos um Weberwanderung handelt, welche 
nur die Stellung des Staatsbürgers verändert, die des Reichöbürgers aber ganz un- 
berührt läßt. Die Erlangung des Staatsbürgerrechts ijt heutzutage auf Grund des 
Art. II. der RBerf. ein Recht jedes Deutichen, das auf Grund der erfolgten Nieder: 
lafjung gewährt werden muß, wenigjtens nur auf Grund des Freizügigkeitsgeſetzes 


Reichs- und Staatsangehörigfeit. 417 


verweigert werden fann. Die bisherige joziale Freizügigkeit ift alſo zu einer politifchen 
weiter. Dagegen hat der Einzeljtaat jeinerjeits nicht das Recht, den Eingewan— 
derten zur Grwerbung des Staatsbürgerrechts anzuhalten, jo daß aljo die Staaten 
hinfichtlich der Staatsangehörigkeit jchlechter gejtellt find, als die Gemeinden Hinfichtlich 
der Gemeindeangehörigfett — eine Beitimmung, die erjt noch durch weitere Erfahrungen 
fi) zu erproben hat. Wiederum erfolgt der Erwerb des Staatsbürgerrechts durch eine 
von der höheren Berwaltungsbehörde auszujtellende Aufnahmeurkunde, die fojtenfrei 
ertheilt werden muß; nicht aber, wie vorgefchlagen war, durch eine bloße Mteldung ; 
wiederum begründet die Aufnahmeurfunde von dem Zeitpunfte der Aushändigung an 
alle mit der Staatsangehörigfeit verbundenen Rechte und Pflichten; wiederum endlich 
erſtreckt jich die Staatsangehörigfeit in der Negel auch auf die Familie des Auf: 
genommenen. 

5) Durch Anftellung im öffentlichen Dienfte des Reiches oder eines Bundes— 
ftaates vermöge einer von einer Gentrale oder höheren Verwaltungsbehörde voll: 
jogenen oder bejtätigten Beitallung, jo daß aljo ebenſowol die Anjtellungen im mittel- 
baren wie im unmittelbaren Staatsdienjt die Naturalifations= oder Aufnahmeurfunde 
erjegen können, während amdererjeits nicht jede Anjtellung diefe Wirkung nach fich 
zieht. Wenn übrigens die Anjtellung eines Ausländers im Reichsdienjte erfolgt iſt, 
jo erwirbt der Angeftellte die Staatsangehörigfeit in demjenigen Bundesjtaate, in 
welchem er jeinen dienftlichen Wohnfig hat, oder nach feiner Wahl, infofern ber 
dienstliche Wohnfig im Auslande liegt (Gejeg vom 20. Dez. 1875). 

B. Der Berlujt der R.— und ©. erfolgt, abgejehen von Legitimation und Ber: 
heirathung: 

1) Durch Ausschluß wegen gewiſſer Handlungen, ſog. Erpatriation, in doppelter 
Weiſe, je nachdem es fich entweder um jolche handelt, die jchon im Auslande fich 
aufhalten, oder um jolche, die bisher im Inlande gelebt haben. Deutiche, welche 
ich im Auslande aufhalten, können durch Ausspruch der Gentralbehörde des Heimaths— 
ftaates ihrer Staatsangehörigkeit verlujtig erklärt werden, wenn fie im alle eines 
Krieges oder einer Kriegsgefahr einer durch den Kaiſer anzuordnenden ausdrüdlichen 
Aufforderung zur Rückkehr binnen der darin bejtimmten Friſt feine Folge leijten. 
Daffelbe gilt auch ohne den Fall des Krieges oder der Kriegagefahr von Denjenigen, 
welche ohne Erlaubniß ihrer Regierung in fremde Staatödienjte getreten find, und 
troß der erhaltenen Aufforderung zur Rückkehr in denjelben verbleiben. Außerdem 
fönnen Geiftliche und andere Religionsdiener in Gemäßheit des RGeſ. vom 4. Mai 
1874, betr. die Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchenämtern, durch 
Verfügung der Gentralbehörde des Heimathejtaates, reſp. durch die Landespolizei- 
behörde in den beiden Fällen ihrer Staatsangehörigkeit verlujtig erklärt und aus dem 
Bundesgebiete ausgewiejen werden, wenn fie entweder durch gerichtliches Urtheil aus 
ihrem Amte entlaffen find und hierauf eine Sandlung vorgenommen haben, aus ber 
hervorgeht, daß fie dennoch das Amt ſich anmaßen, reſp. thatjächlich ausüben, oder 
wenr fie deshalb zu einer Strafe verurteilt find, weil fie Amtshandlungen in einem 
Kirchenamte vorgenommen haben, das den Vorjchriften der Staatögejege zumider 
ihnen übertragen worden iſt. Der Wiedererwerb der jo verlorenen R.- und ©. 
kann nur mit Genehmigung des Bundesraths erfolgen. 

2) Die Auswanderung führt nach Deutichem Neichsrecht einen Verluſt der 
Staatsangehörigfeit nur dann herbei, wenn fie entweder auf Grund einer beantragten 

Entlaffungsurfunde erfolgt ift, oder ein zehmjähriger Zeitraum verftrichen ift. Die Ent: 
laſſungsurkunde muß unbedingt ertheilt werden, wenn es ſich um eine bloße Ueber- 
wanderung handelt, während die wirkliche Auswanderung mit Rüdficht auf die Militär- 
pflicht Dahin beichränkt ift, daß in gewiſſen Fällen die Zuftimmung der kompetenten 
Militärautoritäten zur Entlaffung erforderlich ift, welche Beſchränkung fich jedoch auf 
die noch nicht zum Dienjt einberufenen Rejervijten und Landwehrmänner nicht bes 
sicht. Die zehnjährige Frift wird von dem Zeitpunkte des Austritts aus dem 
2.901 genbdorff, Enc. II. Rechtslexikon III. 3. Aufl. 97 


418 Reichs⸗ und Staatsangehörigfeit. 


Bundeögebiete oder, wenn der Austretende fig im Beſitz eines Reifepapieres oder 
Heimathefcheines befindet, von dem Zeitpunfte des Ablaufs diefer Papiere an ge 
rechnet. Sie wird unterbrochen durch die Eintragung in die Matrifel eines Reiche: 
konſulats. Ihr Yauf beginnt von Neuem mit dem auf die Löſchung in der Matrikel 
folgenden Tage. In der That dürfen Bürger, die in feiner Weiſe während eines 
längeren Zeitraums um ihr Vaterland fich kümmern, ala fich ſelbſt ausſchließend 
angejehen werden. Indeſſen kann doch Solchen, die einerjeits ihr Deutiches Indigenat 
auf dieje Weiſe verloren, andererjeits ein fremdes noch nicht erworben haben, die 
aljo jtaatlos find, auch ohne fürmliche Rüdwanderung und neue Niederlaffung die 
frühere Staatsangehörigkeit im urfprünglichen Heimathsftaate wieder verliehen werden; 
wie auch den förmlich zurückkehrenden Deutichen diefer Art ein fürmliches Recht au! 
Wiederaufnahme zugeiprochen ift, jo daß derjenige Bundesitaat, in dem fie fich nieder: 
lafien, zur Ertheilung einer Aufnahmeurkunde verpflichtet erjcheint; der ehemalige 
Deutiche darf alfo in der fremde überall fich jagen, daß er jederzeit in die ſtaats— 
bürgerlichen Beziehungen zu Deutichland zurüdtreten fann (Code Nap. II. 1, 18). 

3) Dagegen geht durch den bloßen Erwerb einer neuen Staatsangehörigkeit die 
alte an fich nicht verloren. Derjenige aljo, welcher etwa, um fich feiner Mtilitärpflicht 
zu entziehen, unerlaubt ausgewandert ift und binnen 10 Jahren zurückkehrt, wird als 
Deuticher Staatsangehöriger beftraft und muß nachdienen. Da diefjes freilich leicht zu 
Kollifionen mit anderen Staaten führt, welche annehmen, daß mit der bei ihnen 
erfolgten Naturalifation jedes Band zum früheren Staate gelöft jei, jo hat Deutich: 
land neuerdings mit den Bereinigten Staaten von Nordamerika unterm 22. Febr. 
1868 einen Vertrag, betr. die Staatdangehörigleit derjenigen Perfonen, welche aus dem 
Gebiete des einen Theile in das des anderen einwandern, abgejchloffen, durch welchen 
unter Feithaltung des Prinzips, daß die alte Staatsangehörigkeit mit dem Erwerbe einer 
neuen nicht verloren gehe, doch die Durchführung diejes Prinzips wejentlich eingejchränft 
ift. Der Staatsangehörigkfeitävertrag jet nämlich jeft, daß diejenigen Deutſchen, welche 
naturalifirte Staatsangehörige der Vereinigten Staaten geworden find und fünf Jabre 
lang ununterbrochen in den Vereinigten Staaten zugebracht haben, jeitens des Reicht 
als Amerifanifche Bürger behandelt werden ſollen; und umgekehrt. Wenn aljo ein 
Deuticher nad) fünfjährigem ununterbrochenen Aufenthalte in den Vereinigten Staaten 
förmlich naturalifirt worden ift, jo foll er bei feiner etwaigen Rückkehr nach Deutich- 
land nur bejtraft werden fünnen wegen der Verbrechen, die er vor, nicht aber wegen 
derjenigen, die er durch die Auswanderung begangen hat, alfo namentlich nicht wegen 
Verlegung jeiner Militärpflicht. Wenn aber ein Solcher ſich wieder dauernd in 
Deutjchland niederläßt, jo befindet er fich nach zwetjährigem Aufenthalt in der Lage 
eines freiwillig Eingewanderten; er muß alfo die Staatöpflichten überhaupt und ins 
bejondere auch die Militärpflicht injofern erfüllen, als er derjelben nach feinen Alters: 
verhältniffen noch unterworfen it. — Das Prinzip diejes Vertrages ift durch das 
vorliegende Geje generell dahin erweitert worden, daß für Deutfche, welche fich in 
einem Staate des Auslandes mindeitens fünf Jahre lang ununterbrochen aufhalten 
und in demfelben zugleich die Staatsangehörigkeit erwerben, durch Staatövertrag die 
zehnjährige Frift, mit deren Ablauf die Staatsangehörigkeit im Allgemeinen erlischt, 
bis auf eine fünfjährige vermindert werden fann. 

Lit.: v. Rönne, Das Staatsrecht der Preufiichen Monarchie, Bb. I. Abth. 2 ©. 1 ff, 
3. Aufl. 1869. — H. Schulze, Preuß. Staatsrecht, Bd. I. — ©. 352 ff. — v. Rönne, 
Das Staatsrecht des Deutſchen Reichs, Bd. I. (1876) ©. 96 ff. — Laband, Das Staatsrecht 
des Deutjchen Reiche, Bd. 1. (1876) ©. 130 ff. — ©. Meyer, Lehrbuch (1879), ©. 163 r: — 
Seydel, Die Deutſche Reichs- u. Staat3angehörigkeit (Hirth’3 Annalen 1876 ©. 135 ff. 1881 
©. 67). — Archiv für civil. Praxis Bd. LAI. (1878) ©. 149 ff. — Beitichrift des fönigl. Preuf. 
Statift. Bureaud 1880, ©. 145 fi. — Pözl, Art. Staatsangehörige, Staatöbürger, in 
Bluntſchli's StaatsWört.B. Bd. IX. (1865) ©. 649 ff. — La ehr f, Ueber ein Deutichei 
Bürgerrecht, Leipz. 1867; Derjelbe, DasBundes: undStaatöbürgerrecht imNorddeutichen Runde, 
Leipz. 1870; Berlarse, Ausführungen zu dem Reichs- und Staatsangehörigkeit3:Gefeke(Hirth's 
Annalen 1875, ©. 625 ff.). — v. Chudnochowski, Zur Geſchichte und Kritik des Nordd 


Neiffenituel — Reifeloften der Zeugen und Sadjverjtändigen. 419 


timathsrechts (Deutiche Bann 1870); Derjelbe, Das Deutiche Indigenat und 
taatäbürgerreht (Unjere Zeit, 1872), — Böhlau in Hildebrand's Jahrbücdern 
B. XIX. (1872). — v. Marti, Das Recht ber — — im internationalen 
Verlehr (Hirth's Annalen 1875 ©. 798 ff., 1113 ff.). — Happ, Der 8 
Vertrag dom 22. Februar 1868 (Preuß. Jahrb. Bd. XXXV. [1875] S. 509 ff., 660 ff.; 
3. XXXVI. ©. 189 fi). — Wejendbond, Einiges über den Deutſch-Amerikaniſchen Bertra 
vom 22. ze: 1868 (Hirth’3 Annalen 1877 ©. 204 ff). — Cogordan, La nationalit 
au point de vue des rapports internationaux, Paris 18379.—de Folleville, Trait6 theorique 
et pratique de la naturalisation, Paris 1880. — Revue de droit intern. I. 102; II. 107; 
IL 601, 685; VIII 483; XI. 463. — Bulletin de droit intern. 1870 p. 238; 1878 p. 334; 
1879 p. 279. — Rüttimann, I. 886; I.b 8 79. — Dubs, I. 38 ss. — Archivio 
giuridico XIII. 152. Ernft Meier. 
Neiffenftuel, Anaklet, 5 1641 zu Tegernjee, wurde Franziskaner, lehrte 


jeit 1683 in Wreifing, T 5. X. 1703. 
Schriften: Tbeol. moralis, Mon. 1692; Mut. 1747; Augsb. 1777. — Jus canonicum 
universum, Fris. 1700; Mon. 1702—1714; Ingolst. 1740, 1798 ss.; Macer. 1755; Antr. 


1755; Rom. 1829; Paris. 1353. 
gil.: Schulte, Geſchichte, III. a ©. 154. TZeihmann. 


Neifekoften der Zeugen und Sachverſtändigen. Die Pflicht, fich ala 
Zeuge oder Sachverftändiger in gerichtlichen Angelegenheiten vernehmen zu Lafjen, 
ift feine freiwillige, deren Erfüllung in dem Belieben des Einzelnen jteht, jondern 
fann erjwungen werden. Es braucht deshalb auch der Zeuge und Sachverjtändige 
den materiellen Schaden, welcher ihm durch feine VBernehmung erwächit, nicht zu 
tragen, und jteht der ihm obliegenden Pflicht das Recht gegenüber, den Erſatz diejes 
Schadens zu verlangen. Zu demjelben gehören auch die Aufwendungen, welche er- 
torderlich waren, ihn an den Ort feiner Vernehmung zu bringen. Dieſer Ort ift 
in der Regel die Gerichtäjtelle, alſo diejenige Stelle, an welcher der Richter die 
Bernehmung vornehmen will, und die dem Zeugen, bzw. Sachverjtändigen, in der 
Zadung bezeichnet werden muß. Das Prinzip, daß die zu vernehmende Perfon zum 
Richter, nicht umgefehrt der Richter au ihr kommen joll, galt jchon im Gem. Recht 
und ift auch von denjenigen Prozeßgejeßgebungen aufrecht erhalten worden, welche 
noch den Grundfägen eines fchriftlichen Verfahrens und einer formalen Beweistheorie 
huldigten. Nach Einführung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens und Ans 
nahme der freien Beweiswürdigung iſt es jowol im Givil-, wie im Strafßrz. für 
die mündliche Verhandlung zu einer nicht zu bejeitigenden Nothwendigfeit geworden. 
Es Halten daher auch die Deutschen Juftizgefege an ihm feſt. Sowol die Civil— 
wie die StrafPD. fordern die Vernehmung des Zeugen und des Sachverjtändigen 
an der Gerichtäftelle, und zwar nicht blos in den mündlichen, bzw. Hauptverhand= 
lungen, jondern ganz allgemein. Beide Geſetze laffen nur zwei Ausnahmen zu, 
deren eine fich auf die Landesherren, die Mitglieder der landesherrlichen Familien 
und die Mitglieder der fürſtlich Hohenzollern'ſchen Familie und die andere fich- auf 
den Tall bezieht, daß die zu vernehmende Perjon durch Krankheit oder körperliche 
Gebrechen an dem Erſcheinen auf der Gerichtäftelle verhindert wird. In diejen 
beiden Fällen joll fich ausnahmsweiſe der Richter in die Wohnung der zu ver= 
nehmenden Perfon begeben. Gine Ausdehnung diefer Ausnahmen ift unzuläffig. In 
feinem Falle ſteht es in der Willkür der zu vernehmenden Perfon, ihr Ericheinen 
vor Gericht abzulehnen und die Anmwejenheit des Richters in ihrer Wohnung zu 
verlangen. Zugleich mit der Annahme diejes Grundjages Haben aber auch die 
Givil- und die StrafPO., erftere in den 88 366, 378, letztere in den SS 70, 84, 
das Recht der zu vernehmenden Perjon auf Eritattung der ihr erwachſenden Aus— 
lagen anerkannt, eine Erjtattung, welche zunächit und vorbehaltlich des Rüdgriffs 
auf den zur Koftentragung Verpflichteten der Staatsfafje obliegt. Sie bringt die 
gezahlten Beträge ala baare Auslagen zur Liquidation. 
Bei der Normirung der zu erjtattenden R. gingen die einzelnen Yandesgejeße 
von verfchiedenen Gefichtäpunften aus. Die einen verlangten den Nachweis der Aus— 


‚agen und bdedten nur,deren Betrag. Andere, wie 3. B. die Preuß. Verordn. vom 
Nr 


420 Reiſekoſten der Zeugen und Sadpveritändigen. 


29. März 1844 ftellten unter Angabe einer Marimal- und Minimalgrenze eine 
relative Höhe feſt und überließen es dem Ermeſſen des Gerichtes, innerhalb der: 
jelben im Ginzelfalle den Betrag je nach dem Stande und Gewerbe der zu ver: 
nehmenden Perſon zu beitimmen, wobei Sachveritändige höher dotirt waren, als 
Zeugen. Die wirkliche Auslage an R. blieb unberüdfichtigt: nur inſofern wurde 
ihr Rechnung getragen, ala e8 der vernommenen Perſon freigeftellt war, einen etwa 
höheren Betrag nachzuweiſen und feine Gritattung zu fordern. In Preußen fand 
diejes Prinzip eine Menderung in dem Geſetz vom 1. Juli 1875, deſſen Grundiähe 
mit einer einzigen Aenderung in die Neichögefeggebung übergegangen find. Diele 
hat nämlich die Materie durch die Verordn. vom 30. Juni 1878 (R.G.Bl. ©. 175) 
einheitlich geordnet. Sie macht feinen Unterfchied zwiſchen Zeugen und Sachverftän: 
digen, wol aber — und darin untericheidet fie fi von dem Preußifchen Gejege — 
einen jolchen zwijchen öffentlichen Beamten und Privatperfonen. Da fie den Begriff 
der eriteren nicht näher definirt, find die verichiedenjten Auslegungen derjelben geltend 
gemacht worden, insbefondere hat man zu ihnen die Rechtsanwälte und die mittel: 
baren Staatsbeamten gezählt. Daß die Eriteren, wenn ihnen auch die Gebühren: 
ordnung vom 7. Juli 1879 bejondere Gebührenjäge für Gejchäftsreifen zubilligt, 
nicht zu den Beamten gehören, folgt nicht nur aus den Beitimmungen der Rechte: 
anwaltsordnung, fondern jchon aus dem Umjtande, daß das Geſetz ihre Reifen nicht 
Dienst», jondern Gejchäftsreifen nennt. Dagegen find die mittelbaren Staatsbeamten 
öffentliche Beamte. Allein daraus folgt noch nicht ihre Unterordnung unter bie 
Vorichrift der Verordn. vom 30. Juni 1878. Bielmehr bietet dieje als Kriterium 
für den von ihr gebrauchten Begriff den Sat, daß die öffentlichen Beamten nad) 
Maßgabe der für ihre Dienftreifen geltenden Borjchriften entichädigt werden jollen. 
Wo aljo und infoweit das Landesrecht Geſetze oder Verordnungen enthält, dur 
welche für Dienftreifen diefer mittelbaren Staatsbeamten beitimmte Entjchädigung& 
fäße feitgefeßt und normirt werden, find ihre Ansprüche auf R. nach dieſen zu be 
handeln, andernfalls aber werden fie als Privatperfonen angejehen werden müſſen. 

Dieje verichiedene Behandlung der öffentlichen Beamten tritt jedoch mur dam 
in Wirkung, wenn fie als Zeugen über Umftände vernommen werden jollen, von 
welchen fie in Ausübung ihres Amtes Kenntniß erhalten haben, wenn fie alſo in 
ihrer Eigenſchaft als Beamte Zeugniß abzulegen haben, oder wenn fie ala Sad: 
veritändige aus DVeranlaffung ihres Amtes zu Hören find, und die Ausübung der 
zur Abgabe des Gutachtens erforderlichen Wiflenichaft oder Kunſt zu den Pflichten 
ihres Amtes gehört. 

Privatperfonen dagegen erhalten eine Entihädigung für die Koften der Reiſe, 
wenn der von ihnen zurüczulegende Weg die Länge von zwei Kilometern überſteigt. 
Bei der Abmefjung der Entichädigung wird unterfchieden, ob nach ihren perjönlichen 
Verhältniffen oder in Folge bejonderer Umstände die Benußung eines Transport: 
mittels für angemeffen zu erachten ift oder nicht. Es ift aljo bei der Prüfung zu 
berücdlichtigen einestheils die durch Rang, Stand oder Reichthum bedingte Gepflogen: 
heit des Gebrauchs von Transportmitteln, anderntheils die thatjächliche Lage der 
Perfon nach ihren Körper- und Gefundheitsverhältniffen, im Vergleich zu der Länge 
des zurüczulegenden Weges. Gricheint der Gebrauch eines Transportmittels an- 
gemefjen, jo joll ohne peinliche Unterfuchung, ob der Entjchädigungsberechtigte ſich 
zur Zurüdlegung der Reife eines Transportmittels bedient habe, und welcher Aus: 
lagenbetrag ihm dadurch entitanden fei, eine nach billigem Ermeſſen die erforderlih 
gewejenen Koften dedende Entichädigung gezahlt werden. Es foll der Zeuge oder 
Sachverſtändige durch den Empfang der R. feinen Gewinn erzielen und deshalb nur 
einen Betrag eritattet erhalten, der nach der Anficht des Gerichts feine Auslagen 
ungefähr dedt. Hieraus könnte folgen, daß derjenige Zeuge oder Sachverſtändige, 
der fich eines Fuhrwerks nicht bedient und jeinen Berhältniffen nach zur Zurücklegung 
des Weges nach der Gerichteftelle auch nicht zu bedienen pflegt, jomit Auslagen 


Neitemeier — Relognition. 421 


nicht gehabt Hat, eine Reifeentichädigung zu beanjpruchen nicht berechtigt jei. Allein 
das Gejeß geht davon aus, daß auch die zu Fuß ausgeführte Reife nicht ohne 
gewiſſe Unkoften gedacht werden kann, wenn diejelben auch nicht in der augenblid- 
lichen Berauslagung baaren Geldes beitehen. Es bewilligt deshalb auch in. diejem 
Falle eine Entjchädigung und zwar in dem Satze von 5 Piennig pro Kilometer, 
ein Saß, der dem miebrigften Gabe der Verordnung vom 29. März 1844 ungefähr 
gleichfommt. 

Auf die nach diefen Grundſätzen feſtzuſetzende GEntichädigung für NR. haben 
nicht allein diejenigen Zeugen einen Anſpruch, welche vom Gericht geladen worden 
find, jondern auch folche, die im Strafverfahren der Angeklagte unmittelbar laden 
läßt. Er muß die ihnen gejeßlich zuftehenden R. gleich bei der Ladung ihnen ent— 
weder durch den Gerichtövollzieher baar auszahlen laſſen, oder deren Betrag bei dem 
Gerichtäjchreiber hinterlegen. Gejchieht keins von beiden, jo ift der Zeuge der Ladung 
zu folgen nicht verpflichtet, da er feine Sicherheit dafür hat, daß er, da ihm die 
Gntihädigung aus der Staatskaſſe nur dann gezahlt wird, wenn jeine Vernehmung 
für erheblich erachtet und vom Gericht beichloffen wird, wegen der ihm durch das 
Unternehmen der Reife entftehenden Koſten entichädigt werden würde. = 

eve3, 


Neitemeier, Joh. Friedr., 5 1755, feit 1805 Prof. in Kiel, ſpäter Etats— 
rath, dann nach (1818) Niederlegung der Profeffur in Kopenhagen und Hamburg 
privatifirend, T 1839. 

Schriften: De origine et ratione quaestionis per tormenta apud Graecos et Rom., 
Gott, 1782. — Encyklopädie und Geſchichte der Rechte in Deutihland, Gött. 1785. — Ge: 
ihichte und Zuftand der Sklaverei und Leibeigenſchaft in Griechenland, Berl. 1789. — Grund: 
läge der Regentichaft in jouderänen und abhängigen Staaten, Berl. 1789. — Das allgemeine 
———— Frankf. 1800—1802. — Ueber bie Redaktion eines Deutſchen Geſetzbuchs, “ 
1800. — Allgem. Deutſches Geſetzbuch, 1801. — Der Gehorſam gegen bie obrigkeitliche Be: 
fragung in Zwangd und in Strafſachen, 1801. — Juftizverbefjerung, 1802. — Die Wahrheit 
vor Gericht, 1802. — Ueber den Gebrauch fremder Rechte, 1803. — Die Deutiche RBerf., 
1808. — Das Gemeine Recht in Deutichland, 1804. — Das Napoleons: Recht, 1808. — lleber 
— insbeſ. in den Deutſchen Reichsſtaaten. Mit Rückſicht auf den Plan ber kaiſerl. 
Rufliichen Geſetzlommiſſion, 1806. — Der Bürgervertrag für die Gejchgebung mit der Stände: 
verfaffung in den germaniſchen Staaten, Hamb. 1815. — Der Bürgervertrag für die Juſtiz— 
Staatshülfe und Finanzpflege, Kiel 1816. — Das Bundesgericht für Staaten und Regenten, 


eine ftehende Friedenspflege, Kiel 1816. 
Lit.: Richter und Schletter, Krit. Jahrb. 1840 (Bd. VIL) ©. 276. 
Zeihmann. 


Meitz, Wilhelm Otto, & 1702 zu Offenbach, war Prof. zu Middelburg, 
t 1768. 

Echriften: Belga graecisans 1730 und Ausgabe von Theophili — graeca 
Iostitutionum, Hag. Com. 1751, ſowie der Bücher 49—52 Tit. 1 (in Meermann, Thbe- 


saurus V. und Supplement) der Bafıliken. 
Zit.: Haubold. — Rivier, Introd. hist., 1881 p. 610. Zeihmann. 


Mekognition bedeutet im StramPrz. die Anerkennung der Echtheit einer Ur— 
funde oder der Fdentität einer Perjon oder Sache. Sie fommt in den verjchiedenjten 
Stadien des Prozeſſes vor, in der Vorunterfuchung, dem Sauptverfahren, ber 
Grefutionsinftanz, bei Verhaftungen und Beichlagnahmen, bei Yeichenjchau und 
Augenschein, bei Konfrontationen x. Die R. kann von den Parteien oder von 
dritten Perſonen, von Zeugen, Komplizen ꝛc. geichehen: je nachdem nimmt fie bald 
den Gharalter eines Geftändniffes, bald den eines Zeugniſſes an. In lehterer Bes 
ziehung iſt fie zur Feſtſtellung der Jdentität des Beſchuldigten ſchon im Vorver— 
fahren zuläffig, da fie meiſtens nicht ohne Nachtheil für die Sache wird ausgejeßt 
werden können; in erjterer Beziehung unterliegt fie den Grundjägen über Revofation 
der Gejtändniffe (j. d. Art. Geftändniß im Straiprogeh), weshalb ihre Herbei— 
führung durch Ueberraſchung und ähnliche Mittel fie gänzlich nußlos machen kann. 


422 Rekognitionsſchein — Reluſationsrecht. 


Dagegen entſpricht es der Richtung des Kriminalbeweiſes auf Gewinnung materieller 
Wahrheit, wenn der Rekognoszirende zur Angabe der Erkennungszeichen und 
namentlich Zeugen zu deren Angabe vor der Befichtigung angehalten werden. — 
Nah Franzöſ. Recht jollen in der Hauptverhandlung jämmtliche Ueberführungäftüde 
dem Beichuldigten und den Zeugen zur R. vorgelegt werden, nach einer Meimung 
jogar bei Strafe der Nichtigkeit; nach der Deutichen StrafPD. wird es darauf an: 
kommen, ob in der Unterlaffung eine Beichränfung der Vertheidigung oder eine fonitige 
Verlegung des Geſetzes enthalten jei. 

Lit. u. Quellen: Bauer, Lehrb., SS 92 fi., 136, 152, — Pland, Etrafßkri,, 
©. 240. — Zadhariä, StrafPrz, $ 108. — v. Schwarze, KHomment. zur Deutfchen 
StrafPD., $ 58 Anm. 5. — Bretihneiber ind. Shwarze’s PBortr., ©. 43. — Carnot, 
De l’instr. crim. II. art. 329. — Hödfter, Straf®erf., SS 256—261. — Code d’instr. art. 
35, 39, 310, 319, 329. — Preuß. Krim.Ordn. v. 1805, SS 340, 382 ff. — StrafPD. v. 1867, 
5 98, 185, 141 ff., 152, 176, 188, 430. — TIhüring. StrafPD. Art. 86, 125 fi., 150, 
68, 186, 245. — Bad. StrafPD. 88 122, 142, 144, 189. — Deutice Stza®D. 5 58, 

. Wieding. 

Rekognitionsſchein heikt die vom Hypothekenamt ertheilte Beſcheinigung über 
eine im Hypothekenbuche erfolgte Einjchreibung. Im weiteften Sinne fallen darunter 
nicht nur Benachrichtigungen und Abjchriiten, fondern auch Hypothekenſcheine, 
Hypothefeninjtrumente und andere zujammengejegte Urkunden. Ob und in welder 
Art fie von Amtswegen oder erjt auf Antrag zu ertheilen, pflegt nach dem’ Inhalt 
der Eintragungen verjchieden bejtimmt zu fein. Nicht überall aber hat der Aus 
druck R. jene umfaffende technijche Bedeutung, wie etwa in Bayern und im Königreich 
Sachſen. In Altpreußen 3. ®. hat derjelbe eine bejondere Beziehung auf das fog. 
Rekognitionsſyſtem. Für diejenigen Grundftücde, deren Hypothekenfolium noch 
nicht hat angelegt („regulirt“) werden können, jet es wegen noch jchwebenden Aus- 
einanderfeßungsverfahrens, jei es aus jonjtigen Gründen, werden Anlagetabellen nad 
Art der Hypotheftabellen geführt und darin die Eintragungen bis zur Anlegung des 
Hypothekenfolii vermerkt. Abſchrift des Vermerks wird ala Rekognition auf die be 
gründende Urkunde gejeßt, und dadurch ein R. Hergeftellt, welcher dem verbrieiten 
Forderungsrecht die Dinglichkeit und den Altersvorzug fichert, und fo dem Gläubiger 
die Möglichkeit gewährt, ſofort ebenſo Beiriedigung aus dem Grundſtück zu fuchen, 
wie wenn eine Hypothek bereits ordnungsmäßig eingetragen wäre. Die Schwierig- 
feiten, welche die volljtändige Durchführung der Anlegung von Grundbüchern mit 
ſich bringt, Hat. dies Syſtem auch für die neue Preuß. Grundbuchordn. ala unent- 
behrlich ericheinen laffen. Die bezüglichen Vorichriiten find bei der Uebertragung 
auf die neuen Landestheile mannigiach geändert, um das Zurüdbleiben von Yüden 
möglichit zu verhüten. 

Gigb.: Preußen: Gejeh vom 24. Mai 1853 88 17 ff. — Verordnung vom 16. Juni 
1820; Deklaration dazu vom 28. Juli 1828. — Provinzialvorichriften in den Einführung? 
patenten ſ. 3. B. bei Bahlmann, Zur GrundbuhüOrbn. vom 5. Mai 1872 838 133 —140 
($ 136 Anmeldebogen), Jabegebiet Gel.Samml. 1873 88 28, 29 ©. 116 (Interimähnpotbef); 
Neuvorpommern und Rügen SS 29 f. ©. 234 (Rangordnungsplan); Schleswig: Holitein 
ss 12 ff. ©. 243 (Melbefrift); Hannover 85 32 ff. ©. 259 dagl.; Heſſen-Kaſſel SS 32 N. 
©. 281 dagl.; GEbrenbreitfteiner Bezirt SS 32 fi. ©. 293 dagl.; Hohenzollern SS 14 fi. 
©. 303 bagl. — Bayern: Hyp.Geſ. SS 770 Fi. — Könige. Sachſen: Juſt. Min. Verordn. 
vom 9. Januar 1865 SS 185 ff. — Württemberg: Pid.Gel. Art. 174, 191. 

Schaper. 
re ale j. Ablehnung der Richter. 

Rekuſationsrecht (TH. I. ©. 683; votum negativum) der Gemeinde iſt 
in der evangelifchen Kirche das Recht derjelben, bei der Beſetzung der Pfarrſtelle 
durch das Hirchenregiment, ſei es, daß letzteres dieje allein ausübt oder Dabei an 
den Vorschlag eines Patrons gebunden ift, gegen den ihr beitimmten Geiſtlichen 
wegen jeines Lebens, jeines Wandels und jeiner Yehre Einipruch zu erheben , und 
dadurch die Uebertragung des Amtes an den Refufirten zu verhindern. Dieies auf 
dem Gebiete der lutheriichen Kirche ichon von den Reiormatoren anerfannte und in 


Religionsgeiellichaften. 423 


einer Reihe von Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts ebenfalls jejtgeftellte Recht 
it aber im Laufe der Zeit in einem Theile der Deutjchen Landeskirchen verloren 
gegangen; jo it jede Mitwirkung der Gemeinde bei der Bejegung der Prarrämter 
ausgeichloffen in Bayern, Kurheſſen, Najjau, Hefjen- Homburg, Bir- 
fenfeld, Anhalt- Bernburg und theilweiie in Anhalt-Dejjau und 
Medlenburg:-Strelig. In Württemberg joll zwar feit 1855 bei Wieder- 
beiegung des Amtes der Piarrgemeinderath über das Vorhandenfein befonderer, bei 
der Beſetzung der Stelle zu berüdfichtigender Bedürfniſſe und Berhältnifje vernommen 
werden, aber darin Liegt ficherlich nicht eine Anerkennung des votum negativum. 
Dagegen bejteht dafjelbe meistens in Altpreußen (j. Allg. ER. TH. II. Tit. 11 
Ss 325 ff. und wegen provinzieller Ausnahmen Jacobjon, Preuß. evangelifches 
Kirhenreht, ©. 364); in Hannover (hier Vokationsrecht, wie auch jonft 
wol genannt, j. Belanntmachung vom 7. Juni 1865) und im Königreich Sachen, 
wo jedoch der Kirchenvorftand Namens der Gemeinde und nicht dieje jelbit das Ein- 
ipruchörecht auszuüben hat (Kirchenvorftandsordn. vom 30. März 1868 $ 25). 
derner fommt das votum negativum vor in Sachjen- Weimar, -Koburg, «Altenburg, 
Schwarzburg-Rudolftadt und -Sonderöhaufen, Braunfchweig, in einem Theil von 
Medlenburge Schwerin und den zu Medlenburg-Strelig gehörigen Gemeinden. des 
Fürſtenthums Ratzeburg. Um die Gemeinde für die Abgabe ihres Votums näher 
zu informiren, hat der in Ausficht genommene Kandidat in den meijten der er- 
wähnten Länder, freilich nicht überall, vor derjelben eine (ſog. Probe) Predigt zu 
Balten. Das Berfahren für die Aufnahme der demnächjtigen Erklärung der Ge— 
meinde ift verjchieden geftaltet; über die zur Sprache gebrachten Einwendungen hat 
demnächit die vorgejegte Kirchenbehörde, gewöhnlich das Konfiftorium, zu entjcheiden. 
Während da, wo die Gemeinde oder der Gemeindevorftand das Recht der Piarrwahl 
(jo 3. B. in Defterreich, in vielen, namentlich reformirten Gemeinden- Preußens und 
Hannovers) hat, ein votum negativum jelbjtverftändlich undenkbar it, fommt es 
doch neben einem anderen Modus der Beiegung der Pfarrämter, nämlich neben dem 
Dreier oder Zweiervorichlag (dev Präjentation von drei oder zwei Bewerbern an 
die Gemeinde feitens des Patrons oder der Kirchenbehörde, üblich in Oldenburg, 
Schleswig-Öolftein und in einzelnen Gemeinden von Medlenburg- Schwerin und 
Strelig) in der Weile vor, daß die Gemeinde von den Vorgeichlagenen einen oder 
zwei refufiren darf und die Kirchenbehörde je nach Umſtänden mit oder ohne Be— 
rüdfichtigung der Einſprache die Ernennung ausübt. 

Da in der katholiſchen Kirche allein die Geiftlichen und nicht die Laien das 
Recht an der Leitung der firchlichen Angelegenheiten haben, jo ift hier ein jolches 
Recht der Gemeinde, welche Lediglich Objekt der Miffion des Klerus ift, nicht an— 
erkannt. 

Lit.: Bgl. bie — — in Moſer's Allg. Kirchenblatt für das are Ga 
Deutfchland, ahrg. 1855, ©. 4 P. Hinſchiu 

Religions efellichaften. Der Begriff R. iſt ein moderner. In Br vor 
reformatoriſchen Set gab es nur eine einheitliche Kirche; alle von der Lehre diejer 
Einen Kirche abweichenden Religionsmeinungen fielen unter den ftrafrechtlichen Bes 
griff der Härefie und die Befenner von jolchen demgemäß in kirchliche Strafen. 
Rahm eine Härefie größere Dimenfionen an, jo wurde auch wol das Kreuz gegen 
diefelbe gepredigt und die Unterdrüdung mit euer und Schwert durchgeführt 
(Albigenjer). Aber auch die jchärfite Strenge des Keberrechtes konnte nicht hindern, 
daß thatjächlich fich eine Reihe von religiöjen Gemeinschaften bildeten und erhielten, 
deren Lehre mehr oder weniger von der offiziellen Kirche abwich. Rechtlich aber 
eriftirte nur die Eine Kirche. 

Seit 1526 Hatten die Proteftanten im Deutjchen Reiche neben den Katholiken 
ftaatsrechtliche Eriitenzberechtigung ; erjt der Weſtfäliſche Friede (1648) ordnete aller- 
dings das Rechtsverhältniß definitiv. Danach waren im Deutichen Reiche aner— 


424 | Neligionsgeiellihaften. 


fannte Religionsparteien: 1) die Katholiken, 2) die Augustanae Confessioni Addicti, 
mworunter ſowol die Lutheraner ala die Reiormirten veritanden wurden. Die Parität 
diefer beiden großen Religionsparteien galt aber nur für das Reich und defien In— 
ftitutionen (3. B. das Reichskammergericht); die Territorien blieben nach wie vor 
fonfejfionell abgeichloffen auf der Grundlage der Staatäreligion, deren Belenner allein 
vollberechtigte Staatöbürger waren; doch mußte den Belennern der anderen Kon: 
feffion wenigjtens Duldung und einfache Hausandacht gewährt werden, und aus: 
nahmsweiſe gab e& auch organifirte Gemeinden der anderen Konfeffion mit „friedens: 
mäßiger“ Berechtigung. Tür andere R. war vorerft im Reiche fein Raum; als 
zwingendes Reichsrecht hatte der Weſtfäliſche Friede den Grundjaß firirt: nulla alia 
religio vel secta praeter religiones supra nominatas toleretur. Dieſer Grunbiak 
galt formell bis zur Auflöfung des Deutichen Reiches. 

Thatſächlich aber war derjelbe zu diefem Zeitpunfte bereits längſt durchbrochen, 
und zwar durch die Ynitiative Preußens. Seit Mitte des 18. Jahrh. waren e 
zwei religionspolitifche Grundfäße, welche jenen Staat leiteten: 1) volle Parität 
zwiichen Proteftanten und Katholiken im Staate, ein Grundſatz, der 
im Ordensland Preußen, jowie in Jülich-Kleve-Mark bereits jeit Anfang de 
17. Jahrh. zur Durchführung gelangt, und deſſen prinzipielle Annahme ſeit dem 
Erwerb des zur Hälfte katholiſchen Schlefiend zur politischen Nothwendigfeit ge 
worden war und welchem das Neichsrecht auch nicht im Wege ftand. 2) Duldunlg 
auch anderer R., ein Grundjaß, den zwar das Reichsrecht verbot, den man aber 
in Preußen ohne Rüdficht auf das Neichörecht adoptirte und formell damit recht: 
fertigte, daß ein Theil des Preußiichen Staates nicht zum Reich gehörte. 

Demgemäß unterschied das Allg. ER. zwiſchen den „öffentlich aufgenommenen 
Kirchengejellichaften“ und den „geduldeten SKirchengejellichaften“. Unter erſteren 
wurden die chtiftlichen Kirchen verjtanden, zu leteren gehörten die Juden, Menno— 
niten, Serenhuter und Böhmifchen Brüder. Außerdem wurde generell zugelaflen, 
daß „mehrere Einwohner des Staates unter deffen Genehmigung fich zu Religions 
übungen verbinden fönnen“ ; die erforderliche Genehmigung durfte aber erit nad) 
erfolgter Prüfung der Statuten ertheilt werden. Diefe Beitimmungen des YR. 
repräjentiren die ältefte Deutjche Gejeßgebung über die Bildung von R. außerhalb 
der anerkannten Kirchen. 

Die territorialen Veränderungen in Folge der Napoleonifchen Kriege nöthigten 
dann auch in anderen Deutjchen Staaten zur Aufgabe der älteren religionsrechtlichen 
Prinzipien, fpeziell zur Durchführung voller Parität zwiſchen Katholiken und Pro 
teitanten. Schon im NReichadeputationshauptichluß von 1803 und weiterhin in der 
Rheinbundsacte jand dies auch rechtliche Anerkennung. Die Deutjche Bundesacte 
garantirte dann weiterhin in Art. XVI. den Angehörigen der verjchiedenen chriit- 
lichen WReligionsparteien Gleichheit der bürgerlichen und jtaatsbürgerlichen Rechte; 
das jegige RGeſ. vom 3. Juli 1869 jchließt diefe Entwidelung ab, indem es jem 
Rechte völlig unabhängig von irgend welchem Neligionsbefenntniß er 
klärt. Das Reichsrecht Hat damit allerdings nur janktionirt, was in den meilten 
einzeljtaatlichen Verfaffungen bereit3 vorlängft garantirt war (3. B. Bayer. Veri.Utf. 
von 1818 Tit. IV. 8 9). 

Die Bildung von „R.“ ift nach der neueren Entwidelung in den meijten Deut: 
chen Einzeljtaaten frei gegeben worden, wenn auch den jog. „anerkannten“ oder 
„Landes-“ Kirchen befondere Vorzüge bis jet überall in Deutjchland verblieben und 
der Zujammenhang der ftaatlichen Rechtsordnung mit dieſen Kirchen aufrecht er 
halten wurde. Die Unterjcheidung zwischen öffentlichrechtlichen und privatrechtlichen 
Korporationen, durch welche man die DVerichiedenheit des Nechtöverhältniijes der 
Zandesfirchen und der übrigen R. im Staate juriftifch zu präzifiren verfuchte, ent 
behrt jedoch in diefer allgemeinen Faſſung der erforderlichen juriftifchen Beſtimmtheit. 
„Deitentliche Korporation“ ijt an fich fein Nechtsbegriff; wol aber kann das pofitive 


Neligionsverbreden. 425 


Reht gewiffen R. beiondere Vorrechte einräumen und für die jo bevorrechteten 
Kirchen jene Terminologie adoptiven, wie dies 3. B. die Bayer. Geſetzgebung thut. 

Ueber die Bildung von R. und die Korporationsqualität derjelben beiteht in 
Deutichland jehr verfchiedenes Partikularreht. Man kann nach dem geltenden Rechte 
die R. dreifach gruppiren: 

I. Landeskirchen: als jolche find prinzipiell die evangelische Kirche überall, 
in den meijten Staaten auch die katholische anerfannt; zur katholischen Kirche ge: 
hören in Preußen, Baden, Heſſen auch die altkatholischen Gemeinschaften; in Baden 
und Württemberg bilden auch die Juden eine „Landeskirche“, in Bayern find die 
griechifchen Katholiken „öffentliche" Korporation mit beftimmt firirten, nur den 
Kandesfirchen zufommenden Rechten. 

U. R. mit Korporationsqualität: neben den sub I. bezeichneten R. haben 
Korporationsrechte noch: 1) in Preußen: die Mennoniten, Juden, Serrenhuter, 
Baptiften, Altlutheraner, Böhmiſchen Brüder; 2) in Bayern: die Juden; 3) in 
Sachſen: die Juden und Deutichkatholifen; 4) in Württemberg: die Herrenhuter 
und Deutſchkatholiken; 5) in Baden: die Deutichkatholiken. 

II. R. ohne Korporationsqualität. 

Zur Erlangung der Korporationsrechte bedart es in Preußen und Sachen eines 
Staatögefeßes, in Bayern, Württemberg, Heſſen bejonderer Verleihung, aber nicht 
der Form des Geſetzes. Andere R. können fich in Heffen, Baden, Württemberg frei 
bilden, dürfen aber nicht gegen Staatägefeße oder gegen die Eittlichkeit verjtoßen, 
in Preußen ift die Bildung gleichialls frei, doch müſſen die Statuten der Orts— 
polizeibehörde vorgelegt werden, in Bayern und Sachien bedarf die Gründung don 
Religionsvereinen föniglicher Genehmigung nach vorheriger Vorlage der Statuten. 

Den jtrafrechtlichen Schuß gegen öffentliche Beichimpfung ihrer ſelbſt, ſowol 
als ihrer religiöfen Gebräuche und Einrichtungen gewährt dag RStrafGB. allen R., 
die mit Korporationsrechten ausgeftattet find; den ftrafrechtlichen Schuß gegen Ber: 
übung beichimpienden Unfugs in gottesdienftlichen Lofalitäten, ſowie gegen vorjäß- 
liche Verhinderung oder Störung des Gottesdienjtes aber überhaupt allen R. 


Art. 12, 13, 30, 31. — Bayer. Rel.Edikt von 1818 (2. Berf. Beil.) SS 3, 26 ff.; Bayer. 
Verf.Gefeg vom 1. Juli 1834. — Sädi. Verf. Urk. 5 56; Geieg vom 2. Novbr. 
1848; Geſetz vom 20. Juni 1870 $ 21. — Bad. Gejeg vom 9. Dft. 1860 5 3. — 
gel j. Geſetz vom 23. April 1875 Art. 2, 3. — Ueber die ältere Gigb. vgl. Mojer, Allgem. 
tchenblatt 1852 ©. 434 ff.; 1853 ©. 162 ff. — RStrafGB. SS 166, 167. 

Lit.: Richter-Dove, Kirchenrecht, SS 72, 99, 229. — Mejer, Kirchenrecht, 88 90, 
198. — Hermann, Ueber die Stellung der Religionägejellichaften im Staate. — Aeltere Lit. 
über die Rechtentwidelung ift bei Rihter-Dove angeführt. Sehr eingehend handelt über 
Religionsvereine und beren Rechtäverhältniffe nad ben geltenden Deutſchen Partikularrechten 
Thüdichum, Deutiches Kirchenrecht, I. 125—140; ferner Jacobjon in Ztſchr. f. Kirchen: 
recht von Dove unb Friedberg, I. 422 fi. Born. 

Neligionsverbrehen. Die alten R. waren Gottesläfterung, Abfall vom 
chriſtlichen Glauben, Ketzerei, Verbreitung religiöfer Jrrlehren und Seltenitiftung, 
Zauberei, Hexerei, Wahriagerei u. dgl., der Falſch- und Meineid; Störung bes 
Gottesdienites und des Neligionsfriedens, welche leßteren Verbrechen erſt in dem 
neueren Strafrecht nähere Beitimmtheit erhalten. Aus vorwiegend kirchlichem Stand- 
punkte wurden alle jene Verbrechen aufgeraßt, die mit einer Verlegung der Religions» 
pflicht verknüpft ericheinen, wie SKirchendiebitahl, Entweihung von Gräbern und 
Leichen, Bigamie, Selbſtmord, Inzeſt, Sodomie. Seit der Aufklärungszeit ver 
ihwinden aus dem Strafrechte und Landesgeſetze des Staates die Verbrechen der 
ſtetzerei, der Hererei. Das Joſefiniſche Geſetzbuch von 1787 behandelte auch die 
Gottesläfterung als polizeiliches Unrecht, von der Anficht geleitet, daß Gott fein 
Rechtsſubjekt jei. Meineid wird nicht als jelbjtändiges R. betrachtet, infofern das 
Griorderniß der Gerichtlichfeit ala wejentliches Verbrechensmerkmal beſtimmt iſt. 


426 Religionsverbreden. 


Kirchendiebitahl, Entwendungen an Grabjtätten oder an Leichen werden ala Dieb: 
jtähle, nicht ala Safrileg behandelt. Selbjtmord ijt nicht mehr bürgerlich jtrafbar 
und andere alte Verbrechen, welche in dem früheren Strafrechte noch eine au: 
geprägte firchliche oder religiöfe Beziehung hatten, find unter einen neuen Geſichts— 
punkt geſtellt. Die Unmöglichkeit der Entſcheidung, welche Religion den echten 
Glaubensring befiße, legt dem Staate wie dem Einzelnen die Pflicht auf, jedes mit 
dem Beſtande eines fittlichen und rechtlichen Gemeinlebens verträgliche Glaubens: 
befenntniß als Ausfluß des Rechts der eigenen Weberzeugung gejeglich anzuerfennen, 
nicht weil jedes Glaubensbefenntniß gleich wahr ift, vielmehr, weil jedes ein Be 
fenntniß gleichberechtigter Menfchen und Staatsbürger iſt. Der Staat, der alle 
Glaubensbelenntniffe jeiner Glieder jchüßt, bricht die Feſſeln Hochmüthiger Selten 
und garantirt die Gottesverehrung in jeder zuläffigen Form. Darauf fommt es vom 
jtaatlichen Standpunkte aus vor Allem an. Die Religion wird zu einem Reichagute 
erhoben, injofern fie beitimmten Reichsanftalten zur Grundlage dient. Das Gott 
bewußtjein muß gejchüßt jein,; unabhängig von jedem fonfeffionellen Gepräge iſt es ein 
Glement in dem Kulturinhalte des Rechts und hat eine tiefe Bedeutung für die foziale 
Reform. Die Gottesläfterung ericheint hiernach als ein Angriff auf die allgemeine religidſe 
Grundlage aller im Staate beftehenden Religionägejellichaften und kann jtrafrechtlidh jo 
wenig unberüdfichtigt bleiben, wie ein abfichtlicher Angriff auf die allgemeinen fitt: 
lichen Grundlagen des Staates. Eine Parteilichkeit des Staates gegen die nicht zu 
religiöjen Korporationen gehörenden Religionsverwandten liegt darin, daß nur die 
geieglich anerkannten, mit SKorporationsrechten ausgeftatteten Religionsgejellichaiten 
bejonderen Strafſchutz genießen. Nicht auf die Korporationsrechte, nicht auf den 
Gegenitand der religiöfen Ueberzeugung und Verehrung kann es bei gerechter An: 
wendung ber Belenntnißfreiheit anfommen. Auch Defterreih hat in dem inter 
fonfeffionellen Gejege vom 25. Mai 1868 die alte Strafbeftimmung über die ver: 
juchte DVerleitung zum Abiall vom Chriſtenthume, fowie über die verjuchte Aus» 
jtreuung einer der chriftlichen Religion widerjtrebenden Jrrlehre aufgehoben, was 
übrigens für furze Zeit fchon durch das Patent vom 17. Jan. 1850 gejchehen war. 

Unter chriftlichen Kirchen find die fatholiiche in den Formen des römischen, 
armenifchen, griechiichen Ritus, die evangelifche in den formen der Lutheriichen, 
unirten und reformirten Konfeifion, die griechifch-nichtunirte Kirche zu verjtehen. 

Ein Angriff gegen die chriftliche Religion oder Kirche trifft jede der verjchiedenen 
rijtlichen Kirchen und Selten, 3. B. ein Angriff auf das Chriſtenthum der Um: 
tarier. Die Morphologie der R. nad) dem jeweiligen Stande der Rechtäfultur 
ichildern Jarde, Handb., IL. 3—107; Abegg, Beilageheit zum Archiv d. Krim. R. 
1852; Wahlberg in der Allg. Deutichen Strafrechtäzeitung, 1861, ©. 273, 28% 
und in den gejammelten Eleinen Schriften Bd. I. ©. 102—121; v. Maasburg, 
Zur Entjtehungsgefchichte der Therefianifchen Kalögerichtsordnung, mit beionderer 
Rüdficht auf das im Art. 58 derielben behandelte crimen magiae vel sortilegii, 
1880; Hugo Meyer, Lehrb. (2. Aufl.) $ 180; Billnow, Gerichtsjaal, 
Bd. 31. 

1) Die Gottesläfterung und Herabwürdigung der Gegenjstände 
religiöjer Verehrung. Schwerter Fall der öffentlichen Religionsverachtung iſt die 
Fäjterung Gottes durch Reden, Handlungen, in Drudwerken oder verbreiteten Schrüten. 
Das Merkmal der Deffentlichfeit palam et publice ift wejentlich, nach Gem. Deutichen 
Recht auch ein gegebenes öffentliches Aergerniß. Objekt des Verbrechens ijt der all: 
gemeine Gottesbegriff, fein kirchlich bejtimmter, nicht blos der dreieinige Gatt der 
Ghrijten, oder eine der göttlichen Perjonen, daher iſt eine Beichimpfung Jeſu Chriſti 
nicht als Gottesläfterung, jondern als Beichimpiung der hriftlihen Lehre 
zu beurtheilen. Das Gegentheil wurde wiederholt in der Spruchpraris zu Berlin und 
Wien angenommen (Erf. d. Reichäger. vom 13. Dez. 1879, Nechtipr. I. 144). Die Abſicht 
muß darauf gerichtet jein, die dem göttlichen Wefen ſchuldige Ehrfurcht dur Schmähung, 


Religionsverbrechen. 427 


Verſpottung, Herabwürdigung zu verlegen und Dadurch gegen die Religion überhaupt Ver— 
achtung an den Tag zu legen. Dieſe Abficht befteht bei dem Verbrechen der Blasphemie 
nicht immer und nothwendig jchon in der Aeußerung gottesläjterlicher Worte oder frevel- 
hafter Flüche an und für fich, weil nicht in jedem Läfterlichen Ausrufe oder Fluche 
aus Roheit, Unüberlegtheit, nationaler Unart jchon unverkennbar die Abficht, Gott 
zu läftern und defjen Heiligkeit herabzufegen, enthalten ift. Das Deutjche StrafGB. $ 166 
iordert öffentlich beichimpfende Aeußerungen, zur Unterjcheidung von leichtfertigen 
arglofen Redensarten, Erregung eines Nergernifjes durch öffentliche Läjterung 
iſt weientlich, auch wenn nur eine Perjon Aergerniß genommen hat (Erf. d. Reichäger. 
vom 12. Juli 1880, Entich. II. 196 ; Rechtipr. II. 183). Früheres Landesſtraf— 
recht. Sachien fordert „zum Öffentlichen Aergerniffe“. über Gott und göttliche Dinge 
berabwürdigende, verhöhnende oder verächtliche Neußerungen. Bayern verlangt einen 
Angriff durch Ausdrüde oder Zeichen der Verachtung oder Verſpottung vor einer 
Menichenmenge oder mittels eines Preßerzeugniffee. Preußen, Sachjen, Thüringen, 
Braunfchweig, Lübeck heben die Gottesläfterung ausdrüdlich hervor in Zufammenfaffung 
mit der Herabwürdigung der Gegenflände religiöfer Verehrung, der Lehren, Einrichtungen 
oder Gebräuche, ſowie mit der Verunehrung der dem Gottesdienjte gewidmeten Geräth- 
ihaften oder firchlich-ymboliichen Sachen, auch der blos geduldeten Konfeſſionen. 
Unpaffend wird auch die Aufreizung zum Neligionshaffe hierher gezogen, welche unter 
den Gefichtspunft einer Störung des Religionsfriedens fällt, mag fie dvermitteljt der 
Peihimpfung von Gegenftänden religiöjer Verehrung der beitehenden Religionspar- 
teien oder auf andere Weije verübt werden. Wichtiger wird die Erwedung des Re— 
ligionshaſſes und die Aneiferung zur Verfolgung fremder Religionsparteien als eine” 
eigene Art der Störung des Neligionäfriedens behandelt. Uebrigens muß es den 
Belennern und Lehrern der verjchiedenen im Staate aufgenommenen Konfeſſionen 
treiftehen, die Unterjcheidungsmertmale ihres Bekenntniſſes darzuftellen und durch 
Anführung ihrer Gründe und Zeugnifje zu rechtfertigen. Auf theologische Kontro— 
verfen innerhalb der Grenzen einer wifjenichaftlichen Polemik kann das Strafgeſetz 
feine Anmwendung finden; nur verhöhnende oder verächtliche Aeußerungen, in der 
Abficht, ein geſetzlich anerkanntes oder geduldetes Glaubensbekenntniß herabzuwür— 
digen, überjchreiten diefe Grenzen. Der Dejterr. Entw. von 1868 jtellt den Fall 
mit der Gottesläfterung zufammen, wenn Jemand Andere öffentlich von dem Glauben 
an Gott abwendig zu machen ſucht. Mit diefer Nedewendung wollte der uns 
beftimmte dunkle Ausdrud Unglaube genauer bezeichnet werden. Durch dieje miß— 
lungene Zertirung follte für die Negation Gottes, für den Atheismus und Ma— 
terialismus ein Plägchen in dem entehrenden Zuchthaujfe rejervirt werden. Nach 
diefem unbdefinirbaren Unrechte müßten auh Schiller und Goethe für ihre 
Götter Griechenlands und ihren Prometheus ins Zuchthaus wandern. Zwiſchen 
Gegenitänden religidjer Verehrung und Sachen, die dem Gottesdienjte gewidmet find, 
ift zu unterjcheiden, und darüber, ob eine Sache dem Gottesdienfte gewidmet ift, 
fann nur das Gutachten der betreffenden Religionsdiener maßgebend jein. Erfordert 
wird, daß in Kirchen und anderen religiöfen Verſammlungsorten der beichimpfende 
Unfug an den bezeichneten Gegenftänden jtattfinde, mithin an Orten, welche an und 
für fich einen religiöjen Charakter haben, abgejehen davon, ob dies während einer 
gottesdienstlichen Verrichtung geichieht oder nicht. 

2) VerbrehengegendenKeligionsfrieden. Hierhergehören die Störung 
oder die Verhinderung gottesdienftlicher Handlungen oder anderer öffentlicher oder häus— 
licher Religionsübungen, die Aufreizung zum Religionshaſſe gegen eine fremde Re— 
ligionspartei. Bei der Störung, Verhinderung, Grawingung, Unterbrechung der 
Religionsübung ijt das Recht der Bekenntniß- und Hultusfreiheit der Mitglieder einer 
im Staate beftehenden Neligionsgejellichait das Objekt diefer Art von R. Diefer 
Berbrechen macht fich jchuldig, wer unbefugt den Gottesdienit oder gottesdienjtliche 
Verrichtungen oder andere religiöje Handlungen und fyeierlichkeiten einer geſetzlich 


428 Neligionsverbreden, 


anerkannten Religionsgefellichaft gewaltthätig ftört oder Hindert, oder einen Reli— 
gionsdiener derjelben während jeiner geiftlichen Amtsverrichtung beleidigt oder mik- 
handelt oder ohne Zwang und Gewalt eine Religionsübung durch Erregung von 
Unordnung oder fonftwie unterbricht oder dabei durch unanjtändiges Betragen 
Aergerniß giebt. Hierbei wird eine Öffentliche Neligionsübung, nicht die häusliche 
Religionsübung vorausgefeßt. Die Deffentlichkeit bedeutet hier ein Begriffsmoment, 
gleichviel ob die NReligionsübung im Gottesdienfte oder unter freiem Himmel ober 
in einem Privathaufe vorgenommen wurde. Nur Württemberg und Altenburg for: 
derten im Falle der Verhinderung oder Störung des Gottesdienjtes durch gemalt: 
thätigen Ginfall, daß diefer an einem bejtimmten religiöfen Verſammlungsorte jtatt- 
gefunden habe. Preußen, Oldenburg hatten nach Franzöfiichen Mufter auch den 
Zwang der Ausübung gottesdienftlicher Handlungen in den Thatbeitand aufgenommen, 
wobei e& nur auf einen öffentlichen Gottesdienſt ankommt, nicht auch darauf, daß 
die benöthigte Religionsgemeinjchaft Korporationsrechte habe. Das Deutjche -Strat 
GB. $ 167 fpricht nur von Hinderung der Ausübung des Gottesdienstes durch 
Thätlichkeiten oder Drohungen und verhängt Gefängniß bis zu drei Jahren darauf. 
In Dejterreich macht fich des Verbrechens der öffentlichen Gewaltthätigkeit ſchuldig, 
wer gegen einen Geiftlichen durch gewaltfame Handanlegung oder gefährliche Drohung 
die Vornahme einer geiftlichen Amtsverrihtung zu erzwingen fucht. Der Oeſterreichiſche 
Entwurf von 1874 $ 179 bedroht mit Gefängniß bis zu drei Jahren auch die 
Verhinderung oder Störung einzelner gottesdienftlicher Verrichtungen oder Andachts- 
‚Übungen einer gejelich anerkannten Religionsgeſellſchaft. — Die Störung der gottes 
dienstlichen Handlung muß fich nicht auf die ganze verfammelte Gemeinde oder den 
geiftlichen Funktionär eritreden; es genügt die Störung einzelner am Gottesdienit 
theilnehmenden Perfonen, auch wenn diejelbe alsbald wieder bejeitigt wurde. Eine 
blos fahrläſſige Störung ift nicht genügend. Einige Geſetze ftrafen jede Art von 
Verhinderung oder Störung gottesdienftlicher Verrichtungen oder Verhandlungen, 
gleichviel, ob fie in der Kirche oder außerhalb derjelben ftattgefunden hat, namentlich 
bei Prozeffionen, kirchlichen Begräbniffen ꝛc. Diefer Wall ift von jenen zu unter 
icheiden, in welchen eine Beichimpfung einer Religionsgejellichaft liegt, wobei eben 
nur gefordert ift, daß die Handlung in einer Kirche oder in einem anderen religidjen 
Verfammlungsorte, keineswegs während einer Ritualverrichtung verübt wurde. Das 
Deutiche StrafGB. bedroht die Verübung eines beichimpienden Unfugs, aljo nicht 
jeden Unfug in einer Kirche und jet dabei eine Beichimpfung gegen den religiöien 
Berfammlungsort ſowie gegen deſſen Beitimmung voraus, wobei nicht erforderlich ift, dab 
die Religionsgejellichaft, in deren Verfammlungslofal der beichimpfende Unfug verübt 
wird, KHorporationsrechte habe, wie Nüdorii, StrafG®B. 1877, zu $ 166 umd 
v. Liszt, Deutjches Neichsftrafrecht 1881, ©. 366 bemerfen. Auch die Altkatholiten 
genießen diefen Strafichuß nach Preußiſchem Gef. vom 4. Juli 1875. Der Angrifi 
des Gottesdientes ift nicht nothwendig durch die Vornahme einer religiöfen Amts 
verrichtung von Seite eines Neligionsdiener& bedingt. 

Zu den Berleßungen der Gegenjtände religiöjer Verehrung gehört auch die mutb- 
willige oder boshafte Verlegung von Grabftätten und die Entweihung von Leichen. 
Zu einem Grabe wird ein Ort erit durch die Zweckbeſtimmung der Leichenbeerdigung. 
Die Möglichkeit der Verletzung religiöfer Pietät wird bei der Grabjichändung voraus: 
geſetzt. Der Todtenkultus ift bei allen gebildeteren Völkern unter Straffchuß geitellt. 
Nachdem das Begraben in geweihter Erde Kirchlich ala Necht des chriftlichen Todes 
aufgefaßt worden ift, konnten die Entwendung oder Beichädigung von Gegenständen, 
welche Todten mit ins Grab gegeben find, oder Mißhandlungen und Musplün- 
derungen der Leichen, nicht mehr unter den Begriff gemeiner Diebjtähle, Verun— 
glimpfungen oder Beichädigungen fallen, abgejehen davon, daß blos von einem 
Quaſidiebſtahl an Gegenftänden, die in Niemandes Inhabung find, die Rede fein 
fann. Wenn Entwendungen an Gegenftänden, welche an Grabdentmalen fich be 


Remiſſion des Pachtzinſes. 429 


finden und Eigenthum der Familie der Verſchiedenen ſind, ſtattgefunden haben, läßt 
ſich von Diebereien ſprechen. Der Oeſterr. Entwurf $ 181 beſtraft auch unbefugtes 
Hinwegbringen einer Leiche oder Theile derſelben von zur Aufbewahrung oder Be— 
erdigung von Leichen beſtimmten Orten. Wer von einem Grabdenkmal, einer Leiche 
oder aus einem Grabe eine Sache in rechtswidriger Zueignungsabſicht wegnimmt, 
it gleich einem Diebe zu beſtrafen (RStrafGB. $ 168). Die Zerſtörung oder Be— 
ihädigung von Gräbern und Grabdenkmalen ohne Entwendung wird als eine qua= 
lifizirte Sachbeichädigung behandelt. Unrichtig wird dieſes Delikt im Syſteme diejes 
Sejegbuches dem Diebjtahle beigezählt. Baden bejtrafte die unbeiugte Eröffnung 
eines Grabes mit Gefängniß, wenn damit eine Entwendung aus dem Grabe ver- 
bunden war, mit Sreisgefängniß oder Arbeitshaus. Wer einen micht beerdigten 
Yeihnam oder Theile davon entwendet oder einen folchen Leichnam unbejugt ver— 
ftümmelt, wird auf Antrag von Gefängnißſtrafe getroffen. Sind diejenigen, welchen 
die Sorge für die Beerdigung obliegt, durch die Verſtümmelung eines Leichnams zu 
wifienichaftlichen Zweden jo tief verlegt, daß fie den Strafantrag ſtellen, dann joll 
der Richter eine Strafe, wenngleich eine geringere ausfprechen. Erſchwerend ijt, wenn 
die Beichädigung von einer zur Aufficht über die Gräber angeftellten Perſon be= 
gangen wurde. 

Es geht zu weit, wenn die Wegnahme eines Theiles einer Leiche aus dem Ge— 
wahriam der berechtigten Perjonen mit längerem Gefängniß bedroht wird. Bedenkt 
man, daß bei Sektionen von inneren Theilen der Leiche häufig aus wifjenschaftlichen 
Gründen Einzelnes angeeignet wird, jo ericheint diefe Strafe bei dem Nichtvorhane 
denjein einer gewinnfüchtigen Abficht zu hart. Der beichimpfende Unfug gegen den » 
Todtenkultus ift es vor Allem, welcher die Straibarkeit diejes Delikts begründet, 
und liegt der Handlung gewinnfüchtige oder nichtöwürdige Abficht zu Grunde, jo 
ericheint die Gntziehung bürgerlicher Ehrenrechte begründet. 

Lit. u. Gigb.: Goltdammer, Arch. X. 793; XVI. 363, 442, 513. — Maier, 
Oeſterr. Gerichtäzeitung 1853, Nr. 50. ih Jagemann, Kriminalteriton, 1854, ©. 405. — 
HQufnagel, Komment. zum Württemb, Ehralı geſetz, I. 497-500. — Motive zu dem 
— Strafgeſeb Entwurf 1869. — Die —58 von Fe Schüpe, v. Liszt. — 

Wahlberg ın v. Een vehilike 3 Handb. d. Strafrechts Bd. ui. ff. — Haager, 
Sind die Altkatholiken in rechtlicher Hinſicht noch — lieder der katholiſchen Kirche und als 


er berechtigt, den in $ 166 des StrafGB. gewährten Staatsihut in Anfprucd zu nehmen ?, 
Wahlberg. 


Nemilfion des Pachtzinſes (remissio mercedis) ijt der auf Billigkeits— 
gründen beruhende Nachlaß des Pachtzinjes, welchen bei außerordentliche Unglüds- 
tällen der Früchte der Pächter eines Landgutes von dem Verpächter gefeßlich jordern 
kann. Nach allgemeinen Grundjägen muß der VBerpächter dem Pächter gewähren : 
ut re conducta frui liceat (l. 9 pr.; 1. 15 pr. D. 19, 2). Wenn alfo der Pächter 
an fich in diefe Lage verjeßt worden ift, wenn er jich vertragsmäßig der verpachteten 
Sache bedienen konnte, durch zufälligen Untergang oder Verfchlechterung der ftehenden 
Früchte aber um den erhofften Genuß beraubt worden ift, jo jteht ihm ein jurifti= 
icher Anſpruch auf Erlaß oder Schinälerung des Zinjes gegen den Verpächter nicht 
zu. Aber die Billigfeit erfordert es, daß der Verpächter in Mitleidenſchaft gezogen 
werde. Daß allein auf die aequitas der R.anfpruch von den Römifchen Jurijten 
begründet wurde, ergiebt fi) daraus, daß dem Pächter feine Klage auf das Intereſſe, 
iondern nur eine exoneratio mercedis gewährt wurde (l. 15 S 7 D. 19, 2), 
welche von dem Necht auf Gewährleiftung jtreng zu jcheiden ift (Wernher, 
Comment. ad Dig. XIX. 2, $ 13). Im Gem. Recht hat man jedoch dieje Unter- 
icheidung aufgegeben und die R. juriſtiſch zu rechtfertigen verfucht. Man gelangte 
zu der Auffafjung, daß, da nach den Grundiägen der Accejlion die noch nicht ge= 
iammtelten Früchte in das Eigentum des Verpächters fallen, diejer die Früchte ſelbſt 
dem Pächter zu gewähren habe und daß die jtillichweigende Vorausſetzung der 
Bachtzinspflicht die wirkliche Ziehung der Früchte ſei (Glüd, Bd. 17 ©. 447). 


430 Nemitfion des Pachtzinſes. 


Dieje umrichtige Anficht wird auch Heutzutage noch vertreten (Sell, a. a. O. 
©. 201 ff.; v. Bangeromw, $ 641, A. 1) und ift auch in neuere Gejeßbücher über: 
gegangen. (Ueber 1. 15 pr. SS 1, 2 D. 19, 2 vgl. Jacobi,a. a. O., ©. 16ff.; 
Sintenis, II. ©. 662, N. 74; Förjter, Preußiiches- Privatrecht, II. S. 2% 
und bei. A. 329.) 

Voransfeßungen der R. 1) Die Gewinnung (Perzeption) der Früchte muß 
vereitelt fein. Dieſe Beſchränkung ‘erklärt fich nicht daraus, daß mit der Perzeption 
EigenthHum und Gefahr auf den Pächter übergeht (v. Bangeromw, a. a. O.), jondemn 
weil die Römer den durch Billigkeit gewährten Vortheil auf das Engſte begrenzen. 
Gemeinrechtlich hielt man aber die Perzeption erft dann für geichehen, wenn die 
Früchte eingefcheuert bzw. auf den Boden gebracht waren (Glüd, ©. 458 ff.), ja 
die Praris (Öymmen, Beiträge, VI. 90) ging ſogar dahin, daß fie jelbit R. bei 
Unglüdsfällen vor der neuen Ernte und bei nicht gehöriger Berfilberung annahm 
(Jacobi, aa. O. ©. 26 fi.; Glüd, ©. 459). 2) Der Schaden muß ein be 
trächtlicher jein (1. 25 $ 6 D. 19, 2), wobei vieliach unzuläffiger Weiſe die 
Srundjäße von der laesio enormis angewandt wurden (ſ. d. Art. Laesio enor- 
mis, vgl. Glüd, ©. 465 ff.; Jacobi, ©. 40 ff.), während nach richtiger Mei 
nung das Ermeſſen des Richters im konkreten Falle zu enticheiden bat. Gritredt 
fich die Pacht auf mehrere Fruchtperioden, jo jollen die Erträge der befjeren Jahre 
mit denen der jchlechteren aufgerechnet werden (1. 15 $ 4 D. 19, 2; 1.8C.4, 
65; C. 3, X. III, 18), jo daß, wenn das Mißjahr vorhergeht, der bereits gewährte 
Erlaß fondizirt werden kann. (Ueber weitere Streitiragen vgl. Jacobi, ©. 52.) 
Die Höhe des Erlaffes bejtimmt fi aus dem Verhältniß der durch Sachverjtändige 
zu ermittelnden gewöhnlichen Ernte und der wirklich gemachten (v. Florencourt, 
Abhandlung aus der juriftiichen und politischen Rechenkunſt, S. 250 ff.; Jacobi, 
©. 43 ff.). 3) Aeußere und außergewöhnliche Unglüdsfälle müfjen den Schaden 
veranlaßt haben, welchen der Pächter abzuwenden nicht im Stande war (1. 15 
8 2;1.25$ 6 D. 19, 2). Hierzu werden nicht blos ungewöhnliche Naturereig: 
niffe (Seuffert, Ardiv XI. ©. 150; Glüd, ©. 355), jondern auch räuberiſche 
Ueberfälle und Beichädigungen im Kriege gerechnet. 4) Gemeinrechtlich wird auch 
noch eine fofortige Anzeige von dem Unglüf an den Verpächter verlangt (Jacobi, 
©. 38, 91.) ,, 

Die R. kann jowol im Wege der Klage als der Einrede (Kompenjation) gel 
tend, gemacht werden, die vorbehaltlofe Bezahlung des Zinjes gilt aber als jtill: 
ichweigender Verzicht auf R. Auch ausdrüdlich kann auf die R. verzichtet werden 
(. 8 C. 4, 65); eine folche Entjagung unterliegt den allgemeinen Auslegungsregeln 
und ift im Zweifel nur auf die Unglüdsiälle, von welchen die Frucht, nicht aud 
Grund und Boden betroffen wird, zu beziehen. Wegen der in der colonia partiaria 
liegenden Geſellſchaft erledigt fich der Grlaßanfpruch bier von jelbit (I. 25 S 6 
D. 19, 2). 

Bei emphpteutifchen Grundjtüden findet eine R. des Kanon (troß 1. 15 8 4 
D. 19, 2) nicht jtatt, weil diefer nur eine Anerkennungsgebühr für das beitehende 
DObereigenthum, nicht ein Entgelt für die Fruchtziehung iſt. Doch haben Partiku— 
largejeße bei Erbzinsgütern eine R. zugelaffen, um die Bauerngüter im leiſtungs— 
fähigen Zuftande zu erhalten (vgl. Bejeler, Deutiches Priv.R., S. 762 Not. 20). 

Von den neueren Partikulargejegen fteht der Cod. Max. Bav. ganz auf den 
als richtig anerfannten Grundjägen des Röm. Rechts, indem er einen Schaden ver: 
langt, welcher „nicht aus innerlichem Mangel des Beitandgutes jelbit, jondern von 
äußerlich-unverjehen- und ungewöhnlichen Zufällen“ herrührt. Das Oeſterr. BER. 
enthält als bejondere Abweichung vom Gem. Recht die Anwendung der laesio 
enormis auf den Pachtvertrag und beichränft die Unglüdställe richtig auf die Zeit 
bis zur Separation; auch verlangt e& Anzeige und Konjtatirung der jchadenden Re 

‚gebenheit. Das Preußifche Allg. ER. fpiegelt in der Fülle feiner Vorichriften über 


Remotion des Vormundes. 431 


die R. faſt gänzlich die damalige Gem. Prari® mit ihren falichen Auffaffungen 
wieder; es unterjcheidet zwijchen Total» und Partialremiffion. Erjtere ift vorhanden, 
wenn durch alle Wirtbichaitsrubrifen zufammengenommen nicht jo viel übrig bleibt 
als der Zins beträgt; leßtere tritt ein bei Mißwachs oder Berluft von Getreide. 
Die R. ift auch begründet für Unglüdställe durch Brand, Wafjernoth und feindliche 
Fouragierungen nach der Perzeption. Es beiteht für den Pächter bei Verluft feines 
Anipruches eine Anzeigepflicht und die Aufitellung einer genauen Adminiftrations- 
rehnung behufs Beitimmung der zu erlaffenden Summe; in dem Verzicht auf R. 
it der durch Kriegsſchäden entitandene Verluſt nicht inbegriffen. Der Code civil 
beichränft die R. wegen Untergangs oder Mißwachſes der noch nicht jeparirten Früchte 
nur auf den Fall, daß dieſe die Hälfte oder weniger des gewöhnlichen Ertrages 
ausmachen. Bei einem mehrjährigen Pachtvertrag findet Aufrechnung der guten und 
ichlechten Jahre ftatt, weswegen die NR. erit nach Ablauf der Pacht gefordert werden 
fann; doch darf mit richterlicher Erlaubniß der Pächter jchon vorher einen ver- 
hältnifmäßigen Theil des Zinjes zurüdbehallen. Der Pächter kann jedoch die 
Tragung der Gefahr ausdrüdlich übernehmen, doch bezieht fich ein jolcher Verzicht 
der R. nur auf die gewöhnlichen Unfälle. 

In neuefter Zeit hat die Entwidelung des Verſicherungsweſens dahin gerührt, 
daß der Verzicht der R. die Regel der Pachtverträge bildet. Wol aus diefem Umijtande 
it 8 zu erflären, wenn das Sächſiſche BGB. eine R. — * — — 


Quellen: |. 15 ss 2-—7;1.23586 D 19, 2 —1.8 
18. — Cod. Max. Bav. IV. 6 6. — Defterr. BGB. ss 1104— uds — - Deeub, Alm 
ER. 1 21 SS 478—552. — Code civil art. 1769—1773. — Sidi. BEB. $ 1212. 

Lit.: Außer den Lehrbüchern des Gem. u. Part. — Glück, Erl. XVII ©. 447 ff. — 
Schweppe in feinem jurift. Magazin, Heft 1 Nr. — W. Selt, Ard. f. Eiv.Pra 
Bd. XX. — Albert, Ueber Remilfionsen! agung bes Bäder. — Hacobi, Ueber R. d. " 


nad unb Preuß. Recht (1856). — Danktwardt, Nation.Deton. u. Jurispr. — 
ayſer 


Nemotion des Vormundes (postulatio suspecti tutoris, recusatio suspecti) 
ift die jchon jeit den zwölf Tafeln (Bruns, Fontes, p. 23) eintretende Entfernung 
des Vormundes aus jeinem Amt, deffen er ſich unwürdig oder unfähig gezeigt hat. 
Die Gründe der R. find mannigfaltig, nicht blos wirkliche Benachtheiligung des 
Mündels durch fraus und dolus, jondern auch Fahrläffigkeit, Ungeſchicklichkeit, unedle 
Gefinnung, zweite Ehe der Mutter führen die R. herbei (die Quellen enthalten 
zahlreiche Beifpiele). Das Röm. Recht fannte urfprünglich nur eine förmliche An— 
fage auf R., deren Erhebung im Intereſſe des Mündels möglichjt begünftigt wurde 
(l. 8 pr. D. 26, 10). Berpflichtet zur accusatio waren alle Mitvormünder, be= 
rechtigt Jedermann, ſogar Frauen, ſofern fie aus Verwandtſchafts- oder Pietätsrüd- 
fichten einen Grund zum Eintreten für den Pupillen hatten. Auch diejem jelbjt 
wird nach erreichter Mündigkeit und Anhörung feiner nächiten Verwandten die ac- 
cusatio geitattet. Später konnte dieje auch durch ein Ginjchreiten der Obrigkeit von 
Amtswegen erjeßt werden. Die Enticheidung über die R. gebührte den höheren 
Magiftraten, welche jelbitändig und ohne judex das Verfahren leiteten. Dem tutor 
suspectus wurde nicht nur Gehör gewährt, fondern auch — wenngleich nur unter 
gewiſſen Garantien — ein defensor und procurator für ihn zugelafien. Das Dekret, 
welches die R. ausiprach, war in den älteften Zeiten mit Infamie verknüpft, jpäter 
ließ man dieſe nur eintreten, wenn der Nechtögrund in dem dolus des tutor lag 
und auödrüdlich in dem Urtheil ausgeiprochen wurde. Daneben kamen allmählich 
auch mildere Arten der R. auf, wie Beiordnung eines curator, Unterfagung der 
gestio zc., welche mit Ehrenfolgen nicht begleitet waren. Während jchwebenden Ver— 
fa hrens über die R. wurde dem Mundel ein Interimsvormund bejtellt und die 
Bormundicaft des suspectus hörte nicht jchon mit der wirklichen Abjegung, jondern 
erft mit der Emmennung eines Nachtolgers auf. — Auch nach Altdeutichem Recht 
gab es eine Klage ‚auf Entfernung des ungetreuen Bormundes (balemunden). — 


432 NRemuneratoriihe Schenkung. 


Durch die Reichsgeſetze werden die Obrigfeiten verpflichtet, von Amtswegen die 
VBormünder zu überwachen und ihre Pflichtvergefienheit zu ahnden. Dieje ftetige 
Aufficht, mit welcher eine alljährliche Rechnungslegung verknüpft ift, machen nicht 
nur die Fälle der R. ſeltener, ſondern ſchließen auch die Popularklage aus. Des— 
halb tritt im heutigen Gem. Recht, welches übrigens die Römiſchen Grundſätze voll⸗ 
ſtändig auigenommen hat, das Verſahren ohne eigentliche Anklage, auf Denuntiation 
oder von Amtswegen ein. — Dieſen Standpunkt des Gem. Rechts nimmt vollſtändig 
der Cod. Max. Bav. ein, der die auch im Gem. Recht übliche arbiträre Strafe gegen 
den Vormund wegen dolus und culpa lata verhängt. Auch nach Defterr. BEP. 
tritt wegen Pflichtwidrigkeit oder Unfähigkeit des Vormundes oder wegen nachträg: 
lichen Gintritts von Greigniffen, welche ihn von Anfang an von der Wormundicait 
ausgeichloffen hätten, Entlaffung von Amtöwegen ein; daneben kann aber auch auf 
Antrag des Vormundes oder der Mutter und Brüder, welche jelbjt die tutela über 
nehmen wollen, eine Entjernung erfolgen. Das Sächſiſche BGB. läßt bei eintre 
tender Unfähigkeit ſofortige Entlaffung eintreten und berechtigt zu derielben das Bor: 
mundjchaftsgericht, wenn fich der Vormund pflichtwidrig, nachläffig, ungeſchickt erweiit 
oder jonjt des Vertrauens verluftig wird. Die Entlaffung joll in der Regel am Ende 
des Rechnungsjahres erfolgen. DiePreuß. Vormundihaitsordnung vom 5. Juli 
1875 fennt eine Gntjegung und eine Entlaffung des VBormundes. Erſtere tritt ein, 
wenn ſich der Vormund pflichtwidrig erweilt. Die Entlaffung erfolgt: 1) weil der 
Vormund ſich als gejeglich unfähig erweist; befteht diefe in dem Verlujt der Hand— 
lungstähigfeit, jo bedarf es einer bejonderen Entlafjung nicht, jondern die Vormund- 
ichaft erliicht ipso jure; 2) weil erhebliche Gründe zur Entlaffung vorliegen und 
der Vormund die Entlaffung beantragt; gegen feinen Willen joll ein Vormund nicht 
ohne Grund entlafjen werden, über die Wichtigkeit enticheidet richterliches Ermeſſen; 
einige Fälle ($ 23 Nr. 4—7) find vom Geſetz ausgezeichnet; 3) weil die zur Füh— 
rung der Vormundſchaft erforderliche Genehmigung (VBormundichaftsordn. $ 22) nicht er⸗ 
theilt oder wieder entzogen wird. Die VBorfchriften finden auch auf den Gegen: 
vormund Anwendung. Der Entjegungsalt erfolgt durch einfachen Beſchluß des Vor: 
mundjchaftsrichters, welcher mit Gründen zu verjehen und dem Vormund zuzujtellen 
it. Dieſem jteht binnen vier Wochen jeit der Zuftellung Beichwerde an das Land- 
gericht zu, von deſſen Entjcheidung die weitere Beichwerde an das Kammergericht 
geht. Nach Code civil wird die R. aus denjelben Gründen, wie im Gem. Recht, 
zunächit dem yamilienrath vorgelegt, der auf Antrag eines Verwandten oder von 
Amtswögen durch den ?iriedensrichter berufen wird. Auf Widerjpruch des Ver: 
dächtigen wird im gewöhnlichen Verfahren von dem Gericht eriter Inſtanz ent: 
ihieden. — Unabhängig von der R. ift das Strafverfahren gegen den Vormund 
wegen Untreue, 

Quellen: Tit. Inst. 1 26; Dig. 26, 10; Cod. 5, 8. — Eid. Sp. I. 41. 
RPol.Ordn. Tit. 32 (31) $ 3. — Cod. Max. Bav. I. 7 ss 23, 24. — vr — ss 254 
yn 259. — Sächſ. AGB. $$ 1978, 1978— 1980. — Preuß. Yorm.Orbn. vom 5. Zult 1875 

— Preuß. AG. zum GBG. vom 24. April 1878 88 * * (Dal. Kayier, Die 
Keidsjufigee und Preuß. AG. zc., 2. Aufl. 1880, ©. a 7.) — Cod, civil art. 421, 
3 ss. — Code pen. art. 42. — no, 266 Nr. 

Lit.: Glück, XXL ©. 41 ff. — Ruborf f. Som. m ©. 176 ff. — Kraut, Borm., 
I. &. 402—406. — Guyei, Abhandl., Nr. 8.— Hertel, De suspectis tutoribus, Magdel. 
Seien a Die Kommentare zur Preuf. Borm.Orbn. von Dernburg, Eömenfein, 

e u. N. Ka er 


Remuneratoriſche Schenkung it die Schentung, deren Beweggrund im der 
Dankbarkeit des Schenfers liegt. Während bei anderen Nechtsgeichäften der von den 
Parteien verfolgte Zwed in der Regel ohne Einfluß ift, prägt jeder Schenkung der 
in ihr liegende Zwer des Wohlwollens einen bejonderen Charakter auf, welcher die 
eigenthümlichen Regeln über Schenkung zur Folge hat. Da neben diefem allgemeinen 
Zwed noch der beſonders beabfichtigte, 3. B. des Mitleidens, der Großmuth, Liebes: 


Remuneratoriihe Schenkung. 433 


pflicht, Freundſchaft 2c. auf die rechtliche Beurtheilung feinen Einfluß äußert, darüber 
bericht alljeitige Einftimmigkeit. Dagegen jtreitet man im Gem. Recht über den 
Fall, daß Dankbarkeit für empfangene Dienjte oder Leiftungen die Schenkung her— 
beiführte.. Die Quellen des Röm. Nechts legen der bejonderen Art des Wohl- 
wollens (affectio) feine Bedeutung bei; fie ftellen honestae donationes erga bene 
merentes amicos und inhonestae (j. ®. erga meretrices) ganz gleich (1.5 D. 
39, 5). Wollte man überhaupt jchenfen, jo fam es auf den Beweggrund nicht an 
und man fonnte das Geleiftete auch nicht zurüdiordern, wenn fich diefer als falſch 
erwies (1. 65 $ 2 D. 12, 6;1.38 7D. 12, 4; 1.108 13 D. 17, 1; L. 12 
eod.). Gutgläubige Erbichaftsbefiter jollen für r. Sch. nicht haften, „quamvis ad 
remunerandum aliquem sibi naturaliter Se ar (1. 25 $ 11 D. 5, 3), allein 
wie in vielen anderen Fällen (1. 268 12; 1.3282 D. 12,6; . 54 S1D. 
47, 2) iſt hier die Naturalobligation nicht im baten Sinne aufzufaffen, jondern 
auf Anftandsrüdfichten zu deuten, welche Jemanden zu gewiffen Leiſtungen bewegen 
innen. Nur in einer einzigen Stelle wird die r. Sch. an den Xebenäretter als 
merces bezeichnet und diejer Fall von allen Schentungsbeichränfungen des Gincischen 
Geſetzes, der Widerruflichkeit, der Infinuation, der Ungültigfeit unter Ehegatten aus— 
geſchlofſfen. (. 34 $ 1 D. 39, 5; Paull. S.R.V. 1186; 1.198 1D. 
eod. deutet offenbar auf eine obligatorische Verpflichtung wegen empfangener operae 
liberales, eine jolche liegt auch in dem thatjächlichen Verhältniß der 1. 27 in Ber- 
bindung mit 1. 32 D. 39, 5.) Auf Grund diefer Quellenbelege muß die Anficht, 
welche in der r. Sch. eine reine Schenkung fieft — mit Ausnahme der Lebens— 
rettung —, ala die richtige betrachtet werden (Keller, Pandekten, $71; Wind- 
iheid, $ 368). hr gegenüber wird von Einigen die r. Sch. ala Erfüllung einer 
Katuralobligation (vgl. Marezoll, ©. 31; Meyerfeld, ©. 376 ff.), von Anz 
deren als onerofer Vertrag mit allen jeinen Wirkungen angejehen (Schweppe, 
Privatrecht, $ 499), von Anderen endlih (Buchta, $ 71; Arndts, S 83; Sa— 
vigny, IV. ©. 94; Sintenis, $ 23, Anm, 11; v. Vangerom, I. $ 125; 
Mühlenbruch, Lehrbuh, 5 443; Meyerjeld, I. ©. 374 ff.; Marezoll, 
Zeitichrift, I. ©. 30 ff.; Schilling, Anititut., ©. 921 ff.) find zahlloſe Mittel- 
meinungen aufgejtellt worden, welche bald die eigenthümlichen Regeln der Schenkung 
anwenden, bald ganz oder theilweije ausschließen. Harburger, ©. 15, tritt wieder 
für die Savigny'ſche Meinung ein, wonach bei der r. Sch. der Begriff der 
Schenkung mit allen ihren Folgen ausgefchloffen fein joll. Die Praris ſchwankt. 

Bon den Partikulargefeßbüchern nimmt der Cod. Max. Bav. die Schenkungen 
in „Remunerationen jonderbar- und erweislicher Verdienſte“ von der Anfinuation 
aus; das Defterr. BGB. folgt der richtigen Anficht, indem es die r. Sch. den 
übrigen gleich jtellt, vorausgejeßt, daß der Beſchenkte auf die Leiſtung fein Klage: 
recht Hatte, jonjt liegt ein entgeltlicher Vertrag vor. Auch der Code eivil ſtellt für 
r. Sch. feine abweichenden Grundjäge auf. Dagegen jteht das Preuß. Allg. ER. 
auf der unrichtigen, 4. 3. der Redaktion herrichenden Gem. Praris; es jet eine 
löblicde Handlung oder wichtigen Dienft des Empfängers voraus, den diejer im Be- 
treitungsfalle zu beweifen hat. Die Beweislaft geht auf den Anfechtenden über, 
wenn — mas vorgejchrieben iſt — das jchriftliche Verſprechen die zu belohnende 
Handlung enthält. Der Widerruf findet nur wegen Uebermaßes jtatt und jteht den 
Rotherben nicht zu. Das Sächſ. BGB. ſchließt Form und Widerruf nur dann aus, 
wenn durch die Schenkung Dienjtleiftungen vergolten werden, welche gewöhnlich be= 
zahlt zu erden pflegen, und der übliche Preis der Schenkung gleichfommt. 


Quellen: 1.5; 1.1981; a al, Sent. Rec. V. 
186. — 1.38% 11D.5 ‚8. — (od. Max. Bar. II. 888. — Deiterr. BGB. SS 940, 
Ml. — Code civ. art. 960. — Preuß. Allg. ER. L 11 88 1169-1177. — Sädjf. BGB. 


; 1064. 
v. Holtzendorff, Enc I. Rechtslexikon III. 3. Aufl. 28 


434 Remus — Nente, Nententauf. 


Lit.: Außer den Lehrbücern: v. Meyerfeld, Die Lehre von den Schenkungen nad) Röm. 
Recht, 1. $ 19. — Sapvigny, Syftem, IV. $ 153. — Sdilling, Inftit., ©. 921— 961. — 
LE Püaag für Eivilreht und Proz. I. ©. 30-40. — Harburger, Die r. Sch, 
Nördlingen 1875. — Löwenfeld, Kit. — XXI S. 110 ff. — Gruchot, Beitt, 
VII. ©. 159 ff. Kayſer. 


Remus, Georg, 5 4. J. 1561, machte große Reifen, trat 1589 in die Dienſte 
des Grafen von Wied, wurde 1600 Konfulent in Nürnberg, 1624 Profanzler in 
Altorf, T 16. VIIL, 1625. 

Schrift: Nemesis Carolina, Herborn. 1594, 1600; Francof. 1618 (Abegg, Gobleri 
— CCC et G. Remi Nemesis Carolina, Heidelb. 1837). 

* it.: Will, Nürnberger Gelehrtenlexikon, III. 294—299; VII. 244 ff. — Nypels, 


o. 925, 1277. — v. Wädter, Gem. Redt, ©. 87. — v. Stintzing, Geſch. der Deutichen 
Rechtswiſſenſchaft (1880), I. 636. Zeihmann. 


Nenazzi, Filippo Maria, 5 1742 zu Rom, 1768 Profeffor daf., F 1808. 
Schriften: Index conclusionum in decisionibus S. Rotae, Rom. 1760. — Elementa 
jur. erimin., 1773, 75, 81; Bon. 1826; Florent. 1842 (Synopsis 3. ed. Rom., 1835; ital. von 
uppetta, Nap. 1837, von Loretti, 1844) — Saggio sopra —— legitima o l'asilo, 


Liv. 1774. — De ordine s. forma judic., 1776, 1828. — De sortilegio et magia, Venet 


1792; Rom. 1803, — Annali degli elementi di diritto erim., Siena 1794; Cat. Rom. 1828. — 
Ricerche sulle varie maniere di contrar le nozze presso gli antichi Romani, Siena 1807. — 
Storia dell’ universitä degli studi, Roma 1803 —1806. 

git.: Cancellieri, Elogio di R., Rom. 1819. — Nouv. Biogr. gener. univ., Par. 
1862, Vol. 41. — Nypels, Biblioth&que, 32, 33. — Sclopis, II. 610. — Carmignani, 
Storia 1851, IV. 201. — Savigny, UI. 320. Teichmann. 


Renouard, Auguſtin Charles, 5 22. X. 1794 zu Paris als Sohn 
eines Buchhändler, wurde 1830 im Juftizminiftertum angeftellt, 1837 Rath am 
Kaſſationshofe, Mitglied der Kammern und des Inſtituts, 1861—77 procureur 
general am SKHafjationshofe, im Mai 1876 senateur inamovible, 7 auf Schloß 
Stors bei (Isle Adam 17. VIII. 1878. 

Schriften: Projet de quelques ameliorations dans l’education publique, 1815. — 
Elöments de morale 1820, (3) 1824. — Consid. sur les lacunes de l’enseignement secon- 
daire, 1824. — Sag de morale, d’&conomie et de politique, extraits des ouvrages de 
Benjamin Franklin, 1824, (3) 1853. — Traite des brevets d’invention 1825, (3) 1865. — 
Trait& des droits d’auteur, 1833. — Trait des faillites et des banqueroutes, 1842, (3) 
1857. — Du droit industriel dans ses rapports avec les principes du droit civil, 1860. 


git.: Bibliographie de la France 1878 No. 52, p. 214—216. — Gazette des Tribunaux 
No. 15963, 16326. — Revue generale 1878, p. 524-528, 540. — L’Illustration 31 aoüt 
1878, No. 1853. — Charles Renouard. Discours prononc6s à la cour de Cassation 1871— 
1877, prec&des d’une notice sur sa vie par Charles Richet, Paris 1879. — Le tribunal 
et la cour de Cassation, 1879 p. 403—406, 541, 542. — Revue de droit international X. 
(1878) p. 269. TZeihmann. 


Nente, Nentenfauf. Soweit die R. nicht als ein perjönliches R. konſtituirt 
ward, ericheint das Rentenrecht als ein R. an fremder Sache, vermöge deflen der 
Rentherr von jedem Beſitzer derjelben die Zahlung einer R. beanjpruchen kann, 
deren Ausbleiben ihn befugt, fich an die Sache zu halten. Das ältere Deutjche R. 
hat nur dieje als Grundlaft Eonftituirte R. gefannt und ihr als einem hochwichtiaen 
Faktor des damaligen wirthichaftlichen Lebens eine eigenartige Ausbildung ge— 
geben. — Das Rechtageichätt, durch welches die R. in der Regel begründet wurde, 
war der Rentenfauf. Derjenige, welcher fich gegen Hingabe einer Geldſumme das 
Recht des NRentenbezugs verichaffte, hieß Rentenfäufer, Gültherr, Rentherr, Rentner; 
der andere Kontrahent: Rentenverkäufer, Gültmann, Rentenjchuldner. Die gekaufte 
Rente konnte nicht nur in Geld, jondern auch in Naturalien beitehen. Die Ent: 
ftehung wie die Uebertragung des Mentenrechts war häufig an den Öffentlichen 
formellen Akt der Auflaffung geknüpft. Es zählte vechtlich zu den unbeweglichen 
Gütern. Demnach bedurfte der Veräußerer einer R. der Zuftimmung der nächiten 
Erben. Die R. wurde aus dem Haufe, aus dem Grundftüde gekauft; das Gel 


— — nn 


Rente, Rententauf. 435 


wurde „in das Haus gethan“. „Das Haus zinäte“, das heißt, nur die belajtete 
Sache war für die R. verhaftet. Der Befiger konnte nicht auch mit feinem übrigen 
Vermögen im Grefutionsiwege in Anfpruch genommen werden; er war in der Lage, 
fi) durch Dereliftion des belafteten Objetts von der Haftung für die R. (ſowol 
die laufenden, als die verſeſſenen Zinſen) zu befreien, Rückſtände blieben auf der 
Sache liegen, fie bildeten nicht etwa eine perjönliche Schuld desjenigen, unter deſſen 
Gigenthumsperiode fie entitanden waren, jondern es mußte der Beſitzer der Sache 
auh die Schulden des Vorbeſitzers bezahlen, wenn er es nicht darauf ankommen 
laffen wollte, daß der Rentenberechtigte fi) aus dem Haufe bezahlt machte. Eine 
durchſchlagende Belegjtelle für diejen früher vielfach angezweifelten Rechtsſatz bildet 
die Glofje zu Art. 20 des Sächſ. Weichbilds (vgl. Thl. I. 190): Von Eigen wie 
man das vorgebin moge zu wichbilde rechte. Sie jagt nämlich: Wäre ver- 
feffener Zins auf dem (aufgelaffenen) Gute und hätte der, welcher den Zins verjaß, 
das Gut verkauft mit allen Rechten, wie er es hatte und der andere es in diejer 
Weile empfangen vor gehegter Bank, er müste den zins selber legen, dem is vor- 
reicht wart (aufgelaffen wurde). Der NRentenherr hatte eine Zinsgewere an der 
Sache, welche fich auch vom Standpunkte des heutigen Rechts als ein Recht an der 
Sache darftellt, und im Fall der Säumniß darin äußerte, daß er das Gut fich zu— 
eignen oder verganten laflen konnte. Partikularrechtlich hatte der Rentner wegen 
verieffener Renten auch ein außergerichtliches Prändungsrecht an den auf dem Gute 
befindlichen Mobilien. Die R. war auf beiden Seiten unfündbar (Ewigzins, Ewig— 
geld); weder konnte der Kentherr das bezahlte Kapital zurüdverlangen, noch konnte, 
wenigſtens urjprünglich, der Rentenſchuldner durch Nücdgabe des Hauptgeldes jein 
Grundſtück ohne Zuftimmung des erſteren frei machen. 

Die wirthichaftliche Bedeutung des Rentenkaufs beruhte namentlich darin, daß 
- er Jahrhunderte Hindurch das von der Kirche verbotene zinsbare Darlehn erjegte 
und jchließlich der allgemeinen Zuläfligkeit deifelben Bahn gebrochen hat. Darum 
darf man aber die Entjtehung des Rentenkaufes nicht aus dem Bedürfniß und der 
Abficht einer Umgehung des kanoniſchen Zinsverbotes erflären wollen. Die Ent— 
ftehungsurfachen find vielmehr in der ausjchließlichen Produktivität von Grund und 
Boden und in der beichränften Haftung des Erben für die Schulden des Erblaſſers 
zu juchen, welch’ leßtere einen Perſonalkredit, wenn auch ſonſt die Vorausjegungen 
defjelben vorhanden gewejen wären, füglich nicht auffommen laſſen Eonnte. 

Das Rechtöverhältniß aus dem Rentenkaufe bietet in den verjchiedenen Stadien 
feiner Entwickelung Webergänge zur Grbleihe einerjeits, zum zinsbaren Darlehn 
andererjeits dar. Leiheverhältniffe wurden namentlich in den Städten häufig ein- 
gegangen, um Kapitalien fruchtbringend anzulegen und fich den Bezug einer fejten 
R. zu verichaffen. Der Kapitalsbejiter kaufte der Form nad) für eine bejtimmte 
Geldjumme ein ftädtiiches Grundſtück und ließ fich dafjelbe auflafjen, um es dann 
dern Verkäufer gegen einen vereinbarten Leihezins zur Leibe zu geben. Formell 
lagen ein Kauf mit nachtolgender Gigenthumsübertragung und eine Erbleihe vor, 
faktisch lief das Geſchäft auf einen Rentenkauf hinaus. Im weiteren Verlauf der 
Gntwidelung bat fich das uriprüngliche Verhältnig mitunter der Art verdunfelt, daß 
das N. des Gigenthümers auf ein bloßes R.recht reduzirt wurde, während der 
Yeihebefik in Eigenthum überging, welches mit einer jchließlich der Ablöfung anheim— 
fallenden R. belaftet war. Ob man deshalb annehmen fünne, daß der R.fauf 
überhaupt aus dem Inſtitute der Erbleihe hervorgegangen jei, iſt eine noch nicht 
abgeichlofjene Frage. Seit dem 13. Jahrhundert beginnt das R.verhältniß fich dem 
iinsbaren Darlehn allmählich zu nähern. Während früher die Ablösbarkeit ber 
R. im R.vertrage jpeziell bedungen werden mußte, wird nunmehr zuerit partifulars 
rechtlich die allgemeine Ablösbarkeit der R. ausgeiprochen (Wiederfaufsgülten). 
Dies geihah 3. B. in Lübeck wahricheinlich jchon 1251, in München von 1391 
an, in Bajel jeit 1441. Später wurde dann reichsgeiglih (RPO. von 1577 

28 * 


436 Nentenbriefe. 


Tit. 17 8 9; Tit. 19 $ 3) beitimmt, daß alle jährlichen Gülten ohne Rüdficht 
auf die Vertragäbeitimmung des einzelnen Falles für den Schuldner einjeitig ab- 
(ösbar jein follten. Da andererjeits hier und da die Auflaffung hinwegfiel und die 
dingliche Beziehung der R. zu einem beitimmten Grunditüd durch die Ausdehnung 
der Haftung auf das gefammte Vermögen des Schuldners bejeitigt wurde, jo unter: 
ichied fi) das zinsbare Darlehn von derartigen Renten nur noch durch das 
Kündiqungsrecht des Darlehnögläubigers, welches dem R.gläubiger fehlte. Soweit 
durch Vertrag oder durch Partikularrechte dieje letzte Scheidewand niedergerifjen 
wurde, floſſen R.= und Darlehnsvertrag völlig zufammen. Im Anſchluß an den 
für die Ablöfung der R.faufsgülten aufgeitellten Zinsfuß wurde nun auch das zins— 
bare Darlehn durch die Praris der Reichsgerichte anerfannt. Trotz diejer Um— 
wandlung, die im Allgemeinen vor fich gegangen it, haben fich die R. und der 
R.ekauf im heutigen Rechte ein beichränftes Geltungägebiet bewahrt. Das Sächſ. 
BGB. kennt fie unter dem Namen „eiierne KHapitalien” ; in München find die Ende 
des 15. Jahrhunderts geſetzlich geregelten „Ewiggelder“ noch von tiefeingreitender 
praktischer Bedeutung. Der Code Nap., die Gefeßgebung Hollands, Jtaliens und 
einzelner Schweizerfantone nehmen auf den R.kauf Rüdficht. Für das heutige 
Deutiche Priv. R. bietet die juristische Konftruftion des R.kaufs infofern Schwierigkeiten, 
als die Grundſätze des älteren Deutichen R. nicht durchweg mehr als gemeinrechtlic) 
betrachtet werden können und andererjeits ftreitig ift, welche von den jüngeren 
Entwidelungsformen für die heutige R. als typiſch zu betrachten ſei. Was die 
Kontituirung der R. betrifft, To it an Stelle der Auflafjung die Eintragung in 
die öffentlichen Bücher oder gerichtliche Konfirmation getreten. Demgemäß ſetzt 
die Tilgung der Kaufrente im Rechtsgebiete der Grundbücher, mindeſtens joweit fie 
gegen Dritte wirkſam fein joll, die Löſchung im Grundbuch voraus. Die Haftung 
des belajteten Objekts für die unter einem früheren Befiger aufgelaufenen Rüditände 
iſt jajt allgemein außer Geltung gekommen. edoch hat in München das Ewiggeld 
auch noch in diejer Beziehung den Charakter einer dinglichen Laſt, wenn nicht die 
perjönliche Haftung des Schuldners durch befondere Vereinbarung begründet worden 
ift. Der R.ichuldner hat das Recht der Ablöſung. Die Höhe der R. it 
durch RPO. von 1577 auf 5 Prozent fejtgejegt worden, doch folgte daraus 
nicht die Anwendbarkeit der übrigen gejelichen Zinsbeichräntungen, 3. B. des 
Derbots des Anatociamus. Dem Gläubiger kann im Fall der Säumniß em 
Kündigungsrecht vertragsmäßig eingeräumt werden (RDA. von 1600, $ 35), 
andernfalls hat er das KHündigungsrecht nicht, wenn nicht ein Partikularrecht es 
im Fall der Mora gewährt. Im Uebrigen gelten für das Rechtäverhältnig aus 
dem R.faufe die allgemeinen Grundjäße der Neallaft. 

Lit.: Albrecht, Die Gewere, 157 ff. — Auer, Das Stadtreht von Münden, 1840. — 
Riedel, Das GEwiggelb:Inftitut in München, 1819. — Dunder, Reallaften, 69 Fi. — 
Göſchen, Die Goslar’ihen Statuten, 238 ff. — Stobbe in ber Zeitſchr. für Deutiches 
Recht, XIX. 178. — Arnold, Geſchichte bes Eigenthums in den Deutichen Städten, 1861. — 
Pauli, Die MWieboldärenten, 1865. — Neumann, Geſchichte des Wuchers, 212. — 
v. it ‚ Die Gült. u. ber Schuldbrief, in db. zen f. Schweiz. Redht IX. — Höpten im 
Bremiſchen Jahrb. VI. — Stobbe,$ 104. — v. Gerber, SS 1887. — Bluntihli,$S 97 Mi. — 
Gengler, $78. — Insbeſondere Roth, Bayer. Civilrecht, 11.356. Heinrih Brunner. 


Nentenbriefe. Zur Erleichterung der Ablöfung bäuerlicher Grunddienjtbar- 
feiten find in Deutjchland (Sachſen 1832, Bayern 1848, Preußen 1850 ıc.) in den 
legten Jahrzehnten bejondere Kreditinftitute (Nentenbanten ac.) errichtet, welche, 
zwijchen den Berechtigten und den Pflichtigen tretend, Kredit nehmend bzw. gebend, 
den Mangel eigenen, zur Ablöfung Hinreichenden Kapitals bei dem Pflichtigen er: 
jegen. Faſt überall iſt die Sache geieglich in der Art geordnet, daß der Berechtigte 
an Stelle des Entichädigungsfapitals einen entiprechenden Betrag in „R.” (jo in 
Preußen; „Grundentlaftungsobligationen“ in Dejterreich = Ungarn; „Land = MR.“ in 
Sadjen, „Grundrentenabtöſungsſchuldbriefe“ in Bayern ıc.) erhält, welhe von der 


Nentenlegat. 437 


Rentenbank verzinit und allmählich durch Verlooſung amortifirt werden. Die Der: 
pflichteten dagegen zahlen an die Rentenbank eine, an Stelle der abgelöften Laft 
auf ihrem Grundſtücke haftende Rente, deren Betrag außer den Zinſen eine Amorti— 
jationsquote enthält, und werden dadurch nach einer gefeglich bejtimmten Zahl von 
Jahren völlig befreit. — Der R. ift hiernach eine von der Rentenbanf ıc. aus— 
geitellte Schuldurfunde, worin diejelbe ſich als Schuldnerin eines beftimmten Kapital- 
betrages befennt (gewöhnlich runde Summen) und fich zur terminlichen Verzinfung 
fowie im Falle der Kündigung (welche jedoch dem Inhaber nicht zufteht) bzw. 
Ausloofung zur Zahlung verpflichtet. Der R. lautet regelmäßig auf den Inhaber. 
Demſelben ſind Zinscoupons beigegeben, welche von Zeit zu Zeit erneuert 
werden. Die Erfüllung der geſetzlichen Verpflichtungen der Rentenbank garantirt 
der Staat (Preuß. Rentenbankgeſetz $ 3). R. gehören zu denjenigen Papieren, 
in welchen nach den VBormundichaftsordnungen Mündelvermögen dauernd angelegt 
werden darf (Preuß. Vorm.D. vom 5. Juli 1875 $ 39 2c.). Diefelben find an 
Ah nicht Pertinenz des abgefundenen Guts. Sie haften aber (ald Kaufpreis 
der abgelöften Berechtigungen) denjenigen Glänbigern und fonftigen Interefienten 
(3. B. Lehnsagnaten ꝛc.), welchen jene Berechtigungen hafteten. Unter Umijtänden 
fann daher die Hinterlegung verlangt werden (ſ. Preuß. Rentenbantgei. $ 49). — 
In Preußen wurden zufolge des Geſetzes vom 26. April 1858 die damals — 
7 Rentenbanken mit Ende des Jahres 1859 geſchloſſen (d. h. die Ablöſungen 
ſollten nicht mehr durch Vermittelung der Rentenbank ſtattfinden); gleichzeitig 
wurde das Verfahren hinſichtlich des Aufgebots und der Kraftloserklärung verlorener R. 
geordnet. Indeſſen ift nachträglich der Wirkungskreis der Rentenbanfen durch Zu— 
lafiung ihrer Mitwirkung bei Ablöfungen in den neu erworbenen Landestheilen 
bzw. bei den Ablöjungen der den geiftlichen und Schulinftituten jowie den frommen 
und milden Stiftungen zuftehenden NRealberechtigungen wiederum erweitert worden, 
und das Gejeg vom 17. Januar 1881 hat die Vermittelung der Rentenbanten, wie 
früher, für die bis zum 31. Dezember 1883 zu beantragenden Kapitalablöſungen 
wieder zugelaffen. 

Nach dem Geſetz vom 13. Mai 1879 können zu verichiedenen gemeinnüßigen Zweden 
Landesfultur-Rentenbanfen errichtet werden, welche Darlehen in baarem 
Gelde oder in von ihnen auszuftellenden Schuldverichreibungen (nach dem Nennwerthe), 
ſog. „Landeskultur R.“, gewähren. Iſt das Darlehn in baarem Gelde gegeben, 
fo fann die Bank Landeskultur-R. in Höhe des gewährten Darlehns auägeben. 
Die R. haben denjelben Zinsfag wie die Darlehen (höchſtens 4'/, Prozent). Letztere 
fönnen jeder Zeit ganz oder theilweife baar oder in Yandeskultur-R. nad) dem Nenn- 
werthe zurücgezahlt werden. Den Inhabern der R. fteht fein Kündigungsrecht zu. 
Diefelben werden durch Ausloofung amortifirt. Sie können bei Abhandenfommen 
aufgeboten und für kraftlos erklärt werden. Das Verhältniß hat hiernach immerhin 
einige Aehnlichkeit mit den oben beiprochenen R., nähert fi) aber mehr dem der 
bon den Hypothekenbanken ausgegebenen „Biandbriefe”, welche zuweilen auch den 
Namen „R.“ führen, 

6} b. u. Sit.: Preuß. Gel. v. 2. März 1850, 26. April 1858, 28. Mai 1860, 10. April 
} I’ April 1869, 27. April 1872, 3. — 1873, 15. Febr. 1874; Vorm. Ordn. vom 
5. Juli 1875 8 39; Bei. v. 16. Juni 1876, 26. Juli 1876, 13. Mai 1879, v. 17. Januar 1881. 
Alerh. Priv. vom 18. Sept. 1872. — Defterr. ef. vom 4. März 1849; Patente vom 25. Sept. 
1830 und 11. April 1851. — Entſch. de3 OTrib. zu Berlin XXX. &. %6 (Präj. 2596 II.); 
XXXI. ©. 214; XXXIII. ©. ee XVII ©. 464; LXI. ©. 420. — BasShrE — und 
Zeazis des Preuß. Privatrehts, 4. Aufl., I. ©. 135 Anm. 40; 3. Aufl., II. ©. 57; II. 
471. — Judeich, Die Grundentlaftung (Xeipz. 1863). — gette u. d. — Landes⸗ 
———— iiꝰ i ©. 519 ff. — Siegfried, Börſenpapiere, I. (1874) u, ds | ff. 


Nentenlegat (leg. redituum, annuum, menstruum etc.) ift das Vermächtniß 
beftimmter terminweife wieberfehrender und an den Vermächtnißnehmer auszuzahlender 
Einkünfte. Das Röm. R. behandelt, worern der Wille des Teftators nicht entgegen= 


438 Nenufion — Reportgeſchäft. 


ſteht, dieſe Zuwendung nicht als Ein Vermächtniß, ſondern als ebenſo viele einzelne, 
jedes für ſich anfallende, Vermächtniſſe (leg. in singulos annos etc.), wie der Ver 
mächtnißnehmer Hebungstermine erleben (und an diejen fähig fein) wird; ſodaß die 
eonditio juris: si vivat, und ſomit der dies cedens legati, jeder einzelnen Termin— 
bebung innewohnt. Im Zweifel eritredt fich das Legat auf die Lebensdauer des 
Bedachten (Leib» oder Lebenärente), e8 wäre denn entweder eine beichränfte Zahl 
von Terminen (3. B. auf zehn Jahre, bis zur Volljährigkeit) angeordnet oder die 
Rente auch den Erben des Yegatars beſtimmt (oder einer juriltifchen Perion), 
in welchem alle im Zweifel auch Erbeserben ꝛ⁊c. bedacht find (immermwährende 
Rente). Stets kann der Betrag der Einzelhebung dadurch unbeſtimmt gemacht sein, 
daß die Einkünfte von einer beitimmten Sache oder Kapitalforderung angewieſen 
worden find. — Anders, wenn der Teftator eine Summe im Ganzen vermadhen 
und nur Zahlungstermine anordnen wollte; dies ift fein R., jondern Ein mit einem 
Mal anjallendes Vermächtniß. — Die neueren Gejegbücher behandeln das R. in 
Kürze, nachdem mit der Falcidiſchen Quart die jchwierigite Frage, wie dieſe zu be 
rechnen jei, ob nach Wahricheinlichkeit der Dauer oder durch Kapitalifirung der 
Rente, bejeitigt ift; fie Schließen fich jedoch der römischrechtlichen Auffaffung des R. 
als einer Vielheit von Vermächtniffen an. Das Defterr. BGB. läßt jede Rente 
zwar mit Anfang des Termins fällig, dagegen erſt mit Ablauf der Friſt klagbar 
werden; was nur dann haltbar ericheint, wenn der Erblaffer Poftnumeration ans 
geordnet hat. 

=: u. Quellen: Arndt3 im Redtäler. VI. ©. - N — Roßhirt, — 
II. 98 ff. — Windſcheid, Lehrb. III. $ 660. — D. 383, 1 (inäbel. 1. 4 11, — 
LL. 1 12, 20, 26 D. 36, 2. — Preuß. “ig, ER. I. 12 88 ao fi, Tr — BER. 


687. — Code civ. art. 1015. — Sächſ. BEB. 55 2448 ff., 2476. — — Erbr.- 
tw., $$ 419 ff. Schütze. 
Benufien, Philippe, & 1632 zu Mans, wurde Ndvofat am Parlament, 
7 169 
Sei ten: Traitös des propres, de la communaute et du douaire, 1681—92. — 
Oeuvres, &d. Serieux 1760, 1777, 1786. 
Lit.: Rodiöre, Les 535 jurisconsultes, 1874, 344, 345. — Stein-Warn— 


fönig, Franz. os und Rechtägeichichte, II. 123. — N ichaud. — Gaudry, Barreau 
de Paris, 1864, II. Teihmann, 


eportgeidjäft. Report bedeutet die Differenz zwiſchen den Preifen, welche 
eine Waare (zumeift ein börjengängiges Werthpapier) an zwei verfchiedenen Lieferungs: 
terminen hat, und zwar wird der Name „Report“ insbefondere dann gebraucht, 
wenn dad Papier an dem jpäteren Termin höher im Kurſe fteht ala an dem 
früheren, während der Betrag, um welchen das Papier an dem fpäteren Termine 
niedriger fteht, ala an dem vdorausgegangenen, „Deport“ genannt wird. Diele 
Differenzen find der Gegenjtand der Spekulation in den verjchiedenen Arten der R. 
Unter Xebteren verfteht man Kombinationen von Einkauf und Verkauf, zugleich von 
Kafla und Lieferungsgeichäften, ſei es daß dabei nur die Differenz in Spekulation 
fommt (R. als reine Differenzgeſchäfte ſ. diefen Art.), jei e& daß die Neal: 
lieferung beabfichtigt iſt (3. B. im „Koftgeichäft“). 

Das juriftische Weſen der R. liegt darin, daß durch einen einheitlichen Willens: 
entichluß feiten® des einen der Kontrahenten die fombinirten Gejchäfte ale Ein 
Geſchäft abgeichloffen werden. Es ijt ein einheitliches Geſchäft, wenn der Reporteur 
(d. i. der Kontrahent, welcher per Kaſſa kauft „reportirt”) zugleich mit dem Kafla- 
fauf daffelbe auf Lieferung verkauft und fich dadurch jelbjt für den Fall des ſinkenden 
Kurſes Nutzen fichert, und ebenfo iſt e&, von der andern Seite aus betrachtet, ein 
einheitliches Geſchäft, nämlich infofern der Gegenfontrahent per Kaſſa verfauft (3. B 
etwa deshalb, weil er Baargeld raſch braucht), fich aber gleichzeitig zu anderem 
Kurſe die Rüdlieferung ausbedingt (auf Lieferung kauft) und ſich damit die Chance 
refervirt an dem zulegt etwa noch jteigenden Kurje des vorher verkauften Papiers 
zu gewinnen. Der Reporteur benußt das R., um fein Kapital auf kurze Zeit und 


Repräfentationsredt. 439 


zugleich ficher Fruchttragend anzulegen, nämlich Gewinn aus den Zinfen der Zwiſchen— 
zeit und dem Kursunterjchiede zu ziehen. Der Gegenfontrahent kann das R. benußen, 
um fi) ohne dauerndes Aufgeben des Papiers Baargeld zu verjchaffen (in diefer 
Anwendung nähert fich das R. der wirthichaftlichen Funktion des Lombard) und 
fich doch zugleich die Möglichkeit offen zu erhalten, an der etwaigen Kurshebung zu 
profitiren; oder er prolongirt damit ein Lieferungsgeihäft (er „giebt das Papier 
in Koſt“ vom früheren zum jpäteren Termine, „Kojtgeichäft”, vgl. den Art. Prolon- 
gationsgeſchäft) oder er Hilft dem Stüdmangel des Reporteurs durch Lieferung 
per Kaſſa ab u. ſ. w. 

Aus der juriftichen Natur des R., als eines einheitlichen Geſchäfts, ergiebt fich, 
daß die Aftiengejellichaften troß des Art. 215 Abi. 3 des HGB. ihre eigenen Aktien 
reportiren dürfen, da im R. der Erwerb nur gleichzeitig mit der Wiederveräußerung 
aftirt i 
i Lit. — Das Börien: u. Maklerrecht, 1875, S. 72—79, auch in feiner Zeitſchr. 
für das Privat: und Öffentliche Recht ber Gegenwart, 1875. — James ... Die Zeit: 


Ina Berlin 1875, ©. 14. — Endemann, H.R., $S 121 III. — un ur — 
tih. d. ROHG. Bb. XXI. ©. 191 fi. — Renkner, Alg. Deutiches * 2. Aufl., 

€. 200-201. — Rechtſprechung betr. D. R. f. in Goldſchmidt ꝛc., Zeit m für das gei. 
HR, Bd. XXVI. (1881), ©. 248—257. Gareis 


Repräüſentationsrecht (Thl. I. S. 458) iſt eine von der neueren tomaniftiichen 
Doktrin, die mehr oder minder bewußt deutjchrechtliche Grundfäße in das Röm. 
Recht hineintrug, erfundene Bezeichnung für das gefegliche (Nov. 118) Erbfolgerecht 
1) der entiernteren Dejcendenten, 2) der Gejchwijterfinder, deren zwijchen ihnen und 
dem Grblafjer geitandene Parentes (nähere Dejcendenten, bzw. Gejchwijter) vor dem 
Erblaffer veritorben find, folglich nicht mehr im Wege ftehen; jo daß man gewifjer- 
maßen mit Jujtinian’s Inftitutionen und Novellen fagen fann: jene erben an Stelle 
ihrer vorverjtorbenen Eltern das, was anderenjalla dieſe würden erhalten haben. 
Hieraus nun jolgerte man: jene repräfentiren dieje; eine in falfcher Vorftellung 
wurzelnde Ausdrudsweiie, die am beiten ganz vermieden wird, und in der Ihat 
iernere Irrthümer erzeugt hat. So: jene Perfonen erbten nicht kraft eigenen Rechts, 
ſondern aus dem Rechte des vorverjtorbenen Parens, folglich nur, falls lehterer erb— 
fähig gemweien und von ihnen beerbt worden jei. Noch mehr verwirrte Glück dieſe 
grundloje Theorie, indem er unterfcheiden wollte: R. im angegebenen Sinne „zum 
Behuf des Erbiolgerechts“ (mur bei Neffen) und R. „zum Behuf der Erbtheilung“ 
(Enfeln und Neffen gemeinjam). Heute wird alljeitig erfannt, ein jog. R., will 
man einmal diejen irreleitenden dem Röm. Recht fremden Namen beibehalten, fünne 
nichts weiter bedeuten, ala den Inbegriff zweier für die Erbfolge der entjernteren 
Deicendenten (erite Klaſſe) und der Gefchwifterfinder (zweite und dritte Klaſſe) 
geltenden Merkmale: 1) Gradesnähe jchließt nicht aus, 2) es wird in stirpes 
fuccedirt. Xebteres galt 20 Röm. Recht auch da, wo Enkel, bzw. Geichwijter- 
finder von verjchiedenen Eltern, allein zur Erbfolge gelangen. Wenn dagegen der 
RA. zu Speier von 1529 für alleinerbende Geſchwiſterkinder jchlechthin Kopitheilung 
anordriete, jo war das lediglich die Enticheidung einer alten Streitfrage (Azo, 
Accurjius) im Sinne des Germanijchen Erbrechts gegen das Römiſche. — Der Aus— 
druck representation, aber ohne die obengenannten irrigen Folgerungen, hat im 
Code civil fich eingebürgert, ift dagegen dem Preuß. Allgem. ER. wie auch dem Sächſ. 
BGB. allganz fremd geblieben. Alle drei Gejeßbücher erweitern die gemeinschaftliche 
Erbfolge der Geichwifterfinder auf Gejchwifterabfömmlinge überhaupt, und verwerfen 
die Lehrſätze jener jaljchen Doftrin. Das ſog. R., im Sachjenipiegel nur für des 
Erblaſſers Enkel anerkannt, hatten jpätere Sächſ. Geſetze der Seitenlinie ausdrüdlich 
veriagt ; wogegen wieder das Erbf. Mand. von 1829 5 43 die Kopitheilung des 
Speierjchen Reichgabfchieds verwarf. Nunmehr hat das Sächſ. BGB. die richtigen, 
auch vom Preuß. Allgem. ER. beiolgten Grundjäge des Gem. Rechts durchgeführt : 
Abkömmlinge vorverjtorbener, enterbter, durch Verzicht oder Ausfchlagung aus— 


440 Repreilalien. 


geichlofjener Dejcendenten bzw. Gejchwifter erben kraft eigenen Rechts, aber bejchräntt 
auf die Stammesportion des Parend. Obendrein wird, bei Ausfcheiden eines näheren 
Verwandten nach dem Erbanfall, — successio graduum anerkannt. Folge— 
richtig und nachahmenswerth iſt das R., ſowie die geſammte geſetzliche Erbiolge, 
nur im Oeſterreich. BGB. geordnet. 

Lit. u. Quellen: Glüd, —— — 88 28 * rancke, Beitr. VIII 

176 1 — Tewes, Syſtem, $ 13. — ®in Igeid, Lehrb. IIL $ 572. — z8 6, 15 
EN —— 1. — RA. von 1589, $ 81. — Code cir. 
art. 2 ss. — Preuß. Allg. ER. II. 2 88.348 fi; I. 3 85 38 ff. I. 18 $ 393. — Defterr. 
BEB. SS 733 Fi. — Sächſ. vw z8 2027, 2030, 2035, 2041, 46, 2261, al 2599. — 
Mommjen, Erbr.:Entw., SS 33 ff. hüpe. 


Neprefialien, auch Reprejalien (noch bei ©. F. dv. Martens, Völler— 
recht), repraesalia und repraesaliae, auch repraesentalia (Ducange), gewöhnlicher 
repressaliae, find nah Groot's Meinung durch die Defretalen eingeführt, indeß 
führen diefe jchon den Ausdruck repressaliae für pignorationes als eine vulgaris 
elocutio an (cap. un. d. iniur. et damno dato in VI. [5, 8). Als Terminus der 
Auriften feiner Zeit bezeichnet Groot: repressaliarum ius und identifizirt diejet 
jowol mit £veyvorwouss oder pignoratio inter populos diversos, ala auch mit 
withernamium (nad) Barbeyrac N. 2 ad Groot von wither oder wider und nam 
oder namp, bei Ettmüller, Lexic. Anglosax. s. v. Niman: näm-vidernäm, bei 
Ziemann und bei Müller, Mittelhochdeuticheg Wörterbuch: widername) der 
alten Sachſen und Angeln, und mit den literae marcae der Franzoſen (Groot, 
II. I. $ IV), auch droit de marque (marcha, auch ius marchium, Ducange) 
et de repr6saille. Repressaliae von reprehendere und reprendere, daher aud) 
Neprehenjalien und Reprenjalien. Nach heutigem Gebrauch: Franzöſiſch repr6sailles, 
Englijch reprisal, Italieniſch rappresaglia und ripresaglia. R. bedeuten zunächſt 
die eigenmächtige Wegnahme eines fremden Gegenftandes (auch einer Perjon) ın 
Veranlaffung oder zur Wiedervergeltung einer dem Wegnehmer widerfahrenen Rechts 
verlegung (früher auch Beraubung, Burchardi, 500), nach dem Wölferrecht der 
Gegenwart aber: jede die Rehtswidrigfeit eines Staates vergeltende eigen: 
mächtige Handlungsweife des verlegten Staates (Berner, 597) oder in allgemei- 
nerer, indeß nicht genügend genauer, Beitimmung: die Reaktion eines Staates gegen 
ein von einem anderen Staat zugefügtes Unrecht (Burdhardi, 1. c.) — Den 
R. mehr oder weniger verwandte Formen treten jchon im Altertum (Wurm, 475 
und 476) auf: in Athen die auch bei Groot erwähnte, von Wolff $$ 592 fi. 
noch behandelte, ardoormypie, bei den Nömern die clarigatio, — welche indeh zu 
unterjcheiden iſt ſowol von der Androlepfie (Wurm, 475 not. 44) ala auch von der 
pignoratio, R. im eigentlichen Sinne (Bynkershoek, Qu. iur. publ., I. XXIV). 
— und die recuperatio (ſ. Sell über diejelbe als völferrechtliches Inſtitut in feiner 
1837 erichienenen Wonographie: Die recup. der Römer); im Mittelalter (Mar- 
tens, Armat. 19., ss.; Hautefeuille, Dr. mar, intern,, 126 ss.) treten R. bei 
den Fehden der Seigneurs und der Ausübung und Bekämpfung der Seeräuberei 
auf. Schon jeit dem 13. Jahrhundert, in wirklich obligatorifcher Weiſe aber erſt 
feit dem 14., mußte dem Beginn der Thätlichkeiten in Form der R. eine Verband: 
(ung bei den jog. conservatores pacis borausgehen und die bei ausbleibender Ent: 
jcheidung rechtmäßigerweije eintretende Selbithülfe autorifirt werden durch die marcha 
(facultas a principe subdito data, qui injuria affectum se vel spoliatum ab alte- 
rius prineipis subdito queritur, de qua ius vel rectum ei denegatur, in ejusdem 
principis Marchas seu limites transeundi, sibique ius faciendi*, Ducange), 
woraus der in neuerer Zeit gebräuchliche Terminus: lettre de marque fich bildete. 
Der Markebrief bejtimmte auch die durch R. beizutreibende Summe. Die eine 
Art der Markebriefe: die eigentlichen R. ermächtigen zur Ergreifung der Güter des 
Gegners innerhalb des Gebietes der den Markebrief emanirenden Staatögewalt, die 


Repreffalien. 441 


andere Art, jpeziell als marcha bezeichnet, geftattete, aller dem anderen Theile 
gehörender Gegenstände auf offener See fich zu bemächtigen. Die lettres de contre- 
marque waren gegen Diejenigen gerichtet, welche die lettres de marque ertheilt 
hatten. Zur Ertheilung diefer Briefe waren ermächtigt in Frankreich die Gouver- 
neure, höhere Gerichte und Parlamente (Masse, Dr. comm., I. 136 ss.), jeit der 
Verordnung von 1485 nur der König, in den Lombardijchen Städten die Obrigkeit 
und Gemeinde (Burdhardi, 501), in Belgien einzelne mit dem Kriegsrecht begabte 
Städte (Bynkershoef, 1. c.); für England bezeichnete jchon die Parlamentsacte 
von 1353 die fönigl. Verleihung als die ausfchließlich übliche, wogegen fie in den 
Niederlanden erit am Anfange des 15. Jahrhunderts gefordert wurde. Die Engl. 
Parlamentsacte von 1416 gewährte die Ausreichung der R.briefe nur nach gefor= 
derter und verweigerter Genugthuung. Bertragsmäßig wurden die R. beſchränkt auf 
den Fall der Yujtizverweigerung (Franz.-Span. Vertrag von 1489 und Spanijch- 
Schott. Vertrag von 1550) und von auslaufenden Schiffen für das Nichtüben von 
R. Sicherheitzftellung verlangt (Franz.-Engl. Vertrag von 1440 und 1468, Engl.- 
Span. Vertrag von 1489). Endlich wurde in einer großen Zahl von Verträgen 
4. Martens, 1.c. ©. 30) vereinbart, daß, außer im Falle der Juſtizverweigerung, 
die Güter der gegenfeitigen Unterthanen nicht in dem Staate des anderen Theiles 
für die Schulden ihrer Landsleute mit Beichlag belegt werden dürften. Gejehliche 
Regelung ward dem Inſtitut der R. durch die den bezüglichen Inhalt des guidon 
de la mer faft wörtlich wiedergebende ordonnance de la marine von 1681 und die 
Statuten der Lombardifchen Städte (f. über die Lombardiichen Statuten und die 
Geich. der R. überhaupt Burchardi, 500 ff.). — Die R. find noch in der Ge- 
genwart ein völferrechtlich begründetes Injtitut. Mas Latrie drüdt fich daher zu 
allgemein aus, wenn er ©. 46 ausführt, daß die R. gefallen, nur die von ihm ge= 
ihilderte frühere Art derjelben ift gefallen. Die Notwendigkeit ihrer FFortdauer 
motivirt Schon Bynfershoef: „Repressaliarum usum in totum tollere, eorum, 
qui non uni Principi subsunt, improbitas non patitur“. Indeß ſprach fich das 
Röm. Necht wiederholt entichieden gegen die R. aus, weil die Einzelnen nicht ſchul— 
den, was eine universitas jchulde (1. 7 $ 1 D. 3, 4), weil man nicht Andere 
wegen fremder Angelegenheiten beläftigen (l. un. C. 11, 56) oder die Befigung eines 
Anderen wegen fremder, Öffentlicher oder Privatichulden in Anjpruch nehmen dürfe 
(1. 4 C. 12, 61), in&bejondere aber nicht Gläubiger die Kinder ihrer Schuldner 
zurüdhalten dürfen (nov. 134 cap. VII); auch wurden gegen die illiberales pigno- 
rationes und die durch fie geurjachten exactiones exosae, welche der Gejehgebung 
ihon vielfach Aergerniß gegeben, mannigiache Strafen verhängt, weil es für wider— 
finnig erachtet wurde, daß ein Anderer der Schuldner und ein Anderer der Bezahler 
jet oder daß Jemand anjtatt eines Anderen, der eine widerrechtliche Handlung verübt, 
blos weil er mit diefem einen und denjelben Ort bewohnt, bejchiwert, bejtraft werde 
und eim Uebel unjchuldig erleide (Nov. LII pr. und cap. J.)) Auch das Kanon. 
Hecht ſprach fich (1. c.) gegen die pignorationes (vulgo: repressaliae), insbejondere 
an Geiftlihen, aus und bedrohte die Zuwiderhandelnden mit kirchlichen Strafen. 
Gegenüber diefen wohl begründeten Perhorreszirungen jeitens der Gejehgebung hat 
die völferrechtliche Doktrin die R. zu entjchuldigen gefucht. Groot (IH. II. SS I. 
und V.) leitet fie aus dem ius gent. voluntar. ab und jtellt den Satz als der Natur 
nicht woiderjtreitend auf, daß alle Güter eines Staates für feine Leiſtungen und 
Berpflichtungen, insbejondere auch zu Gunſten einer, einem fremden Anſpruch nicht 
gewährten, rechtlichen Genugthuung, haften. Diefer Satz jei durch Sitte und ſtill— 
ſchweigenden Konſens eingeführt, ſowie ja auch fideiussores sine ulla causa ex solo 
ceonsensu verpflichtet würden. Wolle man jolche R. nicht einräumen, fo würden 
häufig NRechtswidrigfeiten unvergolten bleiben und den Fremden nicht leicht Gerech— 
tigkeit zu Theil werden. Die Pignorationen Löften gewiſſermaßen als Auflagen 
öffentliche Verpflichtungen ab. Vattel (II. XVII. $ 344) rechnet das Privat- 


442 Reprefſalien. 


vermögen zum Staatsvermögen und läßt daher auch erſteres für die Schulden des 
Staates haften. Martens (V.R. 253) leitet aus der Haftungspflicht der Un— 
terthanen mit Perſon und Vermögen für die Schulden und VBerlegungen des Staates 
auch das an jenen zu übende R.recht ab, indeß joll jene Pflicht nur dann eintreten, 
wann eine Entichädigung möglich ift. Gegen die Rechtfertigung der R., namentlich 
gegen Groot's Motivirung tritt in neuefter Zeit Maſſé (I. 13 ff.) auf, indem er 
es für ganz unjtatthaft erklärt, daß man R. an den Gütern oder Forderungen der 
einzelnen Unterthanen einer jchuldenden Nation übe, anftatt an denen der Nation 
(de Staates) ſelbſt. Er hält überhaupt R. nur dann für rechtlich begründet, wenn 
fie zwiſchen den betreffenden Staaten vertragsmäßig als zuläffig bezeichnet find 
oder wenn fie als Retorjion (?) geübt werden, inden die Politik dann geitatte, 
was das Recht verbiete. Wir jehen die R. ala ein nicht zu entbehrendes Glied in 
der Reihe der internationalen Rechtsmittel an, erachten aber für nothwendig, daß 
fie jtreng normirt und ihre Anwendung möglichit bejchränft werde. — Van unter: 
icheidet pojitive R., welche der verlegte Staat durch die Wegnahme von Sachen 
oder Verhaftung von Perſonen des verletzt habenden Staates ausübt, und mega: 
tive, welche in der Vorenthaltung oder Verweigerung von Rechten EN in Nicht: 
erfüllung vertragsmäßiger Berpflichtungen beftehen (Martens, B.R., $ 251; 
Klüber, $ 234 not. c; Wheaton I 275; Wurm, 479; Berner, 598) 
oder in Weigerung oder Erfüllung einer obligat. strict, jur. "(im Gegenjaße zu 
comity) (Bhillimore II. 14). Klüber (l. c.) unterjcheidet noch R. im wei— 
teren Sinne als jede Gewaltthätigfeit zur Senugthuungserlangung wegen erlittenen 
Unrechts, mit Ausnahme des Krieges, im engeren Sinne ald Gewalthandlungen, 
wodurch der beleidigte Staat dem Beleidiger an- oder zugehörige Perjonen, Rechte 
oder Sachen (R. im engiten Sinne) zurüdhält zum bezeichneten Zwed. Dieſe 
Diftinktionen find zu minutiös. Ginige Autoren unterjcheiden allgemeine und 
bejondere R. in zwiefacher Weife. Zunächit in der, wonach allgemeine feine 
Gewaltmaßregeln ausjchließen oder die den Behörden und Unterthanen ertheilte 
unbejchräntte Vollmacht enthalten, Perfonen und Eigenthum des fremden Staates 
zu ergreifen, wo es auch fei, während befondere nur bejtimmte Arten von Ge 
waltmaßregeln geitatten (Wheaton, 1. c.; Berner, 1. c.). Entweder wird in 
der Anwendung der erjteren ein Uebergang in den Kriegsſtand erblidt (Martens, 
DR., $ 257) oder fie werden ala eine beim Anfange eines Krieges ergriffene 
Maßregel charakterifirt (Wheaton, 1. ec.) oder nah de Witt und Kent (I. 70) 
mit dem Kriege jelbit für identiich gehalten (f. auch Jefferſon's Propofition zur 
Zeit des Kontinentalſyſtems bei Manning, 115 ff.). General reprisals verfügte 
England im orientalischen Kriege gegenüber Ruklands (des Monarchen, der Unter: 
thanen und Bewohner) Schiffen, Fahrzeugen und Gütern, jo daß die Englifche Flotte 
und (Kriegs) Schiffe ſich rechtmäßig derjelben bemächtigen durften (ord. of counc. 
d. d. 29. März 1854, bei Phillimore, III. 13). Der Lord-Oberrichter Hale 
aber untericheidet in feinen pleas of the crown (vol. I. 162 und 163) die gener. 
repris. von dem Kriege, denn wenn jene auch die Wirkung eines Krieges hätten, 
jo fönnte doch kraft derjelben feine Privatperfon die Schiffe des Gegentheils, ohne 
ein fönigliches oder obrigfeitliches Kommifjorium, nehmen und geriethen außerdem 
durch die R. Staaten nicht in einen vollitändig feindlichen Zuftand hinein. Groot 
(III. I. $ U. 3) konſtatirt, daß man ſich der R. bediene nicht blos in den bellis 
plenis, jondern auch, wo man einer violenta quaedam juris executio oder eines 
bellum imperfectum bedürfe; Wolff ($ 603) hält R. für eine Spezies des Krieges, 
ähnlich dem Privatfriege, Moſer (Verf. IX. II. 521) itatuirt R. in Kriegszeiten 
und führt beiondere R. der Kriegsmanier auf. Dagegen jentirt Bynkershoet 
l. c. bündig: „repressaliis locum non esse nisi in pace“, bezeichnet Hautefeuille 
(126) R. ala zum Frieden gehörende und Kent (I. 69) als mit dem TFriedens- 
itande verträgliche Acte und giebt Burchardi (497) zu, daß fie ihn nicht auf 


Neprefialien. 443 


heben, wenn auch jtören. Unſeres Grachtens wird der Ausdruf R. auf Eriegerifche 
Maßregeln nicht richtig angewendet, da jene den Krieg behindern jollen, und würde 
für joldhe jog. R. im Kriege das Kriegs: und nicht das R.recht gelten. Das er- 
wähnte Beijpiel der Anwendung der gen. repr. war entweder eine Selbitiolge des 
Krieges oder überfchritt in feiner Allgemeinheit, joweit PrivateigentHum auch im 
Kriege geſchützt iſt, ſelbſt das Maß des im Kriege Grlaubten. Die zweite Weife 
der Untericheidung allgemeiner R. als folcher, welche der Staat übt, und be— 
jonderer, zu deren Uebung dem Beichädigten jelbit die Berugniß erteilt wird 
Burm, 1. c.; Berner, 1. e.), it, jeitdem die R. nur durch oder im Namen 
des Staates von dazu ermächtigten Behörden oder Unterthanen geübt und nicht den 
Einzelnen für erlittenes Unrecht zu eigenem Recht und zur jelbjteigenen Uebung 
verliehen werden, mit Ausnahme der Vereinigten Staaten (Kent, I. 69), weiter 
von feiner praftifchen Bedeutung. Eine Privatperjon, welche ohne Grlaubniß der 
Staatögewalt R. in Bezug auf ein ihr widerfahrenes Unrecht unternahm, wurde 
ihon jeit längerer Zeit des Raubes oder Seeraubes für jchuldig erachtet (Wild- 
mann, I. 191; Berner, 598). Selbſt der Gebrauch von R. in geringfügigen 
Sachen aus eigener Machtvolllommenheit der Unterthanen (Mofer, VIII. 499) 
fann nicht zugeitanden werden, denn unbeftritten unterjteht, jo wie das internationale 
Rechtsmittel des Krieges, jo auch das der R. grundjäßlich der Verfügung der 
Staatsgewalt (Bartol., qu. 3; Bynkershoek, 1.c.5; Wolff, $589; Vattel, 
$ 346; Moſer, IX. II. 526; Martens, V.R., 8 255; Klüber, $ 232; 
Burm, 459; Heffter, $ 110; Oppenheim, 228; Wildmann, I. 197; 
Kent, I. 69; Phillimore, II. 22). Groot ($ VII. 3) fonftatirt zwar noch, 
daß iure gentium den Einzelnen das jus pignorandi zuſtehe, daß dafjelbe indeß iure 
civili bald von der höchiten Gewalt, bald von dem Richter erbeten werde, aber 
ihon Bynkershoek, 1. c., führt aus: „repressalias concedere solius prineipis 
esse videtur, egreditur enim ea res legitimam Magistratus potestatem et sic nunc 
ubique servatur“. Als Perſonen, welche, in Vertretung ihres Souveräns, jeine 
Gewalt für ihn auszuüben und daher auch R. anzuordnen befugt find, nennt 
Burchardi (507): Gejandte und die Kommandanten der Land» und Seemacht in 
fernen Gegenden; indeß erachten wir auch Hier eine bejondere Uebertragung des 
Rechts für jeden einzelnen Fall für erforderlich, da es fi um ein Souveränetäts— 
recht Handelt und verichiedene Fälle verjchiedene Beurtheilung und Verfügung ver= 
anlaffen können. Gefahr im Verzuge wird aber bei den fajt überallhin ausgeipannten 
Telegraphendrähten faum zu befürchten fein. Zur Ausübung der R. bedient fich 
der Staat jeiner Givil- und Militärmacht (Burchardi, 1. c.). Ebenſowenig fann 
daher zugegeben werden, daß NR. größtentheild bloße Berwaltungsmaßregeln 
(Sppenheim, 228) jeien, da fie ohne rechtliche Initiative der Staatsgewalt nicht 
geübt werden dürfen. — Die Anwendung von R. ift ſowol gerechtfertigt, wenn 
die Staatögewalt (publiziftiiches Unrecht im Gegenjag zum privatrechtlichen ; 
Burchardi, 503), ald wenn die Staatsangehörigen und domizilirten Ausländer (fchon 
nach dem guidon de la mer: „naturels, sujets et regnicoles”; Vattel, S 347; 
Burdhardi, 504 und 505; Kent, 1. 69) in ihrem Rechte verlett find und braucht 
das Unrecht nicht von Gewaltthätigfeiten begleitet zu fein (Wildmann, I 193; 
Phillimore, II. 14). Indeß kann cin von Behörden oder Staatsangehörigen 
verübtes Unrecht nur dann ihrer Staatsgewalt zugerechnet werden, wenn dieje es ge— 
billigt und jelbit Gerechtigkeit Gattel, l.e.; Wildmann, I. 191 ff.; Wurm, 459; 
Berner, 597) oder die Schuldigen zur Genugthuung anzuhalten (Twiß, I. 20) 
verweigert. Bei einer Rechtswidrigfeit der Staatögewalt ift ein nächjter, bei einer 
der Behörden oder Staatsangehörigen nur ein entfernterer Anlaß zu R. vorhanden 
(Berner, J ec) NR. zu Gunften anderer Staaten oder nicht domizilirter Fremder 
find zu verfagen (Bartol,, qu. 1.; Vattel, $ 348; Martens, V.R., $ 256; 
Manning, 110 fi; Wildmann, T. 193; Wurm, 461 ff.; Heffter, 1. c.; 


444 Repreflalien. 


Phillimore, III. 22; Burdhardi, 505 f.; Berner, 601). Bynkershoek 

gewährt fie jedoch (de foro legator. XXI. 8 V.), weil, wenn die R. überhaupt 

rechtlich begründet find, man fie auch Fremden nicht verweigern fönne, denn vor 

dem Recht gelte Fein Unterfchied der Perfon und müfe man es Allen gewähren 

(ſ. dagegen Bynkershoek jelbit im feinen qu. iur. publ. I. XXIV.) Klüber 

bat zwar ($ 233) allgemein völferrechtliche Selbithülfe zum Vortheil und auf An: 

rufen eines dritten Staates geftattet, wenn man fich vollitändig davon überzeugt 

hat, daß die Nechte dieſes Staates verleßt jeien, erkennt aber eine vollkommene Ber: 

bindlichkeit zu diejer Hülfeleiftung nur auf Grund eines Vertrages an. Sein Heraus 

geber Morſtadt bemerkt dazu: „Selbjthülfe für einen Dritten iſt contradictio in 

adjecto!* Gegen Bynkershoek und bedingt für Klüber it Wurm (461 ff), 

feinen eigenen Wideripruch motivirt er aber dadurch, daß, weil einem Staat zu 

Gunſten fremder Unterthanen fein Repräjentationsrecht zuftehe, er auch nicht ihre 

Cache zu feiner eigenen machen könne. Unter beitimmten Verhältniffen find indeß 

N. zu Gunſten Fremder als zuläffig erkannt worden, namentlich von de Witt, 

dann wenn der gewährende Souverän mit dem des Fremden ex pacto vel foedere 

zum Schuß ihrer reip. Unterthanen verbunden war; von Mofer, IX. II. 521) 

gegen das dem Feinde allürte Land; von Martens (V.R., $ 256 not. a) für 

die Schweizerfantons auf Grund ihrer Vereinigung; von Heffter ($ 110), 

Wurm (463) und Burchardi (509) für den Deutichen Bund, unter Berufung 

auf Art. XXXVII. der Wiener Schlußacte, wenn der durch R. zu unterftügende 

Bundesitaat im Nechte war. Gleiche Befugniß wird auch von Burchardi rüdfichtlie 

der Nordamerifanifchen Republif (505) behauptet, indeß hat nur der Kongreß, nicht 

der einzelne Staat, Grlaubniß zu R. zu ertheilen (Bert. der Vereinigten Staaten 

vom 17. Sept. 1787 art. I. sect. 8) und kann überhaupt den Gliedern eine: 

Bundesſtaates, welche ihrer äußeren Souveränetät zu Gunften der Gefammtvertretung 

entiagt haben, nicht ein Attribut der äußeren Souveränetät zugebilligt werden. Bei 

dem anderen von Burchardi (506) erwähnten Fall: den vorübergehenden Allianzen, 

müßte jedenfalls zunächit nur der durch eine Rechtswidrigfeit direkt betroffene Staat, 

der mit ihm vertragsmäßig verbundene aber erſt dann zur R.übung zu fchreiten be 

rechtigt fein, wenn dem erjteren die R.übung gegen den gegnerischen Staat faktiſch 

unmöglich war, alfo nur eventuell und in subsidium,. Nicht jede Allianzenſpezies 
wird aber eine jolche R.rechtövertretung involviren, ſondern nur Verträge, welche die 
gegenfeitige Unterftüßung zur Bewahrung der rechtlichen Stellung der verichiedenen 
Staaten feitiegen, bier im Friedensſtande alfo namentlich” Garantieverträge. Wenn 
aber jchon „wegen allgemeiner Verlegung des Völkerrechts, um einem unmenfchlichen, 
abjolut rechtswidrigen Verfahren ein Ziel zu ſetzen“ (Heffter, 1. c.), R. zu Guniten 
dritter Staaten berechtigt fein follen, oder wegen jeder Nechtsverlegung, jei das ver: 
letzte Recht ein vertragsmäßig oder natürlich zuftändiges (Wurm, 459) oder all- 
gemein wegen Völkerrechtsbruchs (Burhardi, 500), jo würde daraus ein bellum 
omnium contra omnes in form von R. entjtehen. Auch in Bezug auf Beleidigungen 
eines Staates find R. kein paffendes Sühnemittel, wenn Das auch nicht, wie 
Phillimore, III. 12 apodiktiich verkündet, ein anerkanntes Geſetz ausfpricht. — 
Die am meilten anerkannte Veranlaſſung zu R. ift die Juſtizverweigerung und 
Suftizverzögerung (Bartol., qu. 1; Bynfershoef, qu. iur. publ.1.c.; Wolitt, 
$ 589; Wildmann, I. 194; Wheaton, I. 276; Heffter, $ 110) oder aud, 
insbejondere nach Nordamerifanifcher Praris, die Nichtbezahlung einer Schuld durch 
Fremde an Staatsangehörige (Kent, I. 69 not. b). Die Juftizverweigerung wird 
für begründet erachtet, wenn man gegen einen Verbrecher oder Schuldner innerbalb 
einer angemeſſenen Friſt fein Urtheil erlangen kann (Groot, $ V), die Weigerung 
muß offenbar (palam denegata iustitia) ſein (Bynkershoek, 1. c.), die causa 
vera (Bartol., qu. 4: „alias iniuria“), die res minime dubia, denn im einer 
zweifelhaften ijt die Präfumtion für den Richter (Groot, 1. c.; Vattel, S 350: 


Nepreffalien. 445 


Wheaton, I 276; Wildmann, I. 197 und 198; Kent, I. 69; Philli- 
more, III. 14) aber nicht minima (Phillimore, III. 15): „non debet represal. 
remedium dari pro modico“ — „per praedictam iniustitiam ius partis totaliter 
laedatur secus si laedatur aliqualiter“, Bartol., qu 2. Eine zu R. Anlaß 
gebende Schuldforderung muß Elar und liquid jein (Battel, $ 343; Wurm, 477). 
Bei einem erlangten, aber offenbar ungerechten, Urtheil eine Juftizverweigerung für 
fonitatirt zu halten (Groot, 1. c.; Battel,$ 350), vermögen wir nicht, weil, wenn 
Recht geiprochen ift, die Ungerechtigkeit meijt nicht eben jo offenbar zu erweifen fein 
wird. — Bor der Anwendung der R. müfjen ſchon nach Beſtimmung früherer Ver— 
träge (Martens, V.R., $ 96 und Armat., I. 8 4) gütliche Verſuche angewandt 
worden jein (Mojer, vu. 501; IX. I. 524), falle, was wol jelten erforderlich 
fein wird, die Rechtsverleßung nicht jofort einer Reaktion bedarf (Heffter, 1. c.); 

insbefondere muß rechtliche Genugthuung verlangt werden (Battel, 8 343: 
Bildmann, I. 194; Oppenheim, 226; Twiß, II 20). Zur Genug 
thuungserlangung ijt eine diplomatische Vorſtellung durch den in dem verleßt 
habenden Staat refidirenden Gejandten des verlegten an den erjteren zu richten und 
wird dieje innerhalb einer bejtimmten Friſt, nach Verträgen des 17. und 18. Jahrh. 
bald 3, bald 4, bald 6 Monate (Bynkershoek, l.c; Wildmann, I. 197; 
Manning, 108 ff.; Phillimore, II. 16), nicht beantwortet, jo find R. 
anwendbar (Wildmann, I. 195; Wurm, 1. c.). Unterliegt der Beſchwerde— 
gegenjtand einer gerichtlichen Unterfuchung, jo muß zunächjt der Weg des ordent- 
lichen Prozefies beichritten werden (was England in dem Pacificofall 1850 verfäumte, 
indem es jtatt den Beichädigten dazu zu veranlaffen, ſofort an die Griechifche 
Regierung eine willfürlich berechnete Schadenserfaßforderung richtete und als dieſe 
nicht gewährt wurde, zu R. jchritt, welches abnorme Verfahren vom Oberhaufe 
mißbilligt, vom Unterhaufe nur in Verbindung mit der gefammten diplomatijchen 
Aktion des Minifteriums nicht getadelt wurde [Phillimore, III. 29]), und die 
nachgejuchte Juſtiz jowol durch alle Injtanzen, als auch endlich durch die Staats— 
gewalt verweigert jein Wildmann, I. 197; Bhillimore, III. 15; ſ. dagegen 
Bartol., qu. sec.). Auch muß eine plena causae cognitio erfolgen (Bynfers- 
boef, 1. c.; Phillimore, III. 14) und der die R. fordernde Libellus dem Ge— 
jandten des verlegt habenden Staates vorgelegt werden zur Prüfung und eventuell 
zur Beranlaffung der Genugtduung GBynkershoet, Bartol,, qu. 2: „debet 
actor offerre libellum, quando causa requirit libellum“). Dem gegnerischen Staat 
it DVertheidigung gegen die R.forderung gewährt, damit die R. nicht indebite ver- 
hängt werden (Bartol., qu. 4). Daß vor der Anwendung der R. mit ihnen 
gedroht werde (Mojer, IX., II. 525), ift wol ein objoleter usus. — Der Haupt— 
grundiag, auf welchen die R. zurückgeführt werden, iſt Vergeltung mit derjelben 
oder einer ähnlichen (Oppenheim [227] hält zur GErwiederung im Allgemeinen 
teindjelige Handlungen für jtatthaft), aber nicht beträchtlicheren als die veranlafjende 
Handlung (Mojer, XII, II. 526). Die vergeltende darf aber nicht an fich völfer- 
rechtlich unſtatthaft ſein, z. B. der Mord oder die Mißhandlung eines Geſandten 
oder ein Zuwiderhandeln gegen gültige Verträge nicht in gleicher Weiſe erwiedert 
werden (Groot, IL, XVII. S VIL; Martens, V.R., $ 253 not. a); Oppen— 
beim (227 ff.) meint dagegen, daß Unrecht mit Unrecht erwiedert werden dürfe, 
das hieße aber das Unrecht janktioniren. Gegen reprefjalienmäßige Mißhandlung 
von Sejandten ijt jowol Groot (l. ec.) als Bynfershoef (D. foro legat., XXII. 
s III), der Xeßtere will aber mit Verfagung der gejandtichaftlichen Privilegien 
vergelten. Nah Moier (IX., II. 527) find auch Gegen: R. üblich. In Ausübung 
der R. kommt am häufigiten in Anwendung die Beichlagnahme von Sachen und 
Forderungen des verlegt habenden Iheiles, welche ſich im Machtbereich des verletzten 
befinden, jeltener, namentlich in neuerer Zeit, die Verhaftung von Perfonen (Wild: 
mann, 1. 187; Wheaton, I. 275; Heffter, 1. c.; Burchardi, 507), noch 





446 Repreffalien. 


jeltener aber die Befikergreitung eines Theiles des gegnerifchen Staatsgebietes 
(Wildmann, 1. ec). Völlig unftatthaft ericheint aber für Friedenszeiten (ſ. da: 
gegen Kent, 1. ec.) die Ertheilung von Kommiffionen an Staatsjchiffe oder Privat: 
freuzer zum Aufbringen von Schiffen auf hoher See (Wurm, 479), befonders an 
leßtere, nach jaft allgemeiner Abjchaffung der Kaperei fogar in Kriegszeiten. Das 
Embargo und die in ihrer Rechtmäßigkeit anzuzweiielnde Friedensblofade (Heffter, 
$ 112, dafür, Wurm, 487, dagegen) gelten aber auch ala Mittel zu anderen 
Zweden (Heffter, 1. c.) und find von R. im eigentlichen Sinne unterichieden 
(Wheaton, 1. c.) — Somol die ältere ala die neuere Doktrin gejtatten die 
Ausübung der R. an Perfonen (Bartol., qu.; Groot, II, II. 88 V—VI; 
Wolff, 8 591; Wattel, $ 351; Mofer, VII. 500; Martens, VER. 
SS 253 und 254; Wildmann, 1. c.; Heffter, $ 110; Twiß, II. 21), wenn 
auch Schonung des Lebens verlangt wird (Groot, Wolfi, $ 595; Vattel, 
Heffter), bei gewaltthätigem Widerftande gegen die R.erefution wird aber Tödtung 
bald für gerechtfertigt angejehen (Wolif, 596 und 597; Vattel, $ 352), bald 
mißbilligt, wenn fie ala der wahrjcheinliche Erfolg der Gewaltanwendung vorher: 
zufehen war (Groot). Auch wird die Vollitrefung von Leibesſtrafen ausgeichlofien 
(Wolff, $ 595; WVattel) und überhaupt gute Behandlung verlangt GPhilli— 
more, III. 23). Die verhafteten Perfonen werden auch als Geifeln betrachtet 
(Geffter, 1. ©; Burdardi, 1. c.). Als Zweck der Verhaftung wird das 
Grlangen der Freilaſſung eines unrechtmäßiger Weile Verhafteten bezeichnet (Vattel, 
$ 351), indeß wird jene jchon frühzeitig eingeſchränkt durch zahlreiche Gremtionen. 
Ausgenommen werden Geiftliche, Gejandte, Scholaren, Jahrmarktsfaufleute, Weiber 
und Kinder (Bartol. qu. 7; Groot $ VIL; Bynkershoek, De foro legat., 
XXI. $ IV), auch das Gefolge der Gefandten (Wildmann, I. 188). 
Phillimore (III. 23) erklärt die von Groot befürmwortete Nichteremtion der zu 
unjerem Feinde geſchickten Gefandten für unftatthaft. Bartol., 1. c., führt nod 
außerdem auf als Grimirte: scriptores und bidelli, die nuncii und famuli der 
Scholaren und ihre fie bejuchenden Väter, Bußpilger und ihre Hofpizwirthe an 
Wallfahrtsorten, Zeugen und überhaupt vor Gericht Geforderte, Männer, welche zu 
ihrer Verehelihung oder zur Beltattung eines Blutsverwandten fich in ein fremdes 
Land begeben hatten und durch Wind und Wetter an einen fremden Ort Ber: 
ichlagene. UWeberhaupt dürfen R. nur an Unterthanen und bleibend, nicht zeitweilig, 
in einem Staate fich aufhaltenden Nichtunterthanen, nicht an Durchreifenden geübt 
werden (Groot, l.c.; Wildmann,l.c.; Wheaton, I. 306 ff.). Grimirt find 
auch die Sachen der Gefandten, Studirenden und Jahrmarktäfaufleute (Groot,l. c.). 
Gegen die Zuläffigkeit von R. an Perfonen remonftrirten in Anbetracht ihrer Un— 
gerechtigkeit und Härte Berner (509) und Wurm (480). Von Gütern find zu 
nächſt die des Staates zu beanspruchen, daß Das aber Schwierigkeiten verurjache, 
weil Staatsvermögen gewöhnlich dem Verkehr entzogen und jelten innerhalb fremder 
Staatägrenze fich befinde, bemerften jchon Groot (III, H. $ IL) und Gronov. 
ad Groot. NR. an Staatsanleihen treffen, da jelten der Staat ein Darleiber ift, 
in der Regel Private (Berner, 600). Indeß find für Gremtion des don Fremden 
in Staatsfonds angelegten Geldes, ſowie der öffentlichen Depofita, Vattel ($ 344): 
Wildmann (l. ec); Burchardi (507). Nach Vattel ift diejelbe gebräuchlich 
in Gngland, Frankreich u. a. Yändern, nah Wildmann (I. 189) beobachten 
fie die beiden erjteren und Spanien ſogar im Kriege. War ſolche Eremtion fchon 
zur Zeit der von firiedrich dem Großen an der Schlefischen Anleihe geübten R. 
(Martens, Caus. celebr., II. 97 ff.) anerfannt, jo haben die leßtere verurtheilenden 
Autoren (Battel, IL, VII $ 84 not. a; Wildmann, 1.189 ff; Wurm, 479: 
Phillimore, III 25 ff.) Recht und die fie vertheidigenden (Heffter [1861], 
©. 200 not. 2; Berner, 600) Unrecht. Zur Entichädigung der Privatperionen. 
welche durch R. unverfchuldeter Weife gelitten, find verpflichtet nah Groot (S VIL) 


- Requifition. 447 


und Wolff (598 und 599) allgemein diejenigen, welche zu den R. Veranlafjung 
gaben, nach Vattel (II, XVIIL $ 349) in erfter Stelle die veranlafjenden Privat: 
perionen und jelbit dann, wenn ihr Souverän die Juftiz verweigert und zum Theil 
noh dann, falls fie jelbjt zur Genugthuung fich bereit erflärten. Burchardi (508) 
will mit Recht die Entichädigungsforderung nur gegen den eigenen Staat gerichtet 
wiffen, nimmt aber, was nicht anzuerkennen, deſſen Nechtsverpflichtung dazu in 
Abrede. — Zweck der R. iſt nicht Beitrafung des Gegentheild (von Wurm, 459, 
gut nachgewiejen), jondern zu erlangende Genugtduung. Die zu gewährende Ent— 
Ihädigung eritredt fich bis zum Betrage von Schäden und Koften aus dem Weg: 
genommenen mit Rüdgabe eines etwaigen Nejtes oder Werthbetrages (Groot [l. c.]; 
Wolff [3 602]; Moſer [VII. 502]; Battel [$ 342]; Phillimore [III. 23]). 
Sowie aber an der weggenommenen Sache bis zum Betrage der Schäden und Kojten 
Eigenthum durch die bloße Thatjache der Wegnahme, wie Groot und Wolff, l.c., 
meinen, nicht erworben wird, abgejehen davon, daß eine jolche bejchränfte Eigenthums— 
enwerbung begriffswidrig ift, jo iſt auch nicht, im Rückſicht auf den auch bei der 
Ausführung von R. zu fordernden NRechtägang, einzuräumen, daß ein Staat, wie 
Vattel ($ 342) behauptet, fich ohne Weiteres der weggenommenen Sache zu feinem 
Vortheil bis zum gedachten Betrage bedienen fünne, — vielmehr findet hier eine 
Art Prändung ftatt (Heffter, 1. c.) und muß durch richterlichen Spruch die geübte 
R. legalifirt, der Betrag der Aniprüche firirt und darf die Entichädigung nur dann 
aus dem weggenommenen Gute zuerkannt werden, wenn die veranlafjende Rechts- 
verlegung nicht filtirt oder etwaiger Schaden nicht anderweitig eriegt wurde 
(Burchardi, 508; Wildmann, I. 193; Heffter, $ 110). Nach gewährter 
Genugthuung oder Entichädigung ceffirt aber die R. vollitändig. — Nicht zu be— 
zweifeln iſt e&, daß R. alö ein milderes, nur von in beichränttem Maß nachteilig 
wirkenden Folgen begleitetes, internationales Rechtsmittel dem Kriege vorzuziehen 
feien, indeß muß diefer eintreten, wenn der fragliche Nechtsanfpruch jtreitig ift und 
die geübten R. nicht den gegnerifchen Staat zur Genugthuung veranlaßten (Battel, 
$ 354; Berner, 596). Mißbraucht werden aber R., wenn unter dem Namen 
derielben Gewalt geübt wird, um einer Unterhandlung über ein diefjeits in Anfpruch 
genommenes und jenjeitig bejtrittenes Recht eine entjcheidende Wendung zu geben 
(Wurm, 484). 

Xit.: Bartolus a Saxoferrato, Tractatus represaliarum, 1354. — Bynkers- 
hoek, Quaestionum juris publici libri duo, 1737. — Wurm, Art. Völferrechtliche ee 
in Rotted’3 Staatäler. 1843 Bd. XIV. — Berner in Bluntſchli's StaatsWört. B. 
1864 Bd. VIH. Art. Reprefialien. — Burchardi in Rotteck's Staatäler. 1865 
2b. XII. s. eod. v. — Mas Latrie, Du droit de marque ou droit de repr&sailles au 
moyen äge, Paris 1866. — Die völferrechtlichen Gefammtwerfe von Groot, Wolff (ius 
gentium), Vattel (ed. 1839), 3. J. Mojer (Verjuch des Europäilchen Völkerrechts, Th. VIII. 
u. IX. 8b. II) Martens (Ausg. von 1796), Klüber (Ausg. vd. 1851), Wilbmann, 
Manning, Heffter Sur v. — Oppenheim (1866), heaton (lém. d. droit 
internat., 1848), ent, Phillimore und Twiß. — Repreſſalienfälle ſ. bei Moſer, VIII. 
503 ff. u. IX. II. 527 ff., Phillimore, XII. 24 ff., u. Calvo, I 805 ff. 

A. Bulmerinca. 

Mequiſition (völterrechtlich). Mit dem, in diefem Sinne angeblich durch 
Waihington in Aufnahme gebrachten Ausdruck R., bezeichnet man die Auflage von 
Kriegsleiftungen in Feindesland, zu welcher nach Kriegsgebrauch die Militärautorität 
der vordringenden Offtupationsarmee gegenüber den Bewohnern der bejegten Gebiete 
und Ortſchaften als befugt erachtet wird. Sie untericheidet fi) von der Kriegs— 
tontribution (f. diefen Art.) dadurch, daß fie nicht eine Geldzahlung, jondern 
Lieferungen und Dienftleiftungen zum Gegenjtande hat; und daß fie nicht nach 
Willkür auferlegt und bemefjen wird, fondern in der Nüdficht auf ein vorhandenes, 
anderweitig nicht zu befriedigendes militärisches Bedürfniß Motiv und Schranke 
findet. Ihre Iandesrechtliche Analogie findet die Friegsrechtliche R. in denjenigen 
Militärlaften, die bei eintretender Mobilmachung ein Staat feinen eigenen An— 


448 Reguifition. 


gehörigen ala jog. Kriegsleiitungen (j. diejen Art.) jubfidiarifch auferlegt. Da 
eine Okkupationsarmee thatiächlich nicht immer in der Lage ift ihren Unterhalt durd 
Magazınverpflegung zu beftreiten, jo wird nach dem R.ſyſtem die Laſt diejes Unter: 
halts von dem eigenen Yande, injoweit es überhaupt ausführbar ift, auf das bejeßte 
Gebiet abgewälzt, und die Koftenausgleihung dem künftigen Friedensſchluſſe über: 
laſſen. In diefer modernen Geftalt ift die R. zuerſt durch die Franzöſiſchen Patrioten 
der Revolutionskriege ala Konfequenz ihrer neuen Taktik zu breiter Anwendung und 
von Napoleon in ein großartiges Syſtem gebracht worden. 

Wenn jchon im eigenen Lande die mobilifirten Armeen nicht der Ermächtigung 
entbehren fünnen, Dienjte „aller Art“ und Leiſtung aller Gegenjtände als Kriegs 
laften den Gemeinden und Einzelnen anzufinnen (Deutjches Kriegsleiſtungsgeſetz vom 
13. Juni 1873, 8 3), jo wird um jo weniger von einer gegenftändlichen Bes 
ichränfung des Rechtes zur R. im Felde die Rede jein können. Nur eine Weber: 
jchreitung des durch das ſpezielle Bedürfniß marjchirender oder fantonnirender Truppen 
gegebenen Maßes, desgleichen eine ohne dienftliche Befugniß, insbejondere um der 
Bereicherung willen, gemachte R. würde, als unter den Gefichtspunft der Plünderung 
fallend, der Kriegsmanier wideriprechen. Beides wird demgemäß in den Yandes- 
militärgejeßen unter Strafe geitellt. Im Wege der R. wird, jonach beichafft die 
Ouartierleiftung nebſt Stallung, die Naturalverpflegung (daß Gigarren und Wein 
fein R.objeft jeien, behauptet wunderlicher Weife Calvo, Droit intern., 2% &d., 
$ 909); jodann Fourage, Einräumung von militärisch nothiwendigen Grundjtüden, 
Voripann und uhren, Arbeitäleiftungen und Dienste (ſoweit die Forderung derielben 
nicht eine unehrenhafte Handlung zumuthen würde) aller Art, Lieferung von Materialien 
für militärische Bedürfniffe, Flußfahrzeuge, und überhaupt Alles, was im Intereſſe 
der Kriegführung erforderlich werden fann, ſofern die nöthigen Objekte in dem 
offupirten Gebiete oder Orte nur aufzutreiben find; und jofern nicht vorgezogen 
wird gewiffe Heeresbedürfniffe, insbejondere Arbeitsleiftungen gegen Vergütung, alio 
durch Abjchluß von Verträgen, zu beichaffen. In Uebereinjtimmung hiermit jormulirte 
das Brüffeler Projekt der Kriegarechtsdeflaration von 1874, Art. 40. La propriete 
privee devant ötre respect6e l’ennemi ne demandera aux communes ou aux 
habitants que des prestations et des services en rapport avec les necessites de 
guerre généralement reconnues, en proportion avec les ressources du pays et qwi 
n’impliquent pas pour la population l’obligation de prendre part aux operations 
de guerre contre leur patrie. — Um nun aber der R. den Charakter der Kegel» 
lofigfeit zu nehmen, wird die eine ſolche ausjchreibende Militärbehörde fich nicht an 
die einzelnen Bewohner der offupirten Ortſchaften und Bezirfe wenden können, 
jondern ähnlich, wie dies für die KHriegsleiftungen im eigenen Lande geichieht, die 
vorhandenen fommunalen und adminiftrativen Verbände verpflichten, denen dann die 
Repartition auf die Gemeinde- oder Bezirksinſaſſen ſowie die Beitreibung der ge 
forderten Gegenjtände überlaffen wird, wobei jogar die Abfindung aller oder gewiſſer 
Naturalleiftungen durch ein Geldäquivalent, alfo durch Kontribution vereinbart werden 
mag. In diefem Falle nimmt alfo die im R.wege auferlegte Leiftung den juriftiichen 
Charakter einer durch die feindliche Militärgewalt einem örtlichen Verbande auferlegten 
obligatorischen Verpflichtung an. Im Falle aber, daß die im Lande vorgefundenen 
Givilbehörden ihre Mitwirkung zur Beichaffung und zu gleihmäßiger Vertheilung der 
die Bevölkerung treffenden Kriegsopfer verfagen oder zu einer folchen die Gelegenbeit 
fih nicht bieten follte, wird allerdings die Militärauftorität diefe Maßregeln jelbft 
treffen müfjen, ich an die einzelnen Bewohner und deren Vermögensftüde jelbit zu 
halten haben und ihre Forderungen jei e8 durch Strafandrohungen jei es unmittel- 
bar im Zwangswege zur Ausführung bringen. Immerhin liegt in beiden Fällen 
eine gewiffe Analogie zur Erpropriation vor. Es handelt ſich um Gingriffe in die 
Privatrechtsiphäre der Individuen, welche im Interefje der an die Stelle heimiſcher 
Staatsgewalt ſich ſubrogirenden Militärgewalt dann verfügt werden, wenn ohne 


Reſervationen. 449 


ſolche Eingriffe jene Intereſſen nicht oder nicht ausreichend befriedigt werden können. 
Und diefem Gefichtöpunfte entjprechend Liegt der requirirenden Behörde unter allen 
Umftänden die anerkannte Verpflichtung ob, über den Empfang der eingeforderten 
Seiftung eine ordnungsmäßige Quittung (einen Bon) auszuftellen, durch welche die 
in Anipruch genommene Perfon oder Gemeinde in den Stand gejeßt wird, eine 
Gntichädigungsforderung für das von ihr Geleiftete zu belegen. Cine Verſagung 
der Ausstellung jolcher Anerkenntnifje würde die Grenze zwijchen rechtmäßiger Kriegs- 
leitung und Brandichagung verwijchen, ohne deren Aufrechterhaltung ein völferrecht- 
licher Kriegszuſtand nicht gedacht werden fann. Die weitergehende Forderung, daß 
die zur Maßregel der R. greifende Militärmacht völferrechtlich auch verpflichtet jei 
auf Grund der eingereichten Liquidationen ein jörmliches Entſchädigungsverfahren 
noh während des Sriegszuftandes oder gar nach Beendigung defjelben eintreten zu 
laffen, entipricht nicht dem gegenwärtigen Kriegsgebrauch, wie fie denn auch unaus— 
führbar jein würde. Die Frage, wer der an letter Stelle zur Tragung der Kriegs— 
fojten verpflichtete Staat jei, fommt jchließlich durch den- Friedensvertrag mittelbar 
oder unmittelbar zur Gnticheidung. Die Entichädigung, die von dem mit Kriegs— 
leiftungen durch den Feind heimgejuchten Gebiete beanjprucht wird, zu bewilligen 
und zu bemejjen, ijt Sache des Staats, dem dafjelbe verbleibt oder zugeiprochen 
wird. Iſt er Sieger, jo entnimmt er die Mittel hierfür aus der ihm bewilligten 
Kriegskoftenentichädigung. Iſt er nicht Sieger, jo hat er nebjt den übrigen Kriegs— 
ihäden auch dieje Beträge auf die Gejammtheit ausgleichend zu übernehmen. Bei 
den Brüfjeler Konferenzen von 1874 bemerkte treffend der Deutjche militärische Sach» 
veritändige: Celui qui sera vainqueur comme celui qui sera vaincu, aura le devoir 
d’indemniser ceux de ses sujets qui auront en leur possession des quittances 
delivrees en temps de guerre. 


Lit.: Böning, Die Verwaltung des Generalgouvernements im Elijah, 1874, ©. 54 ff. — 
Rolin-Jaequemyns in ber Revue de droit intern., III. p. 331 ss. — Actes de la con- 
ference r&unie à Bruxelles, 1874, pour regler les lois et coutumes de la guerre, in 
Martens, Recueil des Traites, IIme serie, IV. (1879) p. 121—138, 161. 

F. v. Martip. 


Reſervationen, päpitliche, reservationes papales (Thl. I. S. 660), 
d. h. das von den Päpſten ſeit dem 13. Jahrhundert in Anſpruch genommene Recht, 
beſtimmte Klaſſen von kirchlichen Aemtern zu beſetzen, welches theoretiſch auf das 
freilich bis dahin niemals ausgeübte angebliche oberſte Kollationsrecht des Papſtes 
auf ſämmtliche Benefizien gegründet wurde, und dazu dienen ſollte, die Herrſchaft 
über die abgefallene Obedienz zu befeſtigen und der Kurie eine reichere Einnahme— 
quelle zu verſchaffen (j. den Art. Annaten). Reſervirt, alſo der päpſtlichen 
Beſetzung vorbehalten, worden find namentlich im Laufe der Zeit 1) die beneficia 
in curia Romana vacantia, d. 5. alle, welche durch den am Sik der Kurie oder 
innerhalb eines nur zwei Zagereifen davon entfernten Bezirkes erfolgten Tod ihres 
Inhabers erledigt wurden; 2) die der höheren und niederen KHurialbeamten, wenn 
diefe im aktiven KHurialdienit jtarben,; 3) die Benefizien, deren Bejehung in Folge 
der KHafjation der Wahl, bzw. Nichtadmijfion der Pojtulation erfolglos geblieben, 
iowie Diejenigen, welche durch eine vom Papft vorgenommene Promotion, Depofition, 
Trivation und Suspenfion, oder eine vom Papſte acceptirte Nefignation ihrer In— 
baber und durch Annahıne eines beneficium incompatibile (j. Th. I. S. 656) 
vafant wurden. 4) Mit Rüdficht auf eine von Martin V. auf dem Gonjtanzer 
Konzil abgegebene Erklärung, außer den jchon rejervirten Aemtern nicht mehr ala 
wei Drittheile der jonitigen Benefizien vorbehalten zu wollen, wurden von den 
Päpjten demnächit die in den Monaten Januar, Februar, April, Mai, Juli, Auguft, 
Oftober und November (jog. menses papales) zur Erledigung kommenden Aemter 
referpirt. Den Bijchöfen, welche Refidenz hielten, war aber noch die Verleihung in 
wei weiteren Monaten, Februar und Mai, gejtattet; ſpäter ift diefe Vergünjtigung 

v. Holtendorff, Ene. II. Rechtslexitkon II. 3. Aufl. 29 


| 


448 

—8 
gehi J jnche ungeraben Monaten (Jannar, 
ein * gtapfte alle in De yenkalls menses papales genannt) 
M ———— Dh De und Bo in den gleichen Monaten erledigten 
br io nodiñigit⸗ Pulli, we — 9 Oberen vorbehalten fein ſollten (og. 
€ mir, 2 — mb die ante, momit fich aljo die häufig dafür aud 


pafont Miden ——— ber a nicht vollftändig dedt). Den Klagen wegen 
per DT mensium, " onses PP, auf den Konzilien zu Konftanz und zu Baſel 
ar — — 9 
u 28 
ebret permähi a bo —* in den Ettravaganten enthaltene und jonftig 
* Me dure hat das Wiener oder Aſchaffenburger Konkordat 
veftgcheh —— aut tieland im MWefentlichen den früheren Zuftand wieder: 
ri —— jr — a ae ig ir. * 
nd en Rechten für einzelne Kirchenfürſten — bis zur Ant 
engel nähe eines geblieben. Bei der MWiederaufrichtung der katholiſchen 
— —5 piefem Jahrhundert iſt aber eine erhebliche Aenderung eingetreten. 
DU ran die R. in der Oberrheinifchen Kirchenproviny und in 
wena die 3 
Kir efeitigt gu Bayern iſt dagegen dem Papſt die Propſtei in jedem Dom⸗ 
pebalten die Ernennung auf die Domberrnitellen in den päpftlichen 
fapitel * dem König durch Indult übertragen worden; in Altpreußen 


zu Aa iere jedoch der Papſt dem König die Nomination zugeſtanden hat. In 

weht eich, wo ſchon die Joſefiniſche Geſetzgebung alle Rejervate aufgehoben 

Oeſte iſt wieder durch das jetzt allerdings beſeitigte Konkordat dem Papſt die erite 

—5 an fämmtlichen erzbiſchöflichen und biſchöflichen Kirchen vorbehalten worden. 

4 + Phillips, Kirchenrecht, V. 470 ff. — Jacobſon in Herzog's NRealenchklopäbie 

sür — Theologie, IX. 358 ff.; XI. dis * _ B. Diniehu ;. Kirchenrecht, ®b. IL 
&. 118-167. P. Hinidius. 


Reſervatrechte (Sonderrehte). Die Deutjche Reichaveriaffung handelt 
in Art. 79, Abſ. 1 von Abänderung der Verfaffung überhaupt, in Abf. 2 von Ab: 
änderung derjenigen „Vorjchriften der Reicheverfaffung, durch welche bejtimmte 
Rechte einzelner Bundesftaaten in deren Verhältniß zur Gefammt- 
heit feſtgeſtellt ſind.“ Dieſer Abf. 2 war in der Nordbdeutichen Bundes- 
verfaffung nicht enthalten. An denfelben hat fich die verwidelte und beftrittene 
Lehre von den „Rejervatrechten“ geknüpft, für deren Behandlung wir jegliche: 
Analogon in der Gejehgebung anderer Staaten, fpeziell der beiden anderen Bundex- 
ftaaten, entbehren. 

I. Begriff. Die „Vorfchriften“, von welchen Art. 79? Handelt, werden in 
der Literatur jehr verichieden umgrenzt. Nach der Meinung mehrerer Staatgmänner 
und Schrüffteller (von riefen, Riedel, Seydel) gehören zu jenen Vorſchriften 
einmal alle diejenigen Sätze, in welchen die RVerf. pofitiv einzelne Bundesitaaten 
als mit beitimmten Rechten auägejtattet erwähnt, jodann aber negativ der geſammte 
Umkreis derjenigen Rechte, welche das Reich nicht in feine eigene Kompetenz gezogen, 
jondern den Bundesgliedern belafien Hat. Es fallen nach diefer Meinung unter jene 
„Borichriften“ insbejondere auc die Stimmrechte der einzelnen Bundesglieder im 
Bundesrath (RVerf. Art. 6), die Vorrechte der Krone Preußen (RVerf. Art. 11 Fi. 
37, 63 u. a. m.), die organifatorifchen Bejtimmungen über VBorrechte einzelner 
Bundesglieder in den Bundesrathsausſchüſſen (RBerf. Art. 8). Die negative Seite 
diefer Anficht würde aber zu dem Rejultate führen, daß Ab. 1 de Art. 78 voll: 
ftändig illuforifch wäre, indem jede KHompetenzerweiterung, da eine ſolche immer 
in die den Bundesgliedern verbliebenen Rechte eingreifen muß, durch den nad 


Reſervatrechte. 451 


Abi. 2 zuläſſigen Einſpruch des „berechtigten“, alfo eines jeden Bundesgliedes ver— 
hindert werden könnte. 

Diefe Meinung entbehrt in ihrem negativen Theile durchaus aller Begründung, 
wie fi) aus den Reichstagsverhandlungen über die Materie und überhaupt aus der 
ganzen Struktur des Reiches ergiebt. Die um den Abi. 1 von Art. 79 5. 3. 
gerührten prinzipiellen Kämpfe im fonjtituirenden Norddeutichen Reichstag beweiſen 
genügend, daß es unzuläffig ift, den Abſ. 1 nunmehr vermtittelft des erjt im Jahre 
1870 in die Verfaffung aufgenommenen Abſ. 2 gegenjtandslos zu machen. Nach 
ihrer pofitiven Seite aber entbehrt dieje Meinung gleichiall® der Begründung, da 
der zu interpretirende Sag nicht von „Vorſchriften — — der einzelnen“, jondern 
nur von „Vorfchriften — — einzelner Bundesglieder“ fpricht. — 

Eine zweite Meinung verzichtet auf einen prinzipiellen Gefichtspunft für Feſt— 
fellung jener „Borjchriften“ , umgrenzt den Begriff vielmehr nur durch pofitive 
Spezialifirung. (Den Verſuch, diefe Spezialifirung in die Veriaffung ſelbſt aufzu— 
nehmen, machte im Reichstag — leider vergeblid — der Abg. Profi. Hänel). Ein- 
verftanden find die zu dieſer Gruppe gehörigen Schriftiteller (Hänel, Löning, 
Meyer, v. Martik) darin, daß die den einzelnen Bundesgliedern nach Feſtſtellung 
der Reichskompetenz generell verbliebenen Rechte nicht zu den „Vorſchriften“ im 
Sinne von RVerf. Art. 79° gehören. Welche Rechte aber pofitiv unter jenen Be— 
griff fallen, wird verichieden beitimmt: jo werden die Präfidialrechte von einigen 
darunter jubjumirt (Zöning), von anderen nicht, ebenjo die Vorrechte einzelner 
Bundesglieder im Bundesrath (Hänel, Yöning), die Stimmrechte aller Bundes» 
glieder im Bundesrath (Löning). — 

Eine dritte Meinung (Meyer, Zorn) findet den prinzipiellen Gefichtspunft für 
Feſtſtellung der „Vorſchriften“ darin, daß Abi. 2 des Art. 79 eine Ausnahme 
von der ordentlichen Reichsorganijation ftatuiren wolle, was ſich aus feinem Sinn 
an fich, feiner Hiftorischen Genefis, jeinem Verhältniß zur RVerf. Art. 79, Abi. 1, 
jowie aus den Verhandlungen des Neichdtages ergebe. Nach diefer Meinung ift 
demnach begrifflich Alles aus jener Beitimmung auszufcheiden, was zur ordent— 
lichen Organifation des Reiches gehört, auch wenn dies den Charakter von Bor: 
rechten für einzelne Bundesglieder trägt, jo die Präfidialrechte Preußens, die Vor— 
rechte einzelner Bundesglieder im Bundesrath, ebenjo aber auch die Stimmrechte 
aller Bundesglieder im Bundesrath. Die „Vorſchriften“, welche die RBerf. 
Art. 79? im Sinne hat, tragen danach rein den Gharakter von Ausnahms— 
rechten gegenüber derordentlichen Reihsorganijation, von ſtaats— 
rechtlichen Privilegien gegenüber dem Gemeinen Reichsrecht. 

Diefe Ausnahmärechte find, nach den berechtigten Staaten geordnet: 

1. Die Eremtion der Stadt Hamburg „mit einem dem Zweck entiprechen- 
den Bezirke ihres oder des umliegenden Gebietes“ von der Zollgefeßgebung des 
Reiches (RVerj. Art. 34); Soweit der Freihafenbezirk nicht „Stadt“=gebiet von 
Samburg betrifft, ift derjelbe durch Verordnung des Bundesrathes abzugrenzen. 

2. Das sub 1 jpezialifirte Recht gilt ebenjo für Bremen (RVerf. Art. 34). 

3. Die Eremtion Oldenburgs vom Marimaljage der Chauffeegelder (Zoll« 
vereind-Vertr. vom 8. Juli 1867, Art. 22 verb. mit RVerf. Art. 40). 

4. Die Eremtion Badens von den Reichögejeßen über die Beſteuerung des 
Bieres und Branntweins (RVerf. Art. 352). 

5. Die gleiche Eremtion wie Baden hat auh Württemberg (RVeri. 
Art. 35°). Diefer Staat ift ferner nach näherer Maßgabe von RBeri. Art. 52 erimirt 
von Der Reichägejegebung über Poſt- und Telegraphenweien, joweit fie nach der RVerf. 
Art. 48—51 zu üben ift (vgl. dazu noch Württ. Schlußprot. 3. 2); Württemberg ijt 
ferner nad) Maßgabe von RBerf. Art. 45? verb. mit Schlußprot. 3. 2 erimirt von der 
Reichseiſenbahngeſetzgebung; endlich von der Reichsmilitärgejeßgebung nach Maßgabe der 
Militärkonvention vom 21.25. November 1870 (RVerf. Schlußfag zu Abjchn. XI). 

29 * 


452 Reſervatrechte. 


6. Noch zahlreichere Exemtionen gegenüber dem Gem. Reichsrecht beſtehen 
für Bayern. Dieſer Staat hat 1) die gleiche Eremtion. wie Baden und Württem— 
berg Hinfichtlich der Beiteuerung von Bier und Branntwein; 2) die gleiche Eremtion 
wie Württemberg bezüglich der Poſt- und Telegraphengeießgebung ; 3) die Eremtion von 
der Reichseiſenbahngeſetzgebung, ſoweit nicht die Ausführung von RVerf. Art. 41, 46° und 
47 in Frage fteht, 4) die theilweiſe Eremtion von der Militärgeſetzgebung (Verſailler 
Vertr. II. $ 5 und XIV. Schlußſatz zu Abich. XI der RVerf.); 5) die (aller: 
dings nur formelle) Gremtion vom Reichsmilitäretat (RBerf. Art. 69, 71, 72 verb. 
mit Verſ. Vertr. III. S 5 und XIV., dazu Schlußiag zu Abſchn. XI der Ren); 
6) die Gremtion von der Heimaths- und Niederlafiungsgejeggebung des Reiches 
(RVerf. Art. 4, 3. 1; Der. Schlußprot. IID. 7) Außerdem ift Bayern nod 
erimirt a) von der Neichägeiekgebung über Jmmobiliarverficherungsweien (Ber. 
Schlußprot. IV.), b) von der Thätigfeit der Reichsnormaleichungskommiſſion (Ge. 
vom 26. November 1871, $ 3), ec) von der Thätigkeit der Reichägejandticaiten. 
joweit Bayeriſche Spegialgejandtfchaften fungiren (Verſ. Schlußprot. VII, VII). 
Die sub 7 a—c bezeichneten Gremtionen haben feine verfaffungmäßige Anerkennung 
empfangen, auf fie trifft demmach auch die RVerf. Art. 78° nicht zu; da aber die 
Gremtionen sub 7 a und c lediglich auf Vertrag bis zur Stunde beruhen, können 
fie ebenfalls nur mit Zuftimmung Bayerns abgeändert werden. 

Dagegen gehören die Präfidialrechte der Krone Preußen, das Recht Bayerns 
auf ein Mehr von zwei Stimmen gegenüber den anderen beiden KHönigreichen, die 
Vorrechte von Bayern, Württemberg und Sachien hinfichtlich der Zuſammenſetzung 
der Bundesrathsausichüffe, das eventuelle Recht Bayerns auf den Vorfig im Bunde 
rathe (R.Berf. Art. 6, 8, 11—19; Bayer. Schlukprot. IX.) nicht zu den Sonder: 
rechten im Sinne von Art. 78? der RVerf. 

II. Die Abänderung der „R.“ Für die frage der Abänderung der R. 
fommt primär in Betracht der Nechtätitel, auf welchen diejelben beruhen. Nach dem 
allgemeinen ftaatsrechtlichen Grundſatz, daß die Abänderung eines Rechtsſatzes nur auf 
demſelben Wege erfolgen darf, auf welchem der Rechtsſatz entſtanden iſt, müſſen 
R. welche nur auf den völferrechtlichen Verträgen vom November 1870 beruhen 
(vgl. Württ. Schlußprot. 3. 2; Bayer. Schlußprot. 3. IV., VII, VIIL), ohne in die 
Verfaffung aufgenommen worden zu jein — eine Anomalie, welche bedenflicher Weiſe 
nicht vermieden wurde, während im Webrigen jene Verträge durch ihre Erfüllung mit 
Aufrichtung des Reiches und Erlaß der VBeriaffung erlojchen — auch wieder au 
dem Vertragsweg abgeändert werden: wenigitens fann die gefordert werden; un: 
zweifelhaft aber würde ein unter Zuftimmung des berechtigten Bundesgliedes gegebene: 
Geſetz für Herftellung des Nechtöeffeftes der Abänderung ausreichen. Iſt der Titel 
eines R. Verordnung (vol. 3. B. Laband, Staatörecht, I, 1141), jo erfolgt 
die Abänderung durch Verordnung, ift er Gejeh durch Geſetz (vgl. RGeſ. vom 
26. November 1871, die Maß- und Gewichtsordnung betr., $ 3), tft er Ver— 
faſſungsgeſetz durch Verfaſſungsgeſetz. Für die letztere Gruppe aber enthält die 
RVerf. Art. 79° noch eine befondere Norm: R., welche „Vorfchriften der RBer.” 
find, „Lönnen nur mit Zuftimmung des berechtigten Bundesjtaatts 
abgeändert werden.“ Einverſtändniß herricht hinfichtlich der Interpretation diei® 
Sates darüber, daß die Form der hiernach erforderlichen „Zuftimmung“ Line andet 
iſt als die regelmäßige Form der Abſtimmung im Bundesrath: der „Nerechtigt 
Bundesſtaat“ muß fich unter der die Annahme votirenden Mehrheit im Bindesratt 
befinden und kann, falls dies nicht der Tall, jede Mehrheit hinfällig machen. Yeb= 
hafter Streit aber wird geführt um die Interpretation der Worte „Zuftimmurn des 
berechtigten Bundesjtaates“. 

Die Mehrzahl der Schrütfteller ift der Anficht, daß diefe Zuftimmung ledigch 
in der bejahenden Erklärung im Bundesrath zu beitehen brauche, welche der jtimt- 
führende Bevollmächtigte frait der ihm von feinem Landesherrn ertheilten Inftruttid 


Reſervatrechte. 453 


abgebe; die Inſtruktion aber jei ausfchließlich Sache des Yandeshenn, jomıt fünne 
von irgendwelcher Betheiligung parlamentarischer Faktoren an jener Grflärung feine 
Rede jein. Dieje Anficht wird nach offizieller Erklärung im Reichsſtag (v. Yuß, 
v. Mittmacht) von der Bayerischen und Württembergiichen Regierung getheilt. Die 
Schriftiteller diefer Meinung differiren nur injofern, als einige e8 allerdings für 
ſtatthaft halten, durch Landesgejeß die „Zuſtimmung“, welche Art. 79, Abſ. 2 
tordert, von der Genehmigung der Einzellandtage abhängig zu machen. Anträge 
auf Erlaß derartiger Landesgejege wurden jowol in Bayern als in Württemberg aus 
der Initiative der Kammern gejtellt, fcheiterten aber an dem entichiedenen Wider- 
ipruch der Negierungen, welche Yandeögejeße des oben bezeichneten Inhaltes ala 
reichöverfaflungswidrig erklärten. Die Schriftfteller find theilweife der nämlichen An— 
ſicht Gänel, Seydel, Thudichum), theilweile dagegen halten jie, wie bemerkt, 
Gejege jenes Inhaltes für reichsverfaffungsmäßig zuläffig, dermalen aber bei Nicht: 
vorhandenjein von folchen Gejegen die unbeſchränkte Inſtruktionsbefugniß des Landes— 
bern auch für Zuftimmungserflärungen zur Aufgabe von R. für pofitives Reichsrecht. 
Geht man jedoch von dem Wortlaut des Art. 79, Abf. 2 der RVerf.: „Zus 
itimmung des berechtigten Bundesſtaates“ aus und erwägt hierzu, daß die Er- 
theilung der Inſtruktion an die Bundesrathabevollmächtigten vom Reichsrechte gar 
nicht berücfichtigt, jomit vollitändig dem Yandesrecht verblieben it, jo wird man 
zu dem Refultate fommen müfjen: 1) Landesgeiege, welche die Inſtruktionsertheilung 
an die Bundesrathabevollmächtigten irgendwie, insbejondere aljo etiva für den all 
der Aufgabe von R., von einer Mitwirkung der Volfövertretung abhängig machen 
würden, können jedenialla nach Reichsrecht nicht für unzuläffig erklärt werden; 
2) da folche Yandesgejege zur Zeit nirgends erijtiren, tft für die Interpretation des 
Art. 79, Abſ. 2 zu beachten, ob das im konkreten alle in Frage jtehende R. nad) 
Sandesrecht der Sphäre der Geſetzgebung angehört oder nicht (Vaband, Meyer, 
Mohl, Zorn); ift eriteres der Fall, wie beijpielaweije bei dem Bayer. R. der eigenen 
Heimaths- ebenjo der eigenen Bierbejteuerungsgejeggebung (RBerf. Art. 4, 3. 1, 
Art. 35, Abi. 2), jo bedarf es, damit „der berechtigte Bundesſtaat“ mit Rechtäfrait 
im Bundesrath die „Zuſtimmung“ zu einer Abänderung erklären fünne, unbedingt 
der vorhergehenden Genehmigung der Volfövertretung ; ohne dieje Genehmigung fann 
in jolchem Falle eine rechtögültige Inſtruktion gar nicht ertheilt werden. Daraus 
würde fich die weitere Konjequenz ergeben: die Erklärung der „Zuſtimmung“ ohne 
erholte Genehmigung der Volfsvertretung iſt nichtig. Um aber die Gventualität 
einer derartigen Nichtigkeit feines Beichluffes zu vermeiden, müßte dem Bundesrath 
die Pflicht obliegen, die Inſtruktion in diefem alle auf ihre Rechtsgültigkeit zu 
prüfen, was thatjächlich keine Schwierigkeiten bieten würde, aber eine Abweichung 
von der Regel enthält, daß der Bundesrath die Initruftion feiner Mitglieder nicht 
zu prüfen habe. Soweit aber die Sphäre der Gejeßgebung nicht in Frage jteht, 
kann der Yandesherr jeine Bevollmächtigten zum Bundesrath frei inftruiren, auch 
im Sinne von Art. 79, Abi. 2, was beijpielsweije binfichtlich eines Iheiles der 
militärischen R. von praktiicher Bedeutung iſt. Daß die Injtruftion in den kon— 
ftitutionell verfaßten Ginzeljtaaten auch Hier der Kontrafignatur. eines Miniſters be: 
darf und daß hierdurch die damit nach Yandesjtaatsrecht begründeten Rechtsfolgen 
eintreten, iſt nicht zu bezweifeln. 
— Lit: Laband, Staatsrecht, I. SS 11, 12; Derjelbe in Hirth's, Annalen 1874 
1487 fi. — €. Yöning, ebenda 1875, ©. 337 f. — Dänel, Stubien, I. $$ 12—14. — 
er Lehrbuch, S 164. — v. u 3 in Zeitichr. für Staatswiflenihaft XXXI. 
©. 569 fi. —Senbel, ae 266 fi. — Riedel, Stommentar, 164. — v. Held, Reichd- 
verfafſung, 155 ff 8. Müller mn Hirth'3 Annalen 1876 ©. 846 f.— vd. Pözl, 
“ Maper. — zrecht N m. — vd. Rönne, Staatöreht, II. $ 65. — Thudichum in 
„x Solpenborff’ Jahrbuch L 48. — Hauier, nern s 15. — ern 


Pr Stubien, 81. — v. Mopl, Reichäftantsrecht, S orn, Staatärecht, 
orn. 
MP 5. 


/ 


454 Neiervefonds — Nefidenzpflict. 


Meſervefonds ift der Vermögensbeſtand, welcher bei außergewöhnlichen Aus 
gaben und Ausfällen feine Verwendung finden foll; bei Aftiengejellichaiten und 
Kommanditgejellichaften, Genofjenichaiten, Verſicherungsgeſellſchaft auf Gegenſeitigleit 
u. ſ. w. auf Aktien die Vermögensanfammlung aus den Yahresbetriebsüberichüfien 
zum vorgedachten Zwed. Das Franzöſiſche Gefellichaftsgeieg vom 24. Juli 1867, 
Art. 36; Dekret, die Verficherungägejellichaften betr., vom 22. Jan. 1868, Art. 4; 
Belg. HGB. Art. 62 haben zwangsweije die Anjammlung eines R. beſtimmt; daz 
Engliſche Gejellichaftägejeg von 1862 (Statut $ 74) und das Allgemeine 
Deutihe HGB. Haben es der autonomen Beitimmung überlaffen. Der ſtatu— 
tariiche Vorbehalt eins R. kann als Regel angenommen werben. Wenn die 
allmähliche Verſtärkung der Betriebsmittel für die fortjchreitende Entwidelung der 
Mehrzahl von Aktiengejellichaiten erforderlich erfcheint, jo iſt es ein Verkennen der 
Beitimmung, einen R. zu diefem Zweck anzujammeln; e& mag das allerdings nament- 
lich bei Banken gejchehen, es hat das aber die ausdrüdliche Folge, daß der R. alä 
umlaufendes Kapital Verwendung findet und ohne gejonderten Beſtand nur einen 
Bilanzpoften bildet. Das Deutiche HGB. beftimmt in Art. 217, daß der ſtatutariſche 
Yahresbeitrag zum R. entnommen werden foll, bevor eine Dividende vertheilt werden 
darf; für die Bilanz ift im Art. 239a beitimmt, daß der Betrag des R. unter dir 
Paifiva aufzunehmen ift, was fich ala nothwendig ergiebt, weil anderweit der Betrag 
des R. als vertheilter Jahresgewinn erjcheinen müßte. Der R. ift den Gläubigen 
gegenüber freies Gejellichaftsvermögen, auf deren Erhaltung oder bejtimmte Ver— 
wendung fie fein Recht Haben. Eine ftatutarifche Neueinfügung eines R. verleht 
das Einzelrecht des Aktionäre auf Vertheilung des Gewinns als Dividende; selbit 
die Errichtung einer Schadenäreferve, damit die plößlichen Berlufte eines Jahre: 
aus den Griparniffen getragen und in ihrem Einfluß auf die Dividende gemildert 
werden, ijt der einzelne Aktionär zu dulden nicht verpflichtet; das Gleiche gilt für 
einen jog. Dividenden*., aus welchem in Gejchäftsjahren mit ungünftigem Ergebnis 
die Dividende auf einen beftimmten Betrag erhöht werden joll. GEriahrungsmäßig 
ift jolcher Dividenden. bereits im Jahresgefchäft verbraucht, wenn er bei mangeln: 
dem Gewinn zur Verwendung fommen könnte. Gleich dem Erneuerungsiond: 
(. diefen Art.) ift der R. gejonderte Zwedvermögensmafje, gebildet und zu verwalten 
nach den Beitimmungen des Statuts mit Ausfchließung anderweiter Verwendung. 
Der R. ſoll ausgleichend wirken zwijchen den Ergebnifien verichiedener Geſchäftsjahre 
die Eriparniß aus der Gegenwart joll das Gedeihen der Zukunft fichern und damıt 
den Kredit beieftigen und Einfluß auf die Dividende üben. Ungenau werden wol 
auch die Prämienrejerven der Lebenverficherungägeiellichaiten mit R. bezeichnet. Die 
jelben find nicht zu außergewöhnlichen Ausgaben bejtimmt, jondern gerade zur Gr: 
möglichung der Vertragserfüllung ; die Prämienrejerven find aus den Jahresbeiträgen 
aufzuiparen, damit aus denjelben die Verficherungsjumme gezahlt werden könne. 

git.: Renaud, Altienreht, 2. Aufl., ©. 509, 655 fi., 758 ff. — Auerbad, Tui 
Gejellichaftämweien, S. 357, 8376; Derjelbe, Das neue Handelsgeſetz, S. 185. — Keyßner, 
Aktiengeſellſchaften, S. 512. — 8. v. Stein im Jahrb. des voltäwirthichaftlidyen Vereins in 
Wien, 1872, ©. 46 ff. — Löwenfeld, Altiengejelliaften, S. 447. — Die Kommentar 
von dv. Hahn, Anihük, v. Völderndorff, Keyßner zu Art. 217, 239a des HGB. — 
Entich. des ROHG. X]. 125. — Mathieu et Bourguignot, Commentaire de la loi sur 
les societes des 24—29 juillet 1867, No. 224. — Vidari, Diritto commereiale, vol. I 
591. — Reuling, Studium aus d. Gebiete des Lebensverficherungsrechtes, in Ztichr. für das 
gel. H.R. XV. 326 ff. — Hinrichs, Die Lebenäverjicherung, ıhre wirthichaftliche und redt: 
rg er ebendaf. XX. 339 ff. — Predöhl, Ueber Yebensverficherung, at xXXU, 

— ner. 
Nefidenzpflicht, d. h. die Pflicht des Inhabers eines Kirchenamtes am Site 
deſſelben anweſend zu jein, da dadurch allein die Erfüllung jeiner ihm obliegenden 
Pflichten möglich wird. Die vielfachen, die Beobachtung der R. einſchärfenden Vor: 
ichriften in der fatholifchen Kirche erklären fich aus der Verweltlichung derielben im 
Mittelalter und der weitverbreiteten Sitte, wol die Einkünfte des Amtes zu ziehen, 


Reiume. 455 


aber die Obliegenheiten durch jchlecht bejoldete Vikare oder Stellvertreter erfüllen zu 
laſſen. Nach Gem. Recht verpflichten zur Refidenz die höheren Benefizien, die mit 
Seeljorge verbundenen Aemter und die Kanonikate. Die Biichöfe und die Kanoniker, 
welche eine jährliche vacatio (Ferien) von 2—3 Monaten Haben, jollen außerhalb 
diefer Zeit nur bei einer dringenden und genügenden Urjache von ihrem Amtafit 
abweiend jein. Die Verlegung dieſer Vorſchrift zieht bei einer eine gewifje Zeit 
fortdauernden Abwefenheit den Verluſt eines bejtimmten Antheils der Amtseinfünfte 
nad fich, und jchließlich kann ſogar die Abjegung verhängt werden. Die eben er- 
wähnten Aemter, ſowie diejenigen, mit denen diefe Pflicht jtatutenmäßig verbunden 
it, heißen beneficia residentialia, die anderen (ed find dies gewöhnlich einfache 
Meßbenefizien) b. non residentialia. Bei letteren kann der Benefiziat jeine Ver— 
pflihtungen durch einen Stellvertreter erfüllen lafjen. — In der evangeliichen 
Kirche beiteht die R. gleichjalls; ja die Eirchlichen Beamten haben hier nicht einmal, 
wie in der katholischen Kirche, gejegliche Ferien, jondern bedürfen jtets des Urlaubs 
ihrer vorgejegten Behörde. Verletzungen der R. werden disziplinarifch geahndet. 
Lit: P. Hinſchius, Kirchenrecht, Bd. III. ©. 221—243, P. Hinſchius. 


Neſumö iſt die dem Franzöſiſchen Recht entlehnte Bezeichnung des Vortrages 
des Vorſitzenden im Schwurgericht, mit welchem dieſer am Schluß der Verhandlung 
die Sache den Geſchworenen zur Entſcheidung übergiebt. Im Engliſchen Recht 
heißt dieſer Vortrag Anweiſung (Charge). Da im Engl. Prozeß der Ausſpruch der 
Jury als einfache Annahme oder Ablehnung der Anklageſchrift, an deren Abfaſſung 
der Richter feinen Antheil hat, unjtreitig die ganze Schuldfrage (alfo Rechte- und 
Thatfrage ungetrennt) entjcheidet: bietet die Charge die einzige Form, in welcher 
der Richter an dieſer Enticheidung theilnimmt. Die Belehrung über das materielle 
und Beweisrecht, welche in ihr der Vorfiende ertheilt, ift für die Gejchworenen 
bindend und jo wie vermuthet werben muß, daß legtere fich an fie gehalten haben, 
jo müfjen Rechtsirrthümer des DVorfigenden (wo überhaupt ein Rechtsmittel offen 
ſteht) die Vernichtung des Wahripruches begründen. Die Verpflichtung, den Ge— 
ihworenen auch das Beweisrecht an die Hand zu geben, bringt die Nothiwendigfeit 
einer Erörterung der thatjächlichen Ergebniffe der Verhandlung mit fich, wobei vom 
Borfigenden erwartet wird, daß er dem Urtheil der Gejchworenen nicht vorgreife, 
eine Erwartung, die nicht immer in Erfüllung geht. — Im Art. 336 des Code d’instr. 
erim. heißt es nach Erwähnung des Schlufjes der Parteivorträge: Le president 
resumera l’affaire. Il fera r&marquer aux jures les principales preuves pour ou 
contre l’accuse. Il leur rappellera les fonctions qu’ils auront A remplir, Die 
Beitimmung läßt den Hauptinhalt der Engliichen Charge, die Nechtöbelehrung, 
ganz unerwähnt, was daher rührt, daß einerjeits die Anficht vorherricht, die Rechts— 
frage werde durch die dem Vorſitzenden oder richtiger der Anklagefammer zulommende 
Formulirung der an die Gejchworenen zu richtenden Fragen bereits jo volljtändig 
entichieden, daß lehteren eine reine (Überdies unabhängig von Beweisregeln) zu ent— 
icheidende Thatfrage übrig bleibe. Andererjeits darf nicht überjehen werden, daß, 
während der Engliiche Borfigende im Verlauf des ganzen vorausgehenden Verfahrens 
eine ftreng unparteitiche Haltung bewahrt, dem Franzöſiſchen diejelbe durch die 
ihm obliegende Bornahme der Verhöre des Angeklagten und der Zeugen nahezu 
unmöglich gemacht wird. Es ift daher leicht erflärlich, dab dem R. vielfach Miß— 
trauen und Widerwille entgegengebracht wird. Dafjelbe ward daher in Belgien 
(Geſ. von 1831) und in Braunschweig (hier folgte jedoch ſpäter eine theil— 
weile MWiederzulaffung) abgeſchafft. Manche Deutiche Gejege beſchränkten dafjelbe 
durch ausdrüdliche Anordnungen. Nach dem Bayerijchen Geſetz z. B. jollte der 
Vorfigende nur die gejeglichen Merkmale des Thatbeſtandes auseinanderjegen und 
die Punkte bezeichnen, auf welche die Gefchworenen ihre Aufmerkſamkeit vorzüglich 
zu richten haben, ohne in die Beweife der Thatfachen einzugehen. Andere Geſetze 


456 Neiume. 


zeichneten den Inhalt des Schlußvortrages genauer vor und fügten theilweiſe das 
Verbot bei, daß der Vorfibende jeine eigene Anficht zu erfennen gebe. In aller: 
neuejter Zeit (1880) iſt auch in Frankreich von der Regierung ein das R. ab: 
ichaffender Gejegentwurf eingebracht worden. Nach dem durch das Geſetz vom 8. Juni 
1879 in dieſem Punkte nicht modifizirten Art. 498 der Italieniſchen StrafQ. 
lautet die dem Vorſitzenden ertheilte Vorſchrift: „Er Takt das Ergebniß der Ver: 
handlung furz zufammen (riassume brevemente la discussione), erklärt die Fragen, 
macht die Gejchworenen auf die wichtigiten für umd gegen den Angeklagten vorge 
brachten Gründe aufmerkſam.“ — 

Die neueſten legislativen Grörterungen über das R. drehen fich hauptiächlic 
um tolgende Tragen: 

1) Kann auf den Schluhvortrag des Vorfißenden ganz verzichtet werden? Diele _ 
Frage fann man meines Grachtens nur ftellen, wenn man noch der Anficht ift, daß 
die Geſchworenen im Wahripruch über „nadte“ Thatjachen fich auszufprechen haben, 
nicht aber, wenn man einmal anerfennt, daß der Gerichtähof durch die Faſſung, 
die Jury durch die Beantwortung der Fragen die Unterordnung der Thatlachen 
des Falles unter die geſetzlichen Begriffsmerfmale gemeinfam vollziehen und daß 
darüber Gewißheit beitehen muß, daß den Geſchworenen das für fie, wie für alle 
bindende Gejeh und zugleich der Sinn der an fie gerichteten Fragen klar geworden 
jei. Zur Darlegung des legteren kann nur der Gerichtshor, deffen Organ der Vor: 
figende ift, berufen jein, da Kenntniß des Geſetzes nur ganz zufällig bei einem oder 
dem anderen der Geichworenen vorhanden fein kann und ihnen noch weniger als 
diefe die Fähigkeit zugemuthet werden fann, über die einander widerjprechenden 
Nechtsbehauptungen des Staatdanwaltes und des Vertheidigers, die beide einfeitig 
und unvollftändig jein können, fich jelbitändig und ohme Anleitung ein Urtheil zu 
bilden. Hält man diefe Anleitung dann für entbehrlich, jo muß man es auch für 
zuläffig halten, daß das geltende Hecht von der Meinung der jeweiligen Gejchworenen 
und nicht durch das Geſetz feitgeftellt werde. Es ift daher nothwendig, daß der 
Vorſitzende verpflichtet werde, den Geſchworenen die nach Lage des Falles nothwendige 
Rechtsbelehrung zu ertheilen. Umfang und Modalitäten der Erfüllung dieſer 
Pflicht Laffen fich nicht ftreng vorſchreiben; ob im gegebenen Falle eine Belehrung 
nothwendig iſt, welche Fragen fie zu umfaffen hat, muß der Vorfigende nach pflicht- 
mäßiger Erwägung der Griordernifie des Falles beurtheilen; ebenjo würde er zu be: 
urtheilen haben, wie weit er fich auf das Gebiet der gemifchten Fragen hinaus— 
begeben jolle, jener Fragen, bei welchen es fich nicht um die Anwendung flar vor: 
zugzeichnender Grundſätze, jondern um die Beurtheilung und Abwägung der That: 
jache von einem bejtimmten, juriftifchen Gefichtspunfte aus handelt. Er wird in 
der Hegel ſich auf die Bezeichnung des letteren bejchränten und den Geſchworenen 
das Weitere anheimiftellen. Iſt dies geichehen, jo bringt es die Natur des Ver— 
hältnifies zwiſchen Gerichts: und Gefchworenenbanf mit fich, daß die leßtere bei der 
Beurtheilung der von ihr ala erwieſen angenommenen Thatjachen, das Geſetz, jo 
wie es ihr vom Vorſitzenden dargelegt ift, zur Anwendung bringe Sein Geiet 
fann fie dazu zwingen, und es follte auch jeder Verjuch eines Zwanges unterlafien 
werden; es ijt gewiß genug, daß nöthigenialla den Geſchworenen mit den Morten 
Story’s gejagt werde: „Die Geſchworenen haben die phyſiſche Macht, das Geſetz, wie 
es ihnen das Gericht darlegt, außer Acht zu laſſen; allein ich ftelle entichieden in 
Abrede, daß fie das moraliiche Recht haben, über das Recht nach ihren perjönlichen 
Anfichten und nach ihrer Willkür zu enticheiden.“ Und ſelbſt wenn unter den 
Geſchworenen ein Jurift ift, jo fann er fich dabei beruhigen, daß nur die Antwort 
veritanden werden fann, welche in dem gleichen Sinne ertheilt wird, in dem die 
Frage gejtellt wird; ein jolcher Dann wird übrigens auch auf eine Faffung der 
Frage hinwirfen können, welche ihm ermöglicht, einen Ausſpruch zu thun, der jeiner 
Rechtsüberzeugung entipricht und ihn doch nicht der Gefahr ausfeht, daß feine Ant: 


Neiume, 457 


wort nicht zu der gejtellten frage paßt und daher falſch ausgelegt wird. — Hält 
man daran feſt, daß die Rechtsbelehrung des Vorſitzenden bei der jet als richtig 
anerfannten Art der Frageſtellung die authentiſche Begründung der yaflung der 
fragen, aljo deren authentische Interpretation ijt, jo wird man den Gedanken faum 
abweifen fünnen, daß zu vermuthen jei, e& habe fich die Jury von jener Rechts— 
belehrung leiten laffen und daß daher, wie ja überhaupt zur Vernichtung die Vermuthung 
beirrender Einflüffe genügt, der Ausipruch der Geſchworenen wegen irriger Rechts: 
belehrung jollte vernichtet werden fünnen. 

2) Kann nach Vorjtehendem ein Schlußvortrag nicht entbehrt werden, jo ift 
es allerdings nicht unbedingt nothwendig, daß derjelbe ein „R.“ im engern Einne, 
d. i. eine Zujammenfaffung der Ergebniffe des Beweisveriahrens ſei. So wie die 
Sahen auf Grund der Franzöfiſchen Anordnung der Hauptverhbandlung (i. 
diefen Art.) auf dem Kontinente jtehen, wird das R. fich nicht jowol unmittelbar 
auf die Ergebniffe des Beweisveriahrens beziehen, ala auf deren Erörterung in den 
Varteivorträgen. Der Engliiche Richter jtellt dem Beweisergebniß das Beweisrecht 
gegenüber, das er darlegen ſoll, und findet im Rechte des Landes den allerdings 
elaftiichen Begriff des „der Jury anheimzuftellenden Beweiſes“ (evidence to be left 
to the jury), und an diefer Grenze erſt joll die Aeußerung jeiner perjönlichen 
Meinung jtille ftehen. Der fontinentale Schwurgerichtspräfident wird dagegen die 
Hauptaufgabe de R. im engeren Sinne darin erbliden, die Ginfeitigfeiten in den 
Daritellungen der Parteien durch möglichit objektive Gruppirung der Beweis— 
ergebnifje zu berichtigen und jchon dadurch leicht in einen polemifchen Ton verfallen ; 
da er jerner ohne Unterftügung durch ein pofitives Beweisrecht die naturgemäßen 
und wiflenichaftlichen Anforderungen an die Bewetje den Gejchworenen darzulegen haben 
wird, iſt er noch mehr der Gefahr ausgeſetzt, jeine perjönliche Meinung durchbliden 
zu laſſen oder deſſen wenigjtens bejchuldigt zu werden. Allein dieſer Geiahr wird 
er, jo lange er nicht zum völligen Schweigen verpflichtet und darum auch berechtigt 
wird, nie entgehen. Auch wenn er nur die Nechtäbelehrung ertheilt, wird er einer 
Grwähnung der vorgefommenen thatfächlichen Behauptungen nicht aus dem Wege 
gehen können, und, wenn voraudgejeßt wird, daß er e& auf ungebührliche Geltend- 
machung jeiner Meinung abgejehen habe, diejelbe leicht zum Ausdrud bringen. Daß 
endlich in verwidelteren Sachen, bei längerer Dauer der Hauptverhandlung und 
insbejondere der Parteivorträge, ſich eine überfichtliche Wiedervorführung des Ber: 
bandiungsftoffes als jehr nüßlich erweiſen kann, ift einleuchtend. Man jteht alio 
bier wieder vor der alten legislativen Streitfrage, ob eine an fich zweckmäßige Ein- 
richtung bejeitigt werden jolle, weil mit ihr Mißbrauch getrieben, oder fie Anlaß 
zur Verdächtigung geben könnte, eine Frage, auf deren Löſung auch die bejtehenden 
Zuftände und die gemachten Griahrungen Einfluß üben. Man fann aber wohl 
jagen, daß es beifer wäre, nichts zu verabjäumen, was die Unberangenheit des 
Schwurgerichtsvorfigenden fichern fann und dann jeinem Gewiſſen und feinem Takt 
su überlafjen, wie weit er im Schlußvortrage gehe. 

3) Wichtig ift auch die frage des Zeitpunftes, in welchem der Schluf- 
vortrag abgehalten wird. Die Franzöſiſche Einrichtung, nach welcher das R. der 
Feſtſtellung der Fragen vorangeht, iſt wol nur aus der Annahme erflärbar, daß 
jur richtigen Auftaffung der Fragen die Gejchworenen feiner Anleitung bedürfen und 
dab das R. ſelbſt fich nur mit der Thatfrage zu bejchäftigen habe. Obgleich) 
wenigitens letztere Anjchauung in Jtalien noch vorherrſcht, hat man doch, die Noth- 
wendigfeit einer Erklärung der ragen durch den Borfigenden anerkennend, bei der 
Revifion des Schwurgerichtäverfahrens im Jahre 1874 das R. der Feſtſtellung der 
Fragen angereiht, wenngleich die letztere ihrerjeits erit nach den Parteivorträgen 
erfolgt. 
— Entwurf der Oeſterr. Straf PO. wich von den ganz an die Franzöſiſchen 
Einrichtungen fich anfchließenden Beltimmungen der StrafPO. von 1850 über das 


458 Reſumẽe. 


R. weſentlich ab. Der am meiſten beſtrittene Punkt (über die wechſelnden Anträge 
und Beſchlüſſe ſ. Mayer, Handbuch, I. ©. 163, 164, 846—849) war die Reihen⸗ 
folge von Parteivorträger, Frageitelung und R. Das Schlußergebnik war, 
daß die Feſtſtellung der Fragen ſchon den Parteivorträgen und daher natürlich auch dem 
R. vorangeht. Was die jachlichen Beitimmungen betrifft, jo lautet $ 325: „Er jaht 
die wejentlichen Ergebniffe der Hauptverhandlung in einer gedrängten Darftellung 
zufanımen, führt in möglichiter Kürze die für und wider den Angeklagten fprechenden 
Beweife auf, ohne jedoch feine eigene Meinung darüber fundzugeben.“ (Die lehte 
Regierungsvorlage Hatte gelautet: „Er feßt den Gejchworenen die gefammte Lage 
der Sache auseinander.“) „Er erklärt den Gejchworenen die gejeglichen Merkmale 
der jtrafbaren Handlung und die Bedeutung der in den Fragen vorkommenden ge- 
jeglichen Ausdrüde und macht fie auf ihre Pflichten im Allgemeinen und ins Bejondere 
auf die Vorfchriiten über ihre Berathung und Abjtimmung aufmerkfjam. Der Vor 
trag des DVorfigenden darf von Niemand unterbrochen oder einer Erörterung unter: 
zogen werden; dagegen jteht es jeder Partei frei, zu verlangen, daß die den Ge 
ſchworenen vom Vorſitzenden ertheilte Rechtäbelehrung im Protokoll erfichtlich gemacht 
werde.“ — Nach $ 344 3. 8, der Deiterr. StrafPO. iſt e8 ein Nichtigkeitägrund, 
wenn der Vorfißende eine unmrichtige Rechtsbelehrung ertheilt Hat. 

Neben der Berathung des Entiwurfes der Deutſchen StrafPD. gingen lebhafte 
Verhandlungen des Deutichen Juriftentages über die Frage, ob die Rechtäbelehrung 
des Vorſitzenden die Geſchworenen binden folle und über die hieraus zu ziehenden 
Konjequenzen einher. Der vom Reichätag angenommene Sa, welcher das Recht 
der Parteien jejtftellte, die Protofollirung der Rechtöbelehrung zu begehren, ward 
von der Regierung für unannehmbar erklärt und in dritter Lefung geftrichen, woraus 
auch folgt, daß die Rechtäbelehrung unanfechtbar ift. „Die Geſchworenen find in 
feiner Weife an die Nechtöbelehrung des Vorſitzenden gebunden und entjcheiden 
jelbjtändig die ihnen vorgelegten Fragen. Es wurde diefer Sa in der Juſtiz— 
fommiffion allgemein anerkannt“ (Keller). Der aus den verjchiedenen Verhand— 
lungen hervorgegangene $ 300 lautet: „Der PVorfigende belehrt, ohne in eine 
Würdigung der Beweiſe einzugehen, die Gejchworenen über die rechtlichen Gefichte- 
punkte, welche fie bei Löfung der ihnen gejtellten Aufgabe in Betracht zu ziehen 
haben. Die Belehrung des Vorfigenden darf von feiner Seite einer Erörterung 
unterzogen werben.“ Gin Rüdblid auf $ 299 zeigt, daß dieje Belehrung ebenfalls 
erſt ftattzufinden hat, nachdem die ragen an die Gejchworenen fejtgeftellt find und 
auf Grund derjelben die Parteien ihre Ausführungen und Anträge zur Schuldfragre 
vorgebracht haben. Was den Inhalt des Vortrages betrifft, jo ftellt ihn Löwe 
jo dar, als habe „die StrafPD. das im Franzöſiſchen Recht vorgeichriebene R. be 
jeitigt und daffelbe durch ein lediglich die rechtliche Belehrung der Geſchworenen 
bezwedendes Schlußwort des Vorfigenden erjegt“, und joweit dabei das Gewicht au’ 
„vorgeſchrieben“ gelegt ift, ijt dies unbejtreitbar richtig. Eine Verpflichtung 
zur Zujammenfaffung der Beweisergebniffe, zur Vorbereitung der Entjcheidung der 
Gejchiworenen über die Thatfrage hat der Vorfigende gewiß nicht, unterjagt ift ihm 
aber nur die „Würdigung der Beweiſe“, ein Verbot, das eigentlich auch in 
Frankreich ala beitehend anerkannt ift, und von anderen Schwurgerichtägejegen jogar 
neben der Anordnung des R. im engeren Sinne auägeiprochen if. Allerdings iſt 
der Ausdrud nur ſoweit unzweideutig, ala der Vorfigende feine Meinung über das 
Beweisergebniß, ja auch jelbit über das Ergebniß der einzelnen Beweife nicht zum 
Ausdrufd bringen darf. Dagegen bemerft Löwe jelbjt: „Auch die den Beweis 
betreffenden Beitimmungen des Prozeßrechts können den Gegenjtand der Recht 
belehrung bilden.“ Keller jagt: „Damit ift nicht gemeint, daß der Vorfiende in 
feiner Weile auf die Beweife Bezug nehmen darf... 63 müſſen 3. B., um vden 
Geſchworenen den Begriff und die Erforderniffe eines Beweijes durch Anzeigen Kar 
zu machen, die vorgebrachten Beweife auch als jolche bezeichnet werden.“ Gilt dis 








Neiume, 459 


ihon von den Beweifen, jo ift noch viel weniger daran zu denfen, daß die Berüd- 
fihtigung des Thatjächlichen an fi von dem Schlußvortrage ausgefchloffen fei, 
Die Motive jagen: Das Geſetz „zielt nicht auf eine theoretijche Erörterung der Ver— 
brechensmerkmale ab. Die Rechtäbelehrung joll vielmehr die individuelle Lage des 
Falles ins Auge faffen und den Gefchworenen die zur richtigen Würdigung defjelben 
erforderliche Anleitung geben. Dem Vorſitzenden ift es micht verwehrt, zu dieſem 
Zwede die thatjächlichen Ergebniffe der Verhandlung, joweit diefelben zum Ber: 
ftändnifje der Rechtöweifung dienen, in den Schlußvortrag aufzunehmen.“ „Biel 
mehr“, jagt H. Meyer, „it e8 im Sinne jeiner Aufgabe gelegen, die in Betracht 
fommenden rechtlichen Gefichtspunfte mit Rüdficht auf die vorliegende Sachlage zu 
entwideln“, was v. Schwarze ald „Anpaffung der Rechtsbelehrung an dad That— 
jächliche , deffen Beweis jedoch nur ala Hypotheſe behandelt wird“ bezeichnet. — 
Trog der Nichtaufnahme des R. im engeren Sinne wird aljo das Gebiet der That— 
fachen nicht gemieden werden können. Wenn Keller indeh für unzuläffig erklärt, 
dag im Schlußvortrage die Berichtigung unrichtiger thatfächlicher Anführungen des 
Staatsanwaltes oder Vertheidigers erfolge, jo ift ihm darin beizupflichten. — Was 
die Rechtöbelehrung jelbjt betrifft, jo ift oben jchon angedeutet, daß fie nicht blos 
in der Aufftellung theoretifcher Säße, jondern in der Darlegung und Entjcheidung 
aller Fragen, welche der vorliegende Rechtsfall jtellt, beitehen müſſe. Wie weit 
Belehrung nöthig jei, Hat der Borfigende zu beurtheilen, die für nöthig erachtete 
zu ertheilen, ift dagegen jeine Pflicht. Kontroverſe Fragen wird er ehrlicherweije 
als jolche bezeichnen müflen, auch die Gründe für und wider nicht verfchtweigen 
dürfen; aber mit jeiner Meinung darf er auch in jolchem Falle wenigftend dann 
nicht zurüdhalten, wenn, was ja die Regel jein wird, es fi um die Erläuterung 
eines in der frage gebrauchten Ausdrudes handelt. — An die Belehrung über das 
materielle Recht jchließt fich die in den Mtotiven für jelbitverftändlich erklärte An— 
leitung wegen des in formeller Hinficht von den Gejchiworenen einzuhaltenden Vers 
jahrens. 

Gigb. u. Lit. Engliſches Recht: ie Anklage, Wahrſpruch und Rechtsmittel 


im Engliichen Schwurgerihtänerfahten, © 331 fi. — Bien * Das Engl. Geſchworenen⸗ 
gericht, Ir. II. 139 ff. — ————— Das —8 Schottiſche und Nordamerikan. 
trafverfahren, € 431 ff. — —— Recht: Code d’Instr. art. 336 und von den 


nad; Artikeln gereihten Kommentaren beionder® Rolland de Villargues. — Hélie, 
Traite de l'Instruction crim. (1. £a) $ 658 Vol. VIII. p. 843 ss.; Derjelbe, ique Vol. = 
No. 809, 810 p. 425, 426. — Trebutien, Cours de droit criminel a. ) Vol. I 
p. 416, — "Dallos, Repertoire s. v. Instruction criminelle (Paris 1854) Vol. xviũ 
no. 23842404, p. 590-594. — Cubain, Procedure devant les Cours d’Ass. (Par. 1857), 
p. 354 ss. — Perröve, Manuel des Cours d’Ass. (Par. 1861), p . 312 ss. — Italien. 
Recht: Codice di proc. pen. art, 498. — Mel, Il Regolamento af pp (3. Ed. ar 1879) 
. 420— 425. — Casorati, Lanuova Legge sul Giuri (Prato 1874), p. 376—379, 400— 406. 
2.351 50 und Deiterr. Recht biö zur neueften Seit: Dland, Syftem. Bartelung, 
9. — Zahariä, Handbuch des Deutjchen Strafprogehrechtes, I — 
. 373. — Mittermaier, Geſe ehgebung unb er über Straferf, © 509 f. — 
S Schwar e in Weiste'ß Rech öleriton Bb. X. —— 09 ff. — Würth, Beier, Stud. 
von 1850, ©. 547 ff. — Walther, — — Bayer. Straf Prz., S. 332—336. 
Sppenvoff u. Liman-Schwarck zu Art. 79 des Preuß. Geſetzes von 1852. — Materialien 
zu —— rs ©. 128, 129, 562 ff. — v. Bar, Recht und Beweis im — 
1865), ©. 67. — Goltdammer’ 8 Archiv 1. ©. 164— 184, 334—346 ; 


Schwur eriäng — ahtmann). — Verhandlungen des Deutichen ri 
tages XL. 29 FH. (Wahlberg), ©. 161 fi. (Stödel * Y 2 ©. 173 ft.; 
XIV. 2b. 2 St (Lamm), ©. 145 (Teichmann), ©. 1 — ——— 
Bd. 3 ©. 120 Motive zum Entwurf der zn: StrafPO. F 177 [i un. 
dazu S. 207, Protokolle der Kommiffion S. 464— 470. — Die nach 88 en 


Kommentare bei g 300 ber Deutſchen und $ 325 der Defterr. StrafPD. — Fa 
in v. olkenborff’3 Handbuch II. S. 184, 190. — Ullmann, Das Defterr. ——— 
recht (Innsbruck 1879), 544 -548. — Schuhe, Das Dogma von der bindenden Bi 
belehrung, , in Goltdammer’s Archiv 1879. — Wahlberg, Die a im 
Strafrecht (Gel. El. Schriften II. 273 ff). — Vargha, Die Vertheidigung, S er 
lajer. 


460 Netention des Pfandes — Netentionsredt. 


Netention des Pfandes. Auf der 1. un. Cod. etiam ob chirographariam 
pecuniam pignus retineri posse beruht ber Sat, daß ein Gläubiger, der fich ım 
Beſitz einer ihm verpfändeten Sache befindet, auch nachdem er volle Befriedigung 
wegen der Piandforderung erhalten hat, dem Schuldner das Pfand vorenthalten 
kann, jolange er noch irgend welche andere Ansprüche an den Schuldner hat. Der 
Einwand aus diejer durchaus fingulären Vorſchrift, deren Billigfeit wenigjtens zweifel⸗ 
haft iſt, bejeitigt die perjünliche Klage des Piandichuldners auf Herausgabe dei 
Pfandes. Der Wortlaut des Geſetzes rechtfertigt die mehrfach verjuchte Einichrän: 
fung der Vorſchrift auf Fauftpfänder oder vertragamäßige Prandrechte nicht. Gegen 
die dingliche Klage Anderer, insbejondere anderer Piandgläubiger iſt das Retentions 
recht nicht wirffam, und auch der jpätere Piandgläubiger kann dem Befiter des 
Piandes diejen Beſitz vermöge des jus offerendi et succedendi durch Zahlung der 
bloßen Piandichuld entziehen. Streitig war, ob da& Retentionsrecht im Stonkurie 
von Beitand jei. Die Frage ift fchon nach Gemeinem Recht zu verneinen, heute 
aber müßig, da das Reichskonkursrecht für ex ſolche Zurüdbehaltung Feinentalle 
Raum läht. — Dem Preuß., Sächſ., Franz. R. ift die R. d. Pi. fremd. 


Lit. en re die Lit. hinter d. Art. Retentionsredt. — C.tit. 8, 27. — Preuß, 
Allg. ER. 1 20 8 Eccius. 


Retentionsrecht, Zurückbehaltungsrecht iſt das Recht des Inhabers einer fremden 
Sache, diefelbe dem dinglich oder perjönlich zum Verlangen nach Herausgabe der: 
jelben Berechtigten bis zur Eritattung eines aus feinem Vermögen der Sadje zum 
Beiten gefommenen oder durch fie verlorenen Vermögenswerthes vorzuenthalten. 
Nach diefer Begriffebeftimmung (Großfopii, Sintenis) jällt nicht nur die 
finguläre Retention des Pfandes für chirographariiche Forderungen außerhalb des 
Begriffes, derjelbe grenzt fich auch nach anderen Richtungen hin ſcharf ab. Die 
bis auf Großkopff berrichende Lehre definirte mit mannigfacher Verſchiedenheit 
in der Yormulirung das R. als das dem rechtmäßigen Inhaber einer an fich heraus» 
zugebenden Sache zuftehende Recht, diejelbe wegen einer fonneren Gegenforderung 
zurüczubehalten. Die wenigjtens ala Naturalobligation wirkſame Gegeniorderung müſſe 
zur Sache in einer Beziehung ftehen. Als Hauptfälle jolcher Konnexität wurden 
aufgezählt, wenn die Forderung auf Verwendungen in die Sache oder in Beziehung 
auf diejelbe beruhe, wenn fie durch die Sache jelbjt, insbejondere vermitteljt einer 
durch dieſelbe bewirkten Beichädigung, ihren Urfprung gewonnen habe, und wenn 
die Forderung aus demjelben Rechtsverhältniß entjtanden jei, auf welches das Recht 
zur Herausforderung der Sache fich gründe. Der lete diefer Fälle wird durch die 
obige Begriffsbejtimmung abgejchloffen. Er fällt, joweit dabei überhaupt das Recht 
auf Herausgabe der Sache zu befämpfen tft, unter den Gefichtspunft der exceptio 
non adimpleti contractus, Diefe it, wie das R., eine Anwendung der exceptio 
doli generalis (v. Savigny); fie unterfcheidet fi vom R. dadurch, daß auf 
Grund ihrer alle möglichen Leiſtungen, nicht blos fremde Sachen zurückgehalten 
werden, und daß durch fie das Klagerecht ſelbſt geleugnet, als nicht verfolgbar hin— 
geftellt wird. Im Prozeß tritt der materielle Unterfchied der beiden Einreden da: 
durch hervor, daß mit der exc. n. ad. contr. zeitweife Abweifung der Klage, mit 
der Ginrede des R. eine Bedingung der Verurtheilung zur Herausgabe erftritten 
wird. Der Ausdrudf retinere wird freilic; auch von dem Zurüdhalten einer Leiſtung 
überhaupt gebraucht; eine Vermiſchung der beiden Begriffe führt aber zu einer 
Verflüchtigung des R., welches nur mit dem bier angenommenen beichränkten Begrifi 
als ein eigenthümliches, gewiſſen allgemeinen Regeln unterworfenes Jnjtitut aufrecht 
erhalten werden fann. 

Großkopff ging in der Beichränktung des Begriffs noch weiter. Es erfannte 
auch den zweiten der obigen Konneritätsfälle nicht an. (Dagegen Sinteniä) 
Er leugnete ferner, daß durch das R. überhaupt eine Forderung, eine Natural: 


Netorfion. 461 


obligation, geichüt werde, das R. ſchütze ein faktiſches Verhältniß, in welchen der 
Beklagte das, was er in umd mit der Sache von dem Seinigen detinire, ungeachtet 
es nach Givilrecht bereits für ihn verloren jei, behalten jolle. Das Recht auf den 
Vermögenswerth gegenüber dem Kläger, der denjelben erjtatten joll, bleibt aber 
immer eine Obligation. Der Zweifel Großkopff's ift auf eine unrichtige Begriffe- 
beitimmung von Naturalobligation zurüdzuführen, die nach ihm nothtwendig außer 
dur soluti retentio auch anderweit, 3. B. dur Kompenjation, fich wirkſam 
jeigen müßte. 

Bon den Streitfragen in Betreff des gemeinrechtlichen R. war die wichtigjte die, 
ob dafjelbe auch gegenüber der Gläubigerichait im Konkurſe geltend gemacht werden 
kann. Die frage muß mit Großkopff und Sintenis gegen Schenk, v. Bayer 
bejaht werden. 

Von den neueren Kodifitationen jtellt das Sächſ. BGB. auch die exceptio 
n. ad. contr, unter den Begriff des Zurücbehaltungsrechts, ſich überhaupt an die 
ältere Lehre anjchließend. Es definirt daffelbe ala das Recht des nicht durch uner- 
laubte Handlungen in den Beſitz einer jet herauszugebenden Sache Gelangten, 
diejelbe bis zur Befriedigung wegen eines fälligen Gegenanjpruch® zurüdzubehalten, 
der in einem Verhältniß zu derjelben Sache feinen Grund hat, und ala das Recht 
des aus einem ziweijeitigen Nechtögeichäft zu irgend einer Leiſtung Berpflichteten, 
dieje bis zum Empfang der fälligen Gegenleiftung zu verweigern. Nach Preuß. R. 
beiteht das R. in der Befugniß des Inhabers einer fremden Sache, jelbige jo lange 
in feiner Gewahrfam zu behalten, bis er wegen feiner Gegenforderungen befriedigt 
worden. Das Recht ift nur gegen den Schuldner der „Gegenforderung”, regelmäßig nicht 
auch gegen deſſen Konkursmaſſe geltend zu machen. Das Defterr. BGB. verwirit das 
R. überhaupt; der Code civil giebt feine Definition, den Anmwendungsfällen liegt aber 
der Begriff des Preuß. R. zu Grunde. — Das Allgem. Deutiche HGB. giebt den Kauf— 
leuten wegen fälligr, — im Falle der Unficherheit und des Konkurſes auch wegen 
nicht sälliger — Anſprüche aus dem faufmännifchen Verkehr ein R. an allen be= 
weglichen Sachen und Werthpapieren, die mit dem Willen des Schuldners auf Grund 
von Handelsgeichäften in ihren Befig gefommen find. Dies R. hat die Natur eines 
Fauftpiandes. Die Deutiche KO. beitimmt in S 41, inwieweit das Zurüdbehaltungsrecht 
abgejonderte Befriedigung im Konkurſe begründet. 

Lit. u. Gigb.: Schenk, Die Lehre vom R., 1837. — Luden; Dad R., 1839. — Senz 
m Weiske's Hechtäler. IX. 377. — Großtopff, Zur Lehre vom R., 1858. — Sintenis, 
Givilreht, $ 91 D. — Die Römiſchen Geſetze handeln vom R. an zerftreuten Stellen. — Sädj. 
BEL. SS 767—769. — Preuß. Allg. ER. I. 20 88 536-567. — Oeſterr. BGB. S 471. — 


Code civil art. 867, 1673, 1749, 1885, 1948. — Allg. Deutiches HGB. Art. s18 fl, ; 
ccrius. 


Netorſion (Franz. und Engl. gleichlautend), von retorquere, bedeutet im 
Staatenverfehr: die eine Unbilligkeit mit einer gleichen oder ähnlichen erwiedernde 
Handlungsweife. Die Anwendung gleicher Mittel gegen einen Staat, welcher er 
fich gegen den umferigen bedient (Masse, Droit commerc., I. 130), oder die Ber- 
geftung des „Einem nicht anjtändigen“ mit Gleichem (Mofjer, Verſ., VIII. 485), 
harafterifirt noch nicht das bejondere Weien der R. In einem weiteren Sinne 
begreift man die R. unter die Repreffalien (Berner, 597; Burdhardi, 497), in 
der Praxis wurden fie mit einander identifizirt oder verwechielt (Mojer, Verf., 
TH. IX. ®b. I. 519 und 527; Wurm, 458) Maſſé (l. c.) läßt jogar 
Repreflalien auf dem Wege der R. vor fich gehen. — Die völferrechtliche Be— 
rechtigung der R. wird aus der Selbſtändigkeit, Wechtögleichheit oder Gleich— 
berechtigung der Staaten gefolgert (Wolff, $ 584; Klüber, S 234; Hefiter, 
$S 27: Oppenheim, 152), halbjouveränen Staaten (Martens, B.R., 8249) 
kann fie daher nicht zuftehen. Die Bezeichnung: retorsio iuris (Wolff, 8 583), 
retorsion en droit (®attel, II., XVII. $ 341) und die Untericheidung von: 


462 Retorfion. 


retorsio facti und iuris vel legis (#lüber, $ 234), wenn namentlich, nad) der 
technischen Ausdrucksweiſe, die leßtere der R. im engeren Sinne, die eritere den 
Repreflalien entiprechen joll (Wurm, 1. c.), iſt überflüffig und verwirrend, weil 
dann die Repreflalien wieder der R. jubordinirt werden und weil die R. nicht gegen 
eine Rechtswidrigfeit, jondern eine Unbilligkeit gerichtet ift, und auch nur dieſe 
enthält (Hefiter, $ 111; Berner, |. e; Burdardi, 498). Mojer 
(Verſ., VIII. 485) fieht die Veranlaffung zur R. nicht in einem Zuwiderhandeln 
gegen die Gerechtigkeit oder natürliche Billigkeit, fondern gegen die Freundſchaft oder 
die Gleichheit der Gerechtiame. Dem in der Mechtäjprache vielfach durchbildeten 
Terminus der Unbilligkeit jubjtituirt Wurm (459 ff.) den vieldeutigen Ausdrud 
(Ungunft gegen) Interefjen, während Engliiche Schrütfteller (Phillimore, IIL 8, 
I. 13; Twiß, II. 18) R. ftatuiren gegen Abweichungen von der comity, deren 
Begriff fich indeß nicht mit dem der Billigfeit dedt (vgl. d. Art. Comitas 
gentium) und außerdem fich nur einer partiellen, hauptjächlich Anglo- Amerikanischen 
Anwendung erfreut. Twiß (l. c.) nennt die oben angegriffene Unterjcheidung der 
N. eine unpraktiſche, gleiches Prädikat gebührt aber der jeinigen (II. 19): paſſive 
Retaliation (R.) und aftive (lex talionis), indem er jelbit die leßtere für unan- 
wendbar im internationalen Rechtsveriahren erflärt, und außerdem jede N. eine 
Aktion enthält. Die Zurüdführung des Unterfchiedes von Repreffalien und R. au 
den Unterjchied volltommener und unvolllommener Rechte (Martens, |. c.; 
Klüber, $ 234 not. d) ift mit diejem leßteren für antiquirt zu erachten, außerdem 
zwingt jelbjt die R., wenn auch in milderer Form, zur Gewährung. R. im 
Kriege (Mofer, IX., 1I. 519) widerfprechen aber der Aufgabe der R., den Srieg 
zu verhindern, und unterliegen nicht dem R.recht, jondern dem Kriegsrecht. — Die 
zu retorquirende Unbilligkeit kann entftehen aus der Gejeßgebung, dem Gewohn: 
beitörecht und den Reglements (Battel,l.c.; Twiß, II. 18), bloße Berjchiedenbeit 
derjelben genügt aber nicht (Martens, $ 250; KHlüber, $$ 54 und 234 d; 
Heffter, l.c.; Wurm, 474); entweder muß der fremde (unjer Staatsangehöriger) 
nur hinter den Einheimischen (des fremden Staates) zurüdgeftellt jein Martens, 1. ec.; 
Klüber, 1. c.; Berner, 598) oder auch hinter andere fremde (die An- 
gehörigen anderer Staaten — Wurm, 468 ff.; Heffter, 1. c.; Burcdhardi, 498; 
Zwiß, II. 19). Der Billigfeit entipricht e8 indeß ſchon, daß Fremde den Ein: 
heimiſchen gleichgejtellt werden. Die Bevorzugung der Fremden vor den Ein: 
heimischen zu verlangen, gebietet die Billigfeit ebenjowenig (Klüber, $ 58), eine 
jolche Forderung nannte der Neapolitanische Gejandte (in der berüchtigten Schmeiel- 
frage zwijchen Großbritannien und Neapel im Nahre 1838) ein großes Paradoron 
der Politit, wogegen Wurm (473 ff.) mit Unrecht im alle der Nichtgewährung 
einer jolchen ausnahmsweiien Bevorzugung, nach jehlgejchlagenen Unterhandlungen, 
eine R. für gerechtfertigt hält. Einem hHalbbarbarifchen Staat gegenüber erjcheint 
freilich ein jolcher Wunſch für zuläffiger, indeß dürfte auch hier, wie jchon 
Berner (l. c.) richtig ausführt, unterhandelt und nicht die zu retorquirende und 
perhorreözirte barbarische Maßregel in gleicher oder ähnlicher Weije erwiedert werden. — 
Als eine zu retorquirende Unbilligfeit wird angejehen entweder ganz allgemein die 
nichtbeiriedigende Behandlung der Unterthanen in einem anderen Staate oder eine um: 
günstige Stellung derjelben nach Gejeß und Gewohnheit (Battel,1l.e.; Twiß, II. 18; 
Wurm, 464), oder die Verweigerung eines Gewohnheitärechts und ein unbilliger 
Unterjchied zwijchen Fremden und Einheimischen (Martens, 1. c.), oder eine un- 
gleiche bejchwerende Behandlung, eine unbillige und bejchiwerende Ungleichheit det 
pofitiven Rechts, eine Verweigerung unparteiticher und unverzögerter Rechtäpflege 
(Klüber, SS 54, 234 d, 58), oder die Ausichließung von eigenen Unterthanen 
gewährten Vortheilen, Zurüdjtellung gegen dieje oder andere Nationen, ungewöhnliche 
Belaftung bei Einräumung von Vortheilen, Abweichung von durch andere Nationen 
aufgeftellten Grundſätzen, verbunden mit materiellen Nachtheilen (Heffter, 1. c.). 


Retorfion. 463 


Unbillige Einzelbejtimmungen kommen entweder vor bei Ein- und NAusfuhrverord- 
nungen (Battel, 1. c.), oder Erbichaiten, 3. B. das befeitigte droit d’aubaine, 
oder Konkurjen durch Bevorzugung einheimifcher Gläubiger vor den auswärtigen 
(Klüber, $ 58; Wurm, 464). Nicht Alles, was dem Rechte gemäß zu fordern 
it, darf nach Billigkeit gefordert werden, jondern werden die begründeten forderungen 
diefer durch die zu vermwirflichende internationale Gemeinſchaft zu begrenzen jein, 
ſoweit jolche Forderungen nicht jchon auf Grund des Rechts erhoben werden 
fönnen. — Der Zweck der R. ift nicht Strafe (wogegen Wurm [459] remonitrirt), 
jondern nur Abjtellung der verlegenden Unbilligfeit oder Herſtellung einer Gleichheit 
(Martens, 1. c.; Heffter, 1. c.). Iſt diefer Zweck erreicht, jo hat die R. aufs 
zuhören. Die erwiedernde Unbilligkeit kann eine der zu eriwiedernden gleiche oder 
ähnliche oder möglichjt ähnliche, und muß gleich ſchwer fein (Mojer, VIII. 489; 
Heffter, 1. e.; Burchardi, 499), daß fie aber den gegnerischen Staat nicht 
gleih empfindlich trifft, berechtigt nicht zur Steigerung des Maßes oder gar der 
At (Wurm, 460). Zu den zur Ausführung der R. gewählten Mitteln muß der 
Staat jelbit, ohne die ihm gebotene Veranlaſſung, volltommen befugt jein, denn „R. 
it die Erwiederung eines von feiner Seite beftreitbaren Rechts" (Wurm, 1. c.). 
Die Ausführung der R. zu beftimmen iſt nicht, wie Phillimore (II. 8 ff.) 
meint, lediglich Sache des Staatärechts, fie ift gebunden an die vorjtehend aufs 
geführten völferrechtlichen Säße. Der Anwendung der R. muß aber eine gütliche 
Verhandlung (Mofer, VIII. 488 hält es gerade nicht für nötig, aber der Freund— 
ſchaft dienlich), insbejondere ein Antrag an die jemjeitige Staatögewalt vorausgehen ; 
diejer wird beſonders dann das zunächit allein zuläffige fein, wenn ein Staat einen 
unbilligen Grundja nur aufgeftellt, aber noch nicht durchgeführt hat, ſofortige R. gegen 
denjelben (Heffter, 1. c.) wäre völlig ungerechtfertigt. Erſt wenn troß des An— 
trages feine Billigfeit mehr zu hoffen (Berner, 597) oder die Gegenvorftellungen 
— find Phillimore, I. 13), ift die Anwendung der R. berechtigt. — Ver—⸗ 
fügen fann eine R. nur die Staatögewalt, da nur ihr die Souveränetät und jomit 
aud das Recht der Selbjthülfe gegen andere Staaten zufteht. Eines legislativen 
Beichluffes dazu (Hefiter,l. c.) bedarf es nur bei Gejeßesänderungen (Burcharbi,l.c), 
fonft aber umfoweniger, ala ein folcher nicht einmal zur Verfügung des äußerjten 
Rechtsmittels, des Krieges, erforderlich ilt. Das einer jeden Behörde innerhalb ihres 
Geſchäftskreiſes und der oberjten Gerichtäftelle in Juſtizſachen zugeiprochene Recht der 
R.verfügung (erfteres von Burchardi, 1. c., lehteres von Wurm, 474) wider: 
ſpricht, abgefehen davon, daß Gericht und Behörden feine Souveränetätärechte ala 
jolhe haben und üben können, der nothwendigen Einheit der Willensbeftimmung, 
Vertretung und Aktion des Staates nad) Außen. Dagegen, daß die unmittelbare 
(R-)Hülfe durch die Obrigfeiten auch ohne höhere Autorijation in unjeren gegen= 
mwärtigen Zuftänden nicht entbehrt werden könne GBurchardi, 500), ſpricht die 
gerade in unſerer Zeit durchgerührte ftrenge Behördenhierarchie und die Abhängigkeit 
aller Organe von dem höchſten, der Staatögewalt, ala auch der heutzutage geförderte, 
wejentliche Verzögerungen ausichließende Verkehr. Nicht je nach Beichaffenheit der 
Umftände, wie Moſer (IX., II. 521) meint, jondern unbedingt ift die Erlaubniß 
des Souveräns zur R.übung erforderlich, und zwar jowol für Behörden ala Ein— 
zelne (Heffter, l. c.; Berner, 1. c.). Moſer (VII. 487) hält den Befehl 
des Landesherrn bei R.übungen durch Untertanen in Sachen, die ihr Privat- 
interefje betreffen, für umnöthig. Die Behörden find bei R.übungen nur die die 
Staatöverfügung ausführenden Organe. Ob aber Einzelnen die R.ausübung zu 
geftatten und ob fie diejelbe nach den gewöhnlichiten Ericheinungsformen der Aus— 
übung überhaupt ala Einzelne zu üben vermögen und Veranlaffung haben, erjcheint 
uns zweifelhaft, da völferrechtlich jede Selbithülfe des Einzelnen immer mehr ver- 
jagt ift, da die zu retorquirende Unbilligkeit jelten gegen einen Einzelnen, vielmehr 
in Der Regel gegen eine ganze Klaſſe der Bevölkerung, 3. B. Handeltreibende oder 


464 Retorſion. 


Gewerbtreibende, oder gegen den geſammten Staat durch die Syſteme und Or: 
nungen des Handelsverkehrs und Gemwerbebetriebes oder gegen die geſammte Be 
völferung durch unbilliges allgemeines Recht oder Rechtsverfahren gerichtet üt. 
Schon Mojer (VII. 486) jagt, daß meift Souveräne der R. fich gegeneinander 
bedienen. Indeß ordnet jedenfalls der Staat eine R. jowol in Anlaß einer gegen 
ihn, als auch, fraft der Repräjentation jeiner Staatsangehörigen, in Anlaß einer gegen 
diefe verichuldeten Unbilligkeit an (Wurm, 459), zu Gunjten eines anderen Staates 
aber nur auf Grund eine Bundesverhältnifies, denn ein Staat fann nicht durd 
die einfeitige Aufforderung des einen Theils zur Grefution gegen den gegneriichen 
Theil berechtigt werden und Hat in Bezug auf fremde Unterthanen fein Repräſen— 
tationsreht (Wurm, 462). Noch unzuläffiger ericheint e&, daß cin Staat gegen 
einen anderen deshalb auf dem Wege der R. eine Unbilligkeit begeht, weil dieſer 
leßtere gegen einen dritten Staat früher einer gleichen oder ähnlichen fich ſchuldig gemadıt. 
Wenn auch jolches Verfahren nachweislich jtattgehabt (ſ. Moſer, IX., U. 519 fi.), 
jo war es doch nur eine mißbräuchliche Anwendung der R. Eine R. kann femer 
nur gegen den verichuldenden Staat, nicht gegen einen dritten, fie nicht verichuldenden, 
geübt werden: „Retorsio non est nisi adversus eum, qui ipse damni quid dedit, 
ac deinde patitur, non vero adversus communem amicum. Qui iniuriam non 
fecit, non recte patitur“ (Bynkershoek, Qu. iur. publ., I., IV.) — Die Unbillig: 
feit eines Staatsangehörigen oder einer der Behörden des Staates ift immer nur 
ein entiernter Anlaß zur R., der nächite Anlaß muß in der Unbilligfeit der Staat 
gewalt jelbit Liegen, d. 5. es muß der gegnerische Staat das unbillige Verfahren 
jeiner Unterthanen oder Behörden, joweit er dafjelbe nicht ſelbſt angeordnet, ſchweigend 
oder ausdrüdlich gebilligt oder demjelben zugeitimmt und es dadurch zu dem jeinigen 
gemacht haben (Berner, 597; Wurm, 459). — Daß nicht immer gegenüber 
Unbilligfeiten R. ausreichen oder entiprechend fein werden, muß, namentlich wenn 
durch eine Unbilligfeit die Erhaltung der Grijtenz eines Staates bedroht ift, zu: 
gegeben werden und it praftiich bewährt durch die Kriege Hollands gegen England 
in Anlaß der Grommell’schen Navigationsacte und Ludwig's XIV. gegen Holland wegen 
Nichtaufhebung des Verbots der Franzöſiſchen Waaren (j. Burchardi, 498 f.). 
Englische Schriüftiteller erklären dagegen die R. für das einzig gefeßliche Mittel gegen 
Verlegungen der comity, und daß jolche Verlegungen einen casus belli nie abgeben 
fönnten (Bhillimore, I. 13; Twiß, II. 18). 

Lit: Wurm, Art. Völkerrechtliche Selbfthülfe, in Rotted’3 Staatöler. 1843, Bd. XIV. 
457 ff. — Berner, Art. Retorfion, in Bluntſchli's StaateWört.B. 1864, Bb. VII. 
596 fi. — Burhardi in Rotteck's Staatäler. 1865, Bd. XII 498 fi. — Die völter: 
—— Werke von Wolff (ius gentium), Vattel, Mojer (Berf., V II. 485 fi. und 

X. 518 #1), Martens (BR, Klüber, Hefiter, Oppenheim, Pbhillimore 
zuis a Moſer, Verſ. IX. II 520 ff, Wurm, 471 ff., und Galvo, 1. 
. Bulmerinca. 


Netorfion im Strafrecht iſt die Erwiederung einer jtraibaren Handlung 
durch eine gleiche oder ähnliche jtrafbare Handlung. Nicht zum Begriffe der X. 
gehören daher die Fülle der Nothwehr, auch wo Gleichheit oder Gleichartigfeit der 
Handlungen vorhanden ift, da der Nothwehr Uebende fich feiner ftrafbaren 
Handlung ichuldig macht. Ebenſo jcheiden diejenigen Fälle aus, bei welchen (mie 
3. B. in $ 213 des RStrafGB.) verichiedenartige jtrafbare Handlungen von beiden 
Seiten begangen werden. In dem obigen Umfange iſt jedoch die R. für das Gebiet 
des Strafrechts ohne praktische Bedeutung. In den heute geltenden Steaigefegbüchern 
wird vielmehr gefordert, daß die R. aufder Stelle erfolgt jei, und unter dieſer Be 
dingung die R. nicht allgemein, jondern nur bei einigen jtrafbaren Dandlungen 
(wechjeljeitigen Beleidigungen und leichten Hörperverlegungen) als iafultativer Stra; 
ausjchließungs- oder Milderungsgrund berüdfichtigt. 


Retorfion. 465 


Die gemeinrechtliche Praris nahm früher allgemein an, daß bei wechjeljeitigen 
Beleidigungen von gleicher Schwere Kompenfation jtattfinden müſſe. Man dachte 
dabei aber (unter Berufung auf 1. 10 $ 2 D. de compens. 16, 2) nur an Privat- 
trafen. Später wendete man diefen Grimdjaß, indem man nicht fcharf zwifchen 
Kompenjation und R. unterschied, auch auf öffentliche Strafen an. Da man 
die R., welche vielfach ala ein Recht aufgefaßt wurde, nicht zu Gunften des erſten 
Beleidigerd geltend machen konnte, jo jchloß man für diefen aus dem Grunde Klage 
und Strafe aus, weil der erwiedernde Beleidiger ſich jelbjt Recht verjchafft und 
dadurch auf die Klage verzichtet Habe. Stillfchweigende Vorausſetzung war hierbei 
ftets, Daß die beiden Beleidigungen ungefähr gleiche Strafen nach fich gezogen hätten. 
Die Kompenfation öffentlicher Strafen, jelbjt bei dem Antragsvergehen der Be— 
leidigung, zu deffen Gunjten jo viele Ausnahmen von allgemeinen Regeln gemacht 
zu werden pflegen, ijt jedoch unhaltbar, da nicht abzufehen ijt, weshalb durch R. 
das öffentliche Interefje an der Beltrafung befriedigt fein ſoll. Ebenjowenig kann 
ein Recht auf R. anerkannt werden. 63 fann fich deshalb heute nicht mehr um 
Strafausschließung, jondern nur noch um Strafmilderung bei der R. handeln. Man 
muß dann aber, mehr ala dies früher gejchah, den Nachdruck darauf legen, daß die 
R. auf der Stelle eintrat. Und zwar fommt auf Seiten des eriwiedernden Be- 
leidiger8 der Affelt in Frage. Da aber nicht jede R. im Affekt erfolgt, jo iſt & 
dem richterlichen Ermeffen zu überlafjen, ob diejelbe im konkreten Falle bei der Feſt— 
ſetzung der Strafe zu berüdfichtigen fei. Für den erften Beleidiger können wol 
nur Billigkeitsrüdfichten dahin führen, unter Umftänden auch gegen ihn eine mildere 
oder gar feine Strafe zu verhängen, 3. B. in dem falle, wenn die erwiederte Be— 
leidigung die erjte an Schwere bedeutend überftieg. Am richtigften ift es wol, in 
dem StrafGB. Hinfichtlich der R. überhaupt feine Beitimmung zu treffen, beſonders 
da nicht, wo der Strafrahmen für die Beleidigungen jchon derartig ift, daß das 
angedrohte mit dem gejeglichen Minimum der Strafarten übereinftimmt, der Affekt 
alſo Hinreichend bei der Feſtſetzung der fonfreten Strafe berüdfichtigt werden fann. 
Nicht zu billigen find die Beftimmungen des Deutſchen StrafGB., nicht blos des— 
halb, weil die R. als Strafausſchließungsgrund, jondern weil fie auch bei leichten 
Körperverlegungen aufgejtellt ift. Dieje letztere VBorjchrift ift aus dem Preuß. StrafGB. 
übernommen, welches Realinjurien und leichte KHörperverlegungen nicht von einander 
trennte, und hatte dort ihre Berechtigung. 

Nach SS 199 und 233 des Deutichen Straf®B. hängt die Berüdfichtigung der 
R. bei der Straizumeffung von folgenden Bedingungen ab: 

1) Es müfjen zwei Beleidigungen oder eine Beleidigung und eine leichte Körper— 
verlegung vorliegen, gleichviel ob die erjtere durch die letztere oder die letztere durch die 
erftere erwiedert ift. Diefe ftrafbaren Handlungen müſſen in einem urjachlichen Zu= 
jammenbange ftehen. Hierhin zu zählen find, abgejehen von $ 189, alle nach dem vier- 
zehnten Abſchnitte, nicht aber die nach dem zweiten bis vierten Abjchnitte des StrafGB. 
zu beftrajenden Beleidigungen. In Betreff der Körperverlegungen ift zu bemerken, 
daß die im $ 223 a aufgeführten hier nicht zu berüdfichtigen find. Der Begriff der 
R. iſt nicht ausgefchloffen, wenn es fich um wiederholte Beleidigungen und Körper- 
verlegungen handelt. Die Erwiederung ſetzt nicht nothwendig Sleichartigkeit der Be- 
feidigungen voraus; jchriftliche können mit mündlichen, Berleumdungen mit einfachen 
Beleidigungen u. dgl. erwiedert fein; nur muß die Erwiederung von Seiten des erjten 
PBeleidigten erfolgen. 

2) Die Erwiederung muß auf der Stelle eingetreten fein. Für die Inter- 
pretation dieſer Worte laffen fich feine allgemieine Regeln aufftellen. 

Bei Vorhandenſein diejer beiden Bedingungen Tann der (erfennende) Richter 
die R. als Strafausfchließungs: oder Milderungsgrund berüdjichtigen; bei Be— 
leidigungen lönnen beide Theile oder auch nur der eine jtraffrei erklärt werden; bei 

v. HBolßenborff, Gnc. II. Rechtslexiton III. 3. Aufl. 30 


466 Retraktionsrecht — Reunionsklage. 


Beleidigung und leichter Körperverlegung kann nach $ 233 außerdem noch der Fall 
eintreten, daß der eine Theil eine der Art oder dem Maße nach mildere Strafe als 
der andere enthält, und zwar ift der Nichter weder an das angedrohte Minimum 
der Strafart, noch an dieje jelbit gebunden, er fann aljo auch auf Haft und Geld: 
jtrafe erfennen, wo dieje nicht angedroht find. — Die Berüdfichtigung der R. erfolgt 
von Amtswegen; e8 kann wol darauf angetragen, aber nicht verzichtet werden. Auch 
ift nicht erforderlich, daß wegen der beiden jtrafbaren Handlungen Anträge auf 
Strafverfolgung geitellt find. Bei Vertheidigung gegen eine Anklage kann man ſich 
auf die R. berufen, jelbjt wenn die dreimonatliche Antragsfrift für die betreffende 
Beleidigung oder Körperverlegung jchon abgelaufen ift oder die Strafſache fi in 
höherer Inſtanz befindet. Dem ftraffrei Grfannten darf die Zahlung einer Buße 
nicht auferlegt werden, dagegen ift die Verurtheilung eines oder beider Theile in die 
Koften dadurch nicht auägeichloffen, daß einer derjelben oder beide für jtraffrei er- 
klärt werden (StrafPD. $ 500). 


Lit: Weber, Ueber —— — Schmähſchriften, Bd. II. n. 15. — v. Wächter, Lehrb., 
8 158. — Heffter, gg n. ittermaier, Bu — — s 296. — 
Berner, Lehrb. (11. Aufl.), S wi # — Ehüge, Lehrb. (2. Aufl.), S ie Meyer, 
Lehrb. (2. Aufl.), S. 391 ff., 437. — v. Liszt, Reichäitrafrecht (1580), „S S. 40 fi., 37. — 
Dohomw und Geyer ind. Holkendorff' N Handbud), Bb. IL ©. 369 ff. und 550 ff. — 
C — Progr. del corso di diritto — Sy 11I. 88 1758 — 1838 ss. — Köftlin, 
EM 82 ff. — v. Buri, Abh., ©. un _ — im Gerichtsſaal Bd. XXVI. 

3 ji’ — Preuß. — b. — Goltbammer, Mater., 
3* 22 fi. — Krug, Kommentar zum Sä N Eh (GB. zu Art. 243. — Budelt, 
Bad. StB, S. 457 fi. — In Betreff des Deutjchen — bei. die Kommentare von 
Oppenhoff und v. Schwarze. Dochow. 


Retraktionsrecht, jo wurde vereinzelt das in der Praxis des Gem. Civ.Prz. 
den Anwälten und Advofaten an den Manualakten und den jonftigen ihnen über 
gebenen Dokumenten bis zu Befriedigung wegen ihres Honorars und ihrer Auslagen 
beigelegte Retentionsrecht genannt. Dafjelbe ift übrigens auch in der Deutſchen 
Nechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1878 $ 32 ausdrüdlich anerkannt. 


R. Hinfdins. 
Reugeld, j. Arrha. 


Reunionsklage (Th. I. S. 489) wird die Vindikation genannt, mit welcher 
die gejegwidriger Weife veräußerten Theile eines untheilbaren Bauerguts aus der 
Hand des Erwerbers, wie jedes dritten Beſitzers zurüdgefordert werden können. Sehr 
häufig ift nämlich in Deutichland ſeit dem 16. Jahrh. durch die Partikulargejeh- 
gebung die Parzellirung bei Bauergütern verboten. Findet nun dem Verbot zuwider 
dennoch eine Theilung und Beräußerung eines ſolchen Theiles ftatt, jo ift Diele 
nichtig, und der veräußerte Theil ift der Vindifation unterworfen. Berechtigt zur 
Anftellung der Klage iſt der Belier des Bauerguts, bei abhängigen Bauergütern 
auch die Gutsherrichaft; nach den meisten Schriftitellern jogar (jedoch mit Unvecht) 
der Veräufßerer und deffen Erben. Gine exceptio rei venditae et traditae wird 
diefen gegenüber nicht für zuläffig gehalten, und nur zum Grjaß des Kaufpreiſes 
jollen diejelben verpflichtet fein. Dieſe Erjaßpflicht Liegt den übrigen Klageberech— 
tigten nach Gem. Necht nicht ob, obwol fie partifularrechtlich meift angeordnet if. 
Die Einrede des Verzichts und des Vergleichs kann der Klage nicht entgegengefest 
werden. Ob hinfichtlich der Verjährung dafjelbe gilt, iſt ſtreiig. Mittermaier, 
Hillebrand, Walter verneinen die Zuläffigkeit der Einrede,;, ECihhorn und | 
v. Gerber bejahen diejelbe. Wo durch die neuere Gejeßgebung die Theilbarkeit der 
Bauergüter wiederhergeitellt ift, da ift die R. fortgefallen. 

. Leyser, Medit. ar spec. 100 — 1. — Strube, un gnebenten, 
Beb. 1. 23, 43, 75; "Bed. III. 1 Bed. IV. 127. — Seuffert’3 Arc. XV.N 

= i s. 


Neusner — Reviſion. 467 


Reusner, Nicolaus, 5 2. II. 1545 zu Lömwenberg (Schlefien), wurde in 
Bajel 1583 Doktor, dann Kamm. Ger. Affeffor in Speyer, Prof. in Straßburg, 
1589 Prof. der Rechte und Sächſ. Rath in Jena; ala Poet gekrönt und zum comes 
palatinus ernannt, übernahm er 1595 eine Miffion nach Polen, T 12. IV. 1602. 

Seine vielen Schriften zählt Jugler, V. 296—331, auf; er jelbft gab einen Catalogus 
s. Elenchus Operum partim in lucem editorum, partim vero edendorum, Laning. 1583, 


heraus. 
git.: Günther, Lebensſtizzen, Jena 1858, ©. 55. — vd. Stinking, Geichichte der 
Deutichen Rechtswiſſenſchaft, (1880) I. 710—714 u. ö. Zeihmann. 


Revalirung. Der Zahlungsauftrag begründet für den Mandanten dem 
Mandatar gegenüber die Pflicht zur Schadloshaltung. Die Schadloshaltung nennt 
man R. Sie wird geltend gemacht durch die R.klage, welche nichts anderes ijt, 
al die actio mandati contraria. Der Anſpruch auf R. ſetzt aber voraus, daß der 
Mandatar Zahlung geleiftet oder eine der Zahlung gleichitehende Handlung 
(Kompenjation, Aeceptation eines Wechjels 2c.) vorgenommen bat. R. fordern kann 
auch der Bürge, welcher die Bürgſchaft im Auftrag des Schuldners übernommen 
bat, von dieſem, und jelbjt ohne Auftrag auf Grund einer negotiorum gestio. Die 
R. geht auf Rüderjtattung der gezahlten Summe und der jonjt etwa bei Ausrichtung 
des Auftrags gehabten Koſten nebjt Zinfen vom Tage der Zahlung, reip. der Auf: 
wendung an. Unter Staufleuten kann auch noch eine Provifion gefordert werden 
(HGB. Art. 290). 

git.: Thöl, Das * I. $ 320. — Ströll, Die Wechſelxevalirungsklage und bie 
Deutiche Rechtiprehjung, Nördlingen 1873. — Seuffert’3 Ardhiv XXVI. Nr. 226; XXVIII. 
Nr. 130. — Entich. des ROHG. VII. Nr. 94; X. Wr. 20, 63. Lewis. 


Neverdhon, Emile, & 10. V. 1811 zu Laferrierefous-Jougne (Doubs), 
wurde 1846 maitre des requötes, wegen feiner Anjchauungen bezüglich der Defrete 
vom 22. Jan. 1852 entjegt, avocat au Conseil d’Etat et à la Cour de Cassation. 
ihied 1859 aus, 1871 avocat general am Kaſſationshof, 1876 Conseiller, 
7 20. VIII. 1877. 

Schriften: Du mariage (thöse), 1835. — Des autorisations de plaider necessaires aux 
communes et etablissements publics, 1841, 2. &d. 1853. — Projet de code ecclösiastique, 
1842. — De la taxe des biens de mainmorte (1355), 1878. — Les decrets du 22 janv. 
1852, Paris 1871. — Notice sur M. Martin du Nord, 1849, sur M. Maillard, 1855. — 
Sehr viele Abhandlungen in Revue critique; Revue pratique; Le Droit; Block, Dict. 
de l’admin. frangaise (vgl. Richon, p. 67—89). 

&it.: G. Richon, Notice sur la vie et les travaux de M. Reverchon, Paris 1878. — 
Desjardins, Discours de rentree: Henri IV. et les parlements, Paris 1877, p. 76. — 
Aucoc in Bull. de la Societ& de legisl. comp., 1878 p. 9. — Gazette des Tribunaux 
21 aoüt 1877. — Accarias in Revue critique 1878, p. 63. — Chanterac im Annuaire- 
Bulletin de la Societe de l’Hist. de France 1878, 2e fasc. — Rivier in Revue de droit 
international X. 275, 461 (IV. 171, 172); Derjelbe in Revue generale 1877, p. 656. — 
Schulte, Geihichte, II. a 674. TZeihmann. 


Nevifion im Civilprozeß war früher das gegen die reichsfammergericht: 
lichen Erkenntniſſe und die Urtheile der Territorialgerichte zugelaffene Rechtsmittel. 
Gegen erjtere jollte e8 binnen viermonatlicher Friſt bei dem Reichserzkanzler eingebracht 
und darüber von den Bilitatoren in Gemeinfchaft mit den bei der Abjaffung der 
früheren Sentenz betheiligten Kammerrichtern abgeurtheilt werden. Die Vorausſetzungen 
diefes Nechtsmittels, zu deſſen Begründung feine Nova angeführt werden durften, 
waren: 1) das Vorhandenfein an fich zur Appellation geeigneter Beſchwerden; 2) eine 
summa revisibilis von 2000 Reichöthalern und 3) die Ableiftung des R.eides. 

Im heutigen Deutjchen Giv.Prz. ift die R. das Rechtsmittel gegen die in 
der Berufungsinſtanz von den Oberlandesgerichten erlaffenen, noch nicht rechtskräftigen 
Gndurtheile und die den letteren gleichjtehenden Enticheidungen, welches die Sache 
an das Reichsgericht (ausnahmaweije in Bayern auch an das oberjte Landesgericht) 

30 * 






468 Revifion, 


bringt. In Prozefjen über vermögensrechtliche Anfprüche, abgejehen von denjenigen, 
für welche die Landgerichte, ohne Rückſicht auf den Werth des Streitgegenftandes, 
ausschließlich zuftändig find, und abgejehen von denjenigen Fällen, in welchen es fih 
um die Unzuftändigfeit des Gerichts, die Unzuläffigfeit des Rechtsweges oder die Un: 
zuläffigfeit der Berufung handelt, ift fie Durch einen Werth des Beichwerdegegenitandes 
von mehr ala 1500 Mark bedingt. Die R. foll eine nochmalige Prüfung der an- 
geiochtenen Enticheidung vom Rechtsftandpunfte aus ermöglichen, fie ſoll eine revisio 
in iure, nicht in facto fein. Sie ift durch die Vorausſetzung bedingt, daß die Ent: 
icheidung auf der Verlegung einer materiellrechtlichen und progeßrechtlichen Rechts: 
norm berubt, jedoch muß die verlegte Rechtsnorm 1) eine reichsgeſetzliche jein oder 
2) dem Gem. Recht oder den in anderen Deutjchen Ländern als Eljaß-Lothringen 
geltenden Franzöfiſchen Geſetzen, oder endlich den in der Verorbn. vom 28. Sept. 
1879 (bzw. 11. April 1880) ss 6 ff. und in dem Geſetz vom 15. März 1881 
näher bezeichneten Partikularrechten und Gefegen angehören, oder 3) über den 
Bezirk des Berufungägerichtes hinaus für den Umfang mindejtens zweier Deuticher 
Bundesjtaaten oder zweier Provinzen Preußens oder einer Preußifchen Provinz 
und eines anderen Bunbesftaates Geltung erlangt haben und nicht ausdrüdlich dur 
die angeführte Verordn. SS 2—6 für den Fall ihrer Verlegung der R.fähiglet 
entkleidet fein. Die Verlegung ausländifchen Rechtes kann daher niemals die R. 
begründen, wol aber der Umſtand, daß das Berufungsgericht dafjelbe irrigerweile 
itatt des inländifchen oder umgekehrt inländifches Recht jtatt ausländiichen Rechtes 
angewandt, aljo gegen die Grundfätze von der örtlichen Kollifion der Gejeße ver: 
itoßen hat. Weiter folgt, daß wie der R.richter an den vom Berufungärichter feit- 
geftellten Thatbeſtand gebunden ift, er auch bei der Beurtheilung an fich zuläffiger 
R.beichwerden die Auffaffung des Berufungsrichters in: Betreff folcher Rechtsnormen, 
deren Verlegung mit der R. nicht angefochten werden kann, ala für fich maßgebend 
anerfennen muß. Die Berlegung der Rechtönorm, wodurch die NR. begründet 
wird, fann bejtehen in der unrichtigen Subfumtion der fejtgeftellten Thatjachen unter 
die Rechtenorm, in der Nichtanmwendung einer Rechtsnorm, welche hätte angewendet, 
und in der Anwendung einer Rechtsnorm, welche nicht hätte angewendet werden 
jollen. Das anzufechtende Urtheil muß aber endlich auch auf der Verlegung einer 
Rechtsnorm der gedachten Art beruhen, d. h. ohne Berlegung derjelben nicht 
haben jo ergehen können, wie e8 ausgefallen it. Wenn daher eine Verlegung einer 
Rechtsnorm begangen, aber das angefochtene Erfenntniß aus anderen Gründen rechtlich 
haltbar erjcheint, oder bei Anwendung der zutreffenden NRechtenorm eine andere Ent- 
icheidung als die angefochtene nicht herbeigeführt werden würde, kann der R.kläger 
nicht mit der R. durchdringen. Die Fälle, in denen eine Enticheidung ala auf 
einer Verletzung des Gefeßes beruhend unter allen Umjtänden anzuiehen ift, zählt 
S 513 der Deutſchen CPO. auf. 

Für die Einlegung der R., die Friften dafür und das Verfahren in der R.inftanz 
gelten im Allgemeinen dieſelben Grundjäße, wie in Betreff der Berufung. Die 
R.ichriit, ſoweit fie zugleich den Charakter eines vorbereitenden Schriftſatzes hat, ſoll 
die R.anträge enthalten, d. 5. die Erklärung, inwieweit das Urtheil angefochten 
und deſſen Aufhebung beantragt wird, und ferner 1) injoweit die R. auf Nicht- 
anmendung oder nicht richtige Anwendung einer Rechtsnorm gejtügt wird, die Be— 
zeichnung der letzteren; 2) injomweit die R. auf Verlegung von das Verfahren be- 
treffenden Rechtsnormen bafirt wird, die Bezeichnung der Thatjachen, welche den Mangel 
ergeben; 3) infomweit fie damit motivirt wird, daß unter Verlegung einer Rechta- 
norm Ihatjachen fejtgeitellt, übergangen oder als vorgebradht angenommen jeien, 
gleichfalls die Bezeichnung diejer Thatſachen. Endlich foll auch, ſoweit dies im 
einzelnen wall erjorberlich iſt, der Werth des Beichwerbegegenftandes angegeben 
h entiell find die in der R.ichrift gejtellten Anträge noch nicht, fie werden 
lichen Verhandlung, und daher können fie auch nöch jelbit bis 


Reviſion. 469 


zum Schluß derſelben vervollſtändigt, geändert oder erweitert werden. Eine be— 
ſtimmte Bezeichnung oder Formulirung der angeblich verlegten Rechtsnormen iſt 
nicht weſentlich, vielmehr genügt die Darftellung des Sachverhaltes mit einem Ab— 
änderungsantrage des angefochtenen Urtheils, es iſt alfo die Aufhebung deſſelben 
nicht durch eine ausdrüdliche Rüge der Verlegung bejtimmter Rechtenormen bedingt. 
Aus dem bisher Bemerkten ergiebt fich, daß die Geltendmachung von neuen That: 
jahen und Beweismitteln in der R.injtanz ausgejchloffen ift, mit Ausnahme der: 
jenigen, welche den R.grund darzulegen bezweden. 

Der Prüfung des R.gerichtes unterliegt das angefochtene Urtheil nur nach Maß: 
gabe der von den Parteien gejtellten Anträge. Erſcheint das Rechtsmittel nicht be= 
gründet, jo ift es zurückzuweiſen. Anderenfalls ift das angefochtene Urtheil, und 
talla die8 wegen eines Mangels des Verfahrens gejchieht, auch das Beriahren, 
legteres infoweit ala es von dem Mangel betroffen wird, aufzuheben, ſowie die 
Sahe zur anderweitigen Verhandlung und Entſcheidung an das Berufungsgericht 
zurückzuverweiſen, welches bei der letzteren an die vom R.gerichte feiner Enticheidung 
zu Grunde gelegte rechtliche Beurtheilung gebunden ift. Das R.gericht hat aber 
ausnahmsweiſe jelbft an Stelle des angefochtenen Urtheils, ohne Zurückverweiſung 
in die frühere Inftanz, zu erkennen, wenn die Aufhebung des Urtheils wegen Uns 
zuftändigfeit des Gerichts oder wegen Unzuläffigfeit des Rechtsweges erfolgt, ferner 
wenn das angefochtene Urtheil nur wegen Berlehung einer Rechtsnorm bei Ans 
wendung derjelben auf das feftgeftellte Sachverhältniß ausgeſprochen und das Sach— 
verhältniß jo volljtändig feitgeftellt ift, daß die Sache zur Endentſcheidung reif iſt. 
Falls indeflen in den eben gedachten Ausnahmefällen für die in der Sache jelbit 
zu erlaffende Enticheidung die Anwendbarkeit von Rechtönormen in Frage fommt, 
auf deren Verlegung die R. nicht gegründet werden kann, jo hat das R.gericht die 
Bahl, jelbft zu erkennen oder die Sache zur anderweiten Verhandlung und Ent: 
iheidung an das Berufungsgericht zurüczuderweifen. 

Gigb.: Reichd:fammerger.:Ordn. von 1555, III. 51, 53, — 8$ 124, 125. — 
1.P. 0. V. 2, 54. — RDN. von TE 16. _ IRA. lg — eutiche EPD. ss 507 
bia 529. — C®. zum Deutichen GVG. 8 EG. zur Deutihen EPD. SS 6—8. — Sail. 
Verordn., betr. die Begründung ber R. in ——— Redhteftreitigfeiten vom 28. Sept. 
1879 (RGBL S. 299) nebft — — vom 11. April 1880 (a. a. O. S. 102) und 
Reichägefeb vom 15. März 1881 (a. a. O 

Lit.: Yang, Bon ber R. am Reichskammergericht, — 1780. — Aller Dom 
Rechtämittel der R., Stuttg. 1788. — Gönner, Hanbbud des Gemein. Prz., Bd. III. 
bh. LXUIL — Solbigmißt, Abhandlungen, &. 124 fi. — Linde, Hanbbud über das 
Rechtsmittel, IL. 374 ff. — Wad, Vorträge über die REPO., Bonn 1 79, ©. 208 ff. — 
Eccius, Die Revifionsinftang und die Landesrechte nach ber Verordn. vom 28. Sept. 1879, 
Berlin 1 880, aud in Gruchot, Beiträge 3. Erläuterungen des Preuß. Rechts, Jahrg. 24 
© 20. — Reuling, Revifible und nicht revifible Rechtänormen, Berlin 1880, auch in der 
Jurifiihen Wochenjchrift von 1880. — v. Fries, Die Rechtmittel, rg 1880, ©. 295. 

ee in — Ztſchr. für Deutichen CivPrz. Bd. 2 ©. 401. — Grptbropel, 
ebendaj. Bd. 3, ©. 104 P. Hinſchius. 


Nevifion im Strafprozeß iſt das gegen noch nicht rechtskräftige End— 
urtheile erſter bzw. zweiter Inſtanz zuläſſige Rechtsmittel, durch welches ſie (im 
Gegenſatz zu dem Rechtsmittel der Berufung) nur in rechtlicher Hinſicht angefochten 
werden können. Die R. iſt an die Stelle der Nichtigkeitsbeſchwerde getreten (vgl. 
hierüber die Motive zur StrafPO. ©. 211), im Weſentlichen aber doch nichts 
anderes als eine wenig verbeflerte Nichtigkeitsbeichwerde geworden (vgl. Löwe, 
©. 640 ff.). 

I. Die R. findet ftatt gegen die Urtheile der Straffammern der Landgerichte 
in eriter Inftanz und in der Berufungsinitany und gegen die Urtheile der Schwur— 
gerichte (StrafPO. $ 374). Und zwar erjtredt ſich die Beurtheilung des R.gerichts 
nicht blos auf die Urtheile, jondern auch auf alle in dem betreffenden Ver— 


470 Nevifion. 


fahren dem Urtheile vorangegangenen Entſcheidungen, ſofern dafjelbe auf ihnen 
beruht. 

Die R. jet voraus: 1) daß eine Verlegung eines Gejeges ſtattgefunden 
hat, 2) daß das Urtheil auf der Verlegung des Geſetzes beruht, und 3) daß 
der Beichwerbeführer diefelbe vorjchriittemäßig gerügt hat. Nur in einigen Fällen 
bat die StrafPO (S 377) die Beobachtung der gejeglichen Vorfchriften für jo wichtig 
gehalten, daß ihre Verlegung, jobald fie gerügt ift, ſtets Aufhebung des Urtheils 
zur Folge hat. Es find die folgenden Fälle: 1) wenn das erlennende Gericht oder 
die Geichworenenbanf nicht vorſchriftsmäßig beiegt war; 2) wenn bei dem Urtheile 
ein Richter, Gejchworener oder Schöffe mitgewirkt hat, welcher von der Ausübung 
des Richteramts kraft Geſetzes auäögeichloffen war; 3) wenn bei dem Urtbeile 
ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem derjelbe wegen Bejorgniß der 
Beiangenheit abgelehnt war, und das Ablehnungsgefuch entweder für begründet 
erflärt war oder mit Unrecht verworfen worden ift; 4) wenn das Gericht jeine Zur 
ftändigfeit mit Unrecht angenommen hat; 5) wenn die Hauptverhandlung in Abweſenheit 
der Staatsanwaltichaft oder einer Perfon, deren Anweſenheit das Geſetz vorſchreibt, ſtatt⸗ 
gefunden hat; 6) wenn das Urtheil auf Grund einer mündlichen Verhandlung er 
gangen ift, bei welcher die Vorfchriften über die Deffentlichkeit des Verfahrens ver 
(et find; 7) wenn das Urtheil bzw. der Theil defielben, welcher angefochten tt, 
feine Enticheidungsgründe hat; 8) wenn die Vertheidigung in einem für die Ent: 
icheidung wejentlichen Punkte durch einen Beichluß des Gerichts unzuläffig beichräntt 
worden iſt. 

Hinfichtlich der Einlegung der R. ftehen fi) die Staatsanwaltichait und der 
Angeklagte nicht gleih. Die Staatsanwaltichaft darf die Verletzung von Rechte- 
normen, welche lediglich zu Gunsten des Angeklagten gegeben find, nicht 
zu dem Zwecke geltend machen, um eine Aufhebung des Urtheild zum Nachtheile 
des Angeklagten herbeizuführen. Außerdem ift die Staatsanwaltichaft dadurch bes 
jchräntt, daß ihr die R., wenn der Angeklagte von den Gefchiworenen für nicht: 
jchuldig erklärt worden ift, nur in den Fällen zufteht, in welchen dieſelbe durch 
die Beitimmungen des $ 377 Nr. 1,2, 3,5 der StrafPO. (f. oben) oder durch die 
Stellung oder Nichtitellung von ragen begründet wird. 

Bei den von den Straffammern der Yandgerichte in der Berufungeinitany er: 
laffenen Urtheilen find beide Parteien gleichmäßig bejchränkt ; fie Dürfen die R. wegen 
Verlegung einer Rechtenorm über das materielle Recht zwar allgemein, aber wegen 
Verlegung einer Rechtönorm über das Verfahren nur bei Verlegung der Borjchrift 
des $ 398 der StrafßD., d. h. dann einlegen, wenn das Berufungsgericht, an 
welches eine Sache zur anderweiten Verhandlung zurüdvenviefen ift, hierbei nicht 
die rechtliche Beurtheilung, von welcher das Revifionsgericht bei der Aufhebung des 
Urtheild ausgegangen ift, zu Grunde gelegt bat. 

Die R. ift zu Protokoll des Gerichtsſchreibers oder jchriftlich bei dem Gerichte, 
deffen Urtheil angefochten wird, binnen einer Woche einzulegen. Dieje Ein- 


legungsfrift beginnt mit der Verkündung des Urtheils und, wenn der Angeklagte | 


dabei nicht anweſend war, für diefen mit der Zuftellung des Urtheils, auf welde 
der Angeklagte nicht wirkſam verzichten fann. 

Iſt das Urtheil auf Ausbleiben des Angeklagten ergangen und will vieler, 
ohne auf die R. zu verzichten, Wiedereinfegung in den vorigen Stand beanjpruchen, 
jo muß er die R. entweder zugleich mit dem Gefuche um Wiedereinfegung in den 
vorigen Stand oder nach gejtelltem Gejuche um Wiedereinjegung noch innerhalb der 
Reviſionsfriſt einlegen. 

Die rechtzeitige Ginlegung der R. bewirkt, daß das Urtheil, joweit es an: 
gefochten ift, micht rechtafräftig wird. Auch muß dem Beichwerdeführer nad 
Ginlegung der R. ſofort das Urtheil mit den Enticheidungsgründen zugeftellt wer: 
den, wenn er dafjelbe vor diefem Zeitpunfte noch nicht erhalten hatte, 


- 





Revifion, 471 


Im Gegenfage zu der Berufung nöthigt die Einlegung der R. für fich allein 
nicht das Revifionsgericht, fich mit der Sache zu beiaffen. Der Beichtwerdeführer 
muß vielmehr noch rechtzeitig den Streitgegenjtand für die Reviſionsinſtanz feſtſtellen 
und begründen. Es kann dies zugleich mit der Einlegung der R. erfolgen; ift dies 
nicht geichehen, jo jteht hierfür eine weitere Woche zur Verfügung. Diefe Friſt be- 
ginnt nach Ablauf der Einlegungäfrijt oder, wenn zu diefer Zeit das Urtheil mit 
den Enticheidungsgründen noch nicht zugejtellt war, mit der Zuftellung defjelben. 

Aus den jog. Revifionsanträgen und deren Begründung muß erfichtlich fein, 
ob der Beſchwerdeführer die Urtheilsformel in ihrem ganzen Umfange oder nur zum 
Theil als unrichtig angegriffen hat, und ob die behauptete Verletzung des Geſetzes 
in der Entfcheidung jelbft oder in dem ihr zu Grunde liegenden Berfahren oder in 
beiden zugleich befunden wird. Wenn die behauptete Verlegung des Gejeßes in der 
Enticheidung ſelbſt Liegen joll, jo genügt zur Begründung die Angabe, daß die An— 
wendung des Strafgejeges auf das feſtgeſtellte Sachverhältniß Tehlerhaft ſei. Handelt 
es fich dagegen um die Verlegung einer Nechtsnorm über das Verfahren, jo müfjen 
auch die den Mangel enthaltenden Thatfachen angegeben jein, aus welchen die Ver— 
legung gefolgert wird. 

Die Rechtfertigung der R. kann von Seiten des Angeklagten — und daffelbe gilt 
auch für die Perfonen, welche fit den Angeklagten die R. einlegen dürfen, StrafPO. 
8 324, 340 — nur in einer von dem Vertheidiger oder einem Rechtsanwalt unter: 
zeichneten Schrift oder zu Protokoll des Gerichtäfchreibers erfolgen. 

II. Das Verfahren findet theils vor dem Gerichte, deſſen Urtheil angefochten 
it, theils vor dem Revifionsgerichte ſtatt. Nevifionsgerichte find die Oberlandes- 
gerichte und das NReichägeriht. Die Oberlandesgerichte (j. diefen Art.) ent- 
icheiden über die R. gegen die Urtheile der Straffammern erjter Inſtanz, wenn die 
R. ausschließlich auf die Verlegung einer in den Landesgeſetzen enthaltenen 
Rechtsnorm geftügt wird, und über die R. gegen die Urtheile der Strafflammern in 
der Berufungsinjtanz (GBVG. $ 123 Nr. 2 u.3). Das Neichdgericht entjcheidet 
über die R. gegen die Urtheile der Straffammern in erfter Inſtanz, abgefehen von den 
Fällen, in welchen die Dberlandesgerichte hierüber enticheiden, und über die R. 
gegen die Urtheile der Schwurgerichte (GBVG. $ 136 Abi. 1 Nr. 2). 

1) Sind die formellen Vorfchriften über die Einlegung der R. nicht beobachtet, 
jo wird die R. durch Beſchluß des Gerichts, deffen Urtheil angefochten it, als 
unzuläffig verworfen. Hiergegen kann der Beichwerdeführer binnen einer Woche nach 
Zuftellung des Beichluffes auf die Entjcheidung des Revifionsgerichts antragen, an 
welches die Akten in diefem Falle, ohne daß die Vollſtreckung des Urtheils hierdurch 
gehemmt wird, einzujenden find. Sind die Vorſchriften über die Ginlegung und 
Begründung der R. dagegen beobachtet, jo ift die Rechtiertigungsichritt dem Gegner 
des Bejchwerdeführers zuzuſtellen. Diejer fann binnen einer Woche eine Gegen- 
erflärung abgeben. Bon Seiten des Angeklagten kann dies zu Protokoll des Ge— 
richtsjchreibers oder in einer befonderen Schrift erfolgen, die jedoch nicht von dem 
Vertheidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichnet zu jein braucht. Die Akten 
gehen dann durch VBermittelung der Staatsanwaltichait an das Revifionsgericht. 

2) Auf die R. ergeht von dem Revifionsgerichte entweder ein Beſchluß oder 
ein Urtheil. Sind die Akten an ein unzuftändiges Gericht gejendet, jo ſpricht 
diefes durch Beſchluß feine Unzuftändigfeit aus und verweift zugleich die R. an 
das zuitändige Revifionsgericht, für welches der Beihluß in Betreff der Zu— 
Händigfeit bindend ift. Im gleicher Weile fann die R. durch Beihluß ale 
unzuläffig verworfen werden, wenn die Vorſchriften über die Einlegung der R. oder 
über die Anbringung und Begründung der Revifionsanträge nicht beobachtet find. 
Weift das Revifionsgericht in dem lebten Falle die R. nicht durch Beſchluß zu— 
rüd, jo muß diejelbe auch wegen Nichtbeobachtung der erwähnten Vorjchriften ebenfo 


472 Revifion. 


wie in allen übrigen Fällen durch Urtheil erledigt, d. h. es muß Hauptverhand— 
lung anberaumt werden. 

3) Das Verfahren in der Revifionsinftanz ift im Wejentlichen ein jchriftliches, 
die Anweſenheit des Angeklagten oder eines Bertheidigers defjelben daher nicht er: 
forderlich, aber auch nicht außgefchloffen. Der Angeklagte oder auf deſſen Wunſch 
der BVertheidiger it deshalb von dem Termine der Hauptverhandlung zu benad): 
richtigen. Der nicht auf freiem Fuße befindliche Angeklagte hat jedoch feinen An- 
ſpruch auf Anweſenheit. 

Auf die Hauptverhandlung vor dem Reviſionsgericht finden die für die Haupt: 
verhandlung erjter Inſtanz geltenden Vorſchriften entjprechende Anwendung. Ein 
Berichterjtatter jet das Gericht in Kenntniß über das Sachverhältniß, joweit es für 
die Entjcheidung nothwendig ift, und über die Beichwerdegründe. Es folgen hierauf 
die Ausführungen und Anträge der Staatsanwaltichaft und des etwa erjchienenen 
Angeklagten oder Vertheidigers. Der Beichwerdeführer jpricht zuerft, dem Angeklagten 
gebührt das lebte Wort. Eine befondere Beweisaufnahme wird in der Reviſions— 
inftany nur felten eintreten. In dieſen Fällen ift es dem freien Ermefjen des Re 
vifionägerichts überlaffen, wie es fich den Beweis für die fejtzuftellenden Thatſachen 
verschaffen will. Das Nevifionsgericht ift nur infofern eingejchräntt, als die Beob— 
achtung der für die Hauptverhandlung vorgejchriebenen Förmlichkeiten nur durch 
das Protokoll bewiejen werden kann, wenn nicht eine Fälfchung des leßteren be- 
hauptet wird. 

Bei der durch das Revifionsgericht ftattfindenden Prüfung ift zu unterjcheiden, 
ob die R. fich darauf ftüßt, daß die Verlegung des Gejeßes in der Entjcheidung 
jelbjt oder in dem ihr zu Grunde liegenden Verfahren befunden wird. Im erſteren 
"alle enticheidet das Revifionsgericht, ohme an die Angriffe und Ausführungen des 
Beichwerdeführerse gebunden zu fein. Das angefochtene Urtheil kann daher aus 
anderen als den von dem Bejchwerdeführer angegebenen, auf das materielle Recht 
fich beziehenden Gründen aufgehoben werden. Im zweiten alle ift das Revifions- 
gericht jehr beſchränkt; es darf nur diejenigen Thatjachen berüdjichtigen, welche bei 
Anbringung der Revifionsanträge bezeichnet worden find, und muß Berlegungen des 
materiellen Rechts volljtändig unbeachtet lafien. Es fann mithin leicht der Fall 
eintreten, daß das Nevifionsgericht die R. veriwerfen muß, obwol fich herausgeſtellt 
hat, daß eine Vorſchrift des materiellen Rechts nicht richtig angewendet worden 
it — ein Rejultat, welches gewiß nicht zu billigen ift. 

4) Das Urtheil des Revifionsgerichts lautet entweder auf Verwerfung der 
eingelagten R. oder auf gänzliche oder theilweife Aufhebung des angefochtenen Ur: 
theils. Mit der Aufhebung des Urtheils hat das Revifionsgericht die dem Urtheile 
zu Grunde liegenden Yeitjtellungen aufzuheben, ſofern fie durch die Gejeßesverlegung 
betroffen werden, wegen deren die Aufhebung des Urtheils erfolgt. Die Folge 
hiervon it, daß das Verfahren in einer dem Geſetze entiprechenden Weije zu er 
neuern ift. 

Das Revifionsgericht entjcheidet in der Sache jelbit: a) wenn 
die Aufhebung des Urtheils nur wegen eines Mangels des Verfahrens erfolgt iſt, 
die jonjtigen Revifionsgründe aber eine Erneuerung des Verfahrens als überflüjfig 
erjcheinen laffen; b) wenn die Aufhebung des Urtheils nur wegen Gejeßesverlegung 
bei Anwendung des Geſetzes auf die dem Urteile zu Grunde liegenden Feititellungen 
erfolgt ift und ohne weitere thatjählihe Erörterungen nur auf Frei— 
iprechung oder Einjtellung des Verfahrens oder eine abjolut beitimmte Strafe zu er 
fennen ift oder das Neviftonägericht, in Uebereinjtimmung mit dem Antrage der 
Staatsanwaltichaft, die gejeglich niedrigite Strafe für angemefjen erachtet. 

In allen übrigen Fällen. erfolgt Zurüdverweifung der Sadıe, und zwar 
a) an das Gericht, deſſen Urtheil aufgehoben ijt, oder b) an ein demjelben Bundes: 
jtaate angehöriges benachbartes Gericht gleicher Ordnung, oder c) an das zuſtändige 


Revofatorienflage. 473 





Gericht, wenn das Gericht der vorigen Inſtanz ſich mit Unrecht für zuftändig er: 
achtet Hat, oder d) an ein Gericht niederer Ordnung, wenn die noch in Frage 
fommende jtrafbare Handlung zu defjen Zuständigkeit gehört. 

Das Gericht, an welches die Sache verwiejen ift, hat die rechtliche Beurthei- 
lung, welche der Aufhebung des Urtheild zu Grunde gelegt ift, auch feiner Ent: 
iheidung zu Grunde zu legen. Auch gilt für dafjelbe das Verbot der reformatio 
in pejus (f. diefen Art.). Hat von mehreren Angeklagten nur einer die R. ein- 
gelegt, und iſt in Folge defien wegen Gejeßesverlegung bei Anwendung des Strai- 
geſetzes das Urtheil aufgehoben, jo ift zu erkennen, ala ob alle von der Geſetzes— 
verlegung berührten Angeklagten die R. eingelegt hätten. 


Gigb. u. Lit.: — ——— StrafPD. 88 374 -398. Hierzu beſonders die Kommentare 
von Löwe (2. Aufl.) und v. Schwarze. — Dochow, R kahl, 3. Aufl. (1880) 88 92, 
%. — Meves, Strafverfahren nach der Deutichen StrafPD., 2. Aufl. (1880) S. 89—103, 
141 fi, 169-172, 189—191. — v. Schwarze in v. Holtzendorff's Handbuch bes 
Deutichen ig Bd. II. (1879) ©. 288-321. — Hohn, Das Deutiche Straf: 
—— (1880), ©. 73 ff. — Geyer, Lehrbuch des Gemeinen Deutſchen Strafprozeßrechts 
(1880), S. 814—835. — v. Kries, Die Rechtsmittel des Civilprozefſes und des Strafprozeſſes 
(1880), S. 215—294. — Lamm, Dad Redtämittel der R. ım Strafprozeffe (1881). — 
Binding, Grundriß des Gem. Deutichen StrafiPrz. (1881), S. 176 —188. Dochow. 


Revokatorienklage iſt das zur Entkräftung einer verbotenen Lehnsveräußerung 
dienende Rechtsmittel. Nach Langobardiſchem Lehnrecht war dem Vaſallen anfäng— 
lich die Veräußerung des Lehns bis zur Hälfte geſtattet; erſt wenn das Lehn 
heimfiel, konnte der Herr auch das veräußerte Stück vindiziren (I. Feud. 13 pr. 
$ 2). Später wurde durch Lothar II. und Friedrich I. (II. Feud. 52 I. u. 55 pr.) 
jede Veräußerung an eine dritte, nicht in demjelben Lehnverbande jtehende Perſon 
unterfagt, und für den Tall einer Webertretung dem Herrn das Recht gegeben, das 
Lehn ſofort ala heimgefallen an fich zu ziehen, ohne daß feine Bindifation an eine 
beitimmte Berjährungsfrift gebunden war (II. F. 55 pr.) Nur in wenigen Fällen 
behielt die Veräußerung auch jeßt noch jo lange Geltung, bis das Lehn ohnehin an 
den Herrn zurüdfiel, 3. B. ala Witerbelehnung, Beftellung einer Prädialfervitut ıc. 
Jede diefer Vindikationen nun, frait deren nach dem Ausdrudf der Quellen feudum 
ad dominum revertitur, revocatur x. (II. F. 40 $ 1; L F. 13 $ 2) wird R. 
genannt (Pfeiffer, in Weiske's Nechtsleriton VI. ©. 580, 587; v. Gerber, 
Syſtem, $ 126; Stobbe, Handbuch, II. $ 124 bei Anm. 18). Nur Einige be- 
ſchränken dieſe Bezeichnung auf diejenigen Fälle, in welchen der Herr nicht fojort, 
jondern erjt bei dem fjpäteren Heimfall des Lehns die Veräußerung wieder auflöjen 
kann (Eichhorn, Ginleitung in das Deutiche Privatr., $ 228, Bejeler, 
Syſtem, $ 112). — Noch häufiger indefien, als auf die Klage des Herrn, wird der 
Ausdrud R. auf das den Lehnäfolgern gegebene Rechtsmittel bezogen. Da nämlid) 
die Agnaten, jowie die Mit- und Eventualbelehnten ein von der Willkür des Vor— 
gängers unabhängiges Recht auf das Lehn haben, jo find auch fie befugt, ohne 
Rüdficht auf die von jenem vorgenommene Veräußerung die Herausgabe des Lehns 
zu verlangen, jobald dafjelbe nach dem regelmäßigen Fortgange der Succeifion an 
fie gefallen ift (II. F. 26 $ 14). Für diefes Necht macht es feinen Unterjchied, 
ob der ‚Herr von feinem Ginziehungsrecht inzwijchen Gebrauch gemacht Hatte oder 
nicht; wenn er es gethan hatte, jo wird die dadurch herbeigeführte Konfolidation 
von nun ab wieder aufgehoben. Die Quellen brauchen für die Klage hier diejelben 
Wendungen, wie oben (I. F. 8$ 1; II. F. 39 pr.); daher ihre heutige Bezeich— 
nung als R., obwol fie ihrer Natur nach eine gewöhnliche vindicatio utilis ift und 
deshalb auch der Verjährung von 30 Jahren jeit dem Eintritt des Succejfionsfalles 
unterliegt ıc. Gtreitig ift nur, ob auch den Dejcendenten des veräußernden Bajallen 
die R. zufomme oder nicht. Die herrſchende Meinung verneint diefe Frage mit 
Recht - wegen der pofitiven Beitimmung des Lehnrechts, daß Söhne die Lehns- und 


474 Reyſcher — Rhederei. 


die Allodialerbſchaft ihres Aſcendenten nicht trennen und alſo die Haftung aus deſſen 
Veräußerungen nicht von ſich abwenden können (II. F. 45). Demgemäß iſt denn 
auch in den Quellen die R. überall nur den Agnaten gegeben, und die Konſolidation 
des Lehns dem Herren jo lange gefichert, als der veräußernde Vaſall und lehnsfähige 
Dejcendenten defjelben vorhanden find. Die Literatur über diefe Frage ſ. bei Eid: 
horn a. a. D., $ 228, Anm. n.; die Gründe für die entgegengefeßte den Deicen: 
denten günftigere Meinung bei Weber, Handbuch des Lehnrechts, IV. S 276. 
Dieje letere ift übrigens in Partikularrechten angenommen oder doch jo weit von 
Einfluß geweien, daß man den Dejcendenten bei Anftellung der R. nur die Ber: 
pflichtung zum GErja des Erwerbspreiſes auferlegt hat (Preuß. Allg. ER. I 188 
266 ff.; genaueres bei Stobbe, $ 124). Ed. 


NReyfcher, August Ludwig, 5 10. VII. 1802 zu Unterrieringen, ftubdirte 
in Tübingen 1821—24, wurde Sekretär im Juftizminiftertum, entwarf den Plan 
zu einer Gefegjammlung, 1829 Dozent in Tübingen, 1831 außerorbentl. Profefior, 
1837 ordentl. Prof., im VBorparlament zu Frankfurt, in der Württermbergiichen 
Ständefammer, am 29. III. 1851 jeiner Profeffur enthoben, Advokat in Gan- 
itatt, befämpfte in- und außerhalb der Kammer das Konkordat, thätig für die Sadıe 
Preußens, Gründer des Nationalvereins , der Deutichen Partei, 1871—72 im 
Reichätag, T 1. IV. 1880. : 

Er gab mit Wilba bie Zeitichr. für Deutjches Recht heraus (1839—1861). 

Schriften: Neber die Bedürfniſſe unferer Zeit in der Geſetzgebung, Stuttg. 1828. — 
Sammlung ber Württemb. Geſetze, Stuttg. 18283—830. — Sammlung Altwürttemb. Statutar- 
rechte, Tüb. 1834. — ern di che Verſuche, Stuttg. 1832. — Beitr. zur Hunde bes Deutichen 
Rechts (Leber die Symbolit des Rechts), Tüb. 1833. — Die grumdherrlien Rechte des 
Mürttemb. Adels, Tüb. 1836. — Das gefammte Württemb. Privatredht, Tüb. 1836—4), 
2. Aufl. 1846-48. — Ueber bie Einführung der Württemb. Gefege in die neuen Lande, Tüb. 
1888. — Tübinger Gutachten, 1838. — Die Aufgabe der Deutichen Nationalverfammlung, 
Tüb. 1848. — Drei verfafiungberathende Landesverfammlungen und mein Austritt aus dem 
Staatädienfte, Tüb. 1851. — Das Defterr. u. Württemb. Konkordat, Tüb. 1858. — Württemb. 
Geihichte und Ueberficht feiner Berfafjung und Geſetzgebung, Leipz. 1861 (aus Weiske's 
Rechtäleriton). — Die Rechte des Staates an den Domänen und Sammergütern nach dem 
Deutichen Staatsrecht und den Landesgeſetzen, Leipz. 1863. — Der Rechtäftreit über das Eigen 
thum an den Domänen des Herzogth. Sadjien: Meiningen, nr 1865. — Die Urſachen dei 
Deutfchen Kriegs und defien Folgen, Stuttg. 1867. — Tas Zollparlament und die Deutice 
Einheit, Ganft. 1868. 

Lit.: Schwäbilche Chronik, des Schwäb. Merkur 2. Abth. N. 79 (1880). — Augit. 
Allg. Ztg. 1880, ©. 1384. — Klüpfel, Die Univerfität Tübingen, Leipz. 1877, ©. 90, 105. 

Zeihmann. 


Mhederei, die Vereinigung mehrerer Perfonen, welche ein in ihrem Mit: 
eigenthHum jtehendes Schiff zu gemeinfchaftlichem Erwerb durch die Seefahrt ver- 
wenden. Die Theilnehmer der R. heißen Mitrheder oder Schiffärreunde, die An: 
theile derjelben am gemeinjchaftlichen Schiff Schiffeparten. Die R. gehört ihrer 
rechtlichen Natur nach unter den Begriff der partifulären Erwerbsgemeinſchaft; Ne 
hat aber nach der ihr in den neueren Seerechten zu Theil gewordenen Entwidelung 
zugleich Elemente in fich aufgenommen, welche über dieje Grundlage hinausreichen 
und die Neigung zu forporativer Gejchlofjenheit erfennen laffen. Hervorzuheben ift: 
a) die R. iſt gleich der Aktiengefellichaft unabhängig von der individualität der 
einzelnen Mitglieder. Jeder Mitrheder kann feine Sciffspart beliebig veräußern. 
Nur dann, wenn durch die Veräußerung die Nationalität des Schiffes verloren gehen 
würde, ift Einftimmigfeit erforderlich. Das nach anderen Seerechten beftehende Bor- 
faufsrecht der Mitrheder it durch das HGB. bejeitigt. b) In Angelegenheiten der 
R. enticheidet die Majorität, die nach Schiffäparten berechnet wird. Jeder Mit 
rheder muß nad; Maßgabe diefer Beichlüffe zu den Ausgaben der R. beitragen. 
Wer fich nicht fügen will, hat nur das Recht zu abandonniren, d. 5. jeinen Anr- 


Ribbentrop — Ricardus. 475 


ſpruch auf Entgelt aufzugeben. Das früher in Deutſchen Seerechten vielfach der 
Minorität gewährte Recht, das Schiff zu Gelde zu ſetzen (ſog. Setz- und Kührrecht, 
vol. Beſeler, Privatrecht, S. 1030, und Zeitſchr. 7. Deutſches Recht, Bd. XVIII. 
Nr. 9), iſt nicht in das HGB. übergegangen. c) Gewöhnlich hat die R. einen 
eigenen DBertreter, den SKorreipondentrheder (Schiffedireftor, Schiffedisponenten). 
Derielbe pflegt meift aus der Zahl der Mitrheder ernannt zu werden, fann aber 
auch eine dritte, nicht zur R. gehörige Perfon fein. Er hat im Allgemeinen die 
Stellung eines Handlungsbevollmächtigten und ift zur Vornahme aller Handlungen 
befugt, welche der Betrieb der R. gewöhnlich mit fich bringt. Soweit er innerhalb 
jeiner Befugniffe gehandelt Hat, werden die Mitrheder ebenjo berechtigt und ver— 
pflichtet, wie wenn fie perjönlich fontrahirt hätten. Seinen Machtgebern gegenüber 
ift er verpflichtet, jich an die ihm ertheilten Inftruftionen zu binden und in außer- 
ordentlichen Fällen den Beichluß der R. einzuholen. Er muß über feine Gejchäfte 
ordnungsmäßig Buch führen, den Mitrhedern auf Verlangen Mittheilung von den 
die Rh. betreffenden TIhatjachen machen, ihnen Einficht in die Bücher, Briefe und 
Papiere geftatten und jederzeit zur Rechnungslegung bereit jein. Bei Wahrnehmung 
jeiner Obliegenheiten haftet er für die Sorgfalt eines ordentlichen Rheders. d) Ge— 
winn und Verluſt werden nach Verhältniß der Schiffsparten vertheilt. Auch die 
Haftung Dritten gegenüber richtet fich, jofern fie die Perfon der Mitrheder ergreift, 
nach der Größe der Schifföparten. e) Die Auflöfung der Rh. wird durch Stimmen- 
mebrheit beichloffen. Dem Auflöfungsbeichluß ſteht der Beichluß, das Schiff zu 
veräußern, gleich. f) Soweit die bier hervorgehobenen Beitimmungen das innere 
Verhältniß der Mitrheder unter einander betreffen, find ſie lediglich bispofitiver 
Natur, jo daß in erjter Linie immer die Vereinbarungen des MRhedereivertrages zur 
Anwendung fommen. — Die Vereinigung mehrerer Perjonen zu gemeinfchaftlichem 
Betrieb des Rhedereigewerbes kann übrigens auch die Gejtalt einer Handelsgeſell— 
haft annehmen, jei e8 einer offenen, einer Kommanditgejellichaft auf Aktien, einer 
Aktiengeſellſchaft oder auch einer ftillen Geſellſchaft. Alsdann find die betreffenden 
Vorichriften aus dem zweiten und dritten Buch des HGB. maßgebend. 

Gigb. u. Kit.: HGB. Art. 456—477 und dazu die Kommentare von Koch und Ma» 
fower. — Beieler, Deutjches Privatrecht, $ 258. — Heiſe, H.R. 88 154—159. — Die 
et bes Seerehtö von Jacobjen, ©. 2 ff.; Te ©. 98 fi.; v. Kaltenborn, 

. 107 ff., und die daf. Angef. — Lewis, Seeredit, I ©. 39 ff. — 
ehren 


Mibbentrop, Georg Julius, & 2. V. 1798 zu Bremerlehn (Hannover), 
jet 1820 Privatdozent, 1823 außerordentl. Profeffor, 1832 ordentl. Profeffor in 
Göttingen, T 13. IV. 1874. 

Er jchrieb: Comm. ad l. 16 $ 5 D. de pign. et |. 4 3 1 D. de exc. rei jud., Gott. 
1824. — Zur Lehre von ben Rorrealosligaiionen, - 1831 

Zit.: Augsb. Allg. Big. 1874 Nr. 108, ©. Zeihmann. 


Micard, Jean-Marie, & 1622 zu Beauvais, wurde Advofat am Parifer 
Parlament, T 1678. 
Schriften: Oeuvres, ed. Bergier, Rouen 1783. 


Zit.: Rodiere, Les grands he 1874, 2 343, — Etein-Warn: 
fönig, Geanpöl, Staats: und Rechtsgeſchichte, II. 123. — — — — Gaudry, Barreau 
de Paris, 1864 II Teihmann. 


Micardus, Anglicus, Engländer, lehrte in Bologna, wurde 1205 Dekan 
von Saliäbury, 1214 Biſchof von Ghichefter, dann von Salisbury, 1228 von 
Durham, 7 1237. 

Gr idhrieb: Ordo judiciarius (ed. Witte, Feſtprogramm zum 15. Oft. 1851 und Hal. 
1853). — Gloss. ad Decrett. — Casus. — Distinct. super Decretis. — Glossae zur Com- 
pilatio prima. — Casus decretalium. 


476 Richter — Richterlicher Eid. 


git.: Tat ig ul. 632—635. — de Wal, Beitr., 11. — Roziöre in R. Bibl. de 
droit, I. 113—116. — Gersdorf's Rep. 1853, 1.9 ff. — Schulte, Gedichte, I. 13— 
185, 256. — Rivier, Introd. historique 1881, p. 571. — Bethmann-Hollweg, Vl. 
105—109. Zeıhmann. 


Nichter, Aemilius Ludwig, & 15. II. 1808 zu Stolpen (Sachſen), wurde 
Advokat und Dozent, erhielt 1835 von Göttingen die Doktorwürde verliehen, 1836 
außerordentl. Profeffor, 1838 ordentl. Profeffor in Marburg, 1846 in Berlin, Mit: 
glied des Oberkirchenraths, 1859 Geh. DReg.Rath, F 8. V. 1864. 

Schriften: Ausg. b. Corp. jur. can., Lips. 1833—89. — Beitr. 3. Kenntniß d. Quellen 
beö Kan. Rechts, Leipz. 1834. — De emend. Gratiani, Lips. 1835. — De inedita Deeret 
coll. Lips., Lips. 1836. — Canones et decreta concilii Tridentini, Lips. 1839; assumto socio 
Schulte, Lips. 1853. — Lehrb. d. tath. u. evang. Kirchenrechts, Leipj. 1842, 8. Aufl. 1877 $. 
beforgt von Dove. — De tripl. damn. Formosi episc. Portuensis, 1843. — Antiqua canonum 
collectio ..... .. Marb. Catt. 1844. — Die evang. Kirchenordnungen bed 16. Jahrh. Weimar 
1846. — Der Staat und die Deutichkatholiten, Leipz. 1846. — Bortr. über Berufung ber 
evang. Landesſynode, Berl. 1848. — Gutachten, die Verf. der evang. Kirche in Preußen betr., 
Leipz. 1849. — Geſchichte der evang. Kirchenverfaffung in Deutſchland, Leipz. 1851. — Beitr. 
zur Geichichte bes Eheſcheidungsrechts in der evang. Kirche, Berl. 1858. — Fr. Wilh. IV. 
und bie Verf. der evang. Kirche, Berl. 1861. — Beitr. zum Preuß. Kirchenrecht, herauägeg- 
von ee chius, Xeipz. 1865. — Er begründete 1837 die „Kritilhen Jahrbücher“. 

it: Hinſchius, Zur —— an A. L. R, Weimar 1865. — Dove, Zeitſchr. 1. 
138; V. 259—280; VII. 273—404. — Reue ————— Nr. 5—7. — Preuß. Jahrb. 
XI. 339 ff. — Schulte, Geld., III.b ©. 210 —225. Teihmann. 


Richterlicher Eid. R. E. oder Notheid (juramentum necessarium der 
Späteren, weil von der Initiative der Parteien unabhängig, während die Römer 
unter juramentum necessarium jeden im Prozeß vorfommenden Eid wegen der Noth— 
wendigfeit fich auf ihn einzulaffen verftanden) ift diejenige Anwendung des Eide: 
(j. diefen Art.) als Beweismittel, wodurch der Richter ex officio die Heritellung 
der Wahrheit oder Unwahrheit einer zu beweijenden Thatſache von der Eidesleiftung 
der einen oder anderen Partei abhängig macht. Der r. E. ift Beweismittel, trob: 
dem ihn der Richter ex officio in den Prozeß einführt (anderer Meinung: Heus: 
ler, Archiv F. d. civ. Pre. LXII. ©. 299); nicht ala ob er ihn nicht ald Beweis- 
mittel einführte (Wach, Vorträge, S. 176), jondern weil der Begriff des Beweis— 
mitteld von der Verhandlungsmarime unabhängig ift (Wendt, Archiv f. d. civ. 
Prx. LXII. ©. 261 ff., vol. ©. 277). Die VBorausfeßung des r. E. war im Gent. 
Prozeß ſtets eine voraufgehende Beweisthätigkeit der Parteien, die zu einem vollen 
Beweisrefultate nicht geführt hatte (inopia probationum). Der unter diefer Bor: 
ausjegung zur Vermeidung eines non liquet vom Richter über die zu bemetjende 
Thatſache jelbit aufzuerlegende Eid wurde dann von der gejeßlichen Beweistheorie 
des Gem. Prozeſſes erfaßt, jo Hinfichtlich der Frage, welcher Partei er aufzuerlegen 
jei, wie Hinfichtlih der Wirkung der Eidesleiftung und reſp. -Nichtleiftung. In 
eriterer Beziehung insbejondere war dem Richter (nach) Wegfall der Unterjcheidung 
der Gloſſe zwifchen causae arduae und minores; vgl. über das Gefchichtliche Wetell) 
vorgeichrieben, die — wenigſtens theilweife ebenjall® nach Beweisregeln zu be 
meſſende — Stärke des erbrachten Beweifes jo enticheiden zu laffen, daß er den Eid 
bei weniger denn halbem Beweis dem Probaten zur Herſtellung der Unwahrheit, bei 
mebr denn halbem dem Probanten zur Herjtellung der Wahrheit, ſei es in Geftalt 
eines j. veritatis oder eines j. credulitatis (nicht auch eines j. ignorantiae: Re: 
naud, Archiv f. d. civ. Prx. XLIII. ©. 178, 209) auferlegen mußte, während bei 
gerade halbem Beweis die größere jubjektive Glaubwürdigkeit und das befjere Wiſſen 
der einen oder anderen Partei enticheiden und nur ceteris paribus Probant näher 
zum Eid jein folltee Da nun der dem Probanten gegebene Eid für Diejen ein 
Mittel zur Ergänzung des ihm im Interlokut auferlegten, von ihm unvollitändig 
geführten Beweifes, der dem Probaten gegebene Eid für diefen ein Mittel zur Hin- 
wegräumung diejes gegen ihn geführten Beweijes war, jo unterfchied der Gem. Prozeß 


Nichterlicher Eid. 477 


den r. E. in ein j. suppletorium und purgatorium, Grfüllungs- und Reinigunggeid, 
von welchen der letztere indeß, als Angefichts der Möglichkeit einer eventuellen Eides— 
delation entbehrlich, partifularrechtlich vielfach abgejchafft wurde, jo daß, wenn der 
gelieferte Beweis nicht einmal zum suppletorium ausreicht, er ala nicht vorhanden 
zu betrachten ift (Code civil art. 1366, 1367; Bayer. Prz.O. von 1869 Art. 469; 
vol. auch Hannov. Prot. VIII. ©. 2986 ff.). — Iſt nun im Defterr. Entwurf von 
1876 der r. E. wie der Parteieneid überhaupt durch die eidliche Vernehmung der 
Parteien ala Zeugen erfeßt, jo Hat ihn dagegen die Deutiche EPD. zwar in ihr 
Beweisſyſtem aufgenommen, aber in Folge des Prinzips der freien richterlichen Ueber— 
jeugung dem Gem. Prozeß gegenüber gänzlich umgeftaltet. In Konfequenz dieſes 
Prinzips, wie es in $ 259 der CPO. Ausdrud gefunden hat, mußte vor Allen die 
Vorausfegung der inopia probationum fallen gelafjen, und dem Richter geftattet 
werden, auf Grund lediglich der vor ihm geführten Verhandlung, eventuell ſelbſt 
unter Zurückweiſung angebotener anderer Beweife — (Abweichung von dem Grundjah 
der Subfidiarität des Eides: Endemann, Komm. zu $ 347 sub. II.; unrichtig 
Strudmann, ebenda (3. Aufl.) sub 1 i. f.) — den Notheid aufzuerlegen, woraus 
fi von jelbit wieder ergiebt, daß derjelbe nicht blos über die zu beweifende That— 
ſache jelbft, jondern auch über ein Indiz verlangt werden kann (vgl. $ 437 vv. 
„der zu erweifenden Thatſache“ — „über eine jtreitige Thatſache“, j. Hierher auch 
Hannov. Prot. VIII. ©. 2997); mußte weiter aber auch dem Richter die freie Ent- 
icheidung nicht blos darüber, welcher Partei, fondern auch ob er überhaupt den r. €. 
auferlegen wolle, unbejchränft überlaffen werden (daher das „kann“ des $ 347 
durchaus nicht in Bolgiano’s Sinn — Archiv f. d. civ. Prx. LVIII. ©. 279, 
Nr. 2; Zeitſchr. F. Deutichen Civ. Prz. II. S. 102 — ala „muß“ zu interpretiren ift; 
vgl. die eingehende Erörterung ob „kann“ oder „muß“ in den Hannov. Prot. VIII, 
S. 2993— 2996). Gefallen iſt daher die Regel, daß der Richter je nach der 
Stärke des erbrachten Beweifes dem Probanten oder Probaten den Eid zu geben 
babe, der übrigens jchon durch die Bejeitigung der die Wirkung der Beweismittel 
normirenden Regeln (K(PO. $ 259, Abi. 2; EG. zur CPO. $ 18, 3. 2, 8 14, 
3. 3) die Grundlage entzogen ift. Aber auch darauf, welcher Partei die Beweis— 
pflicht obliege, fan e8 nur noch ankommen für die Frage, ob ein r. E. aufzulegen 
jei, indem, wenn der Beweispflichtige nicht bewieſen hat, die Vorausſetzung der 
Auflage: daß das Ergebniß der Verhandlung oder Beweisnahme zur Begründung 
der richterlichen Weberzeugung „nicht ausreichend“ ſei, mangelt; dagegen nicht mehr 
für die Trage, welcher Partei der Notheid zu geben jei (Mot. zu $ 419 des 
Entw. von 1874, ©.509; zu 241 ff. des Entw. ©. 472 sub II). Damit ift zugleich 
der Unterjcheidung eines j. suppletorium und purgatorium der Boden weggenommen, 
Endlich iſt der r. E. jelbft von den Beweisregeln, welche die Deutfche CPO. gerade 
Hinfichtlich des Eides ſonſt noch beibehalten hat, wenigſtens theilweije befreit: er 
fann zwar ala Beweismittel nur über Ihatfachen, nicht über Rechte oder Urtheile 
auferlegt werden — wovon indeffen, wie jchon nach Gem. Necht (Wetell, $ 26, 
S. 2830) bezüglich der Abichägung eines Schadens oder Intereſſe nach $ 260 eine 
Ausnahme gemacht ift —; aber er ift nicht auf die Thatfachen des S 410 befchräntt, 
jondern fann auch über facta aliena jchlechthin, jedoch unter Beobachtung der Normen 
des $ 424 (arg. $ 439), abverlangt werden. Hinfichtlich der Wirkungen der Leis 
ſtung oder Nichtleiftung ift er dagegen wie nach Gem. Recht an Beweisregeln ge= 
Bunden (88 428 ff.); die gemeinrechtliche Rejtitution gegen diefe Wirkungen wegen 
neuaufgefundener Beweismittel (Renaud, $ 142 zu Nr. 30 ff.) ift der RCPO. 
unbefannt (vgl. aber $$ 432, 433). Wie da8 Gemeine Recht jchließt fie Zurück— 
ichiebung und Serwiffensvertretung beim r. €. aus. Der r. E. kann nad) $ 437 
nicht eher, als beim Abſchluß der Verhandlung auferlegt, muß aber eben deswegen 
jtetS durch bedingtes Urtheil angeordnet werden ($ 439 cf. mit $ 426). Der r. €. 
ift ſchließlich in allen Prozeffen, auch in Eheftreitigkeiten, zuläffig; mit Ausnahme 


"478 Niegger — Riſtontro. 


des Urkunden: und Wechielprogeiies (arg. SS 560 Abi. 2, 555, 558) und der Ent- 


Quellen: 1. 31 D. de jurej. 12, 2.—1. 3 C. eod. 4, 1.— c.36 $1 X. eod.2, 4. — 
c. 2 X. de — 2, 19. — Allg. Preuß. Ger. Ordn. I. 10 $ 251; 22. — Deutſche ERT. 
88 437—43 


Cit.: Strippelmann, Gerichtseid, 3. Abth. S. 1260. — Wetzell, Suftem, $ 3. - 
Renaud, Lehrb., $ 142. — Bolgiano, Arc. f. d. civ. Prar. LVII. ©. 276—294; LIX. 
S. 212; Derjelbe, Zeitichr. f. Veutſch. Civ. Prz. IT. S. 101—110. — Wad, Vorträge, 
©. 174 fi. Birkmeyer. 

Niegger, Paul Joſeph Ritter von, & 29. VI. 1705 zu Freiburg im 
Breisgau, 1733 dajelbit Profeffor, 1753 nach Wien berufen, wo er auf die Gejeh- 
gebung wejentlich einwirfte, 1764 in dem Ritteritand erhoben, T 2. (6.2) XU. 


p h 
II. 1770; II. IV. 1772, 4. ed. 1774, ganz 1777, 1780, ed. le Plat, Lovan. 1780. — Prince. 
ybel, 1773. — Elementa jur. ecel., 1774 ss. — 

768. 

git.: Schreiber, Univ, freiburg, III. 172. — Wurzbach, XXVI. 129 ff. — Schulte, 
Geſch. III. a S. 208—210. 

Meber feinen Sohn Joſeph Anton Stephan 1742—1795 vgl. Schulte, L c 
S. 261—263 — Rieggeriana, Wien Freib. Prag 1790. Zeihmann. 

Ninderpeft, ſ. Viehſeuchen. 


Riſkontro (Ital.) = Gegenrechnung — im Gegenſatz von scontro — Rech— 
nung. Man bezeichnet damit eine eigenthümliche Zahlungsart des kaufmän— 
niſchen Verkehrs, nämlich die auf allſeitige Einwilligung beruhende Aus— 
gleichung gegenſeitiger Schulden unter mehr als zwei Perſonen, welde 
zu diefem Zwede perfönlich oder durch Bevollmächtigte zufammentreten (Zahlung 
mit geichlofienem Beutel, jkontriren; Ital.: riscontrare, scontrare, incontrare: 
ranz.: riscontre, virement). Der Zwed iſt die möglichite Eriparung der Baar: 
zahlung. Eine ganze Zahl von Schuldverhältniffen verjchiedener Perjonen (aus 
Wechjelverfehr, Lieferungsgefchäften 2c.) joll fich in der Weiſe löſen, dab ſchließlich 
nur zwei Perjonen mit Forderung und Gegenforderung bzw. mit Forderung umd 
Schuld einander gegenüberftehen. Die juriftischen Mittel find Kompenjation 
und Ceſſion oder Anweiſung bzw. Delegation oder gewöhnliche Mandat; daß zuletzt 
auch eine Baarzahlung fonkurrirt, ift nicht ausgefchloffen. Die Skontration, 
d. h. das Gejchäft, welches alle dieje thatjächlich in Einen Vorgang zufammen- 
iallenden Rechtsakte umfaßt, geichieht in der Regel auf Meffen und Märkten an be 
ionderen Tagen (Stontrirungstage), auf den Börfen zur Liquidationgzeit, auch 
an bejonderen Stontropläßen (3. B. der „Römerberg” in Frankfurt a. M., 
„am Perla” in Augsburg ıc.). In weiten Umfange erfolgt Heutzutage die Skon— 
tration im Giroverkehr (f. diejen Art.) der Banken. Die Bank dient hier als 
dritte Perfon, welche durch ihren Hinzutritt das Skontriren ermöglicht. In Eng: 
land und Nordamerika beitehen zum Zwede der Skontration unter einer Anzahl 
verbundener Banken jog. clearing-houses (Abrechnungshäuſer). — Dai 
Abrechnungsſyſtem bedarf feiner vorgängigen Berabredung. Es genügt die inter 
praesentes ausdrücklich oder jtillichtweigend gegebene Einwilligung, — Die Wir: 
tung it der der Zahlung mit Baarfonds gleih. Das Ab» und Zufchreiben in 
den Handelsbüchern ift für diejelbe micht wejentlich, jondern dient nur zur Be 
urfundung. Die einzelnen Skontrirungsatte werden häufig auch in befondere Ston: 
trobücher eingetragen. Ob die Umjchreibung in den Büchern einer Girobant 
die Skontration ſelbſt erjt juriftiich vollzieht oder nur als Beweismittel zu be 
trachten ijt, läßt fich nur nach den Einrichtungen jeder einzelnen Bank beurtheilen. 
Im Giroverkehr der Deutichen Reichsbank wird in der Regel erft die Buchung 
bei der Bankanftalt des Beitimmungsorts als der die Zahlung vollendende Alt 
zu betrachten jein, nicht jchon die Einlieferung des (rothen) Cheda. 


rRiſtorno. 479 


Lit.: Pöhls, Darſtellung des Gemeinen Deutſchen und bes vo HR, L $ 197 
S. 296). — geile DS. $, u 34). — Mittermaier, Grundi. b Gemein. Deutichen 
Privatrecht3, ‚, DR, 6. Aufl, I. 88 389-341. — Goldihmidt, 
pr bes H. R. 2S. 1188. — ae Das Deutihe H.R., 3. Aufl. $ 136. — 

uſchütz in Goldihmidt' 8 2. Zeitichr. f. d. ger HR. XVIL ©. 108. — Ein Beiipiel des 

riscontro j. in dem Auff. vom Malß, ebenda IV. ©. 6, 7. — Liquidationäverein f. Zeit: 
gerhäfte in Berlin |. ebenda XIV. ©. 468; XVII. ©. 174. — 2 das Londoner clearing- 
ouse j. Mittermaier in Golbihmidt’ 3 x. Zeitſchr. f. d. geſ. H.R. X. S. 7 ff. — 
Seyd, Das Londoner — Check⸗ und Clearing-house-Syftem, 1874. — Wagner, Spitem 
der Zettelbantpolitif, S . 53, 450, 667, 730. R. Koch. 


Niftorno (Ital. von ritornare, d. h. reitituiren; Franz.: ristourne, Engl.: 
return), d. 5. Rüdgabe der Prämie bei Ungültigfeit oder anderweiter Aufhebun 
des Verficherungsvertraged. Die Verpflichtung dazu mag man, wie dies ausdrüctieh 
von Franzöfiichen und Italienischen Juriften gejchieht, auf die Grundjäße von der 
condictio sine causa zurüdführen. Im Seeverficherungsreht haben fich indefjen 
unter Mitwirkung von Billigkeitärüdfichten eigenthümliche Regeln ſowol über die 
Fälle, in welchen eine jolche Rüdgabe verlangt werden kann, als über einen aladann 
dem VBerjicherer zur Entichädigung für Bemühungen und Aufwendungen (Gour- 
tage ıc.) verbleibenden Abzug („R.gebühr“) gebildet, welcher hiernach zu den 
Naturalien des Seeverficherungsvertrages gehört. Nach dem Allg. Deutichen HGB. 
fann die Prämie bis auf die R.gebühr (in der Regel !/, Prozent der Ber: 
jiherungsjumme, nach den Deutjchen allgemeinen Bedingungen ?/; Prozent, 
eventuell die Halbe Prämie) ganz oder verhältnigmäßig zurücgefordert (oder ein- 
behalten) werden: 1) wenn und joweit der Verficherer wegen Aufgabe der Unter: 
nehmung, oder weil die Sache ohne Zuthun des Verſicherten (3. B. bei 
Friedensſchluß) der Gejahr nicht ausgeſetzt wurde, feine Gefahr gelaufen ift — der— 
gejtalt jedoch, daß, wenn die Gefahr bereit? zu laufen begonnen hat, nicht einmal ein 
theilweiſes R. jtattfindet; 2) wenn die DVerficherung wegen Mangels des 
verficherten Jnterejje oder wegen Ueber- oder Doppelverjihherung un- 
wirffam ift — gleichviel, ob der Vertrag aus anderen Gründen für den Verficherer 
unverbindlich ift und diejer jonjt auf die volle Prämie Anſpruch hätte. In dem 
zweiten alle ift jedoch Vorausjegung, daß der Verficherungsnehmer fih in gutem 
Glauben befand. — Aehnliche Grundjäße gelten bei allen jeefahrenden Nationen. 
So infonderheit in Frankreich, Holland, Italien ꝛc. (In Frankreich verjteht man 
unter „ristourne* die Aufhebung des Vertrages jelbjt.) Etwas weiter geht das 
Engliſche Recht: ES kommt (abgejehen von dolus — „fraud“) nicht darauf an, 
ob der Gegenſtand der Aſſekuranz ohne Zuthun des BVerficherten der Gefahr nicht 
ausgejeßt wurde; auch wird jchon (theilweije) riftornirt, wenn das Intereſſe unzu— 
länglich (short interest), oder wenn nach dem Marktpreife am Bejtimmungsorte 
fein Gewinn möglih war. Nach Preuß. Recht ift bei Verficherung auf imaginären 
Gewinn das R. nur zuläffig, wenn die Unternehmung ohne Schuld des Verficherers 
nicht jtattfindet. — Auch bei der Bodmerei fommt das R. vor in dem falle, 
wenn die verbodmeten Sachen der Seegefahr nicht ausgejeßt werden. Nach dem 
HGB. kann der Gläubiger die fojortige Zahlung der Bodmereifchuld unter ver- 
bältnißmäßiger Herabſetzung der Prämie fordern, wenn die Unternehmung 
vor dem Antritt der Bodmereireife aufgegeben wird; ift die Reife bereits an— 
getreten, wird aber in einem anderen ala dem Beſtimmungshafen beendet, jo iſt 
die Bodmereifchuld in jenem Hafen ohne Abzug zahlbar. Wenn nur ein Theil 
der Sachen der Seegefahr nicht ausgejeßt worden, kann nach dem Prinzip des Ge— 

jeges ein (theilweifes) R. nicht ftattfinden. 


RE u. Lit.: Allgem. ring HGB. Art. 699, 899-902. — Preuß. Allgem. 
F 2333—2345 (cf. EG. GB. Art. 60 3 1. — Code de comm. art. 
361. — Holländ. HGB. Bud II. Sekt. 4 Tit. IX. Art. 635, 636. — Rev. 

nn lan — Seeverficherungabedingungen ss 7884 (Voigt u. Heineten, Neues 


480 Nittergüter. 


Arch. f. H.R. IV. ©. 222 fi.) — gr Seeverf.: Bed. v. 1867 SS 44, 46, 47, 64, 154. — 
Lewis, Das Deutiche Seerecht, II. (1878) ©. 391— 395. — dhla, — Pe Sn Ener 
I. ss 5 (©. 477-516). — Benede Molte), Syftem bed Seeaſſekuranz⸗ und 
Bobmereimeiens, I. S. 334-388. — v. Kaltenborn, an II. $ 205 (S. 300-304. — 
Zedlenbor , Syftem des Seeverſicherungsweſens, S. 200 210. — v. Duhn, Die Reviſion 
des Franz. erechts, in Goldſchmidt's _ ei. für dad gei. H.R. XIV. ©. 16 fl. 
(Beide pr —* — - Ad 7 ) — er 'ours de droit com- 
mercial, Tome II. W. Smith, Merc. law, 9tı ei 
(Dowdeswell I) 1677. © —— — er Lei, Intern, comm. law, 2th ed. 1868, 
II. p. 889, ent, Commentaries on American Law, 12th ed. hr Vol. I. 
p. 341, 342 — V. Fer XLVIIL 8 13). R. Koch. 


Rittergüter (Th. I. S. 498) wurden urſprünglich ſolche Güter genannt, von 
denen Ritterdienfte geleiftet wurden. Hierzu wurde vorausgeſetzt, daß die Güter in 
ritterbürtigen Familien vererbt waren. Dagegen konnten es jowol Allodialgüter, 
als Lehngüter fein. Als Nitterbürtige waren die Gigenthümer diefer Güter mit 
mannigialtigen Borrechten ausgeftattet und von den Laſten befreit, denen die nicht 
bevorrechteten Stände des Territoriums unterworfen waren. Im Laufe der Zeit, 
und zwar namentlich jeit dem 15. Jahrhundert, gingen dieje perfönlichen Vorrechte 
und Berreiungen zum Theil auf die Güter jelbjt über und erjchienen als ein ding: 
licher Vorzug eben diejer Güter (al nobilitas realis). Daraus, jowie aus dem 
Umftande, daß auch die Laſten der ländlichen Bevölkerung meift als auf dem Grund: 
ſtück Haftend angefehen wurden, erflärt fich die jpätere Begriffsbeftimmung eines X. 
als eines Gutes, welches von den regelmäßig auf ländlichen Grundſtücken ruhenden 
Laſten befreit und mit gewiffen Vorrechten ausgejftattet ift, die der Beſitzer des Gutes 
als jolcher ausüben darf. Seitdem fann darüber, ob einem Gut die Qualität eine 
R. zugufprechen ift, nur die WVerfaffung des Sg Zandes, reip. der Provinz 
enticheiden (vgl. Preuß. Allg. ER. Th. II. Tit. 9 $ 38). In manchen Staaten 
ift dafür ein Normaljahr maßgebend, in manchen auch die Eintragung in bejondert 
Matrikeln. Die Berreiungen der R. beitanden früher namentlich in der Befreiung 
von gewiffen Steuern (hauptfächlich der Grundfteuer), von Landfrohnden und der 
Ginquartierungslaft. Die Vorrechte waren politische und privatrechtliche, und zwar 
bejonders Yandjtandichaft, Gerichtäbarleit, Polizeigewalt, Patronatärecht, Braugerech— 
tigfeit, Mühlenzwang und andere Bannrechte, die Forſt- und Jagdgerechtigkeit, 
(egtere gegenüber dem landesherrlichen Forſt- und Jagdregal. Außerdem gehörten 
in nicht wenigen Territorien die ein Rittergut betreffenden Rechtäftreitigkeiten jchon 
in erjter Inſtanz vor die Obergerichte. Daher wurden dann dieje Güter ala jchrift: 
jäffige bezeichnet, im Gegenfag zu den amtsfäffigen, Hinfichtlic) deren die Unter 
gerichte kompetent waren. Die genannten Vorrechte und Befreiungen waren indeh 
nicht mit jedem Rittergut an fich verbunden. Vielmehr berubten diefelben auf be 
jonderen Privilegien, auf Partitulargejegen oder unvordenklicher Verjährung. Manche 
Gerechtſame, wie die Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt, find hauptfächlich auch hervor: 
gegangen aus der Vogtei, welche in der älteren Zeit den Beſitzern von R. über die 
zu diejen gehörigen Hinterjaffen zuftand. Im Streitfall ift daher dad Vorrecht von 
dem, der es in Anspruch nimmt, zu beweifen; doch genügt bei gejeglichen Vorrechten 
der Beweis, daß das betreffende Gut zur Kategorie der R. gehört. Die Erwerbung 
von R. iſt durch die frühere Gejeßgebung zuweilen auf Perfonen des Adelaftandes 
beichränft (3. B. Preuß. Allg. ER. Th. U. Tit. 9 $ 37) oder wenigftens dem 
Bauernftande verfagt worden (f. Haubold, 8 3908). Doc ift das Eine wie 
das Andere jpäter aufgehoben (Preuß. Edikt vom 9. Oft. 1807, $ 1; königl. Sächſ. 
GSejeh vom 22. Februar 1834, $ 5). Länger hat fich die Einrichtung erhalten, 
daß einige der gedachten Vorrechte, nämlich die Landftandjchait und die obrigfeit- 
lichen Befugniffe, jo lange ruhen follen, als fich das Gut in den Händen eines wicht: 
adeligen Beſitzers befindet (Reyicher, ©. 445 ff.). Der eigenthümliche Charakter 
der R. hat fich in Folge der neueren Gejeßgebung faſt überall verloren. Nur wenig: 


Nittersypufins — Röder. 481 


Vorrechte Haben fi) noch in einigen Staaten erhalten, jo namentlich die guts- 
herrliche Polizeigewalt. 

Lıt.: Hagemann, Handbuch des — a (Hannover 1807), ©. 133 ff. — 
ee Schrbuch des fönigl. Sächſ. Privatrechts, II. (3. Aufl. Xeipz. 1848) ©. 6 fl. — 
eniher, Das Gemeine und Württemb. Privatrecht, I. (2. Aufl. Tübing. Tape 441 fi. — 
v. Wächter, Württemb. Privatrecht, II. 3 3. — Roth, Bayer. Civilrecht, IL $ 117. — 


Stobbe, Deutiches Privatrecht, IL. 3 129. Lewis. 


Nittershufius, Konrad, 5 25. IX. 1560 zu Braumfchweig, reifte, wurde 
1591 in Bajel Doktor, jpäter in Altorf, F 25. V. 1613. 

Schriften: Ausgabe d. Paulus, 1594. — Progymnasmata juris, 1598. — Collatio legum 
Attie. et Rom., 1608. — Partitiones jur. feudalis, 1603. — Jus Justinianum h. e. Novellarum 
expositio, ent. 1615, 1629, 1630. — Dodecadeltos s. in XII tab. leges comm., Argent. 
1616. — Different. jur. civ. et canonici libri 7, Argent. 1616, 1618, 1638, 1668. — Joannis 
antiqui gloss. Summa in Novellas Just., Fref. 1615. — Novellae const. Imperatt. Justiniano 


— Fef. 1615. 
Lit.: Stinpin 2, ie der Deutichen ee (1880), I. 414419, — 


Schulte, Gelhichte, II.b 32. — Rivier, Introd. hist. 1881, p. 602. Zeihmann. 


NRivallius, Aymarus, seigneur de la Rivaliere, 5 Mitte des 15. Jahrh., 
war Parlamentsrath in Grenoble, T nach 1535. 

Gr jchrieb: Civ. hist. jur. s. in XII tab. leges comm. 1. V, Valent. 1515. Lugd. 1551. 

git.: Savigny, VI. 449—452, — Rivier, L c. p. 588. Zeihmann. 


Robert, Jean, Profeſſor zu Orleans, befannt wegen jeiner Streitigfeiten 


mit Gujas, T 1590. 
* ſchrieb: Lectionum receptarum l. II, Aureliae 1567. — Animadversionum |. III, 


git.: Rivier, 1. c. p. 591. — Spangenberg, Cujas unb feine Zeitgenoffen, Leipz. 
1822, S. 179, 180. 


Nobertus, Flamesburienfis, Kanonikus von St. Viktor in Paris und 


Pönitentiar. 
Er jhrieb um 1207 ein Poenitentiale. 
Bi Schulte, R. Fl. summa de matrimonio et de usuris, Gissae 1868; Derjelbe, 


Geid., I. 208—210; I. 528. Teihmann. 


— Niccola, & 7. X. 1811 zu Caſoria, wurde 1838 zum Richter und 
dann zum Profurator am Tribunal in Palermo ernannt, 1848 Richter, jodann 
ftellvertretender Generalprofurator an der Gran Corte Civile in Neapel, 1861 Vize— 
präfident einer der Kammern derſelben, jpäter Seftionspräfident des Appellhofes, 
daneben jeit 1858 Profefjor des Handelärechts, F 7. VII. 1877 in Vomero. 

Schriften: Dell’ uso e autoritä delle leggi del regno delle due Sicilie, ossia trattato 
di diritto civile e internazionale 1836, 2. ed. Palermo 1848, 3. ed. Napoli 1858, 1859 
(Trattato di diritto civile internazionale ossia dell’ uso e autoritä delle eggi considerate 
nelle relazioni con le persone e col territorio degli stranieri, Livorno 1859). — Quistioni 
di diritto amministrativo, Napoli 1860. — La filosofia del dir. ammin. e delle leggi che 
lo conservano, Napoli 1870. — La capacitä civile del religioso professo. — Come in- 
fluisca il vero e falso indirizzo delle scienze filosofiche sugli studii del diritto. — Sul 
sommo principio del dir. priv. internaz. — Sul commercio delle nazioni neutrali in tempo 
di guerra. — Un problema di dir. internaz. in riguardo al navilio. 

Zit.: Discorso — F Prof. Stefano Jannuzzi, Nap. 1877. — Fiore, Droit 
intern. prive, Paris 1875, 63 ss. — Calvo, Droit international, (3) 1880 I. 103, 
Asser, Schets, Haarlem 1 14 (beutich von M. Cohn, Berl. 1880 ©. 10), — Wie: 
rtantoni, Geihichte ber — le — Wien 1872, S. Side i 

eihmann. 


Höder, Karl David Auguft, 5 23. VI. 1806 zu Darmſtadt, jtudirte in 
Göttingen und Heidelberg, 1830 Dozent in Gießen, ging wegen Verbotes weiterer 
philoſophiſcher Vorlefungen nach Heidelberg, wo er 1842 außerordentl. Prof. wurde, 
wirfte für Verbreitung der Kraufe’ichen Lehren und Berbeijerung des Gefängniß— 
weiens, 7 20. XII. 1879. 

v. Dolgendorff, Enc. II. Rechtölerifon II. 3. Aufl. 


7 


31 


482 Nodiere — Rohmer. 


Schriften: De usuris in futurum acceptis, Giss, 1830. — Abhanbl. über praktiſche 
ragen es Civilrechts, Gießen 1833. — Grundzüge der Politik des Rechts, Darmſt. 1837. — 
rit. Beitt. 3. Gejeßgebung über die —— — che rg Lach Darmft. 1837. — 
Comm. de quaestione an poena malum esse debeat, G 839, ſpaniſch in Escuela del 
Derecho, 1864. — Grundzüge de? re —— * —— — ie, Heidelb. 1846, (2) 
Leipz. 18601863, fpaniih von Giner, Mabrid — Zur echtebegründung der 
en öftrafe, Heideib. 1846. — Grunbl. zur — —— — bag 1848. — 
Grundgedanken und Bedeutung be Röm. u. — — Leipz. 1855. — Die Verbeſſerung 
bes Gefängnißweſens — der — Pra — Verſuche der Berichtigung von 
Ulpiani fragmenta, rt Strafvo * im Geiſte des Rechts, Leipz. 18 
Beſſerungsſtrafe und — — als Rechtöforderung, Leipz. 1864. — Die herricpenben 
Grundlehren von Verbrechen und Strafe in ıhren inneren iderfprüchen, Mieab. 1867, 
ſpaniſch von Giner, Madrid 1871 und 1877. — Ueber die Gebrechen ber Deutichen god 
fchulen und ihre Heilung, 1867, ſpaniſch 1870. — Die Kriegsknechtſchaft unferer Zeit und die 
MWehrverfaffung " Su nft (in Gotta'& Deutſcher V. JEScrift 1868). — Die neue Zeit, 


Prag 1870, Heft 1 21—96, Heft 3 ©. 40-89, 116—128 (Die ei oe der WERT 
ur wahren reiheit ya m Herrſchaft des Rechies, Prag 1870). — Bemer Entwurf 
de Straf®B. für den Norddeutſchen Bunb (Beilage zur Kit. V.J. Schr. ET XIL), — 


Kraufe's Syfiem der — 8 * 1873. — Estudios sobre derecho penal y 
sistemas penitenciarios, Madri aup's Grundriß zu einem Syſteme ber Natur, 
Wiesb. 1877. — Diele —* —— — — Rirv. di discipline carcerarie X. (1880) 
231—303 (ipaniih in Revista General tomo LVII. 365—388. — Rivista penale, Il. 
273—286, VII. 113—128. 

2it.: Giner in Revista General, Febrero 1880, p. 129—153. — Augeb. zu Ztg 
1879, ©. 5272. — Almanaque para 1879, Madrid 1878, Pp. 109-111. B. Gabba, La 


scuola di Röder ed il sistema dell’ isolamento carcerario, Milano 1868. — (Carrara e 
Riv. — V. 148-163; Buccellati IX. 273—293. — v. Holtzendorff, Handbud, I 
©. 264. Teihmann. 


Rodiere, Aime, 5 16. V. 1810 zu Alby, ftudirte in Toulouſe und Paris, 
wurde 1838 Profeflor in Toulouſe, einer der Gründer der Académie de legislation. 
der Revue de legislation et de jurisprudence, 7 2. XI. 1874. 

Schriften: Traité sommaire des diverses parties au droit frangais, 1833. — Traite 
de competence et de procedure civile, 1840, (5) 1878. — El&ments de proc&dure criminelle, 
1845. — Mit Pont: Traite du mariage, 1847, 2. &d. 1869. — De la solidarite et de 
Vindivisibilite, 1852. — Les ds jurisconsultes, 1873. — Recueil de l’Acad. de legisl. 
de Toulouse I, II, IV, V, VI, IX, XI, XII, XIV, XV XVII, XIX, XX, XXIII 

git.: Bressolles in Academie de legislation de Toulouse XXIII. 47 ⸗556. — 
Ueber jeinen Vater, avocat-avoud (1771—1347) vgl. Jean-Pierre-Paul Rodiere, Etude 
biographique par A. Combes, Castres 1867. Teihmann. 


Noffredus Epiphanii, & zu Benevent, Iehrte zu Bologna, von 1215 an 
in Arezzo, in kaiſerlichen und päpftlichen Dienften, F bald nad) 1243 zu Benevent 


Gr jhrieb: Gloffen. — De libellis et ordine judic. — Libelli de jure canon., Aven. 
1500, Argent. 1502. — * positionibus (Traet. univ. jur., Venet. IV. f. 2). — Quaestiones 
Sabbathinae, — De p 

Lit.: Sapigny, 14 217. — Schulte, Geichichte, II. 75—78. — Bethmann: 

ollweg, Eiv.roz., v1. 26, 35—48, 200. — v. Stinking, Geſchichte der pop. Xit. dei 


m.stan. Nechts, Zip. 1867, ©. 360-404. Zeihmann. 
Nogeriuß, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, aus Modena. 
Gr ſchrieb: Gloſſen. — Summa zum Codex. — De praescript., Mog. 1530, Venet. 


1584 (Tract. univ. jur.). — De dissensionibus dominorum 1530 (ed. Haaboid. Lips. 
1821). — Eigle R, 


Lit.: Savigny, IV. 194— 224. — v. Stinking, Geidhichte d. pop. Lit, S. 202, WM. 
Ze ihmann. 
NRogron, Jojeph-Adrien, & 30. V. 1793 zu Frontaine-la-Guyon, con- 
serv. de la bibliotheque de la cour de Cassation, T 16. X. 1871. 
Bekannt durch Ausgaben der Codes, (5) 1863. — Tous les codes — frangais. 


1865. — Le plebiscite du 8 mai 1870. — Oeuvres complötes de Pothier, 1825. 
Lit.: Gazette des Tribunaux du 1 nov. 1871. Zeihmann. 


Nohmer, Friedrich, 5 21. II. 1814 zu Weiſſenburg (Franken), ftudirte 
in München, ging 1841 nach der Schweiz, wo er mit Bluntjchli eine liberafl-konier: 
vative Partei gründete, 1842 wieder in München, 7 11. VI. 1856. In jeinen 


Rolandinus — Römer. 483 


Arbeiten weientlich unterftüßt durch feinen jüngeren Bruder Theodor (7 12. XL. 
1356). 
Schriften: Anfang und Ende der Spekulation, Mündyen 1835. — Deutſchlands Beruf 
in ber — und Zukunft, Zürich 1844. — Lehre von den politiſchen Parteien, Zürich 
(Rördl.) 1844. — Meinungsäußerungen gegen ben Ultramontanigmus; Denfihrift über den 
Einfluß der ultram. Parter in Bayern 1846, v. Widemann, Stuttg. 1847. — Deutſchlands 
alte und neue Büreaufratie, 1848. — (Theodor R.) Kritik des Gottesbegriffes in den gegen: 
wärtigen Weltanfichten, Nördl. 1856. 

git.: Bluntſchli im StaatsaWört.B. VII. 643—651; Derielbe, Charakter und Geift 


der polit. Parteien, Nördl. 1869, S. 82—99. — Secretan, Galerie, II. 242. 
Teichmann. 


Rolandinus Paſſagerii, 5 Anfang des 13. Jahrhunderts, wurde 1234 


Notar in Bologna, T 1300, 

Schriften: Summa artis notariae, — Tractatus de notulis, — Aurora. — De officio 
tabellionatus in villis et castris, Taur. 1478, Spir. 1590; Deutſch Ingolſt. 1549. — Flos 
ultimarum voluntatum, Brix. 1475, Lugd. 1550. 

git.: v. Stin tzing, Geſchichte d. pop. Lit. des Röm.-fan. Rechts in Deutichland, sein: 
1867, ©. 296, 300. — Savigny, V.539—548. — Betimannspolliveg, Giv.Prz., VI. 
175 ff., 199. — Endemann, Studien, IL 84. — Kuntze, Inhaberpapiere, 137. — Dtt, 
Beiträge, 9. Teichmann. 


MRomaguoſi, Giov. Dom., 5 1761 zu Salſo (Parma), entzog ſich dem 
Getriebe der Parteien, ging nach Trient, wo er als Advofat lebte, 1802 Profjeſſor 
in Padua, entwarf ein Gejekbuch für das peinliche Verfahren, Nechtslehrer zu Pavia, 
Generalinjpeftor der Rechtsjchulen, Redakteur einer Zeitichrift für Nechtswifjenfchait, 
verlor jeine Stelle, wurde nach Venedig abgeführt, doch bald entlaffen, Profeffor in 


Gorfu, 7 8. VI. 1835. 

Schriften: Genesi del diritto penale, Pavia 1791, 7. ed. Mil. 1839, 1852; deutſch von 
Zuden, Jena 1833. — Sull’ amor delle donne consid. come motore precipuo della legisl. 
Trent. 1792. — Che cosa & libertä? 1792. — Introd. allo studio del dir. pubbl. unir., 
Parm. 1805. — Giorn. di giurisp., Mil. 1811—14. — Della constit. di una monarchia naz, 
rappres., 1815. — Della condotta delle — Mil. 1822—24; deutſch von Niebuhr, Halle 
1840. — Della ragione civ. delle acque, Mil. 1829. — Dell’ indole e dei fattori dell’ in- 
eivilimento, Mil. 1829—32. — Projetto del cod. di proc. penale, Fir. 1835; 4. ed. Prato 
1838. — Consult. forensi, Mil. 1836, 1837. — Istituzioni di filosof, civ., 1839. — Scienza 
delle costituzioni, 1848. — Op. complete racc. dal de Giorgi, Padova 1839; Mil. 
1541—1847; Nap. Pal. 1861. 

£it.: Cantu, Vita di R, Mil. 1835. — Rosso, R. difeso, Fir. 1838. — Biogr. 
nouv. gen., Par. 1863, Vol. 42. — Luden in ber Genefi3. — R. de droit international 
1870, p. 94, 95. — Nypels, Bibliothöque, 30, 31. — Mohl, 1. 226, 167, 302; 11. 248; 
III. 656. — Cantü, Italiani illustri, Milano 1873, 1. 517—598. — Sclopis, III. 13, 163, 
254. — Brusa, Appunti, Torino 1880 p. 212. Zeihmann. 


Römer, Robert, 5 1. V. 1823 zu Stuttgart, Sohn des Wiürttembergifchen 
Staatsmannes Friedrich v. Römer (1794— 1864), ftudirte in Tübingen und Heidel- 
berg, wurde 1846 Advokat in Stuttgart, Habilitirte ji) 1852 in Tübingen, 1856 
außerordentl. Profeſſor, 1857 ordentl. Profeffor, politiich auf die Seite Preußens 
fich ftellend, die nationalliberale Partei Württembergs mitbegründend und leitend, 
1864—67 in der Ständeverfammlung, 1871—76 Mitglied des Neichätages, im 
$ahre 1871 zum Rath am ROHG. zu Leipzig ernannt, T 28. X. 1879 zu 
Frankfurt. 

Schriften: Die Beweislaſt hinſichtlich des Irrthums nach Gem. Civilrecht u. Prozeß, 
Stuttg. 1852. — Das GErlöfchen des klägeriſchen Rechts nad) der Einleitung des Prozeſſes in 
jeinem Verhältniß zum Enburtheil, ie \ 1852. — Die bedingte Novation nad) dem Röm. 
und heutigen Gem. Recht, Tüb. 1863. — Die Leiſtung an Zahlungsftatt nad dem Röm. und 
Gem. Recht mit Berüdfichtigung der neueren Geſetzbücher, Tüb. 1866. — Die — re 
Nordbeutichen Bundes und die Süddeutſche, insbeſ. die Württemb. Freiheit, 1.— 8. Aufl. Tüb. 
1367. — Grundzüge des Württemb. Erbrecht, Tüb. 1872. — Das Württemb. Unterpfanda- 
recht, Zeipz. 1376 (Deutiches Hypothekenrecht, Bd. VI). — Abhandl. aus dem Röm. Recht, 
dem — und Wechſelrecht, Stuttg. 1877. — Mit Meibom, Feſtſchrift zur vierten 
Sätularfeier der Univ. Tübingen (S. 5—73), 1877. 

31* 


484 . Roſenvinge — Roßhirt. 


Lit.: Im Neuen Reich, 1879, ©. 684. — Klüpfel, Geſchichte der Deutſchen Einheit 
beſtrebungen, Bd. IL, Berl. 1873, ©. 37; Derſelbe, Die Univ. Tübingen, Leipz. 1877, 
S. 105, 107, 139. Zeihmann. 


Nofenvinge, Janus Lavrits Andreas Kolderup, 5 10. V. 1792 in 
Kopenhagen, 1809 Student, 1814 Notarius der juriftifchen Fakultät an der Uni— 
verfität zu Kopenhagen, 1818 Profeſſor juris extraordinarius, 1822 ertraordinär 
Aſſeſſor des Höchiten Gerichts, 1824 Mitglied der Akademie der Wiflenichaften in 
Kopenhagen, 1830 Profeffor juris ordinarius, F 4. VIII. 1850 in Nantes. 

Schriften: De usu juramenti in litibus probandis et decidendis juxta leges Danise 
antiquas, Sectio Ima Havniae 1815 (überjegt ind Dänifche von dem Verfaſſer mit Emenbationen 
unb Berbefferungen in Oersted’s Nyt jur. Archiv XIV. 1816); Sectio 2me, ibid. 1817 
(überjeßt ind Dänifche von J. C. Kall, 1. c. XXI u. XXIL). — Bemarkninger om de 
amle danske Leves Bestemmelser om Vindicationsretten, Kbh. 1819. — Grundrids af den 
anske Lovhistorie 1—2, Kbh. 1822—1823 (ind Deutiche überfeft von C. ©. pet 
Berl. 1825). — Grundrids af den danske Retshistorie, 2. aldeles omarb. üdg. I—2, Kbh. 
1832, 3. Oplag Kbh. 1860. — Samling af gamle danske Love, udg. med. Indledn. og 
Anm. og tildels and Oversaett. 1—5, Kbh. 1324—1846 (unvollendet). — Grundrids af den 
danske Kirkeret 1—2, Kbh. 1838—1840; 2. udg. Kbh. 1851. — Udvalg of gamle danske 
Domme o pä Kongens Retterteng og pa Landsting 1—4, Kbh. 1842—48. — Bon 
feinen Abhandlungen find zu nennen: In „Juridisk Tidsskrift“: Om den säkaldte Hals og 
Händsret efter den wldre Lovgivning, 17. B.; Bemserkninger om Blodhsvnen hos de gamle 
Scandinaver 20. Bd., om Pant i sldre Tider 25. B. — An „Nye danske Magazin“: Om 
Rettergangsmäden ved de geistlige Retter af Bishop Knud, meddelt efter Haandskrift, 6. B., 
beionderer Abdrud. — In „Danske Magazin“ 3. Reek.: Danmarks Rigens Ret, en Samling 
af gamle Retsretninger, 1. Bd., beiond. Abdrud 1842. — In „Kirkehist. ——— Om 
den canoniske Rets Anvendelse i „Danmark“, 1. B. — In „Det kgl. danske Videnskab. 
Selsk. philos.-hist. Afhandl.“: Om det kenmelige Skriftemäls Anvendelse Norden mermest. 
med Hensyn til Bestemmelse herom i den Skänske og Sjsllsendske Kirkeret, 7. B., bei. 
Abdrudf Kbh. 1841. — In „Skriftes 5. Reek. hist.-philos. Afdel.“: Om Rigens Ret og Dele 
1. B., bei. Abdrud Kbh. 1847. DB. U Secher. 


NRoffi, Pellegrino Graf, 5 13. VII. 1787 zu Garrara, wurde Advofat in 
Bologna, 1812 Prof. des Strafrechts, ging nach England, 1816 nach Genf, wo er 
1819 Profeflor an der Akademie wurde, 1820 Mitglied des Großen Raths, fpäter 
der Tagjagung, von der er nad) ‘Paris gejandt wurde; 1833 nad Frankreich über: 
gefiedelt, erhielt er 1834 die Prof. d. polit. Defon. am College de France, die 
Prof. des fonjtit. Rechts an der Parifer Rechtsichule; wurde 1839 Pair, legte feine 
Prof. nieder, trat 1840 in den Staatsrath, ging 1845 als Gefandter nach Rom, 
wurde Minifter Pius’ IX., wollte die Deputirtenfammer eröffnen, ala er auf der 
Freitreppe des Palajtes der Gancellaria erdolcht wurde (15. XI. 1848). 

Schriften: Traité de droit penal, Par. 1829; 4. ed. p. F. Helie, Par. 1872; Leiden 
1878; italienifh von Pessina, Nap. 1853 u. 1870. — Cours d’&con. polit., Par. 18&39— 
1841, 1865. — Pref. à l’essai sur le principe de population de Malthus, 1845. — Notes 
aux O. de Ricardo, 1847. — Mel. d’&con. polit., d’hist. et de philos., 1857. — Cours de 
droit constitutionnel, Par. 1866, (2) 1877. — Annales de legislation, 1820—1823. 

git.: Rapport de M. Odilon-Barrot à l’Acad&mie sur le droit p@nal de M. Rossi, 
1856. — Nypels, Bibliothöque, p. 76. — Garnier, Not. sur la vie et les travaux de RR, 
Par. 1849. — Mignet, Not, hist. lue à l’Academie 1849 (Portraits et Notices [4] 1877 
I. 181—224). — Saladin, R. en Suisse de 1816—1833, Par. 1849. — Civiltä Cattolica 
1850. — Reudlin, Geſchichte Italiens, II. (1860) 16, 42, 43. — Pierantoni, Storis 
degli studi del diritto internazionale in Italia, Modena 1869, p. 70, 92; Derielbe, 
P. Rossi, elogio accademico, as 1872.— Baudrillart, Publicistes modernes, 1862. — 
Heel, Die Todesſtrafe, Berl. 1870, ©. 242, 243. — Pessina, Opuscoli, Napoli 1874, 
B; 7. — Brusa, Appunti, Torino 1880, p. 212. — Rivista penale di Lucchini VI 
261— 271. Teich mann. 


Roßhirt, Konrad Eugen Franz, & 26. VIII. 1793 zu Oberſcheinfeld 
bei Bamberg, ftudirte in Landshut, Erlangen und Göttingen, eine Zeit lang im 
Gerichts» und Verwaltungsdienite thätig, wurde 1817 Prof. in Erlangen, 1818 in 
Öeidelberg, wo er bis 1870 lehrte, T 4. VI. 1873. Berdient um Straf-, Givil- 
und Kirchenrecht. 


Nöhler — Notted. 485 


Schri Ueber die Tendenz des prät. Rechts und über die Verhältniſſe deſſelben — m 
—— el. 1812. — Ueber den B ei und bie eigentliche Beitimmung der Staatäpo 
Bamb, 1817. — De legitima cond. indeb. fundament6, Erl. 1818. — Peitr. zum Römifchen 
Recht, Heidelberg 1820, 1824. — . des Kriminalvechts, Heibelb. 1822. — Entwurf 
der Grunbfäße des Strafrecht3, Heidelb. 1828. — Einleitung in das Erbrecht und Darftellung 
de3 ganzen Inteſtaterbrechts, Landsh. 1831. — Lehre von ben erg wen Heibelb. 
1835. — Zwei frim. AbHandlungen, Heibelb. 1836. — — und Syſtem des Deutſchen 
Strafrechts, Stuttg. 1838, 1839. — Ueber das Syſtem der Verträge, 1839. — Das teſtament. 
Erbrecht bei den Ömern, Heibelb. 1840. — Das Gemeine Deutfche Eivilrecht, Heidelb. 1840, 
1841. — Darftellung des —— und Bad. ——— ts, Heidelb. 1842. — Ueber den Ent« 
wurf ber et und ber StrafPD. aden, Heibelb. 1844. — Geichichte des 
— im Mittelalter, Mainz 1846. — Grundri be en und Bab. Civilrechts, Heidelb. 
1851. — Dogmengeichichte be3 Givilrechts, Heibelb. 1 — Kanon. Recht, Schaffh. 1857. — 
Kirchenrecht, 3. Aufl, Schaffh. 1858, 4. Aufl. Heibelb. "1869. — Das ſtaatsrechtliche Der: 
hältniß zur tatholilchen Kirche in Deutichland, —** 1859. — Programm de studiis jur. 
eiv. et can. in Germ. universit. medii aevi, "Heibel 1861. — Manuale latinitatis jur. can., 
Schaffh. 1862. -— Aeußere Gnchfl. des rhehts, Heibelb. 1865—1867. — Beitr. zum 
Studium des Rechts im 19. Jahrh., Heibelb. 1865. — Beitr. zum Gemeinen Deutichen 
Eiv.Prz., Heibelb. 1868. — Er war Mitarbeiter reſp. —— der Zeitſchrift für Civil: 
und rer 1833—1848, des Archivs bed Kriminalrechts u. 


: v. Weech, Bab. Biogt II. 196—198. — Säulte, Geidichte, III.a ©. 350—353, 
Zeihmann. 


Rößler, Emil Franz, & 1814 zu Brür in Böhmen, doktorirte 1842 in 
Prag, ging als Privatdozent 1846 nach Wien, wegen feiner politischen Anfchauungen 
zurückgeſetzt, überfiedelte nach Göttingen, dann, als alle Hoffnungen gefcheitert, 
zweiter Bibliothefar in Erlangen, 1862 Borjtand der Hofbibliothef in Sigmaringen, 
am 6. XII. 1863 an einer einfamen Gtelle vor der Stadt mit mehreren Stich: 


wunden aufgetunden. 
Schriften: Ueber dad Ausgedinge — Een Prag 1842. — Deutiche Re — 


denkmäler aus Böhmen und Mähren, 1845 und 1852. — Ueber die Bedeutung und 
handlung der Geſchichte des Rechts in D erreich, Drag 1847. — Die Gründung ber Uni: 
berfität Löttin en, 1855. 


Lit.: Wa Iberg’ 3 Netrolog (Gefammelte fleinere Schriften u. —— on Straf: 


recht u. i. w., Wien 1875, I. 216—219). — Beitichrift für Rechtsgeichichte 
Teihmann. 


Motte, Karl Wenzel Rodeder von, & 18. VII. 1775 zu Freie 
burg i. B., wurde 1798 Profeffor der Geichichte, machte große Reifen, 1818 Pro— 
feſſor der Staatäwiflenichaften, wurde 1832 in den Ruheſtand verjeßt, nachdem er 
Jahre lang als einer der gewandteiten und freifinnigiten Redner für politifche Re— 


a — hatte; T, vielfach verfolgt, 26. XI. 1840. 
chriften; Ueber ftehende Heere und — 1816. — Allgem. Geſchichte 
1812 1827, fortgej. von Hermes und Steger, 25 866, 1867. (Auszug einer All: 
emeinen Meltgeichichte, 8. Aufl. von Zimmermann, 1869—1871.) — been über Landſtände, 
Isı9 9, franz. von Gonftant,, 1820. — Lehrbud des Bing big und der Staatäwifien: 
— Stuttg. Re 1830; 2. Aufl. 1840. — er fleiner — Stuttgart 1829, 
0, 2) 1847. — Lehrbuch) ber —— olitit, Stuttg. — Die Kdlniſche 
2. betrachtet vom Standpunkt des allgemeinen cchis (2) — 1899. — Er gab mit 
BWelder das Staatäleriton, Alt. 1834—1844 Heraus (3. Aufl. ——— — Biss 


und nachgelaffene Schriften (von erm. vd. Rotted), Pforzh. 1843 
HI; Son K. v. R. Dis. — F. En R.s Shrentempel, 1841. — R. und 


Welder, Staatäleriton, 2 1.2 Zeitgenoffen, dritte Reihe, 2. Bd., Leipz. 1830. — 


2 v. R. Dad Leben K. v. R.'s, — 1848. — v. Weech, "Bad. Bio 0 1 8 
11 ff. — Schulte, Geichichte, III. a — Friß, Gedächtnifgrebe, Freib. 1842. — 
Bibliothek politifcher Reden, er. 1845, L 273—302. — Bluntihli, Gedichte des Alle. 
——— und der vonit, München 1864, 523—534; Derielbe, StaatsWört. B. VIII. 
738 — 744. — Mohl, II. 560- 577, 


Sein Sohn Hermann, & 25. VII. 1815, 7 12. VII. 1845 zu Freiburg 
als Privatdozent der Philojophie. 


Er ſchrieb; Ueber Konkurrenz der Verbrechen, —— 1840. — er Recht der Ein: 


mifchung in die inneren Angelegenheiten eines fremden taat3, Freib. 1 
—— 


486 Rouffean — Rübenzuderiteuer. 


Konfjenu, Jean Jacques, & 28. VI. 1712 zu Genf, 1728—30 in Turin, 
dann in Annecy, 1731—833 in Laufanne und Neufchätel Mufiklegrer, 1736 Kataſter⸗ 
jefretär, lebte auf Yes Charmettes der Frau von Warens, 1740 Hauslehrer in Lyon, 
erfand ein Syitem der Notenichrift, ging 1754 nach Gent, trat zur reformirten 
Kirche zurüd, Bürger von Genf, lebte auf dem Lande bei Paris, dann im Kanten 
Neufchätel, 1765 in Straßburg, dann in England, 1770 in Paris, 1778 in 
Grmenonville bei Marquis de Girardin, T am 3. VII. 1778 (eines freiwilligen 
Todes?). Am 11. X. 1794 ins Pantheon aufgenommen. 

Schriften jur. Inhalts: Discours sur l’origine et les fondements de l’inegalit€ parmi 
les hommes, Par. 1753. — Contrat social ou prineipes du droit publique, Par. 1762. 
Deutih in Roufſeau's ſämmtlichen Werten von Ellifien, 8. Große u. M., ein. 
1854 ff. und von v. Raft, Berl. 1873.) — Lettres öcrites de la montagne, Amsterd. 
1764. — Discours sur ’&conomie politique (Encyclop£edie) (Oeuvres Vol. I. p. 245—320). — 
Lettres sur la legislation des Corses unb Consideration sur le gouvernement de Pologne, 


Par. 1772. — ÖOeuvres, éä. de Musset-Pathay, Par. 1823—1827. — Oeuvres et 
Correspondance inedites par Moulton, Par. 1861. 
git.: Musset-Pathay, Histoire de la vie et des ou de J. J. R., Par. 1821. - 


Kojegarten, Rouſſeau gegen Hobbes oder über dad Dogma der Souveränetät des Volles, 
zn 1832. — Broderhoff, 3. $ R., fein Leben und feine Werke, Leipz. 1863—1874; 

erjelbe im Neuen Plutardh Br. ., Leipz. 1877. — Sthlofjer, Geichichte des 18. und 
19. Jahrh., 5. Aufl. Heidelb. 1864; Bb. II. 437—457. — Bluntichli, Geichichte des Alle. 
Staatsrechts und ber Politif, Münd. 1864, ©. 292—320. — Moreau, R. et lesi 
—— 1870. — Saint Marc Girardin, R. sa vie et ses ouvrages, 1875. — Morley, 

„„ London 1873. — Desnoiresterres, Voltaire et la societe francaise, t. II 1874. — 
R. von Prof. Dr. Th. Bogt und Dr. v. Sallwürk, Bangenfalga 1876—78. — Rotten- 
burg, Vom Begriff des Staates, Leipz. 1878. — Noäl, Voltaire. ..., Paris 1878. — 
Ritter, La famille de R., Genöve 1878. — Meylan, R. sa vie et ses oeuvres, Berne 
1878 (auch) beutih). — Vuy, De l’origine des idees — de R., Genève 1878. — 
Dieterih, Kant und R., Tüb. 1878. — Schwarz, R.3 Entwidelung zum pädagogiicden 
Scriftfteller, Bajel 1879. — Jean Jacques Rousseau juge par les Genevois d’aujourd’hui, 
Genève Paris 1879 [Revue de droit international X. 470]. — Janet, II. 569 ss. — Les 
Centenaires de Voltaire et R., apergu bibliogr. par Mohr in H. 3 Bibliographie 
der Schweiz, 1379 Nr. 1, 2, 5 u. 1880 Nr. 3. eihmann. 


Nübenzuderftener iſt eine, auf die Fabrikation des, aus der Runkelrübe 
(beta cicla) gewonnenen Zuders gelegte indirefte Steuer, welche nach jehr veriche- 
denen Maßſtäben und Methoden erhoben wird. 

Die einfachlte Methode ift die mit 1. September 1841 im Deutichen Zoll: 
vereine eingeführte, wonach die zur Zuderfabrifation verwendeten Rüben, bevor 
fie auf die Zerfleinerungsapparate gelangen, amtlich verwogen und ſodann ver: 
fteuert werden. Die Steuer beträgt zur Zeit, nach dem Vereinsgeſetze vom 26. Jumt 
1869 80 Pf. für den Gentner frifcher, roher und 4 Mark 40 Pf. für einen Gentner 
getrodneter Rüben. 

In Defterreich wird nach dem Gejeße vom 18. Oft. 1865 die Steuer mit 
73 kr. Defterr. W. vom Doppelcentner frischer und 3 fl. 65 fr. Defterr. W. vom Doppel- 
centner getrodneter Rüben erhoben, bei Bemeffung der Steuerfchuldigkeit (Pauſchale) 
find jedoch befondere Maßſtäbe ins Auge zu faflen. Es find hierbei maßgebend die 
Leiftungsfähigkeit der Werfsvorrichtungen und die Zeitdauer bei deren Verwendung, 
ferner die Methoden der NRübenjaitgewinnung, wobei eine genaue Fabrikkontrole 
nebenhergeht. 

In Rußland beitand im Jahre 1848 eine Steuer von 60 Kopefen auf den 
Pud NRübenzuder, welche ähnlich, wie in Dejterreich nach der Yeiltungstähigfeit der 
Fabrifeinrichtungen bemeſſen wurde, indem unter amtlicher Aufficht und nach drei» 
tägigem Durchichnitt Feitgeitellt werden mußte, wie viel Berfoweß gewajchener und 
geköpfter Rüben die Majchinen verarbeiten fönnen. Außerdem it das Yand nad 
der Zuderausbeute der Rüben in 3 Zonen eingetheilt. Zur Zeit beträgt die Steuer 
nach dem Gejege vom 10. Juli 1867 70 Kopeken für das Pud Zuder. 


Rübenzuderiteuer, 487 


In Frankreich beiteht feine beiondere Rübenzuderjteuer, da dort aller Zuder 
einer Verbrauchäfteuer unterworfen it, die folgendermaßen nach dem Gelee vom 
11. August 1875 und fonftigen Vorſchriften normirt it: Für 100 Kilogramm 
Rohzuder jeden Urfprungs unter Nr. 13. der Skala der Parifer Mufter-Typen wer- 
den erhoben 65,52 Fres. Bon Type 13—20, 68,24 Fres., für weißes Zudermehl 
70,20 Fres., für den in den Rübenzuderfabrifen und in den Franzöſiſchen Kolonien 
raffinirten Zuder 73,32 Fres., für den aus erichöpfter Melaffe durch Baryt und 
andere Prozeduren gewonnenen Zuder 26 Fred. Für die zur Deitillation nicht 
beitimmte Melaſſe mit 50 %, Zudergehalt 19,34 Fred. und für Traubenzuder 
11,44 Fre. 

In Belgien wurde durch Gefeg vom 4. April 1843 eine Rübenzuckerſteuer 
eingeführt, welche nach der, auf Grund von Rübenjaitproben ermittelten, Robzuder- 
ausbeute berechnet wurde. Zur Zeit gelten die Beitimmungen des Geſetzes dom 
26. Mai 1856, durch welche das Verfahren nach dem erfterwähnten Gejege wenig 
geändert wurde. Die Belgiichen Fabriken werden biernach im fogenannten Abonnement 
beiteuert. Es wird die nach dem Ergebniß der denfimetrifchen Meſſung berechnete Quan— 
tität Zuder gebucht und dem Fabrikanten zur Laſt geichrieben. Die Steuer beträgt jeit 
1. Juli 1857 für 100 Kilogramm 39 Fres., für Handis 61,50 Fres., für Melis 
oder weiße Lumpen 55,50 Fres. und 12,50 Free. für Syrupe von Raffinaden (für 
Erport zur See). 

In Holland, wo die Zuderbeiteuerung jeit 1819 eingeführt worden war, 
beitand bis 1863 eine Steuer für raffinirten Zuder von 35 Gulden und für uns 
raffinirten von 22 Gulden für 100 Kilogramm, ohne Unterfchied wo derjelbe pro= 
duzirt worden war und welcher Qualität er angehörte. Seit dem Nahre 1864 
murde zufolge des Eintritts Gollands in die internationale Zuderfonvention ein 
doppelter Stenermodus eingeführt, deffen Wahl im Belieben des Fabrifanten Liegt. 
Die eine Beiteuerungsart beiteht in der fortwährenden jteueramtlichen Betriebsaufficht 
der Fabriken und der Belteuerung des während deilen gewonnenen Produktes. Die 
andere, in der Regel zur Anwendung kommende, Beiteuerungsart ift ähnlich wie in 
Belgien das jogenannte Abonnement-Syitem. Hiernach wird die Steuerleitung nach 
dem amtlichen Befunde einer auf 15° 0. erwärmten Saftprobe in der Weile vor- 
geichrieben, daß für jeden Grad der Dichtigfeit und jeden Hektoliter eine Rohzucker— 
Ausbeute von 1635 Gramm angenommen wird. Diejes von der Steuerbehörde 
angenommene Quantum unterliegt jodann dem nämlichen Steuerfaße, welchen aus— 
ländifcher Rüben» und Rohzucker bei der Einfuhr unterworfen it. Durch das Ge— 
jeg vom 2. Juli 1865 wurden 100 Pfund trodener, weißer Brotzuder mit 27 Gul— 
den Steuer belegt. Anderer Zuder wird aber nach Gattung und Güte folgender: 
maßen beiteuert: Raffinirter und diefem gleichgeitellter a) Melis-, Lumpen-, Puderz, 
Körner-Zuder über Java Nr. 20 im Rendement-Verhältniß 1,00 mit 27 Gulden. 
b) Kandis im Verhältniß 1,07 mit 28,380 Gulden. Nach dem Gele vom 14. März 
1867 aber beträgt die Steuer von Rohzucker pro 100 Pfund I. Klaſſe 25,38 Gul— 
den, II. Klaſſe 23,76 Gulden, III. Klaſſe 21,60 Gulden, IV. Klaſſe 18,09 Gul— 
den. Mehr ala I. Klaſſe zahlt 25,92 Gulden Steuer. Baftardzuder zahlt nad) 
derjelben Klaſſe wie Rohzucker; Melado- und Traubenzuder aber im Verhältniß von 
0,67 für 100 Pfund 18,09 Gulden. 

An Italien it die Beiteuerung des Rübenzuders durch ein Defvet vom 
2. Juni 1877 eingeführt, wonach für 100 Kilogramm rohen oder raffinirten Zuder 
21 Lire 15 Gentes Steuer erhoben werden, wenn derielbe in den einheimijchen 
Zuderfabriten oder inländischen Raffinereien zum Verbrauche in italien erzeugt 

worden iſt. Die Fabriken ftehen wegen Feſtſtellung der Produktion unter fort 
währender jteueramtlicher Ueberwachung. 

An Dänemark wird für jedes Pfund Zucker, der im Inland fabrizirt wurde, 
nach zwei Abjtufungen die Steuer erhoben, und zwar wenn derjelbe dunkler ift ala 


488 NRüdbürge. 


Nr. 19 der Holländiichen Standard unter Abzug von 8 %, für 50 Kilogramm 
9 Mark 80 Pi. und für Zuder, welcher dem Holl. Stand. Ar. 19 entipricht oder 
heller ijt, jowie für Kandis und Brotzuder 11 Dart 20 Pr. 

In Schweden ijt durch ein Gejeg- von 1869 die Belteuerung des Rüben: 
zuders, bei der Vorausjegung, daß 1 Gentner roher Rüben 6,25 Pfund Robzuder 
ergeben, derartig normirt, daß die Steuer dem Theilbetrag des jeweiligen Eingangs- 
zolles gleichfommt und zwar 1879/82 °/, und da an *, des Bolles. 

Außer der Rübenzuderfteuer wird in allen diefen Ländern ein Eingangs: 
zoll für Zuder erhoben. In allen übrigen Staaten Europa’ und in den 
Nordamerifanischen Bereinigten Staaten bejteht feine NRübenzuderjteuer, jondern 
nur Gingangszölle. 

Diejenigen Staaten, welche eine Rübenzuderjteuer oder eine innere Abgabe vom 
Zuder, wie frankreich, erheben, zahlen bei der Ausfuhr oder Niederlegung in zoll: 
amtlichen Niederlagen eine nach der Höhe der Steuer bemeſſene Steuerver: 
gütung, welche in der Regel nach der Art und Qualität des Zuders bemefjen iſt. 

Welche Bedeutung der Nübenzuder ala Gegenitand der Beiteuerung hat, it 
allgemein anerkannt, nicht weniger aber auch die Schwierigkeit, eine ganz zuverläffige 
Methode der Beiteuerung ausfindig zu machen. Das Beſtreben durch internationale 
Berträge eine gleichmäßige Beiteuerungsart und eine Ausgleichung der durch die 
Ausfuhrvergütungen für die Staatskaſſen entitehenden Nachtheile herbeizuführen, bat 
noch zu feinem Rejultate geführt. Die zwijchen Frankreich, England, Belgien und 
Holland auf Veranlaffung des zwijchen den eritgenannten Staaten abgejchlofienen 
Handelövertrages im Jahre 1865 vereinbarte und mit 1. Auguft 1865 auf 10 
Sahre ins Leben getretene internationale Zuderfonvention war der erjte Verſuch, 
der jedoch deshalb mißlang, weil die Methode zur Feititellung des Rende— 
ments der Zuderjorten, welche von Franzöſiſchen und Engliſchen Agenten ın 
Köln in einer Mufterfabrif eingeführt worden war, nicht entſprach, weil außer 
dem durch die Einführung einer Klaffifitation mit zu weit auseinandergehenden 
Unterschieden nicht die richtige Qualität des YZuders ermittelt werden konnte 
und endlih, weil die Annahme der Farbennüance der Holländiſchen Typen 
zu großen Täufchungen Anlaß gab, indem die Fabritanten jehr bald die bei- 
jeren Sorten dunkel zu färben unternahmen, um hierfür nur die niedere Steuerquote 
zahlen zu dürfen. Am 11. Augujt 1875 wurde zwijchen den genannten Staaten 
eine neue Konvention auf 10 Jahre abgeichloffen, welche jedoch zur Zeit (Mitte 
1881) noch nicht ratifizirt und ins Leben getreten iſt. 

Bejonders durch zwei Grfindungen in der NRübenzuderfabrifation, von denen 
die eine das Dsmoje- Verfahren, die andere das von Scheibler erfunden: 
Elutions-Verfahren genannt wird, iſt eine Reform der Zuderbeiteuerung deshalb ver: 
anlaßt, weil die Fabrikation, je nachdem fie ohne oder mit einer diefer Methoden 
arbeitet, jehr ungleich und ungerecht bejteuert ericheint. 


Lit.: Hirth'3 Annalen 1873 und 1880. — v. Auffeh, Die Zölle und Steuern be 
Deutichen Reiche, 1880. — v. Kaufmann, Die Zuder-Induftrie in ihrer wirthichaftlichen und 
fteuerfistaliichen Bedeutung für die Staaten Europa's, Berlin 1878. v. Aufjep, 


Mückbürge it derjenige, welcher dem Bürgen für fein Rückforderungsrecht gegen 
den Hauptſchuldner Sicherheit leijtet (l. 4 pr. D. de fidej. 46, 1; $ 201 I. 14 
ALR.). Für einen R. ift daher Gläubiger und mit allen Rechten eines ſolchen verjeben 
der (erite oder Haupt) Bürge, Hauptichuldner aber eben derjelbe, welcher es in der 
Prinzipalobligation ift, nur nicht bezüglid) feiner Prinzipal-, jondern bezüglich jeiner 
Regreßichuld. Der R. hat wie die Pflichten, jo auch die Rechte eines Bürgen über: 
haupt (ji. d. Art. Bürgichaft und 88 380—384 I. 14 A.LR.), inäbejonder 
auch die NRechtswohlthat der VBorausflage und der Hlagenabtretung. Cine inter: 
eflante Anwendung der lehteren in den GEntich. des OApp.Ger. zu Rojtod, heraus: 


Rüdfall. 489 


gegeben von Budde u. Schmidt, Bd. VI. 1868 ©. 175 — 177. Ueber ben 
Wegiall diejes Rechts vgl. Striethorft, Ach. Bd. XCIV. ©. 160 ff. Ed. 


MRückfall. R. im weiteren Sinne ift Verübung eines Verbrechens von Seiten 
eined bereits einmal wegen eines Verbrechens rechtäfräftig Verurtheilten. In diefem 
Sinn jpricht man oft in der Verbrecheritatiftit von der Progentzahl der Rückfälligen; 
ipegiell in der Gefängnißitatiftit unter der Vorausſetzung einer bereits verbüßten 
Freiheitsſtrafe, ſo daß aljo ein rüdjälliger Sträfling derjenige ift, welcher bereits 
einmal in Strafhait war, rüdjälliger Zuchthausiträfling, der jchon einmal Zucht: 
hausjtrafe verbüßte ꝛc. — Dem R. im weiteren Sinne will in neuefter Zeit in 
Deutichland (anders in Frankreich, Belgien, Jtalien) faum Jemand (Friedlän— 
der?) jtrafichärfende Wirkung beilegen. Häufiger verlangt man, daß der R. im eigent- 
lihen Sinne zum Straffchärfungsgrund gemacht werde (jo namentlih v. Wächter, 
Berner, Hälſchner und Olshauſen; ſ. dagegen John, Hellweg, dv. Ste— 
mann, 9. Meyer, Shüße, Merkel, v. Schwarze, und jchon früher Bau— 
meifter, Köftlin, Mittermaier, Brauer, Geib u. U). Dabei ijt man 
nicht einig darüber, ob N. in diefem eigentlichen Sinne vorliegen foll, wenn die bei= 
den fraglichen Verbrechen gleihartig find oder blos dann, wenn beide unter den— 
jelben Verbrechenäbegriff jallen. Weiterhin herricht dann Streit darüber, welche 
Verbrechen gleichartig jeien. Man kann hierbei die Rüdficht auf die Gleichartigkeit 
der Motive („Triebfedern“) nicht außer Acht lafjen, verliert damit aber den fejten 
Boden unter den Füßen. Wie immer man aber den Begriff faßt, jo läßt fich doch 
nicht leugnen, daß Straffhärfung wegen R. im Allgemeinen weder gemeinrechtlich 
zu begründen, noch der Gerechtigkeit entjprechend ift. Die Wiederholung ijt vom 
R. nicht durch eine jolche Kluft geichieden, daß, während bei jener ſog. juriftiiche 
Kumulation am Plaß iſt (j. IH. I. ©. 739), beim R. dagegen noch über die ein- 
jache Addition Hinauszugehen wäre. Selbſt die Verbüßung einer fchweren Freiheits- 
ftrafe wirft nur zu oft jogar wie ein Milderungsgrund beim R. Moraliſches Sinken, 
Willensihwäche, Schwierigkeit ehrlichen Fortfommens find ihre Folgen und führen 
zum R. — Das Defterr. StrafGB. fieht im Allgemeinen im R. im eigentlichen 
Einne (‚wenn der Verbrecher jchon wegen eines gleichen Verbrechens geſtraft wor— 
den‘‘) blog einen Strajerhöhungsgrund, macht ihn dagegen beim Diebjtahl und bei 
jehr vielen Webertretungen zum Straffchärfungsgrund. — Das Deutſche StrafGB. 
fennt den R. nur ala bejonderen Straffchärfungsgrund bei Diebjtahl, Raub (umd 
dieſem gleich zu ftrafenden Verbrechen) und Sehlerei. Es nimmt dabei R. nur an, 
wenn die frühere Strafe verbüßt oder (was infonjequent it!) erlaffen wurde. Im 
Bejonderen ijt zu unterjcheiden: I. Diebitahl im wiederholten R. Wer im 
Inland ala Dieb, Räuber oder gleich einem Räuber (ſ. die $$ 252, 255) oder als 
Hehler bejtraft worden ift, darauf abermals eine diefer Handlungen begangen hat 
und wegen derjelben bejtraft worden ift, wird, wenn er einen einfachen Diebjtahl 
begeht, mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren (bei mildernden Umjtänden mit Gefäng- 
niß nicht unter 3 Monaten), wenn er einen jchweren Diebjtahl begeht, mit Zucht: 
haus nicht unter 2 Jahren (bei mildernden Umſtänden nicht unter 1 Jahr) be— 
ſtraft. Wichtigſte Streitfragen: 1) Was ift hier unter Inland zu veritehen? 
Richtig die Herrichende Anficht: Jedes Gebiet, welches jet zum Deutichen Reich 
gehört, wenn es auch zur Zeit der Vorbeitrafung für den Staat, in welchem 
jegt der R. bejtraft werden joll, Ausland war (anderer Meinung: Harburger). 
2) Muß die Vorbeitrafung eine gerichtliche jein? Nein; es genügt auch eine polizei= 
liche (jo namentlich der Württ. Kaſſationshoi, Oppenhoff, Merkel, Schüße, 
Olshauſen, Häljchner). 3) Die Frage, wer im Sinne des Geſetzes „als Dieb, 
Räuber ıc. bejtraft‘‘ gilt, ift dahin zu beantworten, daß hierfür die Begriffsbeftimmung, 
welche das Deutiche StrafGB. giebt, allein maßgebend fein fann (jo gegen die herrichende 
Praris und Doktrin mit Recht v. Stemann und Merkel). 4) Auch Vorbeitra- 


490 Rückaufshandel. 


fung wegen Verſuchs oder Theilnahme, und im wiederholten R. begangener bloßer 
Verſuch eines Diebſtahls ıc., nicht blos die Thäterichaft, begründet die Qualifikation 
(anderer Meinung: Schüße, dv. Stemann? vgl. Reichögerihtserf. dv. 3. Mai und 
23, Sept. 1880 [Rechtipr. L ©. 716 ff., I. ©. 243 ff.]). — Rückfallsſtrafe tritt nicht ein, 
wenn jeit der Verbüßung oder dem Erlaß der legten Strafe (der zwiichen der 
eriten und zweiten Strafe liegende Zeitraum ift gleichgültig) bis zur Begehung des 
neuen Diebitahls 10 Jahre verfloffen find (jog. Rüdiallaverjährung, val. 
Reichsgerichtserf. v. 4. März und 29. Mai 1880 [Rechtipr. L ©. 425 ff., 833 ff. ). — 
II. Der Raub ift durh R. qualifizirt (Strafe: Zuchthaus nicht unter 5 Jahren, 
bei mildernden Umſtänden Gefängniß nicht unter 1 Jahr), wenn der Räuber bereits 
einmal als Räuber oder gleich einem Räuber im Inland bejtraft worden it. Der 
Erlaß jteht natürlich auch Hier der Strafe gleih. Im MUebrigen gilt alles zu L 
Ausgeführte analog hier wie in den folgenden Fällen. — II. Diebſtahl ſowie 
Erprejiung mit Gewalt oder gefährlicher Drohung gegen eine Perſon (SS 252 
u. 255) find auch betreffs des R. dem Raube gleich zu behaudeln. — IV. Seh: 
lerei im zweiten R., ganz analog dem Diebjtahl im zweiten R. Strafe: Wenn 
die Hehlerei fich auf schweren Diebitahl, Raub oder ein dem Raub gleich zu be 
itrafendes Verbrechen bezieht, Zuchthaus nicht unter 2 Jahren, bei mildernden Um— 
jtänden Gefängniß nicht unter 3 Monaten. — Gin Hauptfehler aller diejer Beitim: 
‚mungen ijt, daß das Geje fich nicht mit einer bloßen Erhöhung dee Marimums 
der ordentlichen Strafe (Ermädtigu ee ——— ur Steafihärtung) — hat. 

Gigb.: Preußen SS 58—60, 202 219, 238 efter: 
ver, di c., 176 a, 263 b, 290—292, © 297 307, Er "321, 993, 524, 326, 390, 

350858, 568, 366368, 383,399, AOL, 406, 414, 415, 418, 420422, 48, 

430, 436, 438 13%, 41, 4b, 48-40, 109, 472,418, 40%, 408,91 Dh, hi, 8 521,524. — 
Deutihes Straf@P. 88 244, 245, 250 3. 5, 252, 255, 26. — Code pönal art. 56 (ab- 
— 28 Ge art. 34 des Gejeßes vom 28, April 1832), 57, 58 (art. 57 und 58 abgeändert 
Bi das © vom 13. Mai 1868), 474, 478 (abgeändert durch art. 99 be3 Geſetzes von 
1832), — a penal At art. 54-57, 554, 558, 562, 564, 565. — Bal. nod 
bie &% 5 87 1, 38, 40 Abi. 2 3. 2, 70, 114, 192 dee Deutichen n MilitärStraf®B. — 
In den Deutf 2,  Epezialftafgefepen Towie in ben partitularrechtlichen Den 
finden fich eine grobe a. ‚Beitimmungen über s- Ir — Defterr. Entwurf L $$ 223 3.3 
und 4, 265, 279, $ 259, 272, 278, 423 N 

Yit.: Bauer, N n. 6 (01 ff. — ae 4, XL — Mittermaier, 
ebenda XIV. — Abe ‚ ebenda 1834. — Baumetfter, Bemerkungen 1847, S. 72 fi. — 
Köftlin, Syftem, ©. ff. — Brauer, Gerichtäjaal 1859; — ebenda 1870; v. Ste: 
mann, ebenda 1871; Taube, ebenda 1872 (Zufammenftell. b . Lit. d. Deutichen StrufGR.); 
Ortloif, ebenda 1873 und in ann 3 Beitihr. L — Meves, Allgem. Deutice 
Strafrechtszig. 1872, 120 ff. — Brusa, Studi sulla recidiva, — 1866. — Berner, 
Srundf., ©. 128 ff.; ae Kritik des Norbd. Entwurfet, ©. 30 fi. — Häljichner, 
Beitr, S. 89 fi. — Friebländer, Der R. im a Sata >. L > 
Rei), — Mertel in v. Holpendorff' 8 Handb. II. S. 559 ff.; II. S. 686 ff. 

221 ff., 409 ff. — K. Olivecrona, Des causes de la recidive ete. (aus = 
5. überjeßt von 8. Kramer), 1873. — Olshauſen, Der Einfluß der Dor: 
beftrafungen auf 5* — ae fommenbde Strafthaten, 1876 ©. 14 fi., 32 
A ilienthal, ze zur Lehre von den Kollektiv: 


belitten, 1879 ©. 91 a — —— Der ftrafrechtliche egriff Inland u. ſ. w., 1873, 
beionders ©. 20 ff., 53 ff. Geyer. 


Rückkaufshandel. Die den Piandleihen (ſ. diefen Art.) nach den 
Landesgejegen auferlegten Beſchränkungen ließen in der Verabredung eines auf eime 
furze Zeit beſchränkten Rückkaufsrechtes (f. diefen Art.) bei Feſtſetzung eines er: 
höhten Rückkaufszinſes den gewerbsmäßigen R. entitehen. Derjelbe befand fich gegen 
die Piandleihe im Vortheil, weil er überhaupt feiner Genehmigung bedurfte, oder 
einer Entziehung ausgefegt war (Preuß. Gew.O. vom 17. Yanuar 1845; Deutiche 
Gew.D. vom 21. Juni 1869 $ 35), feinen Zinsbeichränfungen unterlag und von dem 
Pfandverkauf befreit war. Für die meiltens kleine Werthe betreffenden Geichäfte 
fonnte in $ 321 TH. L Tit. 11 Allg. ER., namentlich jeitdem die Zinsbeichräntungen 
geielich aufgehoben waren, fein Schub gefunden werden ; ebenjowenig wie in Deiter 


m Rüdlaufsredt. 491 


reih in $ 916 des BGB., obwol dort nach $ 1070 der Vorbehalt des Wider- 
faufes nur bei unbeweglichen Sachen ftatthaft iſt. Im Deutichen Reich griff zuerſt 
$ 360 Nr. 12 des StrafGB. ein, indem der Nüdkaufshändler mit Geldſtrafe bis 
150 Marf oder mit Haft bedroht wurde, wenn er den über den R. cerlaffenen An— 
ordnungen zuwiderhandelt. Es fehlte aber an den gleichen Anordnungen. 

Die Novelle zur Gew.O. vom 23. Juli 1879 madte in $ 34 für 
das Piandleihgewerbe eine vorgängige Erlaubniß erforderlich und bejtimmt weiter: 
„Ws Piandleihgewerbe gilt auch der gewerbsmäßige Ankauf beweglicher Sachen 
mit Gewährung des Rückkaufsrechtes.“ Es iſt dies ein Fall der geſetzlichen Fiktion 
(j. dieſen Art.). In Fortführung deſſen ift in 3 38 beſtimmt: „Soweit es ſich um 
diejen Geichäftäbetrieb (R.) Handelt, gilt die Zahlung des Kaufpreiſes als Hingabe 
des Darlehns, der Unterjchied zwijchen dem KHaufpreije und dem verabredeten Rüde 
faufspreije als bedungene Vergütung für das Darlehn, und die Mebergabe der Sadıe 
ala Verpfändung derjelben.” Die fyolge Hiervon ift, daß es im Gebiet der Deutjchen 
Gew.D. einen R., d. 5. gewerbamäßigen Betrieb des Rückkaufes, nicht mehr giebt; das 
einzelne Gejchäft dieſes Gewerbebetriebs iſt als Pfandleihe zu behandeln, ſodaß ein 
Piandverfauf der in Rückkauf gegebenen Sache nach den Beſtimmungen des landes— 
geieglichen Prandleih- Meglements erfolgen muß. Das Preußijche Gejeg vom 
17. März 1881, betreffend das Piandleihgewerbe, umfaßt Piandleihe und R. Ber 
achtenswerth bleibt, daß die Fiktion des R. als Piandleihe nur im gewerbö- 
mäßigen Betrieb gilt; da die Feititellung der Gewerbsmäßigkeit im Thatjächlichen 
liegt, jo it im Voraus nicht abzufehen ob ein Rückkaufsvertrag als Pfandgeſchäft 
gelten wird oder nicht. Betreffend die Verhältniffe in O ejterreich iſt in den Juriſti— 
ichen Blättern von Burian und Johanny 1880 Nr. 52 eine gute —— gegeben. 

Key ner. 

Rückkaufsrecht ift die Berechtigung des Verkäufers, den Wiederverfauf ber 
Sache von dem Käufer zu verlangen. Aber auch der Verkäufer kann verpflichtet 
werden, den Gegenftand von dem Käufer wieder zurüdzufaufen, Beide Verbind— 
lichkeiten, für deren erjtere die Bermuthung gilt, treten durch bejonderen Vertrag 
(pactum de retrovendendo und retroemendo) ein, welcher bejonders häufig ala Neben- 
geding zu einem an fich vollfommen gültigen Kauf Hinzutritt. Aber auch durch 
Legat kann ein R. mit feftgejeßtem Preis zu Gunſten einer beſtimmten Perſon be- 
ftellt werden (l. 49 88 8, 9 D. de leg. 1, 30). Unrichtig it &, wenn Göp— 
vert (Kit. V. 3. Schr. XIV. ©. 207) im Anfchluß an Degenfolb (Begriff 
des Vorvertrages, S. 22 ff.) das pact. de retrovendendo als pact. displicentiae auf- 
jagt. Der Urjprung der R. aus Röm. Rechtsquellen ift zweifelhaft und höchitens 
für das p. d. retrovendendo anzunehmen. Größer iſt feine Bedeutung im älteren 
Deutschen Rechte, wo es zur Umgehung der fanonifchen Zinsverbote ein Kredit— 
geichäft verdedte und ein MWiedereinlöfungsreht mit dinglicher Klage gab (j. den 
Art. Prandleihen). Seine Ausbildung verdankt das Inſtitut des R. der gemein- 
rechtlichen Praxis. 

Heutzutage haben die gedachten Verträge nur obligatorische Wirkungen und 
unterjcheiden fich gerade dadurch von dem in 1. 7 C. 5, 54 erwähnten Bertrag. 

Das R. iſt Höchitperfönlich und geht auch nur bei ausdrüdlicher Beitimmung 
auf die Erben über (Seuffert, Arch. VII. 181); es iſt in der Regel jeiner Aus— 
übung nach an eine beitimmte Friſt gebunden. Iſt eine folche nicht vereinbart, jo 
erflären Ginige (bei Glüd, XVI. ©. 206 ff.) — und dies jtimmt auch mit der 
Auffafſung des Deutichen Rechts überein — das R. für unverjährbar. Andere laſſen 
dreißigjährige Verjährung vom Abichluß an gerechnet zu (Windjcheid, $ 888, 
$ 107 Anm. 5, 9), während noch Andere den Anfangspunkt derjelben an die nicht 
befriedigte Ausübungserklärung des Berechtigten fnüpfen (Sintenis,$116 Anm. 233). 
Iſt der Preis, um welchen das R. geltend gemacht werden foll, nicht im Voraus 
teftgeießt, jo gilt nach der herrichenden Anficht der Preis des früheren Kaufes, wäh. 


492 Nüdtritt vom Vertrage. 


rend Andere (Sintenis) als jolchen den gegenwärtigen Tarwerth annehmen. Die 
Sache wird in dem Zuftande zur Zeit des MWiederfaufs mit allem Zubehör und den 
hängenden Früchten herausgegeben, doch berricht über die Anrechnung von Verbeſſe— 
rungen und über die Haftung für Verfchlechterungen Streit (Glüd, a. a. ©. 
©. 221 ff.). Die Beilimmung, daß das R. nicht zur Verdeckung mwucherlicher Ge 
chäfte gebraucht werden joll, ift durch das RGeſ. vom 14. Nov. 1867 außer An 
wendung gefommen; vgl. jedoch das RGeſ., betr. den Wucher, dv. 24. Mini 1880 
(j. den Art. Wuchergejete), jowie die Beitimmungen der Novelle zur RGew. O. 
im Art. Pfandleihen. 

Unter den Partifulargefeßbüchern entjcheidet der Cod. Max. Bav. die gemein: 
rechtlichen Streitfragen in der Art, daß als Preis der urjprüngliche gilt, dem Säuier 
die Verwendungen erjeßt werden müflen und das R. unverjährbar ift. Das Deiterr. 
BGB. beichränft das R. auf unbewegliche Güter und auf die Lebenszeit des Be 
rechtigten ; es ift umvererblich und unübertragbar. Bon der einen Seite wird der 
uriprüngliche Preis ohne Zinjen, von der andern das Grundſtück in nicht verſchlim— 
mertem Zuftande ohne die gezogenen Nubungen herausgegeben, und Verbeſſerungen 
werden nach den Kegeln des redlichen Beſitzes erjeßt. Das Preuß. Allg. ER. lehnt 
fich bei dem R. mehr an die Deutjcherechtlichen Beitimmungen an. Als Preis gilt 
der urjprünglich erhaltene; gewöhnliche Abnugungen der Sache werden nicht ver- 
treten, wegen WVerichlechterungen haftet der Wiederverkäufer für mäßiges Verſehen, 
wegen Verbefferungen im Allgemeinen als redlicher Befiter. Die Koſten des Rüd- 
fauis treffen den Berechtigten. Das R. iſt höchſt perfünlich, doch können auf 
Wiederkauf veräußerte Pertinenzen auch von einem dritten Erwerber eingelöjt und 
überhaupt ein Vorbehalt zu Gunften der Erben gemacht werden, jonft erlifcht e 
mit dem Tode. MWiederfäuflich veräußerte Zinjen und Renten fönnen von dem 
Verkäufer abgelöft werden. Nach dem Code civil ift die facult6 de rachat ein 
dem Berfäufer auf Widerruf des DBertrages gewährtes Recht gegen Rüderjag der 
empfangenen Zeijtungen, welches nur innerhalb fünf Jahre von Abichluß des Ver— 
trages an ausgeübt werden kann; e8 gelten alle Grundfätze der Refolutivbedingungen, 
und e& liegt jomit eine Berwechielung des R. mit den Beitimmungen der 1. 7 C. 
4, 54 vor. Das Sächſ. BGB. beſchränkt das R. bei Immobilien auf 10, bei 
Mobilien auf 1 Jahr. 

Mit dem R. ift das Näher- und Vorkaufsrecht nicht zu verwechſeln. 

Quellen: 1. 12 D. 19, 5. — 1.2 C.4, 54. — Codex Max. Bar. IV. 4 $ 15. — 
Defterr. BGB. 88 1068—1071. — Allg. ER. I. 11 33 296—330. — Code civil art. 1659— 
1673. — Sächſ. BEB. $$ 1180 ff. 

Lit.: Don den Lehrbüchern beſ. Sintenis, II. ©. 537—639. — Glüd, Pb. XVL 
©. 206 ff. — Plathner, Der MWiederkauf, eine deutjcherechtsgeichichtliche Abhandlung in der 
Zeitichr. für Nechtägeichichte, Bd. IV. ©. 123 ff. Kayſer. 


Rücktritt vom Vertrage im weiteſten Sinne des Worts nennt man jede 
von einem Kontrahenten ausgehende Wiederaufhebung eines Vertrages oder feiner 
Wirkungen. Diejelbe fommt aus jehr verjchiedenen Gründen und in jehr verichie 
denen Gejtalten vor. Sie fann als Geltendmachung der Nichtigkeit oder ala An- 
jechtung erjcheinen. Sie kann auch bei gültigen Verträgen eintreten fraft Weber: 
eintommens der Parteien (mutuus dissensus) oder kraft bejondern, einer Partei ein 
geräumten Rechts (Reuerechts), und diejes Recht kann wieder gejeglich oder vertrags: 
mäßig begründet, von thatfächlichen Vorausfegungen oder vom bloßen Belieben der 
Partei abhängig gemacht, endlich mit der Kraft einer Nejolutivbedingung oder mit 
einer blos obligatorischen Wirkung ausgejtattet fein. Die Abgrenzung der einzelnen 
Sruppen insbejondere zwiichen den Fällen der Anfechtung und des Reuerechts it 
vielfach jtreitig (vol. Wendt, Reuerecht und Gebundenheit, Seit 2 Erl. 18789, 
©. 1 ff.). Jedenfalls aber jpricht man vorzugsweife und im engeren Sinne von 
R. in den letzterwähnten Fällen, wo einer Partei ein bejonderes Recht darauf zu: 


Nüdtritt vom Bertrage. 493 


ftebt. Daher find die wichtigsten diefer Fälle Hier zufammenzuftellen, obwol die 
in jedem eintretenden Wirkungen durchaus nicht gleichartig und nicht auf gemein 
ame Regeln zurüdzuführen find. 

Gejeglich hat das Recht zum R. wegen bloßer Willensänderung jede Partei 
bei Mandat und Societas (f. diefe Art.), ferner der Verkäufer wegen laesio 
enormis (j. diefen Art.), der Käufer wegen Heimlicher Mängel der Sache (f. die 
Art. Kauf und Wandlungsflage), ebenjo unter bejtimmten Borausjegungen 
der Vermiether und der Miether (f. den Art. Miethe), der Schenker wegen Un— 
dans des Beſchenkten (f. den Art. Schenkung), endlich jeder, der ohne Rechts- 
grund eine Leiftung gemacht und dadurch den Empfänger bereichert Hat (j. darüber 
Wendt, Reuerecht und Gebundenheit, Heft 1 Erl. 1878). Nah Windſcheid's 
Yehre joll der R. in den meiſten diefer Fälle auf die „ermangelnde Vorausſetzung“ 
zurüczuführen und dieſe überhaupt ala Grund zum R. anzuerkennen fein. Jedoch 
ericheint diefe Lehre als dem Röm. Recht nicht entiprechend. Abweichend von diejem 
hat jedoch das Preuß. Allg. ER. I. 5 $S 377 — 384 ein Recht zum R. „wegen 
veränderter Umſtände“ eingeführt (vgl. darüber Dernburg, II. $ 100). Nach Ge— 
meinem Recht iſt auch Nichterfüllung des Vertrages von Seiten des Gegners fein 
allgemeiner Grund zum R.; das Preuß. Recht dagegen giebt bei Verträgen, deren 
Hauptgegenitand Handlungen find, dem auf dieſe leßteren Berechtigten die Befugniß 
zum R. aus dem Grunde, daß der Gegner jene nicht gehörig geleiftet habe oder 
leiften könne (Allg. ER. I. 5 88 480 ff. und dazu Dernburg, II. $ 26), außer- 
dem auch noch ähnliche, beſonders geregelte Rechte bei einzelnen Verträgen, wie 
Werkverdingung, Gefindemiethe u. j. w. Noch weiter gehend beftimmt der code 
eivil art. 1194, daß bei allen zweijeitigen Verträgen wegen Nichterfüllung durch 
den einen Theil der andere die Wahl hat, Erfüllung zu beanspruchen oder vom Ver— 
trage zurüdzutreten und Schadenserfat zu verlangen. Nach diefem Vorgang bat 
auch das HGB. beim Kauf jedem Theil wegen Verzugs des andern das Recht ein= 
geräumt, zwifchen drei Wegen zu wählen, insbejondere auch vom Wertrage abzugeben, 
gleich als ob derfelbe nicht geichloffen wäre (Art. 354 — 359). Ueber R. beim 
Frachtvertrage ſ. Art. 394. Endlich ift auch wegen Konkurjes, in den der Miether 
oder Pächter verfällt, wenn die Uebergabe der Sache noch nicht erfolgt war, dem 
andern Theil ein Recht zum R. gewährt (KO. $ 18). — Bertragsmäßig kann einer 
Partei der R. aus jedem beliebigen Grunde vorbehalten werden. Hauptbeifpiele 
bilden das pactum displicentiae, die addictio in diem und die lex 
commissoria. Ueber die leßteren beiden vgl. die betreffenden Art. Durch das 
pactum displicentiae (beffer poenitentiae, Neuevertrag) wird einer Partei der N. 
aus reinem Belieben gejtattet, und zwar im Zweifel derart, daß die Erflärung 
deflelben auf das Geichäft wie eine erfüllte Rejolutivbedingung wirken ſoll (1. 3 D. 
d. c. E. 18, 1; 1. 6 D. resc. vend. 18, 5). Danach erliicht mit dem R. das 
aus dem Bertrage entiprungene Rechtsverhältniß von jelbft und mit ihm alle äuf 
Grund defielben über die Sache getroffenen Verfügungen mit Ausnahme derjenigen, 
welche von dem Zurüctretenden jelbit herrühren, weil für diefen feine Gebundenheit 
zum R. bejtand (1. 3 D. quib. mod. pign. 20, 6; vgl. Windjcheid, Xehrb., I. 
S 323, 9. 6; anders Karlowa, Rechtsgeſchäft, ©. 99). Auch eine Rüdwirkung 
tritt injofern ein, als die Nußungen der Zwiſchenzeit dem Rüdfallaberechtigten heraus 
gegeben werden müffen (1. 4 $ 4; 1. 6 pr. D. de in diem add. 18, 2). Eine 
Frift zur Erklärung des R. ift gefeßlich nicht beitimmt, denn 1. 31 $ 22 D. de 
aed. ed. 21, 1 jeßt eine vertragamäßige Bezugnahme auf das Edikt voraus; fie 
tann vom Richter frei bemeifen werden (Seuffert, Archiv XXVIII. Nr. 131). Der 
Reuevertrag fommt zwar in den Quellen nur beim Kauf vor, wo er, wenn zu 
Gunſten des Käufers vereinbart, mit dem Probefauf (f. diefen Art.) zuſammen— 
fällt (vgl.auch Fitting in Goldſchmidt's Zeitichr. f. d. gef. H.K. V. S. 113). Er 
kann aber auch anderen Kontraften beigefügt werden. Desgleichen ift e8 möglich, 


494 Nüdverfiherumg. 


daß fein Inhalt nur auf Begründung einer Obligation zur Rüdleiftung des Empian- 
genen gerichtet werde. Das Preuß. Allg. LR. I. 11 $S 331, 332 behandelt eben: 
alla den Vorbehalt des Rechts, binnen einer gewiflen Zeit vom Kaufe wieder ab- 
zugeben, als eine auflöfende Bedingung, wendet aber, wenn die Sache übergeben 
und das Kauigeld bezahlt ift, die Regeln vom Wiederfaufe an. (Vgl. Föriter, 
Theorie und Praris, II. $ 126, Nr. 4.) Ed. 


Nüdverfiherung (reassurance, re-insurance) ift ein Verſicherungs— 
vertrag (. diefen Art.), inhaltlich deifen Jemand, der ald Verficherer einen Aſſe— 
furanzvertrag (im Verhältniß zur R. nun „Borverficherung“ oder „Hauptverſiche⸗ 
rung“ genannt) abgeichloffen hat oder abichließen will, das dadurch übernommen 
oder zu übernehmende Rifito ganz oder theilweife auf einen anderen Werficherer 
(Reaffecnradeur) überwälzt, indem er fich gegen die Gefahr, auf Grund des Ver 
jicherungävertrags eine Verficherungsjumme zahlen zu müſſen, jeinerjeits (ala R.- 
Nehmer) bei einem Verſicherer (Rückverſicherer, R.anftalt) verfichert. 

Die Geiahr, welche den Gegenftand der R. bildet, beiteht in dem vertrags 
mäßig übernommenen oder zu übernehmenden Riſiko, eine Schadenserfaßfumme als 
Berficherer zahlen zu müſſen: für den Fall des Gintritts diefer Gefahr deckt ſich 
der im Vorverficherungdvertrage als Berficherer fungirende R.nehmer durch den 
R.vertrag, welchen er entweder mit einer R.anitalt bejonderer Art oder mit einer 
oder mehreren der gewöhnlichen Verficherungsgefellichaften derjenigen Branche, welcher 
der R.nehmer als Vorverficherer angehört, abzufchließen pflegt; jo verfichern fid 
See=, Feuer- und Lebensverficherungsgejellichaiten gegen die von ihnen übernommenen 
Gefahren theilö bei bejonderen R.anjtalten, theils (und zwar häufiger) bei den ge 
wöhnlichen Berficherungsgefellichaften ihres Geſchäftszweiges; e8 kann auch die durd 
R. übernommene Gefahr jelbit Gegenftand einer neuen R. jein. (Ueber die Gejchichte 
diefer R. j. Mafius a a D., © 7—8; Saski a. a. D. ©. 32.) Dieſen 
R.vertrag (im echten und eigentlichen Sinne) jchließt demnach ein Verſicherer 
ald R.nehmer ab; im uneigentlihen Sinne wird auch zum R.vertrag ein Ver: 
ficherungsvertrag, durch welchen fich ein Verficherter (der am Worverficherungävertrag: 
als PVerficherungsnehmer oder als Berficherter Betheiligte) als (Rüd)-Verficherungs: 
nehmer gegen die Gejahr ſchützt, es könne der Verficherer injolvent und demnach die 
(Vor-)Verlicherungsfumme nicht bezahlt werden (j. Preuß. ER. IL. 8 $ 2011); in 
einem anderen Sinne wird das Wort R. mitunter gebraucht, infofen Unfall: 
verſicherung damit gemeint wird, dann nämlich, wenn der für den Erfah eines durch 
Unfall eingetretenen Schadens gejeglich Haftende fich durch eine VBerficherung (Unfall- oder 
Haitpflichtverficherung) gegen den Schaden dedt, dem er durch die gejeßliche Unfall: 
haltung ausgeſetzt iſt; eine derartige Verficherung ift aber ebenfalls feine R., weil 
bier das Riſiko bzw. der Schaden nicht in Folge eines VBerficherungsvertrages. 
fondern auf Grund gejeglicher Beitimmung auf dem VBerficherungsnehmer haftet. Zur 
(echten) R. wird vorausgefeßt, daß durch eine Vorverſicherung eine Geiabr 
übernommen wurde oder beabfichtigtermaßen noch übernommen werden wird, letzteres — 
eine bedingte R. — infofern die Uebernahme einer R. auch dann zuläffig ift, wenn die 
Geiahr, welche der R.nehmer im BVerficherungsvertrage übernehmen joll, noch nict 
vorhanden ift, demnach ein exit beabfichtigtes Verficherungsrifito reaffefurirt werden 
joll (j. Erf. bei Busch, Arch. Bd. XI. a. a. D.); in Fällen der leßteren Art iſt 
die Anzeige, daß der VBorverficherungsvertrag perfekt geworden jei, zur Wirkjamteit 
der R. im Zweifel nicht erforderlich, jondern es wird die bedingte R. zur unbedingten 
durch die Ihatjache der Perfektion des Vorverficherungävertrags (ſ. Erf. bei Buſch, 
AUrh., a. a. D. und Goldihmidt’s Zeitſchrift, Bd. XII. ©. 512). Die 
juriftiihe Natur der R. ergiebt fich daraus, daß die N. ein jelbitändigen 
und gewöhnlicher VBerficherungsvertrag ift, von den übrigen Verficherımgsverträgen nur 
durch den Gegenjtand, die eigenartige Gefahr verichieden; das verficherte Interefic 


Rückwechſel. 495 


it das Intereſſe, welches der R.nehmer daran Hat, daß er aus gewiſſen Verſiche— 
rungsverträgen nicht als Verſicherer (ungedeckt) zahlen müſſe; die durch die R. er— 
möglichte Ueberwälzung kann ſich auf die ganze Gefahr oder auch nur auf einen 
Theil des bejtehenden Riſiko erjtreden; letzteres ift der Fall bei der jog. „R. der 
Grcedenten“, d. 5. derjenigen Beträge der (VBor-)Berficherungsfumme, welche die 
Höhe der nach den Statuten der die R. nehmenden Verſicherungsgeſellſchaft zuläffigen 
Verficherungsbeträge überjchreiten (j. Entich. des ROHG. Bd. V. ©. 165—166). 
An der Gültigkeit der R. ift, inſofern nicht geſetzlich das Gegentheil auögefprochen 
it, wie früher in England (j. Goldſchmidt's Zeitichrift, Bd. IX. ©. 134, und 
Zedlenborg a. a. O., ©. 51), nicht zu zweifeln. Der Inhalt der R.verträge 
ergiebt fi) aus der Vereinbarung und, ſofern diefe darüber jchmweigt, aus dem In— 
halte der in Frage kommenden Vorverficherungsverträge: im Zweifel ift Hinfichtlich 
Art und Umfang der Gefahr u. dgl. das Vertragsganze der (Vor-)Verficherung auch 
für die R. maßgebend; Hierbei muß zweierlei ind Auge gefaßt werden, einerjeits: 
die vom PVorverficherungävertrage abweichenden Feitfegungen der R., 3. B. Gefahr: 
oder Intereffeeinichränfungen in der R., find ohne Einfluß auf die Wirkung des 
Vorverficherungsvertrags; und andererſeits ift eine willfürliche Art der Schadens— 
wgulirung, welche der Vorverficherte und der Rückverſicherte mit einander nach Eintritt 
des Borverficherungsfalles vereinbaren, ohne Belang für die Wirkſamkeit der R., injofern 
fich die Pflicht des Rückverſicherers nach Demjenigen bemißt, was der Rüdverficherte dem 
Verficherten rechtlich zu zahlen hat, und darüber hinausgehende Vergleiche jener Beiden, 
Liberalitäten u. dgl. den Rüdverficherer nicht binden (j. Mal a. a. O. ©. 514). 
Ginjeitiger Rücktritt von der R. ift (auch nach dem Preuß. ER.) ausgefchloffen (ſ. Entich. 
de ROHG. Bd. V. ©. 168). Das theilweife Erlöfchen des Vorverſicherungs— 
vertrags nach Abjchluß der R. bewirkt ein verhältnigmäßiges Erlöſchen der R., 
wenn die lehtere auf einen ideellen Antheil lautete; es bewirkt aber feine Endigung 
der R., wenn lehtere einen feſten Betrag der Schadenserfagfumme zum Intereſſe 
gemaht Hatte und wenn durch die theilweife Endigung der Vorverficherung, d. i. 
durch die Reduktion des Worverficherungsintereffe das Riſiko nicht unter die feſt— 
vereinbarte Rſumme Hinunter ſinkt; wäre Lebteres der Fall, jo würden mit der 
Minderung der Gefahr im Vorverficherungsvertrage auch die in der R. übernommenen 
Gefahren entiprechend reduzirt werben. 

Das Deutſche HGB., nach welchem die R. unter Umjtänden ala „Handels— 
geſchäft“ aufzufaffen ift, erklärt die von dem Seeverficherer übernommene Gefahr als 
verficherbar und damit die Zuläffigkeit der R. im Seehandeläverfehr, in welchem 
die NR. bereits lange fich einbürgerte, und beftimmt ferner, daß bei der jeerechtlichen 
R. die Abandonfrit mit dem Ablaufe des Tages beginnt, an welchem dem Rück— 
dverficherten von dem Verficherten der Abandon erklärt worden ift. 

Quellen: Allgem. Preuß. ER. II. 8 $ 2016. — Allgem. Deutſches HGB. Art. 782, 
783, 868. — Code de comm. art. 342. 

Lit.: Mafius, rg Darftellung des geſammten Verſicherungsweſens, Xeip. 
—— S. 7 ff. — Saski, Die volkswirthi aftliche Bebeutung des * ——— 
Aufl., Leipz. 1569 ©. 32. — Malß in Goldſchmidt's Zeifſchr. f. Dhra, Sohlen 
3. XII. ©. 506 ff. und die bort —— Lit. und Judikatur. — zen org, Sy em 
gl — —— 1862 ©. 51. — we On the law of marine insurance, 


d. by David ———— — —— Vol. I * ss. — Malß, geitiht. f. Der: 
herum Bd. J. S. 139; — Bu Arch. —— N ».XL& ©. 21 ff.; 
XIV — ER 7 —* ſ d. geſ. ER Bd. IX — Lewis, Das 
—— Pride 1 Endemann, H.R., 3. Aufl. 1876) 4 856. — Bejeler, 


6. fi 
Deutſches Privatrecht, 3 . Aufl, ©. 464, 1064. — d. Gerber, Deutiches Privatrecht, $ 202 
Anm. 3. Bari. 


Rückwechſel (Th. I. ©. 561). Der R. (auch Retour:, Rikors-, Gegens, 
Wider, Her-Wechfel, ricambio, ritratto, retraite, rechange, hertrekking genannt) 
ift ein Wechiel, welchen ein Wechjelregreßnehmer zum Zmwede der Einziehung der 


496 NRüdwirkung. 


Regreßjumme auf den Regreßpflichtigen zieht (verichiedene andere Bedeutungen von 
R. ſ. Thöl aa. D., ©. 366, Note 3). Die Regreßſumme aus dem bezahlten 
Vor- oder Hauptwechjel wird zur Wechjelfumme des R., deren Berechnung und 
Beitandtheile j. in dem Art. Kursberehnung ausführlih. Der Regredient 
(Retrafiant) erhält fie ald Baluta von dem Remittenten des R. und erſpart dadurd 
die mweitläufigeren und foftjpieligeren Umftändlichkeiten der anderweiten Ginziehung 
der Regrehfumme. Um aber diefe Eriparung zu bewirken, muß der R. unmittelbar 
auf den Regreßpflichtigen (Retraffaten) und zwar auf defien Wohnort (a drittura) 
gejtellt und auf Sicht (a vista) zahlbar fein, wie dieſes auch durch die Deutiche 
Mechjelordnung Art. 53 vorgefchrieben ift. Der R. läuft entweder ala gewöhnliche 
Tratte, jo, daß er gar nicht ala jolcher erkannt wird, oder jo, daß der Nehmer 
deffelben jeine Eigenjchaft ala R. durch eine Bemerkung auf diefem jelbjt oder durch 
anderweite Anzeige (Avisbrief) jeitend des Negreßnehmers erfährt und ihm gleich— 
zeitig mitgetheilt wird, wo die zur Regreßklage nöthigen Papiere (nämlich der 
proteftirte Vorwechſel, die Protefturtunde und die Netourrechnung mit Belegen) zu 
erhalten find, oder endlich jo, dak ihn dieſe Papiere fortwährend begleiten (R. mit 
Beilagen). In den beiden leßteren Fällen fann der Nehmer des R., wenn der 
Retrafjat den R. nicht acceptirt und nicht honorirt, den Vorwechſel einklagen, foren 
er durch ein Giro auf diefem als Inhaber defjelben Legitimirt ift, nicht aber ſchon 
auf Grund des nicht acceptirten R. mit Beilagen (j. Borhardt a. a. O. Zul. 
454; für die entgegengefegte Anficht j. Anm. in Seuffert, Arch., Bd. XV. 
S. 115—117 und die dort citirten Abhandlungen). Der Retraffat wird den X. 
regelmäßig acceptiren und honoriren, weil er jonft nicht blos die Regreßklage, jondern 
auch eine Klage auf das Intereffe zu gemwärtigen hätte. Außer der Regreßſumme 
darf die Wechjelfumme des R. noch umfaffen: die Mäklergebühren für die Negoyirung 
des R., fowie die etwaigen Stempelgebühren, nicht aber noch eine befondere Provifion 
(außer der in der Regreßſumme nach der Deutichen Wechielordnung Art. 51 ent: 
haltenen). Borhardt a. a. D., Zuf. 621. 

Ueber die Zugrundelegung eines fingirten R. bei Berechnung der Regreb: 
jumme ſ. den Art. Kursberechnung; über R. im Sinne von Interims— 
wecjel j. Thöla. a. D.,$ 583, ©. 212. 


Gigb.: Deutihe WO. Art. 53. — Code de comm. art. 177, 179, 183 und Decret du 
24 mars 1848. 

Lit.: Einert, WR, ©. 297—320. — Treitſchke, Alphab. Encyklop. der WR. 
Bd. I. ©. 413—437. — Kunthze, WR, 8 42. — Dahn in Bluntſchli's Deutichem 
er $ 180 ©. 546. — Thöl, HR., Bd. I.; WR. 4. Aufl. $ 100 ©. 365371. — 

.d. Wächter, Enchflop. d. W.R., 1880, S. 877-881. — Borhardt, Allgem. 
Deutihe WO., 7. Aufl. 1879, Zuf. 454 ©. 211, 278. — Ercole Vidari, La lettera di 
cambio, Firenze 1869, p. 579 ss. — Ueber bie alten cambii con la ricorsa, welche zur Um— 
gehung des Verbots der cambia sicca dienten, |. Runtze, W.R., I. Erfurs, ET 

areiß. 


Rückwirkung der Geſetze. — Das Berhältniß eines neuen Gefeges zu den 
bisher in Geltung befindlichen Rechtsſätzen regelt im Allgemeinen der Grundiat: 
lex posterior derogat priori. Das heißt, mit der Wirkſamkeit eines neuen Geſehzes 
treten diejenigen von den bisherigen Rechtsſätzen außer Kraft, welche fich auf die 
gleichen Lebensverhältniffe oder Vorkommniſſe beziehen und eine mit der neuen Regel 
undereinbare Norm aufftellen. Aus diefem Grundſatz folgt indeß keineswegs, daß 
der ältere durch das neue Geſetz verdrängte Rechtsja in den Gerichten nicht mehr 
in Anwendung gebracht werden dürfe. Es ift VBorfrage: Auf welche Begebenheiten 
(Handlungen und Unterlaffungen) ſowie Zuftände erjtredt das neue Gejeß jeine ‚Herr 
ichaft? Im diefer Hinficht ift zu bemerken: Wenn ein Gejeß erjcheint (und in Krait 
tritt), jo find bereits NRechtsverhältnifje der Art vorhanden und Handlungen der 
Art vorgefallen, für welche eine neue Regel eingeführt werden ſoll. Dieje Rechte: 
verhältniffe (und Handlungen) haben durch das bisher geltende Recht rechtliche Ord— 


- 


Rüdwirkung. 497 


nung erhalten. Findet nun das neue Gejeß auch auf dieſe bereits geregelten Verhält— 

niffe und auf die bereits im ihrer juriftifchen Bedeutung -beitimmten Handlungen 

Anwendung oder nur auf Rechtsverhältniffe und Handlungen diejer Art, welche erſt 

nah dem Inslebentreten des neuen Gejeßes zum Dafein famen? Mit anderen 

Morten, greift ein Geſetz auch in den bei feiner Gricheinung ſchon begründeten 

jubjeftiven Rechtszuſtand ein? Dies ift &, was man die zeitliche Kolli— 

fion der Gejege nennt. Zur Löfung der Kollifion müffen die normalen 

Grenzen für die zeitliche Herrfchaft der Rechtsſätze aufgefucht und muß die Frage 

io geftellt werben: wieweit erjtredt fich zeitlich die Herrſchaft eines Rechtsſatzes? 

Vom Standpunkt des pofitiven Rechte — und nur diefer joll Hier erörtert werden — 

it die Antwort: die Grenze bejtimmt der Geſetzgeber (allgemeiner die rechtichaffende 

Macht im Staate). Mithin find die praftifchen, d. H. für die Rechtsanwendung 
maßgebenden Regeln über die zeitliche Herrſchaft der Geſetze (Rechtsſätze) Beitand- 

teile des pofitiven Rechts des Landes. Diejer Ausgangspunkt ergiebt die Folge: 

Sobald das pofitive Recht eines Landes ausdrüdliche Normen über die zeitliche 
Herrſchaft aufftellt, Hat der Richter die Kollifionen zwifchen dem älteren und dem 
neueren Rechtsja Lediglich hiernach zu entjcheiden, wie auch der Inhalt diefer Normen 
fich zu der aus allgemeinen Erwägungen folgenden Löfung der Frage verhalten mag. 
Ter Gejeßgeber kann bejtimmen, daß alle Handlungen und Verhältniſſe der betreffen- 
den Art, welche von nun an zur richterlichen Würdigung kommen, ausſchließlich 
nah dem neuen Gefeß beurtheilt werden follen, auch diejenigen, welche aus der Zeit 
vor Gricheinung diejes Geſetzes ftammen. Die Anwendung eines Gejeßes auf ver- 
gangene Thatfachen und Zuftände in dem angegebenen Sinn bezeichnet man ala 
R. der Geſetze. Nicht darin beiteht aljo die R., daß einem Gejeß Geltung für eine 
frühere Zeit beigelegt und ein vergangener NRechtszuitand umgeftaltet würde, denn 
die Einwirkung auf die Vergangenheit ift durch die Natur der Dinge auägejchloffen 
und an ihr bricht fich auch die Allgewalt des Gejeßgeberd. Die NR. legt nur ver= 
gangenen Thatjachen eine andere rechtliche Bedeutung bei als ihnen bisher zufam, 
oder, praftifch ausgedrüdt, fie bindet die rechtliche Beurtheilung vergangener That— 
jahen an die Normen des neuen Geſetzes. Die Unzuläffigfeit der R. wird vielfach 
ala ein durchgreifender, jeder Ausnahme unfähiger Grundjaß verfündigt, bald ala 
Rechtsariom, das auch für das praftifche Necht durch entgegenjtehende Verfügung 
des Geſetzgebers nicht aus den Angeln gehoben werden kann (Struve, Laſſalle), 

bald als unabweisbare Forderung an die Gejeggebung. Die Aufftellung it in beiberlei 
Geftalt unhaltbar: in der erjten, weil im MWiderjpruch mit der Stellung, welche 
der Gefeßgeber gegenüber dem pofitiven Recht einnimmt, aber auch in der zweiten, 
wovon jchon das Vorkommen der R. in den Gejeßgebungen aller Länder und Zeiten, 
die Gegenwart nicht ausgenommen, überzeugen fann. Der Sab von der Nicht-R. 
der Geſetze Hat allerdings gute Berechtigung und ift im pofitiven Necht zur Ans 
erfennung gelangt, aber als Regel, nicht ala Prinzip. 

Der vor die Aufgabe geftellte Richter, ob auf ein gewiſſes Verhältniß oder 
Vorkommniß das früher oder das gegenwärtig geltende Gejeg in Anwendung zu 
fommen * hat ſeine Unterſuchung vor Allem darauf zu richten: 

J. ob fich in dem poſitiven Recht des Landes eine dieſe Kolliſionsfrage ent— 
—— Norm findet. Solche Vorſchriften kommen mit verſchiedenem Geltungs— 
umfang vor, theils für alle in einem beſtimmten Rechtsgebiet erſcheinenden Geſetze 
(Preuß. ER. Einl. ss 14—20; Oeſterr. BGB. $ 5; Sächſ. BGB. SS 2, 3; 
Code civil art. 2; Code pénal art. 4 u. a.), theils für ein einzelnes Gejeg oder 
Geſetzbuch, mögen fie hier in ein befonderes Einführungsgeſetz (Publikationspatent) 
verwieſen oder dem Geſetz ſelbſt einverleibt fein (tranfitorifche Beitimmungen). Manche 
Zandesrechte befiten aber ausdrüdliche Normen über die zeitliche Herrichaft der Gejeße 
überhaupt nicht, andere wenigſtens nicht in ausreichendem Maße. Wo nun ein der- 
artiger Mangel vorliegt, da iſt 


v. Holtzendorff, Enc. II. Rechtslexiton III. 3. Aufl. 32 


498 Rüdwirkung. 


II. der muthmaßliche Wille des Gejeßgeber& zu ergründen, denn Recht iſt der 
Wille der rechtichaffenden Macht. Hier gewinnt die wifjenjchaftliche Forſchung un: 
mittelbare praftijche Bedeutung. Freilich begegnet uns gerade in dieſer Lehre eine 
große Verſchiedenheit der Anfichten ; indeR glüdlicherweije weniger in der Beant: 
wortung der einzelnen praftiichen Fragen als in der Faſſung der allgemeinen Regeln, 
ein Beweis, daß das unmittelbare Gefühl und der gejunde Takt des Urtheilers 
mächtiger ift als die theoretiiche Formel. 

Als Anhalt für die Löſung der zweifellos jchwierigen Aufgabe bieten fich im 
Allgemeinen folgende, dem Wejen des Gejees wie der Nechtäverhältniffe entnommen 
Punkte: 1) Zwed der Geſetze überhaupt, 2) Beichaffenheit des bejonderen in Frage 
befindlichen Gejehes, 3) Natur der Lebensverhältnifie, zu deren Ordnung dieſes Geich 
beitimmt it. Was im Einzelnen noch Führer jein kann, entzieht fich einer zufammen: 
faffenden Beichreibung. Aus der angegebenen Grundlage wird jotort klar, daß die 
Regeln über die zeitliche Herrichaft Für die Rechtsſätze der einzelnen Rechtegmeige 
1. find, anders für das Privat:, anders für das Öffentliche Recht. 

Privatreht. Gin jedes Lebensverhältnig und überhaupt jedes that: 
— Vorkommniß wird ſofort bei ſeiner Entſtehung durch die zu dieſer Zeit 
geltende Rechtsnorm (oder Rechtsnormen) ergriffen und nach ſeiner rechtlichen Be— 
deutung beſtimmt, ſei es zum rechtlich unerheblichen geſtempelt oder mit rechtlicher 
Geſtalt und Wirkung ausgeſtattet. Der juriſtiſchen Anſchauung vollzieht ſich die 
Unterwerfung der Thatſachen unter die Herrſchaft der Rechtsſätze von ſelbſt (nicht 
erit durch das richterliche Urtheil), und für die Rechtsanwendung giebt es feine 
Lücke im pofitiven Recht (THöl). Es ift nun im Zweifel nicht anzunehmen, dab 
der Gejeßgeber die von dem bisherigen Rechte beitimmten Thatſachen und geregelten 
Berhältniffe durch das neue Geſetz umformen und in den begründeten fubjeftiven 
Rechtszuſtand ändernd eingreifen wolle. Den künftig entjtehenden Thatſachen (und 
Verhältnifien) allein joll in der Regel ein neues Geſetz rechtlichee Maß und Ziel 
geben (leges et constitutiones futuris certum est dare formam negotiis, non ad 
facta praeterita revocari, nisi nominatim de praeterito tempore adhuc pendentibus 
negotiis cautum sit. Const. 7 de legibus 1, 14). Daher findet fich in den Rechten 
aller der abendländiichen Kultur angehörigen Völker (über Chinefisches, Indiſches und 
Jüdisches Recht j. Laſſalle, I. ©. 62—68) ala Regel der Satz: Geſetze haben keint 
rückwirkende Kraft, oder beſſe: Neue Geſetze finden auf vollendete juri— 
ſtiſche Thatſachen keine Anwendung. 

Dieſer Regel gehen aber überall Ausnahmen zur Seite. Vor Allem 1) will 
ein Geſetz, welches ſich als authentiſche Interpretation zu erkennen giebt, 
ſofort in allen Fällen normgebend fein, wo fortan der ausgelegte Rechtsſatz zur An: 
wendung gelangt (auch in der Appellations= und Revifionsinjtanz). Dies iſt die 
weitgreifendjte Ausnahme. 2) 63 kommen noch andere Gejege mit rückwirkender 
Kraft vor, jei es daß ihnen diejelbe ausdrüdlich oder, wie aus Inhalt und Zwed 
unzweibeutig erfennbar, jtillichweigend beigelegt ift. In letzterer Beziehung fteben 
wir dor einer Auigabe der Gefetzesauslegung. Es find jchon verjchiedene Verfuche 
gemacht worden, derjelben durch Aufſtellung einer allgemeinen Formel zu Hülse yu 
fommen (Savigny, Bornemann, Lafjalle, Rintelen u. a.) Keine 
befriedigt, wobei freilich nicht zu überjehen ift, daß an derartige Formeln feine zu 
hohen Anforderungen gejtellt werden dürfen. Mit größerer Sicherheit kann im All: 
gemeinen der Umfang der R. bei den Geſetzen der zweiten Klafje beftimmt werden 
Wenn durch ein Gejeh das Jagdrecht auf fremdem Grund und Boden, der Sein: 
oder der Blutzehent aufgehoben, eine NReallajt für ablösbar erklärt, das Fiſchen ın 
öffentlichen Gewäſſern freigegeben wird, jo hören im Zweifel auch die jchon be 
gründeten Jagd-, Zehnt-, Reale, Sifchereirechte mit der Wirkſamkeit des Geſetzes au 
zu bejtehen. Allein die aus deren bisherigem Bejtand bereits erwachjenen Anjprüde 
und Berpflichtungen bleiben vom neuen Geſetz unberührt und können auch jetzt nod 


Nüdwirkung. 499 


auf Grund des ältern Rechts geltend gemacht werden, Noch viel weniger wird die 
Frage Über die vormalige Entftehung, Aenderung oder Aufhebung jolcher Rechte 
durch das neue Gejeß betroffen. Allgemein gefaßt: die R. im zweiten Umfang 
unterjtellt in Anjehung der unter der Herrſchaft des bisherigen Rechts entjtandenen 
Rechtöverhältniffe nur die künftige Erzeugung rechtlicher Wirkungen ſowie die fünftigen 
auf Nenderung oder Aufhebung zielenden Thatſachen dem Einfluß des neuen Gejeßes 
und läßt abgeichloffene juristische Thatſachen (facta praeterita) unberührt. Nicht 
ohne Grund wurde bezweifelt, ob Hier überhaupt noch von R. geiprochen werden 
dürre (Scheurl). Der herrichende Sprachgebrauch ijt dafür. Eine große Rolle 
hat in umjerer Lehre von jeher der Begriff der erworbenen oder wohlerworbenen 
Rechte geipielt. Derſelbe entbehrt aber (troß Lajjalle) der erforderlichen Beitimmt- 
heit, um in praftifchen Regeln Verwerthung zu finden. Freilich bedarf auch näherer 
Beihreibung, was unter einer abgejchloffenen juriftifchen Thatſache zu verjtehen jei. 
Ein genaueres Eingehen verbietet hier der Raum. Nur joviel fei bemerkt, daß unter 
diejen Begriff weder bloße rechtliche Möglichkeiten und Erwartungen fallen (3. B. 
eine in Ausficht ftehende Beerbung bei Lebzeiten des Erblafjers, das Konkursprivileg 
einer Forderung vor Ausbruch des Konkurfes), noch die rechtlichen Eigenjchaften der 
Perionen (Recht3=, Handlungs=, Verpflichtungs=, Wechjel-, Verbürgungsfähigkeit u. ſ. w.). 
Ein unfehlbarer Schlüffel ift übrigens auch damit nicht gewonnen. So widerjtrebt 
3. B. unferm Rechtsgefühl, daß durch ein Geſetz, welches den Termin der Mündig— 
feit oder Grokjährigfeit, der thatjächlichen Vorbedingung für einen höheren Grad 
der Handlungsfähigkeit, gegenüber dem bisherigen Recht Hinausfchiebt, die nach diejem 
Recht bereits mündig oder großjährig Gewordenen wieder in den Zuftand ber Un— 
mündigfeit oder Minderjährigfeit verjegt werden, wenn fie da® vom neuen Geſetz 
geforderte höhere Lebensalter noch nicht erreicht Haben. Und doch würde dazu eine 
folgerichtige Anwendung der Negel führen. Daß fich aber der Gejegeber mit einer 
dringenden Forderung der Billigkeit in Widerſpruch jegen wollte, ift nicht anzu— 
nehmen. 

B. Deijentlihes Recht. 1) Auf dem Gebiete des Strafrechts wicder- 
holt fich die Erfcheinung, daß die mannigiachen Theorien troß Berjchiedenheit der 
grundjäßlichen Standpunkte in den praftiichen Ergebnifjen nicht erheblich von ein— 
einander abweichen. Die Einen gehen von dem Satze aus, daß eine Handlung nad) 
demjenigen Straigejeg zu beurtheilen ift, welches zur Zeit feiner Begehung das gegen- 
wärtige Recht bildete, laffen aber eine Ausnahme für den Wall zu, daß in der Zeit 
zwiſchen der Begehung und der Mburtheilung ein milderes Strafgefeß in Kraft ges 
treten ift. Nach den Anderen darf das neue Strafgeſetz vom Tage jeiner Wirkſam— 
feit an allein die Richtſchnur für die ftrafrichterliche Thätigkeit bilden; jedoch werden 
auch Hiervon Ausnahmen anerkannt, bald allgemein, wenn das ältere Gejeh dem 
Angeſchuldigten günftiger ift, bald nur in dem Fall, wenn die Handlung nach dem 
Gejeg zur Zeit ihrer Begehung ſtraflos war, nach dem neuen Gele aber jtrafbar 
tft. Der zweite Standpunft wurde am beiten damit begründet, daß das Strafgeſetz 
die Strafpflicht des Staates nad) Inhalt und Umfang beftimme und eine Inſtruktion 
für den Strafrichter bilde; die auf dem bisherigen Geſetz fußende Strafpflicht er- 
löſche mit dem Tage, wo diejes Gejeg von dem neuen entkräftet werde, eine neue 
trete an ihre Stelle (Binding). Hiermit wird jedoch die relative Natur der 
Straipflicht und der Strafbefehle verfannt. Das Straigejeg jteht — wenigjtens ijt 
davon auszugehen — im engen Zufammenhang und im genauen Berhältniß zu dem 
geſammten Kulturzuftand eines Volkes und zu den Bebürniffen des jeweiligen 
Gemeinlebens. Eine Handlung wird für ftraflos, eine andere für ftrafbar, und zwar 
in dem beitimmten Maße jtrafbar erflärt mit Rückſicht auf die gegenwärtigen gejell- 
ichaftlichen, fittlichen, politifchen, veligiöfen, wirthchaftlichen Verhältniſſe. Nur weil 
die Handlung unter diefen Umftänden ins Leben getreten ift und in dieſe Berhält- 
niffe eingreift, belegt fie das Geſetz mit Strafe und mit diefer Strafe. Indem der 

32 * 


500 Rudhart. 


Geſetzgeber zu einer Aenderung des Strafrechts ſchreitet, giebt er nicht ein abfälliges 
Urteil über das Werk feines Vorgängers, maßt fich nicht ein Beflerveritehen an; 
er geht vielmehr davon aus, daß der gejellichaftliche Zuftand ein anderer geworden 
und daß diefe Wandlung auch eine Wandlung der Straigeießgebung bedinge, Eine 
Handlung, die ehedem den rächenden Arm des Strafrichters erheiichte, kann jeht 
vielleicht vor dem Straigejeg ungeahndet vorübergehen und umgekehrt (unerlaubte 
Selbithülfe, Kanzelparagraph, Sozialdemokratie u. ſ. w.). Was aber für das Ob, 
gilt auch für das Wie. 

Aus diefer Erwägung folgt die grundfägliche Richtigkeit des erften Standpunfts. 
Die beigefügte Ausnahme wurzelt in einer Humanitätsrüdficht, welche auch der An- 
wendung einer von der gegenwärtigen Gejeßgebung verworfenen Strafart entgegen 
tritt, obwol hierfür noch andere Gründe jprechen. Die hier vertretene Anficht hat 
dem GErgebniffe nach im Deutichen StrafGB. Anerkennung gefunden. Daſſelbe ftellt 
als Regel auf: eine Handlung wird mit derjenigen Strafe belegt, welche auf fie zur 
Zeit ihrer Begehung gedroht war. Hat jedoch in der Zeit zwijchen der Begehung 
und der Aburtheilung ein milderes Strafgejeß Geltung erlangt, jo kommt diejes zur 
Anwendung, follte es auch im Zeitpunkt der Urtheilsfällung wieder außer Kraft 
getreten jein (RStrafGB. $ 2, vgl. mit $ 4 letter Abſatz). Ob ein Strajgeſetz 
milder ijt ala ein anderes, bemißt fich nach dem Gejammtergebniß, zu welchem die 
Anwendung eines jeden Geſetzes führt. Immer darf nur auf eine im RStrafGB. 
aufgenommene Strafart erfannt werden (EG. zum RStrafGB. $ 6). 

2) Neue Prozeßgeſetze bejtimmen im Zweifel das Verfahren bei allen fortan 
der richterlichen Enticheidung unterjtehenden Fällen, auch bei denjenigen, welche zur 
Zeit des Inslebentretens des neuen Gejeges jchon gerichtshängig waren. Indeß 
pflegen für die letteren Sachen die Einführungägefege eine minder jchroffe Grenz 
icheidung zwiſchen dem alten und dem neuen Gejeg zu treffen, um Berwidelungen 
fern zu halten, welche fich aus der Anwendung beider Gejeße auf die verjchtedenen 
Abichnitte des Prozefjes Leicht ergeben. Val. EG. zur RStrafPO. 88 8—12 mit E6. 
zur REPOD. SS 18—23. Die Rechtsjäge über die Verjährung der Anfprüche (und 
Strafen) jowie über die Beweislaft gehören zum materiellen Recht (Entich. des 
ROSG. XL ©. 339, XIV. ©. 258). 

Lit.: Savigany, Syſtem, ®b. VII. ©. 868 ff. (1849), wo auch Nachweife über bie 
ältere Lit. — Scheurl, Beiträge zur Bearbeitung bed Römiſchen Rechts, Bd. I. Nr. VL 
(1853). — Laſſalle, Das Spyitem der erworbenen Rechte, Bd. I. (1861). — Reinhold 
Schmid, Die Herrichaft der Geſetze nach ihren räumlichen und zeitlichen Grenzen, S. 101 
bis 148, 186—204 (1863). — Rintelen, Ueber den Einfluß neuer Geſetze auf die zur Yet 
ihrer Emanation beftehenden Rechtäverhältnifie (1877), — Brinz, Pandelten (2. Aufl.) 
$ 21. — Kierulff, Zheorie, ©. 63—72. — Windiheid, Panbelten, 55 31—833. — 
Roth, Deutiches Privatrecht, $ 50; Derjelbe, Bayer. Givilxecht, $ 15. — Stobbe, Deutiches 
Privatrecht, SS 27, 28. — Goldſchmidt, Handbuch bes Handelsrechts, 5 39. — Föriter, 
Preuß. Privatredt, $ 10. — Unger, Defterr. Privatrecht, SS 20, 21. — Zacdhariäö, 
—— Givilteht, $ 80. — Seeger, Ueber bie rüdtwirtende Kraft neuer erafgeieh 
862. — v. © Bere in vd. Holkendorff’3 Handbuch des Deutichen Strafrecht, Bd. II. 
©. 25—30. — Binding, Die Normen, Bb. I. ©. 78—96. — Berner, Lehrb. S 126. — 
Geib, Lehrbuch, II. $ 69. — Meyer, Lehrbud, 8 20. — Schütze, — 8 18. — 
v. Wächter, Das Sächfiſche und das Thüringiſche Strafredt, ©. 117 fi. — Dochow m 
v. Holtzendorff's —— des Deutſchen Strafprozeßrechts, Bd. I. ©. 136. — Motive 
zum Entwurf des EG. zur RCPO. 1874 8 15 (S. 489/90). F. Regelöberger. 


Rudhart, Ignaz, & 11. II. 1790 zu Weißenau (Oberfranten), ftud. in 
Bamberg und Yandahut, 1811 Profeflor in Würzburg, trat 1817 wegen Gejund- 
heitsverhältniffen in den Staatsdienſt über, zunächit als Fiskalrath, 1819 Minifterial- 
rath im Finanzminifterium, 1823 Regierungsdireftor. 1825 zum eriten Mal in 
die zweite Hammer gewählt, nahm er an den Seifionen von 1825 und 1828, jowie 
an den ftürmifchen und verhängnißvollen von 1831 und 1834 einen auch ala 
Redner glänzend hervorragenden Antheil. Er vertrat die Intereffen der Freiheit 


Audorff — Ruheitörung. 501 


und des jtaatlichen Fortichrittes mit ebenjo viel Muth und Ausdauer, als Genialität, 
vermöge deren er der damaligen Zeit weit vorausgefchritten erjcheint. 1831 zum 
Regierungspräfidenten befördert, wurde er von König Ludwig I. nach Griechenland 
gefandt, wo er an die Spitze des dortigen Minijteriums trat. Nachdem er in 
Griechenland jeine Gejundheit geopfert hatte, wurde er hier auf Drängen Englands 
im Dez. 1837 plötzlich wieder entlaffen und F 11. V. 1838 auf der Nücdkreife 
zu Trieft. 
Schriften: Ueber das Studium der Recht Pant, 1811. — ——— über tg 
Eintheilung der Verträge, 1811. — Enchkl. un ethod. der Rechtäwifjenichaft, 1812. — 
Rontroverjen im Code Nap., 1813. — Geſchichte der Landftände in Bayern, 2 Bde, 1816 
(jweiter Abdrud 1829). — Heberficht der vorzüglichften Beſtimmungen verjchiedener Staats: 
verfaffungen über Volksvertretung, 1818. — Das Recht des Deutfchen Bundes, 1822. — Rebe 
in der Bayer. Abgeorbnetentammer vom 8. Juli 1825 über die Gejekentwürfe, —— 
Anjäffigmachung und Verehelichung betr. — Ueber den Zuſtand des Königreichs Bayern, 
1825. — Ueber bie Cenſur von Zeitungen im gr wor und bef. nach d. Bayer. Staatäredht, 
1826. — Referat über den Bayer. Entwurf eines rn. über das Strafverfahren, 1831. 
Lit: Bözl in Bluntihli’s Staat3Wört.B. Bd. VIII. ©. 749—758. — 
ezolb. 


Rudorff, Adolph Friedrich, & 21. III. 1803, F 14. II. 1873 zu Berlin, 
Schüler von Ribbentrop, Hugo und von Savigny, habilitirte ſich 1825 in Berlin, 
wo er als Dozent, ala außerordentlicher und als ordentlicher Profefjor bis an jein 
Ende wirkte. Seit 1860 war er auch Mitglied der fönigl. Preußifchen Akademie der 
Wiſſenſchaften. 

Hauptſchriften: De lege Cincia, 1825. — Das Recht ber Vormundſchaft, 1832 
bi3 1834. — Grundriß zu VBorlefungen über dad Gemeine Eivilrecht, 1833, 1843. — Grundriß 
m —— über den Gemeinen und Preußiſchen Giv.Prz., 1837. — Gromatiſche * 
itutionen, 1852! — Die Gromatiker, mit Lachmann, Bluhme und Mommjen, 1 
bis 1852. — Römiſche Rechtsgeſchichte 1857—1859. — Außerdem verfaßte R. zahlreiche 
Gelegenheita:, alademijhe und Zeitichriften- Abhandlungen. Er war jeit 1828 Mitarbeiter, 
ſeit 1842 Mitherausgeber ber Zeitjchrift für geichichtliche Rechtswiſſenſchaft und ftiftete 1861 
die Zeitjchrift für Rechtsgeſchichte, an welcher er ſich noch kurz vor feinem Tode thätig be: 
theiligte. Er beforgte von 1845 an mehrere Ausgaben ber ———— Inſtitutionen, 

N 


Pandektenvorleſungen, und 1865 die 7. Ausgabe von Savigny's i 
Lit.: Revue — de droit ancien et moderne, français et — — 
ivier. 

Nuheftörung. Eine Anzahl Rechtsnormen iſt darauf gerichtet, für die dem 
Menſchen nöthige Ruhe durch Fernhaltung ftörenden Lärmes zu ſorgen. Bor Allem 
iſt e8 verboten, ungebührlicher Weife ruheftörenden Lärm (bruit ou tapage, noise) 
zu erregen. Uebertretungen ſtraft das Deutjche StrafGB. mit Geldbuße bis zu 
150 Darf oder mit Haft bis zu 6 Wochen ($ 360, 11). Unter diejes Strafgeſetz 
fallen nur Störungen der öffentlichen Ruhe (alfo nicht Ungebührlichkeiten, welche 
auf den engeren Kreis der familie oder einzelner Perjonen bejchränft bleiben; Erf. 
de3 Preuß. OTrib. vom 8. Mai 1874, Rechtsjpr. Bd. 15 ©. 297), jolche aber 
ohne Unterjchied, ob fie an einem öffentlichen oder nicht öffentlichen Orte jtattfinden, 
aus einer gegen einen Einzelnen oder eine Mehrheit von Perfonen gerichteten Hand» 
lung entjpringen (v. Schwarze, Komment., S. 804 der 4. Aufl.), in einer 
pofitiven Handlung oder einem Gejchehenlafjen (3. B. Dulden eines fortgeſetzten 
ruheftörenden Hundebellens ſeitens des Beligers,; v. Schwarze, a. a. D. ©. 804, 
N. 6, und NR. 9; Leuthold, Sächſ. Berwaltungsredt, ©. 225, Anm. 11) 
beitehen , Tags oder Nachts verübt werden (Rechtsſpr. Bd. 5 ©. 140). Einzelne 
Fälle: Aufftellen einer lärmenden Gerwerbsmaſchine, um die Nuhe Anderer zu 
tören (Rechtſpr. Bd. 12 S. 343), heftiges Räfonniren (Sächſ. Gerichtäzeitung, 
Bd. 20 ©. 72), heitiges Peitichenknallen (Yeuthold, a. a. D.), grelles Pieiten 
n einer Verſammlung zur Unterbrechung des Redner (v. Schwarze, N. 9), 
Beranlaffuıng eines ruheftörenden Auflauf (Stenglein, Zeitichr. Bd. 3 ©. 307). 
Weitere Fälle bedrohen die Polizeiftraigefegbücher einzelner Staaten mit Strafe 


502 Runde. 


(Bayern Art. 30, Baden $ 52). Außer der Beſtrafung iſt natürlich die Feſt⸗ 
nahme jolcher Perfonen, welche troß Verbots der öffentlichen Organe zu lärmen 
fortfahren, durch leitere (auch die niederen: OTrib.⸗Erk. vom 21. Febr. 1879) zu: 
läffig. Wer die zur Erhaltung der Ruhe auf den öffentlichen Wegen, Straßen, Plägen 
oder Waſſerſtraßen erlafjenen Polizeiverordnnungen übertritt (wirkliche Erregung ruhe 
ftörenden Lärmes wird bier alſo nicht voraudgejeßt), verfällt der Strafe des $ 366, 
10 des RStrafGB. (bis 60 Mark Gelditrafe oder bis 14 Tage Haft). Endlich 
muß die Errichtung oder Verlegung folcher Anlagen, deren Betrieb mit ungewöhn: 
lichem Geräufch verbunden ift, jorern fie nicht ſchon nach den Vorfchriften der SS 16 
bis 25 der Neichägewerbeordnung der Genehmigung bedarf (dahin gehören inäbe: 
fondere Hammerwerfe und Fabriken, in denen Dampfkeffel oder andere Blechgefäße 
durch DVernieten hergejtellt werden), der Ortöpolizeibehörde angezeigt werben; letztere 
hat, wenn in der Nähe der gewählten Betriebaftätte Kirchen, Schulen oder ander 
Öffentliche Gebäude, Krankenhäuſer oder Heilanftalten vorhanden find, deren be 
ftimmungsmäßige Benutung durch den Gewerbebetrieb auf diefer Stelle eine erheb— 
lihe Störung erleiden würde, die Entſcheidung der Höheren Verwaltungsbehörde 
darüber einzuholen ob die Ausübung des Gewerbes an der gewählten Betriebaftätte 
zu unterfagen oder nur unter Bedingungen zu geitatten ſei (KGew.O. $ 27). — 
In Defterreich verfällt der polizeilichen Mbftrafung, wer ſich an öffentlichen Ver— 
fammlungsorten, namentlich in Hörfälen, Theatern, Balljälen, Wirths- und Kaffee 
häufern u. f. w., dann auf Eifenbahnen, Dampfichiffen, Poftwagen u. dergl. der 
Art polizeiwidrig verhält, daß Hierdurch die Ordnung und der Anſtand verlekt, 
das Vergnügen des Publikums gejtört oder ſonſt ein Mergerniß gegeben wird 
(£. £. Verordnung vom 20. April 1854, Nr. 96 des R.G.BL., $ 11). Doch wir 
auch hier ein „Öffentliches“ Aergerniß vorausgejegt (Kienbacher, Polizeiftrafrect, 
©. 68 der 4. Aufl). Für alle freien oder konzeſſionirten Gewerbe, welche durd 
ungewöhnliches Geräusch die Nachbarichaft zu beläftigen geeignet find» ift die Ge 
nehmigung der Betriebsanlage nothwendig (RGew.D. $ 31). — Nah Art. 479, 
Nr. 8 des Franzöſiſchen Code penal verfallen in eine Geldbuße von 11 bie 
15 Francs les auteurs ou cumplices de bruits ou tapages injurieux ou nocturnes, 
troublant la tranquillit& des habitants. Die Praris des Kaſſationshofes nimmt 
an, daß ein beleidigender oder nächtlicher Lärm die Vermuthung der erfolgten 
öffentlichen Ruheſtörung für fich hat, der Bezüchtigte aber den Gegenbeweis antreten 
fann. Zu ‚den Fällen des bruit injurieux gehören namentlich die Katzenmuſilken 
(charivaris); nächtliche R. verüben anch diejenigen Gewerbtreibenden, welche bei 
Ausübung ihres Gewerbes während der Nachtzeit unnöthigen Lärm verurjachen 
(3. B. Bäderburfchen, welche beim Brotfneten ruhejtörendes Gefchrei ertönen laffer, 
ein Pojtillon, welcher beim Durchfahren eines Ortes ohne Anlaß bläſt). Auch in 
England gilt das Blajen eines Hornes oder der Gebrauch eines anderen lärmenden 
Inſtrumentes feitens jolcher Perfonen, welche irgend einen Artikel verkaufen oder 
vertheilen, al® common nuisance. Leuthold. 


Munde, Juſt. Friede, 5 27. V. 1741 zu Wernigerode, wurde 1775 Prof. 
in Kaffel, 1784 Hofrath und Profeffor in Göttingen, 1805 eriter Profeſſor und 
— T 1807. 

riften: Abhandl. v. Tal Sg e- — 3 * Si öfe u. —— > — 
— erth. der nen ber Todesſtrafen, Kaſſel 1777. runbjäh ie 
Staatsrechts, Kaſſel 1777. — Bon ben Mitteln, ben — Werth ud rund de 
fteigend zu machen, 1777. — Grundſätze des allgem. ed Rechts, Gött. 1791, 8. Aut. 
von jeinem Sohne, 1829. — Beitr. 3. Erläut. rechtlicher Gegenftände, 1799, 1802. 

git.: Pütter, Litt., II. 63. — Schulte, Geſchichte, III.b S. 156. 

Teihmann. 


Nunde, CHriitian Ludwig, & 26. IV. 1773 zu Kaflel, wurde 179% 
Beifiter des Spruchkollegii in Göttingen, Oldenb. Landesarchivar, 1801 Aſſeſſor bei 





Ruprecht — Rüttimann. 503 


der Regierungsfanzlei, 1806 Regierungsrat, 1814 BVizedireftor der Juſtizkanzlei 
und Juſtizrath, 1817 Direktor, 1829 Konferenzrath, 1837 Geh. Rath, 1844 Kapitular 


Großkreuz, FT 25. V. 1849. 
Schriften: Comm. de hist, indole ac vi remediorum securitatis quibus jure Rom, 


prospectum est creditoribus debitoris obaerati, Gott. 1794. — Princ. doctrinae de interim. 
praed. rust. administratione, Gott. 1795 Abhandi. der Rechtslehre von der Interims— 
wirthihaft auf Deutichen Bauergütern, Gött. 1796, 2. Aufl. 1832). — Die Rechtölehre von 
der Leibzucht oder dem Altentheil, Oldenb. 1805. — Rechtliche —— über die Vertheil. 
der Einquartierungslaſt, Oldenb. 1808. — Sammlung der wichtigſten Altenſtücke zur neueſten 
Zeitgeſchichte, Oldenb. 1807. — Patriot. Phantafien eines Juriſten. Oldenb. 1836. — Deutſches 
ebeliched Güterrecht, Oldenb. 1841. — Verſuch einer richtigen Beſtimmung bed Pflichttheils, 
Dldenb. 1842. — Gemeines Recht für Deutichland, Oldenb. 1845. — Er gab bie 5.—8. Aus: 
gabe des Gemeinen Deutichen Privatrecht ſeines Vaters (Gött. 1791) 1 heraus. 
Lit.: Neuer Netrolog der Deutichen, Bd. XXVII. ©. 376—385, 
Zeihmann. 


Ruprecht von Freyſing, ſchrieb im der erften Hälfte des 14. Jahrh. 
ein Stadtrehtsbuch von Freyſing und ein Landrechtsbuch, nachdem er länger ala 
36 Jahre auf dem Lande und in den Städten Vorfjpreche gewejen war. 

Lit.: Stobbe, Rechtsquellen, I. 435437. — 8. v. Maurer, Das Stadt» und Land⸗ 


rehtäbuch von Ruprecht von Fyreyfing, Stuttg. u. Tüb. 1839. — Franklin, Beiträge, 1863, 
©. 46 ff. TZeihmann. 


Rufſardus, Ludwig (wohl Roufjjard), von Chartres, Profeffor in Bourges, 


noch lebend 1561, Schüler und Kollege von Duaren. 

Gr gab heraus: Jus civile, manuscriptorum librorum ope summa diligentia et in- 
tegerrima fide multis locis emendatum et perpetuis notis illustratum, L. Russardo auctore, 
consilio tamen et auctoritate F. Duareni .. . Lyon, Rovilla 1560, 1561. Panbelten nad 
Torelli, Novellen nad; Haloander, Goder nad fünfzehn Handichriften. Privileg von 1557. 


Zwei Bänbe. 
git.: Saxe, Onomasticon, III. (a. 1560. — Haubold. — Hugo. Sn 


Histoire du Berry. ivier. 


Rutſcherzins (Th. I. ©. 503 ff.) ijt eine der Strafen, welche den Zinsmann 
wegen nicht rechtzeitig erfolgter Leiftung des auf feinem Grundftüd laſtenden Zinjes 
treffen. Er beiteht darin, daß der rüdjtändige Zins an jedem folgenden Zinstermin 
um den Betrag des eigentlichen Zinsquantums fich vermehrt. Dieſe Strafe fand fich 
ihon in der älteften Zeit, jedoch jo, daß fich derjelben der Zinsmann ausdrüdlich 
unterwarf. Nach den Rechtsbüchern ift diejelbe eine gejeßliche Strafe (Sächſ. ER. 
I. Art. 54 $ 2; Schwäb. ER., ed. Wadernagel, E. 60). est ift fie in 
diefer Bedeutung allgemein verſchwunden, und kann aljo nur da eintreten, wo fie 
ausdrücklich übernommen ift; alsdann hat fie den Charakter einer Konventionalſtrafe. 

Lit.: Schott, AJuriftiihes Wochenblatt, IV. S. 633640. — Sachſe, Handbuch des 
großh. Sächſ. Privatrechts (Weimar 1824), $ 632. — Haubold, Lehrbuch d. fönigl. Sächſ. 
Privatrechts, II. (3. Ausg. Leipz. 1848) $ 475 Zul. Lewis. 


Nüttimann, Johann Jakob, & 17. III. 1813 zu Negenöberg (wo der 
Bater Landichreiber, dann auch Amtsfchreiber, jpäter Notar war), wurde 1831 
Gerichtsfchreiber, 1834 nach Zürich überfiedelnd, um als Verhörrichter einzutreten, 
dann Subititut des Staatsanwalts bis 1838 und daneben Advofat; nach England 
gefendet, um das Englische Gerichtsverfahren kennen zu lernen, Eehrte er jchon nach 4 
Monaten zurüd, 1837—39 Sekretär des Großen Raths, machte das Fürſprech— 
eramen, überall in den vorderiten Reihen der Liberalen (radifale Partei), trat nad) 
1844 in den Großen Rath ein, dem er bis 1872 angehörte. 1845 wurde er zum 
Gefandten Zürichs an die eidgenöffische Tagjagung gewählt, 1846 von der Tag» 
ſatzung zum eidgemöffiichen Juftizbeamten für 1847—50 emannt. R. nahm als 
Vorfteher des Juftizdepartements den lebhafteiten Antheil an der Gejeggebung, ver— 
trat 1848 die Uebertragung des Amerik. Zweikammerſyſtems auf die Schweiz, nahm 
auch befonderen Antheil am Ausbau. der Bundesverfaffung, Mitglied des Stände: 


504 Saavedra — Sahbeihädigung. 


raths bis zu Antritt feiner Profeffur 1854 und dann wieder 1862—68, zweimal 
defien Präfident, auch im Bundesgericht thätig, bearbeitete die beiden Bundesitui: 
gejeße von 1851, regte die Organifation der Rechtäpflege und Geje betreffend das 
Strafverfahren von 1852 an, nahm Theil an der Redaktion des Bluntjchlifchen privat: 
rechtlichen GB., hatte Antheil an der Gründung der Gejellichait für die Zürid: 
Bodenjeebahn und der Schweizerifchen Kreditanftalt zu Zürich, F 10. I. 1876. 
Schriften: Ueber die Engl. Strafrechtäpflege. Amtlicher Bericht, Zürich 1837, — 
Ueber ig > weber in Verträgen noch in Verbrechen — Gründe von Obligationen, Zürich 
1838. — Der Engl. Givilprozgeß mit bejonderer Berüdfichtigung bed Verfahrens ber Weit: 
minfter Rechtähöfe, Leipz. 1851. — Die Zürcher Gefehe, betr. Organ. ber Rechtäpflege und 
Strafverfahren, Züri 1853. — Zur Geſchichte und Fortbildung der Zürcher Rechtspflege, 
ürich 1855. — Ueber die Geichichte des Schweiz. Gemeindebürgerrechts, Zürich 1862. — 
eber die fyreiherren von Regenäberg, Zürich 1867. — Dad Norbamerifan. Bundesftaatsreht 
verglichen mit den politifchen Einrichtungen ber Schweiz, Zürich 1867—1876. — Red: 
utachten über die Frage: Inwieweit durch die Eifenbahntonzeffionen der Kantone und bie 
Beichlüfle ber Bunbesverfammlung, betr. Genehmigung derſelben, für die betheiligten Geiell: 
ſchaften Privatrechte begründet worben find, Zürıh 1870. — Kirche und Staat in Nord- 


— Ei 1871. — Aleine vermiſchte Schriften juriftiichen und biographiichen Inhalts, 

ri j 

Lit.: 3. 3. NRüttimann, Züri 1876 (aus ber N. Zür. Ztg.) — v. Drelli, 

Rechtäichulen und NRechtäliteratur, Zürich 1879, ©. 9, 105. — Schlief, Die Verfaffung 

ber Nordamerifan. Union, Leipz. 1880, Vorwort ©. V., VI. — v. Orelli, Die Jury in 

en und England, Zürich 1852, ©. 95. — Schneider in ben Kleinen Schriften, 
3-33. — Blumer, Handbuch des Schweiz. Bundesſtaatsrechts, (2) en 27 l. 127. 

eihmann. 


©. 


Saavedra y Faxardo, Diego, & 1584 zu Algezares in Murcia, war 
Gefandter in Rom, Neapel, München, wohnte dem Reichsſtage von Regensburg 
1641 bei, war 1643 in Münjter, kehrte 1646 nach Spanien zurüd, wurde Mitglied 
des hohen Raths für Indien, T 1648. 

Er ſchrieb: Empresas politicas o Idee de un principe politico cristiano, Monaco 
1640; Valencia 1655, 1800; ital. Mon. 1640; lat. neunmal (von 1649—1748) gedbrudt. — 
Obras de Diego S., zuerft Antv. 1677 aulegt Madr. 1853, 

it.: Bluntfgli, Staats Wört.B., IX. 62-64. 


Zeihmann. 


Sachbeſchädigung, die rechtäwidrige und vorſätzliche Zerftörung oder Br 
ichädigung fremder Sachen, injofern nicht die Merkmale eines anderen Delikts 
vorliegen. Die fich mehrfach findenden Abweichungen von diefem Begriff find im 
Folgenden angegeben. Nach demjelben ift vorauszuſetzen: 

1) alö Objekt a) ein körperlicher Gegenjtand. Oeſterreich dehnt nadı 
der herrichenden Auffaſſung den Begriff auf Vermögensobjekte jeder Art aus. Baden 
zog auch das Verhältniß des Eigenthümers zur Sache hierher. b) Eine in jremdem 
Eigenthum befindliche Sache. Daher der Eigenthümer das Delift an jeinem 
Eigen nicht begehen kann. Ebenjo nicht der im Auftrag des Eigentümers Handelnde 
an deffen Sachen. Daher ferner die Beichädigung herrenloſer Sachen nicht hierher 
gehört. c) Daß die Sache einen jchägbaren Bermögenswerth repräfentire, wir 
von dem NStrafGB. nicht gefordert. Die Süddeutjchen Straigejege jchienen es ihrer 
Faſſung nach vorauszujegen. Die Zerftörung von Gegenjtätiden, welche für den 
Eigenthümer lediglich Affektiongwerth haben, jteht ihrem inneren Charakter nach den 
Injurien näher, als den Verbrechen gegen das Eigenthum. 

2) In Betreff der Handlung und bzw. des Eriolgs: a) eine Zerjtörung 
oder Beichädigung der Sache. Es muß aljo eine phyſiſche Veränderung an 
der Sache hervorgebracht jein, und zwar eine jalche, welche eine Wertbminderung 


Sahbeihädigung. 505 


(Minderung des pefuniären oder ſonſtigen Werthes derjelben) im fich jchließt. Daß 
diefe Minderung .eine irreparable ſei, ijt nicht zu fordern. Dagegen geht es zu 
weit, wenn „jedes einfache Befleden oder Beſchmutzen“ als ©. behandelt werden 
will (Lüder, Oppenhoff). Das „Beichädigen“ der Sache dahin zu interpretiren, 
daß darunter auch jolche Einwirkungen auf diejelbe fallen, welche fie völlig unbe- 
Ihädigt und unverändert lafjen, wenn fie nur das Verhältniß des Eigenthümers 
zur Sache zu deſſen Nachteil verändern (fie für ihn werthlos oder unerreichbar 
machen), iſt mwillfürlich. Gleichwohl geichieht es in der Regel (Oppenhoii, 
Hälſchner, Lüder x). Baden ftellte den Fall dem Beichädigen zur Seite 
(j. oben). Lüder findet eine Beichädigung der Sache fogar in jedem Angriff 
auf diejelbe, wodurch „in die Ungeftörtheit eines fremden Vermögens im weitejten 
Einne eingegriffen wird“. — Cine Verringerung des Werthes der Sache, welche 
ohne eine Einwirkung auf ihr phyſiſches Dafein zu Stande kommt (Veränderung 
dee Kurswerthes von öffentlichen Kreditpapieren durch Tügenhafte Publikationen), 
begründet das Berbrechen ebenfalls nicht. — Die Forderung einer „mechanifchen“ 
Einwirkung auf die Sache (Köjtlin) ift weder in den Geſetzen noch in der Natur 
der Sache begründet. Ebenjowenig die einer „unmittelbaren“ Einwirkung (Köftlin), 
bzw. einer „eigenen körperlichen Ihätigkeit des Angeklagten“ (Temme, Oppen- 
hoff). Es eriftirt fein Grund, bezüglich der ©. hier andere Eriorderniffe aufzu— 
ftellen, als bezüglich anderer Delikte. Es ijt daher auch der Tall nicht auszu— 
ichließen, wo der Delinquent fich des getäufchten Gigenthümers ſelbſt ala eines 
Werkzeugs zur Zerftörung der Sache bedient (j. indeß Hälſchner). b) Rechts— 
widrigfeit der Handlung. Daher jchließt die Einwilligung des Gigenthümers das 
Delift aus. Ebenſo ein Recht zu der betreffenden Handlungsweiſe, welches u. N. 
in den Vorausſetzungen der Nothwehr fich begründen kann; oder in denen bes 
geießlich anerkannten Nothitandes (vgl. HGB. Art. 534, 65). c) Dolus. Der 
oben bezeichnete Erfolg muß alfo mit Willen herbeigeführt fein. In der Preuß. 
Praris war ala genügend betrachtet worden: das Bewußtjein, „daß nach dem ge- 
wöhnlichen Lauf der Dinge die Beichädigung eine Folge der vorjäglich vorgenommenen 
Handlung jein werde”. — Die irrige Annahme eines Rechts zu der betreffenden 
Handlung jchließt den Dolus aus. Daher auch die irrige Annahme eines Rechts zur 
Selbjthülfe. — Ginige Straigejeßbücher (Sachjen, Hannover) bedrohten nicht jede vor— 
jäßliche ©., jondern nur die aus Bosheit oder Muthwillen begangene. Baden fügte die 
aus Rachſucht begangene hinzu. Dieſe Hereinziehung gewifjer Triebfedern in die Defi- 
nition des Delikts ijt, wierwol mehr aus technifchen wie aus ſachlichen Gründen, zu 
mißbilligen und gegenwärtig aufgegeben. — Einige andere Strafgejeßbücher begnügen, 
bzw. begnügten fich im Gegenjaße.hierzu nicht mit einer Bedrohung ſämmtlicher vor- 
fäglicher ©., jondern dehnen (dehnten) ihre Strafbeitimmungen in weiterem oder 
engerem Umfange auf fahrläffige S. aus (Defterreih, Bayern, Braunfchtweig, 
Württemberg?). Gerechtiertigt ift dies nur in Bezug auf diejenigen ©., welche eine 
gemeingefährliche Richtung haben (dagegen Lüder). 

Die Handlung darf nit unter fjpeziellere Strafbeftimmungen, 
bzw. nicht unter den Begriff einer jchweren WVerbrechensart fallen. Insbeſondere 
find Hier die gemeingefährlichen Verbrechen (Branditiftung, VBerurfachung einer Ueber: 
ſchwemmung, Beihädigungen von Eifenbahnen zc.) auszunehmen. 

Gegen die Begrenzung des Thatbejtandes, wie fie hier den Straf: 
gejegen entiprechend gegeben wurde, find von legislativem Standpunkte aus vielfach 
beachtenswerthe Einwendungen gemacht worden. Es jcheint fein fachlicher Grund 
dafür vorzuliegen,, daß nur der Gigenthümer, nicht auch der Nutznießer, Piand- 
gläubiger ıc. eines jtrafrechtlichen Schubes gewürdigt wird (Hälſchner). Ebenjo 
wenig dafür, daß der lehtere nur gegen Schädigungen der Sadje jelbit, nicht gegen 
Berlegurgen bes Rechts an der Sache durch jonjtige Einwirkungen auf diejelbe 
gewährt wird. Es ijt ferner nicht begründet, die Verlegung von Forderungsrechten 


506 Sadıen. 


ichlechthin niedriger zu tariren, als die von dinglichen Rechten (dagegen Hälſchner). 
In welcher Weiſe jedoch die fraglichen Beitimmungen zu ergänzen feien, ift im 
Unflaren und bier nicht zu unterfuchen. 

Das RStrafGB. unterjcheidet: a) die einfache ©., b) die qualifizirte ©. erften 
Grades, welche Gegenjtände des öffentlichen Intereffes betrifft, deren abfichtliche 
Verlegung auf eine gemeine Gefinnung hinweiſt, c) die qualifizirte ©. zweiten 
Grades, welche dem Dienjte einer Bielheit von Perſonen gewidmete Gegenftände 
(wie Brüden, gebaute Straßen ꝛc.) betrifft, deren Verlegung vermögensrechtliche 
oder andere „ntereffen in weiten und unbejtimmtem Umfange gefährdet. Die 
mittlere Kategorie kann den Berluft der bürgerlichen Ehrenrechte nach fich ziehen. 
Bei ihr, wie bei der lebten, mit höherer Freiheitsſtrafe bedrohten Kategorie tritt die 
Verfolgung don Amtswegen ein, während fie bei der einfachen ©. von dem Ans 
trage des Verletzten abhängig gemacht wird. Die meiften Strafgejeße ziehen fo 
die ©. innerhalb gewiffer Grenzen zu den Antragsdelikten. Gine Ausnahme macht 
Oeſterreich (vgl. Belgien). — Andere Abjtufungsgründe kennt das RStrafGB. nidt. 
Bei der Strafbemeffung find aber insbeſondere in Betracht zu ziehen: die Größe 
des zugefügten Schadens (jpeziell berüdjichtigt von Dejterreih, Bayern, Württemberg, 
Heflen, Baden), die BVerjchiedenheit der dem Delikte zu Grunde liegenden Trieb» 
federn (vgl. bier Baden 575. 71, Heſſen 425. 26, Dejterreich 318) und die 
Modalitäten der Ausführung (Heſſen 425 al. 1. 4. 5, Bayern 343 al. 4, Belgien 
528 ff.). Ferner eine erfolgte freiwillige Erſatzleiſtung. Mehrere Gejeße hatten fie 
ausdrüdlich als Milderungsgrund anerfannt (Bayern, Württemberg, Baden, vgl. 
Heſſen). Baden Hatte jogar für den Fall vollftommener Zufriedenftellung der Be 
ichädigten Straflofigkeit zugefichert. 

Das RStrafGB. bedroht gleich den meilten übrigen Straigejeßen (eine Aus— 
nahme machte Bayern) auch den Verfuch der ©. 

Im Ganzen wird die ©. etwas gelinder behandelt, ala der Diebitahl und 
die übrigen gewinnjüchtigen Eigenthumsverbrechen (j. jedoch Defterreih). Der Grund 
liegt in der höheren Bedeutung der letzteren Verbrechensiormen für die Sicherheit 
des Eigentums. Das NRStraiGB. droht alternativ Gelditrafe und Gefängniß. 
Letzteres bis zu 3 Jahren. Hinſichtlich des Verluſtes der bürgerlichen Ehrenrechte 
j. oben. 


Gigb.: RStraf®B. 55 303—305. — Defterreih z8 85, 86, * 318, 468. — Ungarn 
88 418—421. — Ei Ir art. = 85. — Frankreich art. 437, 439 s 

Lit.: Köftlin, Abhandl. S. 169 ff. — C. Lüder, Die Vermögendbeftdinung Leip en 
er — Halſchner, en I. 6. 338 ff. — v. Holkendborff, Hanbbud, 

848 ff. — Pezold, Strafrechtäpraria, I. S. 451—456; II. 531—539. N. Mertel. 


Sahen find im Rechtäfinne diejenigen körperlichen Gegenftände, welche 
nah der Auffaſſung des Rechtes Iediglih um der Perfonen willen eriftiren 
ale Mittel zur Berriedigung ihrer Bedürfniffe und darum ala Objekte ihrer 
Rechte Sache ift aljo derjenige Körper, welcher rechtliche Bedeutung hat 
nicht als die Eörperliche Ericheinung eines Rechtsſubjektes, jondern ausſchließlich 
als mögliches Objekt fremden Rechtes. Auch die Perjon iſt mögliches Objekt 
fremden Rechtes; das Recht anderer Perfonen an ihr iſt aber nie ein folches, 
welches ihre ganze Eriftenz abforbirt, jo daß ihre rechtliche Bedeutung in der eine 
Rechtsobjekts aufginge. Indem dagegen die Sachen Lediglich um der Perfonen willen 
erütiren, zieht dem Rechte an einer bejtimmten Sache die Beichaffenheit jeines 
Objektes feine anderen Grenzen feines Umfangs als die durch den körperlichen Um— 
fang der Sache gegebenen. Im Gegenjage zu allen anderen Rechtsverhältnifjen ift 
daher das Eigenthum ein Recht, deſſen Grenzen zufammenfallen mit den Grenzen 
jeines bejtimmten förperlichen Gegenſtandes; feine und nur jeine Grenzen find durch 
die Grenzen einer bejtimmten förperlichen Erjcheinung unmittelbar gegeben ; während 
die Grenzen aller anderen Rechtsverhältniffe durch Rechtsbeſtimmung erit gezogen 


Sadıen. 507 


werden müſſen, find die des Gigenthums nur der Modifikation durch Rechtöbeftim- 
mung ausgejeßt. Indem jo die Grenzen des Eigenthums gegeben find durch die 
der Sache, deren rechtliche Bedeutung in ihrer Angehörigkeit an den Eigentümer 
aufgeht, identifizirt der Sprachgebrauch das Eigentum mit der Sache und jet 
diefes ald res corporalis entgegen allen anderen Vermögensbejtandtheilen, d. h. ſowol 
denjenigen Bermögengrechten, welche überhaupt nicht beftimmte ©. zum unmittelbaren 
Gegenitande Haben, ala auch denjenigen Rechten an ©., deren Umfang nicht dem= 
jenigen ihres Objektes gleichfommt, jondern ein engerer durch den bejonderen Inhalt 
des beitimmten Rechtes abgegrenzter ift. Iſt aljo die ©. oder res im eigentlichen 
Sinne ein Vermögensobjeft, jo wird im übertragenen Sinne jeder Vermögensbejtand- 
theil als res bezeichnet und wird in diefem Sinne unterjchieden die res corporalis 
oder der mit feinem bejtimmten körperlichen Objekte fich dedende Vermögenäbeftand- 
theil von allen übrigen Vermögensbeitandtheilen als res incorporales oder folchen, 
deren Umfang nicht mit dem einer bejtimmten körperlichen ©. fich dedt (1. 1 
$ 1 D. de div. rer. 1, 8). 

Die Einheit einer bejtimmten ©. oder ihre Abgrenzung gegenüber anderen 
S. ift in der Regel nicht durch Rechtänorm bejtimmt. Aus dem Begriffe der ©. 
als eines körperlichen Gegenstandes ergiebt fich das Erforderniß körperlichen Zuſammen— 
hanges ihrer Beitandtheile, jo daß feine Zerftörung die Einheit der ©. aufhebt. 
Dagegen ift nicht ebenſo umgekehrt die Eriftenz einer Mehrheit von ©. fchlechthin 
ausgejchloffen durch die Eriftenz Eörperlichen Zufammenhangs. Vielmehr beruht die 
Einheit gewifler ©., der Grundftüde, auf willfürlicher, den förperlichen Zuſammen— 
bang mit den angrenzenden Grundjtüden überhaupt nicht berührender Abgrenzung. 
Mährend jo die Grundjtüde nur räumlich abgegrenzte Stüde eines körperlichen 
Ganzen find, erjcheint jede andere Sache ala ein eigenes körperliches Ganzes. Fragen 
wir jedoch, wann ein jolches Ganzes vorliege, durch welche Art und welches Maß 
des körperlichen Zufammenhanges mit anderen ©. eine ©. aufhöre als eigene von 
jenen verfchiedene ©. zu eriftiren, jo entjcheidet Hierüber nicht ſchlechthin der phyfi- 
faliiche Zufammenhang, fondern die nicht ausschließlich durch diefen beherrſchte An— 
ichauung des Verkehres. Es ift danach zwar fchlechthin eine ©. jedes natürliche 
Ganze; ift dagegen zwiſchen verfchiedenen S. durch Verbindung ein körperlicher 
Zufammenhang bergeitellt, jo ift das jo entitandene Ganze dann und nur dann 
eine ©., wenn die körperliche Verbindung zugleich eine wirtbichaftliche ift, ſodaß 
dem neu entjtandenen Ganzen eine einheitliche wirthichaftliche Funktion zukommt. 
Es iſt dies möglich in der doppelten Weife, daß die Bedeutung der einen ©. in 
der der anderen aufgeht, als deren Zuwachs oder accessio (f. d. Art. Acceſſion) fie 
vermöge der Verbindung mit ihr erfcheint, oder daß die wirtbichaftliche Bedeutung des 
Ganzen eine eigene, durch die Bereinigung feiner verjchiedenen Stüde zu einem 
Ganzen hervorgebrachte ift. Sind 3. B. mehrere ©. aneinander geleimt oder ſonſt— 
wie aneinander befeftigt, jo find fie dadurch für die Dauer der Verbindung zu 
Stücken eine Ganzen geworden, wenn bdiejes entiweder ala bloße Erweiterung der 
einen jener ©. erjcheint, welche die andere in fich aufgenommen hat, oder aber als 
ein eigenes Produkt aus den verfchiedenen Faktoren, durch deren Vereinigung es 
entitanden ijt; dient dagegen troß der Verbindung jedes Stüd jeinem eigenen von 
dem des anderen verichiedenen Zwede, jo bleibt auch jedes eine eigene ©. 

Nach der Verichiedenheit des zwijchen ihren Beftandtheilen beitehenden Zuſammen— 
hanges find die ©. entweder einheitliche (corpora unita, Frmudva) oder zufammen- 
gejeßte (corpora connexa, ovrrnufva) (al. 30 D. de usurp. et usucap. 41, 3). 
Bezüglich diefer Unterjcheidung haben die Römischen Juriſten fich angeichloffen an 
eine don der ſtoiſchen Philofophie aufgejtellte Dreitheilung der Körper, welche jedoch 
nur zum Theile eine juriftiiche Verwerthung erfahren hat. Die Unterfcheidung des— 
jenigen Körpers, quod continetur uno spiritu, desjenigen, quod ex 
contingentibus i.e, pluribus inter se cohaerentibus constat, und 


508 Sachen. 


desjenigen, quod ex distantibus constat, iſt, wie das dritte Glied der Ein— 
theilung zeigt, feine Eintheilung der S. Gemeinhin bezeichnet man das corpus quod 
ex distantibus constat als Sachgejammtheit oder Geſammtſache, d. h. als eine 
Mehrheit von ©., welche in gewiffen Beziehungen ala Einheit behandelt werde. 
Als dasjenige Moment, durch welches eine Mehrheit von S. zur Gefammtheit wird, 
pflegt man dabei die räumliche Vereinigung im Dienfte eines gemeinjchaftlichen 
Zwedes zu betrachten. Als corpora der dritten Art bezeichnen aber die Quellen 
nur folche Gefammtheiten, deren Glieder zufammengehören entweder als Mlenjchen 
durch die Einheit einer fie miteinander verbindenden Organifation oder als Thiere 
durch die Einheit des die einzelnen Stüde einer Herde oder eine Schwarmes zu— 
fammenhaltenden Naturtriebe. Das einzige von den Quellen genannte corpus 
der dritten Art, welches nicht aus Perfonen, ſondern aus ©. befteht, ift daher der 
grex, und diejenige Vereinigung welche die injtinktiv zujammenhaltenden Glieder 
eines jolchen bilden, beiteht keineswegs in gleicher Weife zwiſchen den Lediglich durd 
fremden Willen zufammengehaltenen Stüden einer beliebigen Kollektion von ©. 
Aber auch der grex ijt zwar ein corpus im Sinne jener Gintheilung, nicht aber 
eine ©. ; vielmehr heben die Quellen ausdrüdlich hervor, daß die zwiſchen feinen 
Gliedern bejtehende Bereinigung in feiner Weije ihre Eigenschaft ala eigene ©. be 
rühre, insbeſondere giebt e8 fein vom Gigenthum der einzelnen Stüde verjchiedenes 
Gigenthum des grex ala jolchen (1. eit. $ 2) und wenn allerdings die Quellen den 
grex alö Objekt der Vindifation bezeichnen, fo ift diefe gregis vindicatio lediglich 
eine Kumulation mehrerer Vindikationen. Vindizirt find Hier alle thatjächlich zu 
jenem grex vereinigten Stüde mit der Wirkung, daß dem Kläger ausſchließlich zu: 
geiprochen werden die erweislich ihm gehörigen, daß er dagegen ganz durchfällt, 
wenn er fich nicht ala Eigenthümer der Mehrheit ausweiſt (1. 2 D. de rei vind. 6, 1). 
Auch diefe Befonderheiten des grex dürfen nicht auf andere S.gefammtheiten aus 
gedehnt werden, wie denn auch die Quellen als universitas zwar die zuſammen— 
gejeßte ©., 3. B. das Gebäude (universitas aedium) und den grex, nie aber eine 
fonftige S.gefammtheit bezeichnen. Der Begriff der S.gefammtheit ift ohne 
juriftifche Bedeutung, insbefondere ohne Bedeutung für die Beantwortung der 
nterpretationäfrage nach) dem Umfange der Verfügung über die durch eime 
Kollektivbezeichnung zufammengefaßten ©. 

Rechtliche Verichiedenheiten beſtehen zwiſchen verichiedenen Arten von S. theild 
bezüglich ihrer Eigenſchaft ala Rechtsobjekte, theila in anderen Beziehungen. 

I. Nicht alle ©. find mögliche Objekte des Privateigenthums und privater 
Verfügung, gewiffe ©. find als res extra commercium dem privatrechtlichen 
Verkehre entzogen. 

A. Indem die Rechte an ©. um der durch fie den Berechtigten garantirten 
faktischen Benußung derjelben willen beftehen, find der rechtlichen Beherrichung entzogen 
diejenigen S., welche durch ihre Natur der Taktifchen Beherrſchung fich entziehen. 
Keine Rechtsobjefte find daher: 

1) Wilde Thiere im Zuftande ihrer natürlichen Freiheit, nicht nur jo lange ex 
überhaupt nicht verloren, fondern auch wenn er wieder gewonnen it 1.38 2 — 
1.5 86 D. de acq. rer. dom. 41, 1). 

2) Ebenjo find feine Nechtsobjefte die atmojphärische Luft und die frei fließende 
MWaflerwelle. Dadurch wird aber nicht berührt die Herrſchaft des Grundeigen- 
thümers innerhalb des über feinem Grundſtücke fich erhebenden Luftraumes , jowie 
die Möglichkeit der Beherrichung des Fluſſes als folchen und das*Eigentbum an 
dem nicht mehr frei ab- und zufließenden Wafler. Uebrigens gründet fich die 
Herrenlofigkeit der Luit und des Waflers feineswegs ausfchlieglich auf ihre natürliche, 
die faktiſche Beherrſchung erichwerende Beichaffenheit, ſonſt müßte fie von allen in 
feinem Behältniß gefaßten Gafen und Frlüffigkeiten gelten, Vielmehr find Luft und 
Waſſer naturali iure omnium communes und gründet fich ihre Herrenloſigkeit auch 


Sachen. 509 


darauf, daß fie einerſeits allgemeine Lebensbedingungen und andererſeits relativ 
werthlos find. 

3) Während das offene Meer jeder ausjchließenden Beherrichung fich entzieht, 
gilt daffelbe bezüglich privater, nicht aber bezüglich jtaatlicher Beherrſchung von der 
Meeresküfte, welche joweit reicht ala die Fluth ſteigt. Dagegen ift möglicher Gegen 
itand privater Berechtigung im Meere oder auf feiner Hüfte errichtete Anlage und 
dadurch auch Für die Zeit ihrer Dauer der Boden, auf welchem fie errichtet ift 
(8 1—5 I. rer. div. 2, 1; 1. 14 D. de acq. rer. dom. 41, 1). 

B. Vermöge ihrer Naturbefchaffenheit von Rechtswegen zum Gemeingebrauche 
beftimmt und daher jeder mit ihrer bejtimmungsgemäßen Benutzung unverträglichen 
Privatberechtigung entzogen find die öffentlichen Flüſſe. (Ueber den Begriff des 
öffentlichen Fluſſes . d. Art. Flüffe) Während der öffentliche Fluß nur innerhalb 
der angegebenen Grenze Privatrechtsobjeft, alfo insbefondere nicht Eigenthumsobjekt 
ift, ift das Flußufer zwar Eigenthumsobjekt, jedoch mit den durch die Nothwendigkeit 
feiner Betretung behufs beitimmungsgemäßer Benutung des Fluſſes gegebenen Be— 
ichränfungen. Beftritten ift, ob nicht die Öffentlichen Flüſſe im Eigenthum des 
Staates ſich befinden; doch unterjcheiden fich die Flüſſe von anderen res publicae 
publico usui destinatae dadurch, daß dieſe durch Erlöfchen jener Beitimmung zu 
gewöhnlichem Staatseigenthum werden, und der Ertrag, den fie etwa abwerfen, dem 
Staate gehört, während das bloßgelegte Flußbette nicht Eigentum des Staates ijt 
und der im Bette eines Fluſſes entdedte Schag Eigenthum des Entdeders wird. 

C. Zu den privater Verfügung entzogenen res extra commercium zählte das 
Römische Recht außerdem: 

1) Die res divini iuris, welche ala Eigenthum der Götter galten. Heutzutage 
And die zum Gottesdienft bejtimmten ©. und die nach Röm. Rechte als res religiosae 
den Manen gehörenden Begräbnißftätten in der Negel kirchliches oder Gemeinde: 
eigenthHum, fünnen aber auch im Gigenthum Privater ftehen. 

2) Die dem allgemeinen Gebrauche dienenden Objekte des Staatd- und Ge- 
meindeeigenthums, die res publicae et civitatum publico usui destinatae, wie die 
öffentlichen Straßen und Pläße und die jedem zugänglichen öffentlichen Gebäude, 
galten als res extra commercium, weil fie ohne vorherige rechtliche Aufhebung 
jener Beitimmung von jeder Veräußerung ausgefchloffen waren. Daß fie aber nicht 
blos unter dem Hoheitsrechte, jondern im wirklichen Eigenthum des Staates oder 
der Gemeinde jtanden, zeigt fich daran, daß alle mit dem allgemeinen Gebrauche 
vereinbare Konjequenzen jenes Eigentums zu Recht beitanden, jo 3. B. bezüglich 
der Früchte und des Schabes ($ 39 I. de rer. div. 2, 1). Heutzutage find jolche 
S. in Dderjelben Art veräußerlich wie anderes Staats oder Gemeindeeigenthum, und 
ihre Beftimmung zum Gemeingebrauche kann durch bloßen Berwaltungsalt auf: 
gehoben werden. 

II. Solche BBerjchiedenheiten der ©., welche in beitimmten einzelnen Be— 
ziefungen Berichiedenheiten ihrer rechtlichen Behandlung begründen, find 

A. der Gegenfaß der beweglichen und der unbeweglichen S. Unbeweglicdhe ©. 
find die Grundjtüde Von den beweglichen ©. unterjcheiden fie ſich hauptjächlich durch 
die Art ihrer Abgrenzung, indem fie einerjeits mit den an fie anjtoßenden Grund» 
jtüden körperlich zuſammenhängen, während andererjeits in vertifaler Richtung das 
Grundeigentum ohne greifbare Grenze ift nicht nur nach unten, jondern auch nach 
oben wegen der in ihm enthaltenen und zur Benußung des Grundjtüdes unentbehr- 

lichen Beherrſchung des über ihm ſich erhebenden Raumes. Es bedarf daher das 
Grundeigenthum vielfach bejonderer rechtlicher Behandlung und insbejondere jein 
Umfang bejonderer rechtlicher Firirung. 

Seit dem Mittelalter hat man vielfach das Vermögen überhaupt in bewegliches 
und unbewegliches zerlegt, wobei man im Allgemeinen die Rechte an Mobilien und 
die Forderungen als beweglich und die Rechte an Jmmobilien ala unbeweglich be- 


510 Sachen. 


handelt; keine Uebereinſtimmung beſteht jedoch bezüglich der auf Immobilien ſich 
beziehenden Forderungen, ſowie des Pfandrechtes an Immobilien. 

B. Theilbarkeit einer S. iſt im Rechtsſinne die Möglichkeit ihrer Zerlegung in 
mehrere S. derſelben Art. Theilbar ſind daher nur diejenigen S., für deren 
Gattungscharakter ihre beſtimmte Form, welche durch Zerlegung zerſtört wird, gleich 
gültig ift, d. 5. Grundſtücke und folche bewegliche ©., deren wirthichaftliche Be: 
deutung lediglich auf ihrer Eigenſchaft als Quantum eines bejtimmten Stoffes be 
ruht. Juriſtiſche Bedeutung hat die Theilbarfeit: 

1) bei Grundſtücken dadurch, daß hier die Theilung durch eine den körperlichen 
Zujammenhang nicht aufhebende räumliche Abgrenzung fich vollzieht. Es läßt ſich 
daher dafjelbe Stüd "des Erdbodens gleichzeitig in beitimmten Beziehungen als eine ©. 
und in anderen als eine Mehrheit von ©. behandeln; wird 3. B. ein räumlich ab: 
gegrenzter Theil eines Grundſtückes verpfändet oder in Befit genommen, jo hört das Grund: 
jtüct, welches dadurch in Anjehung des Piandrechtes oder des Befites zu einer Mehrheit 
von Grundftüden geworden ift, nicht auf, ala Gegenftand des Eigentums ein Grund: 
ſtück zu fein; ift alfo ſonſt an einer S. nur ein Eigenthum möglich, fo ift die Einheit 
des Grundſtückes eine willfürlich angenommene und daher auch relative, indem jede 
Behandlung eines Grundjtüdes ala einer Mehrheit von Grundftüden es in der frag: 
lichen Beziehung als Mehrheit ericheinen läßt. Dies bejagt der Sat, daß allein an 
Grundſtücken partes pro diviso möglich jeien (1. 8 D. de rei vind. 6, 1). Mit Unrecht 
halten manche auch die Theilung beweglicher ©. ohne Aufhebung ihres förperlichen 
Zufammenhanges für möglid. Die Quellen kennen eine jolche Getheiltheit einer be 
weglihen ©. nur ald Nachwirkung ihrer früheren Eigenſchaft ala eines Stüder 
zweier aneinander grenzender Grundjtüde (1. 83 D. pro soc. 17, 2), und jelbit hier 
nimmt vielmehr Nechtsgemeinfchaft an 1. 19 pr. D. comm. div. 10, 8. 

2) Im Uebrigen iſt die Iheilbarfeit von rechtlicher Bedeutung für das eine 
Rechtsgemeinſchaft auflöjende Theilungsveriahren, welches durch Zerlegung zu voll: 
ziehen dem Richter bei theilbaren ©. zufteht und in erfter Linie obliegt (S 5 I. de 
off, iud. 4, 17). Die Zerlegung muß aber hier möglich jein unbejchadet des Werther 
der ©. Während an fich jede überhaupt theilbare S. in infinitum theilbar ijt, be- 
jteht die Iheilbarfeit als eine den Richter zur Nealtheilung ermächtigende bei feiner 
©. in infinitum, da bei Grundjtücden ſowol als Stüden irgend eines Stoffes die 
Parzellirung nicht über eine gewiſſe Grenze hinaus möglich ift, ohne den Werth der 
©. zu vermindern und jchließlich zu zerſtören. 

Vermöge de die S. mit dem Eigenthum identifizivenden Sprachgebrauches (i. o.) 
ipriht man von Theilung einer ©. auch dann, wenn nicht aus einer S. mehren 
werden, jondern bezüglich derjelben ©. an die Stelle eines Eigenthümers mehrere 
treten. Die Quoten, welche bier den einzelnen Berechtigten zugejchrieben werden, 
haben in Wirklichkeit nicht die Bedeutung von Theilen, jei es der ©. oder des 
fie ergreifenden Rechtes, jondern nur die eines Maßſtabes für die Wertheilung des 
Grtrages, den die S. abwirft, und des Aufwandes, den fie erfordert, ſowie eventuell 
der ©. oder ihres Werthes. Gin Theil der ©. jelbit wird aljo Hier dem Be 
rechtigten zugejchrieben im Sinne der durch das Theilungsverfahren zu realifirenden 
Anwartichaft auf einen jolchen Theil oder jeinen Werth (l. 5 D. de stip. serv. 45, 3). 

C. Auf wirthichaftlichen Eigenfchaften der ©. beruhen die Begriffe der Ver: 
brauchbarkeit und der Vertretbarfeit. 

1) Berbraudbare ©. nennt man wenig genau die res quae usu consumuntur; 
enticheidend für diefe Eigenjchaft ift nämlich nicht etwa die Möglichkeit der Subjtanz- 
minderung durch Gebrauch, welche bei feiner ©. fehlt, jondern vielmehr die Un— 
möglichkeit eines die wirtbichaftliche Bedeutung der S. realifirenden Gebrauches, 
welcher nicht ein Verbrauch wäre. Verbrauchbare S. find alfo nur diejenigen, bei 
welchen jeder Alt des beitimmungsgemäßen Gebrauches ein Akt der Verzehrung oder 


Saden. 511 


Aufzehrung, der Subjtangminderung iſt; anjtatt ala Konſumtibilien bezeichnet man 
fie richtiger als Gegenftände der Konfumtion, indem ihr Gebrauch nicht etwa nur 
ihre Konfumtion zur Folge hat, jondern vielmehr in nichts anderem als diejer be- 
fteht. Von rechtlicher Bedeutung ijt der Begriff der res quae usu consumuntur 
namentlich dadurch, daß an ihnen kein bloßes die Verfügung über die Subjtanz der 
©. ausfchließendes Nutzungsrecht möglich ift. Daflelbe gilt vom Gelde als einer 
S., deren beftimmungsgemäßer Gebrauch in ihrer Veräußerung, alſo in der recht- 
lien Berfügung über ihre Subjtanz bejteht. In übertragenem Sinne wird es 
daher gleichjalls zu den Gegenjtänden der Konjumtion gezählt, wofür einen faljchen 
Grund angiebt $ 2 I. de usufr. 2,4. (Ueberhaupt faffen Juſtinian's Inftitutionen 
den Begriff der res quae usu consumuntur zu weit und zählen demgemäß auch 
Kleider dazu im MWiderjpruche mit 1. 15 S 4 D. de usufr. 7, 1;1.953D. 
ususfr. quemadm. 7, 9.) 

2) Ein beitimmtes gegenfeitiges Verhältniß gleichartiger ©. bezeichnet der Begriff 
der Bertretbarfeit. Gegenjeitig vertretbar find alle diejenigen ©. einer beftimmten 
Art, zwiſchen welchen nach der Anſchauung des Verkehrs feine qualitative Ver— 
ichiedenheit beiteht. Die Römer nennen fie res quae numero pondere mensura 
constant, alö folche, welche von anderen ©. derjelben Art fich nur quantitativ unter- 
icheiden (1. 1 $ 2 D. de obl. et act. 44, 7); indem ihre Bedeutung für den Ber: 
fehr nicht auf individuellen Befonderheiten der einzelnen S., jondern lediglich auf 
ihrer Eigenschaft als beitimmtes Quantum einer bejtimmten Materie beruht, jagen 
fie von ihnen, daß fie (magis) in genere functionem recipiunt per 
solutionem quam specie (l. 2 $ 1 D. de reb. cred. 12, 1), woraus die 
Bezeichnung der vertretbaren ©. ala fungibler entnommen ift. Die vertretbare 
S. xar’ &oyriv iſt das Geld. Indem feine Bedeutung für den Verkehr die eines 
beitimmten Werthquantums ift, find nicht nur alle Münzforten, welche an einem 
Orte die Bedeutung wirklichen Geldes haben, gegenjeitig vertretbar, jondern es ver— 
tritt auch das Geld alle anderen ©. in Anſehung ihres (Taufch-)Werthes. Indem 
bezüglich jeder S. für den Verkehr neben ihrer fpezifiichen wirthichaftlichen Bedeutung 
die allgemeine ihres Werthes in Betracht fommt, it in gewifjen Sinne jede durch 
Geld vertretbar. 

Zum Begriffe der res quae usu consumuntur verhält fich der Begriff 
der vertretbaren ©. jo, daß diefer in jenem enthalten ift; denn im Begriffe einer 
©., deren beftimmungsgemäßer Gebrauch in deren Aufzehrung beiteht, liegt es, daß 
ihre individuelle Gejtalt dem Verkehre gleichgültig iſt, jo daß fie volljtändig erießt 
wird durch andere aus denjelben Stoffen zufammengejeßte S. Dagegen tft im Be— 
griffe der DVertretbarkeit das Merkmal der VBerbrauchbarkeit nicht enthalten und find 
auch thatjächlich keineswegs alle vertretbaren ©. zugleich verbrauchbare. 


Quellen: L 2, 1 de rerum divisione; 2, 2 de rebus incorporalibus. — D. 1, 8 
de — Wr * ualitate. — D. 48, 6-15. — Gai. II. 1-14. — Preuß. LR. 1.2 ff. — 


Defterr. BO — Code civil art. 516 ss. — BGB. für den Kanton Zürich art. 
44 Fi. — Saal 368 88 58—78. 
git.: Girtanner, Jahrb. f. Dogm. II. ©. 207 ff. — Göppert, Meber einheitliche, 


— Wir und Sefammtjachen nad Röm. Recht, 1 N Mappäuß, Zur Lehre von 
bem — x entzogenen Sachen nach Römiſchem und heutigem Recht 1867. — 
ifele, Ueber das — ältniß der res publicae in publico usu nach Röm. Recht, 1873 
Del. a das Verzeichniß der aus Anlaß des Bafeler a rag über ben Gegenftand 
ie r fer a ee — v. Wächter, Württemb eg z8 36 
a A Ser elbe, Pand., I SS 59—64. — Böding, Pand. bed Röm. Privatrechts, 
2, Ruf, 88 . — Bring, Pand., 2. Aufl., $$ 12 ff. — Sintenis, Civilrecht, J. 
ru ff. — Windſcheid, Pand,, I. ss 1 17-17. — Unger, Defterr. Privatrecht, 
8 45-57. — a urg, Preuß, Privatreht, IL SS 60-67. Stobbe, Deutiches 
—— A ad Deutiches Privatrecht, I. SS 74— 88; Derielbe, Baper. 
Giviltedt 2 I. 88 49 —5 Hölbder. 


512 Sadhverjtändige. 


Sadverftändige (civilproz) I. Die Lehre von den ©. ijt eine der 
fontroverfjenreichiten im Civ. Prz. Vorfrage für die meijten diefer Kontroverjen aber 
ift, welche Stellung überhaupt den S. im Giv.Prz. zuzuerfennen jei: die von Richter: 
gehülfen oder die von Beweismitteln? Die Gehülfentheorie ift zuerft von Gönner 
wifjenjchaftlich begründet worden. Nach ihm enthält der Wirkungskreis der ©. einen 
Theil des Richteramtes jelbjt, find die ©. judices facti, ob num ihre Thätigkeit 
-darin beitehe, daß fie Wahrnehmungen rüdkfichtlich beftrittener Thatſachen, welche 
eigentlich der Richter jelbjt durch Augenschein zu machen hätte, aber in Ermangelung 
der zur Wahrnehmung erforderlichen bejonderen Kenntniffe nicht machen kann, für 
den Richter machen (wahrnehmende, darjtellende, beobachtende ©.); oder ob fie 
darin bejtehe, daß fie aus feſtſtehenden Ihatjachen die Schlüffe ziehen, welche der 
Richter Für feine Urtheilsfällung bedarf, aber wiederum wegen Mangels der hierzu 
nöthigen technifchen Ausbildung felber nicht ziehen kann (urtheilende ©.). Dice 
ältere Gehülfentheorie, aus welcher man in&bejondere die Konjequenz gezogen hatte, 
daß das ©.gutachten eine der Rechtskraft fähige und mit Rechtsmitteln anfechtbare 
Sentenz fei, wurde jpäter aufgegeben: quia ad causam instruendam adhibetur artis 
peritus, super causa vero statuere judicis est, wie ſchon Mevius richtig erkannt 
hatte. Dagegen ijt namentlich duch Wetzell die Anficht zur jet herrſchenden 
geworden, wonach die ©. zwar nicht ſelbſt Richter, aber allerdings Gehülfen des 
Richters, und zwar ſtets unter Verwerfung des Unterſchiedes von wahrnehmenden 
und urtheilenden ©., bei der Urtheilsfällung find; „denn auch die ©., welche zum 
Augenschein zugezogen, dem Richter Worte oder Zeichen leihen, um das Wahr: 
genommene kunſtgemäß auszudrüden und darzuftellen, urtheilen jchon“ (Wepell, 
$ 44 N. 13). Die Hauptlonfequenzen diefer Auffaffung find, daß die Zugiehung 
von ©. jederzeit ex officio geichehen kann; daß die Beitimmung der Zahl und die 
Auswahl der ©. lediglich Sache des Richters ift; daß die ©. nach Analogie der 
recusatio judieis abgelehnt werden fünnen; daß endlich die Grundjäße des Beweiſes 
auf fie feine Anwendung finden: daß insbeſondere von einer Beweisantretung und 
Beweisaufnahme ebenjowenig wie don Gegenbeweis und Ergänzung durch richter: 
lichen Eid die Rede fein kann. — Waren diejen Anfchauungen gegenüber die ©. 
ihon von älteren Prozefjualijten und Gejeten ala Zeugen behandelt und testes ge= 
nannt worden, jo hatte doch jchon die Italienische Praris die Unterſchiede zwiſchen beiden 
klar erfannt (Strippelmann, ©. 54); und fand die Beweißmitteltheorie, 
wie fie namentlih Schneider (Lehre vom rechtlichen Beweije, SS 176 ff.) ver 
theidigte, wonach der S. „als Zeuge zu betrachten“, das Berfahren mit ©. ein 
reines Beweisverfahren und jtreng von der Verhandlungsmarime beherricht ift, auch 
in der Deutjchen Theorie und Praris wenig Anklang. Vielmehr befolgte die Praris 
des Gemeinen Prozefjes allgemein (vgl. Strippelmann, p. IV.) die gemijchte 
Theorie, wie fie namentlih Mittermaier dargelegt hat. Nach ihr find die ©. 
bald Beweismittel, bald Richtergehülfen, je nachdem die Nothwendigfeit ihrer Zus 
ziehung fich im Beweisftadium ergiebt, indem die Parteien den ihnen obliegenden 
Beweis nicht anders ala durch jachverjtändige Wahrnehmungen Dritter erbringen 
fönnen, oder erjt nach geführtem Beweis bei der Urtheilsfällung, indem dem Richter 
die Beurtheilung des vorliegenden feſtſtehenden Thatjachenmaterial® nur auf Grund 
jachverftändigen Ermeſſens möglich ift. Für den letzteren Fall acceptirt die gemischte 
Theorie alle die von der Gehülfentheorie gezogenen Konjequenzen; für den erfteren 
Fall will fie die allgemeinen Normen des Beweisverfahrens überhaupt und die 
Grundjäße des Zeugenbeweijes insbefondere angewendet willen. — Neuejtens endlich 
bat ObermeyereineverbefjerteBeweismitteltheorie aufgeftellt. Ausgehend 
davon, daß der Beweisbegriff (3. B. beim richterlichen Eid) von der Verhandlungs- 
marime unabhängig jei; anfnüpfend fodann an den Indizienbeweis, bei welchem die Be— 
weisthätigfeit zwiſchen den Parteien und dem Richter getheilt jei, indem die Barteien 
vermöge einer „Beweisnachlaffung“ Lediglich die Prämiffen einer Schlußiolgenung 


Sahverftändige. 513 


darzuthun Haben, der Richter aber dann jelbjt den Beweisgrund durch Folgerung 
beritelle; gelangt er zu dem Refultat, daß auch dann, wenn der Richter dieje Schluß- 
tolgerung nicht jelbit ziehen könne, fondern hierzu, ſei e8 ex officio oder auf Antrag 
der Parteien S. beiziehe, diefe Beweismittel jeien. 
II. De lege ferenda wird man fich (mit Renaud, $ 118) für eine gemijchte 
Theorie zu entjcheiden haben. Der Unterjchied zwijchen wahrnehmenden und ur= 
theilenden ©. ift nicht wegzuleugnen. Wollte man den Begriff des Urtheilens fo 
premiren, wie Wetzell es thut, fo würde man die ganze bisherige Beweislehre 
umftoßen müffen. Denn fait Alles, was man bisher thatjächliche Behauptung 
nannte und nur als folche für geeignetes Beweisthema erflärte, wird fich bei näheren 
Zufehen als Urtheil darjtellen (vgl. die von Obermeyer, ©. 58 zu N. 50 Git.). 
Jeder finnliche Eindruf Hat, jobald er uns flar zum Bewußtſein gefommen ijt, 
einen Weflerionsprozeß durchgemacht und fich zum Urtheil gejtaltet. Der Zeuge, 
welcher ausſagt, daß das jtreitige Pferd eine Stute, urtheilt jo gut, wie der ©., 
welcher bekundet, daß es lungenritzig jei; und doch fann ein Zeugenbeweis nur über 
„Ihatjachen“ geführt werden. Niemand wird die Gideszufchiebung darüber, daß 
Probat einen Gegenjtand vom Probanten gefauft habe, für unzuläffig halten, und 
doch enthält diefe Ausjage zweifellos ein „Urtheil“, während der Schiedgeid nur 
über „Thatſachen“ zuläffig ift. Die Unterjcheidung von Wahrnehmung und Urtheil 
it mit anderen Worten allerdings eine „nur relativ gültige, aber unentbehrliche” 
(Obermeyer, ©. 57). Die Grenze zwijchen beiden aber kann nach Alledem nur 
eine jubjektiv begründete fein: wo wir uns des Urtheilavorganges bewußt, wo wir 
unferer Subfumirung einer fonfreten Erjcheinung unter einen abjtratten Begriff inne 
werden, da jagen wir, wir „urteilen“ ; wo wir vermöge unferer Uebung und Ge— 
wöhnung die Urtheilsoperation unmerflich vollziehen, da behaupten wir „wahr: 
zunehmen“. Der Geübtere, Griahrenere, Gebildetere fieht und Hört und weiß da 
noh, wo der Ungeübtere, Unerfahrenere, Ungebildetere folgern und urtheilen und 
glauben muß. So ift Wetzell's oben citirte Behauptung nicht im Stande, den 
Unterjchied zwijchen wahrnehmenden und urtheilenden ©. zu bejeitigen, wie denn 
auch Wetzell jelbit infonjequent genug die Scheidung der „jachverjtändigen Zeugen“ 
bon den ©. und ihre Auffaffung als reine Beweismittel (Zeugen) adoptirt, obgleich 
fie fich doch nach jeiner eigenen Definition von den „wahrnehmenden S.“ nicht 
weiter unterjcheiden, als daß fie die Wahrnehmung, die fie jeßt befunden, nicht 
im Prozefje jelbit und zum Zwede der Bekundung, jondern jchon früher und zufällig 
gemacht haben (Syit., $ 44 zu N. 14 ynd dazu Obermeyer, ©. 58 zuM. 52; 
S. 61 zu N. 66 ff.). — Auf der andeten Seite beruht aber auch Obermeyer’ä 
Ansicht, daß auch der urtheilende ©. Lediglich Beweismittel jei, auf unhaltbarer 
Prämiffe. Beim ©.-, wie beim Jndizienbeweis (vgl. wegen des lehteren Heusler, 
Archiv 5. d. civ. Pre. LXII. ©. 230 ff.) ift die Beweisthätigfeit bereits zu Ende, 
wenn die Schlußfolgerung beginnt. Die leßtere ijt nicht mehr Beweisführung, 
fondern Würdigung des geführten Beweijes; fie gehört zur urtheilenden Thätig- 
feit des Richters, die jich aus Beweiswürdigung und Rechtsanwendung zufammenjett. 
Der urtheilende ©. aljo, welcher aus jeftitehenden Thatfachen nach den Regeln feiner 
Kunft eine Schlußfolgerung auf die entjcheidende Ihatjache zieht, beweiſt nicht mehr, 
jondern hilft dem Richter einen Theil feines officium erfüllen. — Und jo ergiebt 
fih von jelbjt, daß die urtheilenden ©. Richtergehülfen, und als folche durch- 
gängig dom Richter abhängig und nach Analogie deifelben den Parteien gegenüber 
zu behandeln; daß dagegen die wahrnehmenden ©. Beweismittel und als jolche 
den allgemeinen Grundjägen des Beweiſes unterworfen, im Einzelnen aber nad 
Analogie der Zeugen zu behandeln find. 
III. Die Quellen de8 Gemeinen Prozefies, von welchen das Röm. Necht die 
ES. in Anwendung auf den Giv.Prz. nur in zwei, das Kanoniſche Recht nur in 
fünf Fällen, das ältere Deutjche Recht gar nicht erwähnt, bieten über unjere Frage 
v. Holtenborff, Enc. II. Redtöleriton III. 3. Aufl. 35 


514 Sahperitändige. 


fo wenig fichere Anhaltspunfte, daß es fich nur Hieraus erflärt, wie faſt alle subl. 
dargestellten Anfichten ſich auf fie berufen fönnen. Sicher ift nur dies, daß die 
Funktionen der urtheilenden ©. einft vom Gericht jelbit verfehen wurden, was fid 
daraus erklärt, daß einerfeits entweder das Urtheil von den Volksgenoſſen felbſt 
gefunden wurde, oder das Nichteramt für die durch bejondere Sachkunde zu ent: 
jcheidenden Sachen an ©. (arbitri: vgl. inäbefondere Strippelmann, ©. Tfi) 
übertragen ; andererjeit3 aber auch beim Mechtögelehrten nicht nur justi atque injusti 
scientia, jondern auch divinarum ac humanarum rerum notitia vorausgeſetzt wurde 
(Strippelmann, ©. 4). Dem entiprechend ift auch heute da, wo die Rider: 
bank jelbjt mit ©. beſetzt ift (3. B. in Handels-, See, Gemwerbegerichten), die Zu: 
ziehung von ©. als Richtergehülfen bezüglich der einfchlägigen Fragen unmöthig 
(Hannov. Protof., VII. ©. 2318; Oeſterr. Entw. von 1876 $ 404; Deutſches 
GVG. $ 118); während im Uebrigen beim Richter heute nur Nechtsfenntniffe ver- 
muthet werden (arg. Deutiches GVBG. SS 2 ff.) und ebendeswegen anderweite Fach— 
fenntniffe auch da, wo fie zufällig beim Richter fich finden, der richtigen Anficht 
nach (vgl. Gönner, Abhandl. 44, $ 8; Abhandl. 45, 84; Wetzell, S 44 nad 
N. 10; Motive zum Deutichen Entw. von 1874 ©. 496 gegen Obermeper, 
©. 86 ff.) zur Beurtheilung nicht verwerthet werden dürien. — Bon den Partikular: 
gejeßen hatten fich die meiften der gemifchten Theorie angeichloffen (vgl. z. 2. 
Corp. jur. Frideric. I. t. 38 7; II. t. 6 $ 13; Allg. Preuß. Ger.Ord., II. t. 10 
88 388 fi.; t. 42 88 14, 35; Baden 1831, 88 540, 541; Hannover 1850, 
SS 275 fi., 280; Lippe 1859, SS 49, 51; Meiningen 1862, Art. 95 ff., 100; 
Baden 1864, 88 491, 493, 494; Württemberg 1868, Art. 205, 500 fi.). Die 
neueiten Entwürfe und Gefeße dagegen find von Wetzell's Gehülfentheorie be: 
einflußt. Dies gilt insbefondere von der Deutichen CPO. 88 135, 367—379, 
und don dem mit derielben wejentlich übereinftimmenden Defterr. Entw. von 1876, 
SS 215 Abi. 3; 392—406. Dabei ift jedoch mit einer Halbheit verfahren, welde 
die ohnehin jo jchwierige Lehre nur gänzlich zu vermwirren geeignet if. Während 
die Motive zum Deutjchen Entw. von 1874 ©. 496 zunächſt Wetzell's Lehre jammt 
jeiner Begründung derjelben vollitändig adoptiren, fahren fie unmittelbar darauf 
fort: „Dies Prinzip ift in Verbindung mit dem Grundjaß der freien Beweis: 
mwürdigung für die Vorjchriiten des Entwurfs über den S.“Beweis maßgebend ge 
weſen“; nicht gewahrend, daß die Wetzell' ſche Gehülfentheorie die Anwendung des 
Beweisbegriffes auf die ©. total ausjchließen müßte, daher denn auch Wetelb 
ſelbſt ausdritclich gegen die Bezeichnung und Behandlung der ©. ala Beweismittel 
proteftirt (Syit. $ 44 N. 14 und 16). Und diefe Prinzipienlofigkeit (die übrigen: 
auch jchon in den Hannov. Protof., XV. ©. 5718 ff., zu Tage tritt) fpiegelt ſich 
auch überall im Geſetz jelbit wieder. Während unter Ausfcheidung der jachveritän- 
digen Zeugen von den S. (Deutiche CPO. $ 379; vgl. Defterr. Entw. $ 406) 
die Gehülfentheorie in ihren Hauptkonſequenzen ausdrüdlich janktionirt ift (vgl. oben 
sub I. und gleich unten sub IV.), werden die ©. doch nicht nur ald Beweismittel 
bezeichnet (Deutiche CPO. $ 324 3. 2; Rubrik des 8. Tit. in Buch II. Abichn. 1: 
„Beweis durch S.“), fondern auch ala folche behandelt, indem die Lehre von dan 
&. mitten unter den Beweismitteln geregelt, auf die S. ausdrücklich die Vorſchriften 
über den Zeugenbeweis als analog anwendbar erklärt ($$ 367, 371); von Beweis 
antretung, Beweisbefchluß, Beweisaufnahme mit namentlicher Beziehung auf die ©. 
gehandelt iſt ($$ 368, 324, 370). Damit find die ©., joweit fie Beweismittel 
find, in dubio auch den übrigen Regeln des Gejeßes über den Beweis unterworien, 
jo der des $ 258 oder der des $ 437 u. ſ. w., was in direftem Widerfpruch mit 
der Gehülfentheorie jteht (vgl. Mittermaier, $6 ©. 135 ff.; Wetzell, S 4 
nah N. 37). Wiemweit aber die ©. ald Beweismittel zu betrachten find, darüber 
fehlt e8 nicht nur im Gejeh an jedem Anhalt, jondern nehmen auch die Motive den 
legten, indem fie den Unterfchied zwiichen wahrnehmenden und urtheilenden S. mit 


Sadhveritändige. 515 


Wetzell verwerien. — Bei diefer Sachlage wird nichts übrig bleiben, als die 
Motive bei Seite zu jehen und durch Wiederaufnahme des Unterfchiedes von wahr: 
nehmenden und urtheilenden ©. der gejeglichen Doppelauffaflung der ©. als Be- 
weismittel und als Richtergehülfen Sinn und Verſtand zu geben. Zu beachten ift 
jedoch dabei, daß nach der Faſſung des Gejehes die aus der Gehülfentheorie aus— 
drüdlich aufgenommenen Konfequenzen auch auf die ala Beweismittel zu betrachtenden 
©. angewendet werden müflen. 

IV. Das Detail der Lehre, für welches die Italienische Praris Hauptquelle im 
Gemeinen Prozeß war (Strippelmann, ©. 33 ff.), umfaßt insbefondere die 
Fragen der Offizialbeiziehung, der Wahl und Beitimmung, der Inftruftion, Bes 
eidigung und Vernehmung der ©., der Bedeutung ihres Gutachtens für Parteien 
und Gericht. — Die erite frage würde an fich dahin zu beantworten jein, daß die 
wahrnehmenden ©., weil fie Beweismittel find, der Beweis im Giv.Prz. aber prin= 
zipiell der Verhandlungsmarime unterftellt werden muß (Wendt, Archiv. f. d. 
civ. Prx. LXIII. ©. 261 ff.), ausjchließlich von den Parteien durch Beweisantretung, 
daß dagegen die urtheilenden ©. als Richtergehülfen ausjchließlic) vom Richter in 
den Prozeß einzuführen wären. Neigte jedoch jchon die ältere Theorie und Praris 
dahin, hier die Verhandlungsmarime zu durchbrechen (Obermeyer, ©. 41), jo 
bat die Deutiche CPO. 8 135 (ebenſo Oeſterr. Entw. $ 215 i. f.) das Necht des 
Richters, ©. ex officio beizuziehen für jede Lage des Prozefjes ohne Unterjcheidung 
von wahrnehmenden und urtheilenden ©. fchlechtweg anerkannt, in Entmündigungss 
jachen überdies "eine richterliche Pflicht der Zuziehung jtatuirt (SS 598, 599, 612). 
Bon einer Beweisantretung durch ©. (Deutiche CPO. $. 368; vgl. $ 392 Defterr. 
Entw.) fann daneben nur bei wahrnehmenden ©. die Rede jein; der Antrag der 
Parteien auf Zuziehung urtheilender ©. ift mur „Anregung einer von Amtöwegen 
zu bethätigenden Maßregel" (Seuffert, Kommentar zu $ 368). — Die Aus— 
wahl und Beitimmung der Zahl der ©. ift jodann von der Deutichen CPO. $ 369 
(Deiterr. Entw. $ 393) unterjchiedslos in die Hände des Gerichts gelegt. Das Geſetz 
bat dadurch der gemijchten Theorie gegenüber, welche die wahrnehmenden ©. durch 
Benennung einer gleichen Zahl jeitens der beiden Parteien auftellen läßt (Mitter- 
maier, ©. 128), die Gehülfentheorie fonjequenter als Wetzzell jelbft durchgeführt, 
welcher den jchon von Rivinus gemachten, von Doktrin, Praris und Gejeßgebung 
vielfach adoptirten Kompromißvorichlag ſich zu eigen gemacht hat, „wonach beide 
Parteien gejondert in gleicher Zahl ihre ©. benennen, der Richter aber einen Ob- 
mann dazu thun ſoll“ (Wetzell, $44 N. 22; Obermepyer, ©. 101 N. 38 ff.). 
Doc bindet ed das freie richterliche Ermefjen nach zwei Seiten: das Gericht joll, 
wenn für gewifle Arten von Gutachten S. öffentlich bejtellt find (vgl. 3. B. RGei. 
vom 11. Juni 1870, betr. das Urheberrecht an Schriftwerfen $ 31; RGeſ. vom 
11. Ian. 1876, betr. das Urheberreht an Muſtern $ 14; RGeſ. vom 10. Jan. 
1876, betr. den Schuß der Photographien $ 10 u. ſ. w.), fich regelmäßig an dieſe 
halten. Hat nun dieje Beichränfung auch vom Standpunkte der Deutichen CPO. 
aus nichts Auffallendes, jo jteht dagegen mit demſelben in jchroffitem Wideripruch 
die Vorſchrift des S 369 Abi. 4 (die denn auch der Oeſterr. Entw. richtig ver: 
mieden hat), wonach das Gericht an die durch Vereinbarung der Parteien bejtimmten 
Perjonen gebunden ift. Dieſe, gleich der vorigen durch die Reichstagskommiſſion in’s 
Gejeg aufgenommene Beitimmung wurde als eine Honjequenz der Berhandlungsmarime 
beantragt und gebilligt (Kommiffionsprotofolle, S. 141). Allein diefe hat eben mit 
dem ganzen Standpunkt der Deutichen CPO. nichts zu thun. — Die viel beftrittene 
Frage, ob und inwieweit ein S.-Zwang zu ftatuiren jei (vgl. Hannod. Protof. VII. 
©. 2332 ff.), — welde für das Gem. Recht, insbeſondere mit Hinweis darauf, daß 
für einen jolchen fein Bedürfniß eriftire, und daß er undurchführbar fei, überwiegend 
verneint (vgl. die Gitate bei Nenaud, $ 149 N. 32; Obermeyer, ©. 123 
N. 48 und 49); dagegen insbeiondere von Wetzzell (vgl. außerdem die bei Renaud, 

33 * 


516 Sahveritändige. 


l. ce. Gil.) mit Berufung auf das munus publicum der ©. ala Richtergehülfen be 
jaht wurde, — ift zwar von der Deutichen CPO. $ 372 (Dejterr. Entw. $ 396) 
prinzipiell ebenfall® verneint, das Prinzip aber durch die ftatuirten Ausnahmen 
nahezu annullirt worden (Obermeyer, ©. 126). — Bezüglich der Frage der 
Ablehnung der S. durch die Parteien müßte die gemifchte Theorie unterjcheiden, 
ob die 5. als Beweismittel produgzirt wurden, in welchem Tall Probat durd) Be 
weiseinreden ihre Untüchtigfeit oder Verdächtigfeit, wie bei Zeugen, geltend zu machen 
hätte, oder ob die ©. als Richtergehülfen beigezogen waren, wo die Parteien ein 
Ablehnungsrecht nach den Grundjäßen der Rekuſation der Gerichtöperjonen Haben 
würden (vgl. Mittermaier, $ 4 ©. 131). Die Deutiche CPO. $ 371 (Defterr. 
Gntw. $ 395) gedenkt Lediglich des letzteren Rechtes. — Der Gritattung des Gut: 
achtens Hat die Inftruftion und — außer bei Verzicht beider Parteien — die Bes 
eidigung des ©. voranzugehen. Die Art der Initruftion muß dem richterlichen 
Ermeſſen anheimgeftellt werden (vgl. indeflen Defterr. Entw. $ 399). Der ©.-Eid 
aber war von jeher promiſſoriſch (juramento antea praestito: 1. 20 C. 4, 21; „vor 
Gritattung des Gutachtens“ : Deutihe CPO. 8 375) und muß jo formulirt jein, 
daß er jeden Grad der Ueberzeugung trifft („nach beitem Wiflen und Gewiſſen“: 
Deutihe (PO. $ 375; vgl. auch ſchon KGD. von 1555, I. t. 85), während bie 
Aelteren den ©. bald de veritate, bald de credulitate jchwören ließen. — Die Be 
gutachtung jelbit kann, wie jchon nach Gem. Recht, jo auch nach den neueiten Ge 
jegen, nach Ermeſſen des Gerichts mündlich oder jchriftlich (Deutiche CPO. S 376; 
Oeſterr. Entw. $ 400); fie kann bei Uebereinftimmung der S. gemeinjam erfolgen 
(Defterr. Entw. $ 401; für die Deutiche CPO. beitritten; vgl. die Git. bei Ober— 
meyer, ©. 155 N. 45). Das Gutachten joll nach der überwiegenden Anficht der 
Schrüftiteller (Renaud, $ 149 N. 45) mit Gründen verjehen fein; nach dem Delterr. 
Entw. $ 401 fann der Richter dies verordnen; nach $ 376 Abſ. 2 vgl. mit S 361 
Deutihe CPO. kann er eine Erläuterung des ohne Gründe abgegebenen Gutachtens 
vom ©. verlangen. — Ob die Parteien ein Recht darauf haben, der mündlichen 
Vernehmung des ©. beizumwohnen, wird ebenjo wie die Frage, ob ihnen eine Bes 
kämpfung des abgegebenen Gutachtens durch ein Beweisdifputirverfahren zu geitatten 
jei, davon abhängen, ob und immieweit man die S.vernehmung ala Beweisaumahme 
anfieht (vgl. SS 322, 258 Deutiche (PO.). — Was aber endlich die Stellung des 
Richters zum Gutachten anlangt, jo ftritt man im Gemeinen Prozeß ſowol darüber, 
ob der Richter an das übereinftimmende Gutachten der ©. gebunden jei oder daffelbe 
jeiner freien Würdigung unterliege? als auch darüber, wie der Richter in Kollifions- 
fällen fich zu verhalten habe? War man insbefondere jet Gönner (Abb. 45 
z8 13 ff.) geneigt, das übereinitimmende Gutachten für formal bindend zu erflären, 
in Kollifionsfällen aber bei Schägungen eine Durchichnittöberechnung (nah „Schürzen“ } 
anzuftellen, bei anderen Begutachtungen die Majorität der ©. entjcheiden zu laſſen, 
reip. im Fall der Stimmengleichheit dem Richter die Zuziehung weiterer ©. oder 
eines Obmanns zu geitatten bzw. zu gebieten; hatte dann die Yehre von Walther 
(S. 286 ff.), daß in jedem Kollifionstall, außer wo es fi um Schäßungen handle, 
„Kunfte und ©. von bewährterer Geichidlichkeit, oder, wo es zu haben ilt, em 
ganzes Kollegium derjelben“ Zmweds nochmaliger Prüfung der divergirenden Gut— 
achten und Abgabe eines „Obererachtens“ zuzuziehen jeien, vielen Anklang gehunden 
und mehrfach zur jtaatlichen Errichtung oberjter fachmänniſcher Kollegien geführt, 
jo hat fich dagegen die neueite Gejeßgebung wieder dem jchon von der älteren Doktrin 
und Gejeßgebung beiolgten (f. die Nachweife bei Obermeyer, ©. 170 ff.; ©. 181 
N. 79 und 81) und auch vom Code proc. civ. art. 323 und vom Code di proced. 
civ. del regno d’Italia art. 270 vertretenen Grundiaß der freien Würdigung der Gut— 
achten zugewandt. Dies ift auch der Standpunft der Deutichen CPO. (und des 
Deiterr. Entw.), wie derjelbe nicht nur von den Motiven bezeugt wird, welde aber 
von ihrem Standpunkt aus völlig inforreft von freier Beweismwürdigung iprechen, 


Sadjveritändige. 517 


jondern insbejondere Ausdrud gefunden bat für Begutachtungen im — Sinne 
in $ 377 des Geſetzes (5 402 Oeſterr. Entw.), für Schätzungen in $$ 3 und 260 
dafelbit (SS 17, 298, 411 Oeſterr. Entw.). 

Lit.: Dgl. die umfafjenden Literaturangaben bei ni er, —— f. d. civ. Prar. XXVI. 
S. 104—109 (bis 1841); bei Wethzell, Syitem, 5 44 10; bei — Lehrb. $ 118 
N. *. — Hervorzuheben find: Gönner, — I gi 45. — Mitters 
maier, ch. f. d. civ. Prar. iedeiäs, Diss. de Dane 
—— per artis peritos, 1 —* — Maltter, 1 Strippelmann ne 
ivilprogefie. Hinzu nanfügen find: Heusler, Arch. 7 d. civ. Brar. LXII I. &. 2 
men ebenda L 265 fi. — DObermeper, Lehre von ben Sm — 


irtkmeyer. 

Sachverſtändige (ſtrafpr.). I. Sachverſtändige (Kunſtverſtändige, ex- 
pertes) ſind Perſonen, welche durch ihre Ausbildung für einen beſtimmten Beruf und 
durch die bei Ausübung deſſelben geſammelten Erfahrungen die Befähigung erlangen, 
dem Gerichte die Auskunft zu ertheilen, ohne welche gewiſſe Thatſachen, weil zu 
deren Beobachtung und Beurtheilung die allgemeine Befähigung nicht ausreicht, mit 
Beruhigung nicht feſtgeſtellt werden können. Die Entwickelung des Beweisrechtes 
in der Richtung der freien Beweiswürdigung hat auch in Bezug auf die Stellung 
der S. namentlich im Strafprozeß eine weſentliche Aenderung und Klärung mit ſich 
gebracht. Der Zug des älteren Beweisrechtes ging dahin, möglichit objektive Er- 
probungen der Thatfachen zu erzielen und dem Richter die Beftandtheile feines Ur- 
theiles, wie bereit3 behauene Quaderfteine, fertig zu liefern, jo daß er fie nur ein— 
zufügen hatte. Daraus entwidelte fich zunächit die Tendenz, möglichit viele Fragen 
©. zuzuweiſen, und nicht gerade genau zu umterfuchen, ob es fich denn überhaupt 
um einen Gegenjtand handelt, zu deſſen Beobachtung und Beurtheilung eine bejon- 
dere Berufsbildung erforderlich ift und ob gerade in die Berufsiphäre dieſer be- 
ftimmten ©. die fragen fallen, auf deren Löſung es ankommt. Pan ift 3. B. noch 
heute nicht abgeneigt, etwa den Büchjenmacher darüber zu befragen, ob ein be- 
ſtimmter Zustand einer durchlöcherten Glasicheibe auf einen Schuß und ob er auf 
einen aus der Nähe oder aus der Ferne abgefeuerten jchließen lafle.. In einem vor 
einigen Jahren verhandelten Fall, der Europäiſches Auffehen erregte, hing die Ent— 
fcheidung wefentlich davon ab, ob und wie ein menschlicher Körper über eine Fläche 
von einer beftimmten Neigung binabrollen fönne, und man war jehr verfucht, 
dies Ärztlicher Beurtheilung anheimzuftellen. Es fommt vor, daß man es 
als Gegenjtand ärztlicher Beurtheilung anfieht, ob Jemand einem bejtimmten 
Angriff oder Sturz gegenüber die Hände eher abmwehrend vor fich Hinftreden oder 
ichüßend über fich breiten werde. Vermeiden läßt es fich ohnehin nicht, daß ©. den 
ihnen mit Recht abgeiorderten Ausspruch jchließlich auf jolhe Ihatmerfmale jtüßen, 
die Jedermann beobachten und beurtheilen kann. Es wird es den Aerzten Niemand 
verargen können, wenn fie 3. B. erklären, durch den Umſtand, daß nach Lage der 
Berhältniffe das Werkzeug, womit eine bejtimmte Art der ZTödtung allein zu be= 
werfjtelligen ift, nicht vorhanden fein konnte, zur Ausſchließung diefer Tödtungsart 
beftimmt zu fein. Allein es folgt daraus allein jchon, daß jeme objektive Beweis» 
kraft, welche einjt dem Spruch der S. vindizirt wurde, demjelben nicht innervohnen 
tönne, daß er für fich allein den Richter nicht beruhigen dürfe und daß dieſer die 
Verpflichtung habe, jehr genau zu prüfen, ob derjelbe auf Grundlagen ruhe, über 
die er ſich eine jelbitändige Meinung nur auf die Gefahr Hin bilden kann, daß er 
ala der jchlechter Unterrichtete fich über den beifer Unterrichteten ftellt. Es iſt daher 
der Spruch der S. immer nur eine Auskunft, auf Grund welcher der Richter die 
Thatjache feftzuftellen hat, und eben darum der Herrichait der freien richterlichen 
Würdigung nicht entrüdt. Damit ift auch eine zweite in früherer Zeit, namentlich 
auf dem Boden des Gemeinen Deutjchen Inquiſitionsprozeſſes, hervorgetretene Ten— 
denz zurückgedrängt. die dahin ging, die S. nicht als Auskunftsperſonen, ſondern 
als einen Theil des Gerichtes („Gehülfen des Richters“, als welche ſie übrigens 


r 


518 Sadveritändige. 


noch die Motive zur Deutichen StrafPO. [S. 59] bezeichnen, ohne damit fich der 
hierdurch gewöhnlich ausgedrüdten Auffaſſung anschließen zu wollen, da mur be 
gründet werden joll, daß der Richter die ©. zu wählen habe) oder, was richtiger 
und deutlicher ift, ihren Spruch nicht ala ein Beweismaterial, ſondern ala einen 
techniichen Richterfpruch aufizufaffen, eine Tendenz, die in dem Vorkommen ftändig 
beitellter &., in der lebertragung der Funktionen derjelben an fachveritändige 
Kollegien u. dgl. Unterftügung fand. Im Gegenſatz hierzu wurde wieder anderswo, 
zum Theil jelbit in Frankreich, ganz bejonders aber in England, der Gigenart der 
Stellung des S.beweiſes unter den Beweismitteln nicht genügend Rechnung getragen, 
indem man die ©. lediglich ala Zeugen und dann gewöhnlich ala ausgeiprodene 
Belaftungs- oder Entlaftungszeugen behandelt. 

Die Eigenart der Stellung der ©. und damit ihre prozeflualiiche Stellung be 
ruht aber auf Folgendem: 

1) Der gewöhnliche Zeuge ift durch die Ereigniſſe und Vorfälle gegeben, melde 
er wahrzunehmen, meift zufällig und faſt niemals durch gerichtliche Veranſtaltung, 
in die Lage gefommen ift; er kann je nach dem Stande der Sache durch andere 
Perjonen, welche in derjelben Yage waren, fontrolirt, widerlegt, bejtätigt und jelbit 
erfegt werden, aber auch diefe Perfonen find gegeben und können nicht ausgewählt 
werden. Dagegen wird der S., fo weit er über Wahrnehmungen auszujagen bat, 
eigens berufen, damit er dieje Wahrnehmungen mache. Die ©. fünnen ausgewählt 
werden, und zwar unter ihre Unbeiangenheit möglichit verbürgenden Umjtänden, die 
Zeugen find gegeben. Auch auf einen bedenklichen Zeugen fann man nicht verzichten, 
ohne unerjegliche Mittel der Aufklärung zu verlieren; der ©. kann in der Kegel 
leicht erſetzt werden. 

2) Der Zeuge ift fich im Augenblid, wo er den Gegenitand feiner ipäteren 
Ausfage wahrnimmt, in der Regel deffen nicht bewußt, daß er darüber ein Zeugnik 
abzulegen haben werde, während beim ©. jchon die Wahrnehmung unter den Ge 
fihtspunft einer berufsmäßigen und zielbewußten Ihätigkeit, der Beobachtung und 
Unterfuchung, rällt. 

3) Der Zeuge foll über nadte Thatiachen ausfagen, die er wahrgenommen hat, 
und fich darauf beichränfen. Dies ift zwar nicht unbedingt zu erreichen: unſere 
Grlebniffe haften in uns jelbit ſchon in der Geftalt von Urtheilen. Allein wenn 
der Zeuge unter den vor Gericht an ihn geitellten ragen dieje Urtheile wieder auf 
ihre Elemente zurüdgeführt und diejelben dem Gerichte dargelegt hat, ift letzteres 
auch vollkommen in der Yage, fich an feine Stelle zu jegen und unter Anwendung 
der allgemeinen Dentgejeße und Yebenserfahrungen jene Urtheile zu überprüfen. 
Dies iſt beim ©. jchon, joweit es ich um die Wiedergabe jeiner Wahrnehmungen 
handelt, nicht der Fall; er hat eine beiondere Berähigung zur Beobachtung und 
Unterfuhung, feine Bejchreibungen des unmittelbar Wahrgenommenen enthalten be 
reits die Anwendung fachwifjenichaftlicher Kategorien, fie bilden Urtheile, die der 
Richter nicht ohne jachveritändige Beihülfe in ihre Glemente auflöien und deren 
Glemente, auch wenn fie aufgelöft vor ihm liegen, er nicht unmittelbar verwerthen 
kann. 

4) Kann der Richter manchmal in den Fall kommen, den Zeugen um die 
Folgerungen zu fragen, welche er aus ſeinen Wahrnehmungen zog, ſo wird dies 
ſeinen Grund nur darin haben, weil dies oft allein die Möglichkeit bietet, die 
Wahrnehmungen ſelbſt wieder aufleben zu machen und den Zeugen zu deren Wieder⸗ 
gabe zu bringen. Dagegen joll der ©. in der Regel die Folgerungen aus jeinen 
Wahrnehmungen ziehen und dem Richter darlegen, und zwar durch Anwendung der 
ihm allein, nicht aber dem Richter befannten allgemein gültigen Gejege feiner Wiffen- 
ichaft oder Kunft auf den konkreten Fall. In beiden Fällen muß der Richter in 
die Lage gebracht werden, die Richtigkeit der fyolgerung zu prüfen; allein während er 
vom Zeugen nur in Bezug auf die Wiedergabe der Wahrnehmungen abhängig it, muß 


Sadhveritändige, 519 


er vom ©. auch die Darlegung der allgemeinen Gejege entgegennehmen und kann 
daher nur die Anwendbarkeit derjelben auf die fonfreten Thatjachen prüfen. 

Was der ©. dem Gericht bietet, iſt aljo ein zweifaches: 1) Die Daritellung 
der von ihm gemachten Wahrnehmungen (mit Ginjchluß der zu diefem Zwecke an— 
geitellten Unterfuchungen und Verſuche), der Befund, Sachbefund, Sichtbefund, 
visum repertum, rapport; 2) die Darlegung und Begründung der von ihm aus 
diejen Wahrnehmungen gezogenen, für den Straffall erheblichen Folgerungen, das 
Gutachten, KRunjturtheil (parere, avis). Nun find aber dieje beiden Auf: 
gaben in fich jehr verſchieden und laffen eine jehr verichiedene prozeſſualiſche Ge— 
ftaltung zu: Der Befund geitattet in der Regel feinen Auffchub, ijt auch oft von 
örtlichen Berhältnifjen abhängig, jo daß die Auswahl der ©., welche ihn aufnehmen 
jollen, oft eine jehr beengte ift. Dagegen geitattet er jojortige Firirung des Wahre 
genommenen durch Niederichrift, Zeichnung oder jonjtige Nachbildung und ift dieſe 
ungefäumte Firirung jo wejentlich, daß ihre Unterlafjung durch ganz bejondere Ver- 
hältniſſe gerechtiertigt werden müßte, um ohne jolche einen Befund noch entgegen- 
nehmen zu dürfen. Dazu fommt auch noch, daß der Vorgang der ©. bei Auf- 
nahme des Berundes unter gerichtlicher Leitung und Beurkundung fteht, obgleich 
diefe nicht immer eine Fonjtante fein kann (Deutiche StrafPO. $ 78; Dejterr. 
$ 122). Alles dies bewirkt, daß der Befund von der allgemeinen Regel bezüglich 
des PVorzuges der Mündlichkeit eine Ausnahme macht, daß nämlich hier die Nieder: 
ichrift wertvoller it, als der jpätere mündliche Bericht, und eben darum, wenn 
jene bedenklich geworden ift, eine Erneuerung des Befundes mehr Aufklärung ver= 
ipricht, ala eine erneute Bernehmung der ©. über denjelben. — Dagegen ſtützt ſich 
das Gutachten auf den Befund; es kann aber in anderweitigen Materialien des 
Strafprozeſſes noch weitere Grundlagen finden, eben darum durch die jpäteren Ergeb» 
nifje des Prozeſſes modifizirt und ala endgültig erſt nach völliger Aufklärung des 
Sachverhaltes, aljo am Schluß des Verfahrens, angejehen werden. Das Gutachten 
ift aber auch unabhängig von der Perfon, welche den Bejund beurfundet hat, und 
meiftens in höherem Grade als diefer abhängig von der technifchen Tüchtigfeit des— 
jenigen, der e8 abgegeben hat. Was die äußere Form der Gritattung derjelben be= 
trifft, jo wird Hier im Allgemeinen die mündliche Darlegung durch die Natur der 
Sache nicht gehindert, und fie wird jehr häufig die richtige Auffaffung der Anficht 
der ©. und ihrer Begründung, die Befeitigung von Zweifeln und Mißverſtändniſſen 
wejentlich fördern. Nicht immer werden übrigens im Strafprozeß Belund und 
Gutachten figuriren; es kann vorkommen, daß der Befund genügt, zumal wenn es 
fi) um die jachtundige Firirung von Thatjachen handelt, deren Beurtheilung feine 
Fachkenntniſſe fordert (Aufnahme von Plänen, Meffungen u. dgl.); es kann aber 
auch die Möglichkeit der Aufnahme des Berundes fehlen und dann müſſen die 
Grundlagen des Gutachtens durch Zeugenausfagen (natürlich, womöglich, durch 
jachverftändige Zeugen, d.i. Perjonen, welche zwar jachkundig find, aber ihre 
Wahrnehmungen zu einer Zeit und unter Umſtänden machten, wo fie nicht als ©. 
fungirten — vgl. $ 85 der Deutjchen Straf DO.) beichafft werden. Alle dieje Ver— 
hältniſſe üben wejentlichen Einfluß auf die progefjualiiche Gejtaltung. 

II. Die Beitimmung der ©. hängt von ganz anderen Gejichtspunften ab, 
alö die der Zeugen. Schon die Vorfragen, ob ©. beizuziehen jeien, welcher Art fie 
jein jollen und in welcher Zahl erfordberlih, können in gleicher Weije bei Zeugen 
nicht auftauchen. Nach $ 73 der Deutichen Straf OD. erfolgt „die Auswahl der 
©. und die Beitimmung ihrer Anzahl durch den Richter“. Der Sat ift aber eigent- 
lich nur für die PVorunterfuhung richtig. Bezüglich des VBorbereitungsverfahrens 
läßt S 160 der StrafPO. die Auslegung zu, die ihm Löwe (bei diefem Paragraph 
und bei S73N.3a) und Geyer (p.Holtzendorff's Handb., I. S. 240) geben, 
daß nämlich) der Staatsanwalt, der die Vornahme der „Unterfuchungshandlung“ 
beantragt, auch die ©. namhait macht und daß der Amtsrichter fich an diefen An— 


520 Sadjverjtändige. 


trag halten müffe, wenn er nicht gejewidrig iſt. Andererfeits jteht die Vorbereitung 
der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung wejentlich in der Hand der Gtaatk- 
anwaltſchaft und des Angeklagten, nur fuppletoriich in der des Gerichtes (ſ. d. Akt. 
Beweisverjahren). Nach dem in diefer Hinficht zur Geltung gebrachten Grund: 
jate ijt eine pofitive Vorforge für die Unbefangenheit der ©. dem Gericht nicht 
möglich; es werden die ©. daher je nach der Parteiftellung, welche auf ihre Be 
rufung Einfluß gewinnt, den Belaftungs= und Entlaftungszeugen zur Seite geftellt 
fein, und dies wirft vermöge des $ 193 der StrafPD. über die Mitwirkung der vom 
Angeichuldigten benannten ©. bei dem Augenfcheine auf die Borunterfuchung zurüd. 
Die Regel da $ 73, daß für ein bejtimmtes ach öffentlich beitellte ©. 
nicht ohne bejonderen Grund umgangen werden follen, bindet wol auch nur den 
Richter und den Staatsanwalt. — Nah $ 119 der Defterr. StrafPD. jteht die 
Wahl der ©. (mit der gleichen Beichränfung bezüglich der „bei dem Gerichte blei— 
bend angeftellten“) dem Umnterfuchungsrichter zu. Bezüglich der Zugiehung zur 
Hauptverhandlung ergiebt fich aus den für die Vorbereitung des Beweismaterials 
geltenden Grundſätzen (j. d. Art. Beweisverfahren), daß beide Parteien An— 
träge zu Stellen berufen find, die Entjcheidung aber jtet3 dem Gerichte zufommt. 

II. Die Zuläffigfeit der vom Richter in Ausficht genommenen oder von 
den Parteien angebotenen ©. richtet fich nach folgenden Grundjägen: Die Frage der 
tehnijchen Belähigung wird im Allgemeinen durch die diejelbe bedingende Be 
ruföftellung und durch die Erwägung, welche Art von ©. der Tall verlangt, ihre 
Erledigung finden (j. IL.) Es iſt aber auch nothiwendig, für die Unbefangenheit und 
Verläßlichkeit der ©. im gegebenen Falle Bürgichaften zu gewinnen; und hierin 
tritt allerdings hervor, daß während die Ausjage des ©. der eines Zeugen näher 
fommt, als dem Spruch eines Richters, feine perfönliche Stellung mehr der des letz— 
teren ähnlich ift. Es liegt daher nahe, in ähnlicher Weife, wie bei Richtern, eine 
Ablehnung (f. diefen Art.) eintreten zu laffen. Nach S 74 der Deutichen Strar 
PO. ift diefelbe im ganzen Umfange, wie bei Richtern, alſo auch wegen vorhandener 
Ausichliegungsgründe (mit Ausnahme des Falles der Vernehmung als Zeuge ın 
derjelben Straffache) zuläffig. Eine eigentliche Ausſchließung findet nicht jtatt, aus— 
genommen nach $ 87 bei der Yeichenöffnung bezüglich desjenigen Arztes, welcher 
den WVerftorbenen „in der dem Tode unmittelbar vorhergegangenen Krankheit be 
handelt hat“. Die Ablehnung kann nach $ 83 der StrafPO. auch nad) Eritattung 
des Gutachtens mit Erfolg ftattfinden; der Erfolg bejteht aber nur darin, daß Anlak 
jein fann, das Gutachten eines anderen ©. einzuziehen; injoweit der Ausdrud aud 
den Sachbefund mit umschließt, wird legterer nicht unwirkjam, zumal auch die Ver: 
nehmung des Abgelehnten ala jachveritändigen Zeugen nicht unzuläffig ift. Der ©. 
hat „vor Eritattung des Gutachtens“ einen Eid zu leiften ($ 79 D. Straf D.). Perſonen, 
welche als Zeugen nicht beeidet werden dürfen, können daher auch nicht ala ©. fungiren; 
wenn Löwe dies auf die Hauptverhandlung beichränkt, jo hängt dies mit der umten 
zu erörternden Frage nach dem Zeitpunkt der Beeidigung zufammen. Auch die 
Deiterr. StrafPO. ($ 120) geht bei Sicherung der zwedmäßigen Auswahl der 
©. von diejem doppelten Ausgangspunkte aus: einerjeits, daß „Perfonen, welche in 
einem Unterfuchungsialle als Zeugen nicht vernommen oder nicht beeidet werden 
dürften” , jowie nahe Verwandte des Bejchuldigten oder Verletzten, bei jonftiger 
Nichtigkeit, nicht ala ©. beizuziehen find, andererjeits daß ſtatt derjenigen S., wider 
welche der Ankläger oder der Beichuldigte „erhebliche Einwendungen“ (welche ſich 
allerdings nicht auf den Mangel der Unbefangenheit bejchränfen müſſen, auch die 
technische Eignung betreffen können) vorbringt, durch andere zu erjegen ſeien, ſofern 
nicht Gefahr am Verzuge haftet. Bezüglich des Arztes, welcher den der Autopfie zu 
unterziehenden Verſtorbenen „in der feinen Tode allenfalls vorhergegangenen Krank: 
heit behandelt hat“, iſt im $ 128 der Dejterr. StrafPD. nur vorgejchrieben, daR 
er in der Regel „zur Gegenwart bei der Leichenbejchau aufzufordern ſei“. Allein in 


Sachverſtändige. 521 


$ 7 der noch gültigen Vorſchrift über die Vornahme der gerichtlichen Todtenbeſchau 
(vom 28, Januar 1855) heißt es, er jei, „der Unparteilichkeit des Urtheils wegen, 
wo es nur immer möglich ift, ala beichauender Arzt nicht zu verwenden“. 

IV. Die Verpflichtung, fih als ©. verwenden zu laflen, ift ſowol in der 
Deutichen ala Defterreichiichen Straf OD. ausdrüdlich ftatuirt ($ 75 der Deutichen 
StrafPO., 8 119 der Oeſterr. StrafPO.). Erſtere jchränft die Pflicht auf die 
Fälle ein, wenn der Ernannte „zu Erſtattung von Gutachten der erforderten Art 
öffentlich beftellt ift oder die Wiſſenſchaft u. ſ. w. öffentlich zum Erwerbe ausübt, 
oder zur Ausübung derielben öffentlich bejtellt oder ermächtigt ift, oder fich zur 
Gritattung des Gutachtens“ „vor Gericht bereit erklärt“ hat. Nach 8 76 der 
Deutichen StrafPD. berechtigen diejelben Gründe zur Verweigerung des Gutachtens, 
wie zur Verweigerung des Zeugniſſes. (Nach der Defterr. StrafPD. wird in allen 
Fällen, wo dies praftiich werden kann, der ©. auögeichloffen fein.) Auch „aus 
anderen Gründen kann ein S. von der Verpflichtung zur Erjtattung des Gutachtens 
entbunden werden“. Das ift von bejonderer Wichtigkeit angefichts der in der 
Deutfchen StrafBD. (SS 213 und 218) begründeten unbejchräntten Befugniß des 
Staatsanwaltes und des Angeklagten, S. — auch nach Ablehnung des Antrages durch 
das Gericht — zur Hauptverhandlunng unmittelbar zu laden, — Für den Fall des 
Nichtericheinens oder der Weigerung des ©. droht $ 77 der Deutichen StrafPO. 
nebit Anhaltung zum Koſtenerſatz Gelditrafe bis zu 300 Markt, und im Falle 
wiederholten Ungehorfams „noch einmal“ bis zu 600 Marf an. Die Defterr. 
StrafPD. unterjcheidet zwijchen der Verweigerung der Mitwirkung bei der Vor: 
nahme des Augenjcheins im Borverfahren, wofür eine Gelditrafe von fünf bis hun— 
dert Gulden verhängt werden kann ($ 119 Abſ. 2), und dem Ausbleiben der (auf 
Anordnung oder mit Genehmigung des Gerichtes) zur Hauptverhandlung geladenen 
©. (88 242 243), welche auch vorgeführt werden können und in die Koften der 
Vertagung der Hauptverhandlung und zu einer Gelditrafe von fünf bis fünfzig Gulden 
zu verurtheilen find. (Ueber die Gründe der Verfchiedenheit j. Mayer, Handbuch 
des Dejterr. Straiprozefles, I. S. 519, 520.) 

V. Die prozefjualifche Verwendung der ©. iſt eine, nach Verſchieden— 
heit der ihnen geitellten Aufgabe verjchiedene.. Die umfafendite Verwendung tritt 
dann ein, wenn diejelben ©., welche den Sachbefund aufnehmen und abgeben (mas 
in der Regel ſchon im Vorverfahren gejchieht) auch zur Abgabe des Gutachtens in 
der Sauptverhandlung berufen werden; eine weitere Modifikation tritt dann ein, 
wenn die Aufnahme des Sachbefundes nicht, wie die Negel ift, unter unmittelbarer 
Leitung des Gerichtes, ala eine Form der Einnahme richterlichen Augenjcheines, jondern 
wie bei längeren, 3. B. chemijchen Unterfuchungen zc., bei der Hörperbefichtigung von 
Frauenzimmern u. dgl., in Abwejenheit des Richters erfolgt. In jedem Falle müffen 
die S. Die Gewähr für die Beweiskraft ihrer Angaben durch den Eid bieten. Die 
regelmäßig wiederkehrende Verwendung derjelben S. bringt e8 mit fich, daß eine 
Beeidigung ein für allemal in der Weife für ausreichend erklärt wird, daß die An— 
gaben im einzelnen falle auf den bereits abgelegten Eid genommen werden (Deutiche 
Straf PO. $ 79, Abi. 2; Defterr. StrafPO. $ 121, Abf. 1). Nach der Defterr. 
Straf PO. (daf. Abi. 2) haben in anderen Fällen die ©. „vor der Vornahme des 
Augenfcheines“ ſich eidlich zu verpflichten, „daß fie den Gegenjtand deſſelben jorg- 
fältig unterjuchen, die gemachten Wahrnehmungen treu und vollftändig angeben und 
den Berund fowie ihr Gutachten nach bejtem Wiſſen und Gewiffen und nach den 
Regeln ihrer Wiſſenſchaft oder Kunſt abgeben wollen“. In der Hauptverhandlung 
werden fie (ſofern fie den Eid nicht bereit abgelegt haben) vor ihrer Vernehmung 
in Eid genommen ($ 247, Abj. 2), eine Ausnahme tritt nur bei den kraft der dis— 
retionären Beiugniß des Vorſitzenden berufenen ©. ein, über deren Beeidigung das 
Sericht nach der Vernehmung Beichluß faßt ($ 254). — Nach $ 79 der Deutichen 
StrafßO. hat der ©. „vor Gritattung des Gutachtens einen Eid dahin zu leiften, 


522 Sadverjtändige. 


daß er das von ihm erforderte Gutachten unparteiiich und nach beitem Willen und 
Gewiſſen eritatten werde“. Es muß mol angenommen werden, daß das Wort 
„Butachten“ Hier, wie an anderen Stellen, im weiteren, auch den Sachbefund um: 
iaffenden Sinne genommen wurde. Der Eid umfaßt daher auch jchon die der Ab: 
gabe des Berundes zu Grunde liegende Unterfuchung und ‚jollte dieſer vorangeben. 
Allein dem Wortlaut des 8 79 der StrafPO. fteht die Beitimmung des $ 65 ge 
genüber, nach welchem die Beeidigung der Zeugen in der Regel erſt in der Haupt 
verhandlung erfolgt, und nur unter genau bezeichneten Bedingungen in der Bor: 
unterfuchung (niemals aber im Vorbereitungsveriahren) jtattzufinden Hat. Ob dieſe 
Beitimmung vermöge S 72 auch auf S. Anwendung finde, darüber ließen fich unter 
Hinweis auf die „abweichende Beitimmung“ des $ 79 Zweifel erregen. Da indeh 
aus den anderweitigen Beitimmungen der StrafPO. hervorgeht, daß in der Haupt: 
verhandlung der Berund, ebenjowenig ald das Gutachten abgelefen werden darf 
(S 249 der Deutichen StrafPO.; nach der Oeſterr. StraPO. $ 252 ift die 
„Befundaufnahme“ im Gegenjag zum mündlich zu eritattenden Gutachten vorzuleien), 
daß die ©. auch über eriteren daſelbſt mündlich zu berichten haben (eine Ausnahme 
macht $ 255 der Straf PD. für „ärztliche Atteſte über KHörperverlegungen“) und in 
der Hauptverhandlung jelbjt dann zu beeiden find, wenn fie in der VBorunterfuchung 
beeidet wurden: jo verliert der in der Vorunterfuchung abgegebene Befund jene ent 
icheidende Bedeutung, welche es wünſchenswerth machen müßte, daß er nur unter 
Eid abgelegt wird. Daß in der Hauptverhandlung der Eid der Vernehmung ſtets 
voranzugehen habe, jcheint nach Wortlaut und Entjtehungsgeichichte der maßgebenden 
Zerte unbejtreitbar (Boitus, Kontroverjen, I. 118 ff.). 

Was nun die jachliche Thätigkeit der ©. betrifft, fo jteht fie, jo weit nöthig, 
unter der Leitung des Richters (Deutiche StrafPOD. $ 78; Oeſterr. StrafPO. 5 123); 
dies bewirkt die Natur der Ausſage des ©. ala eines Beweismittels und die Regel: 
Judici fit probatio; eben darin aber findet die Leitung auch ihre Grenze. Der 
Richter muß den ©. flar machen, worauf e& ihm anfomme, was er erfahren wolle, 
und er hat dafür zu jorgen, daß bei dem Vorgang, den die ©. einfchlagen, um ihm 
die gewünschte Auskunft zu verichaffen, Alles beobachtet werde, was die Beweiskrait 
der zu gewärtigenden Ausjage fichert (3. B. Feititellung der Identität der zu unter 
juchenden Gegenjtände); allein er ift nicht berufen, auf die techniichen Methoden, 
deren fich die S. bedienen, einen Einfluß zu üben, ausgenommen, ſoweit e& fich um 
die Geltendmachung ausdrüdlicher Vorſchriften handelt, wie fie für einzelne Unter: 
juchungsfälle, theils in den StrafPO., theild in Spezialnormen gegeben find. 
Andererjeits muß er dafür forgen, daß den S. dasjenige zugänglich gemacht wird, 
deſſen fie bedürfen, um ihr Gutachten darauf zu ftüßen; dazu gehört die Mittheilung 
der Akten im Borverfahren, die Anmwejenheit bei der Vernehmung von Zeugen 
und Beichuldigten, namentlich) auch in der Hauptverhandlung (Deutiche StrafPC. 
z 80; Defterr. StrafpPO. 88 123, 241 Abſ. 2). Nach der Defterr. StraifQ. 
($ 248) joll in der Hauptverhandlung „ein noch nicht vernommener ©. bei der 
Vernehmung anderer ©. über denjelben Gegenſtand“ nicht zugegen fein; die 
Deutiche StrafPD. macht zwar von der bezüglich der Zeugen im $ 58 der Strai— 
PO. ertheilten gleichen Vorſchrift bezüglich der ©. feine Ausnahme; allein die 
Materialien des Gejeßes laffen den Auslegen (v. Schwarze, Geyer, Xöme) 
feinen Zweifel darüber, es ſei jelbitverjtändlich, daß für die Vernefmung der ©. die 
entgegengejeßte Regel gelte. Der dafür geltend gemachte jachliche Grund reicht aber 
nur aus, um es als zuläflig zu erklären, daß nach der abgefonderten Bernehmung 
der S. (die bei Ungleichheit der Yebensitellung u. ſ. w. doch nicht ohne Nuten if) 
auch möthigenfall® eine gleichzeitige VBernehmung, ein Austauſch von Greli- 
rungen vor Gericht jtattfinde. — Bon großer Wichtigkeit ift die Macht und Au— 
gabe des Richters angefichts von Ausjagen der ©., die ihm Bedenken erregen. Die 
Deiterr. StrafBD. (SS 124 und 125) untericheidet zwiſchen Bedenten gegen den 


LS 


Saint-Zimon. 523 


Berund und folchen gegen das Gutachten. Weichen in erjterer Hinficht die Angaben 
der ©. von einander erheblich ab, ericheinen fie im Widerjpruch mit fich jelbit, 
dunfel oder unbejtimmt, und können diefe Bedenten nicht durch bloße nochmalige 
Vernefmung bejeitigt werden, jo ift die Aufnahme des Befundes unter Zuziehung 
derielben oder anderer ©. zu wiederholen. Unter der gleichen Vorausfegung ift das 
Gutachten anderer ©., und wenn dieje Aerzte oder Chemiker find, geeignetenfalls das 
einer medizinischen Fakultät einzuholen. In allgemeineren Ausdrüden ertheilt $ 83 
der D.StrafPD. dem Richter die Befugniß „eine neue Begutachtung” (einjchließlich 


— 


Befundaufnahme) „durch dieſelben oder durch andere S. anzuordnen, wenn er das 
Gutachten für ungenügend erachtet“. „In wichtigeren Fällen kann das Gutachten 
einer Fachbehörde eingeholt werden.“ In lepterem Falle ijt nach 3 255 der Deutichen 
StrafB DO. die das Gutachten enthaltende Erklärung in der Hauptverhandlung vor— 
zuleien; doch kann das Gericht die £ollegiale Fachbehörde erjuchen, eines ihrer Mit- 
glieder mit der Vertretung ihres Gutachtens in der Hauptverhandlung zu beauftragen. 

Auf die einzelnen Arten der Aufgaben der ©. fann Hier nicht eingegangen werden; 
im Uebrigen find die Artikel Augenschein und Beweisverfahren zu vergleichen. 

Gigb. u. Lit.: Hente, Darftellung des gerichtlichen Verfahrens in Strafſachen (Zürich 
1817), ©. 159 ff. — Bauer, Xehrbud des Strajprozefles (Gött. 1835), ©. 218 ff. — 
Klenze, Lehrbuch des Strafverfahrens (Berl. 1836), S. 103—105. — Zachariä, Grund: 
linien de3 gemeinen Deutichen StrafPrz. (Götting. 1837), &. 194—198. — W. Müller, 
Lehrbuch des teutichen gemeinen Kriminalprozeſſes (Braunichw. 1837), S. 335 —247. — 
Mittermaier, Dad Deutihe Strafverfahren (Heidelb. 1846), I. S. 324-332. 
J—— mung db. Deutichen Strafprozefjes, II. (Götting. 1868), ©. 216—225, 425— 430. — 

land, Ey em. Darftellung des Deutichen Girafbertubrend (Sött. 1857), ©. 229—231, 
376. — Kittka, Beitrag zur Lehre über die Erhebung des Thatbeftandes (Wien 1881), 
©. 203 fi. — Mittermaier, Die Lehre vom Beweiſe im Beutichen Strafverfahren 
(Zarmft. 1834), ©. 181 ff. Zahlreiche Nachträge in der Ital. attihmS von Ambrojoli 
(Mailand 1858), ©. 225 f. — v. Jagemann, Handbuch der gerichtlichen Unterfuchungstunde 
Grant. a. M. 1838), I. ©. 27-47. — Bonnier, Traite des preuves en droit civil et en 
roit criminel (Paris 1862, 3e &d.), I. R 128—131, 144—150. — Helie, Traits de l’Instr. 
crim. (le &d.), Vol. V. p. 648 ss.; VII p. 317, 328 ss.; VIIL p. 578 ss.; Derjelbe, 
Pratique (Par. 1877), p. 95 ss., 155 ss., 228, 229, 414, 415. — Morin, R£pertoire verbo: 
Expertise. — Duverger, Manuel des juges d’Instruction (Paris 1844, ed.), Vol. II. 
. 82 ss., 256 ss. — Pietro Ellero, Della critica criminale (Venezia 1860), p. 194 ss. — 
5 Bentham, Theorie ded gerichtlichen Beweiſes (Berlin 1838), ©. 263 ff. — Best, Prin- 
ciples of the Law of Evidence (6. Edit.), $$ 5693—516. — Würth, Defterr. 838 
von 1850, ©. 219 fi. — v. Hye:Ölunel, Leitende Grundſätze der Oeſterr. StrafPO. 
von 1853, ©. 182 ff. — Rulf, Kommentar zur StrafPO. von 1853 (Wien 1857), 
i ; IU. S. 68-70. — Walther, Lehrbuch des Baperifchen Strafprozehrecht3, 
S. 196—207. — dv. Stemann, Daritellung de3 Preuß. Strafverfahrene (Berl, 1858), 
©. 65—76, 150. — Löwe, Der Preußiſche Strafprozeh (Bresl. 1861), S. 178—183. — 
v. Schwarze, Komment. 3. (Sädf.) StrafPD. von 1855, I. S. 37 ff. — Deutide 
Straf PD. Hauptjählihd SS 72—93.; Defterreid. StrafPO. hauptjädhli SS 116— 138, 
lammt ben nad) er rei gereihten Kommentaren zu beiden Geſetzen (ange. bei d. Art. 
Ablehnung von Geihmworenen). — Geyer in age A A A Handbuch, II. 
S. 231 ff.; Derielbe in ſ. Lehrbuch ded Gem. Deutjchen Strafprz. 88 207, 208. — John, 
trafprogehrecht, $ 34.— v. Bar, Spyftematif bes Deutichen Strafprozehrechtes (Berlin 1878), 
48. — Dodow, Der Rötraffrz. (3. Aufl. 1880), ©. 173 fi. — Ullmann, Das 
efterr. Strafprozeßrecht (Innsbruck 1879), S. 382 f 530 ff., 535. — Binding, Grunbriß 
be3 Gemeinen Deutichen Strafprozeßrechts (1881), $ 80 unb die daſ. angef. a 

lajer. 

Saint-Simon, Claude Henri, & 17. X. 1760 zu Paris, focht unter 

Waſhington in Nordamerika, jpekulirte 1790—1797 mit Graf Redern im National» 
güterverfaufe, wobei er 144000 Franes erwarb, arbeitete dann an einer Rabdifal- 
reform der Geiellichaft, F in dürftigen Berhältniffen 19. V. 1825. Seine Oeuvres 
completes 1865 —69. 

Zit.: Doctrine de St.-Simon, 1823—1830, 1854. — Schiebler, Der St.-Simonidmus, 
Keipz. 1831. — Carové, Ter St.:Simoniämus, Leipz. 1831. — Veit, St.:Simon und der 
St.:Simoniämus, Xeipz. 1834. — Stein, Der Soyialiämus und HKommuniämus, 1842, — 
Villenave, Hist. du StS., Par. 1847. — Hubbard, S., sa vie et ses travaux, Par. 
1857. — Bluntidhli, StaatsWört.B., IX. 510 ff.; Derjelbe in Krit. Ueberfchau IH. 


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Ira 


524 Säfulariiation. 


232 fi. — Walter, Naturrecht, SS 124, 202. — Ahrens, Naturreht, 6. Aufl. 1870, L 
©. 204. — Dühring, Kritiiche Geichichte der Nationalöton. und des Sozialismus, 1871, 
S. 238 Zeihmann. 


Säkulariſation Heißt im Allgemeinen die vom Staate einfeitig vorgenommen 
Aufhebung Kirchlicher Institute und die Einziehung des Vermögens derjelben, um 
das lehtere nach jeinem Gutbefinden zu verwenden. Schon im frühen Meittelalter 
bietet die von Karl Martell oder von feinen Söhnen vorgenommene Einziehung 
eines großen Theiles der Kirchengüter, um diefelben an feine Vaſallen auszuleihen, 
das Beifpiel einer S. Im Reiormationszeitalter trat im Jahre 1525 in Deutic: 
land ein allgemeiner S.entwurf hervor. Indem diejer davon ausging, daß die 
geiftlichen Güter weder für die Religion noch das Reich etwas nüß ſeien, jchlug er 
vor, den geiftlichen Fürſten die Verwaltung ihrer Territorien von Kaiſer und Reiche 
wegen abzunehmen und aus den eingezogenen Gütern den für die kirchlichen Beamten 
nöthigen Unterhalt anzuweiſen, dann aber auch in jedem Kreife eine hohe Schule 
zu errichten. Zur Ausführung diefes Planes fam es nicht. Dagegen wurde in den 
protejtantifchen Territorien das Vermögen der Kapitel und Klöſter theils zu Unter: 
richtszwedten (zur Ausſtattung von Schulen und Univerfitäten), theils zu Ver 
jorgungsanjtalten für gewiſſe berechtigte Klaſſen (3. B. zu adligen Fräuleinftiftern) 
verwendet, theils auch als bonum vacans vom Staate eingezogen. Das Vermögen 
der Bisthümer ſchmolz dagegen allmählih mit den Iandesherrlichen Domänen zus 
jammen, indem Mitglieder der betreffenden Tandesherrlichen Familien zu Admini— 
jtratoren gewählt wurden, bis eine Reihe diejer früheren geiftlichen Fürſtenthümer 
im Weſtfäliſchen Frieden fjäkularifirt, d. h. entweder im weltliche Herzogthümer 
verwandelt oder an proteftantiiche Landesherren zur Entjchädigung gegeben wurde. 
In Frankreich hat im Jahre 1789 die Nationalverfammlung alle geiftlichen Güter 
für Nationaleigentdum erklärt. Nachdem Deutichland im Jahre 1801 durch den 
Frieden von Luneville das linke Rheinufer an Frankreich hatte abtreten müfjen und 
gleichzeitig die dadurch beeinträchtigten weltlichen Fürften auf eine Entſchädigung au: 
den Mitteln des Reiches verwiejen worden waren, hob der Neichsdeputationzhaupt: 
ihluß von 1803 mit jehr geringen Ausnahmen alle reichsunmittelbaren geiftlichen 
Fürſtenthümer und Herrichaften auf und vertheilte ihre Territorien und Beſitzungen 
unter die weltlichen, meiftentheil® proteftantiichen Reichsſtände. Wenn die fatholiiche 
Kirche Schon damald, und nachher, ala auf dem Wiener Kongreß die von dem 
päpjtlichen Gejandten beantragte völlige Heritellung des früheren Zuftandes von der 
Hand gewiejen war, protejtirt hat, jo lag dazu, joweit e& fi um die Landeshoheit 
und landesherrlichen Güter der früheren geiftlichen Fürſtenthümer handelte, nicht die 
mindefte innere Berechtigung vor, da diefe als Staaten fich abjolut unfähig gezeigt 
hatten, die Staatözwede zu erfüllen. Ginfichtlich des eingezogenen eigentlichen Kirchen» 
gutes war allerdings an der Kirche ein Unrecht verübt worden, aber diejes wurde theils 
durch die Verbindung landesherrlicher und kirchlicher Rechte hervorgerufen, theils war 
es der Rüdjchlag gegen die übermäßige Vermehrung des Vermögens in der todten 
Hand. Da jedenfalls formell der Staat das Recht hat, die Güter feiner Unterthanen 
durch Geſetz einzuziehen und der Neichsdeputationshauptichluß durch Faiferliche Ge 
nehmigung Reichsgeſetz geworden ift, jo fann der Gigenthumsübergang an jemen 
Vermögenzftüden nicht angefochten werden und von einem fortdauernden Eigenthum 
der fatholifchen Kirche nicht die Rede jein. Selbitverftändlich gilt das nur von 
folchen Rechten, welche eine vermögensrechtliche Natur haben oder Acceffionen der: 
jelben find, nicht von den rein firchlichen Nechten, welche die früheren Bilchöte ale 
Kandesherren ausgeübt hatten. Ferner ift e8 eine, zwar nicht klagbare, aber doc 
auf der Gerechtigkeit beruhende Verbindlichkeit, daß ein Staat, in deffen Hand ein 
großer Theil von KHirchengut durch ©. gelangt, der durch die letztere betroffenen 
Kirche ausreichende Mittel für ihre religiöfen und Kultuszwecke gewährt. Der 
Reichsdeputationshauptichluß hatte zwar eine jo weitgehende Verpflichtung für die Staaten, 


Sala — Salziteuer, | 525 


denen die ©. zugute gefommen ijt, nicht ausgefprochen, indeffen Haben diefelben bei der 
Wiederaufrichtung der fatholifchen Kirchenverfaffung (f. die Art. Konkordat und 
Girtumffriptionsbullen) jener Forderung der Billigkeit Genüge geleiftet. 
Die neueſten Beifpiele von ©. bieten die 1860 erfolgte Annerion eines Theiles des 
Kirchenftaates und die im Herbſte 1870 vorgenommene Bejegung des übrigen Iheiles 
deflelben durch die Italienifche Regierung, womit der weltlichen Herrichaft des 
Papites ein Ende gemacht worden ift, ferner die in den 1860 von Stalien annef= 
tirten Ländern jtattgehabte Aufhebung des größten Theiles der Klöſter und die Ein- 
jiehung ihrer Güter. — Da jede ©. nur ein durch beftimmte politijche und kirch— 
liche Verhältniſſe bedingter Nothatt des Staates gewejen ift und fein wird, jo kann 
natürlich von der Aufitellung ein für allemal gültiger Borausfegungen, unter denen 
dieielbe ftatthaft ift, nicht die Rede fein. Für die Regel muß vielmehr umgekehrt 
der auch in vielen neueren Verfaffungen (j. d. Art. Kirchengut) ausgeiprochene 
Sat gelten, daß das Gut der Kirche ebenjo wie jedes andere Privateigenthum un— 
verletzlich iſt. 

Lit.: Dove, Art. Sälulariſation, in Derzog 3 Real:Encyflopäbie 14, 177; ſ. auch die 
Schriften über (andeöherrliches Patronatred) zu dem Art. Wutronalscht. (hin 
in 1u®. 


Sala, Erio, & 1821 zu Soliera (Modena), doftorirte 1842, Profeffor zu 
Modena, T 8. XI. 1879. 

Gr ichrieb namentlich: Illustrazione gt r i decemvirali. — Illustr. degli articoli 
221, 229, 244, 254, 268, 1962, 1969, 2003, ‚ 2089 del codice civile vigente e degli 
articoli 1—15 delle, 'stesso codice. — Del — dei buoni studij giuridici in Italia, 
Tor. 1869. — Delle successioni secondo il nuovo codice, Mod. 1867. — Sullo istituto 
della giuria nei giudizi penali e sulla legge relativa 8 giugno 1874, Mod. 1875. — Beis 
träge in ber Rivista von Lucchini. 

git.: Gubernatis, Dizion. biografico, 1880 p. 906. — La Mantia, Storia di Si- 
cilia, Palermo 1874, II. p. 410. Teihmann. 

Salmafiuß, Claudius (Saumaife), 5 1588 zu Semur, ftudirte in Hei— 
delberg, war Advofat in Dijon, ging 1632 nach Leyden, F 1653. 

Schriften: De suburbicariis regionibus, 1619. — De usuris, Lugd. Bat. 1638. — 
De modo usurarum, Lugd. Bat. 1639, — De foenore trapezitico, Lugd. Bat. 1640. — De 
primatu papae, Lugd. Bat. 1645. — De mutuo, ibidem 1645. — Tract. de subscrib. et 
sign. testamentis, ibidem 1648. — Defensio regia pro Carolo I., 1649. — Resp. ad Mil- 


tonem, 1660. 
Bit: — nouv. generale, Par. 1864, Vol. 44 p. 359-364. — Endemann, 


Studien, Roſcher, Nationalötonomit, ©. 191. — Haag — 8. Müller, 
Geichichte ber flafi. Philol. in den Niederlanden, 1869. — Stern, Milton, Leipz. 1879, 
3. Buh ©. 51—88. — Laspeyres, Gedichte ber voltswirthfchaftl. a. b. Niederlande, 


Leipz. 1863 S. 357. eihmann. 
Salpius, Botho Ludw. Wilh. v., ð 31. VII. 1823 zu Sein ſtudirte 


daſelbſt und in Bonn, 1848 Aſſeſſor am Kammergericht, 1849 SKreisrichter in 
Cppeln, 1852 Yuftitiar bei der Regierung in Frankfurt a. O., ging 1853 nad) 
Straljund, wurde 1867 DOApp.Ger. Rath in Gelle, T 2. VI. 1874. 

Schriften: Novation und Delegation, Berl. 1864. — Abhandl. in Goldſchmidts 
Zeitichr. für HR. XIX. — Verhandlungen bes 12. Juriftentages, Bd. I. — Zeitſchr. f. H.R. 


XXI. 348. 
Bit.: Kühne in Verhandlungen des 12, Juriftentages, Bd. I. S. 334—837. 
Zeihmann. 


Salazfteuer it eine auf die VBerzehrung des Salzes in manchen Ländern gelegte 
Steuer. In Deutichland it dieſe Steuer, unter Aufhebung des bis dahin beitanden haben— 
den Salzmonopols, durch die am 8. Mai 1867 unter den Zollvereinsregierungen abge= 
ihloffene Mebereinfunft mit 1. Januar 1868 eingeführt, zugleich aber ein Gingangs- 
wangszoll auf das vom Auslande eingeführte Salz aufgelegt worden. Der Gentner Salz 
wurde Hierdurh mit 6 Mark ©. bzw. Eingangszoll belegt, welch letzterer durch den 
Zolltarif von 1879 für das auf Landwegen und nicht zur See eingehende Salz auf 
6 Mark 40 Pf. erhöht wurde. Unter Salz werden nad Art. 2. Abſ. 3 dieſer 
llebereinfunit außer Siede-, Stein und Seeſalz alle Stoffe verftanden, aus denen 


526 Sambhaber — Sandeus, 


Salz auägeichteden zu werden pflegt. Nacd Art. 5 der Uebereinkunft fann Salz 
unter gewiffen Vorausfegungen und Kontrolen abgabenfrei belaffen werden, und zwar 
auf allgemeine Rechnung bei nachgewiefener Ausfuhr über die Zollgrenze und nach vor: 
heriger Denaturirung (d. h. nach Vermiſchung unter zollamtlicher Kontrole mit 
Mitteln, welche es zum menichlichen Genuffe unbrauchbar machen). Diele De 
naturirung ift verschieden, je nachdem das Salz zu landwirthichaftlichen oder gewerb- 
lichen Zweden beftimmt ift. Ausgeſchloſſen iſt diefe abgabenfreie Denaturirung für 
alle Gewerbe, welche Nahrungs- oder Genußmittel für Menſchen bereiten, ſowie für 
Zabafstabrifate, Mineralwäller und Bäder. Nur Mutterlauge und Soole kann 
zu Bädern und denaturirtes Salz für Eisfeller abgegeben werden. 

Auch für Gegenftände, welche unter zollamtlicher Kontrole eingefalzen und ein 
gepöfelt, jodann aber ausgeführt worden find, fann Salz abgabenfrei verabiolgt 
werden. Auf privative Rechnung eines Staates kann Salz abgabenfrei abgelafien 
werden in den Fällen, wenn der Nachweis der Ausfuhr bei den zur Ausfuhr be 
jtimmten eingejalzenen und eingepöfelten Gegenjtänden nicht erbracht werden fann, 
bei Nothitänden zur Unterftüßung, für Berechtigte von Salznaturalabgaben, zur 
Nachpöfelung von Heringen. Zur Hälfte auf gemeinfchaftliche und Privatrechnung 
eines Staates fann Salz abgabenfrei abgelaffen werden zur Einpöfelung von Heringen. 

Für die Denaturirung des Salzes, welches abgabenfrei belafjen werden fann, 
find beitimmte Mittel vorgefchrieben, deren Miſchung mit dem Salze unter zollamt- 
licher Kontrole erfolgen muß. Diefe Mittel find, je nach dem Zwede der Verwendung 
des denaturirten Salzes, verichieden. 

Zur Kontrole der inländiichen Staats: und Privatjalinen und zur Erhebung 
der Abgabe des dajelbit erzeugten Salzes find auf den Salinen S.ämter errichtet. 

Quellen u. Lit.: Mebereinktunft unter den Deutichen Zollvereinsſtaaten über die Er- 
u. einer Abgabe vom Salz; vom 8. Mai 1867; Schlußprotokoll hierzu. — Geſetz dom 
12. Dftober 1867. — Initruftion für die Staatsfalzwerfe. — Inftruftion für die Salz: 
abgabenerhebung auf den Privatjalinen. — Anleitung zur Erhebung der Salzabgabe für bie 
—— welche ſich nicht auf Salzwerlen befinden von 1867. — Beitimmungen über bie 

efreiung des zu Iandwirthichaftlichen und ah jeans Zweden beftimmten Salzes von ber 
Salzabgabe von 1872. — B. G. Bl. 1867 ©.49. — Appelt, Die Geiehgebung über die Erhebung 
und Sontrolirung der im Deutichen Zollvereine bejtehenden Salzabgaben, Berlin 1870. — 
on. Annalen 1873—1876 u. 1880. — v. Aufſeß, Die Zölle und Steuern bes 

eutichen Reiches, 2. Aufl., 1880. vd. Aufſeß 

Sambhaber, Franz, & 1828, wurde Privatdozent in München, 1863 ord. 
Prof. in Würzburg, T 10. XI. 1871. 

Er ſchrieb: Ueber Staatsverbreden Bayeriſcher Unterthanen gegen auswärtige Staaten, 
Aſchaff. 1858. — Zur Lehre von der Korrealobligation im Röm. und heut. Recht, Erl. 1861. 

Lit: Augsburger Allg. Btg. 1871. — Prantl, Geichichte der Ludmwig-Darimilian: 


Univ., 1872. Teihmann. 
Sanchez, Thomas, & 1551 zu Gordova, Jeſuit, F 19. V. 1610 zu 
Granada. 


Belannt durch De sancto matrim. sacr. disputt. l. III. Antw. 1607, 1614, 1617, 1626, 
1652; Brix. 1624; Genuae 1602, 1619, 1625, 1672; Lugd. 1621, 1637, 1654, 1667, 1668, 
1690, 1759; Matriti 1605; Norimb. 1706; Venet. 1606, 1614, 1693; Viterb. 1737. 

Lit: Schulte, Gefdichte, III.a S. 737. Zeihmann. 


Sande, Joh. van den, & gegen 1578 zu Arnheim, ftudirte in Wittenberg, 
lehrte zu Franeker, wurde 1604 Mitglied der Staaten von Friesland, F 1688. 

Schriften: Tract. de actionum cessione et de prohibit. rerum alienatione, Leorv. 
1633. — Rerum in suprema Frisionum curia judicatarum libri 5, ed. Burger 16683. — 
Comm. de diversis regulis juris. 

Xit : Opera Joan, et Fred. Sande (1577—1617), Antv. 1674, cum add. L. Goris. stud. 
et lab. Christyn, Brux. 1721. — Mohl, I. 326. — Rivier, Introd. hist. 1881, p. 607 

Teihmarn. 

Sandens, Fellinus Maria, 51444 zu Felina (Reggio), Prof. zu Regaio, 

Terrara, Piſa, Auditor rotae, Bischof zu Penna, zu Lucca, 7 1503. J 


Sandhaas — Sanitätspolizei. 527 


Schriften: Commentaria in V libros Decretalium, Venet. 1497; Basil. 1567; Lugd. 
1587. — Consilia, Lugd. 1553. — De regibus Siciliae et Apuliae, Mil. 1495; Hanov. 1601. 

git.: Savigny, VI. 486. — Biogr. nourv. gener. 1864 vol. 43 p. 279. — Schulte, 
Geſchichte, II. 350. Teihmann. 


Sandhaas, Georg, & zu Darmitadt, jtudirte in Gieken, wurde 1849 
Privatdozent, ging 1856 nach Grab, + 2. IV. 1865. 

Schriften: Bemerk. über das Recht ber nächſten Erben bei Verfüg. über das Grunb- 
eigenthum nach älterem Deutichen Recht, 1849. — Germ. Abhandl., Giehen 1852. — Fränk. 
eheliches Güterrecht, Gieß. 1866. — Zur Geſchichte des Wiener MWeichbildrechts, Wien 1863 


(Sigung&berichte XLI. 368). 
git.: de Wal in Nieuwe Bijdragen XV. 1865, 679. Zeihmann. 


Sanitätspolizei ijt derjenige Zweig der Staatäthätigkeit, welcher den Schuß 
der Bürger gegen die Erzeugungsquellen von Krankheit, Siehthum und vorzeitigem 
Abfterben zum Ziele bat. Gleichwie alle jtaatöpolizeiliche Wirkſamkeit findet auch 
diefe ihre Berechtigung und ihre Erfolge nur gegenüber jolchen gemeinjchädlichen 
Einflüffen, deren genügende Abwehr dem einzelnen Bürger entweder überhaupt nicht 
möglich oder doch nicht ohme jtörende Beeinträchtigung der Mitbürger ausführbar 
it. Zur Grfüllung ihrer Aufgabe bedarf die ©. außer den für alle jtaatlichen 
Wirkſamkeitsgebiete unentbehrlichen Rechts: und Berwaltungsorganen, nothwendig 
auch einer techniſch-wiſſenſchaftlichen Beihülfe, welche überall jowol dag 
Bedürfniß eines Eingreifens der öffentlichen Gewalt zu erkennen und zu bemeſſen, 
wie auch die Mittel zu richtigem Eingreifen an die Hand zu geben vermag. 

Jene Aufgabe erjitredte jich im Allgemeinen auf folgende Puntte: 

1) Erforſchung der gemeinschädlichen Krankheitsurſachen, befonders derjenigen, 
welche einer direkten Befämpfung zugänglih find. Als Hülfsmittel jolcher Er— 
torichung dient einestheils die ftaatliche Förderung der hygieiniſchen Wiſſenſchaft, 
durch welche die allgemeise Kenntniß der Natur jener Schädlichkeiten gefördert wird, 
und anderntheils eine geregelte jtatiftische Berichterjtattung über die jeweiligen jani- 
tären Zuftände und Vorgänge innerhalb der Bevölferung. Nur vermittelit einer 
ſolchen fortgeſetzten methodiſchen Berichteritattung und vermittelit Sammlung und 
vergleichender Bearbeitung des gewonnenen Material fünnen über die Quellen des 
phyſiſchen und piychiichen Krankjeins in der Bevölkerung diejenigen Aufichlüffe ge- 
wonnen werden, welche zu jeder tieferen und nachhaltigeren Wirkſamkeit der Sani— 
tätsbehörden eine nothwendige, bis jet noch in vielen Richtungen fehlende Vor— 
bedingung bilden. Ye vorgejchrittener denn auch in den verichiedenen KHulturländern die 
ftaatliche Gejundheitäpflege it, um jo ſorgfältiger ift in denjelben die Gejund- 
heitsjtatiftif ausgebildet, wie beifpieläweije in England, Schweden, Dänemarf, 
Holland, der Schweiz. In Deutichland Fehlen zur Ausbildung einer Gejundheits- 
ftatiftif vor Allem die gejeglichen Grundlagen, durch welche eine regelmäßige Anzeige 
aller anijtedenden Erkrankungsfälle gemeingefährlicher Art, jowie die Eintragung 
der Zodesurjachen bei allen Todesfällen gefichert werden muß. Das Zuftandes 
fommen hierauf bezüglicher gejeßlicher Beitimmungen gilt daher als erjte Forderung 
für eine gedeihliche Entwidelung der S. im Deutichen Reiche. 

2) Betämpfung der gemeinjchädlichen Krankheitsurſachen. Da lebtere auf 
den allerverjchiedenartigjten materiellen und moralischen Gebieten wuchern, jo muß 
fih auch die vorbeugende Thätigfeit der ©. auf die mannigialtigjten Beziehungen 
des gewerblichen, gejellichaftlichen, erziehlichen und häuslichen Lebens eritreden, und 
geräth Dabei unvermeidlich jehr oft in Konflikte mit anderen Intereſſen öffentlicher 
oder privatrechtlicher Art. Ueber die Grenzen, bis zu welchen hier der Staat bei 
feinem Gingreifen im Intereſſe der allgemeinen Gejundheit gehen dürfe, haben die 
Anichauungen nad Zeit und Yand, jowie nach den allgemeinen politiichen Partei— 
grundfäßen jehr gewechjelt, — vom laisser aller des janitären Mancheitertfums bis 
zum abjoluten Bevormundungsiyiten. Doc darf man mit Mohl als anerkannte 


528 Sanitätspolizei. 


Regel annehmen, daß feine Zwangsmaßregeln ftattfinden jollen, wo auch ohne jolche der 
beabfichtigte Zwed erreicht werden kann; daß es nicht ftatthaft ift, zur Theilnahme an 
einer Staatsanjtalt zu zwingen, wenn der durch fie eritrebte Nuten für die freiwillig 
ſich Betheiligenden vollitändig erreicht wird auch ohne Ausdehnung auf die fich feme 
Haltenden, und wenn die Nichtbenügung lediglich zum eigenen Schaden zurechnungs- 
auf Kojten allgemeiner, rechtlicher oder fittlicher Grundſätze erfauft werden, und 
ebenjowenig dürfen um folcher Bortheile willen unverhältnißmäßig belaftende Ans 
iprüche an die Finanzkraft des Staates oder der Gemeinden erhoben werden. 

Unter den Aufgaben des Geiundheitsichußes, welche fich der Thätigkeit des 
Einzelnen und auch der Vereine gänzlich entziehen, fteht voran die Abwehr aller 
vom Nuslande her drohenden gemeinihädlidhen Krankheitsur— 
jachen, ſpeziell der epidemifchen und fontagiöfen Krankheiten. Solange gegenüber 
diejer Klaſſe von Gelundheitsgefahren noch feine internationale Regelung des gemein- 
jamen Verhaltens zu Stande gefommen, bleibt es Pflicht für jede Staatsverwaltung, 
die eigene Bevölkerung durch Abwehrmaßregeln zu ſchützen, auch wenn leßtere nur 
mit erheblichen Benachtheiligungen der Intereffen des Nachbarjtaates ausführbar 
find. MUeberwachung des Waaren- und Perſonenverkehrs an den Yandesgrenzen, 
eventuell Hemmung diejes Verkehrs bezüglich verdächtiger Artifel oder jelbit voll- 
jtändige Unterbrechung alles Perfonen- und Sachenverfehrs an bejonders bedrohten 
Puntten in Fällen dringender Seuchengefahr find Maßregeln, welche bei der heutigen 
Ausdehnung und Bedeutung des zwiichenitaatlichen Verkehrs äußert jcharf in die 
nationalen Wohlitandsintereffen auch des eigenen Yandes einjchneiden, welche aber 
darum nicht minder unabweislich ericheinen, jobald es ſich um Abwehr einer jchweren 
Voltsjeuche handelt, deren Verbreitungsweife durch den perjönlichen oder jachlichen 
Verkehr erwieſen ift. 

Die im Inlande entitehenden janitären Gemeinſchäden beruhen 
theils auf verderblichen jtofflichen Agentien, — ala da find: jchlechte Athemluft 
auf Straßen oder Pläßen oder in öffentlichen Gebäuden, Schulen u. j. w., ver: 
fälichte oder verdorbene Nahrungs: und Genußmittel, qualitativ oder quantitativ 
mangelhaftes Trink- und Nutzwaſſer, giftige Gebrauchsgegenitände, KHinderjpielmaaren, 
Kleidungsitoffe, Tapeten, feuchter oder verunreinigter Wohnboden; — theila au 
verehrten Yebensgewohnheiten, welche mit öffentlichen Einrichtungen zufammenhängen, 
3. B. gefundheitsichädliche Anordnungen im Schulunterrichte oder im Militärdienite, 
— theils auf gewerblichen Arbeitseinflüflen, denen fich der einzelne Arbeiter nıct 
zu entziehen vermag, ohne feinen Yebensunterhalt aufs Spiel zu ſetzen, — theilä 
endlich auf vorhandenen Anjtekungsitoffen, welche entweder nur an den erfrantten 
Perſonen ſelbſt oder auch an deren fachlicher Umgebung haften. 

Das Nähere über die wichtigeren präventiven Einzelaufgaben der ©. vergl. in den 
Artikeln über Impfweſen, Nahrungsmittel (polizeilich), Proftitution, 
Städtereinigung, VBolfsjeuchen u. f. w. : 

3) Nicht blos auf die gejunden, vor Krankheit zu jchühenden, jondern auch auf 
die Pflege und Behandlung der bereits erfranften Bürger hat die jtaat- 
liche Fürforge ſich zu eritreden, und zwar in zwei Nichtungen. Gritens fällt dem 
Staate die Pflicht anheim, für die Ausbildung eines guten und genügend zahlreichen 
Heil- undPBilegeperjonals zu jorgen, da diefe Sorge unmöglich von den einzelnen 
Bürgern übernommen werden fann. Dieje Obliegenheit des Staates bleibt unbe 
rührt von der Trage des Gewerbeprivilegs für Aerzte und für Apotheker; denn 
wenn auch dem Bürger freie Wahl belafjen wird, ob er Gejundheit und Leben 
itaatlich approbirten Aerzten und Apothefern oder Quackſalbern anvertrauen will, io 
muß doch der Staat dafür jorgen, daß die eriteren überall erreichbar find und dah 
ihre Ausbildung und Ausrüftung die möglichite Gewähr bieten für die Zuverläffig 
feit ihrer Leiſtungen. Das Beltehen guter medizinischer und pharmazeutiſche 


Sanitätspolizei. * 529 


Bıldungsanftalten und ausreichender Hebammen: und Kranfenpflegerichulen, ſowie 
die Beobachtung jachgemäßer Vorjchriften bei Prüfung und Approbation der Aerzte, 
Apotheker, Hebammen und Krankenpfleger bildet daher einen wejentlichen Gegenjtand 
der janitätspolizeilichen Fürſorge. 

Zweitens aber liegt dem Staat auch die Sorge dafür ob, daß denjenigen 
Kranken und Siechen, welchen die materiellen Mittel zur privaten Beichaffung und 
Benußung der nöthigen Pflege oder Behandlung fehlen, dieſe durch geeignete all 
gemeine Veranftaltungen gewährt werden: Anjtellung öffentlicher Armen= 
ärzte und Armenfranfenpfleger, Errichtung, Unterhaltung und Beauffichtigung 
guter Öffentlicher ranfenhäufer, Gebäranjtalten, Jrrenanftalten. 

Die Erreichung der verfchiedenen vorgenannten Ziele jeßt ein Jneinander- 
greifen rehtöfundiger, verwaltender und mediziniſch-techniſcher 
Kräfte voraus, deren ebenmäßiges und jtändiges Zuſammenwirken zu fichern feine 
der leichteiten Aufgaben in der jtaatlichen Organifation darjtellt. Bei den Gejchäften 
der Sanitätsbehörden handelt es fich fachlich vorherrichend um jolche Fragen, welche 
die Anwendung medizinischer oder doch naturwiffenichaftlicher Grundſätze auf konkrete 
Verhältniffe erfordern, und eine ſolche Anwendung kann jelbjtverjtändlich nur 
technischen Sachverständigen aufgetragen werden. Andererjeits haben die genannten 
Behörden bei ihren Verwaltungshandlungen zugleich die Beachtung aller in Mit- 
betracht fommenden Geſetze, die Beichränfung der technifchen Ziele und Wünſche 
durch die nothiwendigen rechtlichen und wirthichaftlichen Rüdfichten, ſowie endlich 
auch die Feithaltung der allgemeinen Geſchäfts- und Verwaltungsformen zu be= 
obachten, und dieſen Erforderniffen vermögen erfahrungsgemäß Techniker nur in 
jeltenen Ausnahmsfällen zu genügen; in der Regel gehört dazu vielmehr ein Or— 
ganismus don Beamten, welche mit den allgemeinen Grundjäßen des Rechts und 
der Verwaltung durch Theorie und Griahrung vertraut find. Im Prinzip anzu— 
ftreben iſt daher überall eine jolche Organijation, welche den ärztlichen Geſundheits— 
beamten einen größtmöglichen berathenden Einfluß auf alle fachliche Entichei- 
dungen technijcher Art, ſowie auch die Ausführung technifcher Unterfuchungen, 
Aufficht3- und Berichtsarbeiten zuweiſt, dagegen die Verfügungen felbjt und die 
verwaltungsmäßige Ausführung derjelben den allgemeinen Polizeiorganen beläßt. 
Ausnahmen von diejer Regel werden allerdings nicht zu umgehen jein, namentlich 
zur Zeit herrichender Epidemien, da alsdann eine rajche und wirkſame Thätigfeit 
der Sanitätsbehörden oft nur unter Bekleidung des örtlichen technifchen Beamten 
mit jelbjtändigen erefutiven Beiugniffen möglich ift. Die ala Norm feitzuhaltende 
dienstliche Anlehnung des ärztlichen Gefundheitsbeamten an die allgemeinen 
Polizeiorgane darf indeß nicht hindern, dem erjteren eine technijch jelbjtändige und 
jelbitverantwortliche Stellung einzuräumen, und zu diefem Zwede ift es erforderlich, 
daß zwiſchen den jachverjtändigen Inſtanzen von Phyfiftus oder Kreisarzt bis zur 
technischen. Gentralftelle beim Minifterium eine direfte Beziehung bejtehe.. Ohne 
einen ſolchen Rüdhalt, deffen Verträglichkeit mit den allgemeinen Formen des Ver— 
waltungädienftes troß der von dv. Mohl geäußerten Bedenken das Beijpiel Englands 
beweift, unterliegt die Berüdfichtigung und Verwerthung des örtlichen technifchen Bei- 
raths gänzlich der Willkür des örtlichen Berwaltungsbeamten, und e8 ergeben fich daraus 
die Mebelftände, an denen namentlich in Preußen die Örtliche Sanitätspolizei unter der 
disfretionären Autorität der Yandräthe gegenüber den KHreisphyfifern zu leiden hat. 

Die ftaatliche Kontrole der örtlichen S. centralifirt fih am jachgemäßeiten 
in der Minifterialftelle für die allgemeine Polizeiverwaltung, aljo dem Minifterium 
bzw. Reichsamt des Innern. Hier begegnen fich die meiften und wichtigiten der— 

jenigen Spezialtefforts, mit welchen die Sanitätsverwaltung ſich in Einklang zu 

erhaltern hat. In den meiften Staaten unterfteht denn auch das gefammte öffent- 

liche Gefundheitsweſen dem Minifter des Innern, welchem ein oder mehrere technifche 
v. HolMenborff, Enc. II. Rechtslexitkon III. 3. Aufl. . 34 


530 Sanitätspolizei. 


Näthe ala Referenten zugeordnet find. Wenn in Preußen die Medizinalangelegen: 
heiten einfchließlich der ©. feit 1817 theilweife und jeit 1849 volljtändig dem 
Minifterium der geiftlichen und Unterrichtsangelegenheiten zugetheilt find, jo bildet 
diefe in Europa einzig dajtehende Einrichtung eine Anomalie, welcher von jachver: 
ftändigen Stimmen einige Mitichuld an der mangelhaften Geitaltung der jtaatlichen 
Gejundheitäpflege in Preußen zugeichrieben wird. 

Dem verantwortlichen politischen Leiter der ftaatlichen Sanitätäpflege muß außer 
den medizinischen Referenten, welche die laufenden Aufſichtsgeſchäfte beiorgen, aud 
eine berathende wijjenichaitlihe Gentralinjitanz zur Seite und zu 
Berfügung ftehen, welche über alle prinzipielle, zu Zweifel Anlaß gebende Fragen 
ein maßgebendes Votum abzugeben und dadurch jowol den leitenden Verfügungen 
des Minifters, wie den ausführenden Mahregeln der Provinziale und Ortöbehörden 
die erforderliche Gleichmäßigfeit und die öffentliche Gewähr einer zuverläffigen witien: 
ichaftlichen Begründung zu verleihen geeignet ift. ine ſolche Gewähr kann nie 
ein einzelner Sachverständiger allein bieten, theild wegen der großen Vlannigfaltigteit 
der wiflenichaftlichen Spezialfenntniffe, welche bei prinzipiellen Enticheidungen über 
janitäre Einzelfragen in Konkurrenz zu treten haben, theils auch wegen der Getaht 
perjönlicher Voreingenommenheiten, von denen jelbjt die tüchtigjten Gelehrten umd 
Techniker fich nicht immer frei zu erhalten vermögen. Man hat daher, wie in den meilten 
ausländiichen, jo auch in allen größeren Deutichen Staaten Kollegien aus den hewor— 
ragenditen Vertretern der hygieiniſchen Wiſſenſchaft und Praris gebildet — in den füd- 
deutichen Staaten unter Öinzuziehung gewählter Vertreter des ärztlichen Standes —, 
welchen der Minister die ihm vorfommenden zweifelhaften Fälle zur Begutachtung 
vorlegt; in Preußen fungirt als jolches Htollegium die wiſſenſchaftliche Depu— 
tation für das Medizinalweien, in Bayern der Obermedizinalaus: 
ſchuß, in Sachſen das Yandesmedizinalkollegium u. ſ. w. Das jeit 1876 errichtete 
„KRaijerliche Gejundheitsamt“ follte feiner urfprünglichen Beitimmung gemäh 
eine analoge, die Deutiche Neichsregierung berathende Körperichaft bilden, ift aber jchon 
vermöge der ihm vom Reichskanzler ertheilten büreaufratiichen Organifation, welct 
das alleinige Gutachten des Direktors auch in technischen und wifjenjchaftlichen Fragen 
maßgebend macht, außer Stande feiner Beitimmung gerecht zu werden. 

Ein hinderndes Moment für die Entwidelung namentlich der Örtlichen ©. 
in den meisten Deutjchen Staaten, und insbefondere in Preußen, liegt in der ſehr 
unzureichenden Bejoldung der ärztlichen Beamten, welche für ihren Lebenäunter: 
halt fast ausjchließlich auf die Ausübung ärztlicher Praris angewiejen find, ſo daß 
ihnen wenig Zeit und Kraft bleibt, die ihnen anvertrauten öffentlichen Intereſſen 
mit Fleiß und Nachdrud wahrzunehmen, viel weniger noch fich zu diefem Zwecke 
auf der Höhe der fortjchreitenden Wiflenjchaft zu erhalten. Als praftizirende Aerzte 
gerathen diejelben auch in eine gewifle Abhängigkeit von Klientenrüdfichten, welche 
die im öffentlichen Dienjte erforderliche Unparteilichfeit und Energie leicht in fragt 
jtellen. Endlich kommt dazu, daß die Medizinalbeamten in faſt allen Deutichen 
Staaten den Schwerpunft ihrer Amtswirfjamkeit in den VBerrichtungen der gericht: 
lichen Medizin angewiejen erhalten und daher auch ihre Aufmerkſamkeit vielmehr 
diefem Zweige der öffentlichen Medizin zuwenden, ala der S. So lange diek 
Uebelftände bejtehen, fann von ärztlichen Gejfundheitsbeamten in dem Sinne, mit 
folche 3. B. in England beftehen, in Deutichland nicht die Rede fein, und erft nad) 


einer zeitgemäßen, auch auf dieſe wichtige frage fich erftredenden allgemeinen | 
Medizinalreform, wie fie in jachveritändigen Kreifen einjtimmig als Bedürfniß 


empfunden wird, fann eine gedeihliche Entwidelung des Sanitätöwejen® in Deutic- 
land erwartet werden. 


git.: Nicolai, Grundriß der S., Berlin 1835. — NR. v. Mohl, Die Polizeiwiiienichat 
nad) den Grundſätzen des Rechtsſtaats, Tübingen 1866. — Schürmaper, Fe 


Ä 


mediziniichen Polizei, Erlangen 1848. — Pappenheim, Handbud der S. Berlin 1868. — | 








Sarpi — Sabary. 531 


RPHobrecht, Ueber öffentliche —— e und die Bildung eines Centralamts für 
oͤffentliche Geſundheitspflege im Staate, Stettin 1868. — Sachs, Berjuc eines Geſetzentwurfs 
zur Reorganifation des Medizinalweſens in Preußen, in der Deutihen B.J.Schrift f. öffentl. 
Gejundheitäpflege, Bb. XI. Heft 4. Finkelnburg. 


Sarpi, Paolo, & 14. VIII. 1552 zu Venedig, trat mit 14 Jahren in den 
Sewitenorden, mit 26 Jahren Provinzial» Generalprofurator, entjchiedener Feind 
päpitlicher Omnipotenz, Gegner der Jejuiten, wiederholt Mordverjuchen ausgeſetzt, 
f 15. I. 1623. 

Säriften: Hist. del Consilio Tridentino di Pietro Soave Polano, London 1619, 
ſehr oft, zuleßt Florenz 1858 und Prato 1871, auch lat., franz., beutfch und engl. — Hist. 
dell’origine, forma, leggi ed uso dell’ufficio dell’inquisizione nella citt& e dominio di 
Venezia 1638, Venet. 1687. — Tratt. delle materie eficiarie, Mirand. 1683; lat. Jen. 
1681; deutſch Nürnb. 1688, Frankf. Leipz. 1786, Bamb. Würzb. 1804. — De jure asylorum, 
Lugd. Bat. 1622, Venet. 1677, 1683; franz. von Amelot de la Houssaye, Amst. 
1685. — Les droits des souverains defendus contre les excommunications et les interdits 
des papes, La Haye 1721, Amst. Lips. 1744. — Opinione del Padre Paolo Servita come 
debba governarsi la Republica Veneziana per havere il perpetuo dominio (1615), Venet. 
1681; franz. von Abbe de Marsy (Le Prince de Fra-Paolo), Berl. 1751. — Lettere, 
Firenze 1863. — Opere, Nap. 1790. 


git.: Griselini, Memorie, Losana 1760. — Bianchi-Giovini, Biogr. Basil. 
1847; franz. Brüffel 1868. — Münd, Fra P. S., Sarlär. 1838. — Schulte, Geichichte, 
IIL.a 465. — Janet, II. 8°—95. — Campbell, La vita di Fra P. S., Torino 1875. 


Teichmann. 


Sarti, Maurus, 5 1709, Camaldulenſerabt, Kanzler des Ordens, 1755 


Abt in Rom. 
Er ſchrieb auf Veranlaffung Benedikt's XIV. das nad) feinem Tode ( — von Fattorini 
vollendete Werk: De claris Archigymn. Bononiensis Profess. a saec. XI. usque ad saec. 


XIV., Bonon. 1769, 1772, 
it.: Savigny, II. 62—7l. Zeihmann. 
Saunders, Sir Edmund, aus niedrigitem Stande, wurde 1683 Chief 
Justice wegen Gejinnungstüchtigkeit, T noch in demjelben Jahre. Werthvoll jeine 
Reports 1686. Der „Zerenz der Reporters“ (nach Lord Mansfield's Ausdrud). 
® git.: Cates, Dictionary 1867, p. 995. — Foss, Biographia juridica, 1870 p. 585. 
Zeihmann. 
Saurin, Right Hon. William, hervorragender Iriſcher Rechtsgelehrter, 
& 1767, zur Bar 1790 berufen, 1807—1822 Attorney-General for Ireland, 7 1840. 
Zit.: Cates, Dictionary 1867, p. 995. Zeihmann. 
Sauter, Jojeph Anton, 51742 zu Riedlingen a. d. Donau, wurde 1801 
Profeffor des KHirchenrechts in Freiburg, 1807 Hofrath, T 6. IV. 1817. Verdient 
durch jeine Fundamenta jur. eccl. cathol. 1805—1816. 
Zit.: Schreiber, Univ. Freiburg, III. 136. — Schulte, Geidhichte, III. a S. 264. 
Zeihmann. 
Savarefe, Roberto, 5 1805 zu Neapel, Lehrte dafelbft jeit 1838, wurde 
1849 verbannt, 1861 zurüdgetehrt Advokat, T 24. V. 1875. Giner der größten 
Italienischen Rechtögelehrten der Neuzeit. Seine Secritti forensi raccolti e pubbl. 
per cura del Prof. F. Persico e preceduti da uno studio per l’avv. E. Cenni, 
Nap. 1876. Zeihmann. 


Savary, Jacques, 5 1622 zu Douai, nahm lebendigjten Antheil an den 
Reformen im Handelswejen und der Ordonnance von 1673 (von Pujfort bezeichnet 
ala Code Savary), F 1690 zu Paris. Sein Sohn Jacques S. des Brüslons 
ift Verfaſſer eines dietionnaire universel de commerce. 


Schriften: Le parfait negociant, Par. 1675, 1676, 1713, 1800. — Pareres ou avis et 
conseils sur les plus importantes matieres du commerce, Par. 1688 (fpäter im Parfait 


negociant). , 
Zit.: Goldſchmidt, Handbud dee HMR., 2. ug 1874, 3b. J. 31, 4, 42. — 
Rodi&re, Les — jurisconsultes, 1874, p. 353. — Behrend, Lehrb. des H.R., Berlin 
4, 25. 


Leipz. 1880, ©. 24, Teihmann. 
34 * 


532 Sabigniy — Schadenserſatz. 


Savigny, Friedrich Carl von, & 21. II. 1779 zu Frankfurt a. M., 
Sohn des Geh. Regierungsrathes Chr. E. X. v. S., ftudirte in Marburg als 
Schüler von Weis, dann in Göttingen und Marburg, befuchte Yeipzig, Halle, Jena, 
prom. 1800 in Marburg, habil. fich daf., wurde 1802 außerordentl. Prof., ging auf 
wiflenichaftliche Reifen, 1808 Prof. in Yandehut, 1810 — 42 in Berlin, Minifter 
der Gefehrevifion bis März 1848, T 25. X. 1861. Der hauptiächlichite Vertreter 
der hilt. Schule. 

ründete mit Eih horn und Göſchen bie Zeitichr. für geichichtl. Rechtswiſſenſchaft, 
Berlin 1815 f. Die Berliner Yur. Gefellihaft begründete eine von den Akad. in Berlin, 
Wien und München zu vergebende Savigny-Stiftung zur Förderung rechtshiſt. Stubien. 

S nen: Diss. de concursu delictorum formali, Marb. 1800 (®erm. Schriften 4 
Nr. X? . ©. 74—169). — Recht bed Befikes, 1803, 7. Aufl. von Rudorff, Wien 1865 
(Trait& de la — par Staedtler, 1866, ital. von Conticini, Fir. 1839; engl. 
von Perry, Lond. 1848). — Bom Beruf unferer Zeit für Gejeßgebung und Rechiswiſſen J 

eidelb. 1814, 3. Aufl. 1840 und neue Aufl. 1878. — Geſchichte bes Röm. Rechts im Mittelalter, 

eibelb. 1815— 1831, 2. Aufl. 1834—1851 (franz. von Guenoux, Par. 1839—1852; ital. 
von Bollati, Torino 1854—1857). — Syſtem bed heutigen Römiichen Rechts, Berl. 1840 
bi 1849 (Traite de droit rom. par Guenoux, 1851—1855); ipan. von Mesia y Poley 
Madrid 1879; engl. (8. Band) von Guttrie, Edinb. 1869. — Obligationenredht ala Thri 
bed heutigen Röm. Rechts, Berl. 1851, 1858 (Dr. des obl. par Girardin et Jozon, 
1863 u. 1873). — Berm. Schriften, Leipz. 1850. 

Lit.: Ihering in Jahrb. für Dogm. V. Nr. 7. — Arndts in Krit. B.I.Schr. IV. 
Rr. 1. me in der Deutichen Gerichtäztg. 1861 Nr. 0. — Schmid in be 
—— .J.Schr. Nr. 97 (Ian. 1862). — v. Stinßing, F. €. v. S. Beitr. zu feiner 
Würdigung, Berl. 1862 (in den Preuß. Jahrb. IX.) — Ruborff, %. C. v. S., Erinner. 
an fein Zeben und Wirken, 1862 (Zeitichr. für — —— II. S. 1-69. — Buren, 
F. €. v. ©., Amfterd. 1862. — Pernice, C. F. v. ©., Stahl, Berlin 1862, S. 43-66. — 
v. Bethbmann-Hollmeg, Erinn. an F. €. v. ©. als Redtslehrer, Staatsmann u. Chriſt, 
Weimar 1867 (Zeitichr. für Rechtägeichichte VL). — Scheurl, ** Worte über F. €. v. &,, 
1860. — Laboulaye, Essai sur la vie et les doctrines de F. Ch. de S., Par. 1842. — 
Feſtſchriften und freftreden von Bruns (Berlin 1879), v. Stintzing (Wendungen umd 
Wandlungen der Deutichen Rechtäwifienichaft, Bonn 1879 und Georg Tanners Briefe an 
Bonif. und Bafıl. Amerbach 1554— 1567, Bonn 1879), Brinz (Münden 1879), Ezuhlarz 
(Prag 1879), Maaßen (Wien 1879), Enneccerus (Marb. 1879), Puntſchart (Imnöbr. 
1879), Mandry, Fritting, Bremer, Runge, Schmidt (Das Hauskind in mancipio, Leif}. 
1879), Modberman (Groningen 1879), Cohn und Levy (in Nieuwe Bijdragen voor 
Regtägeleerbheid en ag Sram ort 1879 BI. 129 fi, Bl. 1-69), Hölber (Im Neuen 
Reich 1879 ©. 353 Fi), Windicheid; Fyeitgedicht von Esmarch (Berl. 1879). — Schulte, 
Geichichte, IIL.b ©. 188. — Revue generale Il. 514—523. — Mignet, Nouveaux dloges 
historiques, Par. 1877, p. 1-57. — in Kit. BJ.Schr. XXI. 473—4%; . 
161—180. — Stobbe, Rechtsquellen, II. 437. — Bluntſchli, Die neueren NRechtöichulen 
ber Deutichen Juriften, 2. Aufl. 1862. — Schulin, Drei atad. Vorträge, Bajel 1881, 
©. 25—53. Zeihmann. 


Scaccia, Sigismund, war Advofat zu Rom um 1618. 
Gr ichrieb: Tract. de judiciis (1603), Francof. 1618, 1669; Colon. 1738. — De 


appellationibus, Francof. 1604; Colon. 1717. — De sententia et re judicata, (rener. 
I id. = — de commerciis et cambio, Rom. 1618; Colon. 1619, ed. 3; Genev. 1664. — 
pera 1738. 


git.: Golbihmidt, Handbudy bee H.R., 2. Aufl. 1874, I. 37. — de Wal, Beitt, 
81. — Roditre, Les grands jurisconsultes, 1874, p. 351. — Endemann, Stubien, 1. 
54, 56, 75, 171, 265. . eihmann. 


Schadenserjag iſt Vergütung der Ginbuße, welche Jemand durch ein be 
ftimmtes Greigniß in jeinem Vermögen erlitten bat. ©. hat mithin Vermögens 
ichaden zur Vorausjegung. Zwar wird von Entichädigung auch im Sinne des Ent 
gelts für pſychiſchen Schaden geiprochen (3.B. Schmerzenägeld). Allein Niemand it 
der Meinung, daß auf diefe Entichädigung jchlechthin die Grundjäge vom Griak für 
wirthichaitlichen Schaden Anwendung leiden (3. B. bezüglich der Vererblichkeit 
RStrafPO. 8 444 Abi. 4). Deshalb empfiehlt ſich, hier die Ausdrüde ©. und 
Entichädigung zu vermeiden und dafür „Senugthuung” („veluti solatium“ 1. 3 D. de 
litig. 44, 6; „Ergetzung“ PGO. Karl’s V. Art. 20) zu jegen, um ſchon durch die 


Schadenserjag. 533 


Bezeichnung Hervorzuheben, daß diefe Anſprüche auf dem Grenzgebiet zwischen Strafe 
und ©. liegen und eigenthümlichen Regeln folgen (f. den Art. Buße). 

1. Der vermögensrechtliche Schaden ift immer Minderung des Vermögens. 
Eine Minderung liegt nicht nur dann vor, wenn durch das jchädigende Greignif 
dem Vermögen des Gefchädigten ein Werth entzogen wird, welcher ihm jchon an— 
gehörte (damnum emergens, pofitiver Schaden, wirklicher Schaden, HGB. 
Art. 283), jondern auch wenn dadurch eine Mehrung entgeht, welche ohne daffelbe 
dem Bermögen zugefommen wäre (lucrum cessans, entgangener Gewinn). 
Zum pofitiven Schaden zählt auch die Belaftung des Vermögens mit Berpflich- 
tungen (amisisse dicemur, quod ... erogare cogimur, 1. 33 pr. D. ad leg. Aq. 9, 2). 

Bei dem Anjchlag des Schadens wird entweder der Werth zu Grunde gelegt, 
welchen ein Gegenjtand für Jedermann, oder derjenige, welchen er für den zu Ent: 
jhädigenden hat oder hatte. Jenes ift der gemeine Werth (gemeine Handels— 
werth, HGB. Art. 396), der wirkliche Tauſchwerth, vera rei aestimatio, dieſes das 
Intereſſe (f. diefen Art.). Hiermit deckt fich nicht völlig die Unterfcheidung von 
unmittelbarem und mittelbarem Schaden. Unter jenem verjteht man die 
nachtheiligen Folgen, welche das jchädigende Ereigniß nach dem gewöhnlichen Lauf 
der Dinge unter allgemeinen Berhältniffen verurfacht, im Gegenſatz zu dem durch 
bejondere, regelmäßig nicht vorhandene Umjtände vermittelten (Preuß. ER. I. 6 
SS 2, 3; Zürch. privatr. GB. $ 997). 

2. Das regelmäßige Erfaßmittel ift Geld, aber ein anderer Gegenjtand 
grundjäglich nicht ausgeichlofjen (3. B. 1. 9 pr. locati 19, 2; Preuß. ER. II. 15 
88 17—22; Preuß. Erpropr.=Gej. 8 7). Die Geldentichädigung beſteht meiftens 
in einer Kapitalſumme, zuweilen in einer Rente (3. B. Haftpflichtgefeg $ 7). 

3. Die S.pflicht kann ihren Rechtsgrund haben a) in der abfichtlichen oder 
fahrläffigen Verjchuldung des Schadens, jei es durch Delikt oder durch Verlegung 
einer bejtehenden obligatorischen Verbindlichkeit, b) im Verzug, c) in der Ueber— 
bindung durch Rechtsgeichäit, Vertrag (3. B. cautio damni infecti, Verficherungs- 
vertrag) oder durch lehtwillige Verfügung, d) in befonderer Rechtsvorichrift ohne Ver: 
ihulden des Erfagpflichtigen (3. B. Schiffer und Gaftwirthe, j. den Art. Receptum, 
die Befrachter eines Schiffes in Folge Schiffswuris, der Erwerber aus Zwangs— 
enteignung, der Betriebsunternehmer in Folge des Haftpflichtgejehes). 

Der ©. bildet zyweilen den urfprünglichen Gegenjtand der obligatio (bei De— 
lift, Erpropriation, Initpfichtgefeh u. ſ. w.). Anderwärts tritt er in eine beftehende 
obligatio ein (namentlich bei Verlegung obligatorischer Verbindlichkeiten), und zwar 
entweder an Stelle der bisher gejchuldeten Yeiftung oder neben diefelbe (wegen nicht 
rechtzeitiger oder jonft unvollfommener Erfüllung, aber auch aus anderen Gründen, 
3. B. Schiffswurf). 

4. Jeder S.anfpruch ift bedingt durch den Nachweis des urſächlichen Zu: 
fammenbhangs zwiichen dem Greigniß, für welches der Belangte einzuftehen hat, 
und dem Nachtheil, deſſen Bergütung gefordert wird. Der eingetretene Schaden 
muß die folge der von dem Belangten zu vertretenden Handlung, Unterlaffung oder 
ſonſtigen Begebenbheit fein. — Beweis kann Schwierigkeiten unterliegen, inſonder— 
heit wenn mittelbarer Schaden und ganz beſonders wenn mittelbarer Gewinnentgang 
in Frage fteht. Hieran fcheitert nicht jelten der Erſatzanſpruch. Dieſes thatläch- 
liche Ergebniß darf aber nicht zur Aufftellung des Saßes verleiten, daß mittelbarer 
Gewinnentgang überhaupt nicht oder nur in bejchränfter Beziehung (Ortsintereffe) 
Griaggegenitand jei. Im Gemeinen Recht hat dieſer Sat keinen Boden. Das 
Preuß. ER. (I. 6 8 6) läßt die Berüdfichtigung desjenigen nicht im „gewöhnlichen 
Lauf der Dinge und der Gejchäfte des bürgerlichen Xebens“ begründeten Gewinns 
zu, welcer „vermöge jchon getroffener DVeranjtaltungen und Borfehrungen ver— 
nünftigerweife erwartet werden konnte‘. Zur Annahme des urjächlichen Zuſammen— 
hangs wird nicht abjolute Gewißheit gefordert. Es genügt der Nachweis, daß ohne 


534 Schadenseriat. 


das jchädigende Greigniß nach regelmäßigem Verlauf unter den obwaltenden Um— 
jtänden der Schaden nicht zugegangen wäre, und in Betreff eines Gewinne, daß der 
Griaganiprechende die nachgewiejene Gelegenheit zum Gewinn nicht ungenüßt laſſen 
fonnte, ohne die Sorgfalt eines umfichtigen Mannes zu verlegen (Mommien). 
Die Möglichkeit der Vereitelung durch außerordentliche Greigniffe bleibt außer Be 
rüdfichtigung. Auseinandergehende GEnticheidungen in den Quellen (3. B. $ 10 
Inst. ad leg. Aq. 4, 3 und l. 63 pr. D. ad leg. Falc. 35, 2) bezeugen nicht einen 
Widerſpruch innerhalb der Römischen Jurisprudenz, jondern weifen darauf bin, daß 
bei der Prüfung des urfächlichen Zufammenhangs der Zwed des Anſchlags ſowie 
der Grund der Erjagpflicht maßgebende Momente bilden und daß da, wo die Erſatz— 

pflicht auf Verfchuldung beruht, auch der Grad der Verichuldung einen Einfluß übt. 

Der Beweis des urfächlichen Zufammenhangs wird weniger jtreng beurtheilt, wenn 

dem Belangten ein rechtswidriges Verhalten zur Laft fällt, und wird leichter als 
erbracht angejehen gegenüber demjenigen, welcher abfichtlic) oder in grober fahr: 

läffigfeit zum Nachteil eines Andern gehandelt hat, ala wenn der Belangte nur 
wegen geringer Fahrläſſigkeit verantwortlich ift. Das Gleichgewicht zwijchen Schuld 

und Strafe, ein zunächſt das Strafrecht beherrichendes Geſetz, macht fich auch in der 
civilrechtlichen Verpflichtung zum ©. geltend (Jhering). Auf denfelben Grunde 

gedanten führt Dernburg die freilich zu weit getriebene und zu formaliftiiche 

Unterfcheidung des Preuß. UR. (I. 6 SS 10— 15) zurüd, wonach bei Vorſatz und 
grobem Berfehen der „geſammte Schaden und der entgangene Gewinn‘, bei mäßigem 
Verſehen der pofitive Schaden und der nach allgemeinen Verhältniffen erzielbare 
Gewinn, bei geringem Verſehen fogar nur der unmittelbare Schaden und fein Ge 

winnentgang zu vergüten ift. (Vgl. auch Oeſterr. BGB. $ 1324; Zürcher GB. 

ss 997, 1000, 1004.) Der „Nothitand in Schädenprozeſſen“ ift gehoben, jeit die 

Würdigung aller Umstände bezüglich der Trage, ob und in welchem Umfang ein 
Schaden verurfacht wurde, der freien richterlichen Weberzeugung überantwortet it 
(für ganz Deutichland zunächſt durch einzelne Reichsgeſetze wie Urheberrechts-, Haft- 
pflicht-, Markenſchutz⸗, Mufterfchug-, Patentgefeg und dann allgemein durch REFO. 
$ 260). Für den Beweis der Höhe des zugefügten Schadens fam das Römiſche 
Recht dem Beweispflichtigen durch das jog. juramentum in — —— oder 
Würderungseid zu Hülfe; ähnlich die Preuß. Allg. Ger.O. I 22 88 9 ff. Die 
RCPO. $ 260 hat den Gid ala Recht des Beweispflichtigen,, —*5 dagegen in 
das Ermeſſen des Gerichts geſtellt, dem Beweisführer die erdliche Schätzung des 
Schadens aufzuerlegen, jedoch unter Feſtſetzung einer unüberfchreitbaren Grenze. Eine 
vertragsmäßige Beltimmung, daß der Richter bei der Schadensermittelung auf gewiſſe 
Beweismittel, 3. B. Zeugen und Sachverftändige mit Ausschluß des Eides beichränft 
jein joll (wie zuweilen in VBerlicherungsverträgen vorkommt), entbehrt, weil gegen 
die Vorjchriiten des öffentlichen Rechts über die freie Würdigung der Thatirage ver: 
jtoßend, der verbindlichen Kraft. 

5. Neben dem GErforderniß des urfächlichen Zujammenhangs den S.aniprud 
noch davon abhängig zu machen, daß der Schaden die nothwendige und une 
mittelbare Folge des zu vertretenden Greigniffes je, hat weder die Natur der 
Sache noch das pofitive Recht für ſich. Ebenſowenig, Sur der Griolg vom Sans 
deinden vorausgeſehen werden fonnte (vgl. jedoch Code civil art. 1149— 1151). 
Die Erjagpflicht umfaßt auch denjenigen Nachtheil, welchen die verpflichtende That— 
fache nur durch das Mitwirken ungewöhnlicher Umftände verurjacht hat (3. B. wegen 
nichterfichtlicher Zerbrechlichkeit der Sache, wegen anderweitigen Verſprechens der 
geichuldeten Sache unter Konventionalitrafe). Indeſſen bemerfe man: a) Die Ha* 
tung aus Delikten ift auch durch die Beziehung des Erfolges auf den Willen dei 
Handelnden (Zurechnung zur Schuld) bedingt. Deshalb kann troß Vorhandenieins 
des urfächlichen Zufammenhangs zwiſchen Handlung und Grfolg die Erſatzpflicht 
wegen Mangels des jubjektiven Erforderniſſes wegfallen. Injofern wird zuweilen 


Schadenserſatz. | 535 


die Vorausſehbarkeit des Erfolgs von rechtlichem Belang (1. 31 D. ad leg. Aq. 9, 2; 
Preuß. ER. I. 6 $ 4). b) Eine Erjagforderung findet nicht jtatt, wenn der ein— 
getretene Erfolg zugleich in einer Schuld des Bejchädigten feinen Grund Hat (jog. 
Kulpafompenjation); doch hebt fich nicht rechtswidrige Abficht gegen Fahrläffigkeit 
(1.9$ 4 D. ad leg. Aq. 9, 2). Zur Schuld kann auch werden die Unterlafjung der 
Thätigkeit behuis Abwendung der nachtheiligen Wirkung einer fremden Handlung 
oder Unterlaffung, nicht blos in Vertragäverhältniffen (l. 218 3 A.E.V. 19,1; 
Sächſ. BGB. 8 688), jondern auch bei außerfontraktlichen Verlegungen, nur iſt bier 
das Maß der zum Zweck der Abwendung zuzumuthenden Thätigfeit weniger be= 
ftimmt und den Umſtänden des einzelnen Falls zu entnehmen (bejtritten, dafür 
ROHG., Entſch. XXIII. ©. 373). Der Grundjaß findet ſich auch im Preuß. Allg. 
LR., jedoch mit „unerträglicher” Kaſuiſtik (I. 6 $$ 18— 21). Eigenthümlich Oeſterr. 
BGB. S 1304. 

6. In Bertragsverhältnifien kann unter Umftänden der Erjaß fremden 
Schadens gefordert werden, dann nämlich, wenn der Fordernde den Vertrag mit 
dem Schädiger im Intereſſe des beichädigten Dritten geichloffen hat und wegen der 
veriprochenen Leiſtung dem Letztern, gleichviel in welchem Umfang, wenn auch nur 
auf Anipruchsabtretung haftbar ift (beftritten, dafür ROHG., Entih. XVII. ©. 78). 

7. Innerhalb der jet gezeichneten allgemeinen Grenzen jtellt fich der Um— 
fang der S.pflicht, ob pofitiver Schaden oder auch entgangener Gewinn, ob 
unmittelbarer oder auch mittelbarer Schaden, verichieden nach dem Grund der Griaß- 
pflicht. Hierbei macht fich der Gegenjat geltend zwiſchen Verlegungen in und außer 
DVertragsverhältniffen, zwijchen der Haftung in Folge Verfchuldung und ohne Ber: 
ihuldung, und bei der eriteren ift auch da Maß der Verichuldung, dolus und 
culpa lata gegenüber der culpa levis zuweilen von Bedeutung. 

Negel bildet nach Gemeinem Recht und dem HGB. (Art. 283) die Vergütung 
jedes erweislichen Schadens, de jog. vollen Intereſſes. (Sächſ. BGB. SS 124, 
125, 685 ff.; Code civil art. 1149, 1382, 1383.) Anders das Preuß. IR. I. 2 
ss 116, 117: „der gemeine Werth‘, jedoch mit vielen Ausnahmen (3.8. I. 5 
ss 285— 291), Oeſterr. BGB. 88 1323, 1324. 

Wo indeß auch das volle Intereffe zu erjegen ift, da wird doch a) nur Ver— 
mögensſchaden berüdjichtigt, fein Affektionswertd (womit nicht zu verwechjeln 
das Affektionsintereffe ala obligatorisches Bindemittel, . den Art. Intereſſe); 
b) nicht unehrenhaiter Gewinn, nicht Gewinn vom Gewinn, jofern jener 
3* vom Erſatzpflichtigen gezogen iſt (1.8, 1.15 D. de usur. 22, 1; Sächſ. BGB. 

$ 125 a. €.) und wenigjtens nach Römifchem Recht (bejtritten) nicht übermäßiger 

Es (aber auch im Fall von dolus und culpa lata? 1.45 $S 1 A.E.V. 19, 1). 
c) ‚Entiprang aus demjelben Greignifje für den Betroffenen Nachtheil und Ge: 
winn, jo mindert fich der S. um den Betrag des lebteren, ſofern nicht das Ereig— 
niß für den Gewinn nur Anjtoß, nicht Grund war oder fofern nicht auf den Ge- 
mwinn der Empfänger ohnehin rechtlichen Anſpruch beſaß (nicht unbeitritten, dafür 
ROHGS., Entih. XXII. ©. 184; anders das Preuß. Erpropr.Gej. $ 10). d) Um 
leberforderungen vorzubeugen, hat das Röm. Recht für den Erjaß wegen Berlegung 
einer obligatorischen Verbindlichkeit eine Grenze aufgejtellt: die zuzubilligende Summe 
ioll das Doppelte des allgemeinen Verkehrswerths des Schuldgegen- 
ſtandes nicht überſteigen. Dagegen HGB. Art. 283 (Entſch. des ROHG. XIX. 
©. 304). Auch dem Preuß. Recht it der Sat als allgemeine Norm fremd, aber 
Anklänge daran fehlen nicht (I. 5 $ 301; I. 6 $ 95; I. 11 $ 545). 

8. Bei der Grmittelung des ©. tommt auch in —— welcher Ort und 
welche Zeit zu Grunde zu legen iſt, und zwar ſowol für die Frage, ob und in 
welchem Umfang Schaden vorliegt, als für die Schätzung des Gegenſtands. Doc 
find die hierüber geltenden Rechtsjäße nicht einfach genug, um in wenige Worte ge- 
faßt zu werden. Nur jo viel fann Erwähnung finden. In der Behandlung treten 


536 Schäfereigerechtigteit. 


auch hier aus einander die Geſchäfts- und die Deliftsobligationen. Hier tritt die 
Begehung, dort mehr die Erfüllung als maßgebendes Moment in den Vordergrund, 
jedoch nicht ohne mannigfache Abweichung. 

9. Die S.anfprüche, welche nicht aus WVertragsverhältniffen fich entwideln, 
unterliegen zum Theil einer kurzen Verjährung (3. B. actio doli, Urheberrechtä- 
geieß $ 33; Neichshaftpflichtgejeß S 8 u. a.; Preuß. EUR. I. 6 $ 54). 

Lit nen: Beiträge zum Oblig. Recht, Zweite 9 3 pe ‚Zur vom intereffe, 
1855. — Ebhnfelb Die Lehre vom Intereſſe, 1865. berin Schuldmoment 
im Römiichen Aioateet (1867). Derſelbe in feinen Jahrb a vi e S. 9 Yi (1879). — 
Die Panbdektenlehrb. von Brinz, 2. Aufl. Bd. IL SS 265—270, 281, 281 a, b, cd; 
v. Vangerow, $ 571; Windſcheid, 9 —E 258. „fir Preuß. Recht: Sörfter, S$ 89, 
90, 106; Dernburg, I. 88 74-79. — Für Branzdf. echt: Sehen: SS 308, 445. 

Fo Regeläberger. 


Schäfereigerechtigkeit (Thl. J. S. 501) bedeutet im weiteren Sinne des 
Wortes die Befugniß, eine Schafheerde mit einem Schäfer (jog. Schäferei) zu halten. 
Diefe Befugniß wird von einigen Schriftitellern auch ala Schäfereirecht bezeichnet. 
Die ©. im engeren Sinne enthält noch das weitere Recht, die Schafe auf der 
ganzen Feldmark oder auf einzelnen fremden Grundjtüden weiden zu lafjen. 

Die eritere Befugniß veriteht fih an und für fich für den Grundbefißer von 
ſelbſt. Doch kann diejelbe ſowol durch Gejeg als Servitut bejeitigt oder beichränft 
werden. Durch Partikularrechte ift die S. nicht jelten der Gutäherrichaft als aus— 
jchließliches Necht eingeräumt, anderwärts dafür Grundbefig von beitimmter Größe 
gefordert worden, endlich findet fich auch die Beitimmung, daß zwar jämmtliche 
Gemeindeglieder Schafe halten dürfen, aber feinen Hirten, vielmehr ihre Schafe 
dem qutäherrlichen Hirten anvertrauen müſſen. Im lebteren Falle jchreibt man 
dem Schäfereiberechtigten ein Schäferei-Stabredht zu. Durch eine Servitut wird 
der Gigenthümer des dienenden Grunditüäds in dem Fall am Halten einer Schafheerde 
verhindert, wenn derſelbe bei einer jeinem Grundjtüd auferlegten Weidejervitut aus- 
drüdlich von der Mithude ausgeſchloſſen iſt. 

Die ©. im engeren Sinne jeßt einen bejonderen Erwerbsgrund voraus. Dieter 
fann namentlich Vertrag, unvordenfliche Verjährung, Geſetz ſein. Nach dem Titel, 
auf dem das Recht überhaupt beruht, richtet fich auch der Umfang deflelben. Das 
gilt hinfichtlich der Grundftüde, welche der Hütung jeitens des Berechtigten unter: 
liegen, binfichtlich der Zahl der Schafe, welche diejer unterhalten darf, und hinficht- 
lich des Umſtandes, ob die ©. eine ausjchließliche ift oder nicht. Iſt die ©. eine 
ausschließliche, jo darf außer dem Berechtigten Niemand auf dem MWeiderevier Schafe 
hüten laſſen. Iſt diefelbe dagegen feine ausschließliche, Jo fünnen auch die übrigen 
Dorfbewohner Schafe auf die Weide bringen. Je nachdem der Berechtigte nur eine 
beitimmte Zahl Schafe auf die Weide treiben darf, oder darin unbeſchränkt iſt, 
unterjcheidet man gemeſſene und ungemefjene S. Bei der erfteren werden die Läm— 
mer, jo lange fie ſaugen, nicht mitgezählt (f. Preuß. Allg. ER. Thl. I. Tit. 22 
$ 98, Deiterr. BGB. $ 500), auf Grund partikularrechtlicher Beitimmungen oder 
von DOrtögebräuchen mitunter ſogar ein ganzes Jahr lang und jelbit bis zur eriten 
Schur (Bayer. ER. Thl. I. C. 8 $ 13 N. 2). Bei der ungemefjenen S. ıft, wie 
bei der Weidegerechtigfeit überhaupt, der Berechtigte befugt, jo viele Schafe auf die 
Weide zu treiben, ala er mit dem auf jeinem Gute gewonnenen Futter während des 
Winters erhalten fann (Deiterr. BGB. 500). Allein diejes jog. Durchwinterungs- 
prinzip ift partifularrechtlich bei ausschließlicher Schäfereiberechtigung Einer Perſon 
nicht immer feitgehalten, jondern nur da für maßgebend erflärt worden, wo die 
Schäfereiberegitigung mehreren in bderjelben Feldmark gebührt (Preuß. Allg. ER. 
a.a. D. 88 150 ff., vgl. SS 152 ff). Im Mebrigen find für die ©. die für die 
Weidegerechtigkeit überhaupt "geltenden Grundſätze maßgebend. 


Schändung. 537 


Gigb. u. Lit.: Preuß. me Th. I. Zit. 22 SS 146—169. re ie and: 
buch dei Landwirthihaftsreits ( ann. 1807), 88 310-315. — Scholz III, Dad Schäferei- 


recht, Braunſchw. 1837. — Büff, Das Schäfereirecht, Gafjel 1863. — Steimader, Braunf * 
Privatrecht, $ 198. — Reyf her, Gem. und Württemb. Privatrecht, II. $ 299. — Stob 
Privatrecht, II. S. 201 fi. — Seuffert’ 83 Archiv XVI. Nr. 196, 197. Lewis. 


Schändung. Doltrin und Gejehgebung verjtehen darunter den außerehelichen 
Berichlaf mit einer unmündigen oder geiltesfranfen Frauensperſon oder mit einer 
jolhen, die fich ohne Zuthun des Thäters im Zuftande der Wehr- oder Bewußt- 
lofigleit befindet, die unfreimillige Schwächung, stuprum non voluntarium nec 
violentum. Die Gejegbücher für Braunfchweig, Hannover, Dejterreich nennen 
diejes Werbrechen, im Unterſchiede von der Nothzucht und Unzucht, S. Es kommt 
darauf an, ob der Zuftand der Bewußtlofigfeit oder Willenlofigfeit vorgefunden 
oder von dem Thäter herbeigeführt wurde, um den Beiichlaf begehen zu können. 
Zwei Fälle (RStrafGB. S 176): gewaltjame Vornahme ungzüchtiger Handlungen 
an einer Frauensperſon und Mißbrauch einer willenlofen, bewußtlojen, geiſtes— 
franten Frauensperſon zum außerebelichen Beifchlafe. Erſter Fall, in Abficht auf 
Beiſchlaf gejett, geht in verfuchte Nothzucht über. Die Strafgejegnovelle von 1876 
bat das Grforderniß eines Antrages geitrichen in Uebereinſtimmung mit $ 191 des 
Deiterr. Strafgejeßentwuris von 1874, diefes Verbrechen heißt, im Unterjchiede von 
der Nothzucht und Unzucht, S. Von einer Strafverfolgung der ©. ijt nicht die Rede, 
wenn der Thäter Grund zur Annahme hatte, daß der an einer Schlafenden, Trun— 
fenen unternommene außereheliche Beiſchlaf nicht ihrem Willen entgegen jet und die 
Zuftimmung nachher wirklich erfolgt ift. Anders verhält es fi) mit den Unmün— 
digen und Geiftesfranten, die rechtlich feine gültige Einwilligung geben können und 
deren noch nicht zur Reife gediehene oder franfhaft gehemmte Widerſtandskraft gegen 
Verfuchungen zu ungzüchtigen Sandlungen jelbjt gegen ihr Verlangen im Intereſſe 
der gejchlechtlichen Sittlichkeit durch das Geſetz geichüßt wird. Nicht blos der Ge- 
ichlechtsehre wegen, auch um der Abjtumpfung des Schamgefühles und der phyfiichen 
Nachtheile willen wirft das Straigefeg dem Gejchlechtsverfehre mit den genannten 
Perfonen entgegen, von der Erwägung geleitet und durch moraljtatiftiiche Daten 
darin beitärkt, daß durch ©. die Moralität wie die Freiheit verlegt und die Geſund— 
beit nicht jelten untergraben werde. 

Mit Zuchthaus bis zu zwanzig Jahren bedrohte daher Preußen denjenigen, der 
eine in einem willenlofen Zuftande befindliche Perjon zu einer auf Berriedigung des 
Gejchlechtötriebes gerichteten unzüchtigen Handlung mißbraucht, mit Perjonen unter 
vierzehn Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt oder diejelben zur Verübung oder 
Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet. Weniger vag bezeichneten die Straf: 
geiege für Sachſen, Dejfterreich, Braunjchweig, Bayern u. a. den Thatbeitand diejes 
Verbrechens, zumal der Mißbrauch zum außerehelichen Beifchlaf und nicht blos 
willenlofer oder bewußtlofer, jondern auch wehrlojer Frauensperſonen als Gegen- 
ftände des Verbrechens bezeichnet werden. Bei dem Mißbrauche unmündiger Per: 
jonen zu gejchlechtlichen Zweden begründet die Qualität der Geichändeten nicht 
weniger wie bei erwachjenen jyrauensperjonen einen wejentlichen Strafänderungs- 
grund. Hit das der Gejchlechtäreite naheitehende Mädchen bereits jo unglüdlich, der 
Proftitution verfallen zu fein, dann darf es zwar der Geſchlechtsgier nicht ſtraflos 
preisgegeben werden, allein die Strafbarfeit des Thäters ift eine ungleich geringere, 
als die des Verführers eines unfchuldigen Mädchens und läßt fich daher die an— 
gedrohte Zuchthausftrafe nicht in allen Fällen rechtfertigen. Gegenitand des Ver— 
brechens fann auch eine Perſon üblen Leumundes und männlichen Geichlechtes jein. 
Es fommt weder auf die Beilchlaisfähigkeit noch auf die geichlechtliche Reinheit an, 
immer aber auf das Willen des Thäters von dem im Gelege vorausgejegten Zu— 
ftande der Wehr: oder Bewußtlofigkeit, der Unmiündigfeit, oder der Geiſteskrankheit. 
Unrichtig ift es, den Umſtand als gleichgültig anzufehen, ob der Thäter den wehr— 


538 Shard — Schatullgut. 


(ofen Zuſtand vorfäßlich herbeigeführt habe. Die geichändete Perfon muß ftch ohne 
Zuthun des Thäters im Zuftande der Willenlofigfeit oder der Wehrlofigkeit befunden 
haben. Hatte derielbe Gründe zur Annahme, dab die geichlechtlich mißbrauchte 
Perion die Mündigfeit Schon überichritten oder nicht nur das Alter des erlaubten 
GSeichlechtsumganges , jondern auch das reife Verftändniß für die Bedeutung des 
Beiichlais habe, jo beiand er fich in einem die Zurechnung des Verbrechens aus- 
ichließenden Jrrthume. Bis zu 10 Jahren beitrait das RStrafGB. 8 176, wer eine 
in einem willenlofen oder bewußtlofen Zuftande befindliche oder geiſteskranke Frauens— 
perfon außerehelich jchwächt. 

Sadjen jtrafte den außerehelichen Beifchlaf mit Perfonen in wehr- oder be 
wußtlojem Zujtande mit Arbeitshaus oder Zuchthaus bis zu vier Jahren. Hat 
aber der Verbrecher die Gemißbrauchte zuvor in diefer Abficht auf argliftige Weile 
in einen Zuſtand verjeßt, im welchem fie feinen Yüften nicht zu widerftehen ver 
mochte, fo fand zwei bis achtjährige Zuchthausitrafe ftatt. Yebteren Fall behandelt 
Defterreich ala Nothzucht. Der Deiterr. Entwurf von 1867 bedrohte das Verbrechen 
der ©., wenn es an einem noch nicht zwölf Jahre alten Mädchen oder an einem 
noch nicht vierzehn Jahre alten Knaben begangen wird, wie Nothzucht, wenn es 
an einer ohne Zuthun des Ihäters im Zujtande der Willens» oder MWehrlofigfeit 
befindlichen Perfon verübt wird, mit Zuchthaus bis zu vier Jahren und letteres in 
der Regel nur auf Verlangen der verlegten Perſon; wenn aber dadurch ſchwere 
Nachtheile veruriacht worden, von Amtswegen. 

Gigb.: Deutiches EtrafGR. $ 176 3. 2, 178. — Sachſen Art. 182, 353. — Bayern 
Art. 206. — Defterr. Straf®B. 8 128. — Braumfchweig $ s 174. — Hamb. $ 148. — Defterr. 
Entwurf von I $ 192, von 1870 $ 161. 

git.: G. J. Fr. Meister, Principia juris crim., edit. II, $ 295. — Allein, ®einl. 
Recht, 5 407. — v. Grolmann, Grumbiäße ber Kriminalrehtawiflenichaft, $ 239; Der⸗ 
Denn Begriff ber Schänbung, — (Wien 1860) Nr. 46. — v. Wächter, Abhandl., 

1835 ©. 300-310. Hälichner, Syſtem, III. — Schühe, 335. — Sammlung ftraf: 
—2 Gntideidungen von Adler, Krall, v. Walther, Wien rg uü orff, 

a erg. 


Chard, Simon, & 1535 zu Neu-Haldensleben, ging nad Italien zur 
Durchforſchung von Bibliotheken, eine Zeit lang in Baſel, 1566 Beiſitzer des Kammer: 
a in Speier, Pral; araf, T 28. VI. 1573. 

Schriften: Auäg. d. Eustathios, Basil. 1561. — De imperiali jurisdictione, auctoritate 
et praeeminentia imperii atque juribus regni synt. tractt., Basil. 1566. — German. rerum 
quatuor celebriores vetustioresque Chronographi, Fef. 1566. — Historicum opus, Basil. 
1578 (Schardius redivivus, Gissae 1673). — Lexicon juridicum, Basil. 1582, ed. Kamp- 
ua Ten Colon. 1593. 

: Schirmer, Schardii rn 7, Regim. 1864. — v. Stinking, Geſchichte ber 
Deutithen Rechtswiſſenſchaft — I. 238, 206 504, 505, 508-512, 518, 662, 68. — 
Schulte, Geſchichte, III.b ©. 2 Teihmann. 


Scha ut (von Scatull, Schachtel) bezeichnet dasjenige Vermögen, vor 
nehmlich Grundbefißvermögen, deſſen Ginfünfte unmittelbar zur fürftlichen Ver— 
fügung ftehen und deſſen Subſtanz unabhängig von den für Domänen geltenden 
Regeln entweder nach den Grundiägen der hausgefeglich fideikommiſſariſchen Erb— 
folge oder durch freie Verfügung des fürftlichen Gigenthümers vererbt wird. Die 
Rechtaverhältniffe der Schatullgüter ergeben ſich ſomit aus der begriffsmäßigen 
Trennung von Staatsgut und fürftlichem Familiengut; ihre Ordnung gehört theils 
ins Staatsrecht, joweit nämlich in Frage fömmt: was zu den Domänen zu rechnen 
it, theil® in das Privatfürjtenrecht und in die Hausgeſetze, joweit nämlich, als die 
Erbfolge und die Verwaltung der Schatullgüter in Betracht foınmen. In Preußen 
ward durch Verordnung vom 13. Auguft 1713 der Unterjchied zwiichen Domänen 
und liegenden Schatullgütern aufgehoben und beide für unveräußerlich erklärt, je 
daß hier die fronfideifommiflariiche Qualität der lebteren zu präfumiren it. Da: 
neben können aber immer noch Güter zu völlig freier Verfügung des erſten Erwer— 


Schauſtellungen. 539 


bers vorbehalten bleiben. Nach dem Preuß. ER. (II. 14 $ 14) iſt beſtimmt: „Sat 
derjenige Yandesherr, welcher ein jolcher eriter Erwerber war, über unbewegliche, 
von ihm erworbene Sachen weder unter LZebendigen, noch von Todeswegen verfügt, 
jo find diejelben für einverleibt in die Domänen des Staates anzufehen.“ Der: 
ihieden davon: die Sächſ. Verfaffungsurfunde von 1831 $ 21, und die hausgeſetz— 
lichen Beitimmungen anderer regierender Häufer, in denen der politiich = jtaatörecht- 
(ihe Gedanke nicht fo jcharf formulirt ift, wie in Preußen. 

$it.: Hofmann, De patrimonio principis privato, quod die Chatouille vocant, 
1727. — Rivinus, De bonis principis patrimonialibus, 1737. — Fiſcher, Lehrbegriff des 
Gameral»: und Polizeirechts, 11. 479 ff. — v. Rönne, Staatöredht (3. Aufl.), IL, II. 6, 584 


(N. 7. — Heffter, Sonberrechte der fouver. und der med. Häufer Deutichlands, 1871, 
©. 177 ff. v. Holkendorff. 


Schauftellungen, öiientliche. Die ©. bilden eine Gattung der Luſtbar— 
feiten (f. diefen Art.) im weiteren Sinne. Bon den eigentlichen Yuftbarfeiten 
untercheiden fie fich aber dadurch, daß, während bei leßteren eine gleichmäßige Mit— 
wirfung ſämmtlicher Theilnehmer jtattfindet, die S. von beitimmten Darftellern 
einem Publitum von Zufchauern oder Zuhörern dargeboten werden. Auf den Be— 
griff der ©. ift es an fich ohne Einfluß, ob der Darfteller mit der Darbietung fich 
berufsmäßig oder außerhalb feines eigentlichen Lebensberufs (ala Dilettant) be= 
ihäftigt, ob die Darftellung öffentlich oder vor einem geichloffenen Kreiſe, entgelt= 
lid oder ohne Entgelt und erjternjalls für Erwerbs- oder ſonſtige (Wohlthätigkeits-, 
Rojtendedungs- u. j. w.) Zwede erfolgt, jowie ob diejelbe ein höheres Intereſſe der 
Künſt oder Wiſſenſchaft zu befriedigen geeignet ift oder nicht. Vom Standpuntte 
der Sitten» und Yuruspolizei, jowie der Aufrechthaltung der öffentlichen Ruhe er— 
heiichen aber diejenigen ©. eine befondere rechtliche Regelung, welche öffentlich dar— 
geboten werden und vorwiegend auf die Befriedigung des bloßen Unterhaltungs— 
bedürfnifies berechnet find. Hier namentlich gilt es, jowol die Zahl der ©. in 
angemefjenen Schranfen zu halten, als Beritöße gegen die öffentliche Sittlichkeit 
thunlichſt zu verhüten. Dies ift auch der Standpunkt des geltenden Rechts. 

A. In Deutichland bedarf: I. nach Reichsrecht: a) wer auf Straßen 
oder jonft im Umherziehen oder an einem Orte vorübergehend und ohne Bes 
gründung eines jtehenden Gewerbes öffentlich Mufif aufführen, ©., theatraliiche Bor- 
ftellungen oder jonjtige Luſtbarkeiten (ſ. diefen Art.) öffentlich darbieten 
will, ohne daß ein höheres Intereſſe der Kunſt oder Wiſſenſchaft dabei obwaltet, 
außer den übrigen Erforderniffen, der vorhergehenden Grlaubniß durch die Behörde 
des Orts, an welchem die Leiſtung beabfichtigt wird (RGew.D. $ 59 Ab. 1). Eine 
gleiche Grlaubniß iſt aber auch für diejenigen erforderlich, welche derartige Leiſtungen 
an dem Orte ihrer (ftehenden) gewerblichen Niederlafjung auf den Straßen 
darbieten wollen (RGew.D.$ 42; Preuß. Anweifung vom 4. Sept. 1869 815; Sächſ. 
Austührungsverordnung vom 16. Sept. 1869 $ 27). Ueber die Grtheilung diejer 
Grlaubniß enticheidet die Behörde nach freiem Ermeſſen; thatjächlich findet für ein— 
zelne Klaffen von ©. (3. B. Jahrmarktsmufif) in größeren Städten prinzipiell Ver— 
iagung statt. Beſtrafung des Betriebs ohne Erlaubniß geſchieht nach Landesrecht 
(Jacobi, Gewerbegeießgebung, ©. 95). Ferner ift b) für Schaufpielunter- 
nehmer zum Betriebe ihres Gewerbes (auch wenn daflelbe ein ftehendes ift und 
fünftlerifche Yeiftungen dargeboten werden), eine allgemeine perfönliche Erlaubniß der 
nach den landesrechtlichen Vorſchriften zuftändigen Behörde (Preußen: Regierungs- 
präfident; Bayern: Diftriftsverwaltungsbehörde) erforderlich. Diefelbe ift zu ver- 
jagen, wenn die Behörde auf Grund von Thatfachen die Ueberzeugung gewinnt, daß 
der Nachiuchende die zu dem beabfichtigten Gewerbebetriebe erforderliche Zuverläffig- 
feit, in&bejondere in fittlicher, artiftiicher und finanzieller Hinficht nicht befit (Reichs— 
geieg vom 15. Juli 1880). Die Erlaubniß ift eine perfönliche, hat aber Kraft für 
den ganzen Geltungsbereich der RGew.O. (Preuß. Verfügung vom 24. Nov. 1871, 


540 Schauftellungen. 


Min.«“Bl. f. d. inner. Verw. ©. 345; Badifche Verordnung vom 26. Dez. 1871 
$ 13; abweichend die Auffaflung der Bayer. und Sächſ. Praris). Für den Beginn 
des Unternehmens fann die genehmigende Behörde eine Präflufivfrift ſetzen; auch erlifcht 
die Grlaubniß nach dreijähriger Einftellung des Unternehmens ohne erhaltene Friſtung 
($ 49). Schaufpielunternehmer, welche die Erlaubniß nicht befigen, find nach $ 147,1 
jtrafbar. ferner benöthigen c) diejenigen, welche außerhalb ihres Wohnortes ohne 
Begründung einer gewerblichen Niederlajjung, gewerbliche oder künſt— 
leriiche Xeiftungen oder ©., bei welchen ein höheres wifjenichaftliches oder Kunſt— 
intereffe nicht obwaltet, feilbieten wollen, eines Legitimationsjcheines, 
welcher, wenn der Gewerbebetrieb auf öffentlihe Mufifaufführungen, theatraliſche 
Voritellungen, ©. oder Tonftige Luſtbarkeiten (f. diefen Art.) gerichtet ift, ver: 
jagt wird, jobald der, den Verhältniſſen des Verwaltungsbezirtes der höheren Ber: 
waltungsbehörde entiprechenden Anzahl von Perſonen Yegitimationsjcheine ertheilt 
find. Umherziehenden Schaufpielergeiellichatten wird der Yegitimationsfchein nur 
dann ertheilt, wenn der Unternehmer die zu b) gedachte allgemeine Erlaubniß be 
fit. (Meber die Trage, wenn bei Leiſtungen umberziehender Theatertruppen ein 
höheres KHunftintereffe anzunehmen ift, j. Erf. des Preuß. Obertribunals vom 
15. Oft. 1878, Juſtizmin⸗Bl. 1879 ©. 195.) Der Yegitimationsichein für den 
Betrieb der vorbezeichneten Gewerbe gewährt die Berugniß zum Gewerbebetriebe in 
einem anderen ala dem Bezirke derjenigen höheren Verwwaltungsbehörde, welche ihn 
ausgeftellt hat, nur dann, wenn er auf den anderen Bezirt von der höheren Ver: 
waltungsbehörde des letteren ausgedehnt it; diefe Ausdehnung wird verjagt, jobald 
für die, den Verhältnifien des Bezirks entiprechende Anzahl von Perfonen Yegitima= 
tionsscheine bereits ausgeftellt oder ausgedehnt find (KGew. O. 88 59 und 60). — 
Ausländer unterliegen in allen vorbezeichneten Richtungen denjelben Anforderungen, 
wie Deutjche (Bekanntmachung des Reichafanzlers vom 7. März 1877, Gentralbl. 
©. 142), haben aber überdies fein Recht auf Zulaffung zum Gewerbebetriebe im 
Umberziehen (RGew.D.$ 58). — II. Der landesrechtlichen Regelung verbleibt: 
a) Die Ertheilung von Vorſchriften für die nicht gewerbömäßige Dar: 
bietung von ©., inäbefondere die Theateraufführungen durch Liebhaber. Pal. 
fönigl. Sächſ. Minifterial- Verordnung vom 8. Nov. 1872 (Fiſcher's Zeitichr. ?. 
Praris und Gejeßgebung Bd. I. S. 124: Privatgejellichaften, welche zu ihrem Ver: 
gnügen oder zu einem wohlthätigen Zwede, aber nicht des Erwerbs wegen, thea= 
tralische Vorſtellungen aufführen wollen, dürfen Gintrittsgeld nur mit Grlaubniß 
der Ortöobrigkeit erheben). b) Die Normirung von Öffentlichen ©. in Gaſt— 
und Schantwirthichafiten. „Die Gait- und Schankwirthſchaftskonzeſſion 
fchließt die Erlaubniß zur Veranſtaltung mufifalifcher und deflamatoriicher Vorträge 
nicht in fich. Die Polizeibehörde ift berechtigt und verpflichtet, Wirthichaften, in 
denen jolche Lujtbarkeiten dem Publifum geboten werden, einer jtrengen polizeilichen 
Aufficht zu unterwerfen und unfittliche Borjtellungen und Vorträge zu inhibiren, 
behufs deſſen auch die zur Aufführung oder zum Bortrage bejtimmten Gegenitände 
fich vorher anzeigen bzw. vorlegen zu laſſen.“ (Preuß. Dlinifterialverf. vom 30. März 
1879 gegen die jog. Tingeltangel, Minifterialblatt }. d. inn. Verw. S. 149.) Ent: 
iprechende Polizeiverordnungen der einzelnen Oberpräfidien bzw. der Regierungen und 
Zanddrofteien haben in diejer Beziehung in Preußen neuerdings die PVeranftaltung 
oder Duldung von ©. (theatraliichen, deflamatorifchen, mufifaliichen Aufführungen 
und Vorträgen, pantomimifchen, plaftiichen und afrobatischen Vorjtellungen) in Gait- 
und Schanklokalen (einjchließlich der Zelte und Buden bei Volksfeſten) an orte 
polizeiliche Erlaubniß gebunden, zu deren Ginholung der Wirth (auch wenn er die 
perfönliche Erlaubniß als Schaufpielunternehmer jchon beſitzt) verbunden ift; Zerte 
bzw. Beichreibungen find dem Gefuche beizufügen. Die Erlaubniß kann be- 
dingungsweiſe ertheilt jowie aus ſitten- und ortöpolizeilichen Rüdfichten zurüd: 
genommen oder verweigert werden. Typus: Diüffeldorfer Polizeiverordnung vom | 


| Got] 


Scheel. 541 


25. Januar 1879, dergl. für Brandenburg vom 11. Dez. 1879; Bayern: Polizei- 
StrafGB. Art. 32; Baden: PolizeiStrafGB. $ 63. c) Die Ausübung der allge= 
meinen polizeilichen Aufficht über alle ©., inäbefondere vom fittenpolizei= 
lihen Gejihtspunfte, ſowol gegenüber den einer Erlaubniß bedürfenden und 
mit Grlaubniß veriehenen Unternehmern (vgl. beſonders Medlenburg » Schwerin’iches 
Publifandum vom 27. Sept. 1869 $ 9) und Wirthen (f. voritehend unter b), ala 
gegenüber den Ausübenden (gegen unjchidliche, irreligiöfe u. ſ. w. Darftellung, desgl. 
Grtemporiren u. ſ. w.), 3. B. durch Unterfagung einzelner Vorftellungen (Hirth's 
Annalen 1876 ©. 79), Verbot der Theilnahme von Schulfindern, der S. während 
der geichloffenen Zeiten u. j. w. 

B. In Dejterreich wird das Gew.R. auf die Unternehmungen öffentlicher 
Beluftigungen und ©. aller Art mit Recht von vornherein nicht eritredt (Kund— 
machungspatent zur Gew.O. vom 20. Dez. 1859, Art. V), da hier im MWefentlichen 
fittenpoligeiliche Rüdfichten maßgeben. Für das Bühnenweſen gilt die jog. Theater- 
ordnung (Min.-Verordnung vom 25. Nov. 1850), welche eine perjönliche behörd— 
liche Grlaubniß zum Betriebe des Schaufpielunternehmer-Gewerbes, eine Konzeifio- 
nirung der Theaterlofalität und eine Genehmigung der politischen Landesſtelle zur 
eriten Daritellung eines jeden Bühnenjtüdes (lebtere Genehmigung ift, jobald fie für 
Gine Bühne eines Kronlandes ertheilt ward, innerhalb des leßteren für Aufführungen 
anderer Bühnen nicht weiter nöthig; $ 4) fordert, aber auch ſoweit letztere ertheilt 
it, der Sicherheitäbehörde das Recht vorbehält, aus dringenden Rüdfichten die Auf- 
führung ganz oder theilweife zu unterfagen. Auch für berumziehende Schaufpieler, 
Seiltänzer, Gymnaſtiker und Befiter von Schaugegenjtänden aller Art, jowie für 
wandernde Muſikanten, Drehorgelipieler, Harfeniften und Sänger ift behördliche 
Genehmigung zur Ausübung des Gewerbes erforderlich, bzw. außerdem Vorlegung 
der betreffenden Schauftüde an die Behörde geordnet (Defrete vom 6. Januar 1836 
und 25. Nov. 1820, Miniit.-Erlaß vom 25. Nov. 1856). Singipielhallen unter: 
liegen im MWejentlichen den Vorfchriften der Theaterordnung (Sienbacher, Dejterr. 
PolizeiſStrafR., ©. 73). 

C. In Frankreich ift nach dem faiferlichen Dekrete vom 6. Januar 1864 
bet Begründung eines neuen Theaters Anzeige an das Minifterium und an den 
Präfeften zu machen. Beſonders würdige Bühnen jollen aus Staats- oder Ge— 
meindemitteln Unterjtüßung empfangen. Den Theaterunternehmern ift die Verpflichtung 
aufgelegt, allen Vorſchriften Hinfichtlich der öffentlichen Sicherheit, Gefundheit und 
Ordnung nachzufommen. Auch ſoll eine befondere Prüfung der aufzuführenden 
Iheaterjtüde jtattfinden und die Aufführungserlaubniß aus Gründen der öffentlichen 
Ordnung wieder zurüdgezogen werden dürfen. Das Dekret vom 30. Sept 1870 hat die 
Prüfungskommiſſion für dramatijche Werke bejeitigt.. Marionetten, cafes chantants, 
jowie andere Produktionen ähnlicher Art find von behördlicher Genehmigung abhängig. 

Auch in Italien gilt das Lizenzprinzip für ©. (Geſetz vom 20. März 1865, 
A. Art. 32 ff.) unter Wahrung der Repreſſivbefugniſſe der Polizei (vgl. über die 
einichlägigen Normen Garelli, Diritto amministrativo, S. 173 Nr. 1). England: 
Iheateracte 6 u. 7 Viet. cap. 68 (Xigenzprinzip, Genfur). N 

eutholb. 


Sceel, Anton Wilhelm, 5 28. XII. 1799 in Stavanger in Norivegen, 
wurde 1816 Xieutenant und war 1818—19 mit den Dänifchen Truppen in Frank— 
reich. 1821 Student, 1826 Garnifonsauditeur in Kopenhagen, 1831 wirfl. Afleffor, 
1836 Profeſſor der Rechte an der Univerfität zu Kopenhagen und Aſſeſſor Conſiſtorii, 
1846 Generalauditeur des Landmilitäretats und Deputirter des Generalkommiſſariats— 
foffegium, 1851 —54 Juftizminifter der Minifterien Bluhme und Örfted, 1854— 71 
wieder Generalauditeur, 1855 mit den anderen Mitgliedern des Minifteriums Or: 
ted dor dem Reichägericht belangt, 1856 jedoch freigefprochen, F ala Geheimkonferenz— 
ath 30. IV. 1879. 


542 Shend — Schenkung. 


Schriften: Om Tilbageholdelsesretten efter de danske Love med nogle forudskikkede 
Bemzsrkninger om tinglige Sikkerhedsrettigheder i Almindelighed, Kbh. 1839. — Person- 
og Familie-Ret efter den danske Lovgivning 1—2, 1859—1860 (1. Theil, 2. Ausg. 1876). — 
Privatrettens almindelige Deel fremstillet efter den danske Lovgivning, Kbh. 1865—1866. — 


Derfahte verichiedene Geiehentwürfe auf dem Gebiete des Strafrechts, bes Militärrechts und 
des Seerechts. B. A. Seder. 


Schend, Friedrich, Freiherr v. Toutenborch (Tautenburg), & 1503 (1504) 
mit 22 Jahren Geheimrath Karl’s V., dann Senatapräfident beim Reichäfammer: 
gericht, trat 1536 im den geiftlichen Stand, eriter Erzbiichof von Utrecht, FT 2. 
VIII. 1580, 

Seine Schriften bei Jugler, II. 219-236. — Schulte, Gedichte, II.a ©. 681. 

TZeihmann. 


Schenkung (donatio) jällt unter den weiteren Begriff der Freigebigkeitshand— 
lungen, d. h. der freiwilligen vermögensrechtlichen Gunjterweifungen, für welche ju: 
weilen auch der Ausdrud ©. gebraucht wird. Als eine befonderer rechtlicher Be 
handlung unterliegende Art der unentgeltlichen Zuwendungen fennzeichnet ſich die 
©. durch objektive und jubjektive Merkmale. Objektiv ift erforderlich, daß durch 
die Zuwendung das Vermögen des Gebers ärmer und das Vermögen des Empfän: 
gers vermehrt wird. Subjeftiv, daß die Zuwendung auf der einen Seite in ber 
Abficht, gegen den Empfänger eine frreigebigfeit zu bethätigen (animus donandi. 
S.abficht) gemacht und auf der andern Seite ald Gunfterweifung angenommen 
wird. Im Bergleih, im Verkauf einer Sache unter dem Werth aus Noth oder 
Ueberdruß oder wegen Geringichägung Liegt jo wenig eine ©. ala in der Dosbeitel: 
lung gegenüber dem Mann. Dagegen fann die ©. jehr wohl eine Zwedgabe ie, 
3. B. ©. zur Ausführung einer Reife. Wo die Abficht zu jchenfen nur zum Theil 
beitimmend war, wird das Geſchäft zum gemiſchten (negotium mixtum cum dona- 
tione) und nur theilweiie von den S.regeln beherriht. Im Gegenjag zur S.ab: 
ſicht ift das S.motiv, d. bh. der Grund, welcher den Gutichluß zur S. hervor: 
gerufen hat, in der Regel rechtlich von feiner Erheblichkeit (vgl. jedoch unten B. 2). 

Daß die Entitehung der ©. durch die wenn auch nur jtillichtweigende Zuitim: 
mung des Begünftigten bedingt, aljo ein Vertrag ift, wird zuweilen für diejenigen 
Fälle in Abrede geitellt, wo das rechtliche Mittel der Zuwendung ſich ohne Wit: 
wirkung des zu Beichenfenden verwirklicht, 3. B. Zahlung einer Schuld für den 
jelben. Mit Unrecht. Die Vermögenszumwendung vollzieht fich hier allerdings ohne 
Zuthun des zu Beichenfenden, aber fie erhält die Eigenſchaft einer S. erit durch die 
Gutheißung deflelben. Bis dahin begründet fie einen Vermögenserwerb, der ſeine 
materielle Beitimmung erjt erwartet (datum ob causam futuram) wie die Dosbeitel: 
[ung vor der Ehe. Der Empfänger kann die Entitehung der ©. vereiteln,, indem 
er dem Zuwendenden jeine Auslagen vergütet und bei Annahmeweigerung denselben 
Erfolg durch Hinterlegung der entiprechenden Summe erzielt. So nad) Gemeinem 
Recht (1. 18 pr. D. reb. cred. 12, 1) und Preuß. ER. (I. 11 $ 1058). Code civil 
art. 932 verlangt jogar für die Regel ausdrüdliche Annahme. Dagegen ift die be 
fämpfte Theorie in das Sächſ. BGB. $ 1054 übergegangen. 

Die ©. ift ein Rechtsgeſchäft, fie beruht auf einer Willenseinigung von be 
ſtimmtem rechtlichen Inhalt. Aber fie hat gleich der Zahlung, Dosbeftellung, 
Interceffion, dem Vergleich die Gigenthümlichkeit, daß fie durch verichiedenartig: 
vermögensrechtliche Vorgänge verwirklicht werden kann: durch Eigenthumsübertragung, 
Forderungsabtretung, durch die Begründung von beichränkten dinglichen Rechten und 
von Forderungen (S.veriprechen) durch Befreiung von dinglichen Laſten oder von 
Schulden, Eriparung von Ausgaben, Verbefferung einer Sache oder Schuß geaer 
Werthminderung. Für diefe verichiedenartigen vermögensrechtlichen Vorgänge bild 
die ©. den Beitimmungsgrund (causa). Sie untenwirft aber zugleich dieſelben, 


Schenkung. 543 


gleichviel welche rechtliche Individualität ihnen ſonſt zufommt, eigenthümlichen 
Rechtsvorſchriften. Daher die Meinungsverjchiedenheit über die ſyſtematiſche Stel- 
lung der Lehre von der ©. 

A. Die Beionderheiten, welchen ©. unterliegen, find folgende: 

1. Das Verbot der ©. unter Ehegatten, bejchränft auf ©. unter Lebenden 
und mit Grfräftigung für den Fall, daß der Schenfer in ftehender Ehe jtirbt, ohne 
die S. widerrufen zu haben. So Gemeines Recht und Sächſ. BGB. 88 1647—49. 
Arhnlich Code eivil art. 1096. Das Verbot verworfen im Preuß. ER. II. 15310 
und im Dejterr. BGB. $ 1246. 

2. Verwalter fremden Vermögens find ungeachtet freien VBerfügungsrechts zu 
©. aus dem anvdertrauten Vermögen nicht befugt, joweit diefe nicht durch die Sitte 
bergebracht find. Die Beitimmung des Reichsbeamtengejeges $ 15 Hinfichtlich der 
Annahme von ©. ift disziplinärer Natur. 

3. Bon Alteröher war die Gejehgebung bejtrebt, der Gefahr vorzubeugen, 
welche die unbejchräntte Möglichkeit von S. mit fich bringt. In Rom ſchon eine 
Lex Cincia a. 548 u. c. Spätere Kaiſergeſetze jtellten für ©. das Eriorderniß der 
gerichtlichen Berlautbarung auf, nach neuejtem Röm. Recht mit Beichränfung auf 
©. über 500 Solidi, worunter heutzutage Dufaten gleich 4666?/,;, AM. verjtanden 
werden (Frande). Nichtbeobachtung diefer Form Hat Nichtigkeit der ©. zur Folge, 
aber nur joweit fie den gejeglichen Betrag überfteigt. igenthümliche Anwendung 
auf ©. von Renten und Ausjchluß bei gewiffen S. — Dem Röm. Recht folgt das 
Sächſ. BEB. 88 1056—58, die entjcheidende Summe bilden aber 3000 RM. Das 
Preuß. ER. (I. 11 88 1063—69), das Deiterr. BGB. 8 943 und das Zürcher GB. 
1091 fordern eine Form nur für die Klagbarkeit der ©., aljo der S.veriprechen, 
jedoch ohne Rüdficht auf den Betrag, und zwar das Preuß. ER. gerichtliche, die an— 
deren Geſetzbücher einfache jchriftliche Errichtung. Code civ. art. 931 jchreibt für die 
S. ohne Rüdficht auf den Betrag bei Vermeidung der Nichtigkeit einen notariellen 
Alt vor. 

4. ©. unterliegen dem einjeitigen Widerruf des Schenfers: nach Röm. Recht 
wegen Undanks des Beichenften mit genauer Beltimmung der einzelnen Fälle, der 
Anficht Mancher zufolge auch wegen nachgeborener Kinder, was im Juſtinianiſchen 
Recht nur für die ©. des Patronus an feinen Freigelaſſenen anerfannt ift; nach 
Preuß. ER. gleichfalls wegen Undanfs, dann aber auch wegen nachgeborener Kinder, 
jedoch nur für die noch nicht durch Uebergabe vollzogenen ©., ferner wegen lleber- 
maßes, wenn die ©. das Vermögen des Schenfers über die Hälfte erichöpft. Das 
gemmeinrechtliche beneficium competentiae gegen die Forderung aus der ©. it im 
Preuß. Necht zu einem beichränften Alimentationsanfpruch des Schenters im Ver— 
armungsfall erweitert. Wehnlich das Oeſterr. BGB. SS 946 — 949, 954. Dem 
Sächſ. BEL. ift nur der Widerruf wegen Undanks befannt. Der Code civ. art. 944 
verwirft jelbit den bedungenen einfeitigen Widerruf. 

5. ©. find auch einer bejonderen Anfechtung durch Dritte ausgeſetzt: durch 
die Pflichttheilßberechtigten und durch die Gläubiger des Schenkers (RKD. $ 25, 
RGeſ. vom 21. Juli 1879 über die Anfechtung von Rechtshandlungen eines Schuldners 
außerhalb des Konfursverfahrens $ 3). 

6. Die Verpflichtung aus dem S.verfprechen zeichnet fich durch mehrfache Mil- 
derungen aus. Gemeinrechtlich haftet der Schenker nur für Arglift und grobe Nach: 
läffigkeit, hat den aus dem Schuldgegenftand gezogenen Gewinn nicht herauszugeben 
und feine Verzugszinſen zu entrichten, ift im Fall der Entwehrung, von Arglift 
abgejehen, nicht erfagpflichtig und erfreut fich der Nechtswohlthat der Kompetenz in 
erweitertem Maße. Nehnlich nach Preuß. ER. (I. 11 88 1076 ff.) Die Forde— 
rung aus einer ©. fann im Konkurſe des Schenker nicht geltend gemacht werden 
(RRO. IS 56 Nr. 4). 

B. Als bejondere Arten der ©. verdienen Erwähnung: 


544 Scheurl. 


1. Die S. unter einer Auflage (donatio sub modo). Sie unterliegt nach 
Gemeinem Recht den S.grundjägen, ſoweit nicht der Vermögenswerth der Zuwen— 
dung durch den Aufwand, welchen die Ausführung der auferlegten Leiſtung ver— 
urſacht, aufgezehrt wird. Nach Preuß. ER. (I. 11 88 1053 ff.) iſt die ©. unter 
einer Auflage „im zweifelhaften Falle“ den läſtigen Verträgen gleich zu achten. 
Das Sächſ. BEB. $ 1065 folgt dem Röm. Recht. 

2. Die remuneratoriiche ©., durch welche der Schenker Vergeltung für 
eine Wohlthat oder Gefälligkeit bezwedt, macht nach einigen Rechten eine Ausnahme 
von der Regel, daß das Motiv der ©. ein juriftifch gleichgültiges Moment bildet. 
Der Wortlaut des Röm. Rechts (1. 34 $ 1 D. donat. 39, 5) beichräntt die Aus- 
nahme dem Gegenjtande nach auf die ©. an den Yebenäretter und der Wirkung nad 
auf die Befreiung von der Widerruflichkeit, was jedoch nicht ohne Bedenken und 
Widerſpruch auf andere Vergeltungs-S. und auf den Erlaß des Infinuationserforder: 
nifjes ausgedehnt wird. Das Preuß. ER. (I. 11 88 1169 ff.) ftellt für alle ©. 
zur Vergeltung einer löblichen Handlung oder eines geleifteten wichtigen Dienftes 
gewifle Begünftigungen auf. Das Sächſ. BGB. $ 1064 nimmt die ©. für eine 
Lebensrettung von der Vorſchrift über die gerichtliche Form und über den Wider 
ruf wegen Undanfs aus, während das Deiterr. BEB.$ 940 für belohnende ©. jede 
Beionderheit verwirft. 

3. Die ©. von Todeswegen werden gemacht entweder für den Fall, dab 
der Schenker den Befchentten nicht überlebt oder daß der Schenker in einer be 
jtimmten Lebensgefahr umkommt und der Beichentte ihn überlebt, und zwar ent— 
weder jo, daß der geichentte Gegenitand jofort in das Vermögen des Beſchenkten 
übergeht mit Rüdfall, wenn die Vorausſetzung fich nicht erfüllt, oder fo, daß der 
Beichenfte den Erwerb erjt mit der Erfüllung der Bedingung madt. Die ©. von 
Todeswegen erfüllen den wirthichaftlichen Zwed der Wermächtnifje und find daber 
in mehrfacher Sinficht den Vermächtnißrechtsfägen unterworfen. So jchon im Röm. 
Recht, welches überdies die S. von Todeswegen von dem Berbot der ©. unter Ehe- 
gatten ausnimmt, im Zweifel für unbejchränft widerruflich erflärt und nad Wahl 
gerichtliche Verlautbarung oder außergerichtlich dor Fünf Zeugen errichten läßt. Tas 
Sächſ. BGB. 88 2500— 2502 unterjcheidet zwiſchen einfeitigen und angenommenen 
©. auf den Todesfall und stellt jene den Vermächtniſſen, dieſe den Erbverträgen 
gleich. Nach Preuß. ER. (I. 11 88 1134 ff.) find ©. von Todeswegen im eigent- 
lichen Sinn nur vorhanden, wenn entweder unter dem ausdrüdlichen Vorbehalt des 
Widerrufs bis zum Tode oder mit NRüdficht auf eine bevorjtehende Lebensgefahr ge- 
ſchenkt wird. Der auf jolche Weiſe Beſchenkte hat nur die Rechte. eines Vermächtniß⸗ 
nehmerd. Wieder anders das Deiterr. BGB. S 956. 


Ouellen: Tit. de donat. Inst. 2, 7; Dig. 39, 5, 6; Cod. 8, 54 (53). — Preuß. ER.L 11 
$$ 1097—1177 — Defterr. BGB. 8$ aloe, 19246, '1247. — Säci. BEB. XS 149 bis 
066, 1647-1649, 2500-2502, 26082612. — Zürd. GB. $$ 1077-1094, 2127. — 
Code civ. art. 893—1100. 

git.: v. Meyerfeld, Die Vehre von ben —— nach en Recht, Bo. I. 
(1835), ®b. II. Abth. 1 (1837) unvollendet. — Francke im Archiv für civil. Praris Bd. 47 
Abh. 18 (1864), — I. Bremer in Ihering's ar für Dogmat. Bd. 13 Abt. 3 
(1874). — v. Bothmer im Ar. für civil. Prax. .61 ©. 335—370 (1878). — Sa: 
— — Syſtem, IV. 88 142—176. — Er BE 365—369. — Förfter, Theorie, 

— Dernburg, er Privatrecht, II. SS 161—165. — Unger, Oefterr. Privat- 
zecht, II. SS 95—99. — Zadhariä, Franzöf. Givilcedht, Bd. IV. SS 643—646, 648-651, 
655—660, 675— 709. 3. Regelsberger. 


Scheurl, Chriſtoph, 5 11. XII. 1481 zu Nürnberg, ftudirte in Bologna, 
promodirte 1506, eine Zeit lang in Wittenberg, die Statuten dortiger Univerfität 
1508 verfaffend, 1512 nach Nürnberg zurücdtehrend, 1540 geadelt, T 14. VI. 1542. 
Wichtig fein Briefbuch, Potsdam 1867 und 1871. 


Schiedseid. 545 


Lit.: dv. Stintzing, Geſchichte der Deutſchen Rechtswiſſenſchaft (1880), I. 27, 184, 262, 
541. — v. Soben, Beitr. zur Geſchichte der Reformation, mit beſ. Hinblid auf Ch. Scheurl, 
NRürnb. 1855. Zeihmann. 


Schiedseid, zugeichobener Eid, freiwilliger Eid, juramentum litis decisorium, 
serment decisoire, ijt heutzutage — nachdem die Eideszuſchiebung behufs außer- 
gerichtlicher Erledigung von Rechtäftreitigkeiten ala nicht mehr zuläffig zu erachten 
oder jogar ausdrüdlich verboten ift (Savigny, Syit., VII. ©. 85 zu N.a; 
Preuß. Allg. Ger.D. I. 10 $ 248), das jusjurandum in jure delatum der Römer 
aber, durch welches Kläger behufs Vermeidung des judicium die Enticheidung über 
den Anſpruch jelbit ins Gewiſſen des Beklagten verjtellen konnte, in Deutjchland 
feine Aufnahme gefunden hat (Wetzell, $ 27 zu N. 26) — diejenige Anwendung 
des Eides (f. diejen Art.) im Givilprozeß, wodurch eine Partei die Feſtſtellung 
einer von ihr zu beweifenden Thatſache vom Eid des Gegners abhängig macht, indem 
fie ihm zur eidlichen Betheuerung des Gegentheild diefer Thatjache auffordert (Eides— 
antrag, =Delation). Der Delat wird dadurch verpflichtet (Bülow, ©. 37: 
berechtigt), den Eid anzunehmen und auszufchwören, oder an den Deferenten über 
die Affirmative der zu beweifenden Thatſache zurüdzugeben (Eideszurüdichiebung, 
Relation) (1. 38 D. 12, 2; 1. 9 C. 4, 1; Deutiche CPO. $ 417). Thut er 
feines von beiden, jo gilt die bejtrittene Thatſache als wahr, wie wenn er fie ein= 
geitanden Hätte (fog. poena recusati ala Anwendung der poena confessi) (1. 38 
eit.; $ 417 Abi. 2 mit $ 429 Abi. 2 der Deutichen EPD.). Diejelbe Wirkung 
vollen Beweijes der bejtrittenen Thatjache tritt ein, wenn Delat den angenommenen 
Eid nicht ſchwört; wenn er ihm ohne gleichzeitige bedingte Annahme zurüdichiebt, 
wo Relation unzuläſſig At; endlich wenn Deferent den rite zurüdgeichobenen Eid 
jeinerjeits leistet (Deutiche CPO. $ 429 Abi. 2, $ 430, $ 417 Abi. 2, 8 428). 
Dagegen gilt das Gegentheil der zu beweifenden Thatjache ala wahr, wenn Delat 
den zugejchobenen Eid jchwört; wenn Deferent den dom Gegner angenommenen 
Eid ihm erläßt; endlich wenn er den vom Delaten rite zurüdgejchobenen Eid nicht 
leiftet (Deutiche CPO. 8 428 Abi. 1, $ 429 Abi. 1 und 2, $ 421, $ 430). — 
Der ©., in der gejchilderten Anwendung jchon dem Römijchen Recht als jusjurandum 
in judicio delatum befannt, ijt Beweismittel. Er entnimmt feine Beweisfrait der 
natürlichen und allein würdigen Annahme, daß die Partei, indem fie eine Ver— 
fiherung unter Anrufung der Gottheit vor Gericht abgiebt, die Wahrheit jagen 
werde (vgl. den Art. Eid und Strippelmann, ©. 186, 402); eine Annahme, 
die überdies verftärft wird durch das Vertrauen, mit welchem Deferent die Ent- 
iheidung über die Wahrheit der Thatſache und damit indireft über das jtreitige 
Recht in das Gewiſſen feines Gegners verjtellt hat (jog. Vergleiche oder Vertrags— 
natur des S.); eine Annahme endlich, die für Jeden, der den Eid ſelbſt für heilig 
und unverletlich hält, bi® zum Beweis des Gegentheils im einzelnen Fall eine 
zwingende jein muß, und ebendarum den einmal geleijteten Eid auch der freien 
Beweiswürdigung de3 Richters (cf. Deutsche EPD. $ 442) entzieht. Auch nach 
der Deutihen CPO. $ 428 it daher, in Abweichung von dem Prinzip des $ 259, 
die volle Beweiswirfung des ©. gejeglich jtatuirt, und Gegenbeweis reſp. Anfechtung 
des auf den Eid gegründeten Urtheils wegen Unrichtigfeit des Beichworenen nur 
unter der Vorausſetzung eines nachweisbaren Meineides geitattet (S 428 Abi. 2 
mit $ 543 3. 1, $ 544). Die gegentheilige Anficht (f. von den Neueren bei. 
Wach, ©. 163 Fi; Wendt, ©. 270 ff.; aber auch Wetzell, 5 27 NR. 29), 
welche dem ©. die innerliche Ueberzeugungsfraft abiprechen und ihn daher nicht als 
Beweismittel, jondern nur als ein dafjelbe Ziel, wie der Beweis, verfolgendes formales 
Feftitellumngsmittel will gelten laſſen, das feine feſtſtellende Kraft lediglich aus dem 
in der Delation liegenden Dispofitionsaft des Deferenten ziehe, fommt mit fich 
ſelbſt in Widerſpruch, indem fie dem Richter einerjeits zumuthet, den Schwur— 
pflichtigen über die Heiligkeit und Unverleglichkeit des Eides zu belehren und ihm 
v. Holbendorff, Ene. II. Retäleriton III. 3. Aufl. 35 


546 Schiedseid. 


doch andererſeits dieſelbe verdächtigt; läßt überdies unerklärt, warum von ihrem 
Standpunkt aus der deferirte und angenommene oder referirte Eid doch unter allen 
Umjftänden (vom Erlaß abgejehen) muß ausgeſchworen werden; und überfieht endlich, 
wenn fie fich für die Leugnung der Beweismittelqualität darauf beruft, daß dem 
Nichter die Prüfung der Glaubwürdigkeit des Eides entzogen jei, daß dies auch bei 
dem don ihr als Beweismittel anerfannten richterlihen Eid (j. dieſen Art.) der 
Fall ift, obgleich doch dem Richter etwa in Folge der mündlichen Schlußverhand: 
(ung (Deutihe CPO. $ 258) auch hier das Beichworene als unglaubwürdig fic 
daritellen könnte; daß nicht minder auch rüdfichtlich des Beweismittels der Urkunden 
die freie richterliche Meberzeugung theilweife durch Beweisregeln vinfulirt iſt (SS 380 ff, 
88 150, 285, 405 Abſ. 2 u. a. m.). In der That it der ©. ſchon vom Röm. Recht 
ala Beweismittel anerkannt (vgl. befonders 1.5 $ 2,1.35 D. 12, 2), als jolches aud 
von der Theorie überwiegend betrachtet (val. die bei Strippelmann, ©. 48, 
N. 51—53 Git.; dazu noch Wetzell, ©. 286; Renaud, $ 132); und nunmehr 
2 heutigen Rechtsanichauung entiprechend‘‘ ( (Mot. zum D Deutjchen Entw. v. 1874, 
504), auch von der Deutichen CPO. bezeichnet und behandelt (II. 1 Zit. 10 
ser durch Eid“; S 416 „Antretung des Beweiſes'““; SS 418, 412 Eid und 
„andere Beweismittel”; 88 426, 324, 558 „Beweisbeihluß; $ S 428, 429 
Wirkung „vollen Beweijes“ u. ſ. w.). Lediglich contra ne Yaris („aus 
Zwedmäßigfeitsgründen“: Mot. 1. c.) wurde von der Deutjchen ERD. in einzelnen 
Punkten, wie hinfichtlich der gemeinrechtlich höchit fontroverjen Frage der Delation 
an Meineidige (vgl. Renaud, $ 133 zu N. 21 ff.; Mot. zu $ 398 des Deutichen 
Gntwuris v. 1874, ©. 505; Deutfche SPD. SS 422, 432 und gegen den Standpunft 
der Deutichen CRD. Strippelmann, S. 192), jowie Hinfichtlich des prinzipiellen 
Ausichluffes eines Widerrufs der Zuichiebung reip. der Annahme und der Zurück— 
fchiebung (Mot. eit. zu SS 403—406, ©. 507), dem Gefichtspunft der ſog. Ber: 
gleichsnatur des Eides Einfluß gejtattet. — Die Subfidiarität des Eides (vgl. den 
Art. Eid) verlangt, daß die Eidesdelation zwar nicht blos beim Mangel anderer 
Beweismittel benüßt (Savigny, VII. ©. 89; Strippelmann, ©. 351), aber 
neben anderen Beweismitteln jedenfalls nur für den Fall der Refultatlofigkeit der: 
jelben gebraucht werde. Die „eventuelle Eidesdelation“, deren Zulaffung, wenn 
der ©. ein Beweismittel nicht it, ein Verftoß gegen den Sat actore non probante 
reus absolvitur wäre, ilt, häufig angefochten (Strippelmann, ©. 348), par— 
titularrechtlich namentlih in Sachſen (Wetzell, $ 27 N. 45; Renaud, $ 132 
N. 8) und in Braunſchweig (Mot. cit. S. 506) unstatthaft, und auch im Nord- 
deutjchen Entw. $ 613 Abj. 1 ausdrüdlich ausgeichloffen, von der Deutichen GPO. 
$ 418 für zuläffig reſp. nothwendig erflärt, zugleich aber die Subfidiarität des 
Eides dahin ausgedehnt, daß der ©., wenn immer andere Beweismittel, jei es 
vom Dejerenten oder Delaten, geltend gemacht werden, diejen nachzuiteben 
habe. Hierdurch iſt nicht nur dem Deferenten gejtattet, unter der Vorausſetzung 
der Geltendmachung anderer Beweismittel jederzeit biß zum bedingten Endurtheil 
($ 425), reip. bis zur GEidesleiftung (S 426), auch nach erfolgter Annahme oder 
Relation jeitens des Delaten jeine Delation wieder zurücdzunehmen ; jondern aud) 
dem Delaten die Möglichkeit gegeben, von feiner Annahme oder Relation wieder 
abzugeben und zu anderen Beweismitteln zu greifen (vgl. dazu auch $ 419 Abi. 2). 
Die in der Gemwifjensvertretung durch Beweis (probatio pro exoneranda conscientia, 
vgl. die Literatur über diefelbe bei Renaud, $ 136 N.*) im Gem. Recht dem 
Delaten eingeräumte bejchränttere Befugniß, der Erklärung über Annahme oder 
Zurüdjchiebung des ©. wenigitens vorläufig durch Antretung anderweiten Beweiſes 
über die von ihm zu beſchwörende Thatſache auszuweichen, iſt durch die Erweiterung 
ihres Grundgedankens, „daß eine Partei hinſichtlich des von ihr vollſtändig Be— 
rg nicht weiter mit einem Eid beläjtigt werden dürfe” (Renaud, $ 136 zu 
. 4), in $ 418 eit. abfjorbirt; die Bezeichnung , ‚Geroiffensvertretung“ für Dies 


Sciedseid. 547 


neue Inſtitut aber vermieden, um nicht mit dem Ausdruck die zahllojen gemein= 
rechtlichen Kontroverjen in diefer Materie (insbejondere: ob die Gewifjensvertretung 
Gegenbeweis jei? ob Gegenbeweis gegen fie zuläflig? ob bei mißlungener Gewiſſens— 
vertretung Delat noch Annahme und Relation oder nur die eritere zur Verfügung 
habe? wie e8 bei unvollitändig gelungener Gewiffensvertretung zu halten fei? u. j. mw.) 
ins Neichsrecht herüberzunehmen (Mot. ©. 506). — Als Beweismittel kann der 
©. nur über Thatjachen, im Gegenjag zu Urtheilen, Nechtöbegriffen, Rechten, zu— 
geihoben werden, mögen es im Uebrigen jog. innere oder äußere Thatjachen fein; 
aber auch nur jolche Thatjachen können durch Eid bewiejen werden, bezüglich deren 
man annehmen fann, daß der Schwurpflichtige über fie in überzeugender Weiſe 
zu deponiren im Stande jei: daher die Beichränfung der Delation und Relation 
auf facta propria des Gegners und auf facta aliena lediglich feiner Rechtsvorgänger 
und Vertreter in der Deutichen CPO. SS 410, 413; und die Verwerfung der, 
innerer Beweisfrait ermangelnden, Kredulitäts- und Ignoranzeide (Deutihe CPO. 
$ 424; vgl. den Art. Eid). Partikularrechtlich war das Eidesthema auch jonft 
noch vielfach beichränft (vgl. insbefondere Strippelmann, ©. 103 ff.), während 
die Deutiche CPO. von diejen Bejchräntungen, abgejehen von der jelbitveritänd- 
lichen Bejtimmung des $ 411, nur den Ausichluß der Eideszujchiebung in Ehe: 
und Entmündigungsfachen (SS 577, 611, 620, 624, 626) adoptirt hat. — Deferiren 
fönnen nur die Parteien, reip. die gefetlichen Vertreter nicht prozeßfähiger Parteien, 
welche übrigens nach der Deutichen EPO. jelbit ala Partei gelten. Deferirt werden 
fonnte nach einer * verbreiteten gemeinrechtlichen Praxis, die ſich fälſchlich auf 
1.18 2D.44,5;1.282C.2, 59 und 1.5 C.4, 1 ſtützte, unter Umſtänden 
auch dritten — welche mit dem Gegner in einem „juriſtiſchen Einheitsver— 
hältniß“ ſtünden, insbeſondere Cedenten, Mandataren und Vormündern (Strippel— 
mann, ©. 204 ff.), während die Deutſche CPO. in $ 414 die Regel aufſtellt, 
daß der Eid nur an die (prozeßfähige) Partei jelbit, nicht an Dritte, zugefchoben 
werden könne, wovon die Möglichkeit bzw. Nothwendigfeit der Delation an die 
gejeglichen Bertreter ($ 435 Abſ. 1; Mopdififation im Abi. 2) nach dem vorhin 
Bemerften feine Ausnahme bildet. — Die Stellung des Richters zur Eideödelation, 
welche bei Auffaflung der letteren als Dispofitionsaktes nothwendig eine mehr oder 
weniger vom Parteiwillen abhängige jein muß, ift, je mehr der ©. ſich zum reinen 
Beweismittel entwidelte, eine immer jelbjtändigere und unabhängigere geworden. 
Untericheidet fich hierdurch jchon das Gem. R. dem Römifchen gegenüber (Savigny, 
©. 85), fo it, was die Deutiche CPO. anlangt, die Art, wie in ihr „die richter- 
liche Prozeßleitung bei der Anordnung des Eides zur Geltung fommt“, mit „das 
wichtigfte Stüd der Reform unferer Eidesdelation‘ (Wach, ©. 172). Im officium 
judieis liegt es über die Zuläfligfeit der Delottun wie der Relation nach Maßgabe 
der $S 410, 411, 413, 414, 417 Abi. 2, 435 zu wachen; dem Richter gebührt 
die Beitimmung der Fafl jung des Eides Fo hierher übrigens ſchon 1. 338 8 D. 
12, 2 verbis: offieio judieis conceptio jurisjurandi terminetur) einschließlich der Nor: 
mirung als Wahrheit oder Meberzeugungseid (SS 427, 324 3. 4); vom arbitrium 
judicis hängt es innerhalb gewiffer Grenzen ab, ob er die Yeiltung des Eides durch 
bedingtes Urtheil oder durch Beweisbeſchluß anordnen will (SS 425, 426, aber 
auh 558 Abi. 4). Der Dispofition der Parteien ift zwar, foweit fie nur die 
Beweismittelnatur des ©. nicht ganz negirt (S 415 i. f.), in allen diejen Punkten 
Raum, aber feine den Richter bindende Kraft gewährt (SS 415, 426 Abi. 1, 431). — 
Endlich iſt die von der Italienischen Doktrin aufgeltellte, von der gemeinrechtlichen 
Prari3 anerkannte (Wepell, $ 25 zu N. 3la; Strippelmann, S. 389 zu 
Nr. 19) und in vielen Partikularrechten ianktionirte (Renaud, ©. 371 N. 25 ff.) 
Regel, daß der Eid als geleiftet zu betrachten jei, wenn der Schwurpflichtige vor der 
Ableiftung ſtirbt, ohne die Annahme widerrufen zu haben („mortem loco jurisjurandi 
esse“, motivirt durch den Sat „Nemo moriens immemor censetur aeternag salutis“ 
35* 


548 Schiedsmänner. 


und durch Berufung auf 1. 6 C. 9, 27), von der Deutſchen CPO. 8 433 als un: 
begründet („non omnis moriens est Evangelista Joannes“ - Baldus; 1.12 C. 4, 
1; nov. 18 c. 6; Bayer, ©. 908) verworfen und den Parteien vielmehr beim 
Wegfall des Schwurpflichtigen vor der Eidesleiftung die Ausübung aller Rechte Hin 
fichtlich des zu führenden Beweiſes vorbehalten, welche ihnen vor der Eidesdelation 
auftanden. 


Quellen u. Bit.: — die zum Art. Eid angegebenen; außerdem und — 
Pauli Ree. Sent. II. 1. — Allgem. Preuß. Ger.Drdn. J. 10 $$ 352 it — Code civil art. 
art. 1357—1365. — Code * civ. art. 120, 121. — ae dm. Rechtägeichicte, 


2 $ 127, 185, 150. — Savigny Syfiem, VI S. 7—%. — Bin! ius, Beiträge 
ehre von der Gibesbelation Hit g oa ie ee ri bad anni echt, 1860. — 
Barth, Beiträge ai Lehre vom Haupteib, 1832. — Beweis Fa ben Haupteid, 


1837. — Strippelmann, Gerichtdeid, IL: Die * —— 1856. — Glajer in ber 
Allgem. Defterr. Ger.Ztg. Jahrg. II. (1868) Nr. 78 und III. (1866) Nr. 19 ff. — v. Harra: 
ſowsky, ar nein ne und Parteieneid, 1876. — Bayer, Vorträge, $$ 261—271. — 
MWepell, Syſtem, $ 27 und bie dort in N.“* cit. Aufl. aus dem Archiv für civil. Prar. — 
Renaub, Lehrb., 55 132—137, 213, 217. — Wach, Vorträge über die RCPO., ©. 162 
bis 173. — Bülow, Arc. für civ. Prar., LxIl. © . 86-40. — Heuäler, ebenda, ©. 23, 
299 ff. — Wenbt, ebenda, LXII. &. 270-279. Birimeper. 


Schiedsmänner find die von der Obrigkeit vorzugsweiſe nach Wahl der Ein- 
geſeſſenen ernannten Männer, welche dazu bejtimmt find, im Ehrenamt ftreitige An— 
gelegenheiten gütlich zu Ichlichten. — Der erjte Urſprung eines ftaatlichen Sühne 
inſtituts findet fich im Franzöſiſchen Recht, wonach, bei Vermeidung einer Geld» 
buße, fein Streit vor den Givilgerichten begonnen werden fonnte, dem nicht ein 
Sühneverſuch vor dem als bureau de conciliation bejtimmten Friedensgericht vor 
aufgegangen war. Diefelbe Einrichtung wurde auch nach Einführung des Preuß. 
Allg. ER. in der Provinz Pojen beibehalten (Verordnung vom 9. Febr. 1817 9), 
ohne daß fie fich dajelbit bewährte. Den eriten Anftoß zu einer weiteren Aus 
bildung des Inftituts der ©. gaben die Stände der Provinz Preußen, auf deren 
Antrag im Jahre 1806, bejonders in Folge der Unterftüßung des Oberpräfidenten 
von Schön, dafjelbe durch Verordnung vom 7. Sept. 1827 eingeführt wurde. Ju 
der Preuß. Verwaltung wurde das Inſtitut, obwol an fich eines kofalen Charakters 
entbehrend, ſtets als eine provinzielle Einrichtung betrachtet, und nur auf Anfuchen 
der Provinzialftände in die einzelnen Provinzen eingeführt, jo in Schlefien und 
Brandenburg durch die Kab.O. vom 14. Auguft 1832, in Sachſen und Pommern 
durch die Kab.O. vom 15. Febr. und 7. Juni 1834, in Poſen — wo die Frie— 
densrichter durch Kab.D. vom 8. Mai 1825 bejeitigt waren — durch Verordnung 
vom 7. Juni 1841; in Weftialen, wo jeit dem Jahre 1854 einzelnen Streifen 
©. bewilligt wurden, erfolgte die Einführung für die ganze Provinz in Gemäßbeit 
des Gef. vom 4. März 1855 (Gei.Samml. ©. 181) zuletzt erſt im Jahre 1872. 
Die Verordnung vom 26. Juni 1867 (Gej.Samml. ©. 1085) ermächtigte die 
Staatöregierung auch die neuen Provinzen diefem Inititut zugänglich) zu machen, 
ohne daß dies geichehen ift. Auch in anderen Deutichen Bundesjtaaten fand der 
Preuß. Vorgang Nachtolge, jo in Schwarzburg = Sonderähaujen (Gef. vom 17. Juli 
1857), in Sachjen-Weimar (Gef. vom 9. März 1875). Uriprünglich blieb es ledig— 
(ih den Parteien überlaflen, ob fie, um die vielfachen MWeitläufigfeiten und Koiten 
zu eriparen, den ©. angehen wollten, deffen Verhandlungen jportel- und jtempelfrei 
waren, deffen Entjicheidung aber die Kraft eines richterlichen Urtheila hatte. Das 
EG. zum Preuß. StrafGB. vom 14. April 1851 Art. 18 erhob jedoch das Inſtitut 
in den Provinzen, wo es bejtand, zu einem nothwendigen Gliede der Jujtizorgani- 
ſation, indem bejtimmt wurde, daß Klagen über Ehrverlegungen und leihte Mik- 
handlungen, welche im Wege des Strafprozefles verfolgt werden, nicht eher zugelafien 
werden follten, ala bis durch ein von dem ©. des Bellagten ausgeſtelltes Attert 
nachgewiejen wurde, daß der Kläger die Bermittelung des ©. ohne Griolg nach 


Schiedsmänner. 549 


geiucht Hat. Die günſtigen Erfahrungen, welche mit diefer Vorichriitt in Preußen 
gemacht worden waren, fanden ihre Verwerthung für das Reich, indem durch $ 420 
der StrafPD. beftimmt wurde, daß wegen Beleidigungen (abgejehen von dem Tyalle 
des $ 196 des RStrafGB.) die Erhebung einer Klage erſt zuläffig fein joll, wenn die 
Sühne erfolglos verfucht worden ift. Die Behörden, welche berufen find, eine jolche 
Sühne herbeizuführen, werden von der Landesjuftizverwaltung beftimmt. In Preußen 
wurde das Vergleichsamt den ©. übertragen, indem diejes Inftitut durch Gef. vom 
29. März 1879 unter Beibehaltung der früher bewährten Grundfäße auf die ganze 
Monarchie nach erfolgter Neuregelung übertragen wurde. Diejelbe S.ordnung gilt 
in Waldet (Gej. vom 29. März 1879). Dem gleichen Vorbild jchloß fich eine 
Reihe anderer Staaten an (Weimar, Meiningen, Altenburg, Koburg- Gotha, 
Lippe-Detmold, Schwarzburg-Sondershaufen, Reuß j. %.), während in noch anderen 
dem Amtsrichter das Sühneamt auch auf diefem Gebiet übertragen wurde (beide 
Medlenburg, Lübeck, Hamburg - Stadt). MeiftentHeils ift der Gemeindevorfteher 
als Vergleichöbehörde berufen (Bayern, Württemberg, Baden, Oldenburg, Hefien, 
Schwarzburg-Rudolftadt, Hamburg-Land, Eljaß-Lothringen), anderwärts ferner find 
beiondere Sühnebeamte eingeführt worden (der Rektor oder Univerfitätsrichter für 
die Studirenden in Preußen [Berf. vom 22. Auguft 1879 — Juſt. Min. Bl. 
©. 251 —], und allgemein oft mit der Bezeichnung ala Fyriedenärichter in Sachien, 
Weimar, Anhalt, Reuß j. L., Bremen), endlich bald die Polizeibeamten, bald die 
Magijtrate dazu auserſehen (Braunjchweig). 

Am Givilverfahren Hatte fich die Vorſchrift des Kanon. Prozeffes, vor der 
Litisfonteftation (j. diefen Art.) einen Vergleich unter den Parteien anzubahnen, 
mit der Einführung des jchriftlichen Prozefies und dem Anwaltszwang allmählich 
verloren. Stehen geblieben war nur partitularrechtlich die Vorſchrift, daß in Ehe- 
iachen die Anjtellung der Klage von einem Sühneverſuch bedingt war, der Häufig 
unter Zuziehung von Geiftlichen jtattfinden mußte (Preuß. Verordn. vom 28. Juni 
1844 88 10—15; Hannov. Gef. vom 1. März 1869 88 10—13; Code civ. art. 
238, 239). Der gleiche Grundjag ift von der EPD. beibehalten, die Zuziehung 
von Geiftlichen aber nur noch fafultativ (vgl. Preuß. Verf. vom 27. Augujt 1879 
— Juft Min.Bl. ©. 260 —). Danach muß der Kläger vor Anjtellung der Klage 
bei dem für den Bellagten nach deilen Wohnfit zuftändigen Amtsgericht die An— 
beraumung eines Sühnetermins beantragen und zu dieſem den Bellagten laden. 
Die Parteien müſſen perjönlich ericheinen, und der Richter kann Beiſtände zurüd- 
weifen. Der Sühneverfuch fann nach Ermeſſen des Vorſitzenden des Landgerichts 
auf eimjeitiges Gehör des Klägers unterbleiben, wenn der Aufenthalt des Beklagten 
unbefannt oder im Auslande ift, oder ſich ein ſonſtiges jchwer zu bejeitigendes 
Hinderniß entgegenftellt, oder die Eriolglofigfeit des Sühneverſuchs mit Beſtimmt— 
heit vorherzujehen ift. Ericheint dagegen Beklagter in dem Sühnetermin nicht, jo 
gilt der Sühneverfuch ala mißlungen, erjcheint der Kläger oder beide Theile nicht, 
fo verliert die Ladung ihre Wirkung. — In jedem Prozeß hat jodann das Ge— 
richt die Befugniß, beide Parteien zur Sühne zu veranlaffen; es fann fie zu diejem 
Behufe perfönlich vorladen oder an einen beauftragten oder erfuchten Richter ver: 
weiten. Gndlich iſt im Anſchluß an die oben erwähnte allgemeine Bejtimmung des 
Franzöſ. Rechts jeder Partei geftattet, vor Erhebung einer Klage den Gegner zum 
Zwecke des Sühneverjuchs vor das Amtögericht, wo er feinen allgemeinen Gerichts- 
ftand bat, zu laden. Selbſt wenn bier ein Vergleich nicht zu Stande fommt, jo fann 
doch auf übereinftimmenden Antrag beider Theile der Rechtsitreit ſofort verhandelt 
werden, ein Vergleich ift protofollarifch feſtzuſtellen. Ein Zwang zum Gricheinen 
iſt nicht vorhanden, doch werden die Koſten des fruchtloſen Sühneverſuchs — und 
daffelbe gilt, wenn der Gegner ausbleibt — ala Theil der Koſten des zufünftigen 


Rechtsftreits behandelt. 


550 Schiedsmänner. 


Mar jomit reichsgeieglich dem Sühneverfahren ein weiter Spielraum geöffnet, 
jo ließ fich doch der Preuß. Geießgeber von einer Beibehaltung und Ausdehnung 
der ©. auf die ganze Monarchie nicht zurüdhalten, einerjeits um den Amtärichter 
zu entlaften, andererjeits weil man glaubte, daß immerhin noch ein jegenäreicer 
Wirkungsfreis für die ©. übrig bleiben würde. Die Grundfäße der Preuß. Seord— 
nung, welche auch für die der anderen Staaten maßgebend geworden find, jtellen fid 
folgendermaßen dar: 

l. Die Thätigfeit der ©. eritredt fich auf bürgerliche Rechts itreitigkeiten, 
Beleidigungen und leichte Körperverlegungen. 

1. Bürgerliche Rechtsjtreitigfeiten umfaſſen auch Konkurs-, KLiquidations, 
Wechſel-, Arreſt- und Subhajtationsjachen ; ausgeichloffen find Status- und Che 
jachen, doch iſt e& nicht verboten, daß fich Eheleute behufs Herbeiführung einer 
Eühne der Hülfe eines ©. bedienen fönnen, welcher dann freilich nicht in jeinem 
Amt handelt, alſo ablehnen fann ($ 17). Die Zuftändigfeit des ©. richtet fid, 
jofern feine Vereinbarung (auch ftillichtweigend) vorliegt, nad dem Wohnſitz des 
Gegners des Antragitellers. Nach Analogie des S 41 Nr. 1—4 der CRD. ik 
auch der ©. in den dafelbft angegebenen fällen ($ 15) von der Ausübung jeines 
Amts kraft Geſetzes ausgeſchloſſen dergeftalt, daß der von ihm vorgenommene At 
als jolcher nichtig it und nur höchitens als Privatabfommen der Parteien beitehen 
fann. Auch joll der ©. in Fällen jein Amt verweigern, wenn zur Gültigkeit der 
Willenserklärung der Parteien eine gerichtliche oder notarielle Form erforderlich) iſt, 
oder wenn ſonſt von jeinem Gingreifen ein eriprießliches Reſultat nicht erwartet 
werden fann, jo 3. B. wenn er der Sprache der Parteien nicht mächtig ift oder 
diefe ihm unbefannt find, oder wenn ihm Bedenken über die Geſchäftsfähigkeit ent- 
ftehen. Die Parteien müflen perfönlich ericheinen, Vertreter find unzuläffig, Ber 
ftände können zurüdgewielen werden. Die Verhandlung ift eine mündliche, Eide 
fann der ©. nicht abfordern, auch nur jolche Zeugen uneidlich vernehmen, die fi 
ihm freiwillig ftellen. Der ©. enticheidet auch nicht (dadurch unterjcheidet er ſich 
vom Schiedsrichter), ſondern fchlichtet nur. Kommt ein Vergleich zu Stande, io 
ift derfelbe in ein Protofollbuch aufzunehmen, von den Parteien und dem ©. zu 
unterschreiben ; Ausfertigung ift den Parteien oder ihren Rechtsnachfolgern jederzeit 
zu ertheilen. Aus einem jolchen Vergleiche findet, wie aus einer notariellen Urkunde, 
die Zwangsvollitredung ftatt (S 32, val. END. SS 706, 662 — 701, 703 — 705, 
in den Fällen der SS 664, 665 wird die vollitredfbare Ausfertigung nur auf An- 
ordnung des Amtsgerichts ertheilt) — eine Beitimmung, die nicht ohne Gefahr it, 
weil häufig zum Schein jchiedsmänniiche Vergleiche aufgenommen werden, durch die 
fi) ein Gläubiger die Vortheile des S 709 der CPO. durch Pfändung fichern kann. 
— Die Anrutung des ©. iſt freiwillige Sache der Parteien. 

2. Bei Beleidigungen und leichten Hörperverlegungen iſt die Ablehnungsberug: 
niß des ©. eine beichränftere, damit dem Privatfläger die Beichaffung des Atteftes 
ohne Schwierigkeit möglich werde. Die Parteien müflen zu dem Sühnetermin ae 
laden werden, doch bleibt die Art der Yadung dem Antragiteller, bzw. ©. über 
lafien, die Hülfe des Gerichtsvollziehers ift nicht auögeichloffen, aber nicht notb- 
wendig. ine Beicheinigung über die Griolglofigteit des Sühneverfuche kann nur 
ertheilt werden, wenn der Antragiteller im Termine anweiend war. — Die Ans 
rufung des ©. iſt hier nothwendig. 

3. Die Verfügungen und Verhandlungen vor dem ©. find, ſoweit nicht etwaig? 
Umgebungen der Stempelgeieße beabfichtigt find, koſten- und ftempelfrei, nur die 
baaren Auslagen und Schreibegebühren find dem ©. zu entrichten, während bie 
ſächlichen Koſten den Gemeinden zur Laſt fallen, welche ihrerjeits wiederum etwaige 
Geldſtrafen erhalten. 

II. Beitellung der ©. Mindeſtens muß für jede Gemeinde oder jeden 
jelbitändigen Gutsbezirk ein ©. beitellt werden, die Abgrenzung der Bezirke it 


Schiedsrichter. "551 


Gemeindeangelegenheit. Auch die Wahl erfolgt durch die Gemeinde= bzw. Kreis— 
vertretung auf drei Jahre, unterliegt aber der Beltätigung durch das Präfidium des 
Yandgerichts. Letzteres vereidigt den S. und führt auch über ihn die Aufficht, wäh 
rend eine Enthebung vom Amt durch den erjten Givilfenat des Oberlandesgerichts 
erfolgt. Jeder ©. erhält einen Stellvertreter. 

Die Vorausſetzungen für die Fähigkeit eines ©. find geringfügige: dreißigites 
Lebensjahr, Wohnfig in dem S.bezirk, Unbejcholtenheit. ine Ablehnung fann nur 
aus Gründen erfolgen, welche im Allgemeinen diefelben wie für die Ablehnung des 
vormundjchaftlichen Amts find. Beamte bedürfen zur Annahme die Genehmigung 
ihrer vorgelegten Behörde. Ungerechtfertigte Ablehnung zieht für den Zeitraum von 
3 bis 6 Jahren eine um */; bis 1/, erhöhte Heranziehung zu den Gemeindeabgaben 
nach fih. Eine Enthebung erfolgt bei Wegfall der für die Berufung erforderlichen 
Vorausjegungen oder aus fonjt erheblichen Gründen. 

III. Das Amt des ©. ift ein Ehrenamt, es wird unentgeltlich verwaltet. 


Während der Verwaltung haben die S. alle Rechte eines Beamten (3. B. RStraf- 
GB. $ 196). 


Quellen: Code civ. art. 48—58. — RStrafPD. $ 420. — RCPO. S$ 570-573, 268, 
471. — Allgemeine Schied3mannsordnungen find ergangen: Preußen, Gel. vom 29. März 
1879 (Gei.Samml. ©. 321); Walbed, Gef. vom 29. März 1879 (Reg. El. S. 87); Weimar, 
Gei. vom 27. März 1879 und vom 9. März 1875 (in ber bie Ausführung der Reichajuftiz- 
geſetze umfaſſenden bejonderen Sammlung ©. 52); Meiningen, Gel. vom 17. Juni 1879 
(Samml. ber landesherrl. Berordn. S. 105) und Schiedsmannsordnung vom 24. Juni 1879 
(a. a. O. ©. 158); Altenburg, Schiedsmannsordnung vom 19. April 1879; Koburg: 
Gotha, Schiedsmannsordnung vom 27. April 1879 (Gem. Gei.Samml. Nr. 371); Anhelt, 
Hriedensrichterordnung vom 10. Mai 1879 (Gei.Samml. ©. 541); Bippe:Detmold, Schieds— 
mannsordnung vom 26. Juni 1879 (Gei.Samml. ©. 69); Shwarzburg:Sonders- 
Zee, Gef. vom 17. Juli 1857 und Nachtragsgeſ. vom 17. Mai 1879 (Gei.Samml. ©. 107); 

euß j. %., Friedensrichterordnung vom 12. September 1879 (Gei.Samml. ©. 123). — 
ee rg zur Strato. S 420: Bayern, erg vom 5. sun 
1879 (Juft.Min.Bl. S. 369-371); Sachſen, Verordn. vom 16. Mai 1879 (Gef.: u. Verordn. Bi. 
E. 209 F.); Württemberg, Gel. Pr Ausführung der StrafPD. vom 4. März 1879 &0 
(Reg. Bl. ©. 50 Fi); Baden, Verordn. vom 11. Eept. 1879 (Gef: u. Verordn. Bi. ©. 639); 
Medlenburg- Schwerin, Verordn. vom 28. Mai 1879 88 2—4 (Reg.Bl. ©. 333); 
Medlenburg:-Strelik, Derordn. vom 28. Mai 1879 SS 24 (Offiz. Anm. S. 307); 
Hefſen, Gel. vom 9. Yuni 1879 Art. 4 (RegBl. ©. 331); Oldenburg, PBerordn. vom 
10. April 1879 Art. 8 Geſ.Bl. ©. 352); Braunihmweig, Belanntm. vom 30. Aug. 1879 
(Gei.: u. Verordn. Bl. ©. 509); Schwarzburg:Rudolftabt, Gel. vom 17. März 1879 
(Gei.Samml. ©. 83); Hamburg, Gef. vom 13. Juni 1879 (Hirih, Sammlung der Aus: 
—— e zu den RJuſt. Geſ.); Lübeck, Verordn. vom 12. Febr. 1879 (Samml. der Ver— 
ordnungen Nr. 10); Bremen, Geſ. vom 25. Juni 1879 Geſ.Bl. ©. 195); Elſaß— 
Lothringen, Berordbn. vom 13. Juni 1879 sS 18—20 (Gei. Bl. für Eljah-Lothr. ©. 61). 


Lit. der Preuß. Schiedsm. Ordn.: Bemerkenswert die Kommentare von las 
Be Eberty, Turnau. — Ferner Sydow, Preuß. Ausführgej. 1879, ©. 268-256 
. XIV. — Strudmann u. Rod, Die Preuß. Ausführge. mit furzen Erläut., S. 379 
bis 406 N. XIX. — Kayſer, Die Ryuft.Gei. und die für das Reich und in Preußen 
erlaflenen Ausführungs- und Ergänzungsgeſetze. Mit Anmerkungen 2. Aufl. 1880, X. ©. 833 
bis 846. Kayſer. 
Schiedsrichter (recepti arbitri) ſind die von den Parteien laut Uebereinkunft 
ernannten Privatperſonen, welche unter jenen an Stelle der ſtaatlichen Richter einen 
Rechtsſtreit entjcheiden jollen. Zur Serbeiführung eines Schiedsfpruches ift zunädhit 
ein Vertrag unter den Parteien (compromissum) und jodann eine Vereinbarung 
diefer mit dem ermwählten ©. (receptum arbitrium) erforderlih. Im Röm. Recht 
hatte der Schiedsjpruch (laudum) nicht die Kraft eines öffentlichen Urtheils, jondern 
erzeugte nur eine Klage auf die etwa jtipulirte Strafe. In einigen Fällen erflärte 
zwar Juftinian jchon den Schiedevertrag durch Klage erzwingbar (1.4,5 C. 2, 56; 
Nov. 82 c. 11), aber erit das Gemeine Recht jtellte den Schiedsipruch dem Urtheile 
des öffentlichen Richters gleih. (Bgl. RAbſch. v. 1594 83 65, 66.) Bon hier war 


552 Schiedsrichter. 


das Inſtitut in die Partitularrechte übergegangen (Preuß. Allg. Ger.D. I. 2 38 167 fi; 
I. 30 88 48 ff.; Code de proc. art. 1003 ss.), aber zu feiner rechten Entwickelung 
gelangt, wegen der vielen Schranken, welche die Geſetze der freien Bewegung der 
Parteien und der ©. zogen. Die Bejeitigung diefer Hemmniſſe ift die Tendenz 
der Beitimmungen, welche die CPO. 88 851—872 über die ©. getroffen hat. fol: 
gende Punkte find hervorzuheben: 

1) Fähig zum Abſchluß eines Schiedövertrages find nur Perfonen, welche über 
den Gegenitand des Streits einen Vergleich eingehen können ($ 851). Gs fan 
aber auch ein Schiedägericht durch Teſtament u. j. w. eingejeßt werden ($ 872). 
Der Gegenitand, über welchen der ©. enticheiden foll, muß daher der Verfügung 
der Parteien unterliegen, weswegen jchon nad Röm. Recht Kompromiffe über cri- 
mina publ., del. famosa, actiones populares, causae liberales, nach Kanon. Redt 
über res judicatae ausgeichloffen waren. Die EPD. ftellt in ſub- und objeftiver 
Beziehung die Vergleichsfähigkeit auf, Hinfichtlich deren Vorausſetzung die Reid#- 
(HGB. Art. 137) oder Landesgejeße (3. B. Preuß. Allg. ER. I. 16 $ 406; Sächſ. 
BGB.8 1977) enticheiden. Ueber die Form enticheidet das bürgerliche Recht (val. jedoch 
$ 853). Daß auch ©. im Voraus für zukünftige Rechtäjtreitigfeiten ernannt wer: 
den fünnen, war fchon für das Gemeine Recht nicht zu bezweifeln und ift in der 
CPO. 8 852 anerkannt, doch wird in Webereinitimmung mit der Vorſchrift über 
die prorogatio fori ($ 40) verlangt, daß wenigitens das Rechtöverhältniß fchon be: 
jtimmt je. Aus dem Kompromiß entjteht für die Parteien die Verpflichtung, Alles 
zu thun, um die Fällung des Schiedsjpruches herbeizuführen und fein ftaatliches 
Gericht zur Enticheidung der Sache anzurufen. Der Bertrag über die ©. erzeugt 
die actio und exc. pacti (Andre, ©. 19—24). 

2) Unfähig zum ©. waren nad) Gemeinem Recht Perjonen unter 21 Jahren, 
Taube, Stumme, Wahnfinnige, Frauen (es fei denn, daß fie, wie 3. B. früher 
Aebtiffinnen, Gerichtsbarkeit haben). Die (CPO. $ 858 hat davon abgejehen, VBorichriiten 
über die paffive Wahlrähigkeit zum ©. zu geben; fie gewährt den Parteien das 
Kecht der Ablehnung aus denfelben Gründen, welche zur Ablehnung eines Richters 
berechtigen ($$ 42. 43), jowie dann, wenn der ©. die Erfüllung feiner Pflichten 
ungebührlich verzögert. Die vorgenannten unfähigen Perfonen des Gemeinen Rechte 
fönnen ebenfalls abgelehnt werden und ebenjo ſolche Perfonen, denen die bürgerlichen 
GEhrenrechte aberfannt find. Streitig war, ob der Kompromiß die individuelle Be: 
zeichnung der ©. enthalten muß. Nah CPO. $ 854 ijt nicht nur die namentlice 
Bezeichnung der ©. nicht erforderlich, jondern der Vertrag jogar gültig, auch wenn 
er feine Beſtimmung über die Ernennung enthält. In diefem Fall ernennt jede 
Partei einen S. Ueber das weitere Verfahren bis zur Grnennung vgl. SS 855, 
856. Verpflichtet zur Uebernahme eines receptum iſt Niemand; wer fich aber be 
reit erflärt hat, wurde fchon im Röm. Rechte durch richterliche Strafe zur Erfül: 
lung gezwungen, wenn ihn nicht gewiffe geſetzliche Entjchuldigungsgründe zur Nieder: 
legung jeines Amtes berechtigen (Krankheit, Alter, Beleidigung durch eine Partei xc.). 
Auch dem heutigen Recht ift der Zwang durch Klage und Zwangsvollitredung nicht 
fremd. Ueber die Friſt, binnen welcher der Schiedsfpruch gefällt werden muß, val. 
1. 13 88 3, 4: 1. 14; 1. 21 $5 D.h. t. Nach der CPO. bleibt den Parteien 
fein anderes Mittel, ala an Stelle eines jfäumigen ©. einen andern zu wählen. 

3) Das Verfahren war dem ©. nach früheren Gejegen (Preuß. Allg. Ger.Dd. 
I. 2 $ 171; Code de proc. art. 1009, 1019) durch die Parteien vorgeichrieben, 
ſonſt gilt der gewöhnliche Prozeßgang. Sind Mehrere ernannt, jo jollen fie den 
Ausipruch zufammen thun, es jei denn, daß nach der Abficht der Parteien auch der 
Einzelne zur Fällung berechtigt ift („Jammt und ſonders“, „ſammt oder jonders*). 
In der Negel enticheidet Stimmenmehrheit; welcher Ausweg aber bei Stimmen: 
gleichheit genommen werden ſoll, darüber herrichte Streit. Nach richtiger Meinung 
galt, wenn es ich um verichiedene Summen handelt, die geringfte, jtand aber der 


Schiedsrichter. 553 


Inhalt des Urtheils jelbjt in Frage, jo entjchied ein Obmann, welcher entweder 
von den Parteien im Voraus bejtimmt oder von den ©. erwählt wird. Das Ur— 
theil mußte in Gegenwart der Parteien verfündet werden, den Streit volljtändig 
enticheiden, feinen unerlaubten Inhalt haben und nicht parteiifch fein. Die CPO. 
$ 860 ff. überläßt Mangels Abrede der Parteien das Verfahren dem freien Er— 
mejlen der S., welche jedoch die Parteien zu hören haben, fofern diefe nicht darauf 
verzichten ($ 867). Die ©. können freiwillig erfcheinende Zeugen und Sachverſtän— 
dige abhören, aber weder fie beeidigen noch von den Parteien einen Eid erfordern, 
vielmehr bedarf es hierzu einer Handlung des Richters, welche auf Antrag der Partei 
vorzunehmen ift. Der ©. entjcheidet über feine eigene Zuftändigfeit ($ 863). Bei 
mehreren S. enticheidet die abfolute Mehrheit ($ 864), bei Stimmengleichheit fällt 
der Schiedsvertrag außer Kraft, ſofern die Parteien für diefen Fall feine Vorſorge 
getroffen haben ($ 859 Nr. 2). Der Spruch ift von den ©. zu unterfchreiben, den 
Parteien in Ausfertigung zuzuſtellen und unter Beurfundung derjelben auf der 
Gerichtsfchreiberei zu hinterlegen ($ 865). 

4) Der Schiedsvertrag wird vor Beendigung der Sache durch Vergleich, aus— 
drüdliches oder jtillichweigendes Aufgeben des Kompromiſſes und durch gewifle Er- 
eigniffe, welche die Perfon des ©. oder der Parteien treffen, ungültig. Bon diejen 
muß der Tod einer Partei hervorgehoben werden; er macht den Kompromiß hin= 
fällig, wenn er nicht ausdrüdlich auf die Erben bezogen it. Dem Tod gleich ift 
Wahnſinn, Konkurs, Uebernahme einer Gejandtichaft zu erachten. (Val. Wind- 
jheid, $ 416, Anm. 12, 13; die CPO. enticheidet diefe Frage nicht.) Fällt 
die beitimmte in dem Bertrage zum ©. beitellte Perſon weg, jo verliert die Ver— 
einbarung ihre Wirkung ($ 859 Nr. 1); tritt diefer Wegfall dagegen bei einem 
nicht ſchon im Vertrag benannten, jondern bei einem nach Abichluß deſſelben be= 
ftellten ©. ein, fo ift ein anderes Schiedögericht zu fonftituiren ($ 857). Bier: 
durch enticheidet die EPD. eine befondere Streitfrage durch gejeßliche Interpretation 
des Parteiwillens. 

5) Berufung an den ordentlichen Richter findet gegen einen Schiedsfpruch im 
Gemeinen Recht nicht ftatt. Auch gab es nach richtiger Meinung nur eine Klage 
aut Erfüllung. Nah CPO. $ 866 fteht der Schiedsipruch einem rechtäfräftigen ge— 
richtlichen Urtheil gleih. Daraus folgt, daß gegen denjelben ein Rechtsmittel nicht 
ftattfindet; es ift vielmehr nur eine Aufhebungsklage gegeben, welche in der Regel 
an feine Friſt gebunden ift (Ausnahme SS 869, 870) und im MWefentlichen die 
Natur der Nichtigkeits- und Neftitutionsflage (58 541 ff.) hat ($ 867). Es folgt 
ferner daraus, daß aus dem Schiebeipruch Zwangsvollſtreckung ftattfindet, jo jedoch, 
daß der PVerurtheilte wie bei einem ausländifchen Urtheil ($ 660) gehört werden 
und das Gericht ein Vollſtreckungsurtheil erlaffen muß ($ 868). Tür Klage auf 
Aufhebung, Zwangsvollſtreckung und die ſonſtigen, aus dem Schiedövertrag entitehen- 
den Streitigkeiten ift Mangels einer Schriftlichen Bezeichnung im Vertrag das 
an fich für den Rechtsftreit zujtändige Gericht kompetent ($ 871). — Berfchieden 
von den ©. find die Schäßungsmänner (arbitratores), welche von dem Nichter als 
Sachveritändige binzugezogen werden (1. 76 D. 17,2; 1. 25 pr. D. 19,2; Preuß. 
Allg. ER. J. 5 88 72, 73; 1.11 $ 48; Entich. des ROHG. IV. ©. 428 ff., II. 
S. 75 ff. VI. ©. 31 ff., VIII. ©. 110, XVIII. ©. 345), und die Schied3- 
männer (f. diefen Art.). Endlich giebt e& auch S. im Gebiete des öffentlichen 
(vgl. Reichsverfaffung Art. 76; CPO. SS 851—872) und Völferrechts (Alabamaz, 
San Juan-Frage ıc.), ohne dafı fich jedoch hier fichere Normen ausgebildet haben. 


Dierüber fiehe nachitehenden Art. 

Quellen: Tit. D. 4, 8; Cod. 2, 56; X. 1, 43; in VIto I. 22, — Preuß. Allgem. 
Ger.D. 1.2 8$ 167—176; L 30 38 48--56. — Code de proc. art. 1003—1028. — Ace en 
ss 1061—1 . — Bayern Art. 13191344. — Württemb. Art. 175—208. — Deutſch 
Gntwurf von 1874 ss 792—813. — CPO. $$ 851-872. — Sidi. BEP. 88 117-1007. — 


Defterr. BGB. $$ 1008, 1391. 


554 Schiedsiprud. 


git.: Glüd, Komment, VI ©. 65—105. — W. H. Puchta, Das Inftitut der 3, 
1823 (erörtert nur den Legiälatorifchen wir befjelben). — Pfeiffer im ber Zeitichr. für 
Givilreht und Prz., N. 9. 1 MW. Andre, Gemeintechtliche Grundzüge der Schiedi: 
gerichte, 1860. — 6. Beigjäder, , Das Röm. Schiedsrichteramt unter Vergleichung mit dem 
officium judicis, 1879. — eglement für — Schiedsgerichte, Entwurf von Gold— 
ſchmidt (1874), in Grünhut's Zeitſchr. II. ©. 714 ff. — Die Kommentare aur . 

ayier 

Schiedsſpruch — arbitrium, definitio bei den Römern, laudum bei den 
Neueren, arbitrage, arbitration — iſt eine auch in Staatenverhältniffen angewandte 
GEnticheidungsart von Streitigkeiten vermittelit unbetheiligter, von den jtreitenden 
Parteien gewählter Perfönlichkeiten. Die eivilrechtliche Unterfcheidung zweier Arten 
des arbitrium (l. 76 D. pro socio 17, 2) (vgl. über das arbitrium Heimbach 
in Weiske's Nechtsler. I. 427 ff.) ceſſirt im Wölferrecht, weil der völferrechtlice 
S. immer von bejtimmt namhaft gemachten Perſonen und in Gemäßheit eine 
Kompromifjes gethan wird und er nicht wegen Unbilligkeit, jondern nur aus be 
ſtimmten, fejtgeftellten Gründen angejtritten werden fann, wenn auch die Billigkeit 
als Enticheidungsnorm nicht ausgefchloffen ift. Die angeblich prozeſſualiſtiſche Unter: 
ſcheidung ( Heffter, $ 109) von arbitratio und eigentlichem arbitrium hat für das 
Völkerrecht feine praftifchen Konjequenzen, die einzig von Heffter angeführte: der 
Nachweis einer thatiächlichen Unrichtigkeit, ift bei jedem völferrechtlichen ©. ſtatt⸗ 
hatt. Nothwendig iſt dagegen die Unterfcheidung des ©. und der Vermittelung und 
fan daher der arbiter nicht entweder conciliator (bei Groot) — mediateur (bei 
Barbeyrac) = arbitrator (bei Ducange), oder arbiter, defien Ausſpruch man 
fich unbedingt zu fügen habe (Groot, III. XX. 8 46), fein, jondern nur arbiter, 
Den Unterjchied zwiſchen Vermittler und Schiedärichter deutet überdies jchon das 
Givilreht an (.13 $2 D. 4, 8), j. über denfelben auch den Art. Bermittlung — 
Die Griechifchen Staatenvereinigungen (einige waren Staatenbünde, andere Bundes 
jtaaten) beriethen oder entichieden ihre Streitigkeiten, feltener auch die ihrer reip. 
Bürger, bald in ihren allgemeinen VBerfammlungen (Tittmann, Griechische Staate 
versafjung [1822], 668, 672, 677), in welchen fie auch mit Gerrichern und Ge 
fandten dritter Staaten verhandelten (Tittmann, 684, 699, 702, 714, 720, 725, 
729), bald in einem gemeinjchaftlichen Gericht oder durch eingejegte Richter (Titt— 
mann, 677, 687, 724, 729, 735, 738, 748). Die Provokation auf jchiedärichter: 
liche Enticheidung gegen ein in Sachen eines Fremden und Einheimiſchen (devem 
Staaten durch Nechtöverträge, adudora, mit einander verbunden waren) ergangenes 
Urtheil an das Gericht des Staates des Fremden oder eines dritten unbetheiligten 
Staates (dıxuorrjoor Exrinror) war in Athen gejtattet (Heffter, Athen. Gerichte 
verf., 1822, 339 ff.; Sell, Refuperatio der Römer, 1837, 307 ff.). Die Rechte 
unficherheit und Beiehdungen der Angehörigen verichiedener Staaten veranlaßten die 
Römer zu jog. Refuperationsbündniffen mit anderen Staaten, wonach durch beiondere, 
für jeden einzelnen Fall von den Parteien gewählte oder, falls dieſe dazu nicht 
bereit waren oder fich nicht einigten, durch den Magijtrat bejtellte recuperatores 
Streitigkeiten (causae privatae) zwiſchen Römern und Peregrinen verbündeter Staaten 
inappellabel entichieden werden jollten; kompetent war aber das iudicium recuper. 
auch für causae publicae der Privaten gegen einander, namentlich Verbrechen. Die 
GEnticheidungsnormen waren gemijcht aus dem Röm. Recht und dem des verbündeten 
Staates, ſpäter das ius gentium, dabei Hatte in privatrechtlicher Beziehung das 
arbitrium der Refuperatoren freien Spielraum. Die Refuperatoren jorgten auch 
für UrtHeilsbefolgung. Für öffentliche Diffidien zweier Staaten waren fie indeß 
nicht kompetent, wohl aber ließen die verbündeten lateinifchen Städte ihre Streitig- 
feiten von einem Bundesgericht ichlichten und erhoben rechtsverbündete, Roms 
Superiorität anerfennende, Staaten den Römtjhen Senat zum Richter (Sell, 58 
182, 97, 112, 312, 338, 327, 302, 72, 75, 80). Bis zu Bonifazius VIII. übten 
die Päpſte das Schiedsrichteramt zwiſchen Fürften, jeitdem waren fie nur noch Wer: 


Schiedsiprud. 555 


mittler; im 14. und 15. Jahrhundert find Schiedsfprüche mweltlicher Fürften häufig 

(Pütter, Beitr. zur Völferrechtögeich., 1843; 111, 112, 159 und 160, 179 ff.). 

Die aus der Mitte des 13. Jahrhundert jtammenden „Austräge“ der Genofjen des 

Deutichen Herrenſtandes vereinbarten jchiedsrichterliche Enticheidung ihrer Streitig- 

feiten durch unparteiifche Standesgenofjen. Ihrem Beifpiele folgten Kurfürften, 

Fürften und Fürftenmäßige. Neichsftädte wurden zu Austrägen privilegirt. Die 

Rheinbundsacte (Art. XXVIII.) bezeichnet irrtümlich als „Austräge“ das Recht der 
fürftlichen nnd gräflichen Landesherren und ihrer Erben, in Kriminaljachen von 

Standesgenofjen gerichtet zu werden, Streitigkeiten der Bundesglieder unter einander 
einer (nie verwirklichten) Bundesverfammlung vorbehaltend. Nach Art. 11 der 
Deutichen Bundesacte vom 8. Juni 1815 haben die Bundesglieder ihre Streitig- 

feiten bei der Bundesverfammlung anzubringen, nach fehlgejchlagener Bermittelung 
unterliegen fie einer allendlich enticheidenden Aufträgalinftanz. Der Bundesbeichluß 
vom 80. Oktober 1834 ſetzte ein Schiedsgericht auch für Streitigfeiten ber 
Bundesglieder unter einander feft (Jordan in Weiske's Rechtslex. 1839 I. 474 ff. 

s. v. Austräge; v. Leonhardi, Das Aufträgalverf. des Deutjchen Bundes, 1838). 
Die Verf. des Norddeutichen Bundes vom 16. April 1867 bejtimmt in Art. 76: 
„Streitigkeiten nicht privatrechtlicher Natur zwiſchen verichiedenen Bundesjtaaten 
werden auf Anrufen des einen Theil vom Bundesrath erledigt.“ Halt gleichlautend 
ift die Beſtimmung in der Verfaſſung des Deutjchen Reichs vom 16. April 1871, 
Art. 76. Nach der Revifion der Schweizeriichen Bundesverfaffung vom 31. Yan. 
1874 urtheilt da8 Bundesgericht über civilrehtliche Streitigkeiten zwiſchen 
dem Bunde und den Staaten, den Kantonen unter fich und zwijchen beiden und 
Privaten jowie Korporationen andererfeits (Art. 110); über ftaatsrehtliche 
zwiſchen Kantonen und über Beichwerden von Privaten wegen Verlegung von Kon— 
fordaten und Staatöverträgen (Art. 113) und mit Zuziehung von Gejchtvorenen, 
welche über die Thatfrage abiprechen, über Verbrechen und Vergehen gegen 
das Völkerrecht, während der Bundesrath die jchiedsrichterlichen Sprüche über 
Streitigkeiten zwijchen Kantonen zu vollziehen hat. Streitigkeiten der Vereinigten 
Staaten von Nordamerika unter einander entjcheidet der Kongreß (Verfaſſung vom 
4. Okt. 1776 Art. XIV. und Berfaffung vom 9. Juli 1788 Art. IX.$ 2). Der ©. 
vereinigter Staaten, insbejondere von Bundesjtaaten, wird mehr einen „jtaatgrichters 
lichen“ (Heffter, 109) Charakter haben; wo bejtimmte, nicht für den einzelnen 
Fall gewählte Schiedsinftangen fungiren, werden diefe den Charakter von jchieds- 
richterlichen verlieren (Welder, 110). — Eine Pflicht der Staaten zur friedlichen 
Entjcheidung, ſomit auch zur jchiedsrichterlichen, ihrer Streitigkeiten ift im Allgemeineu 
anzuerfennen, wenn auch unter Umjtänden fein dritter Staat fich willig finden laſſen 
fann zur Uebernahme des S. oder dazu qualifizirt erjcheint, oder im einzelnen Fall 
ein jtreitender Staat das fragliche Recht für zu wichtig Hält oder fich micht für 
berechtigt, daffelbe einem ©. zu unterwerfen (Phillimore, II. 3). Die wejent- 
lichſte Borbedingung eine Schiedögerichts ift das Kompromiß (1. 11 88 1 u. 3 
D. 4, 8), ein Vertrag zwijchen den Parteien, fich einem ©. zu unterwerfen. 
Inhalt des Kompromifjes wird der zu enticheidende Gegenftand (1. 21 $ 6 D. 4, 8) 
und fann der Schiedärichter nur über diefen und, injoweit es im Kompromiß feit- 
geſetzt ift, emticheiden (. 32 $ 15 D. ibid.). Hat der Schiedörichter aus Berjehen 
über einen fompromittirten Gegenftand nicht entichieden, jo kann die Entjcheidung 
über denſelben nachgefordert werden (l. 43 D. ibid.). Außer dem Streitgegenitande 
müfjen auch die Prätenfionen und Forderungen der Parteien in Bezug auf denjelben 
in das Kompromiß aufgenommen werden (Vattel, II. XVII. $ 329) und die 
Art der Enticheidungsnormen, namentlich ob nach Recht oder Billigfeit zu enticheiden 
ſei. Wenn das Necht im Zweifel (Groot, III. XX. 47; Pujendorf, V. XII. 
S 5) oder überhaupt ftet3 (Berner, 102) die Enticheidungsnorm abgeben joll, jo 
werden bei der Lückenhaftigkeit oder mangelnden Gewißheit der geltenden völferrecht- 


556 Schiedsſpruch. 


lichen Beſtimmungen viele Streitigkeiten unentſchieden bleiben müſſen; und wenn 
auch im völkerrechtlichen S. über die wahren Rechte der ſtreitenden Theile entſchieden 
wird und dieſelben nicht wie im Vergleichswege theilweiſe auigegeben werden (Welcker, 
1. c.), jo bedingt doch dieſer Gegenſtand noch nicht, daß Billigkeit ausgeſchloſſen 
bleibt, wie denn auch von anderer Seite (Pufendorf, l. c. $ 4; Heffter, 1. c.) 
Neht und Billigkeit ala Entjcheidungsnormen ftatuirt find. Ungültig ift aber ein 
Kompromiß, in welchem dem Richter, was er enticheiden ſoll, vorgeichrieben ift 
(l. 19 pr. D. ibid.). Das Givilrecht unterfcheidet von dem compromissum das 
receptum alö den Vertrag der Parteien mit dem Schiedsrichter, vermöge deſſen der 
leßtere die Verpflichtung übernimmt, den Streit nad Inhalt des Kompromifies zu 
entfcheiden (1. 3 $ 2 D. ibid. und die Ueberſchrift dieſes Titel). Im Völkerrecht 
wird die Aufforderung und Annahme diplomatifch vermittelt (j. Martens, Guid. 
dipl., I. 19, 3 not. 2). Sit die Annahme erfolgt, jo wird nicht blos der Beginn, 
fondern auch die Fortführung der jchiedsrichterlichen Funktion, ala aus der Annahme 
folgend, erfcheinen und ift daher die Bemerkung Phillimore’s (II. 4), daß 
fein Zwang zur Fortführung beftehe, nicht zutreffend. Daß Niemand Schiedärichter 
in eigener Sache fein könne (1. 51 D. ibid.), ericheint ſelbſtverſtändlich. Gewählt 
werden fönnen zu Schiedärichtern entweder Staaten, und zwar fowol monardiice 
als republifanifche (England und Portugal forderten noch in neuejter Zeit den Ham— 
burger Senat zur Enticheidung über Ansprüche Britifcher Kaufleute an die Portugiefiiche 
Negierung auf, Twiß, II. 10), oder Souveräne (infoweit frauen zur Thronjolge 
zugelaffen find, auch diefe, weshalb im Völkerrecht 1. 6 C. 2, 55 nicht Anwendung 
erleidet), oder Gerichtähöte (Klüber, $ 318 not. a; Twiß, 1. c.), Redti 
fakultäten (die zu Bologna entichied wiederholt Streitigkeiten Italienischer Staaten, 
Twiß, ]l. c.), oder einzelne Privatperfonen, wie: angefehene Staatsmänner, rechts— 
gelehrte Kommiffarien (Klüber, 1. c.), Nechtölehrer, namentlih Staats: umd 
Völkerrechtälehrer. Souveräne können fich vertreten lafjen (j. Martens, Guid. 
dipl., 1. c.), ob fie den allendlichen Ausfpruch ſelbſt thun (Heffter, 1. c.) oder 
ihn nur verfünden (Berner, ]. c.), iſt gleichgültig, da fie ihm meift micht ſelbſt 
abiaffen werden. Privatperfonen können fich nicht vertreten laffen, da fie num ihrer 
perjönlichen Eigenfchaften wegen gewählt find (1. 45 D. ibid.). Won den civilrecht- 
lichen Entfcheidungsgründen rüdfichtlich der Uebernahme eine® Schiedsamtes kommt 
die Anrüchigkeit nicht in Betracht, da Parteien einen Anrüchigen nicht wählen werden, 
während Feindſchaft zwiichen dem Schiedsrichter und einer Partei für die andere ein 
Rekufationsgrund fein wird, vorgerüctes Alter aber, Krankheit, Beichäftigung im 
Staatsamt oder in eigenen Angelegenheiten und eine dringende Reife, ſoweit dieſe 
Gründe die Mebernahme des jchiedsrichterlichen Amtes abfolut unmöglich machen, 
eine Privatperfon entichuldigen werden (vgl. 1. 7,1.98 31.15 D.) Staaten 
oder Souveränen, welche vorzugsweiſe ala Glieder oder Vertreter der internationalen 
Gemeinjchaft zur Uebernahme eines ſolchen Amtes verpflichtet erjcheinen und fic 
vertreten laſſen können, werden diefe Gründe nicht zur Seite ftehen. Sind mehrere 
Schiederichter gewählt, jo müfjen alle mit einander nah Stimmenmehrheit (1. 17 
$ 7 und 1. 27 $3 D. ibid.) entjcheiden (1.17 $ 2 D. ibid.). Bet Stimmengleid- 
heit wählen oder genehmigen die Parteien den etwa von dem Schiedörichter vor: 
geichlagenen Obmann (Phillimore, II. 4); richterliche Nöthigung der Schieds— 
richter zu diefer Wahl fann im Wölferrecht nicht ftattfinden (1. 178 6 D. ibid.). 
Geurtheilt wird nur über zur Zeit des Kompromißabichluffes vorhandene Streitig- 
feiten (1. 46 D. ibid.) und nah ®root (III. XX. $ 48) de principali negotio 
nicht de possessione, damit die dem ©. unterliegende Sache in statu quo bleibe, 
indeß muß der Richter behufs der Beweisauflage fejtitellen, wer der rechtmäßig: 
Beier iſt Gufendorf, 1. c. $ 6); das Givilrecht (1. 32 $ 20 D. ibid.) ver 
pflichtet den Schiedärichter, auch darüber zu enticheiden, auf welche Weije eine vacua 
possessio Jemand gegeben werden joll. Die Parteien haben fich an dem im Kom: 


Schiedsiprud. 557 


promiß zur Verhandlung und Entjcheidung der Sache vereinbarten Orte einzuftellen, 
ihre Gegenwart bei der Enticheidung ift nur, wenn fie verabredet ift, erforderlich. 
Nach dem Givilrecht (1. 21 $ 10 D. ibid.) gilt, wenn fein Ort verabredet ift, was 
im Staatenverfahren rüdfichtlich der Verhandlung wol faum jtatthaben wird, der 
des Kompromiſſes und ift die in Abweſenheit der Parteien gefällte Entjcheidung 
ungültig (I. 27 $ 4 D. ibid.). Der Schiedsrichter beftimmt den Parteien einen 
Termin zur Vorlage der Beweismaterialien und Berlautbarung etwaiger Anträge 
(Öeifter, 1. c.); ein Termin zur Enticheidung ward im Staatenverfahren in der 
Regel nicht angeſetzt, geichah es aber, jo ift eine nach Ablauf deflelben gefällte Ent- 
icheidung nichtig (l. 1 C. 2, 55), ein Beifpiel protrahirter Entjcheidung j. bei 
Martens, Guid. dipl., 1. c. Der Zwang zur Erfüllung eines jonft nicht an— 
iechtbaren völferrechtlichen ©. liegt in der im Kompromiß vertragsmäßig über- 
nommenen Berpflichtung, ſich dem Entjcheid zu fügen (Battel, J. c.; Welder, 
l. e.; Bbillimore, II. 5). Alle jonft angeführten moralifchen und unmoralijchen 
Gründe (Welder, J. c.; Berner, 108) find diefem Vertragsziwange nicht gleich- 
werthig und haben außerdem feine Rechtsbaſis. Das von Phillimore (III. 6) 
zur Erwägung geftellte Recht des Obmanns, für den Fall der Nichterfüllung Krieg 
zu beginnen, ift bisher vom Völkerrecht ala ein rechtmäßiger Kriegsgrund nicht an— 
ertannt, Heffter (I. c.) jpricht dem Schiedärichter überhaupt mit Recht jegliches 
Zwangsrecht gegen die Parteien ab, und jelbjt Phillimore will den Obmann im 
Fall der Nichterfüllung nicht zur Eröffnung eines Krieges für verpflichtet halten. 
Die Unterzeichnung des S. durch die Parteien in der Bedeutung, daß fie nicht 
blos nicht widerjprechen, jondern auch erfüllen wollen (1. 4 $ 6 C. 2, 55), würde 
bei völferrechtlichen Schiedsiprüchen nur eine Wiederholung einer kompromiſſariſch 
bereit3 übernommenen Verpflichtung involviren. Die Vereinbarung einer Strafe 
durch die Kompromittirenden für den Fall der Nichterfüllung (Berner, ]. c.) wäre 
unter Staaten an fich unangemeffen und fein genügendes Wequivalent, außerdem 
würde der Maßſtab für die Abichägung des einer Partei durch die Nichterfüllung 
des S. geurfachten Schadens beim Abſchluß des Kompromifjes jehlen, da dann der 
S. noch nicht gefällt ift. Ebenſo unanwendbar iſt auch die Gewährung des Rüd- 
tritt3 nach geleijteter Strafe (1. 4 $ 5 C. 2, 55; Nov. 82 cap. 11) und die Feit- 
jegung einer Strafe für den Fall, daß fich eine Partei zum S. nicht ftellt (1. 2 
C. 2, 55). Der ©. ift inappellabel (die 1. 1 C. 2, 555.9 D. 2,8 er 
wähnte Ausnahme betrifft einen einzelnen Fall und findet außerdem im Völkerrecht 
feine Anwendung); indeß weigern trogdem fich der Annahme die Parteien, beſonders 
diejenige, welche fich verlegt glaubt (Martens, Guid. dipl., I. 193 und not. 2; 
TZwiß, 1.8 fi) Mit Recht kann dem ©. Folgeleiſtung verfagt werden, wenn 
1. das Kompromiß ungültig war (Heffter, |. a oder 2. verlegt wurde (1. 32 
$s 21 D. 4, 8), 3. bei abjoluter Rechtswidrigfeit (Battel, 1. c.; Martens, 
Guid. dipl., 1. 193; Twiß, I. 8), denn daß man fich einem ungerechten ©. 
unterwerfen müffe, weil e& im WVölferrecht feinen höheren Richter gebe (Wild m., 
I. 186), ift feine genügende Beweisführung; 4. bei thatjächlicher Unrichtigkeit oder 
wegen eines von den Parteien oder dem Schiedörichter verjchuldeten Irrthums; 
5. wenn die Parteien nicht oder nicht ausreichend gehört find; 6. wenn der Schieds— 
richter parteiiſch entfchieden (Battel, 1. e.; Pufendorf, J. e.; Heffter, 1. c.), 
oder wenn er 7. eine Partei argliitig behandelte (1. 32 $ 14 D. ibid.) oder unred- 
(ich (Heffter, 1. c.) oder derjelben 8. etwas Ungiemliches (1. 21 $ 7 D. ibid.) 
auferlegte,, 3. B. etwas der Ehre oder Unabhängigkeit eines Staates Widerjprechen- 
des (Martens, Guid. 1. c.), oder wenn 9. eine Partei den Schiedsrichter beftochen 
(Bufendorf, 1. c.), oder wenn fie 10. gegen den Gegner argliftig getvejen (1. 31 
D. ibid. Bal. Battel,1l.c.). Heffter (l. c.) führt noch außerdem Unfähigkeit 
des Schiedämannes an, indeß muß dieje wol jpäter, nach Abichluß des Kompromifies, 
eingetreten fein. Daß der Schiedsrichter, ſelbſt wenn er fich geirrt, feinen ©. nicht 


558 Schiedsiprud. 


ändern darf (1. 19 $ 2; 1. 20 D. ibid.), fpricht gegen die allgemeinen Rechtögrund: 
fäge. Bei nicht fonneren, der Enticheidung unterliegenden Sachen ift die Aenderung 
dem Schiedärichter geftattet, wenn er laut Kompromiß alle gleichzeitig zu entſcheiden 
und nur eine einzelne entichieden hatte (l. 21 pr. D. ibid.). — Ein Kompromik 
hört auf durch die Fällung des ©., durch Zeitablauf, durch Todesfall oder all- 
gemeine Unfähigkeit der Schiedörichter, durch einen entgegenjtehenden Vertrag der 
Parteien oder durch Vergleich unter denfelben, durch Leiftung des Streitigen (val. 
l. 32 88 3 u. 5 D. ibid.). — Die Ngitation für den ©. beginnt mit der Ent: 
jtehung der Friedensgeſellſchaften, welche 1816 in London, 1826 in den Wereinigten 
Staaten von Nordamerifa, 1830 in Genf, 1841 in Paris ala ein Gomite der 
soci6te de la morale chrötienne fich fonftituirten. Die internationalen Friedens— 
fongrefje beginnen mit 1842 in London und fanden 1848—51 ftatt in Brüflel, 
Paris, Frankfurt a. M. und London. Alle dieſe Kongreffe verlangten, daß das 
Prinzip des ©. von einem Völkerkongreß (congres des nations) proflamirt werde 
(KYaveleye, 182 ff). Die alliance universelle de l’ordre et de la civilisation 
in Paris behandelte am 4. Juni 1872 den ©. und beichloß aus Fompetenten 
Perjonen eine Kommiſſion zu bilden, welche alle auf die internationale Jurisprudenz 
bezüglichen Dokumente jammeln und die auf die ©. bezüglichen Hiftorifchen Falta 
populär darftellen follte (j. die Verhandlungen der alliance, Paris 1872, T. I. 84). 
Die vom 7. bis 9. Sept. 1873 in Genf abgehaltene assemblée generale der ligue 
internationale de la paix et de la liberts hatte auf die Tagesordnung geſetzt, daß 
die geeignetiten praftiichen Maßnahmen zur unmittelbaren Einführung des ©. er: 
griffen und bejonders die Negeln für das Verfahren fejtgeitellt würden. Die Ber: 
jammlung erkannte aber zur Zeit, ala das wirkſamſte Mittel zur Einführung de 
Gebrauchs der ©., den Abichluß von Verträgen zur Vermittlung zwijchen zwei oder 
mehreren Staaten (Rev. d. dr. intern. V. 632 ss.). Die im Oftober 1873 in 
Brüffel abgehaltene conference internationale erklärte die Bölker zur Anwendung 
des ©. für verpflichtet (obligatoir) bei Streitigkeiten, welche durch Berhandlungen 
nicht beizulegen wären und daß, wenn auch das Mittel nicht in allen Fällen ans 
gewandt werden könne, die Ausnahmen doch wenig zahlreiche jein würden. Mehrere 
Mitglieder der Konferenz anerfannten nur eine Pflicht, nicht eine juridiiche Ver— 
pflichtung (1. c. 696), indeß hat eine freie Konferenz, welche für den S. ſich erklärt, 
fih für eine jtrifte Verpflichtung auszufprechen, denn jonft kann fie wol faum er 
warten, daß Völker und Staatöregierungen ihre Beichlüffe für mehr ala pia desideria 
halten werden. Reifen zur Agitation für den ©. unternahmen Elihu Burrit 
(ichon 1848) von Amerifa nach England, in den legten Jahren Miles, Sefretät 
der Bojtoner Friedenagejellichaft, nach Frankreich, Italien, Deutichland und Belgien, 
und 1873 Henry Richard nach verjchiedenen größeren Städten Belgiens, Hollands, 
Oeſterreichs, Jtaliend und Berlin. Das Institut de droit international berieth in 
zwei Jahresfigungen in Genf (1874) und im Haag (1875) ein vom reip. Bericht: 
erjtatter Prof. Dr. Goldſchmidt auögearbeitetes „Reglement für das internationale 
fchiedsrichterliche Verfahren“. Das an letzterem Ort endlich redigirte und be 
ichloffene Reglement wurde den Minifterien des Auswärtigen mitgetheilt, und it 
damit die häufig großen, Zeitaufwand verurjachende Vereinbarung des Verfahrens für 
jeden einzelnen ©.fall, injoweit die Staaten jenes Reglement für ihre S.jachen 
acceptiren wollen, unnöthig geworden. — Den Berhandlungen in freien Konferenzen 
find Anträge, Diskuffionen und Beichlüffe in Legislativen gefolgt, jene haben dieſe 
entweder vorbereitet oder fie unterjtüßt, falls fie dieſen erit folgten. 

Soweit bekannt wurde der erite Antrag zu Gunsten der internationalen ©. in 
Legislativen gejtellt im Jahre 1835 im Nepräfentantenhaufe von Maffachufetts, ſo— 
dann 1837 und 1838 in dem des Kongrefles der Vereinigten Staaten und 1851 
und 1853 in dem Senat dieſes Kongreſſes. KXebterer nahm 1853 eine Rejolution, 
an, welche den Präfidenten aufforderte, in den Vertrag einen Artikel aufzunehmen, 


Sciedsiprud. 559 


welcher die fontrahirenden Staaten für unter ihnen entjtehende Differenzen zum ©. 
verpflichtete. Auch andere Legislativen der Vereinigten Staaten traten für den ©. 
ein. Am 1. Dezember 1873 legte der Senator Sumner dem Senat der Ber: 
einigten Staaten Rejolutionen zur Einführung des ©. für internationale Differenzen 
al „a substitute for war in reality as in name“ vor. Der jchon am 1. Junt 
1849 von Cobden im Unterhaufe geitellte Antrag, ein Geſuch an die Königin zu 
richten, die anderen Staaten aufzufordern, Verträge zu ſchließen, welche die kon— 
trahirenden Theile verpflichten, durch gütlichen Vergleich nicht beizulegende Diffe- 
renzen jchiedsrichterlich entjcheiden zu laſſen, wurde mit 176 gegen 79 Stimmen 
verworfen (Yaveleye, 182 ff.), dagegen beichloß das Unterhaus am 9. Juli 1873 
mit 98 gegen 88 Stimmen auf Antrag Henry Rihard’s, daß die Königin 
eriucht werde, mit anderen Staaten in Verbindung zu treten to further improve- 
meht of international law and the establishment of a general and permanent 
system of international arbitration. Die Königin erfannte die philan— 
thropischen Motive der Adreſſe an und erklärte, daß fie auch in Zukunft durch Rath 
und Beijpiel für den ©. wirken werde (Rev. d. dr. international V. 471 u. 629.ss.). 
Im Dezember deffelben Jahres beichloß die Italienische Deputirtentammer ein= 
timmig auf Antrag Mancini’s, „daß die Hammer den Wunſch ausdrücke, 
daß die f. Regierung in ihren auswärtigen Beziehungen dahin ftrebe, daß der ©. 
ein übliches und häufiges Mittel werde, in den Materien, welche demselben 
unterworfen werden fönnten, in Gemäßheit des Rechts die inter 
nationalen Kontroverjen zu enticheiden, und daß, jobald fich die Gelegenheit dazu 
biete, in die Verträge eine Klauſel eingefügt werde, wonach Schwierigkeiten bei ihrer 
Interpretation und Ausführung Schiedsrichtern anheimgegeben würden“ u. A. Der 
Minifter des Auswärtigen trat dem Antrage bei, acceptirte aber die Klauſel nur 
mit einer gewiflen Reſerve (Communicat. d. l’inst. d. dr. intern. II. fasc. p. 6). 
Endlich iſt noch anzuführen, daß nad Youis Barbault (Du Tribunal inter- 
national, Geneve 1872, p. 53) jichon der Kaiſer von Rußland Alerander I. die 
Möglichkeit eines Webereintommens aller Staatsoberhäupter erfannt hat, um alle 
Differenzen dem ©. zu unterwerfen, anjtatt fie durch Waffen zu enticheiden (Rev. d. 
dr, internat. V. 477 not.). 

Klagen über das jeltene Vorkommen von völferrechtlichen ©. ſ. bei Groot, 
l. ec. not. k: Compromissum,, Martens, B.R., $ 172 not. b, Hlüber, 8 318 
not. a, Welder u. Berner, 1. c. Indeß führen Groot und Klüber jelbjt 
mehrere Fälle jchiedsrichterlicher Enticheidungen an. Aus neuerer Zeit machen wir 
nambaft : . 


1) 1794. Grichtung von drei jchiedarichterlichen Kommiffionen in Folge des Jay: 
Dertrages zwifchen den Vereinigten Staaten von Nordamerifa 
und England vom 19. November 1794 (art. 4—7). Bon jedem 
Staate wurde ein Kommiflär gewählt und beide follten eine dritte 
Perjon wählen. Die erite Kommiffion entjchied am 24. Nov. 1817 
(j. d. Sentenz b. Martens, N. R. Suppl. an V. Tome 397 ss.). 
Die zweite Kommiſſion fam zu feiner Entjcheidung und urjachte den 
©. sub Nr. 4. Die dritte Kommiffion Löfte ihre Aufgabe nur zum Theil 
(j. Rev. d. dr. internat. VI. 121 not.). 

2) 1814. Reklamation der Vereinigten Staaten von Nordamerifa wider 
Portugal: Case of privateer General Armstrong, jchiedsrichterlich 
entichieden durch den Wräfidenten der Franzöſiſchen Republit Louis 
Napoleon am 30. Nov. 1852 (j. Kent, Comment. of the internat. 
law, Cambridge 1866, p. 179). 

3) 1818. In Folge eines Vertrages vom 20. Oktober 1818 zwiſchen England 
und den Vereinigten Staaten von Nordamerika erfolgte eine 


360 


4) 1827. 


5) 1834 u. 


6) 1839, 


7) 18839. 


8) 1841. 


9) 1852. 


10) 1853. 


Schiedsiprud. 
jchiedsrichterliche Entjcheidung des Kaiſers von Rußland, zu deren Aus 


führung der Bertrag vom He 1822 zwiſchen England, den Ber 
einigten Staaten von Nordamerifa und Rußland abgefchloffen wurde, 
in welchem auch die Sentenz enthalten ift (Martens, N. R. VI. 67 s.). 
Die Kommifjäre waren verfchiedener Meinung bei der Interpretation 
der Sentenz und wurde deshalb ein neuer Vertrag zwiſchen den Per 
einigten Staaten und England am 13. Nov. 1826 abgeichloffen, der 
die Differenz erledigte. 

Differenz zwifchen den Vereinigten Staaten von Nordamerita 
und England. Der König von Holland wurde in Gemäßheit eines 
Vertrages vom 29. Sept. 1827 im Jahre 1828 zum Schiedäridter 
gewählt, zur Entſcheidung einer Grenzftreitigkeit. Seine Entſcheidung 
wurde aber von beiden Theilen zurückgewieſen, weil er die ihm vorgelegte 
Frage nicht entfchieden, fondern eine willfürliche Grenze bejtimmt hatte. 
1835. Portendic claims von England gegen Frankreich. ©. des 
Königs von Preußen vom 30. Nov. 1843. Siehe denfelben und den 
des Präfidenten der Franz. Republik (sub Nr. 2) in den British and 
Foreign States-Papers, 1852—53, p. 1377—1380. 


Reklamationen von Bürgen der Bereinigten Staaten gegen 
Mexiko. Nach dem Bertrag vom 11. April 1839 jollten diefelben 
entjchieden werden durch eine gemifchte Kommiſſion von vier Gliedern. 
Bei getheilter Meinung follte der König don Preußen, eventuell die 
Britiiche Majeftät oder der König von Holland aufgefordert werden, 
einen dritten Schiedsrichter zu ernennen. Der König von Preußen 
jällte die Entjcheidung, vertreten durch jeinen Gejandten in Wafhington. 
Grit durch den Vertrag von Guadelupe-Hidalgo vom 2. Februar 1848 
(art. 13—15) wurde die Entiheidung ausgeführt (ſ. den Vertrag bet 
Martens, N. R. G. XIV. 7 ss). Die Kommiffionen waren u. 4. 
darüber uneinig, ob fie ein Gerichtshof oder ein diplomatijches Korps 
jeien (j. Rev. d. dr. internat. VI. 123 not. 1). 


Schadenserfaßforderungen Merifo’3 und von Merifanern an Frant: 
rei. ©. der Königin von England vom 1. Aug. 1844 in Gemäß— 
heit des zwiſchen Frankreich und Merifo abgefchloffenen Friedens— 
vertrages vom 9. März 1839 art. 2 (Martens, N. R. XV]. 607., 
Calvo I. 792). 


Reklamationen der Vereinigten Staaten von Nordamerifa 
zu Gunjten ihrer Bürger gegen Chile, rüdfichtlich der Brigg „Ma- 
cedonian“. Durch Vertrag vom 10. Nov. 1858 wird dem König der 
Belgier die Entjcheidung übertragen und ift der ©. vom 15. Mai 
1863 an in der Rev. d. dr. internat. VI. 121., Calvo, 
I. 795). 

Schadenserfaganfprüche wegen der Prifen: Veloz-Mariana, Victoria et 
Vigie aus den Jahren 1823—24. ©. des Königs der Niederlande 
vom 13. April 1852 zwijchen Sranfreih und Spanien. Be 
Spruch wurde erjt ausgeführt durch Vertrag zwifchen beiden Parteien 
vom 15. Febr. 1862 (Calvo, I. 793). 

Reklamationen der Bürger refp. Unterthanen der Vereinigten Staaten 
von Nordamerifa und Englands gegen den einen oder anderen 
Staat, entichieden durch je einen Kommifjär von jedem Staat und den 
durch beide gewählten Joſuah Bates aus London (j. Bellaire und 
Lawrence). 


11) 1857. 


12) 1860. 


13) 1862. 


14) 1862. 


15) 1868. 


16) 1864. 


17) 1869. 


18) 1870. 
19) 1871. 


20) 1871. 


Schiedsiprud. 561 


Differenz zwifchen den Bereinigten Staaten von Nordamerifa 
und Neu-Granada, entjchieden in Gemäßheit des Vertrages vom 
10. Sept. 1857 (ratifizirt 1860), (Lawrence, l. c. 126). 

Differenz zwijchen den Vereinigten Staaten von Nordamerifa 
und Coſta-Rica in Gemäßheit des Bertrages vom 2. Juli 1860 
(ratifizirt 1861). entjchieden durch eine ſchiedsrichterliche Kommijfion 
(Bellaire, Lamrence). 

Differenz zwifchen den Vereinigten Staaten von Nordamerifa 
und Beru in Bezug auf die Schiffe „Lizzie-Thomson“ und „Georgiana“. 
Durch Vertrag dom 20. Dezember 1862 jollte der König der Belgier 
zum Schiedärichter aufgefordert werden, derjelbe übernahm aber den ©. 
nicht. Berträge vom 12. Jan. 1863 und 4. Dezember 1868 konſtitu— 
irten ſchiedsrichterliche Kommiſſionen zwijchen beiden Staaten (Bellaire, 
Lawrence). 

Differenz der Offiziere des Engliſchen Schiffes „Da Forte“ mit den 
Braſilianiſchen Autoritäten. S. des Königs der Belgier 1863 
(Calvo, I. 794). 

Differenz zwiichen den Bereinigten Staaten von Nordamerika 
und England. Reklamationen der Aderbausftompagnien der Hudſon— 
Bai und der Puget-Meerenge. Vertrag vom 1. Juli 1863 (ratifizirt 
den 3. März 1864). Der ©. (?) wurde am 10. September 1869 
abgegeben durch die Amerikanische und Englijche Kommiſſion, welche fich 
geeinigt, ohne auf einen dritten Schiedsrichter (?) zu Pprovoziren 
(Bellaire, Lawrence). 

Differenz zwijchen England und Peru wegen des gefangen gehaltenen 
und jpäter vertriebenen Engliſchen Untertanen Th. White. Der 
Hamburger Senat jällte am 12. April 1864 den ©. (Galvo, 
I. 796). 

Differenz zwifchen England und Portugal rüdfichtlich des Eigen— 
thumsrechtes an der Inſel Bulama. Schiedärichterliche Entjcheidung 
des Präfidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerifa im Jahre 
1870 (Lawrence). 

Differenz zwiſchen Spanien und Aegypten, entjchieden durch einen 
©. Englands (Laveleye, 190). 

Alabama claims (Vertrag von Wafhington zwiſchen England und 
den Vereinigten Staaten von Nordamerifa vom 8 Mai 
1871). Gnticheidung durch fünf Schiedsrichter, von welchen je einer 
durch Italien, Brafilien, die Schweiz, England und die Vereinig— 
te Staaten von Nordamerifa ernannt wurde, vom 14. Sept. 
1872 (j. Aegidi's Staatsarhiv XXV. 145 ff. und Martens, 
N. R. G., XX. 775 ff.). i 

San = Juan Differenz zwifchen den Vereinigten Staaten von 
Nordamerifa und England (Bertrag von Waihington vom 
6. Mai 1871). Schiedsrichterliche Entfcheidung des Königs von 
Preußen vom 21. DOftober 1872 (j. Aegidi's Staatsarhiv XXV. 
217 ff.). 


21) Differenz zwiichen Portugal und England Hinfichtlich der Grenzen ihrer 


afrikanischen Befigungen. Schiedsrichter der Präfident der Franzöſiſchen 
Republik Thiers. 


22) Definitive Feſtſtellung der Jtalieniſch-Schweizeriſchen Grenze bei Alpe 


de Cravairola (Konvention vom 31. Dezember 1873; Martens, N. R. G., 
XX. 214), Schiedsjpruch des Amerikanischen Gejandten in Rom Marſh 


v. Dolgenborff, Enc. II. Rechtslexikon III. 8. Aufl. 36 


562 Schiedsiprud. 


als Obmann zu Mailand am 23. September 1874 (Martens, 
N,R.G., II. Ser. I. 378). 

23) Reklamation des Don Rafael Aquirre wider die Vereinigten Staaten 
(Konvention vom 4. Juli 1868 zur Regulirung der Amerifan.-Merikan. 
Reklamationen). Schiedsipruch des Obmannes Edward Thornton vom 
16. April 1874 (Martens, N. R.G., II. Ser. T. I. ©. 5 ff.). 

24) Differenz in Bezug auf das Schiff „ Maria Luz“ zwiſchen Japan und Pen. 
Schiedsrichterliche Enticheidung des Kaiſers von Rußland Alerander II 
vom 17.—29. Mai 1875 (f. Annuaire de l’Institut de droit inter- 
national 1878, II. 353). 

Auch die Reklamationen Amerikanischer Bürger gegen Spanien in Folge der 
Greigniffe in Kuba jollten, nach einer am. 12. Februar 1871 in Madrid abge: 
ichlofjenen Mebereinkunft, gütlich beigelegt werden durch je einen Schiedsridter 
beider Parteien und einen von diefen erwählten Obmann für den Fall ihrer Nicht: 
übereinftimmung. Diefer gütlichen Uebereinkunit war ein Reglement für das Ver— 
fahren beigefügt, jeitgeftellt durch die gemifchte Kommijfion am 1. Juli 1872 
(Martens, N.R.G., II. Ser. T. I. 17 ff.). Die Konvention zwiſchen England und 
Spanien vom 4. März 1868 in Anlaß der das Englijche Schiff „Mermaid“ be 
treffenden Differenz bejtimmte, daß zu der dieje Angelegenheit enticheidenden Kommiſſion 
je zwei Glieder von jeder Regierung ernannt werden und für den Tall, daß fie fi 
nicht einigen, eine fünfte Berfon, welche allendlich und inappellabel entjcheiden jollte 
(Martens, N.R. G., XX. 491 ff.). Der Modus der Ausgleihung von Differenzen 
wegen Reklamationen ihrer refp. Staatsangehörigen an den gegnerifchen Staat ijt von 
England und den Vereinigten Staaten von Nordamerika in ihrem Vertrage von 
MWaihington vom 8. Mai 1871 Art. 12 in der Art vereinbart worden, daß je ein 
Kommiffär von jedem Staat und der dritte durch beide zufammen ernannt wird, 
daß aber, falls die Ernennung diejes leßteren nicht innerhalb des dafür feitgejeßten 
Termins erfolgt iſt, derjelbe dann durch den Spanifchen Gejandten in Waſhington 
ernannt werden jolle. 

Schiedsjpruchsfälle j. bei Galvo, 792 ff.; Bellaire, 51 ff; Lucas, Acad, 
415 ss.; Pierantoni, 62—85; Laveleye, 188; Lawrence, 117 ff. 

Menn von einigen Schriftitellern der Art. 8 des Parifer Vertrags vom 30. März 
1856 und das Protokoll der 23. Situng des Pariſer Kongreſſes, d. d. 14. April, 
in welchem auf den vorgehenden Artikel Bezug genommen wird, ſowie die Erledigung 
der Neuenburger und Luxemburger Affaire als Schiedsjprüche oder Beweije für 
weitere Verbreitung deffelben angeführt worden, jo ift ſchon von anderer Seite, in 
der Rev. d. dr. internat. V. 473 not. 2 und von Lawrence, ]. c., zur Genüge 
darauf Hingewiefen, daß jene Beitimmungen und Grledigungen der DVermittelung 
oder den bons offices zu fubjumiren find. Ueber den wejentlichen Unterſchied diefer 
u. a. und vom ©. ſ. aber d. Art. Vermittlung. — Aus den angeführten 
Fällen find aber die jog. jchiedsrichterlichen Kommiſſionen auszuſcheiden, falls fte 
die Sache ſelbſt entjchieden und nicht ein Obmann jchließlich die Entjcheidung gefällt. 
Kommiſſäre betheiligter Staaten fünnen nie ala Schiedsrichter ericheinen, und «es 
war auch ein Fehler in der Organifation des Alabama-Schiedsgerichts, daß auch 
die jtreitenden Theile je einen Schiedsrichter ernannten und um jo überflüffiger, 
ala außerdem jedem derjelben ein Englischer und Amerikanischer Agent zur Seite 
ſtand. Gine Veranftaltung einer Sammlung der Schiedögerichtsfälle wird vielleicht 
einerjeit3 eine größere Zahl derjelben ergeben, andererjeits aber vielleicht auch manchen 
bisher auch dafür gehaltenen Fall noch ausicheiden. Nicht hierher gehörige Beitimmungen 
und Fälle anzuführen, führt nur zu einer Täujchung über das bisher erreichte 
Stadium der Anwendung der Schiedsjprüche. Die jog. jchiedsrichterlichen Kommii: 
fionen, bejtehend aus Vertretern der Betheiligten, ericheinen mehr als Inſtanzen yur 
Ansgleichung als zur Entiheidung von Differenzen, denn für einen ©, ift weient- 


Sciedsiprud. 563 


ih, daß ein wirklicher Richterjpruch, und zwar dritter Unbetheiligter, ftattfindet. 

Die Kommiffionen erjcheinen verwandt der von Dudley Field art. 534 propo— 

nirten High Commission. — Aus den angeführten Fällen ergiebt ſich: 1) daß 

mehrere Schiedsjprüche erjt eine lange Zeit nach dem Entſtehen der Differenz oder 

nach der vertragsmäßigen Uebereinkunft zur Provozirung auf diefelben gejällt und 

manche nicht oder erft jpäter durch neue Verträge realifirt find, jo daß das Inſtitut 

des S. noch vielfach langjam, unficher und nicht inappellabel funktionirt; 2) daß 

die Schiedsrichter meift Souveräne waren oder Staatshäupter, wie die Präfidenten 

von Republifen, wenn auch die Ausarbeitung Richtern und Beamten übertragen 

wurde und bei dem Alabamajtreit dieje jelbit die Schiedsrichter waren; 3) daß die 

Schiedsfprüche entweder jtreitige Territorien oder Grenzen derfelben, oder Reklama— 

tionen wegen Verlegung von Privaten oder Schadenserfag zu Gunjten derjelben be= 

treffen; die allerwichtigften Differenzen von Staat zu Staat find aber noch immer 

durch Kriege erledigt worden; 4) am häufigjten haben auf Schiedsiprüche fompro- 

mittirt außereuropätiche Staaten, insbeſondere die Vereinigten Staaten von Nord— 

amerifa, und häufiger von europäifchen nur England, aber meijt auch mit außer- 
europäifchen. — Der Nuben der Schiedsjprüche iſt daher bisher noch ein bejchränfter 
und relativer und find jehr wichtige Fragen Tür die weitere Verbreitung die: 
1) „Welche Arten von Streitigfeiten können einem Sch. unterworfen werden?“ Wir 
find nicht der Anficht Yorimer’s (Rev. d. dr. internat. VI. 171), daß feine genaue 
Feſtſetzung derjelben möglich wäre, wir Halten jie vielmehr zur regelmäßigen Wirt: 
jamfeit des Inſtituts für umerläßlich und wollen nicht die Fälle, in welchen daffelbe 
angewandt wird, in das freie Ermefjen blos der jtreitenden Staaten jtellen. Eben 
jowenig jtimmen wir mit Galvo überein, welcher (I. 790) die Fälle, bei welchen 
die Ehre oder nationale Würde direkt betheiligt find, ausfchließen will, während 
Lord Stafford Nortbhceote gerade folche für enmticheidbar durch S. hält 
(Xaveleye, 191). Wir glauben vielmehr, daß möglichjt wenige Arten von Streitigs 
feiten dem S. zu entziehen find und daß für dieje dann nicht fofort die gewalt- 
ame Entjcheidung durch Krieg einzutreten hat, ſondern demjelben entgegenzumwirfen 
it, entweder durch Vermittlung oder bons offices eines dritten oder mehrerer 
unbetheiligter Staaten. Wir find deshalb nicht gegen jeden Krieg, aber dafür, daß er 
möglichft jelten eintrete und daß die Staaten durch das Völkerrecht dazu verpflichtet 
werden, ehe fie zu demjelben übergehen, fich der Rechtsmittel des gütlichen Ber: 
fahrens zu bedienen und daß fie fich durch allgemeine Verträge, zunächit, joweit 
ſolche nicht zu erreichen find, durch befondere dazu verpflichten, nicht blos, wie 
auf dem Parifer Kongreß in dem viel allegirten Protokoll geichehen, es für wünſchens— 
wertd Halten. — 2) „Wem ijt die Entjcheidung oder vielmehr die Ausarbeitung 
derfelben zu übertragen?“ Entſchieden nur guten Kennern des Völkerrechts und 
nicht ſolchen Perfonen, welche ſich ad hoc erſt im Völkerrecht umjehen oder inftruiren. 
Die Staatshäupter find nur ihrer Machtitellung wegen berufen, der ©. jelbjt aber 
erfordert Rechtsfenntniß, welche feineswegs allen Diplomaten eigen it, aber in 
Bezug auf das Völkerrecht ebenfowenig jedem Richter oder jedem Jurijten. 3) „Nach 
welchen Prinzipien ift zu entjcheiden?“ Dieſe Frage haben wir jchon oben ent: 
ichieden: nach Recht und Billigkeit. Nie aber nach politifchen Prinzipien, die oft 
jo viel als politische Rüdfichten jein werden, denn der ©. iſt ein Rechtsjprud. 
Sehr richtig jagt Yucas (Bullet. de la societe d. amis d. 1. paix, Paris 1878, 
2 ser. No. 2): „Il faut que l’arbitrage soit soumis à son tour A la loi du 
juste et qu'il ne puisse en transgresser les principes fondamentaux.‘“ Daß für 
jämmtliche Gntjcheidungen das materielle Völkerrecht ſowol als das formelle 
(Brozeßrecht oder Recht für das Verfahren) vorliege, iſt zwar vieljeitig gewünſcht, 
indeß ijt deshalb nicht die Anwendung der Schiedsiprüche bis zur vollendeten 
Kodiftfation im ganzen Umfange und der Anerkennung derjelben durch die Staaten 


hinaus zu jchieben. Jedenfalls werden aber die Neglements für das Verfahren eher 
36 * 


564 Schieds ſpruch. 


zum Abſchluß zu bringen ſein und ſind ſie auch unerläßlicher, wenn auch bei deren 
Abfaſſung die Erfahrung nur auf Grund weniger Fälle wird zu Rathe gezogen 
werden können, da mehr als der Anlaß und die Entſcheidung eines Schiedsfalles 
in der Regel nicht veröffentlicht iſt. 

Eine völferrechtliche Enticheidungsinftang im größeren Maßftabe und als 
ftändiges Forum erjtrebten jchon Groot (II. XXI. 8. 8) und Caſtel de &t. 
Pierre (Droyſen, Hiftor. Beitr. zur Lehre von den Kongrefien, in Monatäber. 
d. Preuß. Akad., Juli 1869, 651 ff.; vgl. auch Heffter, V. R., 4. Ausg, 
Beilage X. d. Kongreßpraris, 467 ff.). Ueber Napoleon’s mißglückten Verſuch 
(1863) zu einem die wichtigiten Staatenfragen entjcheidenden Kongreß j. die Akten: 
jtüde in Aegidi's Staatsarhiv V, Nr. 918 und 964 ff., und überhaupt über 
allgemeine Kongreſſe, ſowie insbejondere auch über den von Lorimer propon. 
„Congres international, base sur le principe de facto‘ (Revue d. dr. internat. 
III. 1 ss.), fiche Witold Zaleski, Die völferrechtliche Bedeutung der Kongreftr, 
Dorpat 1874, ©. 30 ff. Ueber die obligatorische Einführung der Schiedögerichte- 
barkeit 5. auh Yöwenthal, Grundzüge zur Reform der Völker, Berlin 1874. 
Gr proponirt (S. 7) Bildung des internat. Schiedögerichts aus den Präfidenten der 
oberjten Gerichtähöfe der einzelnen Nationen. — Die angeführten und andere ähn— 
liche Vorſchläge entiprechen aber meiſt nicht den Anforderungen einer Rechts-Schieds— 
Inſtanz, jondern find meift politijcher Natur, jolche Anftanzen können aber zur 
Stabilifirung des internationalen Rechtszuſtandes der Staaten nichts beitragen. 
Dagegen hat in neuefter Zeit Yaveleye eine haute cour arbitrale zur Ent 
jcheidung der Differenzen, freilich jolcher Staaten vorgeichlagen, welche zuvor einen 
code de droit international angenommen. Der Gerichtshof joll aus diplomatiichen 
Repräientanten der beitretenden Staaten bejtehen, welche in ihren Arbeiten durd 
jurisconsultes en droit international unterjtitt würden. Zum Sitz joll die Saupt- 
itadt eines Kleinen neutralen Staates gewählt werden. Der Hof foll in Bezug auf 
jeine Zuſammenſetzung permanent jein, feine Sitzungen aber nur zu Entjcheidung 
eines jpeziellen Konflilts halten. Dabei genüge der einzige Vorbehalt, daß die 
Intervention in innere Angelegenheiten ausgeichloffen ſei. Die Initiative zu diejer 
Inititution weiſt der Proponent England oder den Vereinigten Staaten von Nord 
amerika zu. Außerdem proponirt Laveleye: 1) eine Konferenz von Delegirten — 
Auriften und Diplomaten — verichiedener Staaten zur Feſtſtellung der heutzutage 
noch bejtrittenen Grundjäße des Völkerrechts; 2) daß feſtgeſetzt werden jolle, daß 
man, ehe man zu den Waffen greife, die fchiedsrichterliche Entſcheidung der Mit: 
fontrahenten anrufe und daß 3) eine darauf bezügliche Klaufel den Verträgen ein 
gefügt werde. Wir erachten, daß die proponirte Schiedsinſtanz ſchon jetzt eingeführt 
werden könne und daß die Imitiative dazu England, ala demjenigen Staat, welcher 
unter den europäifchen am häufigiten bisher auf den ©. provozirt, vorzugsweijſe 
zuftehe, daß daher nicht abzuwarten jei, bis die unter 1) erwähnte Konferenz ihre 
umfafiende Arbeit beendet und diefelbe wenigitens von einer Mehrzahl von Staaten 
und jedenfalls von allen größeren ſanktionirt ift; daß die Feſtſetzung unter 2) in 
einer allgemeineren, alle Rechtsmittel des gütlichen Verfahrens umfafjenden Weite 
erfolge und daß eine folche den Verträgen eingefügt werde, wenngleich wir nicht 
überjehen, daß eine jchiedsrichterliche Enticheidung der bejte Modus iſt und die Ber 
pflichtung dazu eine zwingendere, als zu einer bloßen Intervention oder gar mur 
zu bons offices, die beiden lehteren aber doch dann werden angewandt werden 
müffen, wenn ein ©. mit Rüdficht auf die Art des Falles unanwendbar jcheint. 
Uebrigens find Klauſeln in der einen oder anderen Wetje jchon wiederholt Verträgen 
eingefügt worden, jo 3. B. dem Vertrag zwifchen den Vereinigten Staaten von 
Nordamerifa und Mexiko vom 2. Febr. 1848 Art. XXI bei Martens, 1. c., 
[arbitration] und dem Pariſer Vertrag von 1856 Art. 8 rüdjichtlich der Differenzen 
zwiſchen der Türkei und Mitkontrahenten des Vertrags [action mediatrice]. Andere 


Schledsſpruch. 565 


Verträge ſ. bei Bellaire, 62 ff. Auch Hat Berner ſchon früher den Vorſchlag 
gemacht, jedesmal fogleich beim Abſchluß des Staatsvertrages Beſtimmungen zu treffen, 
wie etwaige Streitigkeiten gefchlichtet werden follen. 

Im Gegenfage zu der immer günftigeren Aufnahme des ©. hat Frederic 
Seebohm (©. 104 ff. u. 123) angeführt, daß der ©. no proper substitute 
iowol of international law, ala auch for the judicial interpretation of international 
law jei und in leßterer Hinſicht die Enticheidung eines Richters (judge) verlangt, 
indeg kann jelbjtverftändlich der ©. das Völkerrecht nicht erjeßen und ijt der 
Schiedsrichter, der nach Recht3prinzipien und dem Recht entjcheidet, auch ein Richter. 
Wenn aber Seebohm dem ©. die Fähigkeit abſpricht, Streitigkeiten zu ver: 
hindern, jo bat diefe der Richter nie und überhaupt nur die im Völkerrecht bisher 
wenig anerkannte und geübte Präventivjuftiz, und wenn er ferner den Gerichtshof 
(supreme court) der Vereinigten Staaten von Nordamerifa a real International 
Tribunal nennt, jo möchten wir, zur richtigen Würdigung dieſes Bundeögerichts 
und nicht allgemein=völferrechtlichen Inſtanz, verweifen auf die oben allegirten, ihn 
betreffenden Beitimmungen der amerikanischen VBerfaffung und auf G. Matile, 
Organisation et juridiction des cours f6derales des 6tats-unis, in der Rev. d. dr. 
internat. VI. 89 ss. Seebohm jchlägt endlich, anjtatt eines court of 
arbitration, something tantamount in principle to an international judicial 
tribunal vor, indeß iſt letteres wol noch weit jchtwieriger zu erlangen als eriteres, 
da die Souveränetät der Staaten fich dem letzteren wol noch weit weniger unter= 
werten wird. Zorimer (l. c.) machte daher den acceptabler erfcheinenden Vorſchlag 
eine® cour judieiaire in Verbindung mit einem internationalen Kongreß. Auch 
Barbault (1. c.) nennt die arbitrage — ressource precaire. Wir jchließen aber 
mit den Worten Robert v. Mohl's (Völterrechtl. Lehre vom Aſyle, 1860, in 
j. Monographien a. d. Staatsrecht, Völkerrecht und Politif, ©. 764): „daß eine 
Ausdehnung des fchiedsrichterlichen Verfahrens zur Ordnung einzelner bejtimmter 
fragen ein großer Gewinn und feine thatjächliche Unmöglichkeit wäre“, womit den 
internationalen Schiedsinjtanzen ſogar eine Legislative Wirkſamkeit ala möglich zu— 
geiprochen wird. Iſt das minus in dem plus enthalten, jo bedarf es wol feiner 
weiteren Befürwortung des ©. für einzelne Streitfälle und zweifeln wir nicht, daß 
der S. in nicht zu ferner Zeit ein nicht zu häufig angewandtes Rechtsmittel fein 
wird, wozu denn vor Allem nöthig ift, daß die Praris daſſelbe als ein fie ver- 
pflichtendes anerkennt und daß zubor die Theorie ein ausreichendes Reglement für 
das Verfahren entwirft und es den bejtimmenden Subjeften des Völkerrechts, den 
Staaten, zur Annahme vorlegt. 

Lit.: Welder in feinem Staatäler. Art. —— 1865 XIII. 110 ff. — 
Berner in Bluntſchli's StaatsWört. B. 1861 VL 102 ff. — Martens, Guide dipl., 
1851 I. 193. — E. de Laveleye, Des causes actuelles de gan en Europe et de 
l’arbitrage, Brux. 1873. — Ch. Lucas, De la substitution de l’arbitrage à la voie des 
armes pour le röglement des conflits internationaux, Paris 1873, in Seances et travaux d. 
lacad. d. sc. mor. et politig. XXX. 415 ss. und im Bullet. de Ja societ& des amis de la 
Per Paris 1873, 2. Serie No. 2 p. 38 ss. — Henry Bellaire, Rapport sur les ar- 
itrages dans les conflits internationaux nebjt anderen Gutachten über biejelbe Frage in 
Congres de l’alliance universelle de l’ordre et de la civilisation, Paris 1872, T. I. 51 ss. — 
W. B. Lawrence, Note pour servir à l’histoire des arbitrages internationaux, in ber 
Revue de droit internat. VI. 117 ss. — Pierantoni, Gli arbitrati internazionali, Napoli 
1872. — Lieber, Lettre sur l’arbitrage international in der Revue de droit internat. 
T. HI. 480 ss. — A. Garelli, La pace nell’ Europa moderna, Torino 1870. — F. See- 
bohm, On international reform, Lond. 1871. — Pierantoni, La questione Anglo- 
Americana dell’ Alabama, Firenze 1870. — Pradier-Fodere, La question de l’Ala- 
bama et le droit des gens, Paris 1872. — 9. Geffden, Die Alabamafrage, Stuttg. 
1872. — Laffaire de l’Alabama et le tribunal arbitral de Geneve, p. Rivier, Bibl. univ. 
et rev. Suisse, Laus. 1872, p. 577—605. — G. Rolin-Jaequemyns, Quelques mots 
sur la phase nouvelle du differend anglo-americain in ber Revue de droit intern. IV. 


127 ss. und in anderen Abhandlungen, Bibliographien und Notizen der Revue. — Report 
of the agent of the united States before the tribunal of arbitration at Geneva, töether 


566 Scieferdeder — Schiffahrtspolizei. 


with the protocols of the conferences, the award of the tribunal, Washingt. 1872. — 
©. Rhamon, Völterreht und Völkerfriede, *3 1881. — Ueber ben ©. ſiehe ferner bie 
BDölterrechtö-Rompendien von Groot, Pufendborf,Battel, Martens, Klüber, Heffter, 
Wildbmann, Kent, Phillimore, Twiß, Fiore, Calvo, bie Kobdififationsentwürfe 
von Bluntfhli und Dubley Field. U. Bulmerinca. 


Schieferdecker, Kaſpar (Schifordegherus), mit dem Beinamen vd. Wiltam, 
5 1583 zu Breslau, juchte Anton Faber in Annecy auf, befuchte Italien, wurde 
Advokat in Schweidnig, flüchtete 1629 nach Breslau, T 17. III. 1631. 
Schriften: Ad Ant, Fabrum lib. I. II, Oppenh. 1610. — Disputatt. ad A. Fabrum 
lib. III, Francof. 1613. 
Lit.: dv. Stinking, Gefchichte der Deutichen Rechtswiſſenſchaft (1880), I. 738. 
Zeihmann. 


Schiffahrtspolizei iſt die Ihätigkeit der öffentlichen Gewalt zur Verhütung 
von Gefahren für Leben und Gut beim Sciffahrtäbetrieb, insbejondere bei der 
Seeſchiffahrt (über die ©. auf Flüſſen ſ. d. Art. Flößerei, Flußſchiff— 
fahrt, Flüſſe). Die auf diejelbe bezüglichen Rechtsnormen bafiren auf einer 
allgemeinen Regijterfontrole (I) und zerfallen in präventive (II. Prüfung der 
Tüchtigfeit von Fahrzeug und Führung; Regelung des Mannjchaftsweiens; Hafen 
ordnung; Verbot aggreffiver Handlungen) und in repreffive Normen (III. inäbeion 
dere Rettungägeboten). Die Grundlage bildet allenthalben das Reichsrecht zuzüg— 
lich der Staatäverträge des Reichs. Der Beauffichtigung und Gejeßgebung des Reiche 
unterliegt die Organifation eines gemeinfamen Schußes der Deutichen Schiffahrt und 
ihrer Flagge zur Sce, fowie die Regelung der Seejchiffahrtögeichen (Leuchtieuer, Tonnen, 
Balken und jonftigen Tagesmarten [Berf.Urf, Art. 4 mit RGeſ. vom 3. März 1873]). 
Die Kauffahrteiichiffe aller Bundesstaaten bilden eine einheitliche Handelsmarine. 
Das Reich hat das Verfahren zur Ermittelung der Ladungsfähigkeit der Schiffe zu 
beitimmen, die Ausftellung der Meßbriefe, jowie der Schiffcertififate zu regeln und die 
Bedingungen feftzuftellen, von welchen die Erlaubniß zur Führung eines Seeſchiffes 
abhängig ift. In den Seehäfen (und auf allen natürlichen und künftlichen Wafleritraßen) 
werden die Kauffahrteifchiffe jämmtlicher Bundesftaaten gleihmäßig zugelaflen und 
behandelt. Die Abgaben, welche in den Seehäfen von den Seejchiffen oder deren 
Ladungen für die Benußung der Schiffahrtsanftalten erhoben werden, dürfen die zur 
Unterhaltung und gewöhnlichen Herftellung diejer Anftalten erforderlichen Koften 
nicht überfteigen. Die einheitliche Flagge ift jchwarz-weiß-roth (Art. 54, 55). 

I. Die KHauffahrteifchiffe der Bundesftaaten haben die Reichsflagge zu 
führen; die Berechtigung dazu ift jedoch nur gegeben, wenn das Schiff im aus— 
jchließlichen Eigenthum von Deutichen (bzw. einer Deutjchen, mit juriftiicher Periön- 
lichkeit befleideten, Gejellichait) und in das Schiffsregiſter des Heimathshafens 
(von welchem aus mit dem Schiffe die Seefahrt betrieben werden joll) eingetragen, 
hierüber auch von der Negifterbehörde ein Gertififat ertheilt ift. Der Regiitereintrag 
und das Gertififat bezeichnen Namen, Gattung, Größe, Tragfähigkeit, Zeit und Ort 
der Erbauung, Heimathshafen, Rheder oder Mitrheder (nebſt Erwerbätitel für Schiff 
oder Cchiffspart und Nationalität, Tag der Eintragung des Schiffes (Bundesgeiet 
vom 25. Oft. 1867, betr. die Nationalität der Kauffahrteiſchiffe B.G.Bl. ©. 35); 
vorher HGB. Art. 432 ff.; Präfidialverordn., betr. die Bundesflagge, vom 25. Oft 
1867 [B.6.81. ©. 39)). Schiffe von nicht mehr ala 50 Kubikmeter Brutto Raum- 
gehalt dürfen die Neichaflagge auch ohne Eintragung in’s Schifferegifter und Er 
theilung eines Gertififats führen. Der Name des Schiffes muß auf jeder Lugjeite 
und außerdem nebit dem Heimathshafen am Heck in gut fichtbaren, feſt angebrachten 
Schriftzeichen an den fejten Theilen angegeben fein (RGef., betr. die Regiftrinng 
und die Bezeichnung der Kauffahrteifchiffe, vom 28. Juni 1873, R.G.Bl. ©. 184: 
Ausfirhrungsvorichriiten vom 18. Nov. 1873, R.G. Bl. ©. 367). Die Ermittelung 


Schiffahrtspolizei. 567 


der Ladungsfähigkeit der Schiffe wird durch Vermeſſung ihres Raumgehaltes nach 
metriſchem Maße bewirkt, wobei ſowol der Brutto- als der nach Abzug der Mann— 
ichaftslogis und etwaigen Maſchinen-, Dampfkefjele und Kohlenräume verbleibende 
Nettogehalt, und zwar regelmäßig im volljtändigen Verfahren (abgefürztes Ver— 
jahren namentlich, wenn das Schiff ganz oder theilweife beladen iſt) gemefjen und 
berechnet wird (Schiffevermefjunggordn. vom 5. Juli 1872, R.G.Bl. ©. 270; 
Grgänzungsbef. zu 8 23 vom 24. Oft. 1875, Gentralbl. 5. d. Deutjche Reich 
S. 718; Anweifung vom 13. Febr. 1874, Gentralbl. ©. 223). Näheres enthält 
der Art. Mepbrief. — Der Führer eines Deutichen Kauffahrteiichiffes ift regel: 
mäßig verpflichtet, die Ankunft des Schiffes in einem zum Amtsbezirke eines Deutjchen 
Konjulates gehörigen Hafen und den Abgang des Echiffes aus einem fjolchen Hafen 
dem Konful zu melden (RGeſ., betr. die Schiffsmeldungen, vom 25. März 
1880, 8 1, R.G.Bl. ©. 181, nebjt faiferl. Verordn. vom 28. Juli 1880, ©. 183 
und Girkular vom 15. Nov. 1880, Gentralblatt ©. 804). 

II. a) Der Schiffer ift (eivilrechtlich und jtrafrechtlich) verbunden, vor Antritt der 
Reife dafür zu forgen, daß das Schiff in feetühtigem Stande, gehörig ein- 
gerichtet und ausgerüftet, gehörig bemannt und verproviantirt iſt, daß die zum 
Ausweile für Schiff, Belagung und Ladung erforderlichen Papiere an Bord, die 
Geräthichäften zum Laden und Löfchen tüchtig find (HGB. Art. 480 ff.). Eine 
allgemeine Schiffebefichtigung nach Gnglifcher Art findet regelmäßig nicht ftatt 
(vgl. jedoh Seemannsordn. $ 47 und Gentralbl. 1875 ©. 520). Ueber die Bes 
mannungsanforderungen hinfichtlich der Steuerleute und Mafchinijten enthalten die 
Prüfunganormen für leßtere (!) nähere Beſtimmung. Seeſchiffer, Seeſteuer— 
leute und Lootjen müſſen fich über den Beſitz der erforderlichen Kenntnifje durch 
ein Bejähigungszeugniß der zuftändigen Verwaltungsbehörde ausweijen. Die 
GErlafjung der VBorichriften über den Nachweis der Befähigung fteht dem Bundes— 
rathe zu (RGew.D. 8 31; Bel. des Bundeskanzlers vom 25. Sept. 1869, betr. 
die Prüfung der Seeichiffer und Seefteuerleute [B.G.BL. ©. 660] ; deögl. vom 30. Mai 
1870, das Prüfungsverfahren betr. [B.6.Bl. S. 314]; für Lootſen gelten zur Zeit 
noch die landesrechtlichen Normen, ſ. d. Art. Lootſen; die Landesgeſetze können 
dag KLootjengewerbe an Genehmigung knüpfen IRGew.O. $ 34]). Ergiebt ſich, daß 
ein Deuticher Schiffer oder Steuermann einen Seeunfall oder deſſen Folgen in Folge 
des Mangels derjenigen Eigenſchaften, welche zur Ausübung feines Gewerbes erior- 
derlich find, verjchuldet hat, jo kann demfelben durch Seeamtsſpruch zugleich die 
Beiugnik zur Ausübung feines Gewerbes, dem Schiffer auch die Ausübung des 
Steuermannägewerbes, unterjagt werden (RGeſ. vom 27. Juli 1877 8 26). Den 
Seejteuerleuten ftehen hierbei die Majchiniften der Seedampfichiffe gleich (RGeſ., betr. 
deren Gewerbebetrieb, vom 11. Juli 1878, R.G. Bl. ©. 109; wegen der Prüfung 
Bek. des Reichskanzlers vom 30. Juni 1879, Gentralbl. ©. 427). — b) Die 
Rechtsöverhältnijie der Schiffsmannſchaft (die RGew.O. leidet feine An— 
wendung, $ 6) find in einer, den Bebürfniffen des Seeverkehrs Rechnung tragenden 
Weiſe geregelt, in polizeilicher Beziehung dahin, daß jeder im Bundesgebiete in 
Dienst tretende Schiffemann fich vor einem Seemannsamte über Namen, Heimath 
und Alter auszuweiſen und ein Seefahrtöbuch in Empfang zu nehmen hat, und daß 
der Schiffer verbunden ift, jeine Schiffemannichaft unter deren perjönlicher Geftellung 
beim Seemanndamte an= und abzumuftern (Seemannsordn. vom 27. Dez. 1872, 
R.G. Bl. ©. 409; Näheres ſ. in d. Art. Anmufterung, Abmufterung, 
Heuervertrag, Seemannsamt, Schiffsmannſchaft; über Dejertion 
Preuß. Handelsarchiv 1880, ©. 73). — c) Die Hafjenordnung it im 
Weſentlichen nad den Lokalen Bedürfniſſen örtlich verfchieden geregelt (Preuß. 
Kompetenzgej. $ 115; Hamburger Reglement 7. d. Benußung der Quaianlagen vom 
20. Juni 1872; Bremifche Bet. vom 20. Nov. 1879; ſ. auch den Art. OQuaran— 
täneanftalten). Das Recht, Güter in einem Deutjchen Seehafen zu laden und 


568 Schiffahrtspolizei. 


nach einem anderen Deutſchen Seehafen zu befördern, um fie daſelbſt auszuladen 
(Küftenfrachtiahrt) , jteht ausschließlich Deutichen Schiffen zu (RGeſ. vom 22. Mai 
1881, R.G. Bl. ©. 97). Ausländifchen Schiffen kann diejes Recht durch Staats 
vertrag oder durch faiferl. Verordn. mit Zuftimmung des Bundesrathes eingeräumt 
werden. — d) Eine Anzahl, den Schiffahrtäbetrieb direft oder indirekt gefähr- 
dende Handlungen find durch das Strafgefeß von vornherein verboten: Inbrand— 
ftefung (RStrafGB. 88 306— 311) oder vorjäßliche Zerftörung ($ 305) eines Schiffes, 
Zeritörung von Zeichen, welche zur Sicherung der Schiffahrt aufgeitellt find und 
Herbeiführung des Strandens oder Sinkens eines Schiffes mit gemeiner Geſahr 
(SS 322 ff., 325 ff., 265), Entlaufen oder Verbergen des Schiffamannes ($ 298), Ein 
ichiffung von Gegenftänden, welche die Beichlagnahme oder Einziehung des Schiffes oder 
der Ladung veranlafien können, ohne Vorwiſſen des Rheders jeitens des Schiffers oder 
ohne Vorwiſſen des Yehteren jeitend des Reiſenden oder Schiffemannes (S 297). 
III. a) sKaiferliche Verordnung trifft Vorkehrung zur Verhütung des 
Zujammenftoßes der Schiffe auf See (die Schiffe haben Nachts Lichter, bei 
Nebel Schallfignale zu führen, bei Nebel u. j. w. die Gejchwindigkeit zu mäßigen, 
beim Ausweichen beitimmte Regeln einzuhalten: Verordn. vom 7. Jan. 1880, 
R.G.B. ©. 1) und über die Signale, durch welche in Noth oder Gefahr ber 
findliche Schiffe ihre Lage zu erkennen geben oder Lootſen zu verlangen haben 
(Kaiferl. VBerordn. vom 14. Aug. 1876, R.G. Bl. ©. 18 ff.). — b) Hat ſich ein 
Zujammenjtoß wirklich ereignet, ſo hat der Führer jedes der kollidirenden 
Schiffe dem anderen, ſoweit ohne erhebliche eigene Gefahr möglich, Beiſtand zu leiſten 
und vor der Fortſetzung der Fahrt Namen, Unterfcheidungsfignal (die Unterjcheidungs: 
jignale werden in der jährlichen amtlichen Schiffelifte mit angegeben), Heimathe-, 
Abgangs- und Beitimmungshafen feines Schiffes anzugeben (Kaiſerl. Verordn. vom 
15. Aug. 1876, R.G. Bl. ©. 189). Gemeinjame Strafbeitimmung für Berlegung 
vorgedachter Verordnungen (Gelditrafe bis 1500 Mark): RStrafGB. $ 145. Zu 
Unterfuhung der Seeunfälle, von welchen Kauffahrteiichiffe betroffen werden, 
find an den Deutſchen Küjten Seeämter nach näherer Vorjchrift des RGeſ. vom 
27. Juli 1877 (R.G.Bl. ©. 549) errichtet (vgl. d. Art. Seeamt, Oberjeeamt). — 
c) Zur Leitung der Bergung und Hülfeleijtung in Seenoth beitehen an ber 
Seeküſte Strandämter und ihnen untergeordnete Strandvögte. Letztere haben die 
direfte Leitung der Bergungs- und Rettungsarbeiten zu bewirken, dürfen zur Rettung 
von Menjchenleben die erforderlichen Fahrzeuge und Gerätbichaften, ſowie jeden 
außerhalb der öffentlichen Wege zum Strande führenden Zugang in Anipruch nehmen, 
und gelten Hinfichtlich der Befugniß, Hülfeleiftung zu Rettungszweden zu verlangen, 
als Polizeibehörde im Sinne von $ 360, 10 des RStrafGB.: RStrandungsordn. 
vom 17. Mai 1874 (R.G.Bl. ©. 73, nebit Inftruftion vom 24. Nov. 1875, 
Gentralbl. ©. 751, für das Reich und Ausi.Verordn. der einzelnen Seeuferftaaten). 
Dal. d. Art. Strandredht und Strandungsorbnung, jowie Seewurt. 
Jedes Deutiche Kauffahrteiſchiff, welches von einem außerdeutſchen Hafen nach einem 
Deutſchen Hafen oder nach einem Hafen des Kanals, Großbritanniens, des Sundes 
oder Kattegats oder nach einem außerdeutichen Hafen der Nord= oder Dftjee be 
jtimmt iſt, iſt verpflichtet, Deutſche Seeleute, welhe im Auslande ſich in 
hülfsbedüritigem Zuftande befinden, behufs ihrer Zurüdbeiörderung 
nach Deutjchland auf jchriftliche Anweifung des Seemannsamtes gegen Entſchädigung 
nach jeinem Beftimmungshafen mitzunehmen. Gleiches gilt in Anſehung auslän- 
diſcher, auf Deutichen Schiffen gedienter Seeleute für die nach deren Geimathlande 
bejtimmten Deutjchen Schiffe. Zur Erfüllung diefer Verpflichtungen kann der Schiffer 
vom Seemannsamte zwangsweije angehalten werden (RGeſ., betr. die Verpflichtung 
Deutjcher — zur Mitnahme hülfsbedürftiger Seeleute, vom 27. De. 
1872, R.G.Bl. ©. 432). — Schließlich vgl. noch den Art. Seewarte. 
Yeutbolb. 


Schiffer. 569 


Schiffer (Schiffstkapitän, Th. J. ©. 544) im juriftifchen Sinne ift der Führer 
eines Seeſchiffes. Derſelbe kann Gigenthümer eines folchen, oder Angeftellter der 
Rheder fein; und im leßteren Falle kann er, wenn das Schiff einer Rhederei gehört, 
jelbft Mitrheder oder ein Fremder jein. Sit der ©. Angeftellter des Rheders, jo 
fann er jederzeit von demjelben entlaffen werden, unbejchadet der aus dem Dienft- 
verhältniffe ihm zuftehenden Entichädigungsanjprüche. 

Die Stellung des ©. hat eine privatrechtliche Bedeutung einmal im Verhältniß 
zu den Rhedern und dann den Ladungseigenthümern und fonftigen dritten Perjonen 
gegenüber. In letzterer Hinficht begründet es feinen Unterfchied, ob der ©. alleiniger 
Gigenthümer des Schiffes ijt oder nicht, während das erftere Verhältniß nur im 
zweiten Falle in Frage kommen kann. Hierbei ift es indeß irrelevant, ob der 
Kapitän zugleich Mitrheder ift. Auch eine zwieiache Qualität de S. haben die 
auf ihn bezüglichen jeerechtlichen Regeln im Auge, nämlich feine Qualität als Führer 
des Schiffes und feine Qualität ala Vertreter der Rheder und der Ladungsinterefenten. 

Der Kapitän hat bei allen Dienftverrichtungen „die Sorgfalt eines ordentlichen 
E. anzumwenden“, jo daß jede Verlegung der nach den Geſetzen oder den Anjchauungen 
der Berufögenofien einem jolchen obliegenden Pflichten ala ein Verjchulden angejehen 
wird, für welches er, wenn es einen Nachtheil zur Folge gehabt, zu haften hat, 
und zwar nicht nur dem Rheder gegenüber, jondern auch den Ladungsinterefjenten, 
den Reijenden, der Schiffsbeiagung, den Schiffsgläubigern, deren Forderungen aus 
Kreditgeichäften entitanden find. Das Geſetz macht dem S. ausdrüdlich zur Pflicht, 
alle im Seeverkehr üblichen Maßregeln für die Erhaltung von Schiff und Yadung 
und für die glüdliche Vollendung der Reife zu treffen. Zu feinen befonderen Ob— 
liegenheiten gehört die Aufficht über die (regelmäßig dem Steuermann obliegende) 
Führung des Journals, in welches für jede Reife alle erheblichen Begebenheiten der: 
jelben eingetragen werden, und die Ablegung einer Verklarung (Seeproteftes, 
j. diefen Art.) bei jedem während der Reife eingetretenen Unfall. Journal, wie Ber: 
Harung gelten als Beweismittel, wennjchon die gejeglich normirte Beweiskraft, welche 
ihnen das Deutiche HGB. beilegt, durch die RCPO. (EG. $ 13) in Folge des 
Abgehens von der alten Beweistheorie befeitigt iſt. 

Die Stellvertreterqualität des ©. ift die naturgemäße Folge des Umijtandes, 
daß es in der großen Mehrzahl der Fälle dem Intereſſe des Rheders nicht ent— 
iprechen bürfte, wenn durch ihn die beim Mhedereigewerbe vorfommenden Gejchäfte 
von jeinem Aufenthaltsorte aus, auch während das Schiff auf der Reife iſt, würden 
vorgenommen werden; daß auch das Intereſſe der Ladung häufig die Vornahme von 
Rechtshandlungen erheifcht, welche die Ladungsbetheiligten, die jet nicht mehr, wie wol 
im Mittelalter, die Ladung begleiten, fich auch regelmäßig nicht mehr durch einen an 
Bord befindlichen Kargadeur vertreten laffen, nicht mit dem gewünſchten Erfolge vor: 
nehmen könnten. Während nun nach Röm. Recht der Umfang der Vertretungsbefugniſſe 
des magister navis im Verhältniß zum Rheder fich nach der jpeziellen lex prae- 
positionis richtete (1. 1 $ 7 D. de exerc. act. [14, 1]), jo hat das neuere See- 
recht den ©. mit einer gejeßlichen Vollmacht, ſowol des Rheders wie der Ladungs— 
betheiligten, ausgeftattet, und zwar macht fich hierbei das Prinzip der direkten Stell- 
vertretung geltend. Soweit es möglich ijt, joll der ©. nach den Anweifungen der 
Rheder und der Ladungsbetheiligten handeln, ſonſt hat er fich durch das wohlver- 
ftandene Intereſſe der einen und der anderen leiten zu laffen. Gelbitverftändlich tt 
derjelbe in Betreff der zu ergreiienden Maßregeln innerhalb der durch die Pflicht, nach 
Seemannödgebraud zu handeln, ihm gezogenen Grenzen auch gegenüber den Ladungs— 
betheiligten jehr frei geitellt. So räumt ihm das Deutjche Geſetz jogar ausdrüdlich 
die Befugniß ein, die Reife, deren Fortſetzung in der urjprünglichen Richtung der 
Zufall unmöglich macht, zu ändern, zeitweije einzuftellen oder auch ganz aufzugeben. 

Am eingehenditen hat diejes Stellvertretungsverhältniß das Deutiche HGB. geregelt, 
wennjchon die hier zur Geltung gelangten Grundprinzipien ſich ebenſo in den fremden 


570 i Schiffsgläubiger. 


Rechten, namentlich im Engliſchen und Franzöſiſchen, finden. Danach erſcheint der S. 
als Vertreter der Rheder nicht, ſo lange das Schiff ſich im Heimathshafen befindet. 
Eine Ausnahme beſteht in dieſer Hinſicht nur in Betreff der Annahme der Schiffe— 
mannjchait. Außerhalb des Heimathshaiens jedoch iſt der ©. der geſetzliche Ver: 
treter des Rheders nicht nur für die Gingehung von Fyrachtverträgen, jondern für 
die Vornahme aller Gejchäfte und Nechtshandlungen, welche die Erhaltung de 
Schiffes und die Ausführung der Reife mit fich bringen. Die gültige Gingehung 
gewifjer Gejchäfte, nämlich von Darlehnägeichäiten, Käufen auf Borg und ähnlichen 
Kreditgeichäften, iſt freilich an die (von dem ein jolches geltend machenden Dritten 
zu beweijende) Bedingung geknüpft, daß die Eingehung des Geſchäfts überhaupt und 
in dem Umfange, in welchem es abgeichlofien, 1) zur Erhaltung des Schiffes oder 
2) zur Ausführung der Reife nothwendig geweſen ift; die von Bodmereigeichätten 
an die zweite Bedingung. Wogegen es irrelevant ijt, ob die Verwendung wirklid 
erfolgt, oder unter mehreren Kreditgeichäften eine zwedmäßige Wahl getroffen , oder 
etwa gar dem ©. das erforderliche Geld zur Verfügung geftanden; es müßte denn 
der Dritte nachweislich in böjem Glauben gewejen jein. Die Befugniß zur Abs 
ichließung von Gejchäften auf den perfönlichen Kredit des Nheders, insbejondere zur 
Eingehung von Wechjelverbindlichkeiten für denjelben, ift in der gejeglichen Vollmacht 
des ©. nie enthalten, hierzu bedarf er einer Spezialvollmadt. Innerhalb feine 
Wirkungskreiſes it der ©. auch zur Anftellung von Klagen befugt, paſſiv legitimtrt 
aber nur bei Klagen aus der Bodmerei auf den Verkauf der verbodmeten Gegen: 
ftände (Deutiches HGB. Art. 697) und bei der Klage des Schiffägläubigers aus 
jeinem geſetzlichen Pfandrecht (Art. 764). Im Falle dringender Nothwendigkeit dari 
der ©. auch zum Verkauf des Schiffes fchreiten. Doch muß dieſe Notbwendigteit 
jeftgejtellt werden, wenn möglich durch das Ortögericht nad; Anhörung von Sach— 
verjtändigen und unter Zuziehung des Konſuls. Auch muß der Verkauf öffentlich 
geichehen. Im Verhältniß zwifchen S. und Rheder richtet fich der Umfang der 
Vertretungsbefugnifje nach der Grmächtigung,, die der eritere vom letzteren erhalten 
hat, und nur, wenn nichts in diefer Hinſicht feſtgeſtellt, iſt auch hier das Geſetz maß⸗ 
gebend. Der ©. hat aljo die vom Rheder beliebten Beſchränkungen feiner geiehlichen 
Vollmacht zu refpektiven, und macht fich dem letzteren gegenüber jchadenserjakpflictig, 
wenn er e& nicht thut. Allein dem Dritten gegenüber hat eine jolche Beſchränkung 
nur dann Wirkung, wenn der Rheder beweift, daß fie demjelben bekannt war. 

Bon ähnlichem Umiange find die Beiugniffe, mit denen der ©. ala gejehlicher 
Vertreter der Ladungäbetheiligten auf der Reife ausgeſtattet ift. Er ijt nicht nur 
legitimirt, zur Wiedererlangung der durch Anhaltung, Aufbringung oder auf andere 
Weiſe entzogenen Ladung alle gerichtlichen und außergerichtlichen Schritte zu thun, 
fondern darf auch die Ladung ganz oder zum Theil löfchen, um einen Berluft von 
derjelben abzumenden oder zu verringern; fie verbodmen, ſowie einen Theil berjelben 
verfaufen oder verwenden, um die Mittel zur Fortjeßung der Reife zu gewinnen; 
gleichialls zur Berbodmung der Ladung jchreiten, um die Mittel zu ihrer Erhaltung 
und Weiterbeförderung zu beichaffen, aber auch zum Verkauf, vorausgejeht, daß jo 
allein ein erheblicher Verlust abgewendet werden kann. Doch ift ein jolches vom 
©. abgejchlofjenes Geſchäft nur dann für die Ladungsbetheiligten verbindlich, wenn 
und joweit die Nothwendigkeit dargethan wird. Auf den perjünlichen Kredit der 
leßteren darf derjelbe nur auf Grund einer Spezialvollmacht Geſchäfte abſchließen. 

Gigb. u. Lit.: Deutihes HGB. Art. 478—527. — Franz. Code de comm. art. 
221—249. — Belg. Code de comm. 1. (Gele vom 21. Auguft 1879) art. 12-39. — 
Pöhls, Seeredt, 1. ©. 141 ff. — Kaltenborn, Serredt, I ©. 18 fi. — Lewisſ, 
Deutiches Seeredht, I. ©. 78 ff. — Maclachlan, On the law of merchant shipping (2. ed. 
Lond. 1876), p. 187 ss. — Cresp-Laurin, Droit maritime, I. (Paris 1376) p. 563 ss. — 
Desjardins, Droit commercial maritime, II. (Paris 1880) p. 215 ss. Lewis. 

Schiffsgläubiger (Th. I. ©. 546) find ſolche Gläubiger, denen ein privilegirtes 
Pfandrecht am Schiffsvermögen des Rheders zuiteht, und zwar, mit Ausnahme dei 


Schiffsgläubiger. 571 


Bodmereigläubigers, ein geſetzliches. Es find dies Gläubiger, welche ihre Ansprüche 
aus der bejtimmungsmäßigen Verwendung des Schiffes zur Seefahrt herleiten, umd 
zwar 1) ſolche, deren Forderungen entitanden find durch Aufwendungen zur Erhaltung 
und Rettung des Schiffs aus einer Gefahr, gleichviel ob der Rheder beſchränkt oder 
unbeſchränkt dafür haftet; und 2) folche, die derartige Aufwendungen nicht gemacht 
haben, fich aber für ihre Anſprüche nur an Schiff und Fracht halten können (Protof. 
der Handelsr. Komm. VI. ©. 2844). Die Seegejee haben es für nöthig befunden, 
die einzelnen forderungen aufzuzählen, welche die Rechte eines ©. gewähren. Nach 
Deutichem Seerecht find es folgende: 

1) die Koften des Zwangsverkaufs des Schiffe, einſchließlich der etwaigen 
Bewachungs-, Verwahrungs: und Erhaltungskoſten; 

2) die öffentlichen Schiffs-, Schiffahrts- und Hafenabgaben ; 

3) die Forderungen der Befagung aus den Dienſt- und Heuerverträgen; 

4) die Lootjengelder, Bergungs-, Hülfs-, Losfaufe- und Reklamekoften ; 

5) die Beiträge des Schiffs zur großen Havarie; 

6) die Forderungen der Bodmereigläubiger, denen das Schiff verbodmet ift, 
ſowie die Forderungen aus Rechtägeichäften, die der Schiffer kraft feiner gejeglichen 
Vollmacht außerhalb des Heimathshafens abgejchloffen hat; 

7) die Forderungen wegen Nichtablieferung oder Beichädigung der Ladungs— 
güter und der Weileeffeften der Paflagiere und alle fonftigen Forderungen wegen 
Nichterfüllung oder nicht vertragamäßiger Erfüllung eines vom Rheder eingegangenen 
Vertrages, defien Ausführung zu den Dienftobliegenheiten des Schifferd gehört; 

8) die Forderungen aus dem Werfchulden einer Perſon der Schiffsbejagung 
(Deutiches HGB. Art. 757). 

Das dem ©. zuftehende Piandrecht ergreift nach Deutichem Recht das Schiff 
nebjt Zubehör und die Bruttofracht der Reife, auf welcher die Forderung entitanden 
it; das den Perjonen der Schiffsbefagung gebührende auch noch die Tracht der 
früheren Reijen, die unter denjelben Dienft- und Heuervertrag fallen. Dagegen 
ergreifen die den Deutichen Forderungen der ©. entiprechenden eréances privilegides 
des Franzöſiſchen und die maritime liens des Engliſchen Rechts nur das Schiff und 
den Zubehör dejlelben. 

Das Piandrecht des ©. ift ein privilegirtes, indem & — freilich nicht nach 
allen Rechten, wohl aber nad) dem Deutichen — im Falle der Konkurrenz mit 
einem auf Grund des bürgerlichen Rechts am Schiffe haftenden jonjtigen Piandrecht 
den Vorrang hat. Es fichert nicht nur die Kapitaläforderung, jondern auch den 
Anspruch wegen der Bodmereiprämie, der Zinfen und der Koften. Daflelbe ijt als 
ein Ddingliches Recht gegen jeden dritten Befiter des Schiffs verfolgbar. Es fann 
vom ©. geltend gemacht werden ſowol gegen den Rheder, als gegen den Schiffer, 
und zwar gegen den legteren auch), wenn das Schiff im Heimathshafen liegt, und 
es ift das gegen den Schiffer erftrittene Erkenntniß auch gegen den Rheder wirkjam. 

Was die Rangordnung der ©. ſelbſt anlangt, jo gehen gewifje Forderungen 
allen dbrigen vor, nämlich die Koften des Zwangsverkaufs nebjt den Bewachungs— 
und WBerwahrungskoften. Von den übrigen gehen immer die eine jpätere Reife be- 
treffenden denen vor, welche die früheren Reifen betreffen. Nur find die aus einer 
früheren Reiſe entjtandenen Forderungen aus den Dienfte und Heuerverträgen mit 
demjelben Vorrecht ausgejtattet, wie die eine jpätere Reife betreffenden, vorausgeſetzt, 
daß die verfchiedenen Reifen unter denjelben Dienſt- oder Heuervertrag fallen. Für 
die in Diefem Sinne gleichzeitigen Forderungen gilt folgende Rangordnung: 

1) die öffentlichen Schiffe-, Schiffahrts- und KHafenabgaben ; 

2) die bezeichneten forderungen der Beſatzung; 

3) die Lootjengelder, die Bergungs-, Hülfs-, Loskaufſs- und Reklamekoſten, 
die Beiträge des Schiffs zur großen Havarie, die Forderungen aus den vom Schiffer 

in Nothfällen abgeichloffenen Bodmerei- und anderen Kreditgeichäften, ſowie aus 


572 Schiffstolliſion. 


Lieferungen überhaupt, die zur Erhaltung des Schiffs oder zur Ausführung der 
Reife erforderlich waren und zu diefem Zwede gemacht find; 

4) die Forderungen wegen Nichtablieferung oder Beichädigung von Gütern 
oder Reiſeeffekten; 

5) die jonjt noch oben unter Nr. 7 und 8 aufgeführten Tyorderungen. 

Die unter einer Nummer jtehenden Forderungen find gleichberechtigt. Nur bei 
denen unter Nr. 3 hat die jpäter entjtandene vor der früher entjtandenen den Vor: 
rang, jedoch mit der Maßgabe, daß, wenn ein Kreditgeſchäft zur Berichtigung einer 
früheren, unter die Nr. 3 fallenden Forderung eingegangen ift, jowie wenn ein Ge 
ichäft lediglich auf Anerkennung oder Erneuerung einer derartigen früheren Forderung 
abzielt, der daraus entitandenen Forderung ftets nur das Vorzugsrecht der früheren 
Forderung zusteht, jelbit wenn das Geichäft zur Fortſetzung der Reife nothwendig war. 

Das Pfandrecht der S. am Schiffe erlifcht 1) durch den im Deutichen Reid 
(„Inland“) im Wege der Zwangsvollſtreckung erfolgten Verkauf des Schiffes, wobei 
jedoch die S. öffentlich zur Wahrnehmung ihrer Rechte aufzufordern find; 2) durch 
den vom Schiffer im Falle zwingender Nothwendigkeit auf Grund feiner gejeßlichen 
Befugniſſe bewirkten Verkauf des Schiffs. Es tritt alsdann das KHaufgeld am die 
Stelle des Schiffs, im zweiten Falle jedoch nur, jo lange es beim Käufer ausfteht 
oder fich noch in den Händen des Kapitäns befindet. An der Fracht ift das Prand- 
recht nur wirfjam, wenn diejelbe noch ausjteht oder fich in den Händen des Schiffers 
befindet. Unter diefer Vorausſetzung kann es aber auch im alle der Ceſſion dem 
Ceſſionar gegenüber geltend gemacht werden. Die für Aufopferung oder Bejchädigung 
in Fällen der großen Havarie gewährte Entichädigung tritt für die ©. an die Stelle 
deſſen, wofür die Entichädigung gewährt wird. Ebenſo die Entſchädigung, welde 
für den Verluſt oder die Bejchädigung des Schiffs oder für die in Folge von Verluſt 
oder Beichädigung von Gütern entgehende Fracht dem Rheder von dem zu leiten 
ift, durch deſſen Schuld der Schaden verurjacht ift. Hat der Rheder das Kaufgeld 
für das veräußerte Schiff oder die Fracht oder die gewährte Entichädigung ein- 
gezogen, jo haftet er jedem ©., dem dadurch fein Piandrecht ganz oder zum Theil 
entgeht, perjönlich für den diefem dadurch entjtehenden Schaden. Auch wenn der: 
jelbe das Schiff zu einer neuen Reife in See jendet, obwol er von der Forderung 
eines ©., dem er nur mit Schiff und Fracht haftet, Kenntniß erhalten, haftet er 
zugleich big auf Höhe des Betrags, der den ©. durch Vertheilung des Werths, den 
das Schiff vor Antritt der Reife hatte, zu Theil geworden wäre. 

Gigb. u. Lit.: Deutſches HGB. Art. 757—780. — Franz. Code de comm. art. 
191— 198; vgl. Geich vom 10. Dez. 1874 (loi qui rend les navires susceptibles d’hypothöque) 
art. 27, — Belg. Code de comm. L. II. —** vom 21. Auguſt 1879) art. 3-6. — 


Maclachlan, On the law of — ping ( ed. Lond. 1876), p. 61 ss., 651 ss. — 
Lewis, Deutiches Seerecht, II. ©. 148 "Kemis. 


Shiffsfollifion (Zufammenitoß von Schiffen, Th. I. ©. 546) ift damn 
von juriftifchem Intereffe, wenn dadurch ein Schaden herbeigeführt ift, indem es 
fih nun darum handelt, wer diefen Schaden zu tragen hat. Das Röm. Recht 
wendet hierauf die Grundjäße der lex Aquilia an. Es unterjcheidet demgemäß, ob 
der Zufammenftoß durch Zufall veranlaßt, oder durch die Schuld des Schiffsführers, 
Steuermanns oder der Mannſchaft verurfacht ift. Im eriteren Falle hat der Eigen: 
thümer des beichädigten Schiffs jelbjt den Schaden zu tragen, im zweiten der, welcher 
ihn verjchuldet hat (1. 29 SS 2—5 D. ad leg. Aquil, [9, 2)). Seit dem Mittelalter 
hat man jedoch das römischrechtliche Prinzip mur für den Fall beibehalten, daß der 
Schaden durch nachweisbares Verſchulden von der einen Seite herbeigeführt war, 
wobei noch einige Rechte das Verichulden auf VBorja und grobe Fahrläſſigkeit be 
ichränften. War dagegen der Zuſammenſtoß durch Zufall verurjacht, oder war nicht 
auszumitteln, wen die Schuld beizumefjen, oder traf die Schuld beide Theile, io 
wurde der Schaden über beide Schiffe vertheilt. Es bejtand und bejteht indeß no 


Scıiffstollifion. 573 


jegt in Betreff der Gejtaltung diejes Repartitionsprinzips feine Uebereinftimmung 
unter den verjchiedenen Seerechten, weder in Betreff des zu repartirenden Schadens, 
noch in Betreff der Art und Weile der Vertheilung defjelben. Nach einer Anzahl 
älterer und neuerer Seerechte (dem Portugiefiichen und Holländifchen HGB., dem 
Englischen und Nordamerifaniichen Recht) ift Gegenftand der Repartition der Schaden, 
welchen Schiff und Ladung erlitten haben, und zwar wurde urjprünglich der Schaden 
am Schiff auf die beiden Schiffe vertheilt, der an der Ladung auf die beiderjeitigen 
Ladungen, in der jpäteren Zeit aber und jo auch jebt werden Schiff und Ladung 
als eine Mafle betrachtet, und es wird daher der dem Schiff oder der Ladung zu— 
gerügte Schaden von beiden Schiffen und — joweit fie beladen find — den Ladungen 
getragen. Die meijten älteren, wie jet geltenden Seerechte laſſen jedoch eine Repar- 
tition nur bHinfichtli der den Schiffen zugefügten Beichädigungen eintreten. Die 
Repartition jelbjt wird aber entweder — und zwar nach der Mehrzahl der älteren 
und neueren Seerechte (jo 3. B. dem Franzöſiſchen und Italienischen) — in der 
Weiſe vorgenommen, daß jedem Schiff die Hälfte des Schadens auferlegt wird, oder 
aber jo, daß diejer nach dem Verhältniß des Werths der beiden Schiffe vertheilt 
wird (jo von den neueren Geerechten das Ruſſiſche, Portugiefiiche, Holländiſche). 
Diejes Repartitionsprinzip beſteht indeß in den jämmtlichen angegebenen Fällen heut- 
zutage jajt nirgends mehr. Bei dem durch beiderjeitige Schuld herbeigeführten 
Zufammenftoß findet noch jet in einer Reihe von Geerechten Nepartition jtatt, 
wogegen nach den anderen in diefem Falle ein Anspruch auf Erſatz des zugerügten 
Schadens überhaupt nicht Pla greift, der Schaden vielmehr von dem Beichädigten 
ſelbſt zu tragen ift. Auf erfterem Standpunkt jteht das Englifche und Nordamerikanifche 
Recht, die Franzöfiiche Jurisprudenz, die jedoch in neuerer Zeit überwiegend, ganz 
wie das Schwedijche, Norwegifche und das neuere Belgiiche Seerecht, ald Maßſtab 
für die NRepartition, die Größe der Schuld auf der einen und anderen Seite an- 
nimmt, auf letterem das Portugiefifche, dag Holländiſche, das Ruſſiſche und das 
Deutjche Recht. Bei der durch Zufall veranlaßten Kollifion erkennen nur das 
Dänifche und Ruſſiſche Seereht, und letzteres auch nur für den zur Nachtzeit er- 
folgten Zufammenjtoß das Repartitionsprinzip an. Alle übrigen lafjen jedes Schiff 
feinen Schaden tragen. In dem Falle endlich, wo der Zufammenjtoß zwar nicht 
int Folge eines Zufall erfolgte, die Schuld aber nicht nachgewiejen werden kann, 
laffen die meijten Rechte die NRepartition eintreten. Indeß ift diefes Prinzip auch 
hier bejeitigt im Norwegischen und Schwedijchen Seerecht, ſowie im Deutjchen HGB. 
Das Deutihe HGB. hat die Prinzipien des Röm. Rechts wieder hergeitellt, 
allerdings mit der durch den Grundjaß, daß der Rheder für die bei Ausführung 
der Dienitverrichtungen vorgefommenen Verſehen der Beſatzung haftet, bedingten 
Mopdififation. Die vom HGB. aufgeftellten Grundjäße find demgemäß folgende: 
Sind in Folge eines Zujammenftoßes von Schiffen Schiff oder Ladung oder Schiff 
und SYadung auf einer oder beiden Seiten beichädigt oder ganz zu Grunde gegangen, 
fo ift, wenn die Kollifion durch das Verfchulden einer Perfon der Beſatzung des 
einen Schiffs (d. h. des Schiffers, der Schiffsmannſchaft oder einer der jonjt noch 
auf dem Schiffe angejtellten Perſonen) herbeigeführt ift, der Rheder diejes verpflichtet, 
den Dem anderen Schiff und deſſen Ladung zugefügten Schaden zu erjegen, ohne daß 
dadurch die perjönliche Erjaßpflicht der Perfonen der Beſatzung jelbjt berührt wird. 
Der Rheder, dejjen Haftung natürlich, den darüber bejtehenden allgemeinen Grund 
jäßen gemäß, auf Schiff und Fracht befchränft ift, haftet übrigens nicht nur für den 
Schaden, der an oder auf dem Schiffe verurjacht ift, mit welchem das jeinige 
follidirte, jondern auch für den, welcher dadurch entitanden ift, daß der zwiſchen 
dieſem und jeinem Schiffe jtattgehabte Zufammenjtoß einen Zufammenftoß des erſteren 
mit einem dritten verurjacht hat. Trägt dagegen die Schuld an dem Zuſammenſtoß 
die Beſatzung beider Schiffe, oder ift derjelbe durch Zufall verurfacht, oder läßt fich 
nicht ermitteln, ob Zufall oder Verſchulden die Urjache der Kollifion geweſen, fo 


574 Schiffsmannſchaft. 


findet ein Anſpruch auf Erſatz des den Schiffen zugefügten Schadens nicht ſtatt. 
Das Verſchulden des einen oder des anderen oder beider Theile iſt in jedem Falle 
zu erweiſen, mögen beide Schiffe, oder das eine oder das andere ſich auf der Fahrt 
oder — wenn ſie befeſtigt waren, ſich aber losgeriſſen haben — im Treiben be— 
finden, oder vor Anker oder am Lande befeſtigt liegen. Eine Präſumtion für die 
Schuld des in Fahrt befindlichen Schiffs, wie fie andere Rechte (z. B. das Ruſſiſche) 
aufitellen, kennt das Deutiche HGB. nicht. Für den Schaden, welcher durch den 
vom Xootjen, der das Schiff führte, verjchuldeten Zufammenjtoß herbeigeführt ijt, hat 
der Rheder nicht einzuftehen, vorausgejeßt, daß der Lootje ein Zwangslootſe war, 
und die Schiffsbefahung die ihr obliegenden Pflichten erfüllt hat. War der Xootie 
dagegen fein Zwangslootſe, jo haftet der Rheder für die Folgen des unter. dem 
Kommando jeines Schiffers erfolgten Zufammenftoßes, wenn dabei ein Verjehen von 
deilen Seite vorgefommen. Abgejehen nämlich von dem all der rechtlichen Noth— 
wendigfeit, einen Xootjen zu nehmen, bleibt der Schiffer der verantwortliche Führer 
des Schiffs. Ein volljtändiges Abgeben des Kommandos an einen anderen involvirt 
aljo jtet3 eine culpa. Wenn das Geſetz den Rheder jedes Schiffs den demijelben 
zugefügten Schaden tragen läßt, falls der Zuſammenſtoß durch beiderjeitiges Ber 
ſchulden herbeigeführt ijt, jo hindert dies bei Beichädigung der Yadung deren Gigen- 
thümer nicht, Entichädigung von den Rhedern, auch dem des Schiffs, auf welchem 
fi) die Ladung befand, zu fordern. Dagegen haftet der Rheder auch den Ladungs— 
eigenthümern nicht, wenn die den Schaden herbeiführende Kollifion durch einen 
Zwangslootjen verjchuldet iſt. Eine Haftpflicht der Ladungseigenthümer findet in 
feinem Falle jtatt. 

Gigb. u. Lit.: Deutſches HGB. Art. 736—741. — —— Code de comm. art 
407. — Belg. Code de comm. L. IL (Geſetz vom 21. Aug. 1879) art. 2283—231. — 
Maclachlan, On the law of merchant shipping (2. ed. Lond. 1876), p. 285 ss. — 
Höchster et Sacr&, Droit maritime (Paris 1876), IL p. 184 ss.; Il. p. 734 ss. — 
Goujet et Merger, Dictionnaire de droit commercial (3. ed. von Ruben de Couder), 
I. p. 8 88. — Lampredt in ee ala für das gel. H.R. XXL ©. 12 
bi 99. — Lewis, Teutiches Seeredht, II. ©. 82 ff. Lewis. 


Shiffsmannihaft (TH. I. S. 544) ijt das zur Bedienung eines Kauffahrtei- 
ſchiffs beftimmte Perjonal. Die Rechtsverhältniffe derjelben haben nach allen Rich— 
tungen Hin in Deutjchland eine reichögejeßliche Regelung erfahren in der Seemanns- 
ordnung vom 27. Dezember 1872. Wennjchon das Gejeß von der ©. nicht nur 
den Kapitän ausichließt, jondern auch — auf Dampfichiffen — das gejammte 
Majchinenperfonal, jo legt es doch nicht nur diefem, fondern auch den ala Aur 
wärtern oder in einer anderen Gigenjchaft auf dem Schiffe angejtellten Perſonen 
diejelben Rechte und Pflichten bei, wie der S. Eine jeerechtliche Bezeichnung, welche 
den Schiffer, die Mannſchaft und die jonjt noch auf dem Schiffe angeftellten Perſonen 
umfaßt, it Schiffsbeſatzung (Deutiches HGB. Art. 445). 

Die ©. zerfällt in die Offiziere und die gewöhnlichen Seeleute. Als Offiziere 
find nur die zu bezeichnen, die ein Kommando auf dem Schiffe führen. Das find 
die Steuerleute und der Bootsmann, unter der VBorausfegung, daß er Steuermann: 
dienjte verfieht. Auf Dampfichiffen rechnet man auch den Ingenieur und die Ma— 
ichiniften dahin. Die gewöhnlichen Schiffsleute zerfallen, je nach den bejonderen 
Funktionen, die ihnen auf dem Schiffe zugewiejen find, reip. dem ihnen zufommenden 
Range und der ihnen gebührenden Heuer, in verjchiedene Kategorien. Man unter: 
icheidet Bootsmann, Zimmermann, Koch, Segelmacher, VBollmatrojen, Yeichtmatrofen, 
Schiffsjungen. 

Für den Eintritt in den Schiffsdienit wird im Deutichen Reichsgebiet gefordert, 
daß der betreffende mit einem Seefahrtsbuch verjehen ift, welches ihm von einem 
Seemannsamte ausgeiertigt wird. Iſt derjelbe ein Deuticher, jo wird hierzu voraus: 
gejeßt, daß er das vierzgehnte Yebensjahr vollendet hat, fich über jeine Militärver: 


Sciffspapiere. 575 


hältnifje auszumeifen vermag und, wenn er noch unter väterlicher Gewalt jteht oder 
minderjährig ift, die Einwilligung des Vaters oder VBormundes beibringt. Das 
Dienjtverhältnig des Schiffemannes wird begründet und geregelt durch den Heuer— 
vertrag (f. diefen Art.); doch enthalten auch die Geſetze darüber eingehende Bes 
ftimmungen. Der Schiffer erjcheint aber nicht nur ala Dienſtherr des Schiffamanns, 
jondern es jteht ihm auch eine Disziplinargewalt über diefen zu, welche fich jogar einer 
obrigfeitlichen Gewalt nähert. Derjelbe darf nach der Deutjchen Seemannsordnung 
alle zur Auirechterhaltung der Ordnung und zur Sicherung der Regelmäßigkeit des 
Dienftes erforderlichen Maßregeln ergreifen; hierbei auch namentlich herkömmliche 
Erſchwerungen des Dienftes und mäßige Schmälerung der Koft (lehtere bis auf die 
Dauer von drei Tagen) eintreten laffen. Dagegen ift demjelben die Verhängung 
von Geldjtrafen, körperlicher Züchtigung und Einſperrung der Regel nach unterjagt. 
Allein um Widerjeglichkeit und Ungehorſam zu brechen, kann er alle erforderlichen 
Maßregeln ergreifen und jelbjt zur Feſſelung der Widerjpenftigen darf er jchreiten, 
wenn dies durch die Sicherheit des Schiffs und der darauf befindlichen Perſonen 
und Waaren gefordert wird. Die Schiffsleute haben bei Vermeidung von Kriminal— 
ftrafen dem Schiffer Hierbei auf Erfordern Beiftand zu leiften. Berlegung der 
Dienjtpflichten und Widerjelichkeit haben für die Schiffäleute auch Kriminalſtrafen 
zur Folge. Im Intereffe der Aufrechterhaltung der Disziplin und mit Rückſicht 
auf die ntereffen der Rheder und Ladungsbetheiligten verbietet das Geſetz (ab- 
gejehen von einem Falle) dem Schiffemann, den Kapitän vor einem fremden Gericht 
zu Belangen. Doch geitattet e8 demfelben in dringenden Fällen die vorläufige Ent- 
iheidung des Seemannsamtes nachzufuchen, welche auch für den Schiffer einjtweilen 
bindend ift. Auch iſt zur Verhütung von Mißbrauch der Disziplinargewalt die 
Eintragung aller ſeitens des Schifferd angeordneten Maßregeln in das Journal 
vorgejchrieben, und dem Schiffer, der fich eines ſolchen Mißbrauchs jchuldig macht, 
find Kriminalftrafen angedroht. Wegen Seeuntüchtigfeit des Schiff oder Un— 
zulänglichkeit de Proviants können ein Offizier oder wenigſtens drei Schiffsleute 
Beichwerde bei einem Seemannsamt erheben. Diejes Hat aladann eine Unterfuchung 
der gedachten Thatjachen zu veranlaffen, deren Ergebniß in das Journal einzutragen 
und, falls die Beichwerden begründet find, für geeignete Abhülfe Sorge zu tragen. 
Dagegen find grundlofe Beichwerden, wenn fie wider befjeres Wiſſen oder leicht: 


tertiger Weiſe erhoben werden, mit Strafe bedroht. 

Gigb. u. Lit.: Deutiche Seemanndorbnung vom 27. Der. 1872, — Lewis, Deutiches 
Seerecht, J. S. 134— 179. — Tedlenborg, Handlexikon für Rheder, Derficherer u. Schiffs: 
fapitäne (2. Aufl. Bremen 1863), S. 405 9 — Franz. Code de comm. art. 250—272. — 
Belg. Code de comm. L. II (Seheh vom 21. Auguft 1879), art. 47—65. — Engl. Mer- 
chant nn act von 1854 (17. 18. Victoria c. 104), sect. 141 ss.; von 1862 (25. 26. 
Victoria c. 63), sect. 13 ss.; von 1867 (30. 31. Victoria c. 124), sect. 7 ss.; von 1871 
(4. 35. Victoria c. 110), sect. 7; von 1873 (36. 37. Victoria c. 85), sect. 7 ss. — 
Maclachlan, On the law of merchant shipping (2. ed. Lond. 1876), * 200 — 259. — 
Oliver’s sbipping law manual (6. ed. Lond. 1879), p. 262 ss. — Cresp-Laurin, 
Cours de droit maritime, I. (Paris 1876), p. 456 ss. Lewis. 


Schiffspapiere (papiers de bord, lettres de mer), Urkunden, die zum Aus— 
weis über Nationalität oder Eigenthum eines Schiffes, über deſſen Mannjchaft, La— 
dung oder Reife dienen. Die Gejeßgebungen der Küſtenſtaaten jchreiben vor, welche 
Urkunden zu diefem Zweck am Bord eines Schiffes geführt werden müffen. Zahl 
und Art der in den einzelnen Ländern erforderten Papiere ſtimmen feineswegs mit 
einander überein. Diefe Nichtübereinftimmung ift ein großer Uebelſtand, da es in 
Folge Derjelben zweifelhaft bleibt, ob eine nach den Gejehen des Inlandes aus— 
reichende Xegitimation auch von den Gerichten und Behörden des Auslandes ala ge— 
nügend angejehen werden wird. Namentlich im Falle eines Seefrieges kann eine 
derartige Ungewißheit gefahrbringend werden, wenn es ſich darım Handelt, auf 
Srund der ©. die Neutralität von Schiff oder Yadung nachzuweiſen. Es wäre 


576 Schiffspapiere. 


deshalb wünſchenswerth, daß ein Kongreß der ſeeſahrenden Staaten gemeinſame 
Grundiäge in diefer Hinficht nach Art der Parijer Deklaration aufftellen möchte; 
ob und wann es dazu kommen wird, iſt allerdings bei der gegenwärtigen Lage der 
internationalen Beziehungen nur problematiih. Bis zu einer folchen Einigung wird 
davon auszugehen jein, daß die trage, welche Papiere zum Erweije der Nationalität 
eines Schiffes erforderlich find, nach den Gejegen des Yandes zu enticheiden ijt, dem 
das Schiff angehört (Preuß. Prifen-Regl. vom 20. Juni 1864 8 6), 

Im Allgemeinen ift hervorzuheben: dem Schiffer liegt die Sorge dafür ob, 
daß fich die erforderlichen ©. an Bord befinden, er joll die Reife nicht antreten, 
bevor er mit denjelben veriehen ift. Der Berrachter iſt verpflichtet, dem Schiffer 
diejenigen Papiere auszuhändigen, die zur VBerichiffung der Ladung gehören, und 
jwar binnen der Friſt, innerhalb deren nach dem Frachtvertrage die Einlieferung der 
Ladung jelbjt zu geichegen hat. Schiffe, die feine Papiere führen, eben jolche, bei 
denen doppelte oder faliche Papiere gefunden werden, find von vornherein ver 
dächtig. Die Wirkung tritt wiederum vorzugsweiſe im Fall eines Seekrieges hemor. 
Werden ſolche Schiffe aufgebracht, jo gelten fie, wenn fie nicht im Stande find, den 
auf ihnen laftenden Verdacht zu widerlegen, als gute Prife. Auch die Berantiwort- 
lichkeit für den hieraus dem Rheder und den Ladungsintereffenten erwachjenden Ver 
mögensnachtheil trifft zumächit den Schiffer. 

Im Ginzelnen laffen ſich die Hauptjächlichiten S. wie folgt Elaffifiziren: 
a) Urkunden, betreffend Eigentum und Nationalität des Schiffes. Im Geltung 
gebiet des HGB. dient hierzu das Schiffscertififat, eine Beicheinigung über die Ein 
tragung des Schiffes in das Schiffaregifter, welche von der Regijterbehörde aus— 
gefertigt und durch die jowol das Eigenthum am Schiff wie das Recht defjelben zur 
Führung der Reichsflagge dargethan wird. Nur Schiffe von nicht mehr als 50 
Kubikmeter Brutto-Raumgehalt können, auch ohne ein Schiffscertififat zu befigen, zur 
Führung der Neichsflagge befugt fein. Die Einrichtung des Schiffäregifters und der 
Schiffscertififate ift vornehmlich Engliihem Mufter nachgebildet, früher galt in 
Deutichland als hauptjächlichjtes Dokument über die in Nede ftehenden Verhältniſſe 
der Beil- oder Bielbrief; nach) dem Code de comm. und den auf der Grundlage 
dejlelben beruhenden Handelsgejegbüchern werden bejondere Urkunden in Betreff dei 
Gigenthums und in Betreff der Nationalität erfordert (acte de propriete und arte 
de franeisation). b) Urkunden, betreffend das Verhalten gegenüber den Polizei» und 
fonftigen Hafenbehörden. Dahin gehören der Seepaß, Quittungen über Bezahlung 
von Zöllen und Hafenabgaben und der Meßbrief. Letzterer ift ein Zeugniß über 
Größe und Tragfähigkeit des Schiffes. Auf Grund einer bereits in der Nordbdeut 
ichen Bundesverfafiung enthaltenen, demnächſt auch in die Neicheverjafjung über: 
gegangenen Beitimmung find für das Deutiche Reich durch den Bundesrath all: 
gemeine Anordnungen über die Vermeffung der Seefchiffe und die Ausstellung von 
Meßbriefen getroffen worden. Seit diejer Zeit werden die Deutichen Meßbriefe aud 
im Auslande allgemein anerkannt. c) Urkunden, betreffend die Equipage. Die vor: 
züglichite derjelben ift die Mujfterrolle, ein von der Mufterungsbehörde urkundlich 
ausgefertigtes WVerzeichniß, welches Namen und Nationalität des Schiffes, Temer 
Namen und Wohnort (Heimath) des Schiffers, jowie jeder einzelnen Perſon der 
Schiffsbeſatzung angiebt. Der Eintragung in die Mufterrolle muß die Anmufterung 
voraufgehen, d. i. die perjönliche Vorſtellung des Schiffsvolkes und eine WBerlaut- 
barung der von demfelben mit dem Schiffer abgejchlofjenen Heuerverträge vor de 
Mufterbehörde. Hierbei müſſen die Schiffsoffiziere durch Qualififationszeugnifie, die 
Matrojen durch die den Gefindebüchern analogen Seeiahrtsbücher darthun, daß ihrer 
Verheuerung feine Hindernifie entgegenitehen. Auf Grund des bei der Anmufterung 
aufgenommenen Protokolls wird der Inhalt der Heuerverträge mit in die Muſter— 
rolle aufgenommen. Letztere vertritt in Preußen zugleich die Stelle eines Seepafies. 
d) Urkunden, die Ladung betreffend: Gertepartien, Konnofjemente,; das vom Schiffer 


Schiffspart. 577 


zu führende Ladebuch oder Ladungsmanifeſt, welches eine tabellariſche Ueberſicht über 
die einzelnen, auf dag Schiff abgeladenen Güter enthält. Unter Umjtänden können 
auh Zollquittungen, Urjprungszeugnifjfe über die verjchifften Waaren und andere 
Attejte erforderlich werden. e) Urkunden Hinfichtlich der Reife. Obligatoriſch ift 
bier nach dem HGB. das Schiffsjournal, über defjen Inhalt und Beweiskraft Art. 
486—489 zu vergleichen ijt. 

Die genannten ©. find, wie jchon hervorgehoben worden, nur die hauptjäch- 
lihiten, eine erjchöpfende Aufzählung der Urkunden, die möglicherweife unter dieſen 
ne fallen, wird fich faum geben lafjen. 

Lit.: Außer dem HGB. Art. 432 ff. bei.: Nordd. Bundesgeſ. v. 25. Dit. 1867, 
betr. —I der gie ga und ihre Befugnik zur Führung der Na ie — 
RGeſß betr. die ug und Bezeichnung der Kauffahrteiſchiffe vom = Juni 1873. — 
Schiffsvermeſſungsör vom 5. Juli 1872 nebſt — vom eo 1875. — See: 
mannsordnung vom 27. Dezbr. nn — vd. Raltenborn, Seerecht, F 90 ff. und bie 
daf. Angef. — Lewis, Seeredht, I. ©. 10, 14. Behrend. 


Schiffspart (Th. I. S. 544) nennt man den quoten Theil eines Kauffahrtei- 
ihiffes, das einer Nhederei gehört. Wenn nämlich ein folches Verhältniß vor- 
liegt, jo wird das Schiff in eine Anzahl ideeller Theile zerlegt, welche die Mitglieder 
der Rhederei, die Mitrheder, haben. Die Zahl der Parten ift nach dem Belieben 
der Mitrheder eine größere oder fleinere, ohne daß die Größe des Schiffs hierauf 
einen Einfluß hat. Die ©. find nicht nothiwendiger Weiſe gleich groß. Sie find 
teilbar. Auch können einem Mitrheder mehrere Parten gehören. Die ©. haben, 
ganz wie die Aktien einen zwiefachen Charakter. Sie begründen einerjeits die Mit- 
gliedichaft in der Rhederei, andererjeits find fie veräußerliche und vererbliche Ver— 
mögensobjette. Nach der Größe der ©. richtet fich, wenn nicht durch den Rhederei— 
vertrag etwas Anderes beliebt ift, einzig und allein das Stimmrecht der Mitrheder 
in den Rhebereiangelegenheiten, jo daß auch die Willenserklärung eines einzigen 
Mitrheders, dem mehr als die Hälfte des Schiffs gehört, die Bedeutung eines 
Majoritätsbefchluffes Hat. Die Größe der ©. ift maßgebend für die Vertheilung 
von Gewinn und DVerluft, wie für die Verpflichtung der Mitrheder, zu den Ausgaben 
der Rhederei beizutragen, und für den Umfang der Haftung derjelben dritten Ber: 
jonen gegenüber da, wo deren perjönliche Haftung begründet ift. Die ©. kann — 
wenn nicht der Nhedereivertrag etwas anderes verordnet — jederzeit von ihrem 
Gigenthümer beliebig ganz oder zum Theil veräußert werden. Den übrigen Mit: 
thedern steht gejelich fein Borfaufsrecht daran zu. Auch ihre Einwilligung iſt 
nicht erforderlich, mit Ausnahme des Falles, wo dad Schiff in Folge der Ver— 
äußerung das Recht, die Reichöflagge zu führen, verlieren würde. Die jtattgehabte 
Veräußerung muß indeß vom Veräußerer und Erwerber den übrigen Mitrhedern 
oder dem SKorreipondentrheder angezeigt werden. So lange dies nicht geichehen, 
wird der Veräußerer in jeinem Berhältniß zu den Mitrhedern ala Mitrheder an— 
gejehen und bleibt als folcher jenen wegen aller vorher begründeten Verbindlichkeiten 
verhaftet. Auf der anderen Seite ift der Erwerber in feinem Berhältniß zu den 
Mitrhedern jchon vom Zeitpunkt der Grwerbung an ala Mitrheder verpflichtet, wie 
er nicht nur die Beitimmungen des Rhedereivertrages, jondern auch die Rhederei— 
bejchlüffe und die eingegangenen Gejchäfte gegen ſich gelten lafjen; fich auch gefallen 
laffen muß, daß die übrigen Mitrheder bei dem fich für ihn jpäter herausſtellenden 
Gewinnantheil wegen ihrer Ansprüche gegen den Beräußerer Abzüge machen. Ebenjo 
haften für die in der Zeit zwijchen der Veräußerung und der Anzeige entitandenen 
verfönlichen Verbindlichkeiten zu dem der ©. entiprechenden Theile jowol der Ver— 
äußerer al3 der Erwerber. Die bereits begründeten perjönlichen Verpflichtungen des 
Mitrheders gegen Dritte werden durch die Veräußerung ebenjowenig, wie bei Ver— 
äußerung des ganzen Schiffs berührt. Das Verhältniß des Beräußerer zum Er: 
werber mit Rüdficht auf Gewinn oder Verluſt der Reife, während nr das Schiff 

v. Holtzendorff, Enc. II. Rechtöleriton II, 3. Aufl. 


578 Schilling — Schlahthaus. 


veräußert ift, richtet fich natürlich nach der Vereinbarung der Parteien. Fehlt eine 
folche, jo trifft Gewinn wie Verluſt den Erwerber. 

Gigb. u. Lit.: Deutiches HEB. Art. 441 ff., 458, 469-471, 474. — Lewis, Deutiches 
Seerecht, 1. ©. 45 ff., 66 ff. 72 ff. Lewis. 

Schilling, Friedrich Adolf, & 9. III. 1792 zu Pegau, beſuchte Piorta, 
jtudirte in Leipzig, habilitirte fi 1816, wurde 1818 aufßerordentl. Prof. in Halle, 
ging 1822 nach Breslau als ordentl. Prof, 1825 nach Leipzig, F 27. I. 1865. 

Schriften: Diss. critica de Ulpiani fragmentis, Vratisl. 1824. — Bemerkungen über 
Römiiche ————— Leipz. 1829. — Animadversiones criticae ad Ulp. enta 
L, Lips. 1830. — Lehrbuch für Inftitutionen und Geſchichte des Römiſchen —* 
Leipz. 1834—1837, 1846. — Lehrb. des Naturrechts oder der philof. Rechtswiſſenſchaft, Leipz 
1859—1863. — Animadvers, crit. ad diversos jur. Justinianei locos spec. XI., Lips. 1857. — 
Comment. qua inquiritur, jurisconsultorum rom. de naturali et gentium jure opiniones 
quamnam vim habuerint in jure civili excolendo, Lips. 1862. 


Lit: Beip) Zeitung, wiflenichaftl. Beilage vom 19. März 1865. — Ueber Bruno 
Schilling vgl. Schulte, Geichichte, IL.b ©. 2830. Teihmann. 


Sciltenberger, Johann Peter, 5 1684 in Stadtamhof bei Regensburg; 
früher Advofat beim Hochſtifte, 1713 Prof. in Ingolſtadt, ſeit 1755 Gmeritus, 
7 1759. 

Schriften: Quaestiones selectae ex universo Jure, 1718, beögl. 1731. — Disputatio 
ad l. 49 Tit. 16 ss. de re militari, 1734. — Consilia seu Responsa civilia et criminalia, 
1739. — Disput. ad 1. 5 ss. de Pactis, 1748. — Disp. de Pace, 1748. — Disp. ad L 50 
Tit. 4, 5 et N ss. de muneribus et honoribus, 1750. 

Lit.: Prantl, Geld. d. L.M. Univerf., 1872, Bd. II. S. 507. Bezold. 


Schilter, Johann, & 29. VIII. 1632 zu Pegau, wurde 1668 Amtmann in 
Suhl und jpäter beim Konfiftorium in Jena angeftellt, ging nad) Frankfurt a, M,, 
dann nach Straßburg, wo er Ratsherr wurde, T 14. V. 1705. 

Schriften: Exercitationes ad 50 libros Pandectarum, Jen. 1675—1680, zulekt ala 
Praxis * rom. in foro germ., Francof. et Lips. 1733. — Institutiones jur. can., Jen. 1681, c. 
raef. Boehmeri, Jen. 1713, ed. 7. Francof. et Lips. 1749. — De libertate eccl. Germaniae 
ibri VII, Jen. 1683. — Diss. de matrimonio, Jen. 1683. — Institutiones jur. publ. Rom. 
Germ., Argent. 1696. — Codex jur. feud. Alemannici, Argent. 1696, * Ey 178. — 
Thesaurus antiquit. Teutonicaruın, ed. Sch ——— 1727. — Institutiones jur. feudalis, 


Argent. 1695 ($tommentar von Buri, Giehen 1732—1738, von Runde, Giehen 1789). — 
Concordata nat, germ. 1708, 1720. 


git.: Schulze, Einleitung in das Deutiche Staatärecht, Leipz. 1867, ©. 71. — ae in 
v1. 72 ff. — Stobbe, Recdtäquellen, II. 420; Derjelbe, Deutiches Privatredt, S. 32. — 
Schulte, Geſchichte, III.b 583. Teichmann 

Schlachthaus. Man unterſcheidet öffentliche und Privat-S. Erſtere 
ſind den Gemeinden oder den Schlächtergewerben gehörige Anſtalten, welche 
von den Schlächtern gemeinſchaftlich zum Schlachten des Viehes und zur Verarbei— 
tung des Fleiſches benußt werden, während leßtere fich faft ausnahmslos in oder 
bei den Wohnhäufern der Schlächter befinden. Da mit den Privatichlächtereien 
vielerlei Webelftände verbunden find, jo ift in neuerer Zeit das Beitreben der Staatö- 
regierungen der meiften Guropäifchen Länder darauf gerichtet geweſen, öffentliche 
©. einzurichten. Hiermit foll nicht gejagt fein, daß öffentliche S. überhaupt erft 
in neuerer Zeit entitanden jeien; haben doch die Römer ſchon jolche (Lanienae) ge 
habt, die mit derjelben Pracht ausgeftattet waren, wie andere öffentliche Gebäude, 
wie Bäder, Cirken u. ſ. w. 

Auch dag Mittelalter Hat öffentliche gemeinjchaftliche S. aufzumweifen. In einer 
im jtädtifchen Archiv in Liegnig noch vorhandenen Urkunde vom 6. Februar 1373 
betätigt der Herzog Ludwig von Liegnig für fi) und als Vormund feiner Betten 
den an die Stadt erfolgten Verkauf des ſog. „Kuttelhofes“, d. 5. S. Derjelbe wurde 
1789 volljtändig neu gebaut. Niemand durfte anderswo als im „Kuttelhofe“ jchlachten. 
Die Entjtehungsgejchichte des Breslauer ©. fällt in das 15. Jahrhundert. 

Im 17. und 18. Jahrhundert wurden in verjchiedenen Deutichen Städten unter 


Schlachthaus. 679 


dem Namen von „Kuttelhöfen“ oder „Kuttelhäuſern“ ©. angelegt, die jedoch den 
Forderungen unferer Zeit in feiner Weiſe entiprechen. 

Zu Anfang diefes Jahrhundert? wurden in, Frankreich in allen mittleren und 
größeren Städten moderne öffentlihe S. eingerichtet. Diefe Einrichtung verdanft 
ed vorzugsweiſe Napoleon I, welcher unter dem 9. Februar 1810 befretirte, 
daß alle Privatichlächtereien in den mittleren und größeren Städten zu befeitigen 
und gemeinjchaftliche, öffentliche Etabliffements derart zu errichten fein. Belgien 
folgte dem in frankreich gegebenen Beifpiele, jo daß dort gegenwärtig ebenfalls 
in allen größeren Städten allen Ansprüchen genügende ©. vorhanden find. In der 
Schweiz, in Italien, in England und Schottland befiten faſt alle bedeutende Städte 
Öffentlihe S. In Defterreich, Bayern, Baden und Württemberg find die Gemeinden 
befugt, den S. zwang für jämmtliche Arten von Vieh einzuführen, und zwar ift dieje 
Materie gejetlich geregelt in Dejterreich durch die Dejterr. Gew.D. vom 20. Dez. 
1859, in Bayern durch das Polizei-StrafßB. vom Jahre 1881 bzw. das Polizei- 
StraiGB. vom 26. Dez. 1871, in Baden durch das Gew.Gef. vom 20. Sept. 
1862, in Württemberg durch das Generalreffript vom 20. Juni 1721. 

In Sadjen find die vorfommenden öffentlichen ©. im Beſitze der Innungen. 
Der S.zwang, welcher fi nur auf Großvieh erjtredt, hat nur die Gewohnheit und 
die polizeiliche Anordnung zum Nechtsboden. In Heffen-Darmitadt hat die S.frage 
noch feine gejeßliche Regelung gefunden; in einzelnen Städten, 3. B. in Darmitabdt, 
ift durch frühere landesherrliche Verordnung S.zwang eingeführt worden. In Preußen 
fam es nach dem Auftreten der Trichinofe zu einer jehr lebhaften Agitation für die 
Errichtung öffentlicher S. Allein, troßdem vielfeitig und eingehend beſonders jeitens 
der ärztlichen Vereine für die Nothwendigkeit der Errichtung öffentlicher, ausjchließ- 
lich zu benußender ©. plädirt wurde, fam «8 erjt im Jahre 1868 zu einer gejeß- 
lichen Regelung diefer Materie. Auf Grund des Gefjehes vom 18. März 1868 
wurden bis zum Jahre 1880 nur in zehn Städten öffentlihe S. errichtet. Durch 
die in den betreffenden Städten gemachten Eriahrungen fam allgemein die Weber: 
zeugung zum Ausdrud, daß das Geſetz in einigen Punkten der Abänderung und Er- 
gänzung bedürftig fei, wenn die Errichtung öffentlicher S. und die gedeihliche 
Meiterentwidelung der bereit vorhandenen gefördert werden ſolle. Es wurde des— 
halb, bejonders auf Anregung des Niederrheinifchen Vereins für öffentliche Gefund- 
beitspflege, im Jahre 1880 ein Gefjeßentwurf zur Abänderung und Ergänzung des 
Gejetes vom 18. März 1868 berathen und im Jahre 1881 endgültig fejtgeitellt, 
welcher die Berugniffe der Gemeinden auf diefem Gebiete bedeutend erweitert. 
Während denfelben nach dem Gejege vom 18. März 1868 nur die Befugniß zu— 
ftand, den Schlachtzwang und die Unterfuchung des in das ©. gelangenden Viehes 
einzuführen, find diefelben nunmehr berechtigt: 

1) „das von außerhalb in den Gemeindebezirk eingeführte Fleisch innerhalb 
gewiſſer Grenzen einer Unterfuchung zu unterwerfen“ ; 

2) „im jtädtifchen Verkehr eine Sonderung des S.fleiiches und des von Außen 
eingebrachten Fleiſches durchzuführen“ ; 

3) „die ſtädtiſchen Schlächter zu nöthigen, das öffentliche S. der Stadt zu be— 
nußen, wenn fie für ihren ſtädtiſchen Gewerbebetrieb ſchlachten.“ 

Da die Entichädigungäpflicht der Gemeinden den Befitern von Privat-S. gegen- 
über ebenialla vielerort3 ein Hinderniß für die Errichtung von Öffentlichen ©. ge— 
wejen, jo wurde eine Deklaration des von der Entjchädigung der Schlächter han— 
delnden $ 7 des Geſetzes dom 18. März 1868 Hinzugefügt, ebenjo eine Bejtimmung 
über den Zeitpunft, von welchem ab die Errichtung neuer Privatichlachtanitalten 
nicht mehr gejtattet fein joll. 

Das Geje verfolgt einen doppelten Zweck, nämlich 1) die mit dem Betriebe 
der Privatichlachtitätten verbundenen Beläftigungen der Nachbarichaft zu befeitigen 
und 2) das Publitum gegen den Genuß ungejunden Fleiſches zu ſchützen. Nach der 

97 * 


580 Schlägerei — Schlözer. 


gegenwärtigen Faſſung find fichere Handhaben gegeben, dieſen doppelten Zwed voll: 
ftändig zu erreichen. 

Bezüglich der baulichen Ginrihtung eines S. verdient Grwähnung, daß zu 
einer vollkommenen Einrichtung folgende bejondere Abtheilungen erforderlich find: 
1) Biehftälle zur Aufnahme des zu jchlachtenden Viehes, 2) das eigentliche ©. mit 
befonderen Abtheilungen zum Schlachten von Groß- und Sleinvieh und zum 
Schlachten von Schweinen, 3) ein Lokal zur Bereitung der Eingeweide und Abiälle, 
4) ein folches zum Zalgausfchmelzen. Hierzu kommen noch Wohnungen für Ans 
geftebke, nun MWaflerleitungen, Eiskeller, Dampfmajchinen u. ſ. w. 

Brandes, Ueber Schlachthäuſer mit befonderer Rüdficht auf die Verhältnifſe in 
ber ni i Refibenzftadt nnover, 1865; Derjelbe, Die Nothwendigleit eines Schlacht⸗ 
hauſes gl Hannover, 1874. — 6. Ch. v. "Bülow, Deffentliche Schlachthäuſer, ihre Noth: 
—— * aniſation und Rentabilität für alle groben unb mittleren Stäbte, 1870. — 

Die Bedeutung eines öffentlihen Schlachthauſes für Magdeburg, 1873. — 
— eher Anlage und Einrichtung von Schla 3— in Mocenihrift für Thierheiltunde 
und Viehzucht, 1875 Nr. 47 u. 48. — Jäger, at in das Geſetz vom 18. März 1868, 
betreffend bie Einzichtung Sfenticher Sähadthäne bewährt? in der Deutihen V. J. Schr. für 
——— hie de ‚ 1875 ©. 143. — Gerlad, Die Fleiſchkoſt des Menſchen, 1875, 
— Gobbin, Weber ö öfenti e Schlathäufer und bie Einfuhr des — Schlacht⸗ 
ee: in ber DB.I.CH hr. für öffentl. Gejundheitäpflege, 1876 VIII. Ulrich, Ueber 
Sfentliche Schlachthäuſer, in der Bresl. ärztl. Zeitichrift, 1879 ©. 189. 3. Giier. 


Schlägerei, ſ. Raufhandel. 


Schletter, Hermann Theodor, & 28. IV. 1816 in Dresden, habilitirte 
ſich 1839 in Leipzig, wurde 1848 außerordentl. Profeffor, 1854 außerordentl. Bei— 
m. des App.-Gerichts, 1865 ordentl. Honorarprofeſſor, T 19. VIII. 1873. 

ortſeher von Bihig 3 Annalen, —— d. Jahrb. d. Deutſchen Rechtswiſſenſchaft 
und de bgebung, Erl. 1 ff., Reb. d. Leipz. Zageblatts 1846—1852, der Deutichen Monats: 
WINE fi Lang) 1848—1854, be3 ‚Sidi. ochenblattes ſeit 1861. 
hriften: Handbuch der wichtigſten er Geſetze allgemeinen Inhalte, Leipz. 1897. — 
Sandbuk der juriftiichen und ftaatswitjen] Literatur, Grimma 1840—1843. — Reitr. 
zur Deutichen, insbe}. Sächſ. Rechtäpflege, 1 g a — In Saden der Mainzer Abdvolaten- 
verſammlung u Juftizminifter v. Mühler, 1844. — Hanbb. der —— Preßgeieh: 
ebung, Mir — Der münbliche —S— 1847. — Ueber ntwurf einer 
traf 1853. — Zur Tertfritif = —— (und ——— Leipz. 1854. — Lehrb. 
des 83. Strafprozeßrechts, 1856, 2. Aufl. 1862. — Konſtit. Kurf. Aug. von Sachſen vom 
jahre 1572, Leipz. 1857. — Allgem. Handbuch der fFreimaurerei, 1861— 1866. — Maureriiche 
ebenSanfichten, 1863. 


git.: Uniere Zeit, 1874, 5. Heft ©. 358, 359. Teihmann. 


Shliemann, Adolf Karl Wilhelm, & 21. VI. 1817 zu Mölln (Lauen- 
burg), wurde 1848 Dozent und Advokat in Roftod, 1855 Rath in der Juſtizkanzlei 
Schwerin, 1870 Rath am Bundes: Oberhandelägericht, F 19. I. 1872. 

Schriften: Die Clementinen unb ber Ebionitismus, Roft. 1848. — Die Haftung bes 
Gebdenten, Roft. 1848, 2. Aufl. 1850. — Krit. Bemerkungen zum Entwurfe eines 2. 
Schwerin 1858. — Lehre vom Zwang, Roft. ae — Zeit Mohr. f. d. gel. © HR. XVI. 1-31. 

=> Entſch. des ROHG. IV. (1872) ©. ‚445. — Pierer’3 Jabrbb. III. (1873) 

476. Zeihmann. 

Schlözer, Auguſt Ludwig von, & 5. VII. 1785 zu Jagitadt im Hohen: 
lohe-Kirchbergſchen, beſuchte Wittenberg, Göttingen, war Haußlehrer in Stodholm 
und Upjala, nahm eine Stellung bei dem Ruffifchen Reichshiftoriographen Müller 
ein, wurde 1762 Adjunkt der Akademie in Petersburg und Lehrer an der Raſu— 
mowsti'ſchen Anftalt, 1769 Profefjor der Politit in Göttingen, 1802 geadelt, 7 9. 
IX. 1809 ala Geh. Hofrath. 

Schriften: Allgem. Staatsrecht und Staatöverfaffungslehre, Gött. 1793, 1804 (Staat 


geleichte nad) ihren Haupttheilen). — ent politices, Gott. 1773, iftor. Unteriud. 
ber 10 ber Tu Reichsgrundgeſetze, Gotha 1777. — Staatsangei en, Gött. n —1793. — Bor: 
ellung er et tt. 1772, 3. Aufl. 1786. — Briefwechſel, Gött. 1775—1782. 


Schlözer's öffentl. und Privatleben, von ihm jelbft gefchrieben, Gott. 1802 (von 
kinem —* Verfaſſer der Anfangsgründe der ug Pa ar ruf. und beutich, re 
1804— 1806] Xeipz. 1828). — Pütter, Litt., I. 38. — Mohl, 1. 75, 148; IL 489-459. 


Schlußnote — Schlußvertheilung. 581 
————— eg IX. 241—246. — Roſcher, Geidichte der Nationalötonomit, 


874 ©. 582-589. — —— Sch a Hann. 1844. — Sermelo, Sclözer ein Publi ift 
. alten Reich, Berl. 1 ejendond, Die Begründung ber neueren Deutjchen 
Geihichtfchreibung durch Ber unb Schlögzer, Leipy. 1876. Zeihmann. 


Schlußnote, j. Note. 


Schlußtermin im Konkurje it nach der Deutichen KO. ein zur Abnahme 
der Schlußrechnung des Verwalters, zur Beichlußiaffung über nicht verwerthhare 
Maflegegenftände und zur Erhebung von Einwendungen gegen das Schlußverzeichniß, 
aljo ein zur Regulirung der Schlußvertheilung vom Konfursgericht angejegter und 
öffentlich befannt gemachter Termin. Seine Anberaumung kann gelegentlich der 
Genehmigung der Schlußvertheilung erfolgen und muß jo gejchehen, daß bis zu 
feinem Gintritt mindeſtens drei Wochen Frift laufen und wiederum ein Monat nicht 
überfchritten wird. Was ferner erftlih die Schlußrechnung anlangt, welche mit 
ihren Belegen und den etwaigen Anmerkungen des Gläubigerausjchuffes drei Tage 
vorher in der Gerichtsfchreiberei zur Einficht auäzulegen ift, jo fönnen außer einem 
etwaigen neuen Verwalter der Gemeinjchuldner und jeder Gläubiger Einwendungen 
gegen fie erheben, aber bei Vermeidung der Entlaftung des Verwalter nur im ©. 
Können die Einwendungen im S. nicht durch Vereinbarung, Aufklärung zc. erledigt 
werden, jo find fie im gewöhnlichen Prozeßwege entweder im allgemeinen Gerichts- 
ftande des Berwalterd oder in dem der geführten Verwaltung auszutragen. Die 
Beichlußfaffung zweitens über unverwerthbare Gegenftände jteht lediglich den Gläu— 
bigern zu; ergiebt fich dabei ein Verwerthungsmodus nicht, jo find fie der Ver: 
fügung des Schuldners wieder anheimzugeben. Ginwendungen endlich gegen das 
Schlußverzeichniß find im ©. anzubringen, ohne daß fie hier entichieden werden 
müßten. Im ©., mit welchem auch etwaige, dem Verwalter bis dahin nicht an= 
gezeigte Maffeaniprüche präfludirt find, kann, wenn die Berhandlungen nit Hin⸗ 
dernifje ergeben, möglicherweije die jofortige Auszahlung der Reitmaffe eintreten, das 
Gericht auch die Aufhebung des Konkurjes beichließen. — Die Defterr. KO. kennt 
den ©. nicht. Die Einwendungen gegen den Entwurf der Schlußvertheilung find wie 
bei den Abfchlagsvertheilungen innerhalb Frift anzubringen und nicht in einem Ter: 
mine; und wenn die Beichlußiaffung über unverwerthbare Gegenjtände und die Ab— 
nahme der Schlußrechnung fich auch zu einem S. kombiniren ließen, jo fteht die 
legtere doch nur dem Gläubigerausichuß und dem neuen Berwalter zu, denen die 
zum Zermine freilich durch Anjchlag am Gerichtshaufe geladenen Gläubiger nur 
Material zu Einwendungen liefern können, jo daß die Verhältniſſe auch hierin nicht 
re 

ellen: Deutiche at ae 150, 151, 159; Motive ©. 380. — Defterreid. 


KO. er 146, 149 ff. 17T fi 
Lit: Buchs, Deutiher KonkPrz., $ 29. — — zur Deutſchen KO. LI. von 
v. Wilmomwsti, v.Sarwey, d. fineendoritn u K. Wieding. 


Schlufvertheilung im Konkurſe (v. — Th. J. Suppl. S. 90) iſt 
nach der Deutſchen KO. die nach voraufgegangener Abſchlagsvertheilung erfol= 
gende Wertheilung der Neitmafje des Schuldnervermögen!. it diejelbe durch nach— 
träglich jejtgejtellte Konkursforderungen oder nachträglich dem Verwalter angezeigte 
Maffeaniprüche erichöpit, jo it eine S., abgejehen davon, daß für die Zahlung 
nachträglich feftgeftellter Konkursforderungen die Form einer ©. benußt werden kann, 
an jich zwar gegenftandalos, joll jedoch mit Rüdficht auf die Möglichkeit von Nach— 
tragsvertheilungen, für welche das Schlußverzeichniß gleichfalls die Grundlage ift, 
nicht wegiallen. — Die ©., die vom Konfursverwalter veranlaßt wird, bedarf nicht 
blos der Zuftimmung des Gläubigerausjchuffes, ſondern wegen der mit ihr ver- 
bundenen Aufhebung des Konkurſes und Präflufion der nicht angemeldeten bzw. ohne 
die erforderlichen Nachweije gebliebenen Forderungen und Anjprüche auch der Ge— 
nehmigung des Gerichts. Im Uebrigen joll fie eintreten, wenn die Verwerthung 


582 Schlußvortrag — Schmalz. 


der Maſſe beendigt ift; wo diefer Moment durch jchwebende Prozeffe über Mafle- 
gegenftände oder andere Hinderniffe hinausgefchoben ift, kann das Gericht nach Er— 
wägung der Verhältniffe und der fich gegenüberjtehenden Jntereffen die Vornahme 
der ©. anordnen oder ausfegen. Ihre Ausführung erfordert Klarſtellung der nod 
übrigen ITheilungsmaffe, darum namentlich auch Abnahme der Schlußrechnung des 
Verwalter, welche im Schlußtermin erfolgt, und Klarſtellung der Beträge aller 
noch nicht befriedigten Konkuröforderungen, weshalb der Verwalter nach gleichen 
Grundjägen, wie bei den Abtragsvertheilungen, ein Verzeichniß derjelben anzufertigen 
und zur Einficht der Betheiligten in der Gerichtöfchreiberei auszulegen hat. Gleich— 
zeitig ift vom Verwalter die Summe der forderungen und der Betrag der Reitmafle 
Öffentlich bekannt zu machen. Bon der Bekanntmachung an läuft auch bier eine 
Ausichlußfrift von zwei Wochen, innerhalb welcher nicht feftgeitellte Forderungen durd) 
die dem Verwalter zu führende Nachweifung der Erhebung der FFeititellungsflage bzw. 
der Aufnahme des Prozeſſes, Forderungen Abjonderungsberechtigter durch Nachweis 
des Verzichts oder Ausfalls, fuspenfiv bedingte Forderungen, für welche ein Ans 
ipruch gegen den Gemeinjchuldner auf Sicherheitäleiftung nicht beſtand, durch Rad) 
weis des Eintritt der Bedingung noch zur Berüdfichtigung gefördert werden können, 
mit deren Ablauf fie aber auch von der Konfuräbefriedigung, und zwar in der Weile 
ausgeichloffen find, daß die bei den Abfchlagävertheilungen für fie einbehaltenen 
bzw. einbezahlten und mit Nüdficht auf mögliche Kompenſationsbefugniſſe für fie 
hinterlegten Beträge in die Theilungsmaffe zurüdiallen. In Folge der Nachwei— 
jungen hat der Verwalter das Verzeichniß binnen drei Tagen vom Ende der Aus— 
ichlußfrift zu berichtigen und danach wiederum zur Einficht in der Gerichtäfchreiberei 
auäzulegen. Ginwendungen gegen daffelbe find im Schlußtermin, nicht binnen Friſt, 
anzubringen und zu verhandeln; die Entjcheidung kann im Termine oder fpäter er 
folgen und ift von Amtswegen zuzuſtellen und, wenn die Berichtigung des Ver— 
zeichniffes verfügt wird, in der Gerichtsjchreiberei zur Ginficht niederzulegen, von 
welcher Zuftellung bzw. Niederlegung die Friſt zur jofortigen Beſchwerde beginnt. 
Nach eingetretener Rechtskraft der Entjcheidungen verfügt das Gericht die Auszah— 
(ung der Reſtmaſſe an die Gläubiger des Schlußverzeichnifies, bei welcher die Au— 
theile, welche nicht erhoben werben, und die Antheile, welche auf wideriprochene und 
im Spezialprozeß befangene, ferner auf juspenfiv bedingte, aber mit Kautionsaniprud) 
verjehene, endlich auf rejolutiv bedingte Forderungen, wegen welcher der Gläubiger 
die ihm obliegende Sicherheitsleiftung nicht beichafft hat, entfallen, zurüdbehalten 
und nach Anordnung des Gerichts Hinterlegt werden. — Nach der Defterr. KO. 
erfolgt die ©., für welche im MWejentlichen die Vorſchriften über die Abſchlags— 
vertheilungen gelten, fobald das befannte Maffevermögen vollftändig realifirt und 
über jämmtliche jtreitige Forderungen einschließlich etwaiger Kautionsverhältniſſe 
endgültig entjchieden if. Doch joll die Unbeftimmtheit des Rückfallens von 
Dedungsbeträgen für bedingte Forderungen und wiederkehrende Bezüge an die Maſſe 
die S. nicht auffchieben, da die Gläubiger auf die aus ihmen fich ergebenden Divi- 
denden bedingt angewieſen werden können. 

Quellen: Deutſche KD. $$ 149 fi.; Mot. ©. 308, 380 ff. — Defterreich. KO. SS 187 Fi. 


Lit: Fuchs, Deuticher Kont. er 29 — —— zur Br ur KO. 11. von 
v. Dölderndorff, vd. Sarwey, v ilmomsafi u. K. Wieding. 


Schlußvortrag, j. Hauptverhandlung (Bd. II. ©.288 fi.) u. Refume 


Schmalz, Theodor Anton Heinrich, & 17. U. 1760 zu Hannover, 
jtudirte in Göttingen feit 1783 die Nechtöwiffenichafit, wurde 1787 zu Rinteln 
Prof., ging 1788 nach Königsberg, wurde 1798 Konfiftorialrath, 1801 Kanzler, 
1803 Geh. Juftizrath und Direktor der Univ. Halle, feit 1809 am Kammergericht, 
1810 eriter Rektor der Univ. Berlin, F 20. V. 1881. 


Schmalzgrueber — Schmerzensgeld. 583 


Schriften: — bed Grafen Wilh. zu rg pe, Hann. 1783. — 
Berihtig. einer Stelle in der Benturiniihen Chronit für 1808, Berl. 1815 (verbächtigte 
den Zugendbund und gab Anlaß zu einer heftigen Polemik). — Encyklopädie des Gemeinen 
Rechts, Königsb. 1790. — Handbuch des Römtichen Privatrechts, Königsb. 1793, 2. Aufl. 
1794. — Das Recht ber Natur, Königab. 1795 (Tie Wiſſenſchaft des natürlichen Rechts, 
a eg. von Jarcke, Leipz. 1831). — Enchklop. der Gameralwifjenichaften, Königsb. 1797, 
. Aufl. 1819, — Staatäverfaffung Großbritanniens, Halle 1806. — Hanbb. db. fanon. Rechts, 
Berl. 1815, 3. Aufl. 1834. — Bad Europäiſche WVölterrecht, Berl. 1817. — Lehrbuch bes 
Deutichen Privatredhts, Berl. 1818, — Staatämwirthichaftälehre in Briefen, Berl. 1817. — 
Anficht der ftändiichen Berfafiung in der Preuß. Monardie, (2) Berl. 1823. — Das Deutſche 
Staatöredht, Berl. 1825. — —— des Teutſchen Bundes, Berl. 1825. 

Lit.: Schmidt, Neuer Nekrolog ber Deutſchen, IX. ©. 438—443. — Roſcher, Geſch. 
der Nationalökonomik, 1874, ©. 498. — Schulte, Geſchichte, II.b ©. 173—175. — Mohl, 
7, 248, 264. Teihmann. 

Schmalzgrueber, Franz, 5 1663 zu Grieabah, 1705 Prof. d. Kan. 
Rechts zu Dillingen, 1709 in Ingolſtadt, 1716 wieder in Dillingen, 7 7. I. 
1735. Befannt durch fein Jus eccl. univ., Dillingen und Ingoljtadt 1717—1727; 
Ingoljtadt 1728; Neap. 1738; Rom 1843—1845. — Consilia seu responsa juris, 
Ingolitadt 1722; Dillingen 1740. 

Lit.: Schulte, Geſchichte, III.a ©. 160. Teihmann, 


Schmauß, Joh. Jak., 810. III. 1690 zu Landau im Elſaß; wurde, nachdem 
er in Halle einige Zeit gelehrt, 1721 vom Markgrafen von Baden- Durlach zum Hof- 
rath, 1728 zum Kammerrath ernannt, ging 1734 nach Göttingen, 1743 nach Halle, 


1744 zurüd nach Göttingen, T 8. IV. 1757. 
Schriften: Neichshiftorie 1720, (5) 1751. — Corp. jur. publ. sacri Rom. imp. acad., 
Leipz. 1722, (6) 1774, von Hommel 1794. — Corp. jur. gentium acad., Lips. 1730—1732. — 


Einleitung zur rg ein Leipz. 1741—1747. — Neues Syitem beö Rechtes ber Natur, 
Gött. 1754. — Aladem. Reden, Lemgo 1766. 
Lit.: Schulze, Einl., S. 85. — Pütter, Xitt., II. 3, 448. Teihmann. 


Schmerzensgeld iſt der einem Verletzten gebührende Era für die von ihm 
in Folge einer Körperverlegung erlittenen phyſiſchen Schmerzen. 

I. Dem Röm. Recht war das ©. unbefannt (quia liberum corpus nullam 
recipit aestimationem — 1. 7 i. f. D. de his, qui effud. 9, 3), anerfannt war es 
dagegen jhon in dem älteren Deutſchen Recht (vgl. die Nachweifungen bei 
Stobbe, Deutjches Privatrecht, Bd. III. $ 203, Anm. 26) und wurde in der 
Praris ala der natürlichen Billigkeit und den Deutichen Rechtsanjchauungen ent— 
fprechend ganz allgemein gewährt, feit e8 in Art. 20 der CCC erwähnt war. Wie 
v. Wächter (Die Buße, ©. 81 ff.) ausführt, fing man jeit dem 17. Jahrhundert an 
„die Griaßflage bei Körperverlegungen nach ihrem bedeutendften Gegenjtande, den 
erlittenen Schmerzen, als Klage auf das ©. zu bezeichnen”. Dieſe Klage ift dem= 
nach eine actio legis Aquiliae utilis, nicht eine actio iniuriarum ex lege Cornelia 
utilis, fie ijt eine Erſatz-, nicht eine Strafllage. Nach diefer übrigens noch) in der 
neueren Literatur (vgl. 3. B. Bruns im Th. I. ©. 439) und in der neueren 
Judikatur (vgl. 3. B. das Urtheil des DApp.Ger. Lübeck vom Jahre 1873 bei 
Seuffert, XXXU. 239) nicht unbejtrittenen juriftiichen Konftruftion beant- 
worten fich die beiden viel behandelten Kontroverjen über die Ausmeſſung des ©. 
und über jeine Zulaffung bei kulpoſen Delikten dahin, daß die Bemeſſung fich zu 
richten hat nach Art und Größe der ausgeſtandenen Schmerzen, nicht nach dem 
Maße des Verichuldens des Verlegers, und daß auf ein ©. in allen Fällen der 
Körperverlegung, auch den nur auf Fahrläffigkeit zurüdführbaren, erfannt werden 
farın. Die Bererblichkeit des S.anjpruches auf die Erben des Verletzten iſt nach 
beiden Anfichten ausgeichloffen, weil der in dem ©. gewährte Erja immerhin eine 
Art von Genugthuung für den von dem Verletzten erduldeten Schmerz ift, welche 
von jeinen Erben nicht beanfprucht werden fann (ſ. den Art. Shadenserjaß). 
Durd das Rectsinjtitut der Buße (StrafGB. 88 188 u. 231) wird demnach das 


584 Schmerzensgeld. 








©. keineswegs befeitigt, wie das erwähnte Lübeder Urtheil behauptet, es wird mı 
durch die Zuerfennung einer Buße, die ja lediglich den Charakter einer Entihädigun 
bat (j. den Art. Buße), im einzelnen Falle die weitere Geltendmachung ans 
S.anfpruches ausgeichlofien (Straf®B. $ 231). Aus diefer Natur des ©. beitimm 
fi auch die Haftung mehrerer Mitthäter, ein Erfah braucht nur einmal geleiſte 
zu werden, nicht — wie eine Strafe (Privatjtrafe) — von jedem ganz, die Kir 
thäter haften alſo nur in solidum, nicht jeder auf das Ganze. 

II. Unter den Partikularrechten billigt das Preuß. Allg. ER. (Li 
s$ 112—114) ein ©. nur Perfonen vom Bauer- oder gemeinen Bürgerftande yı. 
denen körperliche Berlegungen aus Vorſatz oder grobem Verſehen zugerügt word 
find. Der Betrag foll zwijchen der Hälfte und dem Doppelten der erjorderlihe 
Kurkoften bemeffen werden. Dem domehmen Mann wird ein höheres Chrgrüh 
zugemuthet, feine Schmerzen find unſchätzbar und kommen nur ald Strafzumefimg: 
grund in Betracht. Da es fich nicht um ein Standesvorrecht handelt , jondern ım 
„einen thatjächlich beitehenden Unterjchied der Stände“ , jo find diefe Beſtimmunget 
durch Art. 4 der Preuß. Berfafjung nicht aufgehoben (Entſch. des Dinb. ıı 
Striethorft’s Archiv, Bd. XXXII. ©. 190); das Unpaffende derjelben win 
indeffen allgemein anerkannt. 

Das Defterreihifche Allg. BGB. gewährt in $ 1325 dem Verlegten 
„ein den erhobenen Umftänden angemefjenes S.“, deffen Höhe demnach Lediglich deu 
richterlichen Ermeſſen überlaffen if. Der Anfpruch darauf ift unvererblich (arg. 
$ 1317), jofern nicht die Klage von dem Verletzten bereits angeftellt oder vorberite 
it. In gleicher Weife verpflichten daa Sächſiſche BGB. und das Zürder 
GB. (Bluntjchli) denjenigen, welcher durch feine Verſchuldung (alſo dolus und 
culpa) Jemand an deffen Körper verleht, zur Bezahlung eines angemefjenen ©. a 
den Beichädigten. In Baden und Württemberg ift der Anſpruch auf ©. aus 
drüdlich aufgehoben. Ebenſo ijt er dem Code civil unbefannt. 

III. Bon Reichsgeſetzen wird das ©. außer in den erwähnten $$ de 
NStrafGB. indirekt berührt durch das Geſetz, betr. die Verbindlichkeit zum Schaden“ 
erja für die bei dem Betriebe von Gifenbahnen, Bergwerken ꝛc. berbeigeführten 
Tödtungen und Körperverlegungen, vom 7. Juni 1871 (R.G. Bl., S. 207), welde 
in $ 3 für den Fall einer Hörperverlegung nur den Erſatz der Heilungskoſten und 
des erlittenen VBermögensnachtheild gewährt, im $ 9 indeffen die weitergehenden 
Landesgeſetze aufrecht erhält (vgl. Entjch. d. Reichöger. I. ©. 277), und durd du: 
Geſetz über das Poſtweſen des Deutichen Reich vom 28. Oftober 1871 (R.G.LL, 
©. 347), welches in $ 11 im Falle der körperlichen Beſchädigung eines Retjenden 
lediglich die erforderlichen Kur: und Verpflegungsfoften zufpricht. 

Für die Bemeſſung des ©. ift jet ganz allgemein der $ 260 der GEL. 
maßgebend („Schaden oder ein zu erjehendes Intereſſe“). 


Quellen: CCC art. 20. — Allgem. ER. I. 6 88 112—114. — Defterr. Al —* 
& 1325. — Sächſ. BGB. $ 1489. — Bad. ER. Art. 1382 fi. — Württemb. 
5. Sept. 1839 Art. 14. — Code eivil art. 1382—1386. — Bgl. die angeführten Reichegeiehe 


Lit.: Glüd, Bd. X. ©. 388 ff. — Genäler im Ardhiv für die civil. Prar. Bd. 1. 
S. 151 . — Sei ‚ Unterjuchhungen über bie ni en Scmerzenägelbflage, 1860 und dayı 
v. Stinging ind. zozi 8 Krit. V. J. Schr. B ff. — Die Pandettenlehrbücher von 
Sintenis, 3b. II. S 125 und Windſcheid, Bb. IL ls (5. Aufl. S. 715 un. TI. — 
v. Mächter, Die Buhe bei Dee u. Srperperlegun en, 1374, ©. 72—87. — Stobbe, 
Deutjches Privatrecht, Bd. II 16—419). — Seuffert’ 8 Archiv I. 220; IV. 
227; VII. 138; XI. 316; XII. 31; x 131; XVII. 42, 138; XXI. 31; XXV. 3%: 
XXVI. 30; XXXI. 230, 232; XXXU. 239. — Föriter, und, und Prar is des 
Privatrecht, Bd. I. $S 151. — Dernburg, ehrbud) bes Preuß. Bripatrechts, BD. 
8 61. — Koch, Kommentar er Allgem. ER. (. 2 RS 112—114). — Unger, Spftem bei 
efterr. Privatrecht?, Bd. II. & 114 Som. 16 (©. 3 65). R 
eil. 


un. 


- 


Schmid — Schmidt-Phifelded. 585 


Schmid, Johann Kaspar v., Freiherr auf Haslach ıc., 5 1622 zu 


- Münden, T 1693. Studirte zu Ingoljtadt, ward geheimer Kanzler in Bayern, 


— als welcher er der Bahnbrecher für die ſpäter durch den nachjolgenden Kanzler 


dv. Kreittmayr durchgeführte Gejehgebungsreiorm geworden ift. Auf ihn find 


ee aud die Bayeriſchen Amortiſationsgeſetze zurücdzuführen. Inſoweit feine Kommentare 


den Givilprogeß betreffen, find dieſelben in der Bayer. Gerichtspraris noch bis in 

die neueſte Zeit in Anſehen gejtanden. 
Schriften: Systema Praetensionum Bavaricarum seu Jura Domus Bavaricae — 
Kommentar über bie erklärte Landesfreiheit (verloren gegangen). — Commentaria — 
umma- 


‘‘= ad Jus Municipale Bavaricum in tres Tomos divisa. — Commentarii ad Processum 
‘= rium et Edictalem, Pontificam et Pandectorum leges, feudorum usus, atque locorum con- 
‚- suetudines. 

Bezold. 


Lit.: Oberbayrifches Archiv Bd. I. ©. 379. 
Schmid, Karl Ernit, 5 24. X. 1774 zu Weimar, wurde 1804 Stadt- 


= gerichtsrath, 1809 Prof. in Jena, dann 1811 in Hildburghauſen Bizepräfident, 
18318 Geheimrath, 1816 in Jena bei den Konferenzen zur Abfaffung einer Gerichts- 


“ und rer} Grenzen, Jena 1863. 


° Wiedergeburt, Jena 1814. — Der Deutiche 


- fünf Brüder Freih. v. Eberäberg gegen Graf vd. 


273, 281; U. 3 


ordnung und Grrichtung eines Oberappellationsgerichts zugezogen, lehrte dajelbft, 
T 28. VI. 1852. 


- rn: Ueber die Bertheilung ber Kriegsſchäden, Hildb. 1808. — Krit. Einleit. 
in d. gei. 


Recht des Franz. Reichs (im db. bürgerl. Recht), Hildb. 1808, 1809. — Deutichlands 
Bund, eine Zeitichrift, Jena 1815. — Ueber das 


Bürgerrecht ber Juden, 1816. — Beitr. zum —— (Verth. für Dr. Kohlrauſch), Jena 


1818. — Ueber Preßfreiheit und ihre Grenzen, Jena 1818. — Quadruplik in Sachen der 
betr., Hersfeld, Mein. 1820. — 


rohbe 

Lehrbuch des Gem. Deutſchen Staatsrechts, Jena 1821. Ber Büchernachdruck, Jena 1823. — 
Ueber die Thronfolgeordbnung in Großbritannien und Hannover, Jena 1835. — Betheiligt 
am „Hermes“. 

* Günther, Lebensſtizzen, Jena 1858, ©. 83. — Brockhaus. — Mohl, L 

; II. 328. Zeihmann. 

Schmid, Reinhold, & 29. XI. 1800 zu Jena, trat in burjchenjchaitliche 

Verbindungen ein, was nach langwieriger Unterfuchung ihm eine mehrjährige, durch 


Begnadigung auf 1 Jahr bejchränkte Feſtungsſtrafe einbrachte, wurde 1832 außer: 
- ordentl. Prof. in Jena, ging 1836 nach Bern, jpäter nach Jena zurüf, 7 21. 


IV. 1873. 
Schriften: Geſetze ber Angeljachien, Leipz. 1832, neue Bearb. 1858. — Theorie und 


Methodik des bürgerl. Rechts, Jena 1848. — Die Herrichaft der Geſetze nad) ihren räumlichen 


it.: Günther, Lebenajtizzen, 1858, S. 94, 95. — Unfere Zeit 1873, II. 281. 

i Zeihmann. 
Schmidt, Johann Ludwig, & 22. IV. 1726 zu Quedlinburg, wurde 

1749 in Jena Advolat, 1766 ord. Prof, 1771 Sofrath, f 2. VIII. 1792. 
Bekannt durch jein Praktifches Lehrbuch v. gerichtl. Klagen und Einreden, 1774, 9. Aufl. 

Jena 1845. — Hinterlaffene Abhandlungen verjchiedener praftifcher Rechtämaterien von 


Faſelius, Leipz 1795. 
Lit: Meuſel, XII. 285—287. Teihmann. 


Schmidt-Bhifeldet, Juſtus v., 5 8. X. 1769 zu Wolfenbüttel, wurde 
1799 Konfiftorial-, Grenze und Lehnrath, 1806 Hofrat und Geh. Sekretär im 
Minijterium des Herzogs von Braunfchweig, nahm an dem Wiener Kongreß Theil, 
trat wegen arger Beleidigungen und Verfolgungen von Seiten des Herzogs Karl in 
bannöverijche Dienfte, wurde Chef des Juftigdepartements, 1832 Landdroft in Hildes— 
beim, kehrte nach Braunjchweig zurüd, F 23. IX. 1851 zu Wolfenbüttel. 

Schriften: Beitr. zur Lehre von den Prozekloften, Helmft. 1793. — Juriſt. Miäcel: 
Ianeen, Schwerin 1795. — Ueber den Eid, Helmit. 1798. — Anleitung für Anfänger in der 
Deutichen Diplomatit, Braunjchw. 1804. — Ueber meinen Austritt, Hann. 1827. 

Lit.: Brodhaus. Teichmann. 

Schmidt⸗Phiſeldeck, Konrad Friedrich v., Bruder des Vorigen, & 3. VII. 
1770 zu Braunjchweig, erhielt 1794 das Däniſche Indigenat, wurde Sekretär des 
Staatöminifter8 Grafen v. Schimmelmann, 1821 Etatsrath, 1822 Mitdireftor der 


fönigl. Reichsbank, 1829 Konferenzrath, F 15. XI. 1832. 


586 Schmier — Schneidewin. 


1802 . — Üeber das jehige Verhältnig der jüdiſchen Nation zu dem chriſtl. Bürger 
vereine (1809), Kopenh. 1817. — Europa und Amerita, Kopenh. 1820 u. 1832. — Der Emmy. 
Bund, Kopenh. 1821. — Proben polit. Rebekunft, Kopenh. 1824. — Ueber die neuerlichen 
Aufregungen in den Herzogth. Schleswig und Holftein, Kopenh. 1830. - 

git.: Brodhans. Zeihmann. 


Schmier, Franz, 5 8. XII. 1680 zu Grönenbach, wurde Prof. in Sal 
burg 1713, 7 22. XI. 1728 als Rektor. 
—* Schriften verzeichnet Schulte, Geſchichte, IIL.a ©. 165. — Wurzbad, 


— Verſuch einer — bed Däniſchen Neutralitätsſyſtems, Kopenh. 


Sein Bruder Benedict, & 1682 zu Grönenbach, 1714 Prof. in Salzburg, 
+ 28. VI. 1744. 

Seine Schriften bei Schulte, Geichichte, II. a ©. 166. — Wurzbad, XXX. 35. 

Zeihmann. 

Schmitthenner, Frieder. Jakob, 5 17. III. 1796 zu Oberdreis im 
Fürſtenthum Wied, jeit 1830 Prof. der Staatäwifjenichaften in Gießen, 1832—1835 
in Darmjtadt, wieder in Gießen, 7 19. VI. 1850. Bebeutend ala Schrüftfteller 
auch auf ſprachwiſſenſchaftl. Gebiete. 

Er Ihrieb: Grundriß der polit. und hHiftor. Wiflenichaften, Gießen 1830—1832. — 
Zwölf Bücher vom Staate, Giehen 1839, 1843, 1845. 

Lit: Mobhl, I. 62, 76, 187,281. — Blunticli, Geidichte, 605—610. — KRaltenborn 
in Bluntichlı’3 Staat3Wört.B. IX. 249—251. Zeihmann. 


Schnaubert, Andreas Joſeph, 5 30. XI. 1750 zu Bingen a. Rh. 
trat zur evang. Kirche über, wurde 1783 außerord. Prof. in Gießen, 1784 ın 
Helmſtädt, 1786 in Jena, 1809 Ordinarius, Geh. Juſtizrath, F 10. VII. 1825. 

Schriften: Erört. der Lehre von den hHeilbaren und unheilbaren Nichtigkeiten, Marb. 
1780. — Beitr. zum Deutichen Staats: und Kirchenrecht, Marb. 1781—1783. — Lehnredit, 
Braunſchw. 1784, 1786, 3. Aufl. 1799. — Ueber Kirche und SKirchengewalt, Jena (1789) 
1795. — Grundi. des Kirchenrechts der Proteftanten und Katholiken in Deutichland, Jena 
1794— 1806. — Auch der Regent ift an die von ihm und feinen Vorfahren gegebenen Geieht 
gebunden, Roft. 1795. — Lehrbuch des Deutichen Staatsrechts, Jena 1806, j 

Lit: Neuer Netrolog der Deutichen 1825 S. 1491. — Günther, Lebensſtizzen, 1858, 
©. 76, 77. — Schulte, Geidh., IIIL.b ©. 164. Teihmann. 


Schnaubert, Jul. Friedr. Theod., 5 6. VII. 1786 zu Helmjtädt, wurde 
1812 außerord. Prof. in Jena, dann außerord. Beifiker des Schöppenftuhls, 7 >. 
I. 1854. 

Schriften: Diss. ad legem Dig. de publiciana in rem act. select. observ., Jen. 
1810. — Das fFamilienverhältnik nad feiner Bedeutung für Dafein, Bildung und geiellid. 
Zuftand der Menſchen, Jena 1816, 1817. — Lehrbuch der Wifjenichaftslehre des Rechts, Jena 
1819. — Hülfsbuch für die juriftiiche Praris, Jena 1858. 

Lit: Günther, Lebensſtizzen, 1858, ©. 85, 86. Teichmann. 

Schneebrüche (Thl. I. S. 501). Hiermit bezeichnet man das durch Schner 
wetter in Waldungen umgebrochene Holz. Bon juriftifchem Intereffe find die ©. 
nur dann, wenn einer anderen Perjon, ala dem Eigenthümer des betr. Waldes, da: 
Recht zufteht, ich derartiges Holz anzueignen. Gin jolches Recht wird gewöhnlich 
nur den Mitgliedern einer Gemeinde an den Gemeindewaldungen zuitehen. Das 
Recht der Gemeindeglieder hat entweder die Natur einer Ruſtikalſervitut, ift alio 
mit dem Beſitz eines Grundjtüds verbunden und jet folchen voraus, oder es iſt 
dafjelbe durch einen Gemeindebeichluß den Gemeindegliedern eingeräumt worden. 
Ob im leßteren Fall das eingeräumte Recht ein unwiderrufliches oder widerrufliches 
ift, hängt von dem Inhalt des BVerleihungsbeichluffes ab. Denkbar ift das Recht 
auf S. auch an den Waldungen einer Privatperfon, aladann aber natürlich allein 
in der Geftalt einer Prädialfervitut. gewiß. 


Ecneidewin (Denitomus), Johann, & 4. XII. 1519 zu Stollberg, im 
Haufe Luther's erzogen, 1548 Prof. in Wittenberg, 1550 zum Doktor promovirt; 
Konfulent und furfürftl. Rath, T 1568 zu Zerbit. 


Schnell — Schöffen. 587 


Sein Imftitutionenfommentar heraudg. von Wejenbed, 1573, von Breberode unb 
Gothofredus, 1596. 


git.: v. Stinging, Geichichte ber Deutſchen Rechtswiſſenſchaft (1880), 1.309, 310 u. d. 
TZeihmann. 


Schnell, Samuel, & 1775 zu Burgdorf, jtudirte in Tübingen, wurde in 
der Helvetiſchen Periode Senator und Präfident des Ariminalhofes in Bern, nach 
der Mediation Advofat, 1806 Prof. des Bernifchen Rechtes und vaterl. Gejchichte 
an der Akademie, in welcher Stellung er, als Gründer einer wifjenjchaftlichen Rechts— 
ihule im Kanton Bern und Redaktor der wichtigjten Geſetze (Civilprozeßordnung 
1821, Givilgejegbuch 1825) bis zum Jahre 1842 verblieb, F im Januar 1849. 

Schriften: Hanbbud dee Bernilchen Eivilrechts, Bern 1809 u. 1811; des Bernijchen 
Civilprozeſſes, Bern 1810. — CGB. ber Stadt und Republik Bern mit Anm., Bern 1826 bis 
1834. — zn über das gerichtl. Verfahren in Eivilrechtäfachen für Bern mit Anm., 
Bern 1822 und 1835. 

Lit.: ———— Gallerie berühmter Schweizer der Neuzeit, Baden 1871, Bd. II. 
N. 68. — Munzinger, Rektoratsrede vom 15. Nov. 1865, Bern 1866, ©. 33 (Zeitſchr. d. 
Bern. uriftenvereina II. 394, 395, 401—406). — vd. DOrelli, Rechtsſchulen und Rechts: 
literatur, Züri) 1879, S. 76, 93, 102. Zeihmann. 


Shoöffen. Die Schöffen des Altdeutjchen Rechts waren Zeugen und Weijer 
des im Volke lebenden Rechtsbewußtjeing, aus der Gefammtzahl der Gerichtägenofjen 
hervorgegogen, um auf die Frage des Richters (d. 5. des Trägers der Gerichtägewalt) 
das Urtheil zu finden, Das hereindringende NYuriftenrecht und das Selbftändig- 
werden der im Altdeutichen Recht in eine veine Rechtsfrage umgejeßten Thatfrage 
mußte die Schöffen aus ihrer Stellung verdrängen; fie wurden jeit der Garolina 
Solennitätäzeugen, Figuranten zur jcheinbaren Kompletirung der Gerichtsbant, Bei— 
fiter bei Verfündung des von einem entfernten Jurijtenkollegium auf Grund der 
Akten geiprochenen Urtheild. Natürlich ſank der Name immer mehr theils in Miß— 
achtung, theils in Vergeſſenheit. Die Verſuche, der Jury einen fpezifiich Deutjchen 
Charakter dadurch beizumeflen, daß man für fie den Namen Schöffengericht vindizirte 
(1. 3. B. Leue, Das Deutihe Schöffengericht, Leipzig 1847), blieben ohne praftifche 
Bedeutung. — Indeſſen hatten fich hier und da (zumal in Württemberg) Spuren 
der S. bei den Strafbehörden unterjter Ordnung, wo e8 fi um die Handhabung 
der Ortöpolizei handelt, erhalten. Hieran fnüpften nach Einführung des mündlichen 
Strafverfahrens einzelne Deutjche Gejeße zu dem Zwecke an, um auch bei Strai- 
fällen unterjter Ordnung nicht auf die Enticheidung eines Einzelrichters fompromittiren 
zu müffen. Dies geichah (durch Beiziehung von zwei Bürgern ala ©.) in Hannover, 
Kurheffen, Oldenburg, Bremen, Baden und in der StrafPO. für die 1866 er- 
worbenen Provinzen Preußens. 

Inzwiſchen waren in dem Kampfe gegen die Weiterverbreitung der Jury Einzelne 
(mit dem größten Aufwand von Scharffinn und Beharrlichkeit v. Schwarze) auf den 
Gedanken gefommen, die erwähnte Einrichtung zu benüßen, um jo die auch von 
ihnen anerkannten Vortheile des Schwurgerichts mit Vermeidung der Nachtheile zu 
erlangen. Da die fomplizirte ragenftellung nur dadurch nöthig gemacht werde, 
daß die Geſchworenenbank jelbjtändig der Richterbank zur Seite jteht, meinte man 
aller Noth ein Ende zu machen, indem man das Jurijten- und Laienelement zu 
einem Kollegium vereinte. Die Bertheidiger der Jury erhoben gegen dieſen Vor— 
ichlag ſcharfen Widerjpruch, indem fie nachzumeijen fuchten, daß durch jolche Berufung 
ungleich ausgerüfteter Perſonen zu gemeinjchaftlicher Thätigfeit gerade die Schatten- 
jeiten des Juryſyſtems geftärft, die Vortheile faft ganz aufgehoben würden, während 
die Schwierigfeiten der Frageitellung gar wol durch Reform des Schwurgerichtö- 
verfahrens ohne Alterirung der Grundform gehoben werden können. 

In der That gelang es nicht, durch die Empfehlung des S.gerichts das Fort— 
ichreiten der Jury aufzuhalten. Doch fam eine andere Bewegung auf dem Gebiete des 


588 Schöffen. 


StrafPrz. auch der Ausdehnung der Cchöffengerichte in dem eben erörterten Sinne 
zu Statten: die immer deutlicher werdende Einficht, daß eine Berufung gegen das 
Grfenntniß über die Thatfrage im mündlichen Verfahren nicht am Platze jei. In 
diefem Sinne hat der Defterr. StrafPO.-Entw. von 1863 bei den Straffällen unterfter 
Drdnung dem Richter drei Schöffen an die Seite gejeßt, jo daß bei Stimmengleid: 
heit Freiſprechung erfolgen, dagegen aber die Berufung auögejchloffen jein jollte. 
Eine Weiterführung diejes (in Dejterreich wieder aufgegebenen) Gedankens ift es, 
daß die Württ. StrafPO. von 1868 nicht blos für die Verhandlungen der Ober: 
amtögerichte neben zwei Juriften drei Schöffen zu einem Kollegium vereint, jondern 
die der Kompetenz der Franzöſiſchen Zuchtpolizeigerichte entjprechende Mittelllaſſe 
der Straffälle (d. h. die nicht vor das Schwurgericht gewiejenen Verbrechen und 
Bergehen) einem Kollegium zuweiſt, welches (als Straflammer des Kreisgerichtes) 
aus drei rechtsgelehrten Richtern und zwei S., eventuell aus vier Richtern und 
drei S. beſteht, und welches dem Angeklagten ungünſtige Urtheile nur mit einer 
Mehrheit von mindeſtens vier Stimmen gegen drei, eventuell von fünf Stimmen 
gegen zwei fällen kann, während zur Straibemeffung einfache Stimmenmehrheit 
genügt. Dagegen iſt andererjeits gegen Endurtheile auf dem ganzen Gebiet des 
Strafprozeſſes nur mehr die Nichtigkeitsbejchtverde eingeräumt. — Im Königreich 
Sachſen endlich wurde am 1. Oft. 1868 ein Gejeg erlaffen, welches die Straffälle 
unterfter Ordnung zwar den Gingelrichtern beläßt, jedoch die anderen nicht den 
(gleichzeitig eingeführten) Schwurgerichten zugewiejenen Strafjachen einem Kollegium 
überantwortet, das aus drei Richtern und vier S. bejteht, über die Schuldfrage mit 
einer Mehrheit von mindeftens fünf Stimmen inappellabel entjcheidet, während die 
Strafbemeflung von den drei Richtern allein mit Offenhaltung der Berufung vorgenommen 
wird. — Daß die Einrichtung ungemein fomplizirt ſei und die ganz willkürlich 
aufgeftellten Berjchiedenheiten des Strafverfahrens noch fteigere, läßt fich nicht ver 
fennen; der löbliche Zwed, Abichaffung der Berufung unter Herbeiführung neuer 
Garantien des richterlichen Verfahrens, wäre beffer durch Aufitellung eines Kollegiums 
von vier Richtern oder noch beffer durch Ueberweiſung der Eorreftionellen Fälle an 
eine kleine Jury (etwa von ſechs) erreicht worden. 

Eine neue, ganz unerwartete Wendung war dem Streit dadurch gegeben worden, 
daß das Preußische Yuftigminifterium ſich dafür entichied, in dem Entwurf des 
Geſetzes über die Deutiche Gerichtsorganifation und dem der Deutichen Straf} OD. 
den S. in den Gerichten jeder Ordnung Raum zu gewähren (Denkichrift über S., 
ausgearbeitet im Preuß. Juftigminifterium, Berlin 1873). Schon das Belannt- 
werden diejer Abficht rief eine große Literarifche Bewegung hervor, die noch eine 
Zeit lang fortwährte, obgleich die im Herbſt 1874 dem Deutichen Reichstage vor— 
gelegten Entwürfe die S.gerichte nur mehr ala Gerichte für Uebertretungen und leichtere 
Vergehen (SS 14 bis 45, 55 des Geſ.) Hinjtellten und aus dem Amtärichter und 
zwei Schöffen zufammenjegten. Verfolgt man dieſe Bewegung aufmerfjam und 
betrachtet man den Stand der Sache, wie er ſich etwa Ende 1873 in den zwei 
neuejten und bedeutenditen Streitichriften gegen die Jury (denen von Binding 
und Schütze) darftellte, jo kann wol fein Unbejangener mehr darüber im Zweifel 
fein, daß die ſog. S.frage nur eine neue Phaſe in dem alten Streite zwiichen Ge 
ichiworenengerichten und reinen Juriftengerichten war. Die ©. refrutirten ihre An— 
hänger aus dem Lager fonjequenter oder rüctälliger Gegner der Jury; ihre erite 
Aufftellung war ein gejchieter Schachzug, darauf berechnet, entweder das Fortſchreiten 
des Jurygedankens aufzuhalten, oder, falls dies nicht gelingen jollte, den Uebergang 
unter jeine Fahnen zu masfiren. Gelingt e& daher, jei e& durch literariichen Kampf, 
fei e8 durch eine Legislative That, die Jury zu überwinden, dann wird das S.gericht 
von jelbjt verjchwinden, da e& für die meijten und bedeutenditen feiner Anhänger 
dann feinen Zwed errüllt Hätte und jelbft zum Gegenftande ihrer Angriffe geworden, 
auch von den befiegten Verfechtern der Jury nicht vertheidigt würde, denen es für 


I | 


Schöffengericht. 589 


das Verlorene, insbejondere für die Summe geiftiger Arbeit, die in Deutjchland auf 
die Erfaffung, Aneignung und Fortbildung des Jurygedankens jeit 1848 verwendet 
ward, feinen Erſatz bieten könnte. Bielmehr dürften auch unter ihnen Diejenigen 
überwiegen, welche vor die Wahl: „reines Juriftengericht“ oder „S.gericht” gejtellt, 
fi feinen Augenblid bedenken, für erfteres zu jtimmen. 

Lit: Für Shöffengerichte, oder vielmehr eher noch für De eg ala für das 


Geſchworenengericht: Hye, Schwurgericht (Wien 1864), S. — v. u Ir arze, Ge 
} Er ©. (1864); Derjelbe, Dad Deutjche hnnegrrit und defien * 


l. 1865), S Derjelbe, Stuafpengehgeihe in im Königreih Sadjen, Bd. I. H 
Derfelbe, ER elshengeriät, Leipz 1873; Derjelbe in v. Hol genborff’ 3 Gm 
> ©. 567—578. — Badhariä, Dad moderne ti ericht, ein 1873. 3:8 

De Dee ber —— — geprüft an ber Aufgabe ber Edsuam. Erl. 1873; Ber be, 
Die ner des ea sericte (an ber Spiße eine Aufzählung berielben), in Golidammer’ 3 
sun Be — Spinola, Schwurgerihte und Schöffengerichte, daſelbſt XX. 
e. 22 bin Der Kampf um bie 343 der Deutſchen Sireſgerichlsbanl, im 


35 jande der Preu ijchen Jahrbücher; Derjelbe, Die drei Grundfragen der —— 
des ig re Reipzig 1876. — Schü e, Raien in den Fr Ai ic Reipz. 1873. — 
ne chwurgerichte Per Schöffengerichte, ” em. Deutjche la ing XII. ©. 
177 ff. — Direktor v. Schott in der Augsb. A gem. 3tg. 1872 u. 187 ollert, 
Schwurgericht oder Schöffengericht, Jena 1873. — Gegen das moderne Schöffengericht: 
Mittermaier, Dad —— in Geſtalt der Schwur: und Schöffengerichte, Berlin 1866. — 
Glajfer, Zur Jurnfrage ( Wien 1864), S. 60-70, 2. Aufl. unter dem Titel? Schwurgeridtl. 
Grözterungen an 1875), ©. 138 ff. — v. Bar, Recht und Beweis im Geichiworene —— 
(1865), S Derſelbe, Zur Frage der Geichworenen: u. Schöffengerichte, Berlin 1 
John, lieber I Frhr — Schöffengerichte, 1872. — Mayer, Geſchworenen— 
gerichte u. ala Ft erlin 1872. — Gotthel —— und Shöffengerichte, 
nchen 1873. — Seuffert, Gefchworene oder S.? München — Wellmann, 

ichivorene oder F ? Berlin 1873. — Wahlberg, Kritik des Entwurfes einer Deutfchen StafPO. 
(Wien 1873), ©. 10 ff. und Allgem. er Gerichtägeitung * S. Uff.; Derjelbe in ber 


— Deutichen Strafrecht ante. XIII. 40 ff. — Gneiſt vier Mes (Berlin 1874), 
— Petſch in der Allgem. ãA Strafrechtsztg. XI ©. dr. Zimmer: 
mann, Me: das projektirte Schöffengericht, rar 1873, ©. 2238 ff. — v. Rönne, Die 


Aufgaben bed Bürgerelementes im Strafprozeß, Leipz. 1876. — Lauhn, Bon ber Einführung 
= me ift für die Kriminaltechtöpflege fein Gewinn zu boffen, Köln 1873. — 
alther in ber Augsb. Allgem. Zeitung 1872 unb 1873, insbeſ. Nr u. 335, Jahr 
a — Darftellungen gegebener Shöffengeriätheimeichtungen in Gerichtäfaal 1865, &.'53 ' 
Baazen); Goltdammer’d Archiv XVI (Being; XVII. 719, 793 
(3immermann); XV. 257; XVII. 585 (v. Pia — lleber ben gejammten Streit: 
Jerhandlun nn bea 9., 10. und 11. Deutichen Juriftentages. — ©. übrigens die 2 . d. 


Ur. Schb engericht. er 


Schöffengericht als Straigericht unterfter Ordnung. — Nach den neuen 
Deutſchen Reichsgeſetzen iſt das ©. lediglich Strafgericht unterfter Ordnung, 
dem Gericht unterfter Ordnung überhaupt (dem Amtsgericht j. diefen Art.) ein— 
gefügt , bei welchem ein Amtsanwalt die Yunktion der Staatsanwaltichaft verfieht 
(GEBE. IS 25 und 143, 3. 3). 

I. Der organijatorifhe Gedanke, welcher hier zu Grunde liegt, hat 
allerdings infofern eine Modifikation erlitten, als urſprünglich Werth darauf gelegt 
war, auch bezüglich der Rechtsmittel das Berfahren vor den Gerichten aller Ord— 
nungen gleich zu gejtalten und die Heranziehung des Laienelementes alſo auch hier 
eine Art von Surrogat für die ausgejchloffene Beitrafung gegen den Ausfpruch über 
die Thatfrage hätte bilden follen. Seht, wo die Berufung gegen die Urtheile der 
S. zugelaffen ift, handelt es fich alfo nur darum, daß auch in den Strafiällen 
nieberjter Ordnung eine follegiale Enticheidung erfolgen fol. Das ©. bildet 
dem Prinzip nach ein Kollegium, vor welchem die Hauptverhandlung ftattzufinden 
hat, und das zum Amtärichter in demfelben Verhältniß fteht, wie die Straffammer 
zum VBorfigenden in der Hauptverhandlung; es findet feine Theilung der richterlichen 
Aufgaben jtatt, die Schöffen nehmen mit dem Amtsrichter an der Entjcheidung über 
Inzidentalfragen und an der Schöpfung des gejammten Erkenntniſſes Theil. Aller- 
dings find Ausnahmen nach zwei Richtungen Hin gemacht: 


590 Schöffengeridt. 


1) Die Schöffen haben an gewiffen Sachen feinen Theil: an Forſt- umd 
Nügejachen, ſoweit dies Landesgejee anordnen (EG. zur StrafPO. $ 3), an Sachen, 
welche durch amtärichterliche oder polizeiliche Strafverfügung (wegen unterbliebenen 
Einjpruchs oder Antrages auf gerichtliche Enticheidung) ihre Erledigung finden, endlich an 
Uebertretungsfällen, wenn der Bejchuldigte bei der Vorführung vor dem Amtärichter 
die ihm zur Laft gelegte That eingejteht (StrafPO. $ 211, Abi. 2). 

2) Die Schöffen haben feinen Theil an denjenigen einzelnen Enticheidungen, 
welche nicht während der Hauptverhandlung ergehen; dieje werden vom Amt 
richter allein gefällt (GVBG. $ 30). Bon befonderer Wichtigkeit find hier diejenigen 
Entjcheidungen, welche die Eröffnung des Hauptverfahrens, die Vollſtreckung des 
Urtheils und der Wiederaufnahme des Verfahrens zum Gegenjtande haben. Die 
Abgrenzung wird hier wenig Schwierigkeiten machen, ausgenommen in jolchen Fällen, 
wo bei Beginn der Verhandlung jo lange noch zweifelhaft ift, ob diejer bereits em: 
getreten, eine Enticheidung nöthig iſt. Inſoweit nach allgemeinen Grundfäßen vor 
der Hauptverhandlung gefällte Entjcheidungen in derielben geändert werden Eönnen, 
gilt die8 auch im S. — Aber auch umgekehrt wird dem Amtsrichter das Recht 
vindizirt (Löwe, GB. $ 31, Nr. 9), Beichlüffe des Gerichtes, welche nach der 
Hauptverhandlung zurüdgenommten oder geändert werden können, allein abzuänden, 
3. B. über Strafen gegen auägebliebene Zeugen. Der Amtörichter enticheidet allen 
über Ausfchließung und Ablehnung der Schöffen (StrafPO. $ 31), alfo auch, wenn 
die Nothwendigkeit hierfür fi) in der Hauptverhandlung ergiebt,; in dieſem falle 
wird er wol auch allein über die Ausfegung des Verfahrens entjcheiden müſſen. — 
Ferner wird wol anzunehmen jein, daß er diejenigen funktionen, die bei Haupt: 
verhandlungen vor der Straffammer dem Vorfigenden allein zukommen, ohne Mit- 
wirkung der Schöffen zu üben Hat. Dagegen liegt & im Wortlaut des Geſetzes 
(v. Schwarze, GBG. $ 28, Nr. 3 fcheint anderer Meinung), daß die vom Gelee 
dem „Gerichte“ übertragenen Enticheidungen (3. B. über Handhabung der Situngs- 
polizei) oder dem Vorfißenden nicht vorbehaltene (3. B. GBG. $ 176, Abi. 1), 
wenn fe in der Hauptverhandlung erfolgen jollen, auch den Schöffen zukommen. — 
Innerhalb diefer Grenzen find die Schöffen durchaus ala Richter, ald Mitglieder 
eines Richterkollegiums anzufehen. 

U. Die Formation des ©. beruht auf der Zufammenjegung aus einem 
Amtsrichter und zwei Schöffen. Das Schöffenamt iſt ein Ehrenamt und giebt 
nur Anjpruch auf Vergütung der Reiſekoſten (GBG. 55 31, 55). Das Geſetz for 
dert, daß der Schöffe ein Deuticher jei, erflärt gewiſſe Perſonen für unfähig bierzu 
wegen Schmälerung ihrer Rechtstähigkeit (GVG. $ 32), jchließt Andere in minder 
Icharfer Weile aus, indem es erklärt, daß fie nicht zum Schöffenamt berufen werden 
jollen (GBG. $ 33 — wegen Mangels des erforderlichen Alters, eines firen Wohn: 
fies, der körperlichen oder geiftigen Eigenfchaften, der nöthigen Unabhängigkeit, S 34 
dajelbjt wegen ihrer anderweitigen Verwendung im öffentlichen Dienſt) umd giebt 
gewiflen Perfonen das Recht, das Schöffenamt abzulehnen (GVG. 8 35, bejonder: 
bemerfenswerth: „Perſonen, welche glaubhaft machen fünnen, daß fie den mit der 
Ausübung des Amtes verbundenen Aufwand zu tragen nicht vermögen“). Die Ur: 
Liften werden alljährlich in der Gemeinde angefertigt (GV. 55 36 — 38), vom 
Amtsrichter geprüft und richtig geitellt (GBG. $ 39) und von einem alljährlich 
unter jeinem Vorſitz zuſammentretenden Ausſchuß gewählter Vertrauensmänner auf 
die Jahreslijte in der Art reduzirt, daß in dieſe 1) die erforderliche Zahl von 
Schöffen, 2) die erforderliche Zahl von dem Sit des Amtögerichtes oder im deſſen 
nächjter Nähe wohnhafte Hülfsſchöffen (f. diefen Art.) aufgenommen wird (GPVG. 
88 40—44). Ueber die Heranziehung der einzelnen Schöffen zu den ordentlichen und 
außerordentlichen Gerichtätagen enticheidet das 2oos ; doch fann auf Antrag der bethei— 
ligten Schöffen eine Aenderung der Reihefolge vor Beitimmung der zu verhandelnden 


Schöffengericht. 591 


Saden eintreten (GVBG. 88 45—50). Die ©. werden „bei ihrer erften Dienft- 
leiftung* in öffentlicher Sitzung „für die Dauer des Gefchäftsjahres“ in Eid ge— 
nommen (GVG. 8 51). 

II. Die Zuftändigfeit des ©., welche durch das GVG. 88 27 — 29 und 

75 geregelt ift, beruht theils unmittelbar auf dem Gejeß, theils auf der der Straf: 
fammer ertheilten Ermächtigung, gewifle Straffachen dem ©. zuzumeifen. In beiden 
Beziehungen beſtand unverkennbar die Abficht, die relativ minder wichtigen Delikte 
den ©. zuzuweiſen, und iſt man von dem Gedanken ausgegangen, daß das ©. nicht 
auf mehr als dreimonatliches Gefängniß, Gelditrafe und Geldbuße von 600 Mark 
erfennen ſollte. Allein man jcheint jpäter, als einmal die Einführung der Be— 
rufung gegen die Erfenntniffe der ©. bejchloffen war, das Verfahren vor den ©. 
nicht mehr als ein folches angejehen zu haben, welches geringere Garantien biete 
als das vor der Straffammer. Mean Hat daher der Strafbefugniß des ©. feine 
andere Grenze geſetzt, als welche vom Strafgeſetz jelbft vorgezeichnet ift. Demnach 
find dem ©. durch das Geſetz zugewieſen: a) alle Uebertretungen; b) die im Geſetz 
mit dem obenbezeichneten Höchjtausmaß der Strafe bedrohten Vergehen (mit nicht 
unmwichtigen Ausnahmen, den im GBG. $ 74 und StrafGB. $ 320 erwähnten Ver: 
gehen) ; c) alle Fälle der Privatanflage; d) nicht qualifizirte Diebftähle, Unter- 
Ihlagung, Betrug und Sachbeichädigung, wenn es fich um weniger ala 25 Marf 
handelt; e) Begünftigung und Hehlerei, wenn das in erfter Linie in Betracht kom— 
mende Delikt zur Zuftändigfeit der ©. gehört. Es fommen alfo Fälle ana ©., bei 
welchen von Anfang an eine bedeutend Höhere Strafe als zuläffig erjcheint; über: 
dies gilt die Abgrenzung nach der Höhe des Schadens nur prima facie, nur für die 
Einleitung des Verfahrens; jelbjt wenn fich im Laufe der Hauptverhandlung heraus 
ftellt, daß der Werth oder Schaden mehr als 25 Mark beträgt, ift darum allein 
die Zuftändigkeit des ©. nicht bejeitigt und wird dieſes natürlich eine entiprechend 
höhere Strafe zu verhängen haben. Zritt dagegen in einem jolchen Falle aus an= 
deren Gründen die Nothwendigkeit ein, die Verhandlung auszujeßen, dann hat das 
Gericht wegen der herborgetretenen Höhe des Schadens jeine Unzujtändigfeit 
auszufjprechen, und diefer Ausfpruch ift, wie aus den Verhandlungen der Yuftiz- 
fommijfion des Reichstages fich ergiebt, für die Straffammer bindend, wie es jcheint 
nicht blos Hinfichtlich der Kompetenzfrage, jondern auch binfichtlich der ſchon aus— 
gefprochenen Gröffnung des Hauptverfahrene. (Bal. insbeſ. v. Schwarze, GBG. 
$ 28 Nr. 2 und 3.) 

Die der Straftammer überlaffene Zuweifung der Verhandlung und Entſchei— 
dung gewifler Straffachen an das ©. tritt in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen 
(GBG. 8 75 Ziff. 1—15) ein und ift von folgenden Bedingungen abhängig: a) Nur 
Verhandlung und Entjcheidung kann überwieſen werden; die Eröffnung des Haupt- 
verfahrens muß noch don der Straffammer beichloffen fein; andererſeits kann die 
Ueberweifung nur bei der Eröffnung des Hauptverfahrens bejchloffen werden; alſo 
3. B. nicht, wenn nachher fich die Geringfügigkeit der Sache herausstellt und ohne— 
hin eine Ausfegung des Verfahrens eintreten muß. b) Der Antrag der Staats— 
anwaltſchaft muß vorliegen; da die Ueberweifung nur bei Gröffnung des Haupt— 
verfahrens, dieje aber auch gegen den Antrag des Staatsanmwalts beichloffen werden 
fann, jo wird unter Umjtänden ein Eventualantrag der Staatsanwaltichaft geftellt 
werden miüffen. c) Antrag und Beichluß find in das Ermeflen des Staatsanwaltes 
und der Straffammer geftellt und nur davon abhängig, daß „nach den Umftänden 
des Falles anzunehmen ift, daß wegen des Vergehen feine andere als die oben 
bezeichnete Strafe zu erkennen jein werde“. Dabei handelt es fich aber blos um 
eine vorläufige Annahme, welche das freie Ermefjen des S. weder bei underänderter, 
noch bei ſich ändernder Sachlage beirrt. — Gegen den Bejchluß auf Zuweiſung der 
Sache an das ©. iſt feine Bejchwerde offen, wol aber gegen den mit ihm zufammen- 


592 Schöffengericht. 


hängenden Beſchluß auf Eröffnung des Hauptverfahrens, wenn und ſoweit folcher 
auch jonft der Beichwerde unterliegt (StrafPO. $ 209. Einige Kontroverjen in der 
unten angeführten Schrift von Voitus). 

IV. Auf dag Verfahren übt die gemiſchte Formation des ©. viel weniger 
Einfluß, ala die des Schwurgerichtes. Abgeſehen von dem jchon erwähnten Falle 
einer ſummariſchen Aburtheilung des vorgeführten, der That gejtändigen, nur einer 
Uebertretung Beſchuldigten durch den Amtärichter allein fommt bier nur die durch 
die Vorzeichnung ordentlicher Gerichtätage getroffene Vorkehrung gegen willfürlice 
Auswahl der Schöffen in Betradht. Die Abweichungen vom normalen Berfahren, 
die immerhin jtattfinden, obgleih man auf Vermeidung folcher bei Vorbereitung 
der StrafPD. den höchiten Werth legte, find nicht durch die fyormation des Ge 
richtes, jondern durch die relative Geringfügigfeit der Strafſachen und die Noth— 
wendigfeit eines einfacheren Verfahrens herbeigeführt worden: 

1) Die VBorunterfuhung it in den „zur Zuftändigfeit der S. gehörigen 
Sachen“ (mit diefem Ausdrude werden die kraft des Geſetzes dahin gehörigen be 
zeichnet, jollen die durch Beichluß dahin verwieſenen mit veritanden werden, jo ge 
braucht das Gejeß den Ausdrud: „vor die ©. gehörigen Sachen“) unzuläffig (Straf 
PO. 8 176 Abi. 3), doch ift nicht ausgeichlofien, daß der Amtsrichter „einzelne 
Erhebungen“ anordne (StrafPO. $ 200). 

2) Die Erbffnung des Hauptverfahrens (j. diefen Art.) richtet ſich 
zwar nach den allgemeinen Grundfäßen, d. h. fie erfolgt auf Grund einer Anflage- 
ichrift der Staatsanwaltichaft durch Beichluß des Amtsrichters, allein es treten doc 
erhebliche Abweichungen ein. Es fann „ohne jchriftlich erhobene Anklage und ohne 
eine Entjcheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens zur Dauptverhandlung 
geichritten werden, wenn der Beichuldigte entweder fich freiwillig ftellt oder ın 
Folge einer vorläufigen Feſtnahme dem Gerichte vorgeführt oder nur wegen Ueber— 
tretung verfolgt wird“ (Straf PO. $ 211). In anderen Fällen ift zwar die An— 
flagejchrift unerläßlich (StrafPD. $ 197), e8 genügt aber eine ganz einfache Faſ— 
jung, ohne Anführung der Ergebniffe der vorausgegangenen Erhebungen (StrafPO. 
$ 198 Abi. 1) und es bedarf (den Fall der Privatklage ausgenommen) nicht der 
vorläufigen Vernehmung des Bejchuldigten. UWeberdies zieht die Natur der Sache 
der vorläufigen Prüfung der Anklage engere Schranken. Ginerjeits nämlich fann 
von einer Eröffnung des Hauptverfahrens gegen den Antrag der Staatdanwaltichatt 
(gerade hier, wo dieje durch minder hervorragende Organe vertreten ift) nicht die 
Nede jein, weil dazu das Subjtrat fehlt. Nach der anderen Seite hin jei hier die 
bezügliche Stelle der Motive angeführt, weil fie auf die ganze Anordnung des Ber: 
fahren vor dem ©. ein, wegen Zeritreutheit der für daffelbe geltenden Beitim- 
mungen, jehr dantenswerthes Licht wirft: „Es ift nicht zu verfennen, daß bei ge— 
ringfügigen Straffachen, namentlich bei Bolizetübertretungen, zur Eröffnung des 
Hauptverfahrens ein geringeres Maß von Beweifen als in anderen Sachen genügen 
wird und muß, und man wird eine genauere Auftlärung der Sache im Wege von 
Vorerörterungen jchon deshalb ausschließen müſſen, weil die Bornahme folcher nicht 
jelten einen größeren Uebelſtand darftellen würde als eine etwa voreilige Eröffnung 
des Hauptverfahrens. Unbedenklich wird beifpielsweije die Anzeige eines öffentlichen 
Beamten bei einer Polizeiübertretung zur Erhebung der Anklage genügen. Dies 
liegt aber auch jo jehr in der Natur der Sache, daß das Geſetz geglaubt hat, von 
bejonderen Vorſchriften für die Behandlung geringfügigerer Straffachen abjehen und 
das Weitere dem Gerichtägebrauch überlaffen zu fünnen, und zwar um jo mehr als 
das Berfahren vor den ©. ohnehin durch die Beitimmung der SS 211, 447 ff. umd 
453 ff. eigenthümliche Formen erhalten Hat, dergeitalt, daß die Gröffnung des 
Hauptverfahreng durch Förmliche Verfügung des Amtsrichters fich über- 
haupt nicht als die regelmäßige BVerfahrensart daritellen wird.“ 


Schöffengericht. 593 


3. Den Umfang der Beweisaufnahme „beitimmt das Gericht, ohne Hierbei 
durch Anträge, Verzicht oder frühere Beichlüffe gebunden zu ſein“ (StrafPO. 
$ 244 Abi. 2). 

4. Im Falle der Klageänderung unterliegt die fonjt obligatorische Aus— 
ſetzung des Berfahrens dem Ermefjen des Gerichtes (StrafPO. $ 264 Abi. 5). 

5. Grflärt fi) das ©. unzuftändig, jo bedarf der Grundſatz, daß dieſer 
Beſchluß „die Wirkung eines das Hauptverjahren eröffnenden Bejchluffes hat“, hier 
einer Korrektur wegen der jummarijchen Natur der Hauptverhandlung vor dem ©.: 
65 kann der Angeklagte innerhalb einer ihm zu beftimmenden Frift die Vornahme 
einzelner Beweiserhebungen vor der Hauptverhandlung beantragen, über welchen An— 
trag der Vorfigende des Gerichtes, an welches die Sache verwiejen wird, entjcheidet 
(Straf PO. $ 270). 

6. Das Situngsprotofoll muß hier mehr als ſonſt enthalten, nämlich 
„die weientlichen Ergebnifje der VBernehmungen in der Hauptverhandlung“ (Straf: 
PD. $ 273 Abi. 2). 

7. Zu erwähnen ift ferner die Unzuläffigkeit der Beſchlagnahme des Ver— 
mögens des abwejenden Beihuldigten (StrafPO. $ 332 Abi. 2). 

8. Die wichtigite Eigenthümlichteit des S.verfahrens ijt die Zulaffung der 
Berufung gegen die Urtheile der ©., welche gegen den urjprünglichen Vorichlag 
der Regierungen erfolgte und in Diefer Gattung von Straffachen allein eine 
Ueberprüfung des ganzen Urtheils durch eine höhere Inſtanz ermöglicht (StrafPO. 
ss 354 ff). 

9. In gewifjen Fällen treten nicht unerhebliche Abweichungen vom nor— 
malen Verfahren ein. Dies iſt der Fall: bei den beſonders ſummariſch zu be— 
handelnden Sachen, die der mehrfach erwähnte $ 211 der StrafPD. bezeichnet, bei 
der auf Grund amtsrichterlicher oder polizeilicher Strafverfügungen ein- 
zuleitenden Procedur (StrafPO. SS 447 ff., 453 ff.). Andererfeits aber übt auch 
die bejondere Natur der Sachen, welche durch Tafultative Ueberweifung an das ©. 
gelangen, Einfluß auf das ihrethalb einzuhaltende Berfahren. So werden 3. 2. 
diefe Vergehen bezüglich der nothwendigen Bertheidigung den „zur Zuftändigfeit der 
©. gehörigen“ Sachen gleichgeitellt (StrafPD. $ 140 „zu verhandeln find“). Es 
entfällt alfo durch die Zuweifung an das ©. die Nothwendigfeit der Beitel- 
lung eines Vertheidigers für Angejchuldigte, welche taub oder jtumm find oder das 
16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. (Sehr beftritten; ſ. die u. angef. Schrift 
von Voitus.) Der Umftand, daß der Tall erit durch die Leberweifung ein jchöffen- 
gerichtlicher wird, übt auch auf die Zuläffigkeit der Vorunterfuchung und auf die 
Fafſung der Anklageſchrift Einfluß; letztere kann allerdings in Erwartung des Ueber— 
weiſungsbeſchluſſes jchon die einfachere Form erhalten, muß dann aber eventuell, 
wenn dieſer Beichluß nicht erfolgt, umgearbeitet werden. Auch auf die Zuläffigfeit 
der Unzuftändigfeitserflärung de8 S. übt dieſes Verhältniß Einfluß (vol. insbeſ. 
Löwe, StrafPD. $ 270 Wr. 5). 


Gigb. u. Lit.: Die im Texte angeführten Geſetzesſtellen und die * age Sat 
— — zu ben bezüglichen Geſetzen bvon v. Schwarze, Löwe bilo, 
oitus, Dalde, Keller, v. Bomhardu. Koller, Si 20 f. Dreyer. — Dodhom 

Der Reichäftrafprogeh (8. Aufl. 1880), ©. 19 ff., 42 ff., cd —— — Softematif 


be3 Deutſchen IERITSCHE HUREN (Berlin 1878), S. 1 in ff. - my 
zes wichtiger Materien a. d. Deutichen —— PN ka, ‚160, 
een ind Hol endorff’ 3 Hanbb. I . 545 557 fi., 561 .— Geyer, 
Lehrbuch des Gem. allen . ae (1880), "ss 57-61, 74, 036 d 258 ff. — 
Binbin — (1881), 50. — Voituß, ontroverfen betr. bie StrafPD. und 
das GB (Sindau u. Bei 1879) L ©. 53 ff., 102 f., 125—139; Derjelbe, Handbuch 
für ©. (Ber 1879). — Kochs, Der S öffe im Deutfchen Reiche, 2 Aufl. (Berl. 879. — 


8: Seuffert, Erörterungen über * Be. der Schöffengerichte und Schwurgerichte aus dem 
eutichen GDG., Breslau 1879 db. Anz. dieſer drzi Schriften im Gerichtäfaal XXXI. 
S. 455 fl. — Genzmer, Dad —8 des Amtsanwaltes, 1879. — C. v. Wolf, Der 


vd. HSoltzendorff, Enc. II. Rechtslexilon III. 3. Aufl. 38 


594 Shöman(n) — SHoohiallteht. 


Shöffen- und — — — (Zeipzig 1880). — H. Ortloff, Lehrbuch ber —— 
polizei (1881), 8 15. Glajer 


Shöman(n), Franz Joſeph Gonjtantin, 5 23. V. 1782 zu Wehlar, 
wurde 1808 ordentl. Prof. in Jena, 1813 an der Spitze einer Deputation nad 
Weimar zu Napoleon entjandt, den er zu milderen Anfichten zu beftimmen verftand, 
72. XII. 1813. 

Schriften: ndbbuch des Givilxechts, Giehen 1805, 1806. — Lehre vom den: 
erfahe, Gießen 1 — Prüfung der Theorie der Culpa des Herrn dv. Löhr, Giehen 1 
Das — ẽ wilrecht mit dem Preuß. und Franz. verglichen, Gießen 1508. — Fragmente, 

a 
area Günther, Lebensſtizzen, 1858, ©. 81, 82. Teichmann. 

Schön, Johann, 5 26. XI. 1802 zu Langendorf (Mähren), ſtudirte in 
Wien, 1831 außerordentl. Prof., 1836 ordentl. Prof. d. Staatswiſſenſch. in Breslau, 
7 13. III. 1839. 


Er jhrieb: Die Staatöwiffenichaft geichichtlich-philojophiich begründet, Bresl. 1831, (2) 
1840. — Allgemeine Geichichte und tatifit ber Europ. Givilifation, Leipz. 1833 (franz. von 
Du Mont, Paris 1834, englitc in — — De rerum cameralium et polit. studio, 
Vratisl. 1833. — De literat. medii aevi Im litica, Vratisl. 1834. 

€ 


Lit.: Nowad, * —— a — 2 (1838), ©. ar unb Nefrolog 
Defjelben, Breslau 1839. — Mohl, 152, 227. Teihmann. 


Schooßfallrecht iſt das Recht der Eltern, ihre ohne Dejcendenten (Bufen) 
verjtorbenen Kinder mit Ausfchluß aller übrigen Verwandten, namentlich der Ge 
jchwifter, zu beerben. Daffelbe war in den Deutjchen Rechtsquellen des Mittelalters 
überwiegend anerkannt, es bildete einen wejentlichen Bejtandtheil der Parentelen: 
ordnung, wurde aber vielfach durch das Gejammteigenthufn und das daraus ab: 
geleitete Accrefcenzrecht der Gejchwilter bei Verfangenſchaftsrecht und fortgeſetzter 
Gütergemeinfchaft und durch das Fallrecht (paterna paternis, materna maternis) 
durchbrochen. Unter dem Einfluß des Römischen Rechts hat das ausjchließliche ©. 
vielfach dem fonfurrirenden Erbrechte der Gejchwilter und ihrer Kinder Raum geben 
müffen. Reines ©. gilt noch heute nach dem Preuß. Allg. LR., Sächſ. BGB. 
dem Fränkiſchen ER., den Stadtrechten von Bremen, Schleswig, Nördlingen und 
Lindau, ferier in Kübel und den Xändern des Gemeinen Sachſenrechts (Anhalt, 
Thüringische Staaten, größter Theil von Holftein). Der Borzug des Waters vor 
der Mutter hat aufgehört. Beide Eltern erben zu gleichen Theilen; ift nur nod 
einer don ihnen am Leben, jo erhält diejer das Ganze. — In Defterreich und dem 
Kanton Zürich gilt volllommenes ©. nur, jo lange beide Eltern am Leben; an die 
Stelle eines vorverſtorbenen Elternteils treten feine Defcendenten. Nach dem Jü— 
tiichen Low (Schleswig) bejchränft fi das ©. auf den Vater, die Mutter theilt 
mit den Gejchwiltern. Aehnlich in den Santonen Bern und Luzern, welche die 
Mutter überhaupt erſt nach dem Tode des Vaters zulafien, und zwar in Konkur— 
ren; mit den Gejchwiftern (Luzern) oder erjt nach den Gejchwiltern (Bern). — Bei 
fortgejeßter Gütergemeinjchaft gilt regelmäßig Acerefcenzrecht unter den in der Ge 
meinfchaft verbliebenen Kindern („Was in der Were erftirbt, bleibt in der Were“), 
der üiberlebende Ehegatte kann alfo bei der Mbichichtung fein S. in Betreff der vor: 
veritorbenen Kinder beanfpruchen. Dagegen tritt, wenn das lebte in der Gemein: 
ſchaft mit ihm verbliebene Kind ohne Dejcendenten jtirbt, Accreſcenzrecht zu feinen 
Gunften ein und die abgetheilten Geſchwiſter des verftorbenen Kindes gelangen nicht 
zur Succeffion, auch wo das ©. gejeßlich nicht beiteht. Als Gegengewicht gegen 
dieje Einwirkung des Gejammteigenthums oder der Were auf das Erbrecht der ab- 
gefundenen Kinder bildete ſich vielfach jchon im Mittelalter ein ausfchließliches gegen: 
feitiges Erbrecht der leßteren aus, welches fjorwol die Konkurrenz der in der Wer 
verbliebenen Gejchwiiter ala aucd das S. ausſchloß. Von diefem Standpunkte aus 
erflärt fich das (in Lübeck jelbjt aufgehobene) Lübiſche und nicht minder das Ham: 
burger Erbrecht: jenes giebt vollbürtigen Geſchwiſtern überhaupt, dieſes, wenigjtens 


Schott — Schriftlichfeit der Willenserflärungen. 595 


joweit fie von dem elterlichen Sammtgute abgetheilt find, ein das ©. unbedingt 
—— gegenfeitiges —— 

: Preuß. Allg. £ 88 — Sächſ. BEB. 88 2026, 2087. — 

Brit Sande er von eis Fer — Bremer Stadtrecht von 1483, L 

übeder Erbg geh vom 10. Febr. 1862, Ar 17. — Scleöwiger Stadtredt, 13. — 

Roth, Bayer. Eivilrecht, III. 619. — Heimbad), Lehrbuch des partiful. Priva rechts der 


zu den Oberappellationägeri ten Jena und Zerbft vereinten Länder, ©. 501, 508 ff., 517 ff., 
522 ff. — Defterr. B. $ 735. a gr" GB. 88 1917 ff. — Bern. 


20, 

Giv.GB. AN 621, 625. — Luzern. vo üt. Low I. — — Bamberg 

Stadtrecht von 1603, Im 3855 12 f. — Xüb. else bon 1586, u 6. 13. — 

Pauli, Abhandlungen = de Lübiſchen Rechte, TIL 56 ff., 108 ff. Schröder. 
Schott, Auguft Friedrich, $ 11. IV. 1744 zu Ag wurde 1779 in 


Leipzig Beifiger der jurift. Fakultät, Affeffor des Oberhofgerichts, 1782 ordentl. Prof. 


der Rechte, T 10. X. 1792. 
x 1776— 1779. — Unparteiifche Hritit 


Schriften: Ausg. v. Doujat, Praenot. can., Li 
-— die neueften jur. Eariften, 1768—1782. — 'Bibl. der neueften jur. Bit., 1768—1768 


fi. — Suppl. zu Lipenius, Bibl. jur, 1775. — Jur. Wochenblatt, 1771 fi. = 
Syst. hist. legum eccles. de temporibus nupt. clausis, 1774. 
Si: Shulte, Geichichte, III. b 158. Zeihmann. 
hrader, Heinrih Eduard Siegfried don, & 31. II. 1779 zu 


Hildesheim, ala Sohn des Advokaten und Sefretärd am lutheriſchen Konfiftorium 
©., jtudirte in Helmftädt mit Vorliebe Mathematik, dann Jura in Halle und Göt- 
fingen, promovirte 1803 und habilitirte fi) ala Dozent, wurde 1804 aufßerordentl. 
Prof. in Helmjtädt, 1808 ordentl. Prof., ging nach Marburg, nachdem er vom 
Dekan der philof. Fakultät P. J. Bruns zum Dr. phil. freirt worden, 1810 
nah Tübingen ala Oberappellationsgerichtsrath, 1853 Komthur des Ordens der 
Württemb. Krone und Obertribunalsrath, 1858 in Ruheſtand tretend, T 16. VIII. 


1860. Im Jahre 1848 war er gegen die maßloje Agitation aufgetreten. 
Schriften: Abhandl. aus dem Civilrecht, Hann. 1808. — Civil. Abhanbl. (2. Abth.), 

Beim. 1816. — De summatione seriei (mathemat. preiöge — —— der Akademie 

— Kopenhagen), 1818. — Prodromus corp. jur. civilis, Berol. 1823. — F gewinnt die 


dmiſche Recht ee burh Gai Inftitutionen ? (Heibelb. mac 1828 N 60—64, aud) 
befonder3 gebru eidelb. 1823). — Justiniani Institutiones, Berol. 1832 (erfter Theil einer 


mit Tafel und Elojjius —— a Geſammtausgabe bed Corp. jur. civ.), 


ftereotypirt 1836. — De regulis juris, Eu 0'3 Yubiläum). — Er gab mit Mohl, 
Rogge u. Pe die Krit. Zeitihr. "ir — oh — — De) 1826—1829. 
. 450d. — Nekrolog in 


git.: 0’3 Magazin. — Sapigny, 
der Schinäb, Ührenit des Schmäb Merturs, 2. Abıh. x hı vom 28. Jebr. 1801. — 
Klar el, Die Univ. übingen, Leipz. 1877, ©. 58, 105, 1386. Zeihmann. 
chriftlichfeit der Wi enßerflärungen. Bei einer Willenserklärung 
(einem Rechtögeichäft, einem Vertrag) kann von dem Recht Abgabe (Abſchließung) 
in jchriftlicher Form erfordert werden, und zwar: 

1) entweder zur Gültigkeit der Erklärung, des Nechtögeichäfte. In diefem 
Falle ift die ©. ein essentiale negotii, ohne diejelbe treten rechtliche Wirkungen 
überhaupt nicht ein, 

2) oder zur Klagbarkeit derjelben. Eine anderweite Erklärung, ein ander: 
weit zu Stande gefommener Konjens kann rechtlich relevant fein, aber es können 
daraus feine Anjprüche im Wege der Klage durchgejeßt werden, 

3) oder nur zur Bemweisbarkfeit derjelben. Hier kann fogar auch ohne 
Beobachtung der ©. geklagt werden und eine Verurtheilung erfolgen, falls der Bes 
Hagte geiteht. Im Leugnungsfalle kann der Kläger feinen Klageanſpruch aber nur 
durch Vorlegung des darüber auögeftellten Schriftitüds beweiſen. 

Der Grund, warım bei einem Rechtsgeſchäft S. erfordert wird, kann liegen in 
einer geſetzlichen Vorjchrift, welche deshalb erlaſſen ift, damit „bei dem Handelnden 
eine gefammelte Bejonnenheit hervorgerufen wird, wie fie für alle ernjten Gefchäfte 
wünſchenswerth ift“, bzw. damit der wirkliche Abſchluß des Geichäfts ſcharf von 
alfen WBorverhandlungen abgeichnitten wird, oder damit der Beweis für die Zukunft 
aefichert ift. Die ©. kann auch veranlaßt fein durch eine diesbezügliche Verab— 

38 * 


596 Schriftlichleit der Willenserflärungen. 


redung der Parteien, welche vor oder nach der Perfektion des Geichäfts getroffen it 
und regelmäßig im erjteren Falle die Gültigkeit, im zweiten nur die Beweisbarteit 
bezweden joll. 

Verträge, welche vor der Vollziehung der S. geichloffen find (Vorverträge), 
haben in den fällen sub 1 und 2 gar feine Bedeutung und können — was allerdings 
ſehr beitritten ift — in dem Falle sub 1 nicht einmal durch) Verabredung einer 
Konventionalftrafe indirekt gefichert werden; diefe ift vielmehr bei Nr. 2 angebradt, 
während bei Nr. 3 auß dem pactum de contrahendo auf Nachholung der ©. ge 
Elagt werden kann. Hierüber Herrchen indefjen viele Meinungsverfchiedenheiten. 
Dal. den Art. Punktation und die unten citirte Abhandlung von Regels— 
berger. 

Die einfeitige Erfüllung vermag den Mangel der ©. niemals zu heilen; je 
gewährt nur eine condictio ob causam datorum, bzw. eine condictio indebiti auf 
Zurüdgabe des Geleiftelen. Der Empfänger kann dieſe Kondiktionen nicht einmal 
dadurch abwenden, daß er fich zur Gegenleiftung erbietet. Die zweifeitige Erfüllung 
genügt nur bei Nr. 2 und 3. Gefchah bei Nr. 2 die Erfüllung mangelhaft, jo wird 
meines Grachtens aber auch feine direkte Klage auf genügende Leiſtung gegeben (biw. 
auf die Aniprüche aus dolus und culpa des Gegner). fondern es iſt auch in 
diefem alle eine condictio zuläffig, wodurch die von Stobbe gerügte In: 
billigfeit (Deutjches Priv.R., Bd. III. $ 178 Anm. 24) ausgeglichen werden 
dürfte. 

Die Art und Weise, in welcher die S. zum Ausdrud kommt, ift eine ſehr 
verichiedene: es genügt entweder jede jchriftliche Firirung des Parteiwillens, oder 
e8 wird eine fürmliche Urkunde, eine Neinfchrift (mundum) erfordert, welche von 
beiden Theilen vollzogen jein muß (jehr bejtritten it im Gemeinen Recht die Be 
deutung der 1. 17 C. de fide instr. 4, 21), oder e& tritt gerichtliche, notarielle 
Mitwirkung oder Zuziehung von Zeugen ein; in fisfalifchem Intereſſe iſt oft die 
Benußung von Stempelpapier vorgefchrieben, wobei zu untericheiden, ob die Richt: 
benußgung Ungültigkeit der Erklärung oder nur Strafe nach fich zieht; endlich find 
manchmal gewiffe Worte (Wortformeln) unumgänglich, 3. B. „Wechſel“. In die 
Schriftform foll die Willenserklärung ihrem ganzen Inhalt nad) aufgenommen wer- 
den. Mündliche Nebenabreden haben, wenn die S. geſetzlich vorgeichrieben 
ift, feine Bedeutung, fie find ungültig, bzw. unflagbar, bzw. unbeweisbar. Bei 
verabredeter ©. enticheidet hierüber lediglich der Vertragswille der Kontrahenten. 

In der allerweiteiten Bedeutung endlich fommt die ©. einer Willenserklärung 
im modernen Recht da zur Anwendung, wo fie nicht nur für die Entitehung, \on- 
dern auch für die Fortdauer des Rechtsverhältniſſes weientlich ift. Bei diejen ſog. 
Sfriptur- Obligationen iſt das Recht in der Schriftform gleichfam ver: 
förpert, unlöslich mit ihr verbunden, jo bei dem Mechjel und anderen Inhaber: 
papieren im weiteren Sinne. (Bgl. den Art. Inhaberpapiere) Mit der ©. 
erliicht prinzipiell das Necht jelbit, indeſſen find vor diefem Grundjag erhebliche 
Ausnahmen gemacht worden durch das Anftitut der Amortijation (ſ. dieſen Art.). 

Unter den einzelnen pofitiven Rechten fam in dem alten Röm. Recht die ©. 
zur Anwendung in der literarum obligatio, und zwar war fte bei diefer weſentlich 
zur Entjtehung des Bertragsverhältniffes. In den eriten Jahrhunderten der Kater 
zeit fam die jtreng formale literarum obligatio außer Gebrauch und wurde gan 
durch die Stipulation erjeßt, bei welcher man dann bald ein jchriftliche® Empiang* 
befenntniß (cautio, syngrapha, chirographa — die letzten Namen deuten den grie- 
chiſchen Urfprung an) mit Angabe des Schuldgrundes zu erfordern pflegte. Endlich 
trat die Schrift volljtändig an die Stelle des geiprochenen Wortes, welches bei ihren: 
Vorhandenjein präfumirt wurde. (Bol. Gneijt, Formelle Verträge, 1845 um 
Padelletti, Röm. Nechtsgeichichte, überf. von dv. Holtzendorff, Kap. 47.) 
Das Gemeine Recht — jedenfalls beeinflußt durch neuere Deutfch-rechtliche An 


- 


Schriftlichteit Der Willenserflärungen. 597 


jhauungen — hat wie alle Formen, jo auch die ©. faft ganz befeitigt. Dieſe wird 
gemeinrechtlich nur in jehr wenigen Fällen erfordert, jo bejonders bei der großen 
Scenfung, dem contractus emphyteuticarius über Kirchengrundjtüde oder unter Ab- 
änderung der naturalia negotii, Intercejfion der Frauen und leßtwilligen Ber: 
fügungen. Bon den modernen Gemeinen Rechten hat das Handelsrecht das 
Prinzip der Yormlofigkeit in weitem Umfang (HGB. Art. 317). Nur wenige Aus- 
nahmen find im HGB. ſelbſt enthalten; fo wird ©. erfordert bei dem Bodmerei- 
vertrag (Art. 683), der Aktienzeichnung (Art. 174, 208), in dem Falle des Art. 
314 und bei Entjtehung der Aftiengejellichaften durch Eintragung in das Handels— 
regifter (Art. 178, 211). Vgl. THöl, H.R., $ 240; ſ. auch die $$ 2 u. 6 des 
Genoſſenſchaftsgeſetzes vom 4. Juli 1868 (B.G. Bl. ©. 415). Daß das moderne 
Rechtsbewußtſein überhaupt der ©. nicht geneigt ift, ergiebt fi) aus dem Votum 
des 10. Deutichen Yuriftentages: „Die Gültigkeit von Berträgen joll auch, ab» 
gejehen von Handelsfachen, von der Beobachtung der jchriftlichen Form in der Regel 
unabhängig jein.“ 

Unter den Partikularrechten hatdas Preuß. Allg. ER. die ©. bei Willens» 

erflärungen in einem jehr weiten Umfang erfordert, und zwar generell bei allen 
Verträgen, deren Gegenjtand über 150 Mark beträgt (I. 5 $ 131). Don diefer 
Regel giebt es Ausnahmen nach beiden Seiten hin, bei deren Aufjtellung eine leitende 
Idee jo wenig maßgebend gewefen ift, daß dadurch das ganze Syftem des Allg. IR. 
nur noch verwerflicher ericheint. Bei einer Reihe von WRechtögefchäften ijt immer 
©. nothwendig ohne Rüdficht auf die Höhe des Objekts, während bei vielen an= 
deren von dem Grforderniß der ©. ſtets abgejehen wird (vgl. I. 5 $$ 133 ff.). 
Die einzelnen Gejchäfte find zufammengeftellt bei Bornemann, Grörterungen im 
Gebiete des Preuß. Rechts, S. 149 ff. (1855); Förfter, Theorie und Praris, $ 79 
Anm. 65 u. 66, und Dernburg, Lehrbuch $ 96 N. 2 u. 3. Die ©. wird er- 
fordert zur Klagbarkeit, ohne ©. befteht nur eine natürliche Verbindlichkeit. Hierbei 
it wichtig die Beitimmung des Eigenthumserwerbögejeges vom 5. Mai 1872 ($ 10), 
wonach durch die Auflaffung die Formmängel des der Auflaffung zu Grunde liegen- 
den Gejchäftes geheilt werden. Die einfeitige Erfüllung ohne die ©. gewährt nur 
einen Anſpruch auf Rückgabe, bzw. Vergütung des Geleijteten (I. 5 $$ 155 ff.). 
Die beiderjeitige Erfüllung erjegt den Mangel der ©. volltommen, außer bei Ver— 
trägen über Immobilien, welche anfechtbar bleiben, wenn nicht bereits die Auf- 
laffung erfolgt ift (vgl. Striethorft, Archiv, Bd. 74 ©. 122, Bd. 75 ©. 26). 
Ueber Leiſtung von Handlungen auf Grund eines mündlichen Vertrages ſ. $$ 165 ff. 
1. ec. Im Allgemeinen muß bier, was in der Natur der Sache liegt, die Gegen- 
leiftung gemacht werden. Dem Grforderniß der S. genügen außer fürmlichen Ur- 
funden auch Punktationen, Briefe, Telegramme, unterjchriebene Rechnungen, Pfand— 
icheine und Aehnliches. Die Unterfchriftt eines Bevollmächtigten ift ausreichend, 
wenn die Vollmacht chriftlich ausgeftellt war. Stempelunterdrüde aber können 
meined Grachtens die „Unterfchrift“ nicht erſetzen. Iſt die ©. nur verabredet, 
jo wird vermuthet, daß nicht blos der Beweis, jondern die verbindliche Kraft des 
Bertraged von der ©. abhängen ſolle ($ 117 1. c.). Gegenbeweis ift zuläffig. 
Mündliche Nebenabreden follen in feinem Falle berüdfichtigt werden ($ 128 1. c.). 
Dieſe Beitimmung trifft nach einer Eonftanten Praris nicht zu für folche Neben- 
abreden, welche die essentialia negotii berühren und eine Anfechtung des Vertrages 
als rechtsungültig begründen. 

Nach Deiterr. Recht wird ©. erfordert zur Gültigkeit von Verträgen über 
Grundeigenthum (Allg. BGB. $ 434), bei nicht durch Uebergabe vollzogenen Schen- 
tungen ($$ 943 und 956), Erwerbsgeſellſchaften ($ 1178) und bei GErbverträgen 
(unter Ghegatten, $ 1249). Das Gejeß vom 21. Juli 1871 jchreibt notarielle Urs 
tunden vor für eine Reihe von Verträgen unter Ehegatten und mit blinden, tauben 


oder jtummen Perjonen. 


598 Schriftvergleihung. 


Das Franzöſiſche Recht Hat die S. zum Zwecke dev Beweisbarfeit bei 
allen Verträgen über Gegenftände, welche die Summe von 150 Franken überiteigen, 
vorgeichrieben und damit den Zeugenbeweis hierfür ausgeichlofien (Code civil art. 
1341—1348). Ebenjo im Badiichen ER. (Art. 1341), wo die Summe auf 75 Gul— 
den normirt ift. Diefe Vorichrift ift publici iuris, jo daß nicht einmal die Gegen: 
partei andere Beweismittel zulaffen fann. Der Zeugenbeweis iſt ſogar über Neben: 
abreden nicht zugelafien. Die ganze Beitimmung ift vom fünften Deutichen Juriftentage 
mit Recht für unzweckmäßig erflärt worden. 

Nach dem Sächſ. BGB. erfordern Willenserflärungen und Verträge in der 
Regel feine bejondere Form. Bei Nichtbeobachtung einer vorgejchriebenen Form it 
das Nechtägeichäft nichtig, auch wenn dies nicht bejonders ausgeiprochen ijt (BEP. 
$$ 100 und 821). ©. iſt nöthig bei Verträgen über Grundeigenthum ($ 822), 
bei Schenkungen eines Betrages über 1000 Thaler oder wiederfehrender Yeiitungen 
auf unbeitimmte Zeit von jährlich mehr ala 50 Thalern (Erklärung zu gerichtlichen 
Protokoll oder gerichtliche Beitätigung) und mannigfach bei legtwilligen Verfügungen 
($$ 2070, 2071, 2098, 2104). — Vgl. auch 5 44 des RMil.Gef. vom 2. Mai 1874 
(R.G. Bl. ©. 45). 

Lit.: Die Panbektenlehrbücher von BETEN z8 57, Eh und ce DaB, herr — 
Regelöberger, Grörterungen, ©. 134—161. — Thöl, — Sto 
on Privatrecht, Bd. II. $ 173 Nr. I. 8 ff. — Bucher, beorie er Praris, 3. L 

8 79 ff. — Dernbur Zehrbuch, ss 95 ff. — Bornemann, Erörterungen im e- iete 
hu Preuß. Rechts, Ss luf Me > — Schrift in ihrer Bedeutung nach 

Recht. — Franz, * F Syſten der To nah Preuß. Allgem. 7 
Grudot’3 Beiträgen — XIII. S. 75 F — a yſtem des Defterr. ibotrechtä, 
$ 86. — Zadari * en 2b. IV. — nen des —* 
Deutichen ir ed sr R Bb. J. ©. 59 ff. und mn Fe I. ©. 26 ff. — Seuftert’: 
Archiv I. 95, 198; 9; 199; VII. 350; X. 242, 248; x 259; XIIL 152, 216; 
XV. 12, 13; XVi. 29, 108; “Er 125, 148, 162; XVIIL 222; XIX. 23; XX. 116, 117, 
144, 216, 1, 272; XXXL '80 109, 214, 215, 262; XXXII 295; XXXIV. 144. Keil. 


— be, 


Schriftvergleichung (comparatio literarum), d. 5. die Vergleichung ber 
Handfchrift einer ihrer Echtheit nach zweifelhaften oder beftrittenen Urkunde mit 
anderen Schriftftüden des muthmaßlichen Verfaffers, um dadurch den Beweis ber 
Echtheit oder Umechtheit zu liefern. Die ©. kann jowol im Givil-, wie auch im 
StrafPrz. vorkommen, und fie erfolgt unter Zuziehung von Schriftverftänbdigen, 
wobei nach den Regeln des Sachverjtändigenbeweifes verfahren wird. Die aus Miß— 
trauen gegen Fälfchungen erlafjenen Beitimmungen der Nov. 49. c. 2 und Nor. 73 
führten in der fanoniftiich-romanifchen Theorie des Mittelalters zu einem künſtlichen 
Syitem von Regeln über diefe Art des Beweifes. Als Hauptgrundjag wurde der 
aufgeftellt, daß die ©. allein nicht voll beweifen, vielmehr nur halben Beweis 
(probatio semiplena) jchaffen follte. Dieſe Regel hat man im Gem. Prz. ebenialli 
noch feftgehalten, wenngleich man jonjt die mittelalterliche Theorie vereinfacht bat. 
Auf demjelben Standpunkt jtanden die Preuß. Allgem. Ger.O. von 1793 Ih. 1. Tit 
13 88 10 ff. und die Hannov. PrzO. $ 335, welche Iehtere ausdrücklich jelbit 
für den günftigjten Ausfall des Gutachtens der Sachverjtändigen noch die Auferlegung 
eines Grgänzungseides vorjchrieb. So genaue Borjchriften dagegen auch der Code de 
proc. art. 195—210 über die zur verification des 6critures par experts geeigneten 
Schrüftjtüde und der dabei zu beobachtenden Prozedur giebt, jo wenig jchränft « 
doc das Ermeſſen des Richters bei der Prüfung des Nefultates des Verfahrens cin 
Denjelben Standpunkt haben die Deutjche CPO. und StrafPO. gemäß des in 
ihnen aboptirten Prinzips der freien Beweiswürdigung angenommen. 


Quellen: Deutſche CPO. SS 406, 407; StrafPO. $ 98. 


git.: Goldſchmidt, ae S. 101 ff. — Genäler u. Klüpfel im un 
fir — Vwrarũ db. II. ©. 318 ff., 338 #. — Ortloff, Jurift. Abhandlungen, ar 1 
inidhims. 


Schulaufficht. 599 


Schulaufſicht. Die große Aufgabe der Erziehung und Bildung der Jugend 
in öffentlichen Anftalten (scholae, Schulen im weitejten Sinne) ift ala eine gemein- 
ſame für Familie und Gemeinde, für Kirche und Staat anerfannt. Unbeſtritten 
voran mit ihrem Antheil jteht die Familie, jo weit fie den Willen und die Fähig— 
feit hat, ihren Erziehungsberuf zu erfüllen. Muß aber in Ermangelung deffen die 
Mitwirkung einer höheren Gemeinjchaft eintreten, jo entjteht alsbald die Frage, ob 
die firchliche oder die politifche Gemeinde, und damit die weitere Frage, ob 
Kirche oder Staat die Schule beherrfchen und leiten joll. 

Dem Mittelalter war durch die Einheit der Kirche auch eine einheitliche Grund— 
lage für Erziehung und Unterricht gegeben. Die Kirche war durch ihre Fundationen 
bis zur Ortöpfarre herab fo tief verwachjen mit dem Gemeindeleben in Land und 
Stadt, daß ihr die Leitung des Unterrichts in allen Stufen zufallen mußte. Die 
Schule galt ala „Annerum der Kirche”, jchon aus dem Grunde, weil die Entjtehung 
wie die Fortbildung aller gemeinfamen Anftalten der Art auf dem Perjonal des 
Klerus und auf firchlichen Mitteln beruhte. Da nun aber der firchliche Beruf 
durch Menſchen erfüllt werden mußte, welche durch die Hierarchie der Nemter und 
durch den firchlichen Befig mit der ftändifchen Ordnung der Gefellichaft in allen 
Stufen verwachjen waren, jo fand fich die Kirche auf dem Höhepunkt ihrer Macht 
überall verflochten mit den Herrichaftsinterefjen der höheren Stände. Ihr Beruf 
zur Lehre und Geeljorge ordnete fich dem Machtintereffe der kirchlichen Regierung 
unter. Waren am Schluß des Mittelalters die großen Vermögensmaflen der Kirche 
zu fürftlichen und adligen Dotationen geworden, zum Theil auch den KHlöftern und 
Orden approprürt, auf Koſten der lehrenden und jeeljorgenden Geiftlichkeit, jo blieb 
nur ein färglicher Reft für die Zwede eines allgemeineren Unterrichts übrig. Auch 
in den Klöftern und Orden trat der Lehrzweck immer weiter zurüd von den hierar— 
hiichen Bejtrebungen der Erhöhung kirchlicher Macht. Der Lehrberuf der Kirche wurde 
daher ungleichmäßiger und dürftiger erfüllt als in früheren Jahrhunderten, während 
das Bedürfniß des bürgerlichen Lebens mit der Entwidelung des Handels und der 
Gewerbe wuchs, und das Laienthum nöthigte fich jelbit zu helien. In den Städten 
entjtehen zuerſt gelehrte Schulen aus nichtsfirchlichen Mitteln, und damit auch ein 
beicheidener Antheil des Stadtregiments und des Kirchenpatronats an der Einrichtuug 
eines öffentlichen Schulwejens, 

Mit der Reformation tritt der geiflliche Beruf der Lehre und Geeljorge 
wieder in den Vordergrund und damit eine nachdrüdliche Anerkennung des kirchlichen 
Berufs zur Organifation und Leitung der Schule unter Schußherrichait der welt: 
lihen Obrigkeit. Diefe Richtung hat eine Rückwirkung auch auf die Länder geübt, 
die der alten Kirche treu blieben, wie denn auch der Volksunterricht im Tridentiner 
Konzil als eine allgemeine Aufgabe der Kirche nochmals anerfannt wurde. Man 
nannte die Schule noch immer eine „Tochter der Kirche”, ohne freilich Hinzuzufügen, 
dat fie, in Ermangelung eigener Mittel, meiften® „bei fremden Leuten in Koſt ge— 
geben war“. 

I. Borläufig abgejehen von Deutjchland ift daraus ein Kommunions— 
verhältniß zwijchen Kirche, Gemeinde und Staat an den Anftalten des öffentlichen 
Unterrichtö in der europäifchen Welt hervorgegangen. Ueberall galten die Grund» 
gejeße der herrichenden Staatskirche ald Theile des gemeinen Landrechts. Die 
herrſchende Kirchengemeinſchaft allein befitt die obrigfeitlichen Rechte einer „Kirche“ 
und die Leitung der Schulen, unter Mitwirkung jtädtifcher und anderer Korporationen 
und unter allgemeinen Oberaufjichtsrechten des Staats. Kine jolche 
wird aus dem ius advocatiae et inspectionis saecularis abgeleitet, mit der aner- 
fannten Aufgabe, durch ein ius cognoscendi, interdicendi, confirmandi dafür Sorge 
zu tragen, daß die vorhandenen Imjtitutionen, Stiftungen und Ginfünfte ihren be- 
itimmungsmäßigen Zweden erhalten bleiben. In der jog. Aufflärungsperiode werden 
diefe Gewalten meiſtens im Sinne einer Milderung der kirchlichen Ausichließlichkeit 


600 Schulaufict. 


gehandhabt. Der Geijt der Toleranz geht indefjen doch nicht weiter ala bis zur Duldung 
einer Religionsübung über die Grenzen eines exercitium religionis privatum hinaus, 
zur Zulafjung der einzelnen Belenner zu den bürgerlichen und politifchen Rechten 
und allenfalls auch zur Admiſſion einzelner Diffidenten zu den öffentlichen Unterrichts 
anjtalten. Der jtreng fonfeffionelle Charakter der Unterrichtäanjtalten wie der 
Staaten bildet bis zum Schluß des XVII. Jahrhunderts die entjchiedene Regel der 
europäifchen Welt. 

Grit jeit der Franzöſiſchen Revolution Hat die neu geitaltete ſtaats— 
bürgerliche Geſellſchaft die völlige Gleichheit ihrer Mitglieder ohne Rüdficht auf ein 
Glaubensbefenntniß zu ihrem Lebenäprinzip und „Grundrecht“ erhoben, deſſen Aus: 
führung aber alabald auf Hindernifje ſtieß. Die erftrebte Gleichheit konnte nicht 
darin beitehen, daß allen biffidentifchen Belenntniffen und Sekten die Privilegien 
und obrigfeitlichen Rechte der Hiftorifchen, mit dem Staatsweſen verwachjenen 
Kirche beigelegt wurden. Der umgekehrte Verfuch, diefe „Kirche“ zu ignoriren und 
mit Bejeitigung aller ihrer Rechte, Privilegien und Befigungen die Kirchengemein 
ichaft nur ala eine Privatgejellichaft zu behandeln, ließ fich nur in einem Schredens- 
regiment auf kurze Zeit verwirklichen. Der endliche Erfolg beſchränkte fich daher 
auf eine äußerliche Auseinanderfegung, bei welcher die Staatsfirche als jolde 
jtehen blieb, neben ihr aber den einzelnen Belennern anderer Denominationen 
die bürgerliche Rechtögleichheit, den einzelnen Gemeinden die öffentliche Religions: 
übung, ihren größeren Verbänden ein gewifjes Maß der Selbftverwaltung gewährt 
wurde. Es war damit den diffidentifchen Belenntniffen auch die Errichtung eigener 
Schulen überlaffen. In ungleihem Make wurde ihnen auch eine Zulaffung zu den 
höheren, altprivilegirten Unterrichtsanftalten gewährt. Dagegen blieb im Vermögens», 
Familienrecht und im Verwaltungsrecht des Staats die „Kirche“ doch weſentlich in 
ihrem Befigitand, die kirchlichen Behörden ausjchließlih mit einer obrigfeitlichen 
Würde befleidet, ihre Geiftlichkeit in Befig der alten Immunitäten. Das alte 
Staatöfirchenrecht, ſoweit e8 nicht ausdrüdlich durch Geſetze modifizirt war, galt nod 
ala ergänzendes gemeines Landesrecht. Im Staatöceremonial, in den öffentlichen 
Einrichtungen und in der Volkäfitte blieb der konfeffionelle Charakter des Staats— 
verbandes ftehen. Im Unterrichtöwejen entjtand daraus eine thatſächlich foordi- 
nirte Stellung der ftaatökicchlichen und der Staatsorgane unter vielen Schwankungen 
und Reibungen. Während in Frankreich dem Namen nach das gejammte Unterrichts- 
wejen unter die centralifirte Leitung des Staats trat, blieb doch der wiederher- 
geitellten Hierarchie ein jehr breiter, von Zeit zu Zeit vorherrichender Einfluß. In 
der Mehrzahl der romanifchen Staaten blieb das alte Verhältniß der Römiſchen 
Kirche bejtehen, und nur von Zeit zu Zeit drängte das ftaatliche Auffichtsrecht im 
Intereſſe der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit den kirchlichen Einfluß zurüd. 
Die tolerirten Minoritäten evangelifchen Bekenntniſſes haben in Europa der römiſch— 
und der griechiich-katholifchen Kirche gegenüber nur die rechtliche Gleichheit der 
Einzelnen, die öffentliche Religionsübung, die Selbjtverwaltung ihrer Angelegenheiten, 
nicht aber eine Gleichberechligung ihres Kirchenregiments erlangt. 

1. Die Eigenthümlichfeit der Deutjchen Entwickelung im Gegen: 
ja aller anderen Staaten Europa's befteht nun darin, daß jeit der Reformation 
eine Mehrheit von „Kirchen“ mit der Deutjchen Landeshoheit verwachien iſt aui 
Koften unferer politifchen und nationalen Einheit. Seit dem Weitjälifchen Frieden 
zertheilt jich Deutfchland in gejchloffene, ziemlich abgerundete Gebiete, welche einer: 
jeits der Römifchen Kirche, andererfeits dem Belenntniß der Augujtana zugebören. 
Die katholiſchen, Lutherifchen und veformirten Ginzeljtaaten nehmen nun zunächit 
denjelben Entwidelungsgang wie die fonfeffionellen Staaten Europa’. Es kommt 
zuerft zur Geltung ein Syſtem der „Toleranz“, welches durch Ausdehnung de 
Auffichtsrechts, durch die allgemeine Einführung des placet regium, dur eine er: 
weiterte Einwirkung auf die obrigkeitliche und Vermögensverwaltung der „Kirche“ 


Schulaufſicht. 601 


den Bekennern der nur geduldeten Konfeſſionen bürgerliche Gleichheit, eine freiere 
Religionsübung und Selbſtverwaltung zu verſchaffen ſucht. Es war ſchon ein 
dynaſtiſches Intereſſe, welches die größeren Reichsſtände zu einer Behandlung ihrer 
Unterthanen auf gleichem Fuß bewog. Allmählich aber macht ſich auch ein mehr 
oder weniger klar empfundenes Gefühl geltend, daß die Deutſche Nation nicht fort— 
beitehen könne, wenn zwifchen ihren Religionstheilen feine Ehe, keine Verwandtſchaft, 
feine fittliche Gemeinjchaft von der Taufe bis zum Grabe, feine Gemeinſchaft der Er- 
ziehung, der Bildung der Humanitätsanftalten mehr beftehen könne. Das natur- 
gemäße Berwachjen der politischen und der kirchlichen Gemeinen, des einheitlichen Staats 
mit der Hiftorifchen ‚‚Kirche‘‘, welches allen anderen Völkern Europa’3 zum Ein= 
heitsband für Staat und Gefellichaft geworden ift, wirfte in Deutichland ala 
ein ftetiges, mächtiges, mit der Macht der Kirche wachjendes Element des Zwie- 
ſpalts der Nation. Es erklärt fich daraus, ſowie aus der Kleinheit der terri— 
torialen Staatskörper, daß eine jtaatliche Bevormundung über die Kirchen fich jo 
übermäßig entwidelt hat. Ausführbar auf die Dauer war das Syſtem des Weſtf. 
Friedens überhaupt nur, wo die fatholifche, Lutherifche, reformirte Bevölkerung in 
größeren Gebicten ziemlich unvermifcht zufammenlebten, nicht aber da, wo fie ört- 
ih im engjten VBerbande neben und durcheinander wohnten. Dies Verhältniß fam 
am früheften zur Erſcheinung in Schlefien, jeitdem es zur Preußifchen Provinz 
und die volle Gleichheit der beiden Kirchen zu einer Lebenäbedingung des Preußi- 
ihen Befies geworden war. Auf diefem Boden entwidelte fich zuerſt die Frideri— 
zianiſche dee, daß der Staat nicht blos abwehrend gegen die Ausfchließlichkeit 
der Kirchenſyſteme, jondern poſitiv ordnend die getrennten Glieder der Nation 
wieder zujfammenzufaffen habe, duch die Einheit des Familienrechts umd der 
geiftigen Bildung. Diefen Gedanken knüpft das Preuß. ER. von unten herauf 
an eine volle Gleichſtellung der kirchlichen Einzelgemeinden, von oben herab 
an die einheitliche Oberleitung der Staatägewalt: während es dazwifchen die Stel— 
lung der „kirchlichen Oberen‘ (d. h. die bejtehenden kirchlichen Verfafjungen) im 
Wejentlichen unverändert läßt. Innerhalb diejes Syſtems erfcheint nunmehr die 
Schule ala „Beranjtaltung des Staats‘ der oberften Direktion der Staatöbehörden 
unterworfen. Die Bezirfd- und Örtliche Aufficht bleibt unter jchonender Beibehaltung 
des Herfommensd verbunden mit dem Perfonal der kirchlichen Oberen. Daraus folgte 
nun aber doch eine Unterordnung der „‚geiftlichen Oberen‘ unter Staatögebote, welche 
unvermeidlich zu einem MWiderfpruch mit firchlichen Grundfäßen treten mußten, 
je mehr die Schulen ala „Veranſtaltungen des Staates‘ in wachjendem Maß den 
Gharafter der Gemeinjamfeit annehmen. ‚An Gunderten von Orten war 
es jchon unter Friedrich d. Gr. unmöglich den fleinen armen Gemeinden und den 
Gutsbezirken gejonderte Schulen für den fatholifchen und evangelifchen Theil zu 
geben. Dieje Schwierigkeit wuchs und dehnte fich mit der Tyreizügigfeit jpäter auf 
das ganze Land aus, und auch für die Höheren Unterrichtsanftalten wurde eine Benußung 
durch verſchiedene Konfeffionen noch unvermeidlicher ala für die neueren. Die dee, 
einen „‚‚allgemeinen Religionsunterricht‘‘, der beiden Religionätheilen gemeinfam jein 
follte, in jolchen Anftalten zu ertheilen, ift nur vorübergehend und faum im Ernſt 
aufgetaucht. Ebenjowenig hat man fich mit dem anderäwo beliebten Gedanfen be- 
gnügt, den Religionsunterricht von der „konfeſſionsloſen“ Schule zu trennen. Die 
Deutiche Gewifjenhaftigkeit Hat fich die Sache weniger leicht gemacht, vielmehr dem 
eigenthiimlichen Verhältnik des Landes entiprechend in dem Preußijchen Schulregle- 
ment von 1801 die jchwere Aufgabe unternommen, mit dem gejonderten Unter: 
riht in dem kirchlichen Betenntniffen den gemeinfamen Unterriht in den 
Glementen der Wiſſenſchaft zu verbinden, — eine dem Deutichen Leben eigenthümliche 
Kombination, die fih von Schlefien auf die übrigen Landestheile und von den 
unterer auf die höheren Unterrichtsanitalten ausdehnte. Die konfeffionelle Mifchung 
der Bevölkerung und das Bewußtfein der vollen, grundjäßlichen Gleichberechtigung 


602 Schulaufſicht. 


der „‚Kirchen‘‘ ließ feinen anderen Ausweg übrig. Der allgemeine Schulzwang, 
jobald er ernitlich zur Durchführung kam, machte es unvermeidlich, Kinder einer 
£onfeflionellen Minorität in Anftalten einzufchulen, die zunächſt für die jchulpflichtige 
Jugend einer anderen Kirche entftanden und bejtimmt waren. Die jtetig weiter: 
jchreitende Bertheilung der Schulerhaltungslajt auf die politifchen Gemeinde: 
verbände machte es unvermeidlich, die öffentlichen Schulen durch die Beiträge ver- 
ichiedener Konfeifionen erhalten zu laffen, die nicht für Anjtalten beanfprucht werden 
fonnten, welche im Sinne firchlicher Ausjchließlichkeit geleitet wurden. In dem 
ganzen Gebiet des öffentlichen Schulweiens mußte daher (unbeichadet des jtreng 
fonjejfionellen Charakters alles Religionsunterrichts) eine ftetige Rüdficht auf Kinder 
anderer Belenntniffe genommen werden, welche an dem Schulunterricht thatſächlich 
Theil nehmen oder in Folge der Freizügigkeit und des Schulzwangs jederzeit einen 
laß in der Schulanjtalt finden müſſen. Demgemäß geitaltete fih nun auch die 
©. Die Schulreglements Friedrichs d. Gr. und das Preuß. EUR., indem fie eine 
Lokal- und Kreisaufficht der Schulen durch den Ortögeiftlichen und jeine „geiſtlichen 
Dberen‘ vorbehalten, verpflichten die Geiftlichkeit, fich ‚‚nach den vom Staate ertheilten 
Schulordnungen zu achten“, und behalten die Enticheidung über „Meinungsver— 
ſchiedenheiten“ zwiſchen den firchlichen und weltlichen Xeiten der Schule der 
höheren Staatäbehörde vor (Allg. ER. II. 12 88 15—17). In Vorahnung 
möglicher Konflikte it in den Schulreglements von 1763, 1765 und 1801 auch jchon 
die Beitellung bejonderer Staatsjchulinfpeftoren neben den Erzprieitern vorbehalten. 
Es waren bier eben andere Schwierigkeiten zu überwinden, als in den Staaten, denen 
der Gedanke kirchlicher Gleichberechtigungen bis heute fremd geblieben ift und 
die fich deshalb zu einer Vergleichung nicht eignen. Der Preußiiche Staat wußte 
diefe Schwierigfeiten jeiner Zeit nur zu überwinden durch die Macht des abjoluten 
Staats, dem die katholifche Geiftlichkeit ebenſo Obedienz leijtete, wie die mit der 
Staatöverwaltung eng verflochtenen evangeliichen Kirchenſyſteme. In den Deutichen 
Mittel- und Kleinjtaaten kamen in Folge des Vorherrichens einer Kirche und in 
folge der geringeren Zeriplitterung der Gemeindeverbände diefe Schwierigkeiten erit 
jpäter und in geringerer Spannung hervor. 

Weſentliche Nenderungen in diefen Verhältniffen mußten nun aber jeit 1815 
eintreten mit der Wiederheritellung des päpftlichen Kirchenregiments und der bijchöf- 
lichen Diöcefalregierungen, deren Macht und Bedeutung lange Zeit unterichägt 
wurde. Mit dem Kurialſyſtem lebte naturgemäß der Anspruch der Römischen Kirche 
auf die Herrichaft über die Familie und Schule im Geift des Kanoniſchen Rechte 
wieder auf und damit ein Widerftreben, bald auch ein ſyſtematiſcher Wideritand 
gegen die bis dahin befolgten Anordnungen des Staats, zufammentreffend mit dem 
allgemeinen Widerjtreben der Nation gegen die „Omnipotenz“ des Abjolutismus. 
Wie alle gejellichaftlichen Poftulate, jo glaubte auch dies, durch allgemeine Sätze 
(Grundrechte) die Verhältniffe zwiichen Staat und Kirche zu regeln. „Jede Kirche 
und jede Religionägejellfchaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten jelbit= 
ſtändig“, — eine juriftifch unfaßbare Allgemeinheit, die alabald eine Auslegung 
erhielt, durch welche alle Streitfragen zwijchen Sirche und Staat uno actu zu 
Gunjten der kirchlichen Regierungsgewalt entichieden fein follten. Und da nun aud 
die evangelifche Kirche ein entſprechendes Maß der „Selbitändigkeit‘‘ beanjpruchte, 
jo ergab fich eine centrifugale Bewegung, welche von der Volksſchule herauf bis 
zur Univerfität die Elemente der Gemeinjchaft aufzulöfen und mit dem Schlagwort 
der „‚Konfeffionalität in der Schule wie in der Ehe zu den Grundjäßen des Weit- 
fälifchen Friedens zurüdzufehren verjuchte.e Die jeit 2 AJahrhunderten mühſam 
errungene Ginheit jollte lediglich eine DVerirrung der Aufklärungsperiode, ala ein 
Erzeugniß der Franzöſiſchen Revolution fein. Mit gleichem Eifer (aber mit jehr 
ungleihem Erfolg für die kirchliche Herrichaft) wurde die ausjchließliche Beitimmung 
der Unterrichtsanftalten für den einen oder anderen Religionstheil, namentlich in 


Schulaufficht. 603 


Preußen zum Prinzip - der Verwaltung erhoben. Die vorherrichende Richtung auch 
der pädagogischen Literatur erfchöpfte fich in der Darlegung der von Niemanden 
bejtrittenen Wahrheit von dem nothwendigen Zujammenhang der religiöfen und 
geiftigen Bildung der Jugend, aus der die grundjäßliche Scheidung nach Religions- 
theilen fich durch einfache Schlußfolgerung ergab. Daß mit der ftreng Firchlichen 
Organijation der Schule, jowie der Schulaufficht der Minorität der Kinder anderer 
Belenntniffe Gewalt an ihrem Recht und ihrem Gewiſſen geichehe, erregte bei der 
Mehrzahl der Kirchen: wie der Schulmänner wenig Bedenken. Dies Verhältniß 
wurde entweder ignorirt oder ala ein mebenjächlicher Umftand bemerkt, der zur 
Zeit „und in einigen Tauſend'““ Volksſchulen und einigen Hundert höheren Unter: 
richtsanitalten eintrete und oft nur „eine recht geringe Zahl’ von Kindern betreffe. 
Derielbe Hriitliche Standpunkt, der jede Berührung der Kinder jeines Bekennt— 
niſſes mit Lehrern oder Schülern einer anderen Konfeifion ala ein sacrilegium und 
als gleichbedeutend mit dem Syſtem der religionslojen Schule darjtellt, trägt fein 
Bedenken, die Kinder der Minorität in Unterrichtsanftalten hineinzuzwingen, die 
ausschließlich im Geift einer anderen Kirche lehren ſollen. Wie nach der Geitaltung 
unferer Gemeinden für die Kinder der Minorität zu forgen fei, glaubt die Mehrheit 
der Fachmänner überhaupt der „Fürſorge des Staats‘ überlaffen zu fünnen. Bei 
ganz unlösbaren Miichverhältniffen der Konfeſſionen will der theologische Standpunft 
allenfalls eine „Simultanjchule‘ als fingulären Nothbeheli beitehen laffen, analog 
einer ‚Notheivilehe‘‘, wo die widerjprechenden Anſprüche der Kirche mit dem Landes— 
recht abjolut unvereinbar find. Dieſe Standpuntte verfennen gänzlich, daß jolche Miß— 
achtung des jchwächeren Theild nur in Staaten mit einem einheitlichen Staats— 
fircheniyitem bejtehen fann, daß fie dagegen unter 2 gleichberechtigten, gleichmächtigen, 
einander widerjtreitenden Kircheniyitemen zu Widerfprüchen führen, die ihre Löſung 
durch die Gejeßgebung und das Auffichtsrecht des Staats finden 
müſſen. Der individualiftiiche Grundzug unferes Volks, der alle Widerfprüche der 
modernen Gejellichait in jeinem Staatsweſen aufeinanderhäuft, verfolgt gleichzeitig 
mit dem Einheitsgedanken die Idee einer abjoluten Abichließung der Religionstheile 
in ſouveräner Selbitändigfeit bis in ihre äußerjten Konſequenzen. Erſt durch die 
praftifchen Konjequenzen fommt es der Bevölkerung langiam zum Bewußtiein, daß 
man unjere Familienväter nicht zwingen kann, ihre Kinder in Schulen zu jchiden 
und Schulen zu erhalten, welche lediglich Annera einer anderen Kirche find, die den 
Glauben dieſer Eltern und Kinder als Jrrglauben zu befämpfen für ihre heilige 
Pflicht hält. Dies Verhältniß, welches der Partifularismus in feiner theologijchen 
und pädagogijchen Geftalt als einen ‚blos juriftiichen Standpunkt‘ bei Seite jchiebt, 
ift es, welches Deutichland zu der mühſam errungenen Gemeinichaft der Schule und 
der Schulaufficht nothwendig zurüdführt. Freilich it es der rechtliche Gefichtspuntt, 
der im gefellichaftlichen Streit zuleßt zur Geltung fommt. 

In Preußen, wo das Spyitem der konfeſſionellen Schulen jeit 1848 nod) 
einmal die afutefte Gejtalt gewonnen hatte, iſt die Rückkehr zu dem hiſtoriſch ge— 
wordenen Recht durch Gef. v. 11. März 1872 erfolgt: „Unter Aufhebung aller 
entgegenitehenden Beitimmungen jteht die Aufficht über alle Unterrichts: und Er— 
ziehungsanftalten dem Staate zu. Demgemäß handeln alle mit diejer Aufficht 
betrauten Behörden und Beamten im Auftrag des Staats. Die Ernennung der 
Lokal- und Kreisichulinipeftoren gebührt dem Staat allein. Sachlich entiprechen- 
der wäre der Ausdrud: „Staatlihe Oberaufſicht“, infofern ala das nähere 
Recht der Familie und der jchulunterhaltenden Gemeinde vorbehalten bleibt. Aus 
dem firchlichen Streit der Gegenwart wird ſich ala dauerndes Rejultat auch wol 
das Anerfenntniß erhalten, daß den Kirchen als organifirten Körperſchaften ein 
maßgebender Antheil am Religionsunterricht und eine Stimme in der Regelung 
des Schulplans gewahrt werden muß. Nur in der zuſammengeſetzten Geſtalt, welche 
die Schulfuratorien durch Mitglieder der Ortsobrigfeit, der Gemeindeverwaltung, 


604 Schulbauten, Schuibeiträge, Schulgeld. 


der Geiftlichkeit und des Schulperjonals erhalten, laſſen ſich die Schwierigkeiten 
löſen, welche jede Gemeinschaft eines Unterrichts für verichiedene Konfeffionen in 
Auswahl der Lehrer, der Lehrbücher, im Gejchichtsunterricht ac. darbietet. Immer 
wird das Gedeihen jolcher Anjtalten am meiften von der Fürſorge der zu nächſt 
daran Betheiligten abhängig bleiben, und in dem engeren Sreife der KHuratorien 
findet die individuelle Nüdficht auf die fonfeffionelle Mifchung der Bevölkerung die 
geeignete Beachtung, welche in einer ftaatlichen Uniformirung des Unterrichtsweiens 
nach Franzöfiichem Mufter nicht zu finden ift. Während aber der kirchliche Antbeil 
die nothwendigen Seiten der Sonderung darftellt, jo hat der Staatsantheil die 
nothwendigen Glemente der Gemeinſamkeit aufrechtzuerhalten. Unentziehbar bleibt 
daher dem Staat die Oberleitung und ein superarbitrium, um gegen die Ausjchließ: 
fichkeit der kirchlichen Beitrebungen die nationale Gemeinjfamfeit des 
öffentlihen Unterrichts durch feine Auffichtsrechte zu erhalten und mit ftaat: 
lichen Mitteln zu erzwingen. 

Lit.: Bol. Sneift, Die konfeffionelle Schule, Berlin 1869. — In ber überreichen kirch— 
lichen und päbagogiihen Lit. Deutjchlands fommt die nothiwendige Rüdficht, welche die Fach 
männer auf bie Haatöredhtlichen Derhältnifie ihres Landes (Rarität der anerfannten Kirchen, 
Schulzwang, Schulunterhaltung, Gemeindeverfaffung) zu nehmen haben, bis jet nur langſam 
zur Geltung. Gneift. 


Schulbauten, Schulbeiträge, Schulgeld. Die Aufbringung der Koſten 
für die öffentlichen Schulen fonnte nicht wol ein Gegenftand bejonderer Recht 
bildung werden, folange das öffentliche Schulwejen Lediglich als Annerum der Kirche 
galt (j. den Art. Schulaufficht). Nur in den Städten waren gegen Gnde des 
Mittelalters gelehrte Schulen auch aus ftädtifchen Mitteln begründet worden. Erſt 
jeit der Reformation famen auch dürftige Anfänge eine Elementarunterridts 
zur Gricheinung, deren Ausdehnung auf das platte Yand jeit dem XVII. Jahrh. 
Gegenftand äußerſt verwidelter Anordnungen wird, welche bier vorzugsweiſe zu 
erörtern find. 

In den fatholifchen, wie in den proteftantiichen Ländern Deutichlands hatten 
fich die Anfänge eines Volksunterrichts an die alte kirchliche Vorſchrift angeichlofien, 
ut presbyter clericum habeat, qui possit scholas tenere. Die Küſterei war zugleich 
die Schule. Die Wohnung, das Küſterland, die Gebühren und Accidentien des 
Küſters bilden die urfprüngliche Ausjtattung der Volksſchule und gehören dazu 
meiſtens noch heute. In den Nicht-Piarrdörfern und an den Stellen, wo ſich das 
Küftereinfommen unzureichend erwies, begann man ſeit dem XVII. Jahrh. all» 
mählich auf die Schaffung eines befonderen Schuleintommens Bedacht zu nehmen. 
In der Weiſe der Zeit geichah dies meiftens durch landesherrliche Verordnungen, 
durch welche alle „Vaſallen, Amtleute“ zc., d. 5. alle Ländlichen und jtädtiichen 
Obrigfeiten angewiejen werden dafür zu forgen, daß die Kinder des Volks in Leſen 
und Schreiben und den nothwendigjten Anfängen der Wiſſenſchaften unterrichtet 
werden. Die Ausführung blieb nad) Maßgabe der Gemeindeverfafjungen den Bes 
theiligten unter Aufficht der landesherrlichen Behörden überlafien, woraus im Wege 
der Autonomie jehr ungleiche Verhältnifie hervorgingen, von denen die Entwidelung 
des Preuß. Staat? das vollfte Bild giebt, weil hier alle Schwierigkeiten der Trage 
fich auf einander häuften, von denen die Mittel- und Kleinſtaaten nur die eine oder 
andere Seite zu überwinden hatten. 

1) Die erite Grundlegung erfolgt namentlich in den fleinen Landgemeinden 
nad) primitiven Grundfägen der Naturalwirthichait. Gutäherrichait und 
Gemeinde verschaffen dem Lehrer eine nothdürftige Schul- und Wohnjtube, gewähren 
ihm die nothwendige Teuerung, deren Anfuhr und Zubereitung zu einem Reihedienit 
der Gemeinde wird. Zumeilen wird dem Xehrer auch die tägliche Koſt jo gewährt, 
daß er bei den Wirthen reiheum zu Tifche geht. Die Gewerbeverfafjung der Zeit 
wurde häufig dazu bemußt, einem Schneider oder anderen Handwerker das Privi— 


Schulbauten, Schulbeiträge, Schulgeld. 605 


legium des Gewerbebetrieb auf dem Dorf zu gewähren gegen die Verpflichtung, die 
Dorfkinder zu unterrichten. Zuweilen wurden die Lehreritellen mit Militärinvaliden 
beießt. Da bis zum Schluß des XVIII. Jahrhunderts das Elementarlehrerthum 
noch nicht als Berufsftand galt, jo konnten bier die mannigfaltigjten Kombinatiorien 
nüßlicher Hantierungen zum Borjchein fommen. 

2) Den zweiten Schritt bildet das Gebührenprinzip durch Einführung des 
Schulgrojhens oder Schulgeldes. In Anerkennung des Grundjaßes, daß 
die Gemeinde für beftimmte geldwerthe Leiftungen ein Aequivalent von den Be- 
theiligten erheben könne, wurde von den Eltern der Schulkinder eine nach Köpfen 
berechnete Eleine Zahlung erhoben, die nicht jelten das einzige Baareinfommen des 
Lehrers bildete. Für unterthänige Leute gewährte oft der Gutsherr die Zahlung 
des Schulgeldes aushülflich, was im Preuß. IR. ala gejeliche Regel ausgeiprochen 
wurde. Dies Gebühreniyitem hat fich über ganz Deutichland verbreitet und kommt 
noch heute in den meilten Gebieten zur Anwendung. 

3) Den dritten Schritt bildet eine Ergänzung der Schuldotationen aus 
den allgemeinen Mitteln der Gemeinde, melde jchon im XVII. 
Jahrhundert häufig eintritt, im XIX. Jahrhundert eine immer breitere Grundlage 
erhält. Da nach dem Syitem des MWeitfälifchen Friedens die Befenner der katho— 
fifchen, Lutherifchen und reformirten Kirche meijtens in gejchloffenen Gruppen bei= 
jammen wohnen, jo erjcheint in den meiſten Zandestheilen die kirchliche und die 
politijche Gemeinde als identisch. Schloß fich daher auch die Schule an das 
kirchliche Syitem an, jo erichien es doch als natürliche Pflicht der politifchen Ge— 
meinde, die anerfannt gemeinnübige Anftalt aus ihren Mitteln zu unterjtüßen. 
Eine ftrenge Abgrenzung der Gemeindezwede hat in Deutichland überhaupt nirgends 
ftattgefunden. Es bildete fich daher in großen Gebieten ftillichweigend die Ob— 
ſervanz, nach der der politiiche Gemeindeverband für die Erhaltung der Volks— 
schule eintritt, jofern die jonjt vorhandenen Mittel nicht ausreichen. Die Mehrzahl 
der Mittel- und Sleinjtaaten, darunter auch Bayern, konnten mit diefem Grundiaß 
bis heute ausfommen. Die Schulunterhaltungspflicht trat damit auf den breiten 
Boden der Gemeindeautonomie, welche die Gemeindebedürfniffe in den mannigfaltigiten 
Geitalten von Reale, Perſonal- und Berbrauchsftenern aufbringt und nur für neue 
Steuerweijen die Genehmigung der Auffichtsbehörden vorbehält. Mit der Durch» 
führung gleichmäßiger, direfter Staatöfteuern erjcheint im XIX. Jahrhundert auch 
das Syitem der „Steuerzuichläge”‘ zu den Gemeindebedürfniffen, welches im Lauf 
des lebten Menjchenalters fich joweit ausgedehnt hat, daß es in Preußen den Ge- 
jammtbetrag der direkten Staatöfteuern bereit3 überjteigt. Die Erhebung befonderer 
„Schuliteuern‘ iſt wie das Syitem der Zwedjteuern überhaupt in den Deutichen 
Gemeinden nicht zur Regel geworden; kommt jedoch in den wejtlichen Provinzen 
Preußens, namentlich in den Städten, mehrfach zur Anwendung. 

4) Ein vierter Schritt war die Bildung bejonderer Gemeindeverbände 
für den Zwed der Erhaltung gemeinjchaftlicher Volksſchulen. Die Veranlaſſung 
dazu war in jolchen Yandestheilen gegeben wo ausnahmaweije eine gemifchte fatho- 
liſche und proteitantiiche Bevölkerung in fleinen Ortsverbänden jo beifammen lebte, 
daß die Bildung gejonderter Ortsſchulen im Anschluß an die Kirchenſyſteme zur Un— 
möglichkeit wurde. ine viel häufigere Beranlafiung lag in der Kleinheit vieler Ge— 
meinden, welche für fich allein eine Schule zu erhalten außer Stande waren. Noch 
eine Beranlaffung trat jpäter Hinzu, ſeitdem die Agrargefeßgebung des XIX. Jahr: 
hunderts die „Gutsbezirke'“ von den Dorigemeinden trennte, und nun die Gutöbezirfe 
in Der Regel außer Stande waren, für die Eleine Zahl ihrer fchulpflichtigen Kinder 
eigene Schulen einzurichten. Alle dieje Umftände trafen zufammen in der Preuß. 
Monarchie, und zwar am ftärfiten in der Provinz Schlefien. Auf diefem Boden 
entitand dad Syſtem der „Schuljozietäten“, d. 5. eine Neubildung von 
Gerneindeverbänden zu einem Einzelzwed, eine Bildung von „‚Berwaltungsgemeinden‘ 


606 Schulbauten, Schulbeiträge, Schulgeld. 


nach dem Syſtem des Englischen selfgovernment. Das Preuß. LER. unter dem per: 
jönlihen Einfluß des Großfanzlers von Garmer erhebt dies Syſtem fogar zur 
normalen Bildung mit einem neugebildeten Steuerfyitem. „Die Unterhaltung der 
Schulen liegt den jämmtlichen Hausvätern jedes Orts ob, ohne Unterichied des Glaubens- 
bekenntniſſes.“ Andererjeits ‚soll Niemandem wegen Berichiedenheit des Glaubens 
befenntnifies der Zutritt in öffentliche Schulen verfagt werden. Die Aufbringung 
der Mittel erfolgt in der Negel nach dem Maßſtab der direkten Staatäfteuern. 
„Sind jedoh für die Einwohner verichiedenen Glaubensbekenntniſſes von einem 
Drte mehrere gemeine Schulen errichtet: jo ift jeder Einwohner nur zur Unterhaltung 
des Schullehrers von feiner Religionspartei beizutragen verbunden‘ (Allg. IR. 
II. 12 8 30). Die NRechtiprechung der Gerichtshöfe hat dieſe landrechtlichen Schul: 
jozietäten als öffentlich-rechtliche Korporationen (Verwaltungsgemeinden) folgerichtig 
anerfannt und weiter gebildet. Das Syſtem derjelben wurde auch auf die neuen 
Kandestheile ausgedehnt, weil es ein unentbehrliches Glied des Preuß. Verwaltungs: 
rechts geworden war. Noch heute find in Preußen 55 000 kleine Kommunaleinheiten 
vorhanden, von welchen die Mehrheit feine Kommunalfchule für fich allein erhalten kann. 
Die noch vorhandenen 15 000 Gutsbezirke find dazu in der Regel außer Stande ebenio 
wie die noch vorhandenen 15 000 Hleingemeinden unter 200 Seelen. Dafjelbe gilt von 
vielen Taufend Gemeindeverbänden, in welchen eine fonfeffionelle Minorität wohnt, 
für die fich feine befondere Schule einrichten läßt. Das Syſtem der Schulfozietäten 
bejteht daher in Preußen in bunter Vermengung mit dem unter 3 bezeichneten 
Gemeindeprinzip. In großen Xandestheilen und zahlreichen Orten bat fih an 
Stelle der Schulfozietäten die Verbindung der Schullaft mit der politiichen 
Gemeinde ala Herkommen gebildet und erhalten. Die großen Gemeindeverbände, 
welche die dazu erforderlichen Mittel befien, find auf dem Wege der Autonomie 
demjelben natürlichen Zuge getolgt, jo daß im Jahre 1876 von 170 Ortichaften 
über 10000 Seelen etwa 150 die Schullaft ala gemeine Laſt der politischen Ge: 
meinde behandeln, nur etwa 20 noch als Sozietätslaft. Eben daraus ergiebt Fich 
nun aber 

5) als fünfter Schritt insbefondere für Preußen die Nothwendigkeit einer 
Regelung der Schulunterhaltungspflicht durch einheitliche Normen des Ver: 
waltungsrechts, aljo nad) einem dem Engliſchen selfgovernment analogen Syſtem. 
Der Preußiiche Staat ift damit nur zu Stande gekommen für die Provinz Preußen 
durch ein Provinzialgejeg von 1845. Als man im Begriff war, für die übrigen 
Provinzen gleichartige Geſetze zu erlaflen, ftieß man auf eine Reihe von Streit: 
punften, welche den Grlaß eines allgemeinen Schulgejeges bis heute verhindert 
haben, während in den Mittel- und Sleinftaaten die Aufgabe viel. leichter zu löſen 
war. Das Ziel diejer Gejehgebung ift unzweifelhaft die Behandlung der Schul- 
unterhaltung ala gemeine Kommunallaft, und zwar in der Weiſe, daß die laufende 
Unterhaltung den Ginzelgemeinden, die Schulbaulaft nur den größeren 
Verbänden, eine Reihe von Generalfoften der Staatskafſſe zur Laſt zu legen 
find. Der Grreihung diejes Ziels fteht bis jeßt entgegen (1) der Anſpruch der 
Kirchen auf die ausfchließliche Geftaltung der Schulen für die Kinder eines kirchlichen 
Bekenntniſſes, welche in der beanspruchten Weife mit dem Schulgwang, mit der 
gemeinen Laſt der Schulunterhaltung und mit der Eonfeffionellen Mifchung der 
Deutichen Bevölkerung in Folge der Freizügigkeit unvereinbar ift, (2) das Fort— 
bejtehen der Gutsbezirfe und der Aleingemeinden in Preußen, welches für die gröhere 
Hälfte der vorhandenen Kommunaleinheiten eine durchgreiiende gejeßliche Regel und 
eine angemefjene Bertheilung der Laften auf größere Verbände unausführbar macht, 
(3) die noch bejtehende Steuerautonomie der Gemeinden, welche ein jo buntes 
Syſtem der Vertheilung der Gemeindelajten erzeugt hat, daß es ſchwer wird, zwei 
benachbarte Land» oder Stadtgemeinden zu finden, welche ein und daſſelbe Syitem 
der Lajtenvertheilung für ihre Gemeinde und Schulbedürfniffe befolgen. Durch die 


Schulbauten, Schulbeiträge, Schulgeld. 607 


neueren Theorien don der „Konfeffionalität” der Schulen und durch die neuen 
Pläne einer grunditürzenden Steuerreform find diefe Hinderniffe noch vermehrt, jo daß 
vorausfichtlich erft aus einem unerträglich gewordenen Nothitand die Reform in der 
oben bezeichneten Richtung hervorgehen wird. ine akute Geftalt wird diejer Noth- 
jtand namentlich in den 170 Gemeinden über 10 000 Einwohner annehmen, welche 
ihon im Jahre 1876 32 000 000 Mark Für Unterrichtsgwede aufzubringen hatten, 
jo daß bereits in einzelnen Städten 100, 200 und mehr Prozent an Zufchlägen zu 
direften Staatöfteuern allein für Unterrichtszwecke aufzubringen waren. 

Einen beionderen Streitpunft innerhalb diejes Gebiets bildet das Schulgeld, 
defien Beibehaltung oder Abſchaffung. Die Gründe für das Gebührenprinzip 
in der Gemeindeverwaltung, welche e8 als recht ericheinen lafjen, geldwerthe 
Leiftungen, welche die Gemeinde nur beftimmten Perjonen gewährt, durch Beiträge 
der Betheiligten (jedenfalls zum größeren Theile) deden zu laſſen, fprechen auch für 
die Schulgelder. Diejelben Gründe, aus welchen es unbejtritten für die höheren 
Unterrichtsanftalten gilt, treffen zunächjt auch für die Volfafchulen zu. Die Korre— 
ſpondenz von Rechten und Laſten bleibt eine normale Grundlage alles Gemeinde- 
lebens, und es ijt wünfchenswerth, auch in den arbeitenden Klaſſen ein lebendiges 
Bewußtjein ihrer Gemeinfchaft im Gemeinde- und Schuldverband zu erhalten. Dies 
Bewußtjein beruht aber erfahrungsmäßig noch mehr auf der Theilnahme an den Laſten 
als auf der Theilnahme an den Rechten einer Körperichaft. Auch ift es eine befannte 
Erfahrung, daß der gemeine Mann die Einrichtungen befjer würdigt, zu denen er 
irgend Etwas beizutragen Hat, als diejenigen, deren Wohlthaten ihm einfach gefchentt 
werden. — Diejen Gründen, deren Berechtigung von den Gegnern nicht bejtritten 
wird, ſtehen indefjen gewichtige Gegengründe gegenüber. Es find analoge Gründe, 
wie diejenigen, die auch im Syſtem der perfünlichen Steuern zwar für eine Gleich- 
heit des Maßſtabs ſprechen, aber doch eine herabgleitende Skala für die nicht be- 
fitenden Klaſſen und unter Umftänden eine völlige Berreiung der unterften Stufe 
rechtfertigen können. Zunächjt trifft die Schulgebühr, wie das Kopfgeld gerade die 
Hausftände mit zahlreichen Kindern mit bejonderer Härte, während es im perjün- 
lichen Berband der Gemeinde wol angemefjen ericheint, die Familien mit geringerer 
Kinderzahl, die Kinderlojen und die Unverheiratheten mit heranzuziehen. In vielen 
Gemeindebeichlüffen und VBerwaltungsgejegen hat man mit Rüdficht darauf wenigjtens 
Abjtufungen der Schulgelder für die Familien nach den Stufen ihrer Einkommen— 
beiteuerung eintreten lafjen, die einen Uebergang zu dem Syſtem der reinen Steuern- 
aufbringung darjtellen. Weit ſchwerer in das Gewicht fällt aber der Umſtand, daß 
breite Schichten der Bevölkerung auch mit der jtrengften Verwaltungsexekution nicht 
zu den Schulgeldern herangezogen werden fünnen und deshalb „Freiſchule“ erhalten. 
Es entiteht dadurch ein KHlafjengegenja von „armen Schülern und ‚zahlenden‘ 
Schülern, der in pädagogifcher und fittlicher Hinficht den Geift der Schuljugend in 
der bedenklichſten Weiſe durchdringt und den Klaffenneid und Klaſſenhochmuth jchon 
auf den Schulbänfen nährt. Um diefen Uebelftand zu befeitigen, haben die größeren 
Stadtverbände es mit der Einrichtung bejonderer „Armenſchulen““ verfucht, damit 
aber noch jchlimmere Erfahrungen gemacht. Der Armenjchule ift vorweg ein Stempel 
der Inferiorität aufgedrüdt, der ihr Leben und Wirken lähmt und herabzieht, und 
den Klaſſengegenſatz durch äußere Scheidung der Jugend nur noch fichtbarer und 
fühlbarer macht. In einer Zeit, in welcher die Entfremdung der fozialen Klafjen 
fih in jo frankhaften Symptomen erfennbar macht, haben daher die größeren Städte 
auch das Syſtem der Armenjchulen meiftens freiwillig aufgegeben und anfehnliche 
Geldopfer nicht gejcheut, allen Kindern einen gleich guten Unterricht, frei von Schul— 
geld, anzubieten, wobei e8 dann den jog. Konoratioren unbenommen bleibt, den 
Glementarunterricht durch Privatlehrer, Privatfchulen oder durch die ſog. Elementar- 
Haffen Der gelehrten Schulen zu gewähren. Die gleihmäßige Richtung der ſtädtiſchen 
Gemeindebeſchlüſſe im legten Mtenjchenalter kann als Beweis dafür gelten, daß dies 


610 Schuldhaft. 


Endlich langte die Rechtsanſchauung in theoretiſcher Beziehung auf dem Stand— 
punkte an, geradezu leugnen zu müſſen, daß „aus dem Weſen des Rechts die 
Verpflichtung des Schuldners folge, mit feiner Perſon für die Erfüllung der ver— 
mögensrechtlichen Verpflichtungen in der Art einzuftehen, daß der Gläubiger befugt 
fei, ihn jeiner perjönlichen Freiheit zu berauben‘‘ ; in praftifcher Hinſicht aber hat 
fich gezeigt, daß die ©. dem freditjuchenden Publitum, dem Schuldner und deſſen 
Angehörigen regelmäßig nur Nachtheil und Leiden, ja jelbit völligen Ruin, häufig 
herbeigeführt durch niedrige YXeidenjchaftlichkeit des Gläubigers, diefem aber nicht 
den gewünſchten Wortheil bringe. Geleitet durch dieje und ähnliche Erwägungen 
und an der Hand einer genauen Statiftif über die bisherigen Griahrungen hob 
man nach dem Vorgang der Engl. und Franz. Gejeßgebung die ©. als Erefutions- 
mittel auch in Dejterreih, dann im Norddeutichen Bunde, in Bayern und im 
übrigen Deutichland auf. 83 1 des bezüglichen Norddeutichen Gejeßes, nun Deutichen 
Reichsgeſetzes, bezeichnet den Perfonalarreft infoweit als nicht mehr jtatthatt, als 
dadurch die Zahlung einer Geldjumme oder die Leiſtung einer Quantität vertretbarer 
Sachen oder Werthpapiere erzwungen werden joll; ähnlich das Defterreichijche und 
die übrigen Gejeße. (Das Franz. Gejeß von 1867 ließ die ©. zur Beitreibung 
von Gelditrafen und jtrafrechtlichen Schadenserfagichulden beftehen, zur Eintreibung 
der ſchuldigen Koſten des Strafverfahrens wurde die ©. in Frankreich wieder ein- 
geführt im Jahre 1871.) Damit ift die ©. in ihrer gewöhnlichen und wichtigiten 
Bedeutung, nämlich der eines Mittels zur Erzwingung einer civilrechtlichen 
Leiftung, aus der Reihe der civilprozefjualen Zwangsmittel entfernt worden. 

Dagegen bejtimmt $ 2 des erwähnten RGeſetzes, daß die gejeglichen Vorichriften, 
welche den Perjonalarreit geitatten, um die Einleitung oder Fortſetzung des Prozeß: 
verfahrens, oder die getährdete Erefution in das Vermögen des Schuldners zu fichern 
(Sicherungsarreft), unberührt bleiben, und verlegt jomit den FFortbeitand und die 
Ausbildung der Sicherungshaft, feine Borausjegungen und feine Ausführung in 
das partifulare Prozekrecht. 

Diefer Rechtszuftand währte im Deutichen Neiche nicht viel über 10 Jahre; 
ihn beendigte die Einführung der Juftizgefege, welche am 1. DOftbr. 1879 in Wirk— 
famfeit traten und zunächit den $ 2 des Neichägeiehes vom 29. Mai 1868 ywar 
aufhoben, dagegen ihrerjeits die Sicherungshaft zum Zwed der Sicherftellung einer 
gegen das Vermögen der Schuldner gerichteten Erefution geftatteten und die ©. 
auch in Bezug auf andere Fälle neu, eigenartig und für ganz Deutichland einheit— 
(ich normirten. 

Demnach ift als geltendes Recht im Deutjchen Reiche nun zu bezeichnen: 

1) Die ©. eriftirt als perfönlicher Sicherheitsarreit, zwar nicht mehr 
zum Zweck der Sicherung, der „Einleitung oder Fortſetzung des Prozeßverfahrens“ 
überhaupt, wohl aber — joweit erforderlich — „um die gefährdete Zwangsvoll- 
jtrefung in das Vermögen des Schuldners zu fichern“ (Deutiche CPO. SS 798), 
d. h. mit anderen Worten: ‚wenn zu bejorgen it, daß ohne die Verhängung 
diejes Perjonalarreits die Bolljtredung des Urtheils vereitelt oder wejentlich erichwert 
werden würde‘ (Deutiche CPO. $ 797), wozu auch der Fall zu ziehen ift, dak 
das Urtheil im Auslande volltredt werden müßte (j. v. Wilmowski und Levy, 
a.a.D.©. 918); dieje Art der ©. wird nur auf Antrag, aber möglicherweiſe ohne 
vorgängige mündliche Verhandlung von dem zuitändigen Amtägerichte (dem des 
Aufenthaltsortes de8 Schuldners) verhängt und entweder durch Haft oder durd 
ſonſtige Beichränfungen der perjönlichen Freiheit (4. B. durch Beichlagnahme von 
Zegitimationgpapieren oder von Reifemitteln, durch Stadt= oder Hausarreſt u. j. w. — 
Deutiche CPO. $ 812 und die Kommentare hierzu) nach gejeßmäßiger Anordnuna 
des Arreftgerichts vollzogen. 

2) Die ©. ala Sicherheitshaft des Gemeinfchuldnerg im Konkursverfahren; 
wenn Gefahr beiteht, daß der Gemeinjchuldner feine perfönliche Freiheit zu Ver: 


Schuldſchein. 611 


mögensverſchleppung, Kolluſionen u. dgl. gebrauchen werde, kann das Gericht zum 
Zwede der Sicherung der Mafle, wo es nothwendig ericheint, ebenſo wie dann, 
wenn der Schuldner die ihm * Geſetz auferlegten Pflichten nicht erfüllt, die 
Haft deſſelben anordnen (KO. $ 98). 

3) Die Haft zur Erpvingung des Dffenbarungseides,; hierüber j. SS 782—795 
der Deutichen CPO. 

4) Die Haft zur Erzwingung des Zeugniffes, welches ein Zeuge abzulegen 
ohne Grund fich weigert; über Vorausfegungen, Dauer u. j. w. diefer Haft 1. 
$$ 845, 355 der Deutichen CPO. 

5) Die Haft zur Erzwingung nichtvertretbarer Handlungen des verurtheilten 
Schuldners; wenn ein Schuldner zur Vornahme einer Handlung, welche nicht von 
einem Dritten vorgenommen worden, verurtheilt ift, diefe Handlung aber, obtwol 
fie ganz von feinem Willen abhängt, nicht vornimmt, jo fann das Progeßgericht 
aut Antrag erfennen, daß der Schuldner zur Vornahme diefer Handlung durch 
Geldjtraien bis zum Grundbetrage von 1500 Markt oder durch Haft (bis zu 6 
Monaten) anzuhalten jei; Gingehung der Ehe und Herſtellung des ehelichen Lebens 
find jedoch ala nicht erzwingbar hiervon ausgenommen (Deutiche (PO. $ 774). 

6) Die Givilhait als Straihait; wenn der Schuldner einer Omiſſiv- oder 
Duldungshandlung zumiderhandelt, jo ift er wegen einer jeden Zumwiderhandlung 
auf Antrag des Gläubiger von dem Prozeßgerichte zu einer Gelditraie bis zu 500 
Marf oder zur Strafe der Haft bis zu 6 Monaten (im Ganzen aber nur bis zu 
2 Jahren) zu verurtheilen (Deutiche CPO. 8 775). 

Dieje 6 verichiedenen Arten der „‚Givilhait‘ des heutigen Deutjchen Rechts find 
ihrer Natur nach jehr verichieden: kann die unter Ziff. 2 erwähnte Haft des Kon— 
fursjchuldnerd noch unter den Begriff der Sicherheitshait (S. in diefem Sinne) 
geitellt werden, jo nähert fich die unter Ziff. 5 erwähnte „Zwangshaft“ jehr be— 
deutend der eigentlichen S. als Erefutionsmittel, während die unter Ziff. 3 und 4 
mehr den Gharafter von Lediglich im Intereſſe der progefjualiichen Ordnung zus 
gelafjenen und anzumendenden Zwangsmaßregeln und die unter Ziff. 6 den Charakter 
der Strafe tragen. 

Quellen: Franz. Gele vom 18./22. Juli 1867. — Defterr. Gele dom 4. Mai 
1868. — Norbb. Gejek vom 29. Mai 1868. — Großherz. AR Geſetz vom 7. Aug. 1868. — 
Württemb. Gele vom 8. Yan. 1869. — Bayer. vom 6. April 1869. — Bad. 
Geſetz vom 12. Fehr. 1870, jämmtlich die Aufhebung der — etr. — Das Nordd. Bundesgeſ. 
vom 29. eig Mai 1868 ift nunmehr Deutſches Reichs eith, —— Geſetz sur la contrainte 
par corps, 27 juillet 1871. — Preuß. Allgem. Ger.D. 29. — Preuß. R2D.$ 138. — 
Norbb. d, Gele vom 21. Juni 1869. — Deutice SPD. rn 780..808, 174, 775, 345, 355. — 


Bit.: Mh: Syftem des orbentl. Civ. Prz., $ 30 Ziff. 2, 8 50 Ziff. 2 und bie dort 
eit. Lit. — Ueber Einlager: Stobbe, Zur Gedichte des Deutſchen Vextragsrechts, 
S. 178 — Neber Aufhebung ber ©. 1. Ullmann, ft die körperliche Haft ein zu: 
Läjfigeö xefutivmittel in Givilpro zageblachen ( (in der Deutichen ra 1866); an elbe, 
Die Zukunft der S., Berlin 13 Motive zum Norbd. Geſetz vom 29. Mai 

Annalen bed Norbd, Bundes, 2b. I. (1868) S. 806 fi. — nt Leſſe, Die Berharlun * 
— Nordd. Reichſstags über Aufhebung — 4— Berl. g 68. Ueber das F 


Deutſche Gerichtsztg. Bd. III. (1867) ©. 7 ft. — ferner: Ueber bie — Ye 
ee amuely in Goldſchmidt“ . at je: das 8 Bd. XV. 110—147 
(1870). — v. Wilmowäti u. Levy, ufl 09 ff. u. a. a. O. — ——— 


Seuffert, Komment. zur EBD. zu 8 7% & 800 ir u.a. a. D. bie übrigen Komment. 
der EPD. u. KO. — Ercole Vidari, Di alcuni progetti di legge sulle cambiali, Bologna 
1871, p- 54 5. — Thöl, H.R., Bd. II. Wechſelrecht, SS 17, 198, 203, 204 (4. Aufl.). — 
Selırıa De la contrainte par corps, 1870. areis. 


Schuldſchein iſt die urkundliche Bezeugung eines Schuldverhältniffes durch 
den Schuldner bzw. deffen Vertreter. Das Röm. Recht hat den ©. (chirographum) 
erit in Der Kaiferzeit von den Griechen entlehnt und neben die altrömifche cautio 
geftellt, welche letztere nur ein Referat über den mündlichen Vertragsichluß zum 

39 * 


612 Schuldſchein. 


Anhalt für die Zeugen enthielt und eben darum meiſt nicht vom Schuldner, ſondem 
vom Deſtinatär der Urkunde geſchrieben wurde. Zu Juſtinian's Zeit iſt Dice 
Zeugenurfunde faſt gänzlich verſchwunden, und der ©. in ſubjektiver Fafſſung weite 
ausgebildet. (Vgl. Brunner, Zur Rechtögejchichte der Urkunde, Bd. I. ©. 44 fi) 
Eine bejtimmte Form des ©. ift nicht vorgefchrieben. Er wird durch Unterichritt 
vollzogen. Nur das Preuß. Allg. ER. I. 11 $ 730 feßt noch weiter feft, was zu 
einem „vollftändigen” (Darlehns-)S. erfordert werde, jo daß der Darlehnägeber nur 
gegen Ausftellung eines folchen zu zahlen braucht. Die rechtliche Abficht der Par 
teien, nach welcher fich die Bedeutung und Wirkung des ©. beftimmt, kann zunächt 
darauf beichränft fein, dem Gläubiger ein Beweismittel zu verfchaffen. In diejen 
Falle enthält der S. ein aufergerichtliches Geftändniß und Liefert daher, jobald der 
Aussteller ihn dem Gläubiger übergeben hat, vollen Beweis der Thatjachen, die ı 
bezeugt; durch Gegenbeweis wird er widerlegt. Es fragt ſich aber, ob aud ein 
weitergehende Abficht und Wirkung möglich ift. Dieje Frage wird befonders wichtig 
bei generellen oder gar abſtrakten S., welche die Faſſung haben: „Ich befenne dem 
X. 1000 Mark aus einem Kaufe jchuldig zu fein“, refp. „Ich befenne dem X. 
1000 Mark jchuldig zu fein“. Denn dieje find zum unmittelbaren Beweije von 
Thatjachen nicht geeignet. Das jpätere Röm. Recht hat jolcher cautio, quae indiscrete 
loquitur, d. 5. worin der Auäfteller nicht ipse specialiter causas explanavit, pro 
quibus eandem conscripsit, die Beweiskraft abgeiprochen (1. 25 S 4 D. de prob. 
22, 3 und 1. 13 C. de non num. pec. 4, 30) und demgemäß erklärt die her 
gebrachte Lehre einen der thatjächlichen Spezialifirung entbehrenden S. (og. 
cautio indiscreta) für kraftlos. Allein gegen diefe Lehre iſt eine Reaktion eingeleitet 
worden durch das unten bezeichnete Buch von Bähr. Manche glauben nun jchon 
durch Annahme einer Präfumtion Helfen zu können, des Inhalts, daß es ſich mit 
dem Gntitehungsgrunde der Schuld fo verhalte, wie der Inhaber des ©. angebe 
(Buhl, ©. 44). Das ijt jedoch theils willkürlich, theil® unzureichend. Eine zweite 
Gruppe von Schriftitellern erblidt in der Ausftellung eines S. wenigftens injofern 
einen Bertrag (jog. Beweisvertrag), als der Schuldner damit erkläre, für das 
von ihm Zugeftandene feinen weiteren Beweis vom Gläubiger verlangen zu wollen ; 
danach werde auch durch ein generelles oder abſtraktes Schuldbefenntnig das Vor— 
bandenfein einer Schuld erwiejen; da e8 aber zur Klage einer thatjächlichen Sub» 
itantiirung der Schuld bedürfe, jo fei bei derartigen ©. die Klage nicht auf die 
anerfannte Schuld zu gründen, jondern vielmehr auf dad mit der Anerkennung meift 
verbundene oder doch aus ihr zu entnehmende Konftitut (Zahlungsverſprechen) 
So Bruns, ©. 127—130; ähnlich Schlejinger u. a. m. Die Schwäche dieſer 
Theorie liegt theil in der Unterftellung eines Konjtituts, theils in der infonfequenten 
Annahme, daß der ©. zwar nicht von der Subjtantiirung der einzuflagenden For— 
derung, aber doch von derjenigen der fonjtituirten Hauptſchuld dispenfiren könne. 
Eine dritte Anficht geht davon aus, daß dem ©. eine Über das Gebiet des Beweiſes 
hinausreichende, verpflichtende Abficht, ein materieller „Anertennungsvertrag” zu 
runde liegen könne, des Inhalts, daß der Ausſteller das Anerkannte nicht be» 
itreiten wolle. In Ddiefem Sinne gemeint werde der ©. aus einer Beweis— zur 
Diepofitivurfunde Er könne diefe Bedeutung bei jpezieller, wie bei genereller 
Faffung Haben; ob er fie habe, hänge von der Abficht der Parteien ab. Die Kon— 
jequenz diefer Bedeutung iſt e8, daß der ©. nicht durch Gegenbeweis widerlegt, ſon— 
dern nur durch Anfechtung nach den Regeln der Kondiktionen entkräftet werden, und 
daß der Gläubiger aus dem Anerfennungsvertrage als ſolchem, ohne auf die aner- 
fannte Schuld zurüdgehen zu müffen, flagen fan. Hierfür Windſcheid, Lehrb. 
Ss 4123; Unger in den Jahrb. j. Dogm. VII. Nr. 7 u. a. m. Noch weiter 
geht die von Bähr aufgejtellte Lehre, nach welcher der ©. in allen Füllen Ber: 
pflihtungsgrund fein und eine neue von der urjprünglichen causa losgelöſte Schuld 
erzeugen ſoll. Dieje letzte Lehre geht entichieden zu weit und thut dem Parteiwillen 


Schulen — Schullehrer. 613 


Gewalt an. Zwiſchen der zweiten und dritten ift die praftiiche Differenz nicht jehr 
bedeutend. Sie beſteht hauptjächlich darin, daß die erftere auch bei unentſchuldbarem 
Irtthum Gegenbeweis, die letztere nur bei entjchuldbarem Anfechtung zuläßt. Den 
Vorzug verdient aus praftifchen, wie aus theoretijchen Gründen die letztere. Auch 
jene beiden Römifchen leges jtehen nicht im Wege, da fie mit der Theorie der Sti— 
pulation, wie fich diefelbe in der Kaiſerzeit entwicelt hatte, eng zufammenhängen 
und mannigiacher Deutung fähig find (vgl. Windſcheid, $ 412b Anmerf. 2). 
Fraglich kann nur fein, woran man erkennt, ob die Abficht der Parteien auf Be: 
weismittel oder Berjprechen, auf Konftatirung oder Konftituirung einer Schuld ge- 
richtet war. Man wird für das erftere präfumiren müffen, wenn der Inhalt des 
©. mehr Thatfachen, für das zweite, wenn er mehr Rechtsverhältniffe bezeugt. Die 
letztere Auffaffung muß auch dann Pla greifen, wenn ein ©. über ein gegebenes 
Darlehn ausgeitellt wird, während ein jolches weder gegeben war, noch gegeben 
werden follte. Anders freilich SS 866, 867 des Allg. ER. I. 23. Dal. jedoch 
Dernburg, Lehrb., II. $ 15 Anm. 13. Der ©. muß vom Gläubiger gegen Em- 
piang der Zahlung zurücdgegeben werden ($ 125 des Allg. LR. J. 16). Aus jeder 
Rüdgabe de8 ©. durch den Gläubiger, jowie aus der von letzterem bewirkten Kafja- 
tion des ©. entipringt die Präfumtion, daß die Schuld getilgt jei (1. 24 D. de 
prob. 22, 3; $ 97 des Allg. ER. I. 16). Näheres bei Windſcheid $ 344 Anm. 
5 ımd Dernburg, II. $ 97. Befondere Beftimmungen gelten über den ©. beim 
Darlehnavertrag (f. diefen Art.). 

Lit.: Die Lit. ift im Allgemeinen diejelbe wie in Beaug auf den Anerfennungs: 
vertra 2 N biejen Art.) — dt Tg ift: Bähr, Die re. ala Verpflichtungs: 
grund, 2. Aufl., Kafſel u. Gött. 1867.— Bruns, Zeitjchr. für Rechtägeichichte, I. S. 118 ff. 
u. Th. I. ©. 421—422. — Buhl, Beiträge zur Lehre dom Anerfennungsvertrag, — 
1875. — Karlowa, Das Rechtsgeſchäft, S. 262. ck. 


Schulen, konfeſſionelle und Simultanſchulen, ſ. Schulaufſicht. 


Schullehrer. Ein beſonderer Berufsſtand der Lehrer, insbeſondere der 
Volksſchullehrer, konnte in der Europäiſchen Welt ſich nicht bilden, ſo lange die 
Schule lediglich als Annexum der Kirche galt. Der Lehrer iſt nach dieſer Auffafſung 
ein Glied der kirchlichen Hierarchie, der Ortslehrer ein dem Presbyter untergeordneter 
„Klerikus“ zur Katechiſation. Univerſitäten, Akademien und eine Anzahl gelehrter 
Schulen können fi) als privilegirte Körperjchaften unter dem Proteftorat des Staates 
der Kirche in einer gewiſſen Selbjtändigfeit nebenordnen, bleiben aber doch ein Glied 
des konfeſſionell fundirten Staates (j. d. Art. Schulaufſicht). Dies Verhältnik 
bat ſich in den weitlichen Kulturftaaten ala Regel erhalten mit der Einheit der 
Staatöfirhe. Auch in Deutſchland entitand in dem Zwieſpalt der Kirchen zu- 
nächft noch fein bejonderer pädagogifcher Beruf, in welchem fich Lehre und Erziehung 
unabhängig von einem firchlichen Syitem ala Berufsftand gejtaltet hätten. Univer— 
fitäten und gelehrte Schulen bilden nur privilegirte Körperichaften in einer gewifjen 
Selbjtändigfeit neben dem Landesfirchenregiment. Auch ala im 18. Jahrhundert 
die Volksſchule als „Veranſtaltung des Staats“ fich gewiffermaßen zwijchen die 
Kirchen stellte, hörte die Abhängigkeit der Ortsſchule von den „Lirchlichen Oberen“ 
nicht auf, und für das zahlreiche Perfonal der Elementarlehrer fehlten zunächit alle 
Vorbedingungen zur Anerkennung eines bejonderen Berufsſtandes. Soweit der 
Lehrer mit dem Küſter identifch war, haftete ihm die wenig geachtete Stellung der 
niederen Kirchendiener an. Soweit Lehrer und Küſter nicht identijch waren, ergänzte 
fih das Lehrerperfonal aus den niederen Handwerfen und anderen wenig geachteten 
Schichten, und e& war nur das Bewußtjein eines wichtigen, für die bürgerliche Ge- 
jellichaft umentbehrlichen Berufes, welches ein gewifles Selbjtgefühl in dem dürftig 
ausgeftatteten Lehrerftand erhielt. Die durchgehende Unterordnung des Ortslehrers 
unter die Gutäherrichaft, die landesherrlichen Aemter und die Stadtmagiftrate im 


614 Schullehrer, 


Patrimonialjtaat gab auch dem Lehreritand einen Anflug von der Stellung der 
unterthänigen Klaffen gegenüber der herrichenden Klaſſe. Als gegen Ende des 18. 
Jahrhunderts die Lehrerfeminarien einige Bedeutung erhielten, jo war es doch immer 
nur der Eleinere Theil der beſſer ausgeitatteten Stellen, welcher mit einem berufsmäßig 
ausgebildeten Perjonal bejet werden konnte. Auch in Preußen wurde erit jeit der 
Verjüngung des Staats nach den Niederlagen von 1806 die Seminarbildung als 
organiiches Glied dem allgemeinen Unterrichtsſyſtem eingefügt. Es blieb damit aud 
in der Preußiichen Gefeßgebung eine weite Kluft zwifchen dem jtudirten Lehrer und 
dem unjtudirten unausgefüllt. Während jener jchon gegen Ende des 18. Jahr: 
hunderts die wichtigiten Privilegien und Jmmunitäten der Staatsbenmten erhalten 
hatte, jo wußte man dem unftudirten Lehrer noch immer feine Stellung in der 
Hierarchie des Staats und der Gefellichaft anzumeilen. Auf die große Zahl der 
Glementarlehrer das Privilegium eines erimirten Gerichtäjtandes und manche ander: 
Beamtenprivilegien auszudehnen, trug man aus guten Gründen Bedenken. Aber 
auch in Bezug auf Gehalt und Penfionsberechtigung fehlten durchweg die Geld: 
mittel, um den Lehrerjtand mit feinem ganzen Perjonal unter die „unmittelbaren 
oder mittelbaren Diener des Staates“ einzureihen. Erſt jeit der Zeit der Freiheit 
friege beginnt mit dem Aufwachſen der jtaatsbürgerlichen Geſellſchaft auch die Ein 
reihung des ganzen Lehrerftandes in die höhere Stellung des Staatödienerthums, die 
um jo leichter ausführbar wurde, ſeitdem der privilegirte Gerichtäjtand und einige 
andere Jmmunitäten der Beamten weggefallen oder ermäßigt waren. Mag in ben 
Verf.Urk. oder Berwwaltungsgejegen ihre Stellung ala „Staatsdiener“ ausgejprochen jein, 
oder nicht, jo haben fich doch überall diejenigen Momente entwidelt, auf die es in 
der Sache ankommt. 

1) Die Lehrerbildung wird auf ein verwaltungsrechtlich beſtimmtes Maß 
einer berufsmäßigen Vorbildung geſtellt, und eine durch geordnete Prüfungen zu er: 
werbende Qualififation bildet die Vorbedingung zum Lehramt, neben welcher ein 
unvdollitändige Vorbildung in privaten Präparandenanjtalten nur noch aushülflic in 
Nebenſtellen oder jehr gering dotirten Landſchulen zugelaffen wird. 

2) Nüdfichtlich der Anftellung kommen die normalen Grumdjäge des Amts 
rechts zur Geltung : fie erfolgt entweder unmittelbar durch die Staatsbehörden oder 
auf Nomination eines Patrons oder einer Gemeindebehörde nach den Grumbdjägen 
vom „mittelbaren“ Staatsbeamtentgum unter Beitätigung der Auffichtsbehörde. Die 
Anftellung ift eine grumdjäglich lebenslängliche, die Dienftentlajjung md 
die disziplinariſche Beitrafung nach den Grundfägen des Deutichen Beamten 
rechts geregelt. 

3) Gehalt und Penjionsberehtigung werden auf dem Fuß des nor 
malen Amtsrechts geſtellt. In manchen Kleinjtaaten find Minimalgehalte, Alter: 
zulagen und Penfionsjäte jogar gejeglich firirt, wie dies in einem Kleinftaat in der 
Ihat ausführbar ift. In Preußen und in den größeren Staaten ift auf dem Weg: 
der Regulative eine gewiſſe Gleichmäßigkeit durchgeführt, wie dies bei der großen 
Verichiedenheit der Bedürfniffe und Gewohnheiten der einzelnen Zandestheile auf 
führbar war, und auch eine Penfionsberechtigung nach einem bejcheidenen Maßſiab 
ift jegt wol überall anerkannt. 

Sp reift von dieſer Seite aus das Unterrichtäweien einer allgemeinen ge⸗ 
jeglichen Organifation auch von unten herauf entgegen. Den Beichwerden de 
Lehreritandes ift in den wejentlichiten Punkten abgeholien, und trog mancher Schwan: 
fungen in den Verwaltungsſyſtemen des letzten Menfchenalters ift wol nirgends ein 
Rüdjchritt erfolgt. Die zumeilen übertriebenen und unausführbaren Forderungen de 
Lehreritandes beruhen auf der Einjeitigfeit, die in jedem geichloffenen Berufskreis zur 
Ericheinung kommt, und welche fich nicht genügend klar macht, welche Hemmniſſe ie 
den Reiche und Finanzverhältniſſen des Staat? und der Kommunen einem rajchern 
Fortſchreiten entgegenstehen. 


Schulting — Schulzwang. 615 


Sit.: Vgl. vorzugsweiſe 8. v. Stein, Die innere Verwaltung se Theil ber Ber: 
mwaltungslehre: Das Bildungswejen) und K. U. Schmid, Encyklopädie des gefammten Er: 
ziehungd- und Unterrichtsweſens (jeit 1859) in ben betr. Artikeln. Gneift. 


Schulting, Anton, 5 1659 zu Nymmegen, ftudirte in Leyden, wurde 1694 
Profeffor in Harderwyf, 1718 in Leyden, T 1734. 

Schriften: Diss. de recusatione judicis, Fran. 1708; Lugd. Bat. 1714. — Enarratio 
Br Iae Dig., Lugd. Bat. 1720. — Jurisprudentia antejustinianea, Lugd. Bat. 1717; Lips. 
837. — Thesium controv. decades C., 1738. — Commentationes academicae, ed. Uhlius, 
Hal. 1770—1774. — Notae ad Digesta, ed. Smallenburg, Lugd. Bat. 1804—1835. 

git.: Rivier. — Haubold. — Hugo. TZeihmann. 


Schulzwang. Der S. oder die allgemeine Schulpflicht ift im Laufe 
der lebten Jahrzehnte in allen Kulturjtaaten Europa's ala ein Streitpunkt der 
politifchen und kirchlichen Parteien in den Vordergrund getreten. Seine Entjchei= 
dung hängt von der Borfrage ab, ob der Staat fich auf den ſog. Rechtszweck zu 
beichränfen, oder ob der Kulturzweck zu jeinen wejentlichen Aufgaben gehört. 
Schon das Mittelalter hat diefe Frage bejaht, indem «8 für die geiftige und fittliche 
Hebung des Volfes einen eigenen Berufsftand und ein eigenes Staatäwejen bildete 
in der monarchiſchen Verfaſſung der Römifch-fatholifchen Kirche. Der kirchliche 
Staat umterjcheidet auch bereits eine Elementar= und eine Berufsbildung. Die 
letztere bietet er in reichem, aber ungleihem Maße in jeinen gelehrten Schulen der 
freien Benußung des Laienthums an. Für den erfteren behauptet er eine er— 
jwingbare Verpflichtung aller Laien, die Heilawahrheiten und Gittengebote fich 
von der Kirche lehren zu laſſen, und betrachtet dieje Lehre ala ausreichenden „Volks— 
unterricht” überhaupt. Der Lehrzwang wird damit zum Glaubenszwang und theilt 
das Schidjal der Veräußerlichung und ftändifchen Zerjegung der Kirche am Schluß 
des Mittelalters. 

Mit der Reformation beginnt der Zwiejpalt des kirchlichen und weltlichen 
Staates ſich zu löſen: es bleibt aber noch die mittelalterliche Grundidee der ſtaat— 
lichen Einheit des Glaubens und damit das jus reformandi der Staatsobrigkeit 
ftehen. Erſt aus dem Kampfe der verfchiedenen Belenntniffe unter einander (in 
Deutfchland insbejondere aus der Bereinigung katholischer, Lutherifcher und refor- 
mirter Landesgebiete unter einem Landesherrn) entwidelt fich langſam fortjchreitend 
der Grundia der Glaubensfreiheit, der Befenntnißfreiheit, der freien Religionsübung 
und Gleichheit der Belenntniffe, der Unterrichtöfreiheit und der Aufhebung der Genfur. 
63 ift die Ehre des Germanifchen Geijtes, an der Spitze diefer geijtigen Berreiung 
zu ftehen, ebenjo in der alten wie in der neufolonifirten Welt. Gerade in diejem 
tiefer erfaßten Grundſatz der Lehrfreiheit entfteht in den Nordbamerifanifchen Frei— 
ftaaten und in Deutichland, Hand in Hand damit, der Grundjah des „S.“, und zwar 
aus folgender Betrachtung. 

Die abjtrakte Unterrichtsfreiheit ebenfo wie die abjtrafte Erwerbsfreiheit beitehen 
praftifch nur für die befißenden Klaſſen; für die große Mehrheit dev Bevölkerung 
haben ſie nur eine negative Bedeutung. Die unteren Schichten der Gejellichait haben 
nicht die Mittel, oft nicht die Einficht und den Willen, jolche jafultative Freiheiten 
iachgemäß umd gleichmäßig zu verwirklichen. Erſt von dem höheren Standpunft der 
Gemeinschaft aus lafjen fich diefe Mängel und Ungleichheiten überwinden. Wie der 
Staat als fittliche Gemeinjchaft den Beruf hat, die Lebensexiſtenz des Erwerbs— 
unfähigen durch eine Zwangsarmenpflege zu beichaffen, jo Hat er den Beruf, die 
geiftige und moralifche Eriftenz der unmündigen Jugend zu fichern, weil fie jelbit 
dafür nicht zu forgen vermag. In Achtung vor dem Kreis der Familie überläßt 
er dieje Fürſorge zumächit dem Haufe. Aber die Gewalten des Haujes find nicht 
mehr abjolute wie im Römiſchen Altertum. Wo das Gebot der Liebe und der 
Pflicht im häuslichen Kreiſe verjagt, it im Germanifchen Leben von früher Zeit an 
ein Schußberuf des Staates für die paffiven Glieder des Hausverbandes zur Gel- 


616 Schulzwang. 


tung gekommen. Gr kann ſich dieſer Verpflichtung nicht entziehen, weil es ſeine 
eigenſte Sache iſt, für die Lebensbedingungen der Gemeinſchaft zu ſorgen. Es giebt 
aber in der That ein nothwendiges Minimalmaß geiſtiger Entwickelung, welches 
der in der Gemeinfchaft aufwachjenden Jugend erft die Möglichkeit eines menſchen— 
würdigen Dafeins eröffnet, welches zur Aufrechterhaltung des Nahrungs und Kultur— 
jtandes der Gejammtheit, ja jelbit für die Heeresverfaffung und die innere Sicher: 
heit des Staatslebens unentbehrlich ericheint. Wie diefe Elementarbildung unerläßlich 
für alle Staatsangehörige, jo ift fie die Vorausfegung und Einleitung für alle 
Weiterbildung in den höheren Stufen. Sie wird eben dadurch die Vorausjegung des 
geiftigen Verkehrs, der ineinandergreifenden Bewegung, des geiftigen Fortſchritts der 
ganzen Nation. Die in ihr gegebene Möglichkeit der Weiterbildung des Ein— 
zelnen wird zur Vorbedingung für die geiftige Bewegung des Ganzen. Gie fann 
daher weder von der zufälligen Auffaffung der einzelnen Familie, noch von den Be— 
figverhältniffen der einzelnen Familie jchrantenlos abhängig bleiben, wird vielmehr zum 
ftaatlichen Zwangsrechte in folgenden Grenzen: 

1) Der ©. beſchränkt ſich auf die Stufe des Elementarunterridhts, 
d. 5. auf das Maß intelleftueller wie religiöjer Bildung, welches nach der Kultur— 
jtufe des Volks „nicht ald Gabe einzelner Familien, noch ala ein bejonderes Gut 
einzelner Klaſſen der Bevölkerung, jondern ala das gemeinfame Bedürfniß Aller für 
Alle gewährt werden muß“. Es war zuerft das jtädtifche Leben, welches nach der 
Reformation die Nothwendigkeit erfannte, außer dem Religionäunterricht die An— 
fangsgründe der Wiſſenſchaft in diefen Kanon des allgemein Nothwendigen auf: 
zunehmen. Die Städte wurden damit die Wiegen der heutigen Volksſchule und 
eines eigenen Standes, der Volksſchullehrer. Der Wohlfahrtsftaat des 18. Jahr: 
hunderts Hat fi) von da aus des großen Gedankens bemächtigt, weil auch für ihn 
Bildung zur „Macht“ wird. Aus manchen Webertreibungen und Verirrungen diefer 
Richtung kommt die Heutige Zeit zu der Einficht, daß nur das gleihmäßig 
Durchführbare Gegenjtand des Zwanges fein fann, daß der Glementarunterricht eine 
organische Stufe des gefammten Bildungswejens bis zur höchiten Berufsbildung hinauf 
werden, daß ebendeshalb jeine Grenze mit dem Stand des gejammten Bildungs- 
wejens nothiwendig wechjeln muß. Schon aus diefem Grunde fann das Unterrichts: 
wejen nur durch die organifirende Gewalt des Staats ald Ganzes gejtaltet werden, 
und kann deshalb an der Selbftändigfeit der Kirchen, Gemeinden und Familien keine 
abjolute Grenze finden. 

2) Die obligatorifche Glementarjchule umfaßt auch den Religionsunter: 
richt — ihren urfprünglich ausfchließlichen Gegenftand. Es ijt dies das hiſtoriſche 
Recht der anerkannten Kirchen. Es läßt fich nicht ignoriren, daß immer noch ein 
erheblicher Theil der Ausjtattung der Volksſchule ein Erbtheil der Eirchlichen Ge— 
meinden und Inftitute ift, und daß 98—99 Prozent der Bevölkerung in Deutich- 
land mit ihrem kirchlichen Belenntniß auch dies Erbgut überfommen haben. Noch 
allgemeiner jpricht dafür das fachliche Bedürfniß, welches den Religionsunterricht ala 
Grundlage aller Lehre der unmündigen Jugend fefthalten muß. Cine Trennung 
von Volks- und Religionsjchule würde zu einem Dualismus firchlicher und welt 
licher Schule führen. Beide würden fich befämpfen, anjtatt zuſammenzuwirken. Beide 
würden verfümmern, two die vorhandene Ausftattung faum für eine Schule aus 
reicht. In Deutjchland insbejondere würde der Zwieipalt aller Lebensanjchauungen 
und Gewohnheiten durch die ausschließlich Kirchliche Volksſchule von Unten Heraui 
der Nation wiederum anerjogen werden. — 68 entjteht durch dies jchiwierige Ver: 
hältniß eine neue Staatsaufgabe, welche in Deutjchland ihre Grundlage in der Pa— 
rität der anerfannten Kirchen findet, vermöge deren eine gleiche Fürſorge und Ver: 
wendung des überfommenen Schulvermögeas ftattfinden muß, nicht mehr nach einem 
Normaljahr, fondern nach dem heutigen Stand der Bevölferung und des Be 
dürfniffes. Dieſe Parität und das gleiche Necht der difjentirenden Belenntnifie auf 


Schulzwang. 617 


die Wohlthat der Volksſchule bedingen die Staatäleitung in erhöhtem Maße, und 
daneben ein Recht der SHirchengewalten, nicht zur unmittelbaren „Mitleitung“ der 
Schule, wol aber zur SKenntnignahme, Fürſorge und Abwehr, daß das wirkliche 
Belenntniß der Kirche in der Schule gelehrt und nichts diefem Bekenntniß Feind— 
feliges in der Schulordnung Pla finde. 

3) Der ©. gilt nur ergänzend. Er refervirt der Familie das Recht, ihn 
jeder Zeit zu erfeßen durch einen gleich guten, in der Regel freilich theureren, 
Privatunterriht. Der ©. mwahrt auch das abjolute Recht der Gewiſſensfreiheit, 
indem er fein Kind zum NReligionsunterricht einer ihm fremden Konfeifion nöthigt. 
Es genügt in dieſem Punkt auch der Nachweis eines Privatunterricht in einem 
difjentirenden Religionsbefenntniß, deſſen „religiöfe Subjtanz“ zu prüfen übrigens 
niemald Sache des Staates fein fann. 

Mit diefer Begrenzung ift das Hartklingende Syſtem des S. vom religiöfen, 
fittlichen, rechtlichen, nationalen, wirthichaftlichen Standpunkt aufrecht zu erhalten. 
Sein mädhtigjter Gegner freilich bleibt die römijch-fatholijche Kirche. Sie 
hält unabänderlich das Recht auf die Lehre der Unmündigen ala eine Pflicht ihrer 
Glaubensgenoſſenſchaft jet. Sie betrachtet das Recht, „ihre Herde zu weiden“, als 
unmittelbar göttlicher Einſetzung. Diefem Anjpruch gegenüber Hat der Staat das 
Recht jeiner allgemeineren und damit höheren Gemeinjchaft geltend zu machen, 
welches auch andere Belenntnifje zu einer nationalen und fittlichen Gemeinjchaft 
zufammenfaffen und zujammenhalten jol. Gr vermag der beanfpruchten „Freiheit“ 
der Kirche nur die Garantie zu gewähren, daß in der Schule das Ffirchliche Be: 
fenntniß gelehrt und feine der Kirche feindjelige Einrichtung geduldet wird. Zur 
Behauptung ihrer Herrſchaft ftellt fich die heutige klerikale Richtung freilich auf den 
Standpuntt, daß die Elementarſchule „Erziehungsanjtalt“ ſei, der ©. aljo ein Ein- 
griff in das abjolute Erziehungsrecht des Vaters. Die Schule ift aber in erjter Stelle 
Unterrihtsanftalt für Wijjen, verbunden mit der Lehre der Religion. Dem 
Erziehungswerk des Haufes tritt fie nur ergänzend, aushelfend, fördernd Hinzu. Sie 
gewährt das, was die ifolirte Familie dem Kinde als Regel nicht zu geben vermag. 
Sie befchränkt fich grundfäglich jo weit, um die wirklich erziehende Thätigfeit der 
Familie nicht zu durchkreuzen und zu hindern. Als ein, immerhin mangelhafter, 
Erjaß der Erziehung tritt fie nur ein für die verwahrlofte, unfittliche Familie. 
Vermag aber die Kirche eine folche Entartung einzelner Glieder nicht zu überwinden, 
jo jollte fie dem Staat nicht Oppofition machen vom Standpunkt einer behaupteten 
Souveränetät der Familie gerade für unwürdige Yamilienhäupter. Ein Recht, 
durch das Familienhaupt auf die Erziehung zu wirken, ſowie die völlige Freiheit 
der Einwirkung auf ihre mündig gewordenen Glieder, wird der Kirche vom Staate 
nirgends bejtritten. — Auch in England Hat der Standpunkt der Staatäfirche, 
vereint mit den Lebensanjchauungen der regierenden Klafien, ſich bis in das lebte 
Meenjchenalter gegen den ©. gefträubt und erjt in der Geſetzgebung ſeit 1870 fich 
dem Deutichen Syftem immer weiter genähert. — In Frankreich Hat die Re 
volution mit ungeftümer Gewalt den Yugendunterricht als ein Geſammtrecht der 
Gejellichaft reflamirt, ift damit aber nur zu einer allbevormundenden Staatäverwal- 
tung des Unterrichtswejens gelangt, die zur Behauptung ihres Abjolutismus wieder 
zu einer Theilung ihrer Herrſchaft mit der römiſch-katholiſchen Kirche genöthigt war. 
Die geiftige Unfreiheit behauptet fich Hier unter dem abjtraften Titel einer „Freiheit 
der Lehre und des Unterrichts”. In Belgien Hat diefe Richtung jogar ein grund» 
gejetzliches Verbot des ©. durchgeſetzt. In den größeren Eonftitutionellen Ländern 
ift außer der Herrichaft der Staatskirche auch der überwiegende Einfluß der befitenden 
Klaſſen auf die Staatögewalt, welche die joziale Bedeutung des ©. für die Erhebung der 
arbeitenden Klaſſen zur „Iheilnahme am Staat“ bisher nicht genügend gewürdigt hat. 

So erjcheint denn Deutjchland das Normalland des ©. Es iſt vorzugsweiſe 
der Deutiche Geift, der die Schule ala ein Öffentliches Inſtitut entwidelt Hat. 


618 Shürpf — Schurfſchein. 


Diefe Schule kennt feinen Unterfchied der Gejellichait, fie bietet, was fie zu geben 
hat, für Alle. Sie jet fich die große Aufgabe, der Menfchheit die Bedingungen 
der perjönlichen geiftigen Entwidelung Aller zu geben. Sie ift die erfte Grundlage 
der ſozialen Freiheit, indem fie allein das Auffteigen aus allen in alle Klaſſen durch 
die Vermittelung der geiftigen und fittlichen Bildung ermöglicht. Mit dem Syſteme 
des ©. in den Edikten von 1717 und 1736 wurde inäbeiondere das neuere Preu: 
Biiche Staatsweien inaugurirt. Nach der Erwerbung Schlefiens hat Friedrich der 
Große zuerjt ein würdiges Mufter der paritätifchen Volksſchule für Evangeliiche und 
Katholifen gegeben. Unter allem Wechjel der Verwaltungsſyſteme ift der ©. noch 
einmal im Gejeß vom 23. Juli 1847 auch für die jüdifchen Gemeinden in voller 
Korreftheit durchgeführt. Was die Entwidelung des Deutjchen Volkes zur macht: 
vollen Ginheit, was insbejondere die Deutiche Heeresverfaſſung zur Europätichen 
Hegemonie geführt hat, it an eriter Stelle die geiftige Entwidelung der Gejammt: 
heit durch den ©., der feine Anerkennung und Geltung in der Guropäifchen Welt 
durch jeine Erfolge fichert, und bis zum Schluß unjeres Jahrhunderts ein Gemeingut 
der civilifirten Welt jein wird. 

Lit: Für England: The Education of the People by Canon Norris, 1869. — 
GE. Wagner, Das Voltsſchulweſen ey ra und jeine neueite ag 1865. — Für 
Bann, Eug&ne Rendu, De la loi de l’Enseignement unb De l’Education popu- 

e dans l’Allemagne du Nord. — Für Deutihland: X. v. Stein, Die Verwaltungs 
lehre, V. Theil: Das Elementar: und das Berufäbildungsweien, Stuttq. 1868, S. 71-189. — 
Gejammtnachweifungen über die einzelnen Staaten in Schmid's Enchklopäbie bes Erziehungs 
und Unterrichtsweſens, 1859 ff. — Für die Hauptftreitfragen in Deutihland: Gneift, Kom 
feifionelle Schule, Berl. 1869, Gneiſt. 

Schürpf, Hieronymus, & 12. IV. 1481 zu St. Gallen, ſtudirte unter 

Krafft in Bafel, wurde zu Tübingen magister artium, jpäter nach der joeben ge 
jtifteten Univerfität Wittenberg berufen, 1505 legens des liber Sextus und der 
Glementinen, 1507 ord. jur. eiv. in Codice, dann Beifiter des Sächſ. Oberhor 
gerichts zu Altenburg und Leipzig und Kurfürftl. Rath, 1536 legens in Digestis, 
darauf in Frankfurt a. O. 7 6. VI. 1554. 

Schriften: Consiliorum s. responsorum juris centuria Ia Francof. 1545; cent. 
IIa Francof. 1551; cent. Illa Francof. 1553 — ed. tert. 1594 — ed. nov. Francot. 


Erl. 1866, ©. — 415 -454. (Muther, Der Reformationsjuriſt Dr. Hieronymus 
Schürpf, Erl. 1858). — v. Stintzing, Geſchichte der Deutſchen Rech 
266 u. d. Teichmann. 
Schurfſchein. Das nach dem älteren Bergrechte an eine Erlaubniß nicht ge 
bundene Schürfen ward im Verlaufe der legten Jahrhunderte, zunächſt hauptſfächlich 
im Intereffe des an Werth geitiegenen Grundbefißes, durch die wichtigeren Partikular⸗ 
rechte (vgl. Achenbach, Deutiches Bergreht, I. S. 332 ff., jowie ferner wegen 
der Sächſiſchen Objervanz, Köhler, Anleitung, S. 135) von einer bergamtlichen 
Schurfligenz abhängig gemacht, welche fi im Sächſ. und Oeſterr. Bergrechte bis 
heute erhalten hat, wofelbit fie in eine engere Verbindung mit den Normen über 
die Bevorrechtung zum Muthen (f. d. Art. Finderrecht) getreten ift. Für den 
urfprünglichen Zweck (Schuß des Grundeigenthümers) bietet der ©. nur infojern ein 
geeignetes Mittel, als „durch die Nothiwendigkeit der Nachjuchung des ©. eine Be 
auffichtigung der Schürfenden ermöglicht wird" (Achenbach, a. a. D. ©. 333). 
A. Im Königreich Sachjen wird das Recht, innerhalb gewiffer Grenzen 
(Schurffeld) unter Ausichließung jedes Dritten und mit dem Vorrechte zum Muthen 
metalliihe Mineralien (f. d. Art. Bergrecht) von der Erdoberfläche aus auf 
zufuchen und zu diefem Zwede in fremden Grund und Boden einzuichlagen, vom 
Bergamte durch Ausitellung eines ©. ertheilt. Unter mehreren Bewerbern bat der 
frühere ein VBorrecht auf Ausjtellung des S. Der Grundeigenthümer bedarf jelbigen 
zum Schürfen auf eigenem Grunde zwar an fich nicht, wol aber, um ein Vorrecht 


Schurfſchein. 619 


zum Muthen geltend zu machen. Das Schurffeld iſt nach ſeinen Grenzen genau zu 
beſtimmen, darf aber 400 000 Quadratmeter Ausdehnung nicht überſchreiten. Inner— 
halb dieſer Grenzen darf daſſelbe Recht nicht gleichzeitig an verſchiedene Perſonen er— 
theilt werden. Einem Schürjer dürfen gleichzeitig mehrere Schurffelder nur dann 
zugetheilt werden, wenn dieſelben mindeſtens 2000 Meter in kürzeſter Linie von 
einander entfernt liegen. Die Ausſtellung eines S. erfolgt nur für die Dauer eines 
Jahres; ſechsmonatige Verlängerung iſt zuläffig, wenn der Schürfer an dem Be— 
ginne oder der Beendigung der Schurfarbeit ohne jein Verjchulden behindert 
worden ift. Nach Ablauf der Frift darf demfelben Schürfer auf daſſelbe Schurffeld 
binnen 3 Jahren fein S. wieder ertheilt werden (darüber, daß dieſe zeitlichen und 
örtlichen Schranken illuforisch find, ij. Uchenbad, a. a. DO. ©. 384; doch wird 
eine Schurfſteuer von jährlich 40 Piennig für 4000 Quadratmeter Schurffeld erhoben: 
Gejeg vom 10. Okt. 1864 5 9). In verliehenem Felde dart Schurferlaubniß nur 
wegen der nicht in der Verleihung begriffenen verleihbaren Mineralien gewährt 
werden. Auf unterirdifche Schurfarbeiten leiden diefe VBorjchriften analoge Anwendung, 
doch Hat bejondere Feitjegung der Schurffrift und bzw. einer Minimalbelegung des 
Schurfteldes zu erfolgen (Allgem. Berggejeß vom 16. Juni 1868 88 18 ff.). 

B. In Dejterreich bedarf, wer jchürfen will (auch der Grundeigenthümer), 
hierzu der Bewilligung der Bergbehörden. Schurfbewilligungen werden nur auf die 
Dauer Eines Jahres ertheilt, fünnen aber auf Nachweifung gejchehener Schurfarbeiten 
von Jahr zu Jahr verlängert werden. Durch die Schurfbewilligung erlangt der 
Schürfer die Befugniß, innerhalb ſeines Schurigebietes, infoweit ältere Bergbau— 
rechte nicht im Wege jtehen, Schurfbaue ohne Beichränfung ihrer Zahl zu eröffnen 
und zu betreiben, aber noch fein ausjchließendes Recht zum Schürfen im Schurf- 
gebiete. Gin ausfchließliches Recht auf ein bejtimmies Schurffeld (Freiſchurf) 
wird erjt erworben, wenn der Schürfer der Bergbehörde den Punkt anzeigt, an 
welchem er einen Schurfbau zu beginnen und das Schurfzeichen zu ſetzen beabfichtigt. 
Binnen drei Tagen nach Beitätigung der Präjentirung der Freifchurfanzeige muß 
das Schurfzeichen geſetzt und davon der politischen Bezirfsbehörde Mtittheilung ge= 
macht werden. Das durch den Freiſchurf gegebene Schutzfeld ift ein Kreis, deſſen 
Gentrum das Schurfzeichen bildet, mit einem Halbmeſſer von 425 Meter (Allgem. 
Berggeiet nom 23. Mai 1854 88 13 ff.). Der Freiichurf muß bauhaft gehalten 
werden ($ 170), weshalb eine zeitliche Beſchränkung des Freiſchurfrechts nicht ſtatt— 
findet. Die (einfache) Schurfbewilligung fann für ein beliebig großes Feld erlangt 
werder. (VBollzugsvorichr. $ 10, 2), aber auch der Freiichürfer kann beliebig viele 
dyre’;churffreiie nebeneinander lagern (ebenda $ 26 Abſ. 2). 4 Gulden jährliche 
Freeischurigebühr (Kaiferl. Verordn. vom 29. März 1866, R.G. Bl. Nr. 42). 

In Sachen wie in Dejterreih muß der S. vom Schürfer dem Grundeigen- 
thümer vor Beginn von Schurfarbeiten auf deſſen Grundjtüde vorgelegt werden. 
Ueber die zwijchen beiden entjtehenden Differenzen j. d. Art. Bergredt. 

C. In Preußen ward durch die revidirten Bergordnungen und das ER. 
(U. 16 ss 141 ff.) der S. für alle Schürfer vorgeſchrieben und zur Bedingung 
für Berufung auf das Finderrecht gemacht. Dauer des ©.: 1 Jahr 6 Wochen. 
Nach Anfiht des OTrib. (Plenarbeihluß vom 12. Juni 1843, Gntjcheid. Bd. 9 
S. 90) dedte derjelbe für die Dauer jeiner Gültigkeit das Feld dergeitalt, daß da— 
durch die Muthung eines zufällig Findenden ausgeichloffen ward. Das Allgem. 
Berggeie vom 24. Juni 1865 hat unter Rüdfehr zu dem, der neuen Feldes— 
verleihungsweije entiprechend modifizirten, Finderrechte, in welchem es eine zweck— 
mäßige Aufmunterung zu Schürfverfuchen und einen seiten, dem hergebrachten 
Rechtszuſtande entiprechenden Anhaltspunft für die Entfcheidung über follidirende 
Bewerbungen erblidt (Motive zu $ 24), den ©. wieder fallen lafjen. 

D. In Frankreich iſt, da dort prinzipiell der Grundeigenthümer als jchurf- 
berechtigt angejehen wird, ein Dritter nur mit Genehmigung der Regierung und 


620 Schwängerungstflage. 


unter Entichädigung des Grundeigenthümers (oder als Geffionar des letzteren) zum 
Schürfen befugt (Art. 10 des Bergwerksdekrets vom 21. April 1810). Dagegm 
fordert das Sardiniſche Berggejeg vom 20. Nov. 1859 (Zeitjchr. für Bergrecht 
I. ©. 520) Art. 20 ff. den ©. jelbjt vom Grundeigenthümer. Dauer regelmäßig 
höchſtens 2 Jahre. Leuthold. 


Schwängerungsklage. Das Röm. Recht leitet aus dem bloßen unehelichen 
Beiſchlaf (stuprum) weder für die Geſchwängerte, noch für die unehelichen Kinder 
(spurii) befondere Rechte ab: nur den im Konkubinat erzeugten Kindern (liberi 
naturales) jteht ein Recht auf Alimentation gegen ihren Erzeuger zu, wie fie ein 
gejegliches Erbrecht haben. Aus dem Kan. Recht jchreibt fich ein Anfpruch der Ge 
ſchwängerten auf Ehelichung und Dotation. Die Praris hat diefen umgeftaltet und 
den unebelichen Kindern den Alimentationsanfpruch der Konkubinenkinder gegeben. 
Dieſe verfchiedenen Ansprüche, die teils der Mutter für fich, theild dem Finde zu: 
ftehen,, pflegen durch eine gemeinfame Klage, die ©., verfolgt zu werden. In der 
Negel wird dieſe von der Mutter und einem Vertreter des Kindes gemeinjfam an 
geitellt ; in einzelnen Landestheilen kann die Mutter den Anjpruch zum Vortheil de 
Kindes allein erheben. 

1) Der auf dem Han. Recht beruhende Anfpruh auf Ehelihung um 
Dotation ijt in der Praris zu einem Anſpruch auf Ehelichung oder Dotation 
geworden. Nach dem Weſen alternativer Verbindlichkeiten jteht das Wahlrecht 
regelmäßig dem Berpflichteten zu; die Dotationsforderung kann aber ohne Weitere 
geltend gemacht werden, wenn die Vollziehung der Ehe ohne Schuld der Ge 
ihwängerten unmöglich geworden ift. Nach der Praris einzelner Landestheile bat 
überhaupt die Gejchwängerte die Wahl. Streitig ift, ob der Anjpruch durch das 
bloße stuprum ohne erfolgte Schwängerung begründet wird. Die Klage jteht der 
ehrbaren Jungfrau (oder Wittwe) zu. Sie wird ausgejchloffen durch den Nachweis 
der Beicholtenheit, insbefondere eines Gefchlechtäverfehrs mit anderen Männern, 
durch die Einrede vertragamäßiger Abfindung, durch den Eintritt von Umständen, 
die zur Aufhebung eines Verlöbnifjes berechtigen. Der Umfang der Dos (Ent: 
ihädigung, Kranzgeld) wird durch richterliches Ermeffen beftimmt. Iſt auf Ehe 
lichung geklagt und erfannt, jo fam in früheren Zeiten als Grefutionsmittel neben 
der executio ad faciendum wol auch eine wirkliche Zwangstrauung dor, die in 
deſſen jchon vor der Neichögejeßgebung überall antiquirt, jedenfalls durch dieje be 
feitigt ift. Als Entſchädigungs- oder Dotationsklage geht der Anſpruch aktiv oder 
paffiv auf die Erben über. — Das Sächſ. BGB. entipricht in feinen Bor 
ichriften wejentlich dem Gem. Recht. Die Klage ift auch ohne den Griolg der 
Schwängerung auf außerehelichen Beifchlaf zu gründen, fie geht aktiv nur dann 
auf die Erben über, wenn fie ſchon von der Gejchwächten jelbft bei Gericht 
angebraht war. — Das Preuß. Recht kennt nur einen Entſchädigungsanſpruch 
der Gefchwängerten, feinen Anfpruch auf Ehelichung auf Grund des auferehelichen 
Geſchlechtsverkehrs; auch jener findet nur ftatt im Wall der Nothzucht oder 
eines derjelben gleichitehenden Verbrechens und bei Schwängerung einer zwar nicht 
förmlich, aber doch in beitimmter Weife öffentlich verlobten Braut. — Das Franz. 
Recht kennt winen Dotationsanipruch der Gejchwängerten nicht, im Falle der Noth- 
zucht und Entführung wird jedoch von der Praris eine Gntichädigungäflage zu— 
gelaffen. — Bol. übrigens auch den Art. Dotationspflicht. 

2) Der Gejchwängerten fteht nach allgemeinem Gewohnheitärecht ferner ein 
Anſpruch auf die Koften der Entbindung, Taufe und ſechswöchent— 
lihen Berpilegung zu. Durch diefen Anfpruch wird der Alimentationsanipruch 
des Kindes für die erften Wochen feines Lebens nicht ausgeſchloſſen. Der Anipruch 
wird überall (auch in Sachſen und Preußen) unter denjelben Vorausjegungen zu— 
gelaffen, unter denen die Alimentationsklage des Kindes jtattfindet. 





Schwängerungstiage. 621 


3) Der Alimentationsanſpruch ijt ein Anjpruch des Kindes, wenn er 
auch in einzelnen Zandestheilen unter dem Gefichtspunft eines Anſpruchs auf einen 
Beitrag zu der während ihrer Lebenszeit zunächſt ihr jelbjt obliegenden Alimentation 
von der Mutter allein geltend gemacht werden kann. Der Anipruch beruht auf 
der Thatfache der Zeugung. Diefelbe kann dem Kinde gegenüber nicht als ein 
Delift angefehen werden; ebenfowenig aber wird auf Grund derjelben gemeinrechtlich 
ein Status der Baterfchaft anerkannt. Die rechtliche Grundlage ift Lediglich die 
gefegliche oder vielmehr gewohnheitsrechtliche Vorſchrift, die den außerehelichen 
Erzeuger für die Alimentation des Kindes haften läßt, es ift eine Klage ex lege. 
Zu Grunde liegt dabei die nach dem gefchriebenen Recht nur für die Konkubinen— 
finder ausgeſprochene Verbindlichkeit. — In analoger Anwendung der Vorjchriften 
über die Zeit, für welche der Saß gilt: pater est quem nuptiae demonstrant, wird 
derjenige ala alimentationspflichtig angejehen, der mit der Mutter des Kindes vom 
182ten bis 300ten Tag vor der Geburt Gefchlechtsverfehr gehabt hat. Streitig 
it, ob die Hieraus erwachjende Vermutung der Zeugung fortfällt, wenn der Ge- 
ichlechtsverfehr mit mehreren Perfonen in der Konzeptionszeit fejtzuftellen iſt. 
Soviel fich hierfür jagen läßt, jo Hat doch das Gewohnheitsrecht, das übrigens den 
Anfpruch in verjchiedenen Gegenden verjchieden entwidelt hat, meift die exceptio 
plurium concumbentium verworfen. Bald wird der Mutter dabei das Recht der 
Auswahl mit jus variandi zugejtanden, bald eine folidariiche Verbindlichkeit der 
mehreren Zuhalter angenommen. Der Alimentationsanfpruch jteht auch den im 
Ehebruch und in Blutjchande erzeugten Kindern zu; bei den erjteren muß die Er— 
flärung für illegitim vorangegangen ‚fein. Die Alimentationspflicht dauert bis zum 
vierzehnten Lebensjahr des Kindes, in einigen Gegenden bei Mädchen nur bis zum 
zwölften. Streitig it, ob der Verpflichtete, jtatt Alimente zu zahlen, das Kind in 
eigene Pflege nehmen kann umd ob eine fubfidiäre Alimentationspflicht des Waters 
des Schwängerers ftattfindet. Vgl. hierüber und über andere Streitpunfte den Art. 
Alimentationspfliht. — Das Preuß. Recht betrachtet das Verhältniß des 
außerehelichen Erzeugers als ein Statusverhältniß, auf deſſen Anerkennung zu Elagen 
it und das, wenn anerkannt, auch ein Erbrecht begründet. Die Konzeptionszeit ijt 
auf die Periode vom 210ten bis 285ten Tag vor der Geburt befchräntt. Im Ehe- 
bruch erzeugte Kinder und folche, deren Mutter in der Konzeptionszeit anderen 
Männern den Beifchlaf geitattet hat oder zur Zeit des Geſchlechtsverkehrs in ge— 
ichlechtlicher Beziehung bejcholten war, Haben feinen Anfpruch. Ueber die Höhe 
der Alimente entjcheidet der Bedarf von Kindern des geringsten Standes. — Im 
Sächſ. Recht gilt als verpflichtet zu einem Beitrag zur Alimentation, der unter 
Berüdfihtigung des Standes der Mutter, der Bedürfniffe des Kindes und des 
Vermögens des Vaters innerhalb gejeglicher Marimal- und Minimalfäge fejtzuftellen, 
wer mit der Mutter vom 182ten bis 302ten Tag vor der Geburt, den Tag der 
letzteren ungerechnet, den Beiſchlaf vollzogen hat. Mehrere Konftupratoren haften 
als Geſammtſchuldner. — Das Franz. Recht verbietet die Erforſchung der Vater: 
ichaft, außer im Fall der Nothzucht und Entführung, formell anerfannte Kinder 
fönnen Alimentation fordern. 

Durch das GBG. $ 23 find die Anfprüche aus einem außerehelichen Beiſchlafe 
der en Zuftändigfeit zugewieſen. 

u. Gigb.: ©. bie A im Art. Alimentation3pflidt. — Glüd, Pandekten, 
Bd. Krval. ©. 183. — Buſch, Theoretifchepraftiiche Darftellung der Rechte ‚gel wächter 
rauendperjonen, 1828. — Bett, Ueber bie ag, og Fe aus der au eg en Ge- 
nherehlihen Ex 1836. — eiedenäburg, Die Lehre von ben — —— olgen der 
außerehelichen Schwängerung, 1854. — Arnold, Ueber Alimentations- und 2 orationd: 
flagen, 1851. — Nov. 89 c. 12, 13. — Cap. 1 X. de adult. 5, 16. — Sächſ. BGB. $ 1551 ff., 
1858 fi. — Fe Geſetz vom 24. April 1854 (Gef. Samml. ©. 193). — Code civil art. 
336 ss., 340, 762, Eccius. 


622 Schwarzenberg — Schwurgericht. 


Schwarzenberg, Johann Freiherr zu ©. und Hohenlandaberg, 512. XI. 
1463, widmete fich dem sriegäleben und wohnte den Heereszügen Marimilians 1. 
bei, wurde jedoch ſpäter Hofmeiſter der Bilchöfe von Bamberg, verfaßte 1507 
die Bambergische Halsgerichtsordnung , die für die nachfolgenden das Muſter war, 
rt 21. X. 1528. 

Lit: Zöpfl in v. Jagemann's Zeitichr. für Deutiches —————— I. (1840) 18 
bis 144. — Herrmann, ie Freih. = Schwarzenberg, — 841. — Weißel, . 
—55— v. —— rünberg 1878. — Güterbod ie Entſtehungsgeſchichie der 

arolina, Würzb. 1376. — Brunnenmeifter, Die Cuellen ber re Bei; 
1879. — v. Stinging, Geſchichte der Deutichen Rehtwifienicaft (1880), I. 612-617. — 
Dienbrüggen in ber Allgem. — en tq. 1857, Nr. 89-91. — Berger ine 
Defterr. Revue, IV. Jahrg. 1866, Heft 1 Y — Rante, Dentfcie Geläiäe im Jet: 
alter ber Reformation, 3 Sf — Bei. Behr des Deutichen Strafrechts, (161), 
1. 254—259. — Stobbe, Redtäquellen, R\ 48. — Handbuch bes Deutichen Ein} 
recht3 von d. Holpendorff, . (1871), 68. Teihmann. 


Schweder, Gabriel, 5 1648 zu Göslin, Prof. in Tübingen, 1 1735. 
Schriften: Introductio in jus publ. imp. Rom. novissimum, Tub. 1681, nona e. 
— — Hisput. tomi II. c. Burgermeisteri, Esling. 1731. 


Jugler, V. 108. — ante Einleitung in das Deutiche Staatsrecht, Leipp 
1867, 8 ‘ö. — Pütter, gitt., I. 260—263 ; IL. 263. Zeihmann 
Schweigaard, Anton Martin, & 11. IV. 1808 zu Kragerd, jtud. in 
Ghriftiania, bereifte jeit 1833 Schweden, Deutichland, Schweiz, Frankreich, Düne 
marf, um fich namentlich mit dem Bank» und Geldweſen vertraut zu machen, 1835 
Prof. der Rechte im Chriftiania, 1840 Prof, der Statiftit und der Staatäwifier: 
ichaiten. Als Vertreter der Hauptftadt jeit 1841 wußte er ſich die Achtung alla 
a zu erwerben und wurde 1845 Bankdireftor, T 2. II. 1870. 
riften: Den norske Proces, Christ. 1846—1849, (4) 1879. — Om Konkurs ot 
om Si e og Arvebehandling, 1871. — Den norske Handelsret, 1841. — Kommentar ont 
den norske Kriminallov, Christ. 1844—1846, (2) 1860—1862, 
git.: Brodhaus. — Nypels, 154..— Meyer, Konv.Ler. (3. Aufl.), Bd. XTL 
E. 661. — zennein, (2), \. 263. — Aageſen, fortegnelfe, 1876. — Gooi, 
Den danſke Strafferet, I . (187 ) 450: Derielbe in Revue de droit int. XII. 485. 
Zeihmann. 
Schweiter, Chriſt. Wilh., 5 1. XI. 1781 zu Naumburg, Privatdozent 
in Wittenberg, Affeffor der Juriftenfafultät, nach längeren Reifen 1806 Advokat, 
Rechtsanwalt in Ronneburg, 1810 Prof. in Jena, 1813 Hofrath, 1817 beim 
DApp.Ger. vierter akademiſcher Rath, 1818 im MWeimariichen Staatsminiftertum, 
1828 one Geh. Rath, trat 1848 zurüd, F 21. X. 1856 auf Clodra bei Weida. 


Lit.: Rap Ueber bie liter. und a 7 a von ©., Jena 1857. — 
Günther, Lebensſtizzen, 1858, ©. 84, 85. — Mohl, II. Teihmann. 


Schweppe, Albrecht, 5 21. V. 1783 zu — ſtud. im Göttingen, 
wurde 1803 Doktor dafelbit und Dozent, 1805 außerorbentl., 1814 ordentl. Pro. 
in Kiel, 1818 in Göttingen, 1822 am ONpp.Ger. in Lübeck, * 23. V. 1829. 

Schriften: Diss. de juerela inoffic. testam., Gott. 1803. — Entwurf eines —— 
der ae Kiel 1806, Ausg. 1812. — Das Syſtem des Konkurſes der Gläu 
1812, (3) 1 — Das "Römische Privatrecht in feiner Anmwendung auf Deutiche Geri * 
Alt. 1814, 1, tung Geier Gött. 1828—1834. — Römiſche —— und Rechte 


alterthümer, Bött. 1822, 3. Aus 21 1832. — Juriſt. Bar Alt 
git.: Neuer Netrolog der Deutichen, Bb. VL. Teihmann. 


Schwurgericht (geihichtlich). Nach der Aufnahme der fremden Rec: 
hat ih in Deutjchland das Strafverfahren auf Römiſch-kanoniſtiſcher Grundlagt 
immer mehr nach einer Richtung hin entwicelt, welche zu den Germanifchen Grund: 
jähen über das Beweisrecht, die Stellung de Richters, die Deffentlichkeit und 
Mündlichkeit des Verfahrens und über die Iheilnahme des Volkes an der Recht: 
pflege in grellen Widerfpruch trat. Der Zuftand der Strafrechtäpflege wurde in 
Folge deffen ein unhaltbarer. Partielle Reformverfuche erwiejen fich als ungenügend: 
Halbheiten und lieferten den Beweis, daß nur ein vollftändiger Bruch mit den 


Schwurgericht. 628 


überlieferten Traditionen des inquiſitoriſchen Verfahrens dauernde Abhülfe gewähren 
könne. Für die Neugeſtaltung des Prozeßrechts wurde das Beiſpiel Frankreichs maß— 
gebend, wo eine ähnliche Entwidelung jchon 1791 zur Aufnahme der Gejchworenen- 
gerichte gerührt Hatte. Die Bewegung, welche ſich in Deutichland daſſelbe Ziel 
ſetzte, hielt fich zunächit an die von dem Englischen Typus vielfach abweichende 
Form der Franzöfiichen Jury und war von derjelben hochpolitifchen Auffaffung 
durchträntt, welche jchon 1790 in den vorbereitenden Debatten der Franzöſiſchen 
Nationalverfammlung zur Geltung gekommen war und feitdem jehr zu Ungunſten 
der S. auf lange Zeit hinaus die Herrichende geblieben iſt. Trotz diejen und anderen 
Irthümern, troß ungerechtfertigter Ueberſchätzung und kurzfichtiger Anfeindung haben 
die S. fich zunächſt in den einzelnen Staaten Deutjchlands eingebürgert und find 
fie dann durch daa3 GVBG. und durch die RStrafPO. zu einer Inftitution des 
Deutichen Reichsrechtes erhoben worben. 

Der thatjächlichen Entjcheidung des Kampfes über die Reform des Deutjchen 
Strafverfahrens ging eine lebhaft geführte Literarifche Fehde voraus, die zum Theil 
auf rechtögefchichtlichem Boden ausgefochten wurde, da man fich nicht verhehlen 
fonnte, daß die richtige Wirrdigung und Auffaffung des Inſtituts einen Ginblid 
in die Hiftorische Entwidelung deflelben zur VBorausfegung habe. Zudem mußte das 
Dunkel, in welchem die Anfänge der vielbeiprochenen Einrichtung verborgen lagen, 
zu gefchichtlichen Unterfuchungen anreizen. Die Zahl derjelben ift darım Legion. 
Deutichland, England und Frankreich haben fich jo ziemlich zu gleichen Theilen in 
die einjchlägige Literatur getheilt. Die zur Löjung des Problems aufgeftellten An— 
fihten gingen joweit auseinander, dab fie die Zahl der überhaupt möglichen 
Hypotheſen jo ziemlich erichöpiten. Ihrer nationalen Herkunft nach wurde die Jury 
als Angelſächſiſch, als Anglonormanniſch, als Wälifch, als Urgermaniich, ala Stan 
dinaviich, ala Fränkiſch, als Normannijch oder gar als Slaviſch bezeichnet, ja aus 
dem Römijchen, dem Kanoniſchen und aus dem Orientaliſch-Franzöſiſchen Recht 
wurde fie hergeleitet. Ebenſo bejtritten war der juriftiiche Urfprung des Inſtituts, 
das heißt die Frage, aus welcher progefjualen Einrichtung es fich entwidelt habe. 
Sehr verbreitet war früher die Hypotheſe, daß die Geichworenen aus den Germanijchen 
Urtheilfindern herzuleiten feien. Mit Fug ift man hiervon abgegangen, um den 
urfprünglichen Sit der Jury im Beweisveriahren zu juchen, indem man fie aus der 
Gideshülfe, aus dem „Voreide des Klägers bei handhafter That”, aus dem Zeugen- 
verfahren, aus einer Verbindung von Eidhelfern und Schöffen, oder von Eidhelfer— 
beweiß und Zeugenbeweis oder aus dem nordiſchen Rechtöinftitut der Ernannten 
beriftammen ließ. 

Das Englische Recht kennt eine Jury in Givilfachen, welche nur ala Urtheiljury 
fungirte und auf dem Kontinente nicht rezipirt wurde, und eine Jury in Kriminal— 
ſachen. Letztere fommt als Anklagejury und als Urtheiljury in Anwendung, von 
welchen jene nur in frankreich zu einer blos vorübergehenden Rezeption gelangt 
iſt. Die Giviljury ift älter ala die Urtheiljuryg im Strafverfahren und mindeftens 
ebenjo alt‘ wie die Anfänge der Anklagejury. Cie möge bier zunächſt zur Er— 
Örterung gelangen, da ihre Entwidelung zugleich den Schlüffel für das Verſtändniß 
der Kriminaljury darbietet. 

A. Die Civiljury. In ihrer Gefchichte find drei Entwidelungsftadien zu 
unterfcheiden: das Stadium des Inquiſitionsbeweiſes, das der Beweisjury und das 
der Urtheiljury, von welchen das erjte der Fränkischen, das zweite der Normannifchen 
und Anglonormannifchen, das dritte der fpezifiich Englischen Rechtsbildung angehört. 

a) Der Inquiſitionsbeweis. Das Weſen diejes Beweismittels, welches 
ung zuerit in Kapitularien und Urkunden des Fränkischen Reiches Karolingifcher Zeit 
in deutlich beftimmten Umriffen entgegentritt, liegt in dem Gegenjaß zum formalen 
Beweisverfahren des Altdeutichen Prozeßrechts, insbeſondere zum Zeugenverfahren, 
über welches Th. I. ©. 169, 181 zu vergleichen ift. Das Frageverfahren (Inquisitio) 


624 Schwurgeridt. 


liefert in feiner Anwendung auf das Beweisthema des Prozeffes ein zweiſeitiges 
Beweismittel, indem der Spruch der Gefchworenen ebenjo gut zu Gunſten dei 
Klägers ala des Beklagten ausjallen kann. Die Gejchworenen werden vom Richter 
aus den angejehenjten Umſaſſen ausgewählt und geben, nachdem fie entweder durch 
einen ad hoc geleijteten Schwur oder bei ihrem ZTreueide die Wahrheit auszuſagen 
gelobt Haben, auf die Frage des Nichter hin ihren Ausſpruch ab, welchen die 
Partei. nicht wie den Zeugeneid durch Berufung auf das Ordal des Zweilampie 
in Frage zu Stellen vermag. Der Borladung zur Inquifitio Folge zu geben, war 
allgemeine Pflicht. Ebenjo durften das Wahrheitäveriprechen und die Ausfage nicht 
verweigert werden. Für die zur Inquifitio eingefchworenen Umjafjen findet fich ver: 
einzelt die Bezeichnung Juratores; jo nennt fie nämlich um 906 Regino von Prüm 
(Th. I. ©. 140) in feiner Darftellung des Verfahrens der geiftlichen Sendgerichte, 
welche die Fränkische Jnquifitio als Rügeverfahren rezipirt Hatten. Die Zahl der 
Geſchworenen war in Fränkiſcher Zeit noch feine gejchloffene, häufig wurden mehr 
als zwölf verwendet. Deögleichen hatte fich in Bezug auf die zur Gültigkeit eine 
Ausipruches erforderliche Stimmenzahl noch feine jefte Praris auägebildet. Wenn 
zahlreiche oder bejonderd angejehene Gemeindegenofjen widerjprachen, mochte die 
Inquiſitio wol in der Regel ala reſultatlos betrachtet worden fein. Gin Schwanten 
der Praris macht fich auch infofern geltend, ala manchmal jeder Einzelne feine Aus 
jage gejondert abgab, häufiger aber der Spruch mit gefammtem Munde erfolgte, io 
daß die Gejchworenen dem Gerichte gegenüber als geichloffene Geſammtheit auf 
traten. Der Wahrſpruch erichöpfte in der Regel das volle Beweisthema , indem er 
die zum Beweis geitellte Trage unmittelbar entſchied und die einzelnen Weber 
jeugungsmomente, welche dem Spruch zu Grunde lagen, latent blieben. Manchmal 
gingen aber diefe Ausſagen mehr ins Detail und gaben die Gefchworenen nur ihr 
objektiven Wahrnehmungen an, e8 dem Gerichte überlaffend, fich hieraus den relevanten 
Schluß zu ziehen. 

Der Inquiſitionsbeweis war ein außerordentliche Beweismittel. Das Fränkiſche 
Königthum machte ihn als fisfalifches Vorrecht in Prozeffen um KHönigägut geltend, 
eine Einrichtung, welche vielleicht in den Fiskalprivilegien des Röm. Rechts einen 
Anfnüpfungspunkt jand. Im Wege des Privilegiums ift das Inquifitionsrecht, d. b. 
die Befugniß, als Prozeßpartei in jedem Gerichte, auch im Bolfsgerichte die An- 
wendung des Inquifitionsbeweijes herbeizuführen, von den Fränkiſchen Königen auf 
zahlreiche Kirchen und Klöfter ausgedehnt worden. Wie nur der König und die 
von ihm privilegirte Partei das Inquifitionsrecht beſaß, jo Hatte auch mur der 
König in feiner Eigenſchaft als oberjter Richter die Berugniß, in einem an ihn 
gebrachten Prozeffe von den Beweisformen des jtrengen Rechts zu entbinden und 
eine Inquifitio anzuordnen. In der Regel erfolgte diefe Anordnung durch ein 
tönigl. Inquifttionsmandat, welches einen Miſſus mit der Vornahme der Inquiſitio 
im jpeziellen Falle beauftragte und der Partei, die e8 erwirfte, urkundlich auägeftellt 
wurde („Indiculus, Brevis inquisitionis“), damit fie e8 am Tage des Prozefjes vor- 
weiſen fünne. Als Karl der Große das Inſtitut der ordentlichen Miſſi geichaffen 
hatte, erhielten die reifenden Richter allgemeine Vollmacht bei Rechtäftreitigkeiten, 
die auf ihren Rundreifen vor fie gelangen würden, im Namen des Königs nad) 
eigenem Ermeſſen die Ingquifitio anzuwenden. In erjter Linie follten fie von ihrer 
Inquifitionsgewalt zu Gunften von Wittwen, Waifen, homines minus potentes und 
Kirchen Gebrauch machen, da dieſe einer progefjualen Vergewaltigung durch die 
formalen Beweismittel zunächit ausgefeßt waren. In der Jurisdiltion der ordent- 
lichen Gerichtsbeamten, der Grafen, Vizegrafen und der Gentenarii war die In— 
quifitionagewalt nicht enthalten. Gegenjtändlich war die Inquifitio auf Streitig— 
feiten um Grundbeſitz und die ihm gleichitehenden Gerechtiame um die Freiheit umd 
um Gigenleute beſchränkt. Außerhalb des Prozefjes wurde fie zu fisfaliichen Zweden 
in reinen Berwaltungsangelegenheiten verwendet. 


Schwurgeridt. 625 


b) Die Beweisjury. Das Merkmal, durch welches die Beweisjury fich 
von dem eben behandelten Inquifitionsbeweije abhebt, Liegt in ihrer jejteren formalen 
Ausgeftaltung, insbejondere darin, daß die Gejchworenen, von beitimmten Ausnahms— 
fällen abgejehen, dem Gerichte ala eine gejchloffene Einheit gegenüberftehen, indem fie 
ihren Wahrjpruch auf Grund vorausgegangener Eollegialifcher Berathung durch eines 
ihrer Mitglieder im Namen aller jozujagen al Zeugengenofjenichait abgeben. Das 
Gericht Hat es nicht mehr mit einer Summe von einzelnen Gejchworenen, jondern 
mit einer ad hoc gebildeten Körperichait zu thun, jo daß eine von vornherein zum 
Zwei des Verhörs jtattfindende Yolirung der Einzelnen durch den Richter aus» 
geichloflen iſt. Aeußerlich tritt dieſer Fortichritt in der Ausbildung des Wortes 
Jurata, Jurea, Jurée hervor, welches die Gejammtheit der einzelnen Juratores be— 
zeichnen joll. 

Nach der Auflöfung der Fränkischen Monarchie Hat fich die Inquifitio zunächſt 
al ein außerordentliches Beweismittel in Weitfrancien erhalten. Das Franzöſiſche 
Königthum brachte fie, wie das Fränkiſche, in Fisfalprozeffen zur Anwendung. 
Insbeſondere Haben die Normannifchen Herzoge, welche fich die Einrichtungen des 
Weſtfränkiſchen Königshofes zum Mufter nahmen, die Inquiſitio in fisfalifchem 
Intereſſe verwerthet.. Wie in Karolingifcher Zeit wurde durch Privilegien der Nor: 
mannifchen Herzoge das fisfalische Vorrecht einzelnen Kirchen und Klöftern verliehen. 
Desgleichen finden fich die Inquifitionsmandate, nunmehr technijch brevia inqui- 
sitionis genannt, durch welche der Herzog im einzelnen Falle auf jpezielle Intervention 
einer Partei hin eine Inquifitio anordnete, jedoch nicht ohne ſich gewöhnlich dieje 
außerordentliche VBergünftigung von der Partei bezahlen zu laſſen. Vollſtändig die- 
jelben Ginrichtungen jehen wir die Normannen in dem von ihnen eroberten Eng— 
land mit rüdfichtslojer Konfequenz zur Durchführung bringen. Der nationale und 
der joziale Gegenſatz der Eroberer zu den Angelfachien machte die Anwendung der 
Inquifitio Hier doppelt nothiwendig, ein Moment, das in ähnlicher Weiſe ſchon bei 
der Entwidelung des Fränkischen Frageveriahreng eine Rolle gejpielt hatte, Namentlich 
wurde jte oft zu fisfalichen Verwaltungszwecken benußt. Als univerjelle Maßregel 
zur Geltendmachung der königlichen Rechte, als ficherjtes Auskunftsmittel der Nor— 
mannifchen Regierung, fich in dem eroberten Lande zurechtzufinden, erlangte fie 
geradezu politiiche Bedeutung. So verdankt unter anderen das Domesdaybook, 
eine eingehende Katajtrirung des Landes, feine Entjtehung einer umfafjenden In— 
quifitio, welche gegen Ende der Regierung Wilhelm’3 des Groberers über die Grund» 
befigverhältniffe Englands vorgenommen wurde. Cine wichtige Umwandlung der 
Snjtitution beginnt mit der Regierung Heinrich's II. Sie jtreift ihren Charakter 
eines blos außerordentlichen Beweismitteld ab und wird durch organische Einfügung 
in das Gerichtsverfahren ein ordentliches Rechtsmittel. Seit diejer Zeit find drei 
Hauptformen der Normannifchen Imquifitio in Givilfachen zu unterjcheiden, die 
inquisitio ex brevi, die inquisitio ex officio, die inquisitio ex iure, 

1) Die inquisitio ex brevi. Gie verdankt ihre Entjtehung den Satungen 
(assisae) Heinrich’3 IL, welche diejer zuerft ala Herzog der Normandie in den 
Jahren 1150—1152, dann als König von England nach 1154 erließ, indem er 
jeftftellte, daß in bejtimmten Fällen jede Prozeßpartei von der herzoglichen , reip. 
föniglichen Kanzlei ein Breve erwirfen könne, durch welches für den betreffenden 
Prozeß eine Jnquifitio angeordnet und jomit das alte formale Beweisverfahren 
mit der ultima ratio des Zweikampfes auägeichloffen wurde. Das Breve war an 
den Vicecomes (Bailli) itilifirt und forderte diefen auf, zwölf Geſchworene auszu— 
wählen und vor das KHönigsgericht oder das Gericht eines königlichen Mifjus oder 
die herzoglichen Affifen der Normannijchen Barone zu laden, um dajelbit über die 
Wahrheit der in dem Breve angegebenen Behauptung der Partei ihren Spruch ab» 
zugeben. Für die einzelnen Rechtsfälle haben fich bejtimmte Formulare der Brevia 

v. Holtendorff, Enc. II. Rechtslexikon UI. 3. Aufl. 40 


626 Schwurgeridt. 


auägebildet, indem jede Klage, die entweder ummittelbar zur Anwendung der Jn: 
quifitio Führen ſollte oder jonjt aus irgend einem Grunde ein fönigliches Mandat 
erheifchte, ihr eigens jtilifirtes Breve erhielt (vgl. Th. I. ©. 254). Den Redts- 
jtreitigfeiten, welche fonft durch das ftrenge Beweisrecht des formalen Rechtäganges 
hätten entjchieden werden müflen, wurde durch die Brevia die VBergünftigung er: 
leichterter Beweisführung zu Theil. In Befibftreitigkeiten geben die Brevia (B. de 
possessione) nicht nur eine Beweisvergünftigung, jondern überhaupt erit ein Klage— 
recht, da der alte formale Rechtsgang einen jelbjtändigen Beſitzprozeß nicht kannte 
und nach der Natur jeines Beweisrechtes füglich nicht fennen fonnte. Die Aſſit 
Heinrich’8 II. wurde die Lex Aebutia des Engliſchen Givilprozeßrechtes, dem fie auf 
Jahrhunderte hinaus die Grundrichtung feiner Entwidelung gab. Sie hat den alten 
formalen Prozeß, welcher von vornherein dem allmählichen Untergange geweiht 
war, in die Bahn der Reform hinübergeleitet und dadurch dem Englischen Recht die 
Aufnahme des Römifch » fanoniftischen Prozekrechtes erſpart, fie hat zugleich die welt: 
liche Juftiz in Stand gejeßt, die Konkurrenz mit der kirchlichen Gerichtsbarkeit 
fiegreich zu bejtehen, welche damals nicht blos in Folge der allgemeinen Präpon— 
deranz der Kirche, fondern auch durch die Ueberlegenheit des Kanonifchen Prozeh: 
rechtes die weltliche Jurisdiftion mit ihrem ungefügen formalen Rechtsgang u 
überwuchern drohte. 

Weil und ſoweit die Inquiſitio ein ordentliches Beweismittel geworden war, 
mußten die bis dahin ſchwankenden Formen rechtlich beſtimmt werden, wenn man 
ſich nicht auf das Ermeſſen der Beamten verlaſſen wollte, denen die Einleitung 
oder auch die Durchführung der Inquiſitio überwieſen war. So wurde die Zahl 
der Geſchworenen fixirt, welche der Engliſche Vizekomes, der Normanniſche Bailli zu 
einer Rekognitio einzuberufen hatte. Als Regel ſtellte ſich die Zwölfzahl feſt, wenn: 
gleich die Geſchworenenzahlen bei einzelnen Inquiſitionen noch lange Zeit differiren, 
jo daß es unrichtig wäre, die Zwölfzahl als urſprüngliches Kriterium der Jury zu 
betrachten. Gbenjo wurde es nothiwendig, über die zur Gültigkeit eines Wahr: 
jpruches erforderliche Stimmenzahl beftimmte Normen aufzuftellen. Bei petitoriſchen 
Klagen verlangte man, da ja hier eventuell das formale Beweisverfahren i im Hinter⸗ 
grunde ſtand, in England zwölf, in der Normandie nach einigem Schwanten ei 
einflängige Stimmen. In poffefforiichen Sachen begnügte man fich mit der jtrikten 
Majorität, jo daß man e8 wol auch ausreichend jand, von vornherein nur ficben 
Geichworene vorzuladen, die aber dann natürlich übereinftimmen mußten. De 
Wahripruch wird zwar in eriter Linie ftets durch die Jury ald Geſammtheit ab- 
gegeben; jedoch hat der inquirirende Richter im Falle eines unklaren, verbächtigen 
oder nicht einjtimmigen Spruches die Berugniß, die Gejchworenen von einander zu 
trennen und einzeln um die Gründe ihres Wiſſens zu befragen, während ſonſt der 
Wahrſpruch das Beweisthema, wie e8 von vornherein durch den Wortlaut dei 
Breve fejtgeitellt wurde, unmittelbar erfaßt. Der Inquisitio ex brevi mußte jtets 
eine Befichtigung des Streitgegenjtandes, der Visus terrae, vorausgehen, ein Gr 
forderniß, welches fich daraus erklärt, daß der formale Prozeß mit peinlicher Streng: 
die genaue Beitimmung des Streitobjeftes verlangte. Jenem Visus entjprechend 
lautete der Eid der Englijchen Gejchworenen: Hoc auditis Justiciarii quod veritatem 
dicam de assisa ista et de tenemento, de quo visum feci per praeceptum domini 
Regis et pro nihilo omittam quin veritatem dicam. Die Gejchworenen müflen, 
wie in Fränkiſcher Zeit, aus den Angejehenjten gewählt werden. Es jollen nur 
Milites oder doch legales homines ala Juratores fungiren, welche zufolge ihrer 
jozialen Stellung unter den Umſaſſen als das Organ betrachtet werden Fönnen, 
durch das fich die Gemeindeüberzeugung bezüglich der ftreitigen Thatjache ausſpricht 
Als techniiche Bezeichnung der Inquisitio ex brevi wird in der Normandie das 
Wort Recognitio, in England der Ausdruck Assisa gebraucht, welcher andeuten 
will, daß die Einrichtung durch königliche Satzung (Aſſiſe) entitanden jet. 


Schwurgeridt. 627 


2) Die Inquisitio ex officio. Neben den Refognitionen und Aſſiſen 
im engeren Sinne des Wortes erhielt fich für den Fiskus die Inquifitio mit ihren 
alten minder ausgebildeten Formen, welche ala Inquisitio jchlechtweg oder als In- 
quisitio ex officio der Inquisitio ex brevi gegenübergeitellt wird. Noch nach neuerem 
Engl. Recht galt es als eine Eigenthümlichkeit des Inquest of office, daß er ver: 
mitteljt einer Jury of no determinate number, nämlich von zwölf oder mehr oder 
weniger Gefchtvorenen durchgeführt wird (Blackstone, Co. III. 258). 

3) Die Inquisitio ex iure. In den Engliichen und Normannijchen 
Rechtsbüchern des 13. Jahrh. tritt uns eine befondere Art der Beweisjury in Civil— 
fachen des Gemeinen Prozefjes entgegen, für welche die Benennung Jurata, die 
früher als gleichbedeutend mit Inquiſitio gebraucht wurde, im ausfchließliche An— 
wendung fommt. Die Jurata erjcheint ala ein gewohnheitsrechtlich zum ordentlichen 
Beweismittel erhobener Jnquifitionsbeweis. Die Art und Weiſe, wie fie allmählich 
in das ordentliche Verfahren eingefügt wurde, läßt fich nicht mit voller Sicherheit 
klarſtellen. Wahrjcheinlich ift Folgendes. Nach Normannischem und Englischem Recht 
ftand es den Parteien frei, fich auf die Ausſchließung des formalen Verfahrens 
und die Enticheidung einer Jury zu vereinigen. In der Normandie konnte unter 
diefer Vorausſetzung jelbit in dem Gerichte eines Seigneurs eine Jurata berufen 
werden, wogegen fie in England ausſchließlich auf die Curia regis befchränft blieb. 
Wie es jcheint Hat fi im Anfchluß an diefe Einrichtung das Verfahren per 
juratam zunächſt für jene Fälle gewohnheitärechtlich firirt, in welchen nach dem 
alten formalen Bertahren das Gemeindezeugniß am Plate gewejen wäre und ein 
Rekognitionsverfahren noch nicht ausgebildet war. Der Konſens der Parteien wurde 
im Laufe der Zeit eine juriftiiche Fiktion, da er mit Nüdjicht auf die Nachtheile, 
welche die Ablehnung der vom Gegner beantragten Jurata nach fich zog, Gebot 
einer prozeffualen Zmwangslage geworden war. Nichtödejtoweniger blieb die Auf: 
faffung der Jurata als eines Schiedöfpruches, auf welchen fich die Parteien frei— 
willig beriefen, in England noch lange Zeit für die juriftifche Beurtheilung der- 
jelben maßgebend. Das Verfahren mit der Jurata mochte fich urſprünglich von 
der Form oder vielmehr Formloſigkeit des Inquest of office faum unterjcheiden. 
Doch hat die feftere Ausbildung der Rekognitionen auf die Jurata einen wejentlichen 
Einfluß ausgeübt. In der Normandie hat fie, von dem Mangel des Breve ab- 
gejehen, volljtändig die Art des Refognitionsverfahrens angenommen. In England 
hat fie eine nach Analogie der Affifen ausgeprägte Form erhalten, wenngleich fie 
einzelne wejentliche Unterichiede aufweift, die fich am beiten daraus erflären, daß 
die Aſſiſe ein durch Satzung umgebildeter Inquifitionsbeweis ijt, während die 
Jurata fich aus dieſem gewohnheitsrechtlich entwidelt hat. Die formalen Unter: 
Jchiede zwiſchen Assisa und Jurata gruppiren fich um die der leßteren eigenthümliche 
Gidesformel: Hoc auditis Justiciari quod veritatem dicam de hoc quod a me 
requiretis ex parte domini regis. Bei der Aſſiſe ift die Beweisfrage bereits durch 
das Breve formulirt. Die Gefchtvorenen werden von vornherein zur Beantwortung 
diefer bejtimmten Trage vorgeladen und nehmen mit Rücdficht auf fie den Visus 
terrae vor. Der Jurata dagegen wird die Beweisfrage vom inquirirenden Richter 
formulirt und nach Ablegung des Wahrheitsveriprechens vorgelegt, jo daß dieſes 
feine Beziehung auf den konkreten Streitfall und noch weniger auf einen voraus— 
gegangenen Visus terrae enthalten kann. Dabei macht es feinen Unterichied, ob die 
Jurata unmittelbar von dem inquirirenden Nichter einberufen ift oder ob — was 
in England, nicht in der Normandie vorfam — die Einberufung durch ein fönig- 
liches Breve erfolgt; denn im lebteren Falle wird die Jurata zwar ex brevi be- 
rufen, aber nicht ex brevi inquirirt. Die Jurata mußte ihrer minder formellen 
Natur nach ganz bejonders geeignet jcheinen zur Beantwortung von Thatfragen, die 
fich erit während des Prozefles, zumal in Folge erhobener Einwendungen als rele- 
vant berausftellten. Da die petitoriichen Aſſiſen eingeführt worden waren, um einen 

40 * 


628 Schwurgericht. 


Erſatz für den gerichtlichen Zweikampf zu bieten, blieben ſie ausgeſchloſſen in Fällen, 
in welchen von Alters her das Duell nicht zuläffig war. Für Rechtsſtreitigkeiten 
diefer Art, jowie für zahlreiche neu ausgebildete Klagen trat die Jurata ein. Weil 
diefe vor der Aififa den Vorzug hatte, daß die Beweisfrage vom Richter abgelat 
und jomit der Beichaffenheit des einzelnen Falles beifer angepaßt werden fonnte, 
fand im Xaufe der Zeit eine Verſchmelzung der Assisa und Jurata in der Weile 
ftatt, daß auch bei jener die Geſchworenen ihr Verdikt in modum juratae abgaben. 

Im Gegenfaß zu der folgenden Entwidelungsphafe charakterifirt fich die Jury 
diefer Periode durch die ausfchließliche Zeugenqualität der Geſchworenen. Diefe fällen 
ihren Spruch auf Grund eigener Wiſſenſchaft von der Sache, ohne daß etwa in 
ihrer Gegenwart vor Gericht ein Beweisveriahren abgewidelt worden wäre. Der 
Richter darf fie unter den oben angeführten Vorausjegungen um die Gründe ihres 
Wiſſens befragen und ebenſo fommt es vor, daß fie unaufgefordert die einzelnen 
Thatumftände darlegen, auf die fie ihren Ausſpruch ſtützen. Ihr Verdikt muß 
übrigens nicht auf eigener unmittelbarer Wahrnehmung fußen, jondern kann aud 
Mittheilungen und Meinungen glaubwürdiger Vorjahren oder Nachbarn zur Grund: 
lage haben. Gebricht es an der zur Gültigkeit eines Spruches erforderlichen Stimmen: 
zahl, jo findet Affortiatio ftatt, d. h. e& werden, um jene zu erreichen, andere Ge 
jchworene der Majorität beigefellt. Seit dem Ende des 13. Jahrh. trat an Stelle 
dieſes Verfahrens das Erzwingen der Einftimmigfeit. Die Gefchtvorenen waren nicht 
unverantwortlich, fjondern unterlagen den Meineidaftrafen, wenn die Unmwahrbeit 
ihres Spruches per attinctam (Attainte), d.i. durch eine Jury von vierundzwanzig 
Geſchworenen oder ſonſtwie, erwiejen worden war. 

4) Die Urtheilsjury. Ihre Ausbildung iſt das Ergebniß einer jehr all- 
mäblichen gewohnbheitsrechtlichen Umgeftaltung der Beweisjury. Der Uebergang wird 
vermittelt durch eine Jury mit gemifchter Funktion, d. h. durch eine Jury, welce 
theila als Beweis- theils ala Urtheilsjury fungirte. Indem dann die Gejchworenen 
allmählich den Charakter von Zeugen vollitändig abjtreifen, tritt die Jury aus jener 
Doppelitellung, welche einen Zeitraum don mehr als 300 Jahren ausfüllt, ala reine 
Urtheilsjury heraus. 

Bei der Beweisjury ericheinen die Geichworenen ala Gemeindezeugen. Dieſer 
Begriff ift aber dabei ein jo ausgedehnter, daß daneben fait jedes andere Zeugnik 
verichwindet. Die Weiterentwidelung fennzeichnet fich) nun dadurch, daß man ar: 
fängt, zwiſchen der Kenntniß gemeindefundiger Thatfachen und dem Wiflen au 
Grund befonderer perfönlicher Wahrnehmung zu unterfcheiden. Neben das Noto: 
rietätszeugniß ftellt fich jo als ein prinzipiell Verſchiedenes das Spezialzeuanik. 
Das gegenfeitige Verhältniß beider Arten des Zeugniffes hat fich in der Normandie 
und in England verichieden gejtaltet. Das Normannifche Recht brachte das Spezial: 
zeugniß durch geheimes richterliches Verhör Zur Verwerthung. Die Folge davon 
war, daß das Syſtem ifolirter Zeugenausfagen die Beweisjury völlig verdbrängte. 
In England wurde das Spezialzeugniß den Geſchworenen ala „Evidence“ vorgelegt 
und jomit formell dem Notorietätszeugniß untergeordnet. Da aber neben der Evi— 
dence das Gemeindezeugniß immer mehr und mehr verblaßte, find die Geſchworenen 
ichließlich nur noch Urtheiler über das ihnen vorgelegte Beweismaterial. 

Um don Anklängen abzufehen, welche in die Fränkische Zeit zurückreichen, 
fommt es in England während des 13. Jahrh. öfter vor, daß vor den Geichworenen 
Urkunden produzirt wurden, welche auf den Rechtöftreit Bezug hatten. Wurde die 
Urkunde angefochten, jo wurden die Urfundszeugen, testes in charta nominati, ein— 
berufen und dem Kollegium der Geichtworenen zugefellt. Vermuthlich unabhängig 
von diefer Einrichtung, welche noch im 15. und 16. Jahrh. auf derielben Ent- 
widelungsitufe ſteht, hat ſich — es iſt nicht völlig flargeftellt, wann und in welcher 
Weile — die Nechtsfitte ausgebildet, die von den Parteien produzirten Spezial: 
zeugen den Geſchworenen nicht zuzugeiellen, jondern in Gegenwart derjelben vor Ge 


Schwurgericht. 629 


richt ausſagen zu laſſen. Vollſtändig ausgebildet erſcheint dieſes Deponiren der 
von den Parteien produzirten Zeugen in dem von Fortescue 1460 verfaßten 
Wert: De laudibus legum Angliae. Daneben wird aber von Fortescue auf die 
eigene Kenntniß der Gejchworenen und deren Nachbarnqualität noch bejonderer Werth 
gelegt; als Gemeindegenofjen könnten ihnen die fraglichen Thatſachen nicht völlig 
unbefannt fein, außerdem aber müßten fie — ein Fingerzeig für die Gründe der 
Unterordnung des Spezialzeugniffes unter das Motorietätszeugnig — Beicheid 
willen über Ruf und Glaubwürdigkeit der produzirten Privatzeugen. Und den 
Mangel der Jury außerhalb Englands erklärt Yortescue daraus, daß im Aus— 
lande der gleichmäßige Wohlitand der Englischen Gejellichait fehle und daß man 
daher die Jury nur aus armen, alſo unzuverläffigen Leuten zufammenjegen fönnte 
oder aus jolchen, welche vom Orte des Streitpunftes jehr entfernt wohnen und da= 
ber nicht? davon willen. 

Demnach) fungirten in der Zeit Fortescue's die Gejchworenen in Fällen, two 
ihnen Evidence vorgelegt worden, theild als Urtheiler über die vor ihnen verhörten 
Spezialzeugen, theils als Gemeindezeugen. Weil fie das letztere find, können fie ihr 
Verdikt auch gegen die vorgelegte Evidence abgeben, indem fie ihr eigenes Wiſſen 
über diejelbe ſtellen. Sie find ferner in der Lage, ohne Vorlegung von Beweis— 
material blos auf ihr eigenes Willen Hin ein Verdikt abzugeben. Demgemäß find 
fie auch noch wegen unwahren Spruches dem Attainteverfahren außgejeßt. 

Weſentliche Fortichritte nach der Richtung der Urtheilsjury Hin befundet eine 
Darftellung des Verfahrens, welche ein Jahrhundert nach der Abfaffung von For— 
tescue’3 Schrift entitanden it. Thomas Smith führt in feinem 1565 ge= 
jchriebenen Traftate: De republica Anglorum unter den PVorzügen Englands, 
namentlich die Jury an und giebt bei diefem Anlaffe eine eingehende Bejchreibung 
diefer Inftitution. Die Zeugen werden vor den Gejchivorenen dem Kreuzverhör 
unterworfen. Der Richter giebt der Jury, ehe fie fich zur Abgabe des Wahripruchs 
zurüdzieht, ein Nejume der Verhandlung. Die Gejchworenen werden bei der Be— 
eidigung verpflichtet ad facti veritatem dicendam secundum probationes in 
iudicium deductas et conscientiam suam. 

In richtiger Werthichägung des durch das öffentliche Kreuzverhör geläuterten 
Beweismaterials wurde das Gebiet, auf welchem das vor der Deffentlichkeit latent 
bleibende Zeugniß der Gejchworenen fich geltend machen konnte, von Rechtswegen 
eingeichräntt. Die Eigenfchaften eines Spezialzeugen und eines Gejchworenen 
wurden für unvereinbar erflärt und zugleich wurde der Begriff des Spezialzeugniffes 
allmählich jo weit ausgedehnt, daß das bei den Gefchworenen vorausgejeßte und zu— 
läſſige Willen jchließlich auf das Maß der allgemeinjten Notorietät beichränkt wurde. 
Es geichah 1650, aljo in den Tagen Oliver Crommell’s, daß die damals 
Bancus superior genannte Kingsbench die Enticheidung fällte, ein Gejchworener dürfe 
feine bejondere perjönliche Kenntniß von der Streitfache jeinen Mitgeſchworenen nicht 
heimlich mittheilen, jondern er müſſe feine Ausfage im Gerichtähofe öffentlich wie 
ein Zeuge abgeben. Hand in Hand mit diefer Entwidelung geht das allmähliche 
Berichwinden der Attainte. Da die Gefchworenen auf vorgelegte Beweismittel hin 
iprechen, können fie nicht mehr wegen unmwahren Zeugnifjes zur Verantwortung ge: 
zogen werden. Schon Smith erwähnt die Attainte ala eine veraltete Einrichtung. 
An Stelle der Ueberführung der Geichworenen tritt die Nechtsfitte, ein neues Ver— 
fahren, new trial, zu gewähren, wofür fich ſeit Mitte des 17. Jahrh. fichere Bei- 
fpiele nachweifen Laffen. 

Trotz Alledem wird der Sat: vicinus facta vieini praesumitur scire, welcher 
der Beweisjury zu Grunde lag, aber für die Urtheilsjury feine Berechtigung mehr 
hatte, in der Theorie und in einzelnen praftifchen Anwendungen noch durch längere 
Zeit feitgehalten. Mit der ihm eigenthümlichen Zähigkeit blieb das Englische 
Common Law auf der Forderung beitehen, daß die Jury aus dem Vicinetum zu 


650 Schwurgericht. 


berufen ſei. Noch Coke führt jenen Satz als das Motiv dieſes Erjorderniſſes an 
und Rechtsfälle aus den Zeiten Eliſabeth's und Karl's II. ſprechen denſelben Ge: 
danten aus. Seit die Geichworenen thatfächlich feine Zeugen mehr waren, ericheint 
das Griorderniß des Vicinetum (venue) nicht nur als überflüffig; es war in 
beiondere auch läftig, da die Erfüllung defjelben, welche mit peinlicher Genauigkeit 
verlangt wurde, große Schwierigkeiten verurfachte. Gerade die Betonung de 
Vicinetum war eine der Hauptchifanen geworden, welche man zur Anfechtung des 
Verfahrens in Anwendung brachte. Da half denn in Givilfachen die Gejetgebung 
ab. Nachdem jchon das Statut 21 Jakob I. ch. 13 theilweiie Abhülfe getroffen 
hatte, beitimmte 16 und 17 Karl II. ch. 8, daß ein Urtheil wegen Mangels des 
Vieinetum nicht inhibirt werden ſolle, vorausgefegt, daß die Jury überhaupt aus 
der Grafichaft des Streitortes einberufen jei. Gbenio wurde die durch Common 
Law, theilweife auch durch Statute Law (35 Henry VIII. c. 6; 27 Eliz. e.5 
$ 5) verlangte Auwelenheit von Hundredors durch 4 u. 5 Anna c. 16 für über 
flüffig erklärt, indem an Stelle der Hundertichaft gleichtalld das corpus comitatus 
geſetzt ward, 

So find die Gefchworenen aus Zeugen zu Beweisrichtern geworden. Wie die 
Ausdehnung des Notorietätsbegriffs es möglich gemacht Hatte, durch das PVerbitt 
von Nachbarn das alte formelle Zeugenverfahren zu erießen, hat die rüdläufige Be 
wegung, nämlich die Beichränfung des Notorietätsbegriffes dazu dienen müſſen, das 
perfönliche Willen von der Streitiadhe aus der Jury wieder herauszuziehen und 
zum Gegenitand eines freien materiellen Beweisverfahrens zu machen, während zu: 
gleich der Spruch der Geichtvorenen zu einem die Beweisergebnifje zufammentafienden 
Urtheil umgejtaltet wurde. 

Die weitere Darftellung der Giviljury gehört nicht mehr in den Rahmen dieler 
geichichtlichen Betrachtung. 

B. Die Jury in Straffaden. 

1) Die Anflagejury. 

Der Germanifche Prozeß war ein Anklageprozeß im ftrifteften Sinne des Wortes. 
Wenn nicht die verlegte Partei mit einer rechtsförmlichen Klage auftrat, fonnte eın 
begangenes Verbrechen nicht beftraft werden. Als in der Fränkiſchen Periode fi 
die Idee von der allgemeinen Straigewalt des Staates auägebildet hatte, erlitt 
diefer Grundfaß eine Abänderung. Man beitrafte das erwiejene Verbrechen von 
Amtswegen. Man jtraite alfo in Fällen der handhaiten That. Im anderen 
Fällen wurde zur Ginleitung eines Beweisverfahrens die Inquiſitio in Anwendung 
gebracht. Der Richter verfammelte die angejehenjten Gemeindegenofien, nahm ihnen 
in der Regel ein eidliches Wahrheitsveriprechen ab und forderte fie dann auf ihren 
Eid Hin auf, auszufagen über bejtimmte Verbrechen, die in dem Gerichtäiprengel 
begangen worden waren. Der Ausipruch der Gejchworenen, die Rüge, vertrat die 
Stelle einer rechtsförmlichen Privatflage. Sowie einer folchen gegenüber der Be 
Elagte, jo mußte der Nüge gegenüber der Bezichtigte fich reinigen von der ihm zur 
Yaft gelegten Schuld, fei es durch Eideshelfer, jet e8 durch ein Ordal. Da uns die 
Exiſtenz des NRügeverfahrens in Karolingiſcher Zeit nur durch vereinzelte Hapitularien- 
jtellen beglaubigt ift, jo find wir über die Details des Verfahrens nicht unter 
richtet. Doch liegt fein Grund vor, daran zu zweifeln, daß es mit jener urfund- 
lich geficherten Form der Ynquifitio im Wejentlichen identisch war, welche beim 
Inquifitionsbeweiie in Anwendung fam. Das NRügeverfahren des weltlichen Rechts 
wurde von der Fränkiſchen Kirche rezipirt und auf Grund deflelben die Einrichtung 
der Sendgerichte ausgebildet. Die Daritellung derjelben bei Regino von Prüm 
geitattet uns Rüdichlüffe auf ihr weltliches Vorbild. 

In den Yändern der Fränkischen Monarchie hat fich das Rügeverfahren des 
weltlichen Prozefles auch nach Auflöfung derielben erhalten. Wir finden es in 
Teutjchland als Rüge, in Flandern ala Veritas, Coye Verite, Franche Verite, in 


- — 


Schwurgeridt. 681 


sranzöfiichen Goutumes ipurenhaft als Enquöte oder auch Juree. In England wurde 
es durch die Normannen in ausgedehnteitem Maße in Uebung gebracht und mit den 
jog. Fridborgs in Verbindung gejeßt, einer ſpezifiſch Englifchen Einrichtung, die eine 
Haftung der Gemeinden für bejtimmte in ihrem Bezirt begangene Verbrechen zur 
Grundlage hatte. Die Aſſiſe von Glarendon (1166) jtatuirt ein Rügeverfahren vor 
den Vizefommittees und vor den Jufticiarien, welches die Inquifitio über Räuber, 
Mörder, Diebe und deren Helferähelier zum Gegenjtande hat. Die Inquifitionen 
der Reijerichter und Bizefommittees werden im 12. und 13. Jahrh. nach beftimmten 
drageartifeln vorgenommen. Die Unterfuchung über Verbrechen wird dabei vor— 
wiegend vom fisfalifchen Gefichtspunfte aus und zugleich mit der Inquifitio über 
königliche Gerechtfame geführt. Erſt jeit Eduard III. ericheint die letztere getrennt 
von der Inquifitio über größere und kleinere Kriminalfachen. Bejondere Funktionen 
bat die Jury, welche der Goroner aus der Nachbarichaft beruft, um bei unnatür= 
lichen Zodeställen die Unterfuchung über Todesurfache zu führen. 

Die Rüge wird durch mindejtens zwölf legales homines mit geſammtem 
Munde ausgeiprochen. Sie heißt presentment oder indietment. Der Gerügte, 
Rectatus, Indictatus vertheidigte fich urfprünglich durch ein Ordal, jpäter durch die 
Beweisjury. 

Bis ins 14. Jahrh. findet ſich nur eine aus den einzelnen Sundertichaften 
ausgewählte Rügejury. Seit diefer Zeit taucht eine neue Einrichtung, der Grand 
Enquest, auf, welcher von den föniglichen Jufticiarien gehandhabt wird. Es ift 
das eine Jury von vierundzwanzig Gefchtvorenen (wenn möglich Rittern) aus der 
ganzen Grafichaft, welche in der Grand Jury, die zur Attainte in Givilfachen be= 
nüßt wurde, ihr Vorbild haben dürfte. Als fich das Amt der Friedensrichter aus— 
gebildet hatte, übten dieje die ihnen zufallende Kriminaljurisdiktion in ihren viertel- 
jährigen Graffchaftsfigungen gleichfalls unter Mitwirkung einer Jury und zwar einer 
großen Jury aus. 

Während die der Herrichait entnommene Rügejury der Vizefommtittees und Juſti— 
ciarii außer Gebrauch fam, ift die urjprünglich aus der Grafichaft gewählte große 
Jury die Grundlage der heutigen Anklagejuryg geworden. Doch wurde fie nicht 
mehr aus vierundzwanzig, ſondern höchjtens aus dreiundzwanzig Gejchworenen ge= 
bildet, um die zur Güktigfeit eines Spruches erforderliche Majorität von zwölf 
Stimmen erlangen zu fönnen. Ferner hat fie im Laufe der Zeit ihren Gharafter 
als Rügejury verloren. Der charakterijtische Unterjchied liegt in Folgendem. 

Die Rügejury gab auf amtliche Inquifitio hin Anzeige von Verbrechen, um 
die fie wußte. Nun fam es aber jchon im Mittelalter vor, daß eine Elagberechtigte 
Partei bei der Rügejury eine Denunciation einbrachte, um auf diefe Weile ein 
Indictment herbeizuführen und die Erhebung einer vechtsförmlichen Klage, eines 
Appeals, zu umgeben, die wegen der Folgen, die mit der Sachtälligfeit verbunden 
waren, für den Kläger jehr gefährlich werden fonnte. Die große Jury nahm nicht 
blos Denunciationen, jondern auch Informationen entgegen. Man wirkte von 
Amtswegen darauf Hin, ihr jolche zu verschaffen. So entwidelte ſich ein Zeugen— 
verfahren vor der Jury, welche demgemäß in der Regel nicht mehr aus eigenem 
Wiſſen, jondern auf die erhaltenen Informationen hin den Anklageipruch fällte. 
Auf diefen Grundlagen hat fich das moderne Verfahren entwidelt, welches darin 
beiteht, daß der Denunziant ala Kläger im Namen der Krone (prosecutor) eine 
ichriftliche Klage, eine Bill of Indietment einreicht, über deren Zuläffigkeit die An— 
flagejury nach Bernehmung des Anklägers und jeiner Zeugen enticheidet, indem 
fie durch den Ausiprucd „true bill“ den Bezichtigten formell in den Anklagezuftand 
verſetzt oder durch ein „not found“ die Anklage ala grundlos bezeichnet. Die freie 
Rüge (zum Unterichied vom eben gejchilderten Indietment nunmehr Presentment 
genannt) it daneben außerordentlich jelten geworden, ohne ausdrüdlich aufgehoben 
zu werden. 


632 Schwurgeridt. 


2) Die Urtheilsjury in Strafſachen. 

Die Anwendung eines Inquifitionsbeweijes in Kriminalfachen war dem Frän— 
fiichen Recht unbekannt. Ihr ftand namentlich der Grundjag entgegen, daß in 
Straffachen Niemand eine Ueberführung durch Zeugen zu dulden brauchte. Diet 
Anichauung haben das Altfranzöftiche, Normanniiche und Anglonormannifche Recht 
gewahrt. Ein Beweisverfahren (und zwar ein formale) wurde nur durch Rüge 
oder Klage vermittelt. Die Klage in Kapitalfachen hatte fich zu einer fampi- 
bedürftigen ausgeitaltet, indem der Kläger der Erhebung des Klagvorwurfs die Worte 
beifügen mußte: et hoc paratus sum probare per corpus meum, jo daß der 
negirenden Antwort des Beklagten ein NKampfvertrag der Parteien folgte. Be 
Kampfunfähigen vertrat ein Ordal die Stelle des gerichtlichen Zweikampfs. Dieſem 
Verfahren ftellt fich zuerit ausnahmaweife, dann jakultativ die Enticheidung durd 
eine Beweisjury zur Seite. In England und in der Normandie finden fich jchon 
im 12. Jahrh. Beifpiele dafür, daß der König dem durch Appell Beklagten ein ın 
der Regel um Geld erwirktes Breve giebt, wodurch er ihm geftattet, fich auf den 
Spruch einer Jurata zu berufen. Zunächſt blieb die Anwendung der Jurata auf 
Einreden beichräntt, jo daß die Schuldfrage nur mittelbar erfaßt wurde. Allein ın 
den Jahren Johann’s häufen fich die Beiſpiele, daß der Angejchuldigte fich jchledht- 
weg „de bono et malo* über die Schuldfrage jelbit auf eine Inquiſitio beruft, aut 
daß entjchieden werde „utrum culpabilis sit vel non“. Ebenſo fing man an, in 
Fällen der Rüge oder einer wegen vorliegender Verdachtsgründe ex officio erfolgten 
Anjchuldigung die freiwillige Unterwerfung unter den Spruch einer Jury (se ponere 
super patriam, se mettre en enquöte loiale) zu geitatten, der dann das einfeitige 
Drdal, das ſonſt zur Anwendung gekommen wäre, erjete. 

Seit der Magna Charta (Art. 36) hängt die Berufung auf die Jury vom 
freien Belieben des Beklagten ab. Das Breve, welches die Jurata anordnete, jollte 
nicht mehr gegen Geld als Vergünftigung, fondern es jollte fortan umfonft gegeben 
werden und darf nicht verweigert werden. Bald darauf aber ließ man das Cr: 
jorderniß eines einleitenden Breve vollitändig fallen, denn es traten Verhältnifie 
ein, die es nothiwendig machten, die Jurata ala ordentliches und unbeichränftes 
Beweismittel in das Sriminalverfahren aufzunehmen. Gntjcheidend hierfür wurde 
das Verbot der Ordalien durch die Kirche, welches 1219 in England reichögeieklid 
anerkannt wurde. Da die Ordalien das regelmäßige Reinigungsmittel gegen die 
Rüge gewejen, trat nun die Jurata, die loial Enquöte, an deren Stelle. Doch hielt 
man in England und in der Normandie (von faum bemerfenswerthen Schwankungen 
abgejehen) an dem Grundſatze feit, daß Jemand durch eine Jury nur dann in 
gültiger Weiſe jchuldig geiprochen werden könne, wenn er fi auf den Spruch ber 
Patria als jein Vertheidigungsmittel berufen hatte. Weigerte fich der Verdächtigte 
deilen, jo juchte man in echt Englifchem Geifte die Unterwerfung unter die Jury zu 
erzivingen, indem man gegen ihn die peine forte et dure anwendete, eine Marte 
rung, die im Laufe der Zeit jo jehr verichärft wurde, daß fie häufig den Tod de 
Inkulpaten zur Folge hatte. In Fällen des Appella wurde es dem Bellagten 
freigeitellt, fich auf den angebotenen Kampfvertrag einzulaffen oder fich einer Jum 
zu unterwerfen. Doch fam der gerichtliche Zweilampf allmählich außer Gebrauch 
und jſand jo ſelten ſtatt, daß man ſich erſt im J. 1819 durch den Casus Thorton 
veranlaßt ſah, ihn durch Parlamentsacte aufzuheben. 

Die Beweisjury, welche ſich auf die angegebene Weiſe in Strafſachen aus— 
gebildet, entlehnte ihre Formen der Jurata des Civilprozeſſes. Noch länger wie 
dieſe hat fie den Charakter der Beweisjury gewahrt. Der Ausbildung der Urtheils— 
jury geht auch hier ein Uebergangsjtadium voraus, in welchem die Jury zugleich 
Beweis und Urtheilsjury ift. Leider find die Nachrichten über die maßgebenden 
Uebergangsformen bezüglich der Kriminaljury noch unvollitändiger und dürftiger wie 
bezüglich der Giviljury. Die Schrift, welche zuerft die Jury, ala einen Worzug 


Schwurgeridt. 633 


Englands, den prozefjualen Einrichtungen des Kontinents gegenüberjtellt, Fortescue's 
Lob des Englifchen Rechts läßt Tich des Ausführlicheren nur auf die Giviljury ein. 
Gin Zeugenverhör vor der Kriminaljury wird nicht erwähnt, doch ift der ganze Zu— 
jammenhang der Art, daß fich ein fejter Schluß Hieraus nicht ziehen läßt. Da— 
gegen bietet eine Reihe von Statuten des 16. Jahrh. unzweifelhafte Berveife für 
die Rechtäfitte auch in Straffachen Evidence zu geben (21 Henr. VIII. c. 11; 
26 Henr. VIII. c. 4; 1 Edw. VI. c. 12;1 & 2 Phil. & Ma. c. 11, c.13;2 & 
3 Phil. & Ma. c. 10; 31 Eliz. c. 4). Unter anderem findet ſich auch die An— 
weifung an die Fyriedenärichter und an die Goroners, daß fie alle Perfonen, die 
über den Unterfuchungsfall etwas willen, zum Gricheinen vor der Jury verpflichten 
jollen, um dafelbft gegen die Partei Evidence zu geben (2 & 3 Phil. & Ma. c. 10). 
Gin ziemlich amjchauliches Bild des Verfahrens liefert Smith, De republica 
Anglorum, II. c. 26. Nachdem die Jury gebildet worden ift, ergeht eine öffentliche 
Aufforderung, e& möge jeder dvortreten, der Indicien liefern oder etwas gegen den 
Angeklagten jagen wolle. Dann wird das Protokoll der friedensrichterlichen Unter: 
fuchung vorgelejen, jodann werden der Bejchädigte, der Konſtabler und jene, die 
bei der Verhaftung zugegen waren, und fonftige Zeugen vernommen. Der Anz 
gellagte bejchräntt fi bei Smith auf hartnädiges Yeugnen. Zeugen des An— 
geflagten werden nicht erwähnt. Bei der Ausbildung des Zeugenverfahrens vor der 
Kriminaljury ließ der Anfchuldigungsbeweis den Wertheidigungsbeweis in feiner 
GEntwidelung lange Zeit weit hinter fih. Man mochte fich in den leßteren um jo 
ihwerer hineinfinden, als ja formell jchon die Jury felbft dad vom Angeklagten 
angerufene WVertheidigungsmittel war. Auch ala man demjelben bereits gejtattet 
hatte, Entlaftungszeugen zu bringen, war es im Allgemeinen Rechtens, nur die An— 
flagezeugen, nicht aber die Zeugen des Angeklagten zu beeidigen. Erſt die Statute 
7 will. II. c. 8 (1695) und 1 Anna c. 9 (1702) haben jenes bei Hochverrath, 
diefes überhaupt eine zwingende Borladung der angegebenen Entlajtungszeugen und 
deren Vereidigung angeordnet. 

Die oben angeführten Statute, welche das Vicinetum und das Grforderniß 
von Hundredors betreffen, waren nicht auf die Kriminalfachen ausgedehnt worden. 
Nur für Klagen aus penal statutes wurde gejetlich (24 Ge. II. c. 18) Mbhülfe 
geichaffen. Im Uebrigen blieb das alte Recht, welches die Nachbarnqualität der 
Geſchworenen erheifchte, für die Kriminaljury nominell in Kraft. Allein die Praris 
bat es ignorirt. Schon Lord Sale (Hist. of the Pleas of the Crown, vgl. 
Thl. I. 261) vermag zu fagen, er erinnere fich nicht, daß der Mangel an Guns 
dredors je geltend gemacht worden jei; die Sheriffs nähmen bei der Auswahl 
der Geſchworenen nicht auf das fpezielle Vieinetum, jondern nur auf die Grafichaft 
im Allgemeinen Rüdficht. Die Parlamentsacte von 1825, 6 Georg IV. c. 50 an 
act for consolidating and amending the laws relative to Jurors and Juries, hat 
nur das beitehende Recht firirt, als fie ohne Unterjcheidung von Givil- und Strai- 
jachen beitimmte, daß die Gejchtworenen aus der Grafichaft zu wählen jeien ohne 
Rücdficht auf irgend eine Hundertjchaft, oder auf ein jpezielles Vieinetum innerhalb 
der Grafichaft. 

Herten wir einen Rückblick auf die taufendjährige Gejchichte der Jury, jo fällt 
zunächjt in die Augen, daß fie auf dem Boden, der ihre Keime ausgebildet hatte, 
verfiimmert und verjchwunden ift, während fie in dem Lande, wo fie erſt in Folge 
der Normannifchen Eroberung feſten Fuß faßte, eine lange und reiche Entwidelung 
durchmacdte. Im Laufe diefer Entwidelung erfuhr fie eine vollftändige Aenderung 
ihres Weſens, jo daß fie fchließlich ein ganz anderes Gebilde zu fein fcheint, als 
fie ursprünglich geweſen. Aber nicht auf Grund gejeßgeberifcher Reformen, jondern 
auf dem Wege einer völlig fich ſelbſt überlaffenen gewohnheitsrechtlichen Umbildung 
hat fich in England die alte Zeugengenoffenichaft zur Urtheilsjury umgejegt. Nicht 
ein Erzeugniß urwüchfiger Verhältniffe, das allenthalben entjteht, wo dem Volke 


634 Schwurgeridt. 


Antheil an der Rechtspflege geitattet wird, verdankt fie vielmehr ihre Reception in 
England dem jcharf durchgreifenden Auftreten des Normanniichen Königthums, ihre 
älteite Entwidelung aber der jorgiamen Pflege der Anglonormannijchen Jurisprudenz, 
welche an diefer Einrichtung bereits ihren Scharffinn übte, als anderwärts nod) 
feine Germanifche Jurisprudenz beitand. Grit ala die Nusartungen des fontinen: 
talen Inquiſitionsprozeſſes zur Vergleichung herausforderten, trat fie in die helle 
Beleuchtung einer freiheitlichen und menjchenwürdigen Inititution. An der Wende 
des Mittelalters, als ihre Entwidelung zur reinen Urtheilsjury eben in vollem Zuge 
ift, zeichnet Yortescue, der ältejte Herold ihrer Vorzüge, als Gegenjtüd zu jeiner 
Darftellung der ©., in düjteren Farben das jammervolle Bild des fontinentalen 
Torturverfahrens. 

Iroß aller Umwandlungen, welche fie durchgemacht, hängt die Jury von heute 
in emem Punfte prinzipieller Bedeutung mit den Grundfäßen des Germanijchen Be 
weisrechtes zufammen, aus welchem fie allmählich herausgewachien ift. Das Ge 
richt, das auf den Spruch einer Jury hin über die Sühne der vorliegenden Rechts 
verlegung urtheilt, nimmt zur Beweisfrage diejelbe Stellung ein, wie die Germa- 
niſchen Urtheilfinder. Wie im Altdeutichen Prozeß das Beweisverfahren ein fertiges, 
in fich abgeichlofjenes Ergebniß lieferte, das nicht erit der richterlichen Prüfung 
bedurfte, jo it auch im S.verfahren die Enticheidung der Beweisfrage ein vom 
richterlichen Ermeſſen unabhängiges Produkt des Prozeſſes. Indem die fubjektive 
Ueberzeugung des Gerichts ausgeichloffen blieb vom Beweisverfahren, hat die Jury, 
ein urfprüngliches Beweismittel, durch ihre allmähliche Umbildung zur Urtheilsjur 
den Rahmen für die Entwidelung eines materiellen Beweisrechts abgegeben. 

Lit.: Biener, Das Engl. Geichworenengericht, 3 Bbe., 1852 —1855. — Forsyth, 
History of trial by Jury, new edition 1875. — Palgrave, The Rise and Pro- 
ess of the English Commonwealth, 2 ®bde. 1832. — Konrad Maurer in ber Krit. 
eberichau V. 180 ff., 322 ff., 1857. — — Brunner, Se ai und Jnquifitiond- 
beweis, 1866; Derfelbe, Entftehung ber S., 1872, Die obige Darftellung giebt die Refultate 
der lehtgenannten Unterjuchung in kurzem Auszuge; doch ift die Gejhichte der Urtheilsjurd, 
welche dort nur ganz vorübergehend berührt wurde, hier theilweiſe berichtigt und ertweitert 
worden. — Weitere Yit. in meiner Entftehung der S. — Dal. ferner Stubbs, The 
Constitutional History of England, I. 1874. — Bigelow, History of procedure in England 


from the Norman Conquest, 1880. — Sohm in v. Sybel’3 hiſtoriſcher Ztichr. XV. 163. — 
Silberihlag im Gerichtäjaal, XXVI. Heinrih Brunner. 


Schwurgericht iſt diejenige Gerichtöform, in welcher zur Feſtſtellung des 
juriftiicherelevanten Sachverhaltes im Gegenjaß zur Präcifirung der daraus fich er 
gebenden praftifchen Konjequenzen (alfo zu dem deflarativen Theil des Urtheils im 
Gegenjaß zu dem dispofitiven) Staatörichter und aus der Bevölkerung von Tall zu 
Tall Herbeigerufene Männer, von welchen juriftifche Bildung nicht gefordert wird 
(Geichtworene), ohne zu einem Kollegium vereint zu werden (Schöffengericht, 
j. diefen Art.), zufammenwirfen. 

I. Zur Stunde hat das ©. für den Kontinent noch lediglich für den Stra’ 
prozeß Bedeutung, weshalb im Folgenden auch nur von der Kriminaljury geiprochen 
wird. Für den Strafprogeß nun liegt die fcharfe Grenzlinie zwiſchen den Funktionen 
der Richter und der Gejchworenenbant dort, wo dem Ausjpruch über die Schuld 
der über Strafe, Prozeßkoſten und Privatanjprüche folgt. Der Ausipruch über die 
Schuld und zwar in einer Form, in welcher er nicht blos die Tyeititellung nackter 
Ihatjachen, ſondern die Subjumtion derjelben unter die gejeßlichen Ausdrüde um— 
faßt, fommt der Gejhworenenbanf zu. Die Richter haben an diefem Ausſpruch 
nur mittelbaren Antheil, injofern fie nämlich dafür zu forgen haben, daß der Aus— 
ipruch nur auf Grund eines ftreng gejeßlichen Verfahrens und insbejondere eines 
den pofitiven und aus der Natur der Sache entipringenden Regeln entiprechenden 
Beweisveriahrens ergebe, daß den Gejchworenen die zur Enticheidung des konkreten 
Falles erforderliche Rechtsbelehrung zu Theil werde und daß durch Formulinıng 


Schwurgericht. 635 


der von ihnen zu beantwortenden Fragen die ſachliche und formelle Korrektheit ihres 
Wahrſpruches und die Einſchränkung deſſelben auf den Gegenſtand der Verhandlung 
und auf die ihn betreffenden Rechtsnormen geſichert werde. Bei richtiger Auffaſſung 
ſoll das S. als ein integrirender und organiſch eingefügter Theil der Gexichts— 
inſtitutionen des Landes erſcheinen; die Geſchworenen müſſen ſich als Richter fühlen, 
d. h. einerſeits als Diener und Organe des Geſetzes, denen eine genau abgegrenzte 
Funktion zukommt, andererſeits aber auch als unabhängige Männer, die ihre Ent— 
ſcheidung lediglich nach gewiſſenhafter Ueberzeugung einrichten. 

Aus dieſer Grundanſchauung ergeben ſich für die Stellung und Einrichtung 
des S. folgende Konſequenzen: 

1) Die Jury iſt feine politiſche Inſtitution, oder fie iſt es nur in 
dem Sinne, als Alles, was eine gute und unabhängige Juftiz fichert, Gegenjtand 
auch einer berechtigten politifchen Forderung iſt. Alles, was ihr einen ſpezifiſch— 
politifchen Charakter beilegt, jchädigt ihre Wirkfamfeit und fälſcht ihren Charakter. 
Zu vermeiden ift daher vor Allem eine Einrichtung, welche ihre Aufgabe unter dem 
Einfluß ipezifiich-politiicher Momente abgrenzt: es ſoll fein, fonjt zur Verhandlung 
vor Gejchworenen fich eignendes Delikt, darum, weil e8 mit politischen Kämpfen zus 
iammenbängt, der Jury entzogen; ebenfowenig aber joll e& ihr lediglich aus diefem 
Grunde zugewiejen werden. Noch viel bedenflicher wäre «8, die Jury ausjchlieh- 
lich Für politische Prozeſſe zu Eonftituiren, und eben darum ift es — wenn e8 gleich 
wahr tt, daß Preßdelikte aus jurijtifchen Gründen fich vorzugsweije für Schwur— 
gerichte eignen — ein großer Fehler, Schwurgerichte lediglich für Preßſachen, die 
doch zumeiſt eine politische Seite haben, einzujegen (wie 3. B. 1869 in Dejfterreich 
geichah). Neben der Beitimmung der Kompetenz ift es namentlich die Art der 
Bildung der Gejchworenenlijten, worin fich manifeftirt, daß der Geſetzgeber 
der Jury einen politifchen Charakter beimißt. Wenn man die Qualififation für 
den Geſchworenendienſt mit der Wahlberechtigung für die Volfsvertretung identifizixt, 
jo thut man jein Möglichjtes, um dem Gefchiworenen glauben zu machen, daß er 
nicht als Richter, jondern als Volksvertreter auf der Gejchworenenbant fite, und daß 
die Öffentliche Meinung jtatt der Stimme ſeines Gewifjens aus ihm jprechen jolle. 
Wenn man die Berufung zum Gejchworenendienft von dem Ermeſſen jei e8 eines 
Adminiftrativbeamten, ſei es einer folchen Kommiffion, die naturgemäß politische 
Rüdfichten über alle anderen jtellt, abhängig macht, jo darf man fich nicht wundern, 
wenn der Gejchworene fich als Parteimann fühlt und beträgt. 

2) Die Gejchworenenbant muß bei Löſung der ihr zugewiefenen Aufgabe un— 
abhängig vom Gerichte bleiben; es ift daher in hohem Grade zu mißbilligen, 
wenn der Präfident oder der Gerichtshof bei Entjcheidung von Inzidentſtreitigkeiten 
durch Bemerkungen, die fie fallen laffen, durch Beengung des Beweisverfahreng, 
durch eine den Gejchtworenen die Freiheit der Beurtheilung verfümmernde Faſſung 
der Frage die Unabhängigkeit der Jury beeinträchtigen. Die Jury darf aber auch 
andererjeitö nicht vergeflen, daß ihr beichräntte Attributionen zugewiejen find; fie darf 
nicht in die Funktionen des Richters, des Begnadigers oder des Geſetzgebers eingreifen 
wollen, nicht nach demjenigen jtreben, was man wol auch geradezu die Allmacht 
der Fury genannt hat. Die Feititellung des berechtigten Gebietes der Jury ift 
in Frankreich aus dem doppelten Grunde mißlungen, weil man von einer jaljchen 
Grundanichauung der Aufgabe der Engliichen Jury ausging und weil man von 
allen Seiten her immer wieder die Politit einmifchte. Die Deutjchen Gejeßgebungen 
übernahmen anfangs die Franzöſiſchen Einrichtungen ohne genauere Prüfung, und 
nur ſehr allmählich bricht jich (zum Theil auch mit Hülfe der Polemik über den 
Werth der Jury) eine richtigere Auffaffung Bahn. So lange man in Abrebe jtellte, 
daß der Wahripruch der Jury die Subjumtion unter das Straigeieß vollzieht, jo 
fange fonnte man auch nicht in die Yage fommen, die Wechjelwirtung von Richtern 


“ 


636 Schwurgeridt. 


und Gejchworenen einfach und natürlich zu regeln, und Vorſorge jowol gegen Jr: 
thümer der Gejchworenen, als gegen die Irreführung derjelben zu treffen. 

3) Die Jury wird fich nie ala eine richterliche Inititution daritellen, wenn 
das Echwurgerichtsverfahren nicht in das Ganze des Strafprozeſſes organiich ein- 
gefügt ift. Der berechtigten Singularitäten des S.verfahrens giebt es nur jehr 
wenige; fie laffen fich in der That auf zwei Quellen zurüdführen: die Nothwendig- 
feit des Zuſammenwirkens zweier von einander unabhängiger und nur periodiich zu: 
jammenzubringender Körper, und den Umſtand, daß bei der Bildung der Gejchworenenbant 
der Zufall und Parteienrechte (Ablehnung, Zuftellung der Liften ac.) eine gewiſſe 
Rolle fpielen, vermöge deren die Parteien verlangen können, daß der formgerechte 
Ausspruch dieſer Jury bindend bleibe. Singularitäten, welche fich nicht ftreng 
aus diefen Grundurjachen ableiten laffen, tragen nur dazu bei, daß die Jury gewiſſer⸗ 
maßen als außer dem Gemeinen Recht ftehend angejehen werde. Es ift daher nicht 
zu billigen, wenn bei der Verſetzung in Anklageftand, bei der Feſtſetzung des Ein: 
fluffes, den das Geftändnik auf das Berfahren übt, die S.jälle wejentlich anders 
behandelt werden, ala andere Straffälle. Noch tiefer aber muß es das Rechtägerühl 
verlegen, wenn etwa die jtändigen Gerichte an Beweisregeln gebunden werden, während 
daneben Gejchworene das Recht der freien Beweißwürdigung üben, wenn für Aus 
fprüche der Richterfollegien über die Schuldfrage die einfache Stimmenmehrheit genügt, 
während bei der Jury eine fünftliche Majorität gefordert oder ihr Abgang dazu 
benußt wird, die Enticheidung dem Nichterkollegium zuzufchieben, — wenn ber 
richterliche Ausfpruch über die Schuldfrage der Berufung unterworfen ift, während 
der der Jury etwa nicht einmal durch die Nichtigkeitöbeichwerde anfechtbar if. 

U. Mannigfach waren die KHämpie, welche das ©. auf dem Guropätfchen 
Kontinent zu bejtehen hatte, um weite Gebiete zu gewinnen und zu behaupten. 
Mährend es in der Ausprägung, die ihm fein Heimathland, England, gegeben, mit 
der Englifchen Sprache und Flagge in unermekliche außereuropäifche Gebiete einzog, 
wo es die erften Anfänge chriftlicher Gefittung bezeichnen Hilft und doch auch in 
den entwidelteften Staatögebilden von Angeljächfiichem Typus nicht fehlt, hat es in 
Europa (von Malta abgejehen) feinen Ausgangspunkt von Frankreich und deſſen 
großer Revolution genommen. In jener Grundform, welche es 1791 in Frankreich 
annahm, ift es im Gefolge der Franzöſiſchen Heere auf Deutjches Gebiet gelangt 
(nicht auch in das Napoleon I. unterthänige Italien) und hat fich dafelbit im kurzer 
Friſt ſoviel Anhänglichkeit der Bevölkerung erworben, dat es nicht wieder bejeitigt 
werden fonnte. Als ein integrivender Beitandtheil der Franzöſiſchen Juftizeinrid- 
tungen, ja der politifchen Inſtitutionen Frankreichs, die bei häufigem Wechſel der 
oberſten Spite doch eigentlich konftant geblieben find, angefehen, hat e8 dann auch 
in anderen Deutjchen Gebieten warme Anhänger gefunden und auch fonjt in Europa, 
wo die Franzöſiſchen politischen Inftitutionen Nachahmung fanden (Italien, Griechen: 
fand, Rumänien, Spanien, ſelbſt Rußland, — im Gegenjaß zu den Niederlanden, 
wo die Jury befeitigt wurde), fich Eingang verichafft. Speziell im Deutichen 
Sprachgebiete muß man folgende Phajen untericheiden: Bis zum Jahre 1848 ward 
der Jury an und für fich wenig Aufmerkſamkeit geſchenkt; jelbft Feuerbach batte 
fie in feiner 1812 gedrudten, aber erſt 1813 erfchienenen Schrift über das Geſchworenen— 
gericht zunächſt nur als Theil des auf Deutichland laſtenden Napoleonifchen Syſtemẽ 
behandelt; in der ſonſtigen Polemik mit ihrem bekannten politiſchen Hintergrunde 
ward ſie eben als Theil der Franzöſiſchen Einrichtungen mit bekämpft und mit 
verfochten; und als ſolcher Theil ward ſie nach der Wendung, die das Jahr 1848 
herbeiführte, durchgeſetzt. Jetzt aber begann eine neue Epoche — die der juriſtiſch— 
techniſchen Würdigung der Jury als einer Nechtäinjtitution und als einer mit 
anderen Fortſchritten des Strafprozeſſes nicht unbedingt zufammenhängenden Einrichtung. 
Einerjeit3 ward nun die Nothwendigkeit erfannt, das Weſen der rezipirten Einrichtung 
gründlich zu ftudiren und diefe Erfenntniß führte dahin, daß die Quelle des ſchwurgericht⸗ 


Schwurgericht. 637 


lihen Verfahrens, das Englische Recht, unter der Führung von Männern, wie Biener, 
Gneift und Mittermaier durchforfcht und allmählich erſt Klarheit über das Weſen 
und über die bloßen Weußerlichkeiten des Juryiyitems gewonnen wurde. Anderer— 
jeits aber machte fich eine, aus der Art der Einführung der Jury erflärliche politische 
Reaktion geltend. Im Gefolge des Jahres 1848 war das ©. gefommen, in Folge der 
Rückſtrömung ward ihm aus politiihen Gründen (mitunter auch im Namen des 
Nationalitätsprinzips, als einem Theil des Franzöſiſchen Wejens) der Krieg erklärt. 
So ward die Jury 3. B. aus Defterreich, wo fie vollftändig, und aus dem Königreich 
Sadjen, wo fie für Preßjachen eingeführt gewejen, wieder verdrängt. Die Stellung 
war aljo geradezu umgekehrt: die Gegnerichaft war überwiegend politifcher, die 
Vertheidigung des S. überwiegend juriftifchetechnifcher Art. Unverfennbar aber 
gewann in den folgenden Jahren das ©. fichtlih an Terrain und der jteigende 
wiffenjchaftliche Werth der Bearbeitung des jchwurgerichtlichen Verfahrens, die ums 
iaflenden Leiſtungen der Rechtiprechung bezeugten und beförderten feine fjteigende 
Bedeutung. In dem Zeitpuntte, wo die erſten Anftalten für die beſchloſſene StrafP OD. 
des Deutichen Reiches getroffen wurden, waren nur mehr Eleine Deutiche Gebiete 
no der Wirkſamkeit des ©. entzogen, und inäbejondere hatte letzteres auch das 
Königreich Sachſen (im Jahre 1868) fich wieder erobert. Namentlich in diejem 
legteren Gejeße, jowie in einigen anderen, welche um die Wende der Sechöziger 
Jahre erichienen (Württemberg 1868, Hamburg 1869, Bremen 1870), famen jchon 
vielfach die Verbeſſerungen des ©. zum Ausdrud, welche als Ergebniß der Deutichen 
wiffenjchaftlichen Bejtrebungen auf diefem Gebiete zu betrachten find, Berbefjerungen, 
welche die Franzöſiſche Grundform des Verfahrens nicht verleugnen, aber doch aus 
der Vergleichung mit dem Englischen Urbild, insbefondere aus der richtigen Erfennt= 
niß des wahren Verhältniffes zwiichen Gerichtshof und Jurybank, hervorgehen. 

Als nun aber der erjte Entwurf der Deutſchen StrafPD. erichien, jo zeigte 
ih, daß die Abficht auf Bejeitigung der ©. gerichtet jei, und zwar ward die Er— 
reichung dieſer Abficht auf einem Wege angeftrebt, von dem fich im weiteren Ver— 
laufe der Grörterungen zeigte, daß er ſchon um unüberwindlicher äußerlicher Schwierig« 
feiten willen verlafjen werden müfle. Es war nämlich in der legten Phaſe der Polemit 
über die ©. von den Gegnern der leteren, in Anknüpfung an einen Altdeutjchen Aus— 
druf und an die Einrichtung der Strafgerichte unterfter Ordnung in einigen Deutjchen 
Staaten, vorgeichlagen worden, Schöffen (ſ. diefen Art.) an die Stelle des ©. zu 
iegen. Der Entwurf der Deutjchen StrafPO. that dies nun in einer durch Kon— 
jequenz und innere Einheit des Verfahrens imponirenden und gewinnenden Weije: 
daffelbe Verfahren, daffelbe Prinzip der Konftituirung des Strafgerichtes, daffelbe 
Rechtsmittelſyſtem jollte für das ganze weite Gebiet des Strafverfahreng gelten. Der 
Vorjchlag ward durch eingehende Denkſchriften unterjtüßt, welche den Motiven als 
Anlagen beigefügt, die Bedenken und Gefahren der „Rechtäfindung im Geſchworenen— 
gerichte“ und die Vortheile des Schöffengerichtes gründlich auseinanderjegten. Da— 


mit begann — unter der Fahne der Sonderung der Frage der Heranziehung des 
Zaienelementes® von der Form feiner Betheiligung — nun eine neue Epoche des 


Kampfes um das ©., in welcher demjelben mächtige, gewaltige Gegner fich gegen= 
überftellten und mitunter auch alte, oder auch erit vor Kurzem gewonnene Anhänger 
verloren gingen. Man kann nicht verfennen, daß die Macht des Anjturmes und 
die Lebhaftigkeit des Eifers auf der Seite der Gegner des ©. fich befand und 
daß, wenn letteres jchließlich fich behauptete, es nur geichah, weil es jelbjt diefem 
gewaltigen Anfturme gegenüber fich als zu feſt gewurzelt erwies. 

III. Nach lebhaften Kämpfen aljo wurde bei Feititellung der neuen Deutichen 
Reichsgeieße das ©. im Weſentlichen in derjenigen Gejtaltung, welche es nach 
der vorftehenden Darftellung in den jpäteren Deutichen Geſetzen angenommen hatte, 
beibehalten. Es ijt mit großer Sorgfalt Alles geichehen, was nöthig iſt, um das 
©. nicht alö ein politischer Zwede halber beitelltes Ausnahmsgericht Hinzuiftellen, 


638 Schwurgeridt. 


und jowie der erjte Entwurf die Verdrängung des ©. durch das Schöffengericht zum 
nicht geringen Theil durch das Beſtreben begründet hatte, in allen drei Stufen der 
Gerichtäbarfeit ein prinzipiell gleichartiges Verfahren Herzuftellen, jo find die Dir 
ferenzen zwifchen dem Verfahren vor den ©. und dem vor den Gerichten mittlerer 
Ordnung faſt volljtändig auf das Unvermeidliche bejchränft worden. 

1) Die Zuftändigkeit ift durch die weſentlich negative Vorſchriſt de 
GVG. $ 80 geregelt: „Die ©. find zuftändig für die Verbrechen, welde nicht 
zur Zuftändigfeit der Strafkammern oder des Neichögerichtes gehören“. Zur Zu: 
jtändigfeit des Neichägerichtes gehören die „Fälle des Hochverrathes und des Sander 
verrathes, injofern diefe Verbrechen gegen den Kaiſer oder das Neich gerichtet find“ 
(GBG. $ 136, 3. 1). Zur Zuftändigkeit der Strafkammern gehören nad $ 73 
des GVG. folgende Verbrechen: a. bei welchen das Höchſtausmaß der Zuchthaus 
jtrafe fünf Jahre beträgt, joweit nicht einer von drei Spezialtällen politischer Natur 
(StraiGB. 88 86, 100, 106) vorliegt (3. 2); b) bei Perfonen, welche zur Zeit 
der That das 18. Jahr noch nicht vollendet hatten (3. 3; im Falle der Konkurren, 
mit Nelteren ift Verbindung der Straffachen und daher Verweifung vor das ©. zu: 
Läffig). c) Ungucht mit Perſonen unter 14 Jahren (StraiGB. $ 176, 3. 3. (3.4); 
d) Diebftahl, Hehlerei und Betrug in den Fällen der SS 243, 244, 260, 261 und 
277 de StraiGB. (3. 5—7). — Auf die KHompetengbeitimmungen des GIG. 
haben alfo Rüdfichten auf die politifche Natur der ftrafbaren Handlung nur in 
geringem Maße eingewirkt; doch find die „beitehenden landesgejeglichen Vorſchriſten 
über die Zuftändigkeit der ©. für die durch die Preffe begangenen jtrafbaren Hand: 
lungen“ unberührt gelafjen worden ($ 6 des EG. zum GBG.). 

2) Formation des Gerichtes. Die ©. treten (nah $ 79 des GV6.) 
periodijch zujammen; einer näheren Beſtimmung über die Periode enthalten ſich 
die Reichsgeſetze. Das S. befteht aus einem Kollegium von drei Richtern (den 


„richterlichen Mitgliedern des S.“ — $ 82), unter denen auch der Vorfigende in: 
begriffen iſt (j. die Art. S.hof, &.präfident), und „aus zwölf zur Entſcheidung 
der Schuldfrage berufenen Geſchworenen“ ($ 81) — der „Geichworenenbant”. 


Ueber die Art der Heranziehung zum Geſchworenendienſte und die Beſetzung der 
Gejchtworenenbant find die Artikel: Ablehnung von Geijhworenen, Ge: 
Ihworene, Jahreslifte, Hülfsgeſchworene, Spruchliſte, Reduktion 
der Gejhworenenlijte, Ladung der Geſchworenen, Urlijte zu ver 
gleichen. Hier ift nur hervorzuheben, daß die Bildung der Gejchtworenenbant in 
öffentlicher Situng erfolgt (StrafPO. $ 281); was zur Begründung diefer Neue 
rung in den Motiven gejagt ift, rechtfertigt nur den ausdrüdlichen Ausſpruch dei 
Geſetzes, der ergangen jei, ungeachtet die Sache ſonſt ala jelbitverftändlich hätt: 
angejehen werden können; das fachliche Bedenken, das für den abgelehnten Gejchworenen 
Derlegende eines folchen öffentlichen Vorganges, welches den Grund des Ausschlufie 
der Deffentlichkeit im Franzöſiſchen Rechte bildet, ift nicht berüdjichtigt. Weber die 
Beeidigung der Gefchworenen j. d. Art. Gejhworene Der Sitzungsort de 
©. ift in der Regel der Sit des Ynndgerichtes ; doch kann die Straflammer deflelben 
beftimmen, daß einzelne Situngen an einem anderen Orte innerhalb des S. bezirkee 
abzuhalten jeien, in welchem Falle eine bejondere Lifte von Hülfsgeſchworenen gebildet 
wird (GVG. 88 88, 99). 

3) Die Stellung der Geſchworenen charakterifiren die Worte des GBE. 
$ 81: „zwölf zur Entjheidung der Schuldfrage berufene Geichworene.” 
Nah Allem, was in den legten Jahren und jelbft in der amtlichen Befämpfung da 
Yury über den Gegenftand gejagt wurde, kann nicht bezweifelt werden, daß hierin 
die ausdrückliche Ablehnung der älteren Auffaffung, welche die Geſchworenen lediglich zur 
Feſtſtellung nadter Thatjachen berufen erachtete, liege. Dies wird ergänzt und beftätigt 
durch die StrafPO. $ 293, nach welcher Beitimmung die Frage an die Geſchworenen 
die That „mach ihren gejeglihen Merkmalen und unter Hervorhebung da 


. na 


Schwurgeridt. 639 


zu ihrer Unterfcheidung erforderlichen Umjtände bezeichnen“ joll. Da andererjeits 
nah der StrafPD. die Faſſung der Anklage durch einen (allerdings einem anderen 
Kollegium vorbehaltenen) Gerichtäbejchluß feftgeftellt wird, und da $ 296 der Straf DO. 
vorjchreibt, daß die Stellung von Hülfg- und Nebenfragen „nur aus Rechtögründen 
abgelehnt werden“ darf: jo kommt in der Gejammtheit diefer Beftimmungen zu 
deutlichem Ausdrud, daß durch ihren Einfluß auf die Faflung der Tragen die 
rechtögelehrten Richter die vorausgehende, hypothetiſche Unterjtellung der That unter 
das anzumendende Geje vollziehen, vermöge welcher der in der Bejahung oder Ver- 
neinung der Frage enthaltene Ausſpruch der Gejchworenen als das Grgebniß der 
gemeinfamen Arbeit an der Löfung der Schuldfrage erjcheint. Inſofern die Auf: 
jtellung „mildernder Umſtände“ ohne nähere Angabe im Straigejeg nichts anderes 
it, als die Spaltung des der richterlichen Straizumeffung freigelaffenen Raumes in 
zwei Gebiete, ift die Berufung der Gejchtvorenen zur Enticheidung über das Vor- 
handenſein „mildernder Umſtände“ (StrafPO. $ 297) nach der (allerdings vielfach 
bejtrittenen — ſ. 3. B. Wahlberg in Haimerls PBierteljahrsihrift XI. ©. 
28—50) — Anficht des Verfaſſers dieſes Artikels, jogar eine Ausdehnung ihrer Spruch: 
gewalt auf das Gebiet der Strafzumeſſung. Diein neueren Gejegen enthaltene Beitimmung, 
welche das Gericht in die Lage bringt, wegen des Mangels formeller Borausfegungen 
der Berurtheilung oder wegen folcher die Strafbarkeit aufhebender oder die Ber: 
tolgung ausſchließender Umftände, welche gewifjermaßen von außen zur That hinzu— 
treten, den Angeklagten noch vor dem Wahrſpruch außer Verfolgung zu fjegen, it 
in die Deutſche StrafPO. nicht aufgenommen. Dies läßt jehr wichtige Fragen 
offen. Wenn man mit v. Schwarze (S. 388) im Allgemeinen dem Gerichte die 
Berugnik einräumt, einen großen Theil diefer Präjudizialfragen, ohne Rüdficht auf 
den Gröffnungsbeichluß noch vor Beginn de Beweisverfahrend durch Einjtellung 
des Verfahrens zu entjcheiden, jo kann man allerdings die Konſequenz, die er hieraus 
für das S.verfahren zieht (S. 453), annehmbar finden. Da jedoch jene Entſcheidung an 
ſich Bedenken unterliegt, die fich angeficht® der Jury noch fteigem (Meyer in 
v. Holtzendorff's Handb. II. ©. 138, 139), jo muß man wol Anftand nehmen, 
dem Gericht ohne ausdrüdlichen Ausspruch des Gejetes diefe Macht zu vindiziren. Unter 
Verweiſung auf die Artikel Frageftellung und Wahrjpruch heben wir 
nur noc hervor, daß auch das Recht des Gerichtes, den Wahripruch zu fuspendiren, 
wenn es „einjtimmig der Anficht iſt, daß die Gefchworenen fich in der Hauptſache 
zum Nachtheile des Angeklagten geirrt haben” — im Geſetz (StrafPO. $ 317) 
Aufnahme gefunden hat. Ein ausnahmaweijes Verfahren für den Fall des Gejtänd- 
nijjes nad) dem Vorbilde des Englifchen Borganges bei plea guilty ift nicht eingeführt. 
4) für die Stellung des ©. im Organismus der Strafgerichts— 
barfeit ijt begeichnend, daß der Bejonderheiten des jchtwurgerichtlichen Verfahrens 
nur jehr wenige find. An der Spibe ſteht hier die Nothwendigfeit der Borunter- 
ſuchung ($ 176 Abi. 1 der StrafPD.) und die nothiwendige Vertheidigung 
($S 140 der StrafPO.). Lebtere tritt, wie mit Recht angenommen wird, auch dann 
ein, wenn eine an fich zur Zuftändigfeit des Gerichtes niederer Ordnung gehöriges 
Delikt wegen Konkurrenz vor das ©. gelangt. Auch die Mbweichung der Beſtim— 
mungen über Klageänderung in der Hauptverhandlung ($ 294 der StrafPO. 
verglichen mit $ 264) wird nicht als eine fachliche, fondern nur die Vertheilung 
des Stoffes betreffende aufgefaßt (v. Schwarze, Löwe, Voitus), jelbit 
bezüglid) der Ausdehnung der Verhandlung auf neue Thatjadhen 
ift eine Abweichung nicht vorgeichrieben (anderer Meinung: Voitus). — Auch 
das zur Verurtheilung erforderlihe Stimmenverhältniß ift im ©.verfahren 
fein abnormes. Nach $ 262 der StrafPO. ift in jeder Hauptverhandlung zu einer 
jeden dem Angeklagten nachtheiligen GEntjcheidung, welche die Schuldfrage be— 
trifft, eine Mehrheit von zwei Drittheilen der Stimmen erforderlich; dem entipricht 
die im G.verfahren regelmäßig geforderte Mehrheit von 8:4 Stimmen. (Praktifch 


640 Schwurgeridt. 


wird allerdings beim Schöffengericht eine Mehrheit von 2:1, bei den mit fünf 
Richtern bejegten Straffammern eine folche von 4:1 erfordert, jo daß in der That 
nur beim ©. eine eigentliche Zweidrittelmehrheit maßgebend iſt. Singulär ift 
nur das Erforderniß von mindejtens 7 Stimmen zur VBerneinung der frage nad 
„mildernden Umftänden“ ($ 297 Abſ. 2 der StrafPD.). Auch bezüglich der 
Rechtsmittel find die Urtheile der ©. denen der Straffammer prinzipiell gleid: 
geitellt; gegen beide ift nur das Rechtsmittel der Reviſion, welches die Entjcheidung 
der Thatfrage unberührt läßt, nachgelafjen. Daß in S.fällen das Reichsgericht die 
einzige NRevifionsinftanz ift ($ 136 3. 2 des GBG.), beruht nicht auf einer Aus 
nahmajtellung der S., jondern auf der ausnahmsweiſen Unterftellung gewiſſer 
Urtheile der Straflammern ($ 123 Nr. 3 des GBG.) unter die Revifion der Ober 
landesgerichte. Allerdings aber ift e8 eine (aus weitergehenden Beſchränkungen vor 
ausgehender Geſetze und aus billiger Verüdfichtigung des Angeklagten zu erflärende) 
Singularität, daß die Staatsanwaltichaft, wenn der Angeklagte von den Gejchworenen 
für nichtſchuldig erklärt worden ift, nur gewiffe im $ 379 der StrafPO. ſpeziell 
hervorgehobene Revifionsgründe dagegen geltend machen kann; auf ein Elar eriaktes 
und ſcharf durchgeführtes Prinzip läßt fich dieſe Sonderung, welche auch bereits die 
Ausleger in Bewegung jeßt, nicht zurüdführen. 

5) Die Bemühungen (insbefondere Gneift’8), den Gang der Haupt: 
verhandlung in einer mehr dem Englifchen Verfahren fich nähernden Weiſe zu 
regeln, blieben zwar erfolglos ; allein die jehr erheblichen Verbefjerungen des Franzöfiſchen 
Borbildes, welche neuere Deutſche S.gejeße und die Oeſterr. StrafPO. eingeführt 
hatten, haben auch in der RStrafPO. Aufnahme gefunden. Der Schwerpunft liegt 
darin, daß die von dem Vorſitzenden entworfenen Fragen gleich nach dem Schlufie 
der Beweisaufnahme verlefen und der Verhandlung unterjtellt werden (58 290, 291 
der StrafPD.). An die Frageftellung jchließen fich fodann „die Ausführungen und 
Anträge der Staatsanwaltichait und des Angeklagten zur Schuldfrage“ (S 299 der 
StrafPO.). Nun folgt der Schlußvortrag des Vorfigenden ($ 300 der StrafpO. 
j. d. Art. Refume), und unmittelbar darauf ziehen fich die Geſchworenen in das 
Berathungszimmer zurüd ($ 301 der StrafPO.). Wenn fie zurüdfehren, wird ihr 
Ausspruch zunächft in Abwejenheit des Angeklagten verkündet, und erit wenn 
fein Anlaß zur Einleitung des Berichtigungsveriahrens (ſ. d. Art Be: 
rihtigung des Wahrjpruches) gegeben ift, wird jener vorgerufen und ihm der 
vom Gericht angenommene Wahrfpruch verfündet. Iſt der Angellagte von den 
Geichworenen für nichtichuldig erklärt worden, jo jpricht das Gericht (nicht blos 
der Vorfigende) ihn frei ($ 314 der StrafPO.). Eine Ausjegung der Urtheils— 
verfündigung ift im S.verjahren nicht zuläffig; fie „erfolgt am Schluffe der Ber: 
handlung“ ($ 315 der StraPD.). 

IV. In. Dejterreich hielt die Entwidelung der Dinge nahezu gleichen 
Schritt, wie in Deutjchland. Durch ein im Mai 1848 erlafjenes Gejeg und durd 
das an defjen Stelle getretene Gejeg vom 13. März 1849 ward das ©. dajelbit 
zunächſt für Preßjachen eingeführt. Die StrafPO. vom 17. Januar 1850 (weſent— 
lich auf dem Entwurf der Thüringifchen StrafPO. beruhend) brachte für die zum 
Deutichen Bunde gehörigen Gebiete die Ausdehnung der ©. auf alle jchweren Ber: 
brechen und auf politifche und Preßdelikte. Mit Kaiferlicher Verordnung vom 
11. Januar 1852 (erlaffen im Zufammenhang mit den am 31. Dezember 1851 
aufgejtellten „Grundzügen” für die ftaatörechtliche Gejtaltung der Monarchie) wurden 
fie wieder befeitigt. Aber jogleich nach der Einführung der Verfaffung vom 26. Fe— 
bruar 1861 faßte ſowol die Regierung, als das Abgeordnetenhaus des Reichsrathes 
die Wiedereinführung der ©. ins Auge. Mancherlei eigenthümliche Wechjelfälle 
brachten e8 mit fich, daß gerade ein außgefprochener Gegner der ©., dv. Hye, im 
Jahre 1861 den Entwurf einer StrafPD. einbrachte, welcher das ©. in jadhlid 
und räumlich weiterem Umfange zur Geltung brachte, als in der Abficht feiner 


Schwurgericht, 641 


Vorgänger gelegen war. Die Berathung dieſes Entwurfes führte zwar zu feinem 
Abſchluß, aber doch beförderte deffen VBorhandenjein das Zuftandefommen einer 
grumdgejeßlichen Beftimmung (Art. 11 des Staatögrundgejeges über die richterliche 
Gewalt vom 21. Dezember 1867), welche lautet: „Bei allen mit jchweren Strafen 
bedrohten Verbrechen, welche das Geſetz zu bezeichnen hat, jowie bei allen politischen 
oder durch den Inhalt einer Drudichrift verübten Verbrechen und Vergehen ent- 
iheiden Gejchiworene über die Schuld des Angeklagten.” Vorerſt ward zur Ausfüh— 
rung diejer Beitimmung wieder der bedenkliche Weg der partiellen Ginführung der 
Jury Lediglich für Preßſachen durch zwei Gejege vom 9. März 1869 ein- 
geichlagen. Erſt am 23. Mai 1873 ward eine volljtändig neue StrafPO. er- 
laſſen, welche (EG. Art. 6) die Kompetenz des Gejchworenengerichts im Sinne des 
angeführten Staatsgrundgejeßes regelt, während gleichzeitig leßteres durch ein Geſetz 
vom gleichen Tage dadurch modifizirt ward, daB der Regierung dad Recht ein- 
geräumt wird, nach Anhörung des Kaflationshoies das ©. örtlich und für eine Zeit 
von Höchitens einem Jahre einzuftellen; die Ginjtellung muß ſofort ihr Ende er- 
reichen, jobald eines der beiden Häufer des Reichsrathes es begehrt. Abgejehen von 
der unbedingten Zuweiſung afler politifchen und Preßdelikte find die oben unter I. 
1) bis 3) gerügten Uebeljtände in der Regelung des ©. vermieden. Insbeſondere 
beſchränkt fich die Singularität des ©.verfahrens darauf, daß die Beiziehung eines 
Vertheidigers und die Vorunterfuchung obligatorisch ift. Die Verjegung in den 
Anklageftand erfolgt von denjelben Behörden und in demjelben Verfahren, wie bei 
anderen, nicht vor den Eingelrichter gehörigen Straffällen. Das Geſtändniß ift nicht 
Urjache der Anwendung einer beionderen Prozedurform. Die Entjcheidung des Richter: 
follegiums in Straffällen mittlerer Ordnung kann zum Nachtheil des Angeklagten nur 
einftimmig oder mit einer Mehrheit von 3:1 erfolgen, und ift in Bezug auf den Ausſpruch 
über die Schuld gleich dem Wahrſpruche der Gefchworenen nur durch Nichtigkeitsbeichwerde 
anzufechten. Dieje jteht auch in S.fällen jorwol dem Ankläger als dem Angeklagten offen. 
Gegen die Strafbemefjung kann die Berufung in gleicher Weije in S.jällen, wie in anderen 
Straffällen ergriffen werden. In die Fragen an die Geſchworenen find alle „gejeh- 
lihen Merkmale“ der jtrafbaren Handlung aufzunehmen (S 318). „Für den Fall 
der Bejahung einer Frage kann die Stellung von Zujaßfragen zu dem Zwecke ver 
langt werden, um ein in die Frage aufgenommenes gejeßliches Merkmal auf das 
ihm entiprechende thatjächliche Verhältniß zurückzuführen“ ($ 323 Abi. 3). „Die 
Rechtzbelehrung des Borfigenden muß auf Verlangen protofollirt werden ($ 324 
Abj. 1, $ 327 Abf. 3) und kann durch Nichtigkeitsbejchwerde angefochten werden“ 
($ 344 3. 8). Zum „Schuldig“ werden mindejtens acht Stimmen erfordert. 
2it.: Zur Orientirung in der älteren Lit. der Polemik über das ©. ſ. Zachariä, 
— des Deutſchen Strafprozeſſes, IL S. 68—84. — Glaſer in v. ———————— 
andbuch des Deutſchen Strafprozeſſes, I. S. 11, 12, 20, 21. — Aus der ſpäler zugewachſenen 
it.: Mittermaier, Erfahrungen über die Wirkſamkeit der ©. (Erl. 1865). — Hye, Ueber 
dad ©. (Wien 1854). — v. Schwarze, Das Deutiche ©. (Erl. 1865). — Heinze, Parallelen 
zwiſchen der Engliichen Jury und dem Franzöſiſchen Geichworenengeriht (Erl. 1864); Der- 
telbe, Ein Deutiches Geihmworenengericht (Leipz. 1865). — Glafjer, Schwurgerichtl. Er— 
Örterumgen (2. Aufl. von: „Zur Juryfrage“ und „Die Frageſtellung“) Wien 1875. — Wahl: 
berg in der Deiterr. B.Y.Schr. XIV. L.Anz. S. 64 f.— Binbi ng: Die drei Grundfragen d. Dr: 
anijation d. Strafgerichtä (Xeipz. 1876). — Ihering, Der Zweck im Recht, I. S. 401— 413. — 
peziell über die Kontroverſe: Schöffengericht oder ©. 5. d. Art. Schöffen. — In Mandolari's 
Ausgabe von Pessina, Elementi di procedura penale (Napoli 1876) find außer den das Ganze 
des Strafprozejjes umfafienden Werfen von Massa Saluzzo, Saluto, Giuriati, 
Pescatore folgende (allerdings aud) der Darftellung bes Verfahrens gewidmete) italieniiche 
Schriften über dad ©. angeführt: Pisanelli, Dell’ istituzione de’ giurati. — Gabelli, 
I giurati del Regno d’Italia.. — Pizzamiglio, De’ giurati in Italia. — Crivellari, La 


giuria in Italia. — Perotto, I giurati alla Corte d’Assise. — Tofano, Manuale de' 
giurati. — Guala, Le assise. — La Pegna, Manuale pe’ giurati e per le Corti di 
Ass. — Ferrarotti, Manuale delle corti di Assise e de’ giurati. — Rabbeno, Istituzioni 


popolari su’ giurati.— Faranda, Del — per giurati. — Pessina, Sulla istituzione de’ 
giurati. — Carrara, Opuscoli, Vol. IV. Pensieri sulta giuria; Vol. V. Questioni all’ occasione 
v. Holtzendorff, Enc. II. Rechtöleriton III. 3. Aufl. 41 


642 Shwurgerihtshof. 


della giuria. — De Giudici, I giurati. — DeGemmis, Osservazioni sulle attribuzioni de’ 
iurati.— Crisafulli, Sulla riforma del giud. per, giurati in Italia. — Mangano, La giuriae 
a pena di morte, — Miraglia, Studi intorno a’ giudizi per giurati. — De Mauro, Pro- 
etto di riforma sulla istituzione del giuri in Italia. — Carelli, I giurati e le corti 
i Assise. — Abate, Sulla istitazione de’ giurati. — Hinzuzufügen find noch zwei neuere 
Schriften: Giorgi, Abolizione o Riforma (Genova 1877). — Desiderato Chiaves, Giudice 
mal giudicato, apologia del Giuri (Torino 1879). — Ueber den Gang dbes@hmwurgeridts- 
verfahrens: Engliihes Recht: Glajer, Anklage, Wahripruch und Rechtsmittel ım 
Engliſchen N —— (Erl. 1866). (Bgl. bdeſſen ausführliche Literaturangabe 
in vd. Holtzendorff's Handbuch, I ©. 33 ff.) — Franzöſiſch-Italieniſches Recht 
(ausführliche LXiteraturangaben lee a. D. ©. 20, 21) hauptſächlich: Helie, Traite de 
V’Instruct, criminelle (1. &d.) Vol. VIII. et Ix. ss 580-723. — Trebu tien, Cours elementaire 
de droit criminel (1. &d. Par. 1854), Vol. Il. Titre IV. p. 331 ss. — Anspach, De la 
roc&dure devant les Cours d’Assises (Bruxelles 1858). — Cubain, Trait& de la procedure 
evant les cours d’Assises (Paris 1851). — Perr&ve, Manuel des cours d’Assises (Paris 
1861). — Beudant, De lindication de la loi penale dans la discussion devant le J 
(Paris 1861). — Mel, Il codice di procedura penale illustrato (2. ed. Verona 1873; 3. 
Napoli 1871), art. 453 ss. — Nocito, La Corte de Assise. — Casorati, La nuora legge 
sul giuri (Prato 1874) (f, auch die ausführliche von oben). — Deutide Yiteratur 
vor der neuen Reichögeieggebung, hauptiähli: Walther — des Bayeriſchen Strafprozeß⸗ 
rechtes (München 1859), S. 113—129, 294—299, 301 402. — Planck, Syſtemat. Darſtellung 
(Göttingen 1857), ©. 68—70, 38— 456. — Zacariä, Handbuch des Deutichen Strafprozefles, 
Bd. I. (Götting. 1860, 1861), ©. 272-333; Bd. II. (1868) ©. 480-569. — Brauer, Die 
Deutichen Schwur erichtägefehe in ihren Hauptbeftimmungen (Erlangen 1856). — Löwe, Ter 
Preuß. u. eh Brralan 1861), ©. 32,33, 75 ff., 280f.—v. Schwarze, Art. ©. in Meiste’ 
Nr er. . — Meyer, Zbat: und Rechtäfr. im Geichworenengericht (Berl. 1860). — 
Bar, Recht u. Beweis im Geichtworenengericht (Hannover 1861). — Zade, fyrageftellung 
nr MWahriprüche in den Preuß. Schwurge ne (Xeipp. 1867). — €. 94 Das ſchwur⸗ 
erichtliche Strafverfahren (Zeitſchr. E Dosen VI. Beilageheft). — Andreä, Die Red: 
ug des großherzgl. Sächſ. — J————— zu Jena, Bd. "I. (Weimer 
15, 17, 82—92. — Pie Kommentare zum Preuß. Strafverf. von Oppenhoff, 
ee zum Württemb. Schwurgerichtsgeſetz von 1849 von Holzinger; zur 
Badiſchen StrafPO. von 1864 von Ammann, zum fönigl. Sächſ. re —— von 
1868 von v. Shwarze — Die Rechtäfinbung im Gei et =. 5 zu 
Motiven des Entwurfes einer Deutichen StrafPO., Berlin, Januar 1873. — Gneift, 
fragen zur Deutichen StrafPD. (Berlin 1874), &. 9-14. — an Stzafpropeh- 
recht: v. Würth, Defterr. StrafPO. von 1850 (Wien 1851), ©. 87 fi, 503 fi. — Ent: 
ſcheidungen des k. k. Kaſſationshofes (über Preßſachen, auf Grund * ——— 
von 1869), Wien 1871. — Motive zur RBerf. von 1872 I. aug Kal —— 
©. 73 fi). — Glaſer, Gef. kleine Schriften, II. S. 178 ff. — nllmens. eiterr. Straf: 
prozeßrecht —— 1879), ©. 115 ff., 169 ff., 518, 519, 541—550, 578633. — — 
beim Art. Ablehnung der Geihworenen angef. nach der Paragraphenfolge geordneten 
Kommentare. — Plenarbeſchlüſſe und — bes k. k. —— veroͤffentl 
in deſſen — von der Red. der Allgem. Oeſterr. Gerichtszt Id 3 Bde, Wien 1876, 
1880, 1881. — Deutide "A Pen prozehorbnung: otive und die bei dem 
Art, Privatantla e angeführten ern eigen F—— — Dochow, 
Der Reichöftrafprogeh (3. Aufl. 188 en fi. — v. Helpenderi!, 
en be Deutichen has de A — II. ©. 113 2 (G. Meyer), — Meves, 
as Strafverfahren (2. Aufl., Berl. 1880), S 116 ff. — Bezüglich einiger Spezial: 
fragen (abgejehen von ben Anführungen bei den ſolchen —* beſonderen Artikeln dieſes 
Rechislexikons): Zuſtändigkeit bes S.: Arch. des Kriminalrechts 1849 ©. 432 — Hl 
(Maxrquardſen). — Gerichtsſaal 1860 ©. 541—552 (E. Brauer), — Allgem. Deutſche 
Strafrehtäztg. I. 689-693 (v. Schwarze); XII. ©. 101 fi. Wahlberg, — Einflus 
bed Geſtändniſſes auf das S.verfahren: Gerichtäfaal 1849 Bb. I. ©. 432 — 42 
— — 1855 Bd. I. ©. 265—276 (Arnolb); 1865 ©. 160- 198 (Mitter: 
maier). — Ar hi f. Kriminalreht, 1854, ©. 225—253 (FF. Walther). — Goltbammer'? 
Archiv IV. ©. 512—523 (Trieft); VIIL ©. 5341-64 (Sunbelin); XVII. ©. 530 ff., 5% f. 


Glajer. 


Schwur enge ift das Richterkollegium, welches im Verein mit der Ge 
ichworenenbant das Schwurgericht, das Gejchtworenengericht im Straiprogeß bildet. 
Aufgabe und Stellung des ©. find bis zur Urtheilsfällung diejenige, welche dem 
Gericht in der Hauptverhandlung überhaupt zulommt (vgl. insbefondere d. Art. 
Gerichtsvorjißender im Strafverf.); über die vermöge der Natur des Schtwur: 


Schwurgerichtshof. 643 


gerichtsverfahrens oder der herkömmlichen Einrichtungen deſſelben ſich ergebenden Modi— 
fiklationen des Verhältniſſes zum Vorfigenden 5. d. Art. Schwurgerichtspräſident. 
Bezüglich der Urtheilställung beichränft fich die Ihätigkeit des S. auf die Vorberei- 
tung der Entjcheidung der Gefchworenen durch jeine entjcheidende Mitwirkung bei der 
Feſtſtellung der an diejelben zu richtenden Fragen, die Prüfung des Wahrjpruches 
und die Ziehung der rechtlichen Konſequenzen defjelben durch Freiſprechung des An— 
geflagten oder Verurtheilung defielben wegen der im Wahrſpruch fonjtatirten ſtraf— 
baren Handlung, VBerhängung der Strafe, Entjcheidung über die Prozeßkoſten und, 
wo der Adhäſionsprozeß gilt, über die privatrechtlichen Anjprüche. 

In England, dem Stammlande unferer Jury, werden Schwurgerichtsfigungen 
immer nur periodifch, und die wichtigeren von den die Grafſchaften abwechjelnd be= 
reiſenden föniglichen Richtern abgehalten. Daher fam es, daß man in (Frankreich 
und darauf in Deutjchland, jowol die Beriodizität der Schwurgerichtsfigungen, als auch 
eine gewiſſe Abwechjelung in der Zufammenjegung des Schwurgerichtshoies nach— 
ahmte. Während aber in England die NRichterbanf in der Regel von einem Ginzel- 
richter eingenommen wird, verlangte das Franzöſiſche Gejeh ein Kollegium von fünf 
(ipäter von drei) Richtern, welche Einrichtung in Deutjchland beibehalten wurde. 
Aus dem Engliſchen Recht jtammt auch, obgleich dad Wort assize dort in einem 
anderen Sinne gebraucht wird, der für die Schwurgerichtsperiode übliche Ausdrud: 
Affen, und die Benennung: Aſſiſenhof (Cour d'Assise). Dieſe Einrichtungen find 
in den neueſten Gejeßen Deutjchlands und Oeſterreichs beibehalten worden. Das 
Deutihe GBG. bringt den S. mit den Landgerichten in Berbindung ($ 79), ge: 
ftattet jedoch einerjeits, daß die Yandesjuftizverwaltung die Bezirfe mehrerer Land: 
gerichte zu einem Schwurgerichtsbezirk zuſammenſetze, wobei jedoch immer ein be- 
ftimmtes Landgericht die für die ©. nöthigen Gejchäfte in erjter Linie zu übernehmen 
hat ($ 99), andererjeits daß die Straffammern des Landgerichtes einzelne Sigungen 
des Schwurgerichts an einen von feinem Sit verjchiedenen Ort des Sprengelö ver: 
legen ($ 98). Prinzipiell hat das Landgericht (eventuell haben die Yandgerichte des 
Schwurgerichtsſprengels) die zwei Mitglieder des S., welche neben dem Vorſitzenden 
das Kollegium bilden, zu jtellen; die Auswahl ift dem Präfidenten des Landgerichtes 
überlafjen ($ 83 Abi. 2). Da der ©. feine jtändige Abtheilung des Landgerichtes 
ift, ſondern erjt für eine bejtimmte Seffion und nur für deren Dauer zufammengefett 
wird, muß für die Wahrnehmung der fonjt dem erfennenden Gerichte zukommenden 
Gejchäfte außer der fraglichen Zeit bejondere Vorſorge getroffen werden; es gejchieht 
dies durch $ 82 des GBG., welcher die außerhalb der Dauer der Situngsperiode 
erforderlichen Enticheidungen (jo weit jolche nicht ausdrüdlich auf den Schwurgerichts— 
präfidenten übertragen find, 3. B. $ 94) den Strafkammern der Landgerichte überträgt. 

Auch die Oeſterr. StrafPD. bringt den ©. mit dem Gerichtshof eriter In— 
ftanz in Verbindung; „an dem Sibe jedes Gerichtshofes erſter Inftanz werden alle 
drei Monate die ordentlichen Schwurgerichtsfigungen abgehalten“ , gejtattet aber 
ebenfalls, daß eine Situng des Gefchworenengerichtes jtatt am Sitze des Gerichtshofes 
an einem anderen Orte abgehalten werde ($ 297). Die zwei Mitglieder des ©. 
und zwei Grgänzungsrichter werden vom Borfteher des Gerichtshoies erſter Inſtanz 
aus deſſen Mitgliedern oder aus der Zahl der Bezirksrichter des Sprengel3 ernannt 
(S 301). Für die Entjcheidungen, welche außer der Situngsperiode in Schwur- 
gerichtsjachen zu fällen find, ift theils von Fall zu Wall (3. B. durch die Zuweiſung 
an die Rathskammer, SS 225—227), theils durch die allgemeine Bejtimmung des 
letzten Abſatzes des S 13 vorgeforgt, wo verfügt ift, daß diejelben vom Gerichtshof 
erſter Inſtanz in Verfammlungen von drei Richtern zu fällen find. 

GSigb. u. Lit.: Brauer, Die Deutichen Schwurgerichtägefehe, S. 46 ff. — Zachariä, 
Deuticher Strafprozeh, UI. S. 291 ff. — Die nah Paragraphen geordneten Kommentare zur 
Deutſchen und Oefterreih. Straf PO. ſ. dief. bei dem Art. Ablehnung der Gejhworenen 

41 * 


* 


644 Schwurgerichtspräfident. 

und bie hinter gr Art. Shwurgericht angeführte Lit. — Dochow, * ng rs 
©. 28, 29. — v. Schwarze in v. Hol —“ 8 DER, 1. S.5 TE BBRn, 
Dad Defterr. —— (Innsbr. 1 . 172, Glaſer. 


Schwurrgerichtspräſident iſt der Vorſitzende des Schwurgerichtähofes 
(ſ. dieſen Art.) und eben dadurch auch des ganzen aus Richterbank und Geſchwore— 
nenbanf bejtehenden Schwurgerichteg. Die nicht jtändige Beichaffenheit des Schwur- 
gerichtes, deifen periodifcher Zufammentritt (Einrichtungen, welche übrigens mit deſſen 
Weſen nicht untrennbar zuſammenhängen) hat es mit fich gebracht, daß der ©. für 
jede Situngsperiode jpeziell ernannt wird. Die Ernennung fommt nad dem 
Deutihen GVBG. ($ 83), wie nach der Deiterr. Straf} D., dem Präfidenten des 
DOberlandesgerichtes zu. Die Auswahl ift nach erjterem Geſehe unter den Mit: 
gliedern des Oberlandesgerichtes oder der zu deifen Bezirke gehörigen Landgerichte zu 
treffen; nach dem Defterr. Geſetze joll in der Regel der Präfident des Gerichtähote 
eriter Inſtanz, bei welchem das Schwurgericht abgehalten wird, zum Vorſitzenden 
ernannt werden; doch kann die Ernennung auch auf ein Mitglied des Oberlandes: 
gerichtes oder de betreffenden Gerichtshofes erſter Inſtanz fallen. Zum Stellvertreter muß 
nach Oeſterr. Recht der Oberlandesgerichtspräſident ein Mitglied des Gerichtshofes erſter 
Inſtanz ernennen; nach dem Deutichen Gejege entnimmt ihn der Präfident des 
Yandgerichtes der Zahl der Mitglieder diejes Gerichtes. Bis zur Ernennung de 
©. und jeines Stellvertreters erledigt deſſen Geſchäfte der Vorfibende der Straftammer 
(Deutiches GBG. 8 83 Abi. 3). 

Im Allgemeinen ift die Stellung des ©. namentlich dem Gericht gegenüber 
diejelbe, welche überhaupt der zum Vorſitz in der Hauptverhandlung berufene Richter 
einnimmt. (S. d. Art. Gerichtsvorfißender) Es liegt aber in der Natur 
der Sache, daß er gewiffe Verrichtungen vorzunehmen hat, welche bei anderen Ber: 
jahrensarten nicht vorfommen und insbefondere aus dem Umſtande ſich ergeben, daß 
er der Borfigende eines Doppelfollegiums und das Organ ift, durch welches die 
Richterbant mit der Gejchworenenbanf verkehrt. Nach Franzöſiſchem Gefje werden 
dem Affifenpräfidenten allerdings auch noch weitergehende Befugniſſe beigemefjen, die 
fich theils auf die Vorbereitung der Hauptverhandlung, theils auf die Xeitung des 
Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung beziehen. In letzterer namentlich äußert 
fich deffen fog. dDisfretionäre Gewalt (pouvoir discretionnaire), Mit Recht 
aber haben die Deutjche, wie die Defterr. StrafPD. in diefer Hinficht dem ©. ale 
ſolchem eine Ausnahmeftellung nicht mehr gewährt, es hat in diefer Hinficht der 
©. feine anderen Berugniffe, ala welche das betreffende Geſetz auch jedem anderen 
Vorfigenden in der Hauptverhandlung einräumt. Die hervorragendite und einfluh- 
reichite Gigenthümlichkeit in der Stellung des ©. liegt in dem Antheil, den er an 
der Faſſung der an die Gejchworenen zu richtenden Fragen nimmt (f. d. Art. 
Frageſtellung) und in dem Schlußvortrage, den er den Gefchivorenen zu halten 
bat (ſ. d. Art. Refume). 

Abgeſehen hiervon find mamentlich folgende Funktionen dem ©. befonder& zu— 
gewiefen: An ihm gelangt die Spruchlijte der Gejchiworenen (f. diefen Art.) und 
er veranjtaltet die Ladung der darin benannten Perfonen (GVG. 88 92, 93). Er 
enticheidet, jo lange das Schwurgericht noch nicht zufammengetreten ift, über die von 
Gejchworenen geltend gemachten Ablehnungs- und Hinderungsgründe (S 94 dajelbit) 
und beforgt die Ausloojung anderer Geichworenen jtatt der aus der Spruchlifte weg— 
gefallenen (Abi. 2 daſelbſt). Er beitimmt, ob wegen längerer Dauer einer Ber 
handlung Ergänzungsgejhworene (ſ. diefen Art.) beizugeben jeien (GBG. 
$ 194). Gr leitet die Konftituirung der Gejchtvorenenbanf, indem er zunächit für 
die Volljtändigkeit der zur Verfügung ftehenden Gejchworenen jorgt, jodann die Aus: 
loojung der Gejchworenen (j. d. Art. Ablehnung der Geihworenen, Ge: 
ihmworene) vornimmt und die Gejchworenen beeidigt (StrafPD. SS 280 und 288). 
Er authentifirt die an die Geſchworenen gerichteten Fragen, indem er den Fragebogen 


Sclopis — Serimger. 645 


unterzeichnet ($ 301 dajelbft). Er jorgt dafür, daß ohne feine Erlaubnif fein Ge- 
ichworener das Berathungszimmer verlaffe und feine dritte Perjon in daffelbe eintrete 
($ 303 daſelbſt). Durch ihn ergeht, wenn das Gericht die Einleitung des Berich- 
tigungsverfahrens bejchlofjen hat, an die Gejchworenen die Aufforderung, ſich in ihr 
Berathungszimmer zurüczuziehen und dem gerügten Mangel abzuhbelien ($ 309). 
Ganz gleichartig ift die Stellung der S. in der Defterr. StrafPO. geregelt, 
Diefe hat übrigens in Schwurgerichtsfällen die Franzöſiſche Einrichtung beibehalten. 
nach welcher jeder vor das Schmwurgericht zu ftellende Angeklagte noch vor der Haupt- 
verhandlung vom ©. zu vernehmen ift (fog. Präfidentenverhör). In Erman— 
gelung des ©. kann übrigens dieſes Verhör auch von deſſen Stellvertreter oder dem 
Vorsteher des Gerichtöhofes erjter Inftanz vorgenommen werden. Befindet fich der 
Angeflagte auf freiem Fuß, jo fann die Vernehmung auch dem Bezirfsrichter, in 
deſſen Sprengel er fich befindet, übertragen werden (Defterr. StrafPO. $ 220). 
Lit.: Dal. die Angaben bei ben Art. Gerihtövorjigender im rl und 
Schmwurgericht. — Insbeſondere: Helie, Instr. crim. (1. ed., Par.) 88 606— (Vol. 
VII. p. 434—443); Derjelbe, Pratique crim. (Par. 1877), 88 633-6383 p. 332—324, 
88 665—671 p. 341— 345. — Trebutien, Cours de droit crim. (1. Ed.) II. p. 349 ss. — 
Dalloz, Re£pertoire Vol. XXVIII. (Par. 1854) Verbo: Instruction erim. etc. 2140 ss., 
p. 544 ss. — Zachariä, Handbuch zc., II. ©. 331 ff. — Brauer, Deutfche Schwurgericht3: 
gebe, ©. Sf v. Schwarze in Weiske's Recdtäler, S. 79. — Gerichtsſaal 1849, 


Glajer. 


Sclopiß, conte Federigo, & 10. I. 1798 zu Turin, Sohn des Grafen 
Alejjandro ©. di Salerano, mit 21 Jahren Dr. jur,, trat in das Kabinet 
des Gonte Balbo, 1828 Mitglied des höchſten Piemonteſiſchen Gerichtshofs, ſowie 
der zur Abfaffung des Codice Carlo-Alberto ernannten Kommiſſion, 1847 Präfident 
der Preßgeiegfommiffion, 1848 Juftizminifter, 1849 Senator, legte die Stelle ala 
Präfident des Senat? 1864 nieder, außerordentlich verdient um die verjchiedenjten 
Verwaltungszweige, Präfident der hiſtoriſchen Kommiſſion, 1872 Präfident des Ala- 
bamajchiedsgerichts, T 8. III. 1878 zu Turin. 

Schriften: De rebus creditis, Aug. Taur. 1819. — Leggi egiziane (Antologia XXXIL 
XXXV) 1830. — Della legislazione civile Tor. 1835. — Storia dell’ antica legisl. del 
Piemonte, Tor. 1833. — Remarques sur le nouveau code civil sarde (Revue de legisl. 
1838). — Storia della legislazione italiana 1840, 1844, 1857, (2) 1863 (franz. von Carlo 
Sclopis de Petreto, Par. 1861), — Code Theodosien (R. de lögisl. 1842). — Essais 
hist. sur la legisl. italienne (ebenda 1843). — Glossa d’Accursio (Annali di Giurispr. Tor. 
1844). — Dello studio delle leggi, Tor. 1845. — Lois des Lombards (Rev. hist. 1857). — 
Storia della legisl. negli stati Sardi dal 1814 al 1847, Tor. 1859. — Codice internazionale 
(Arch. giuridico 1867.) — Mittermaier, Tor. 1867. — Restaurazione del diritto Italiano 
(Arch. giur. 1868.) — Montesquieu (Rev. de legisl. ancienne et moderne, 1870/71). — Affaire 
de !’Alabama, Geneve 1872. — Carlo Baudi di Vesme (1877, Nouv. Rev. hist. 1877). — 
Thiers (1877, Atti dell'Acc.) — Consid. storiche intorno alle assemblee rappresentative del 
Piemonte e della Savoia, Tor. 1878. — Lettere a Cesare Cantü, Livorno 1877. 

@it.: Promis, Cenno biogr., Torino 1878. — Ricotti, Breve commem., Tor. 1878 
(mit bibliografia — Rivier in Revue de droit international 1878, p. 104, 105. — Arch. 
storico Italiano 1878, p. 331—340 (mit allen Schriften), 1879, p. 130 u. 150. — Nopur. 
Rev. hist., 1879. — ÖOnoranze rese alla memoria del conte S. dalla R. Accademia addi 22 
maggio 1879. — Journal officiel (Paris) 1879, p. 5524—5528. — Prina, Scritti biografici, 
Milano 1880. — Recueil de l’Acad. de legisl. de Toulouse XXVI. p. XXV. — Annuaire 
de l’Institut de droit international, Brux. 1880, I. 23—383. — Sonntagäbeilage der Nord: 
deutjch. Allg. Ztg. Nr. 48 (1. Dez. 1878), ©. 191. — Fed. Sclopis, sa vie et ses oeuvres 


ar Nonce Rocca, Paris 1881 (mit weiteren Biographieangaben). — Rivier in ber 
iblioth. universelle 1872 ss., 577 ss. — Kent, Comm. on international Law, by Abdy 1878, 
p- 461 ss. TZeihmann. 


Serimger, Heinrich, eigentlih Scrimgeour, & 1506 zu Dundee, von 
edlem Gejchlechte, jtudirte zu St. Andrews, Paris und Bourges, hielt ſich dann in 
Genf, in Italien und zu Augsburg bei Ulrich Fugger auf, welcher ihn wieder nad) 


646 Scedendorf — Sedisvatanz. 


Gent an Stephanus empfahl (1558). Er Lehrte zu Genf Philofophie 1563 und 
1564, und Aurispruden, von 1565 ab bis zu feinem Ende 1572 oder Anfang 
1573 erfolgten Tode. Er war ein guter Yurift und ein tüchtiger Philologe. Bon 
Bedeutung ift er hauptfächlich durch feine Ausgabe der Orientaliichen Novellenfamm- 
lung 1558, 1575. Gr veröffentlichte auch Gefchichtliches und hinterließ wichtiges 
handichriftliches Material, welches theilweife von Caſaubon benußt worden ift. 
git.: Saxe, Onomasticon III. a. 1558. — Mackenzie, The lives of the Writters 
of the Scots, ®bd. II. (1711). — Maittaire, Historia Stephanorum, p. 226—240 (170). 
— Senebier, Histoire litteraire de Genöve, I. p. 396—398 (1786). — ee 1981. 
ivier. 
Seckendorf, Veit Ludw. v. 5 20. XII. 1626 zu Herzogen-Aurach, wurde 
fürftlicher Rath und Hofjunfer bei Herzog Emft von Gotha, 1648 Kammerherr, 
Kanzler des Herzogs Mori von Sachſen-Zeitz, zulegt Kanzler in Galle, 7 18. XII. 
1692. „Omnium nobilium christianissimus et omnium christianorum nobilissimus.“ 
Schriften: Comp. hist. eccl., Lipsiae et Goth. 1660—64. — Inst. protectionis in 
causa Erfortensi, 1663 (Repetita et necess. defensio, Mog. 1664). — Deuticher fFürften: 
ftaat, Frkf. 1664, Jena 1720, mit Zufak v. Biechling. — Chriften:Staat, Lpz. 1684, 85, 86, 
1706, 1737. — Diss. hist. et apol. pro doctrina —— de missa, Jen. 1686. — Jus 
publ. Rom.-Germ., Francof., Lips. 1687. — Comm. hist. et apol. de Lutheranismo s. de 
reform. relig., Lips. 1688; Francof. 1692. 1694. (Auszug v. Kie: Ausf. Hift. d. Luther: 
thum3 u. d. Reform, Lpz. 1714.; holl. Ueberſ. v. Yeridins, Delft 1728.) 
Lit.: Hinrichs, Seid). d. Rechts: und Staataprincipien, II. 199235. — Bluntidli, 
Geichichte des allg. Staatsrechts, 133. — Herzog's Enchklop. XIV. 174—177. — Roſcher, 
Geſch. d. National-Oekonomik 1874, ©. 116, 3E—253, 268, 294, 372. Teihmann. 


Sedisvakanz (TH. I. ©. 653) heißt in der fanoniftifchen Sprache die Er— 
ledigung des bifchöflichen (auch des päpftlichen) Stuhles, mag dieje durch den Tod 
des Biſchois oder aus einem anderen Grunde (Verſetzung, Abjegung des Biichore) 
eingetreten fein. Im weiteren Sinne bezeichnet man damit auch die Vakanz anderer 
geringerer Prälaturen (3. B. der Abteien). Bei der Erledigung des Biſchoisſitzes 
hat das Domkapitel binnen acht Tagen nach erlangter Kunde einen Ockonomen zur 
Verwaltung der Einkünfte und ferner einen fogenannten Kapitularvikar, welcher min= 
deſtens Licentiat oder Doktor des fanonifchen Rechts fein muß, bei Vermeidung der 
Devolution an den Erzbifchof zu wählen. Der Kapitularvifar hat von dem Zeit: 
punkt jeiner Wahl die volle biichöfliche Jurisdiktion und übt fie fraft eigenen Rechte 
aus. Da er nicht Mandatar des Kapitels ift, jo kann ihm dafjelbe feine Befugniſſe 
nicht entziehen und ihn ebenfowenig in denjelben bejchränfen. Der Umfang jeiner 
Rechte ift aber infofern enger wie der der bijchöflichen, als er für die Negel nicht 
befugt ift, Dimifforien für die Erlangung der Ordination auszuftellen, ebenjowenig 
die der freien bifchöflichen Kollation unterliegenden Aemter verleihen und endlich auch 
nicht die dem Biſchof als gejeglichem Delegaten des päpftlichen Stuhles oder frait 
bejonderer päpftlicher Verleihung zuftehenden Nechte ausüben dar. Endlich ift er 
nicht berechtigt, eine aus dem ordo episcopalis — dieſer fehlt ihm allerdings für 
die Regel — herfließende Handlung vorzunehmen. Nach der Ernennung des neuen 
Biſchofſs Haben ſowol der Oekonom ald auch der Kapitularvifar jeder über ihre 
Verwaltung Rechenschaft abzulegen. Iſt dagegen nur die sedes impedita (d. 5. der 
Biſchof von Heiden oder Schiamatifern gefangen genommen und fein Verkehr zwiſchen 
ihm und feinem Kapitel möglich), jo hat das letztere proviforifch einen Vikar zu er 
nennen, und fofort an den Papſt zu berichten, damit diefer durch Deputirung eines 
Verweſers (fog. vicarius apostolicus) für die verwaifte Didzefe Sorge tragen kann. — 
Bei der Vakanz des päpitlichen Stuhles wird ein dem bijchöflichen Kapitularvikar 
gleichitehender Verwalter der päpftlichen Jurisdiktion nicht ernannt, weil die Wieder: 
bejegung joviel wie möglich beichleunigt werden joll und die Kardinäle verpflichtet 
find, feine anderen Gejchäfte ala die Papftwahl vorzunehmen. Ebenſowenig gebt 
die päpftliche Jurisdiktion auf das Karbinalkollegium über, daflelbe kann vielmehr 


Seeamt. 647 


nur ausnahmsweiſe im Fall einer der Kirche drohenden Gefahr. durch abſolute 
Stimmenmehrheit die zur Abwendung erforderlichen Maßnahmen treffen und jerner 
dringende Berfügungen in Betreff der Leitung der einzelnen Diözefen und anderer 
firchlichen Gebiete mit proviforischer Kraft bis zur Wiederbejegung des päpftlichen 
Stuhles erlafjen. Die Verwaltung des Kirchenftaates endlich wurde früher, aber einzig 
und allein joweit es fich um die Erledigung der laufenden Geſchäfte handelte, während 
der ©. in der Weife geführt, daß fie der Hardinallämmerer in Verbindung mit drei 
anderen Sardinälen, je einem aus den drei Klafſen (den jog. capita ordinum), 
welche lettere von Beginn des Konklaves ab alle drei Tage nach der Anciennetät 


wechielten, leitete. 
Lit.: Rau, Die Rechte des Domlapitel während der > * rn des 


biichöflichen Stuhles, in ber Tübinger theolog. Quartalſchrift, ©. 365 fi. — Ritter, 
Der Gapitularvifar, Münfter 1832. — P. Hinſchius, ——— u 1. $ 39 u. Th. II. 
5 88. P. Hinſchius. 


Seeamt iſt die durch das RGeſ. vom 27. Juli 1877 mit der Unterſuchung 
von Seeunfällen betraute Behörde. Gegenſtand der Unterſuchung, welche unabhängig 
von einem Strafverfahren anzuſtellen, find Unfälle Deutſcher Kauffahrteiſchiffe; ſolche 
ausländifcher nur, wenn der Unfall fich in den Deutichen Küſtengewäſſern ereignet 
hat, oder die Unterfuchung vom Neichsfanzler angeordnet ift. Berpflichtet ift das ©. 
zur Einleitung der Unterfuchung jedoch nur dann, wenn bei dem Unfall Menſchen— 
leben verloren gegangen, oder ein Schiff geſunken oder aufgegeben, oder unabhängig 
biervon die Unterfuchung vom Reichsfanzler angeordnet ift. Zweck der Unterfuchung 
ift die Grmittelung der Urjachen des Unfalls. Es foll namentlich feſtgeſtellt werden, 
ob der Unfall durch ein Verſchulden des Schiffer oder Steuermanns, oder durch 
Mängel der Beichaffenheit, Ausrüftung, Beladung, Bemannung des Schiffs, oder 
durch Mängel des Fahrwafjers oder der für die Seefahrt bejtimmten Hülfseinrichtungen 
oder durch ein Verjchulden der zu deren Handhabung beitellten Perſonen verurjacht 
it; auch iſt fejtzuitellen, ob die zur Verhütung von Schiffskollifionen erlafjenen 
Vorſchriften beobachtet find. 

Mennichon die Oberaufficht über die S. dem Reiche zufteht, auch die Bezirke 
derjelben durch den Bundesrat abzugrenzen find, jo fällt doch die Errichtung von 
S. in die Kompetenz der Ginzeljtaaten, wie diefe auch die Behörden bejtimmen, 
welche die Aufficht über die ©. zu führen haben. Kompetent für die Unterfuchung 
ift das ©., 1) in deffen Bezirk der Hafen liegt, den das Schiff nach dem Unfall 
zunächſt erreicht, 2) deſſen Sit dem Orte des Unfalls zunächit belegen iſt, 3) in 
deſſen Bezirke der Heimathshaien des Schiffs liegt. Es entjcheidet hierbei die Prä— 
vention; doch kann das Reichsamt des Innern die Unterfuchung auch einem anderen 
zuftändigen ©. übertragen. 

Die ©. find Kollegia. Sie beftehen aus einem Beamten ala Vorfigendem, der 
die Fähigkeit zum Richteramt befiten muß und auf die Dauer ſeines Hauptamts 
eventuell auf Lebenszeit ernannt wird, und vier Beifigern, welche die Stellung von 
Schöffen haben. Sie werden in ähnlicher Weife, wie die leßteren berufen, doch 
werden fie für jeden einzelnen Unterfuchungsfall vom Vorſitzenden gewählt; auch 
müffen zwei der Beifiger die Befähigung ala Seejchiffer befiken und als jolche ge= 
jahren haben. Für jedes ©. wird ein Kommiffar vom Reichskanzler bejtellt, welcher 
den Berhandlungen beizumohnen, Einficht von den Alten zu nehmen, auch Anträge 
an das ©. oder deſſen Vorfigenden zu ftellen hat. Er darf auch beim Reichskanzler 
die Anordnung einer Unterfuchung beantragen, wenn deren Einleitung vom Bor: 
figennden des ©. abgelehnt wird. Dem DVorfigenden liegt e8 ob, über die Einleitung 
einer Unterfuchung zu befinden, die zur Vorbereitung der Hauptverhandlung erforder: 
lichen Grmittelungen anzuftellen, die Hauptverhandlung anzuberaumen, die hierzu 
nöthigen Ladungen vorzunehmen und das Beweismaterial zu beichaffen. Das ©. 
erjcheint in Betreff der Unterfuchung als eine richterliche Behörde und ift mit den 


648 Seereremoniell. 


einer jolchen zuftehenden Beiugniffen ausgeftattet, wie denn auch im Großen und 
Ganzen die Beitimmungen des RGBG. Tit. 15 und 16 und der RStrafPO. Bd. I. 
Abjchn. 3, 6 und 7 Anwendung finden. Das Verfahren vor dem ©. ift öffentlich 
und mündlihd. Nach Schluß der Verhandlungen hat das ©. jeinen Spruch über 
die Urjachen des Seeunfalla abzugeben. Diefer Spruch iſt jpäteftens innerhalb 
14 Tagen nach Schluß der Verhandlungen in öffentlicher Sitzung zu publiziren. 
Dem Reichskommiſſar ift ſtets Ausrertigung defjelben zu ertheilen, dem Schiffer reip. 
Steuermann, deſſen Unfall den Gegenftand der Unterfuchung gebildet, nur auf deflen 
Verlangen. Durch den Spruch kann zugleih — doch nur auf Antrag des Reiche: 
fommiffargs — dem Deutſchen Schiffer und Steuermann die Beiugniß zur Aus 
übung feines Gewerbes (dem Schiffer auch die zur Ausübung des Steuermann: 
gewerbes) entzogen werden, wenn diejelben nach dem Grgebniß der Unterfuchung 
den Unfall verjchuldet Haben durch den Mangel folcher Eigenjchaiten, die zur Aus: 
übung des Gewerbes erforderlich find. Die Berugniß kann indek dem Schiffer veip. 
Steuermann nach Ablauf eines Jahres durch das Neichdamt des Inneren wieder 


— werden. 

Gſgb. u. Lit.: —— betr. bie Unterſuchung von Seeunfällen vom 27. Juli 1877. — 
Entſch. des Überferamts, und der Seeämter, Bd. I (Hamb. 1879/80); Bd. II. — — 
Verzeichn. d. Seeämter im Handbuch f. die Deutſche Handelömarine 1880, ©. 64 * ff. 

ewis. 


Seeceremoniell iſt der Inbegriff der Förmlichkeiten, die im Schiffsverkehre 
beobachtet werden. Beſtimmungen darüber zu treffen, iſt zwar zunächſt Sache des 
Einzelſtaats, der entweder die Schiffe ſeiner Flotte mit Anweiſung dieſerhalb 
verſieht, oder von fremden Schiffen, die mit ihm in Berührung kommen, die 
Beobachtung eines gewiſſen Ceremoniells fordert. Doch hat die internationale Ber: 
fehrsgemeinfchaft der Neuzeit auch ein allgemein angenommenes Herkommen für 
die Chrenbezeigungen gebildet, die jowol bei Begegnungen auf hoher See, ala aud 
beim Befahren fremden Seegebiets zu erweijen find. Nechtlichen Charakter haben 
dieje Neußerlichkeiten nur infoweit, ala ihre Vernachläffigung den Charakter einer 
Beleidigung tragen, demnach eine Forderung auf Genugthuung begründen würde. 
Im Uebrigen gehören fie lediglich ind Gebiet der Gourtoifie, und ihre Unterlafjung 
berechtigt höchitens zur Erwiederung der Unhöflichkeit. Auch in der Gegenwart noch 
pflegen die Nationen einen gewiſſen Werth auf derlei Formen um jo mehr zu legen, 
je mehr darin die Machtitellung der Staaten, das Bewußtiein ihrer Verkehrs— 
gemeinjchaft, die Kameradſchaft im Perjonal der verichiedenen nationalen, insbejondere 
Staatsmarinen zum Ausdrud fommt. — Die einzelnen Förmlichkeiten des cefemo- 
niellen Schiffsverfehrs find verfchieden, je nachdem man fich auf dem Fuße der 
Gleichheit behandelt oder nicht. 

Im internationalen Seeverkehr auf dem Fuße der Gleichheit fommen folgende 
Geremonien vor: Das Hiffen der Flagge; jodann das Abfeuern von Kanonenjchüffen, 
regelmäßig in ungleicher Anzahl, doch nicht über 21 Schüffe, für die Zahl ift der 
Grad der Ehrenbezeigung, jowie der Gebrauch der einzelnen Staaten beftimmend. 
Bei vorzüglicher Ehrenbezeigung wird jcharf geladen. Beide Förmlichkeiten, einzeln 
oder vereinigt, machen den gewöhnlichen Schiffsgruß aus. Der Gegengruß ift dem 
Gruße genau entjprechend, wobei entweder Schuß um Schuß erfolgt oder erſt nach 
abgegebener Salve geantwortet wird. ine geringere Anzahl von Erwiederungs— 
Ihüffen wird nur dann als jtatthaft erachtet, wenn das gegrüßte Schiff fich im der 
Lage befindet, den höheren Rang des fommandirenden Offizier, oder die höhere 
Machtitellung feines Staates zu marfiren. eierlichere Form des Schiffsgrußes iſt 
das PVivatrufen, in ungleicher Anzahl bis zu fieben Malen wiederholt; demnächſt 
eine Sewehrjalve, die immer vor Yölung der Kanonenſchüſſe erfolgt. Zu der Schiffs- 
etiquette gehört jodann noch das Beilegen des Schiffs, wie die Sendung eines oder 
mehrerer Offiziere zur Vifite. 


Seefrachtgeſchäft. 649 


Der ſymboliſchen Demüthigung unter die Gewalt des honorirten Schiffes oder 
Staates dient folgendes Geremoniell: Das Trlaggenftreichen durch Anziehen oder 
Neigen der Flagge, nur bei KHriegsichiffen gebräuchlich, zur Anerkennung der Ober: 
hoheit des geehrten Staats, oder zur Anerkennung jeiner Gebietshoheit; ſowie das 
Segelftreichen,, bei Privatichiffen in gleicher Bedeutung, bejtehend im SHerablafjen 
der Marsſegel. Das Abnehmen der Flagge und ihre Erfegung durch eine weiße 
fommt nur in Seegefechten vor zum Zeichen, daß das Schiff fich ergeben wolle. 

Für die Anwendung diejer Geremonien auf offener See bejteht eine rechtliche 
Verpflichtung nur injoweit, als eine jolche vertragsmäßig übernommen iſt. Indeß 
verlangt doch eine anerkannte internationale Gourtoifie, daß begegnende Kriegsfahr— 
jeuge jich untereinander falutiren. Insbeſondere pflegen noch in der Gegenwart 
Admiraljchiffe den erjten Gruß zu verlangen, dazu auch wol durch einen Schuß 
mit lojem Kraut aufzufordern. Zuerſt grüßt das Schiff, deifen Führer den 
niedrigeren Rang bat; bei NRanggleichheit derjelben das unter dem Winde befind- 
liche. Kriegsgeſchwader werden von einzelnen Schiffen zuerſt gegrüßt, ebenjo Haupt- 
flotten von Hülfisgeſchwadern. Auch Privatichiffe entziehen fich Kriegsfahrzeugen 
gegenüber dieſer Gourtoifie nicht; doch wird die Unterlafjung des Sciffagrußes 
ihnen nicht als Unhöflichkeit angerechnet, wenn fie im vollen Laufe begriffen find. 
Dem Tall der Begegnung auf hoher See wird der des Zufammentreffens im fremden 
Hafen gleich behandelt. — Dur Verträge ift indeß mehrfach jedes internationale 
Geremoniell für Begegnungen auf offener See und im fremden Hafen bejeitigt oder 
ſehr bejchränft worden. Insbeſondere hat Rußland mehrere dahin abzielende Ber: 
träge abgeichlofien. Andere Staaten Haben ihren Marinen bisweilen den erjten 
Gruß überhaupt verboten, und geitatten nur Gegengruß, jo namentlich England 
und Frankreich (Ordonnance 1 Juillet 1831; Martens, Nouv. rec. X. 1837, 
p. 380). Ein neues von den Seemächten getroffenes, auf Vereinfachung des Schiffs- 
grußes gerichtetes Abkommen iſt jeit dem 1. Juli 1877 ins Leben getreten. 

Im Territorialwafjer — ſofern diefe Eigenſchaft nur überhaupt anerkannt 
wird — kann jeder Staat verlangen, daß das von ihm für das Befahren defjelben 
und die Ankunft im Hafen feftgeießte Geremoniell von allen fremden Schiffen be— 
obachtet werde, vorausgeſetzt, daß ein jolches nicht Fränfend und erniedrigend ift. 
Völkerrechtlich anerkannt ift Hier der Anſpruch, den die Kriegsmarine jedes Staates 
in ihrem eigenen Seegebiete auf den erften Gruß hat, ſowol jeitens fremder Kriegs— 
ala Privatichiffe, Flotten oder Eskadren. Der Gruß hat durch Kanonenſchüſſe und 
Flaggenſtreichen zu erfolgen, der Gegengruß eviwiedert blos die Salve. Desgleichen 
wird eine Feſtung, unter deren Kanonen ein fremdes Schiff vorbeifährt, in derjelben 
Weiſe jalutirt: fie dankt dann durch Kanonenſchüſſe, es jei denn, daß der Souverän 
dort augenblidlich refidire. Kriegsichiffe jalutiren bei ihrer Ankunft in Häfen nur 
dann, wenn fich dort Garnifon befindet; in jolchem Falle liegt auch dem Führer 
des Schiffes die erjte PVifite bei dem Kommandanten des Plabes ob. Fremden 
Souveränen, jowie ihren Botjchaftern werden, wenn fie fich dem Hafen nähern, 
von dem empfangenden Staate die Honneurs gemacht, wobei Lediglich deſſen Er— 
meſſen entjcheidet. 

git.: Bynkershoek, Quaest. — publ. II, 21 (ed. 2 1751). — J. I. Moier, 


PVerm. Aohanbl. aus dem Wölterrecht, 11 .6.— F. Ev. Mojer, Al. —— IX. 287; 
X. 218; XII. 1. — Nau, Völkerſeerecht, Hamb. 1802, 88 135 —145. F. v. Martitz. 


Seefrachtgeſchäft (Th. J. S. 545) iſt der Vertrag, welcher die Beförderung 
von Gütern zur See gegen einen Entgelt (Fracht) zum Gegenſtande hat. Geſchloſſen 
wird derſelbe zwiſchen dem Befrachter, welcher ſich den Transport der Waaren aus: 
bedingt, und dem Verfrachter (d. i. Rheder oder in deflen Vertretung Schiffer), welcher 
den Zransport auszuführen übernimmt. Der im Seeverfehr noch vorfommende Ab— 
lader iſt der, welcher die Yadung Liefert. Häufig find Berrachter und Ablader diejelbe 


650 Seefrachtgeſchãft. 


Perſon. Iſt es nicht der Fall, ſo kommt der Ablader für den Frachtvertrag nur 
ſoweit in Betracht, als er Vertreter des Befrachters iſt. Der Vertrag bezieht ſich 
entweder 1) auf das Schiff im Ganzen, einen quoten Theil oder einen beſtimmten 
Raum deſſelben, oder 2) auf einzelne Güter (Stückgüter). Die Natur des Vertrags 
ift jedoch jtets für diejelbe zu halten. Der jog. Ghartervertrag (wobei es fih um 
Verfrachtung des ganzen Schiffs oder eines Theils refp. Raums defjelben handelt) 
ift nicht minder, wie der Stüdgütervertrag eine locatio conductio operis, nicht Sad) 
miethe (welches früher die herrichende Anficht war — Cropp in Heiſe's und 
jeinen jur. Abh. IT. ©. 635; Voigt im Neuen Arc. f. H.R. U. ©. 225 —), 
noch ein aus Sachmiethe und Dienftmiethe zufammengejegter Vertrag (Heiſe, OA, 
©. 353; Pöhls, Seerecht, II. ©. 399). In jedem Fall handelt es fich nämlich 
um ein durch Sachen und Dienſte zu eriielendes Nefultat, die Beförderung der 
Güter nach einem beftimmten Ort. Nur in dem Falle würde eine Sachmiethe an: 
zunehmen fein, wo jemand ein Schiff miethet und es jelbit führt oder durch den 
von ihm angeftellten oder wenigitens von ihm allein mit Anweifungen in Betreff 
der vorzunehmenden Reifen und aller Einzelheiten derielben verjehenen Schiffer führen 
läßt. Die älteren und die heutzutage geltenden Seerechte jchreiben für den auf das 
ganze Schiff oder einen Theil deffelben bezüglichen Vertrag regelmäßig ichrütlide 
Form vor, während fie für den Stüdgütervertrag eine jolche gewöhnlich nicht ver: 
langen. Das Deutiche HGB. fieht, wie nach ihm bei den Handelsgeſchäften die 
Formloſigkeit überhaupt die Negel bildet, auch bei den Verträgen der erfteren Kategorie 
von dem» Griorderniß jeder Form ab, räumt jedoch hierbei jedem der Kontrahenten 
das Necht ein, die Errichtung einer jchriftlichen Urkunde über den Vertrag (Charte— 
partie) zu fordern. Außerdem hat — und zwar bei jeder Art des Frachtvertrags — 
der Schiffer dem Mblader über die geichehene Abladung eine Urkunde, das Konnojie: 
ment (f. diefen Art.) auszujtellen, welche ein Empfangsbekenntniß, zugleich aber 
allein enticheidend für die Nechtäverhältniffe zwiſchen dem Berfrachter und dem 
Empfänger der Güter ift. 

Die Verbindlichkeiten des Verfrachters und des Befrachters ergeben fich aus 
dem Bertrage. In Grmangelung von hierauf bezüglichen Beitimmungen hat der 
Verfrachter bei Ausführung des Vertrags für die Sorgfalt eines ordentlichen Rheder: 
und Schiffers einzuftehen; der Beirachter in Betreff der Lieferung der Güter (3. B. 
der Verpafung), wenn er Kaufmann ift, der Frachtvertrag alſo auch für ihn ein 
Handelsgeſchäft ift, für die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns; wenn er die 
nicht ift, it für die von ihm aufzumendende Sorgfalt das bürgerliche Necht maß— 
gebend. Das Deutiche HGB. hat jedoch in diefer Beziehung noch einzelne ſpezielle 
Peitimmungen getroffen. Der BVerfrachter hat das Schiff in jeetüchtigem Zuftande 
zu liefern und bat für jeden, aus der mangelhaften Beichaffenheit deffelben, die bei 
gehöriger Sorgfalt zu entdeden geweſen wäre, entitandenen Schaden einzufteben. 
Werner darf derfelbe ohne Genehmigung des Abladers die Güter — abgejehen von 
einer nach Antritt der Reife durch Nothiälle veranlakten Umladung — nicht in ein 
anderes, als das im Vertrage bejtimmte Schiff, auch nicht auf das Verded verladen 
und ebenjowenig an die Seiten des Schiffs hängen. Auf der anderen Seite dar 
der Befrachter reip. Ablader die verladenen Güter nicht unrichtig bezeichnen, er dar 
feine Kontrebande noch Güter verladen, hinfichtlich deren ein Ausfuhr- oder, im 
Beitimmungshaien, ein Einfuhrverbot befteht; auch hat er bei der Abladung die 
gejeglichen Bejtimmungen zu beobachten. Er haftet für jeden hierbei durch fein 
Verschulden entitandenen Schaden, und zwar nicht nur dem Berfrachter, fondern 
allen bei dem Schiff reip. der Reife betheiligten Perfonen. ferner muß der Be 
frachter auch dem Echiffer rechtzeitig alle auf die Verichiffung der Güter begüglichen 
Papiere zuftellen. Für Verluſt und Beichädigung der Güter während der Reiſe 
(von der Empfangnahme bis zur Ablieferung) haftet der DVerfrachter jedoch nicht 
nur, wenn die Schuld hieran ihm beizumefjen ijt, vielmehr greifen bier die Grund» 


Seefrachtgeſchäft. 651 


fühe des Rezeptums Platz; d. h. ſeine Haftpflicht wird lediglich ausgeſchloſſen durch 
die (von ihm zu beweifende) Ihatjache, daß der Schaden durch vis maior — welcher 
nicht zu entdedende Mängel des Schiffs gleichgeftellt werden — herbeigeführt oder 
durch die natürliche Beichaffenheit der Güter, namentlich durch inneren Verderb, 
Schwinden, gewöhnliche Yedage u. dgl. oder durch äußerlich nicht erfennbare Mängel 
der Verpadung entjtanden ift. Bei Kojtbarfeiten, Geldern und Werthpapieren tritt 
jedoch die jtrenge Haftung des Verfrachters und überhaupt die Haftung defjelben 
aus dem Trachtvertrage nur dann ein, wenn die Beichaffenheit oder der Werth der 
Güter bei der Abladung dem Schiffer angegeben war. Während nun aber bei dem 
durch dolus oder culpa verurfachten Schaden der Verfrachter für das volle Intereffe 
des Befrachters einzuftehen hat, jo hat er, wenn er, ohne daß ihm ein Verſchulden 
zur Laſt gelegt und nachgewiejen, wegen Verluſt oder Beichädigung der Güter in 
Anfpruch genommen wird, nur für den Werth am Beitimmungsorte einzuftehen. 

Der Berfrachter hat Anipruch auf Fracht nebſt den etwa vereinbarten Neben 
gebühren, als Prämien, Kaplafen u. dgl., das etwaige Liegegeld und Erſatz der aus» 
gelegten Zölle und fonftigen Auslagen. Hierfür haftet der Berrachter in Gemäßheit 
des Frachtvertrags. Allein durch die Annahme der Güter wird der Empfänger ver: 
pflichtet, nach Maßgabe des FFrachtvertrags oder des Konnofjements, auf deren Grund 
die Empfangnahme geichieht, den BVBerfrachter wegen jeiner Anjprüche zu befriedigen. 
Und zwar haben die beiderjeitigen Yeiftungen Zug um Zug zu geichehen; auch braucht 
der Verfrachter die Güter nicht früher auszuliefern, als bis die auf denjelben 
haftenden Beiträge zur großen Havarie, Bergungs- und Hülfskoften und Bodmerei— 
gelder bezahlt oder fichergeitellt find. Die Güter an Zahlungsftatt anzunehmen, ift 
der Verfrachter nicht verpflichtet, mögen diejelben verdorben reip. beichädigt fein oder 
niht. Doch gilt eine Ausnahme in Betreff jolcher Behältniffe, die mit Flüſſig— 
feiten angerüllt und während der Reife ganz oder zum größten Theil ausgelaufen 
find. Gbenjo it für Güter, die durch einen Unfall verloren gegangen find, ab— 
gejehen von ſolchen, deren Berluft in Folge ihrer natürlichen Beichaffenheit ein— 
getreten ift, und von Thieren, die unterwegs gejtorben find, feine Fracht zu bezahlen, 
oder die etwa vdorauäbezahlte zurüczuerftatten, wenn nicht das Gegentheil aus— 
bedungen war. Wegen feiner forderungen hat der Verfrachter ein Piandrecht an den 
Gütern, und zwar nicht nur jo lange diefe von ihm zurüdbehalten oder deponirt 
ind, fondern auch noch nach der Ablieferung, vorausgejeßt, daß dafjelbe innerhalb 
30 Tagen nach diefer gerichtlich geltend gemacht wird, und nicht etwa die Güter 
in den Beſitz eines Dritten gelangt find, der fie nicht für den Empfänger befitt. 
Wenn der Verfrachter die Güter an den Empfänger ausgeliefert, jo hat er wegen 
der gegen diejen ihm zuftehenden Forderungen feinen Regreß gegen den Befrachter, 
joweit fich diefer nicht mit feinem Schaden bereichern würde. - Dagegen jteht ihm 
ein folcher zu, wenn die Güter nicht auögelieiert, reſp. vom Empfänger nicht ab— 
genommen find. 

Der Frachtkontrakt kann natürlich durch gegenfeitige Uebereinkunft der Kontra= 
benten aufgelöſt werden. Doch begründen gewiſſe Umjtände von Rechtswegen die 
Aufhebung des Frachtvertrags oder geben jedem der Kontrahenten das Recht, vom 
Vertrage zurüdzutreten, ohne zur GEntjchädigung des anderen verpflichtet zu fein. 
Der Frachtvertrag tritt außer Kraft, jobald die faktiſche Unmöglichkeit eintritt, ihn 
überhaupt auszuführen in Folge des DVerluftes des Schiffs oder der zu transportirenden 
Güter. Jedem Kontrahenten fteht ein Rüdtrittärecht zu, wenn die juriftifche Une 
möglichkeit eintritt, den Vertrag zur Zeit auszuführen: wenn ein Krieg (wodurch 
Schiff oder Güter unfrei werden) oder Maßregeln des Völkerrechts oder öffentlichen 
Rechts (wie Embargo, Blofade, Ausfuhr: reip. Einfuhrverbot u. ſ. mw.) fich der 
Ausführung der Reife entgegenftellen; bei der Charterung eines ganzen Schiffs jedoch 
nur, wenn das Hinderniß nicht vorausfichtlich von nur kurzer Dauer ift. Die Un- 
möglichkeit hat die angegebenen Wirkungen, mag fie vor oder nach Beginn der Reife 


652 Seemannsamt. 


eingetreten fein. Nur ift im leßteren falle bei juriftiicher Unmöglichkeit ſtets, bei 
faftifcher, wenn die Ausführung der Reife durch den Berluft des Schiffs unmöglich 
geworden, und Güter gerettet find, Diſtanzfracht, d. 5. ein dem Werhältniß der 
zurüdgelegten zur ganzen Reife entiprechender Theil der Fracht (doch nur bis zum 
MWerthe der geretteten Güter) vom Berrachter zu zahlen. Auch ift, jedoch nur bei 
Befrachtung eines ganzen Schiffs, wenn das Hinderniß durch Anordnung eine 
jouveränen Macht („Berfügung von hoher Hand“) verurjacht ift, bevor der Rücktritt 
ftatthaft, auf Befeitigung defjelben drei oder fünf Monate zu warten, je nachdem 
das Schiff in einem europäifchen oder außereuropäiſchen Hafen fich befindet. Selbit 
abgejehen von diefen Gründen ift einfeitiger Nüdtritt des Befrachters gejtattet, aller: 
dings nur gegen Entichädigung des BVerfrachters, Fautfracht. Die Fautfracht beträgt 
bei Berfrachtung eines ganzen Schiffs, wenn der Berrachter vor Antritt der Reiſe 
zurüdtritt, die Hälfte der bedumgenen Fracht. Außerdem hat der Berrachter, wenn 
er nach gelieferter Yadung zurüdtritt, die Koften der Ein- und Wiederausladung ju 
tragen, auch Liegegeld zu entrichten, joweit die Wiederausladung nicht in die Ladezeit 
fällt. Nach Antritt der Reife aber hat der Berrachter die ganze Tracht zu zablen 
und jämmtliche dem Berfrachter in Folge des Frachtvertrags zuftehende Anſprüche 
zu berichtigen, auch demjelben für die durch die Wiederausladung erwachſenen Mehr: 
foften und ſonſtigen Schäden Erſatz zu leiften. War das Schiff zugleich auf Rüd— 
ladung verfrachtet, und war der Rücktritt vor Antritt der Rückreiſe erklärt, fo bat 
der Berrachter jtatt der vollen Geſammtfracht nur zwei Drittel derjelben zu bezahlen. 
Handelt es fi) um eine in anderer Weije zufammengejeßte Reife, jo kommt, wenn 
der Befrachter vor Beginn des lebten Reifeabichhitts zurüdtritt, von der vollm 
Tracht eine der Koſtenerſparniß und dem anderweitigen Frachtverdienſt des Verfrachtere 
entiprechende Quote (jedoch nie mehr, als die Hälfte) in Abzug. Bet Verfrachtung 
eines Iheils oder bejtimmten Raumes des Schiffs gelten diefelben Vorjchriften, wenn 
ſämmtliche Berrachter zurüdtreten. Ebenſo, wenn ein einzelner zurüdtritt, jedod 
mit der Maßgabe, daß er ala Fauffracht die volle Fracht zu entrichten bat, von 
der freilich die Fracht für eine etwaige andere Ladung in Abzug kommt, umd daß 
er Wiederausladung der jchon gelieferten Güter ohne Genehmigung der übrigen Pe 
frachter nur verlangen darf, wenn dadurch feine Verzögerung der Reife und feine 
Umladung verurjacht wird. Der Stüdgüter-Berrachter hat gleichialls beim Rüdtritt, 
wenn derjelbe vor der Abladung erfolgt, die ganze Fracht mit Abzug der etwa für 
anderweitige Güter erhaltenen ala Fautfracht zu entrichten; nach geichehener Ab: 
ladung ift aber jeine Entichädigungspflicht diefelbe, wie bei dem Befrachter eines 
ganzen Schiffs nach Antritt der Reife; auch fann er die Wiederausladung der Güte 
nur unter denfelben Bedingungen fordern, wie der Befrachter eines Theils des Schiffe. 


Gigb. u. Lit.:Deutihes HGB. Art. 556—664. — Franz. Codedecomm. art. 27—I1. 
— Belg. Code de comm. L. Il (Gefeß v. 21. Aug. 1879) art. 67—98. — Lewis, Deutiche: 
Seerecht, I. ©. 182— 327. — Cresp.-Laurin, Cours de droit maritime, II. (Paris 1578 
— — Maclachlan, On the law of merchant shipping (2. ed. London 1876), P 

—547. — Oliver's shipping law manual (6. ed. London 1879), p. 7—121. — Foard. 
On the law of merchant shipping (London 1880), p. 251—464. Lewis. 


Seemannsamt (Th. I. ©. 544) iſt die Behörde, vor welcher die An- und 
Abmufterungen der Schiffsleute jtattfinden und welcher demgemäß auch die Aus 
jertigung der Mujfterrolle obliegt. Außerdem hat daffelbe eine Polizeigewalt und 
jelbft eine Art richterlicher Gewalt über die Schiffsleute, in manchen Fällen aud 
über den Schiffer. Das S. hat Seefahrtsbücher auszuftellen, welche ein geſehliches 
Griorderniß für den Eintritt in den Schiffedienjt find. Gs hat den Schiffäman, 
welcher nach der Anmufterung dem Antritt oder der Fortiegung des Dienites ſich 
entzieht, zwangsweile zur Griüllung jeiner Pflicht anzuhalten, reſp. zu prüfen, ob 
etwa das vom Schiffamann geltend gemachte Hinderniß denjelben in Wahrheit außer 
Stand jeht, den Dienjt anzutreten. Im Auslande darf ein Schiffemann, der aus 


Seeproteit. 653 


einem geiegmäßigen Grunde feine Entlaffung fordert, abgejehen von dem Tall, wo 
das Schiff die‘ Flagge mwechjelt, nur mit Genehmigung des ©. den Dienſt verlaffen, 
wie auch der Schiffer diefer Genehmigung zur Zurüdlaffung eines Schiffsmanns im 
Auslande bedarf. Das ©. Hat die Bejchwerde der Schiffäleute über Seeuntüchtigeit 
oder mangelhafte Verproviantirung des Schiffs zu prüfen und für geeignete Abhülfe 
zu forgen, falls die Beichwerde begründet iſt. Es Hat für die Beförderung des ihm 
auszuhändigenden Nachlafjes einer auf der Reife geitorbenen Perfon der Schiffe- 
befagung in die Heimath derfelben, joweit dies möglich ift, Sorge zu tragen, und 
ipeziell das ©. des Heimathshafens die Aushändigung der Heuerbeträge, welche den 
Perfonen der Bejagung eines verichollenen Schiffs gebühren, an die Empfangsberech- 
tigten zu vermitteln. Dem ©. liegt die Unterfuchung und Enticheidung der durch 
die Seemannsordn. aufgejtellten Uebertretungen (im technifchen Sinne des StrafGB.) 
der Schiffer und Schiffäleute (mit der jelbjtverjtändlichen Ausnahme der Fälle des 
$ 83) ob, wobei jedoch dem Beichuldigten das Recht zujteht, gegen den Bejcheid 
auf gerichtliche Entjcheidung anzutragen. Das ©. hat im Inlande die nach der 
Anmufterung über den Antritt oder die Fortfegung des Dienstes zwijchen Schiffer 
und Schiffsmann entitandenen Streitigkeiten zu entjcheiden, eine Entjcheidung, die 
vorläufig volljtrefbar ift. Sm Auslande, wo dem Sciffämann (abgejehen vom 
Fall der Geltendmachung der Forderungen aus den Dienft- und Geuerverträgen bei 
einem Zwangsverfauf des Schiffe) das Nachſuchen gerichtlicher Hilfe gegen den 
Schiffer unterjagt ift, hat das ©. auf Anrufen des erjteren in den Fällen, die feinen 
Aufjchub leiden, eine vorläufig für beide Theile bindende Entjcheidung zu treffen. 
In gleicher Weife hat das S., vor welchem abgemuftert wird, über den Anjpruch 
des Schiffsmanns zu befinden, welcher eine Bergütung wegen ungerechtfertigter Ver— 
fürzung bei der Beföftigung jeitens des Schiffers verlangt. In allen diefen Fällen 
iſt jedoch der Rechtsweg vorbehalten. Endlich hat das ©. die gütliche Ausgleichung 
der zu jeiner Kenntniß gelangenden Streitigkeiten zwifchen Schiffer und Sciffsmann 
zu berjuchen. 

Als ©. fungiren innerhalb der Grenzen de& Deutichen Reichs die Muſterungs— 
behörden der einzelnen Bundesftaaten, im Auslande die Deutjchen Konjuln. Die 
Mufterungsbehörden find entweder befondere Behörden, die diefe Bezeichnung, wie 
in der Mehrzahl der Preußijchen Häfen, oder die Bezeichnung ©., wie in den 
Hanfeftädten und in Oldenburg führen; oder es find die Obliegenheiten derſelben 
einer anderen Behörde übertragen, jo in mehreren Sannöverjchen und Schleswig— 
Holfteinischen Häfen und in Medlenburg. In den Hanſeſtädten führt der Vorſteher 
des ©. den Titel Wafferichout. 

Gigb. u. Lit.: Deutiche Seemanndordnung vom 27. Dezember 1872, SS 4 ff, 10-22, 
29, 42, 46 ff., 52 ff., 64, 71, 101, 104—106. — Lewis, Deutiches Seerecht, I. S. 138 ff. 

Lewis. 


Seeproteft” oder Verklarung (franz: rapport, Engl.: protest, Stal.: 
eonsolato, protesto) ijt die vor einer Behörde abgelegte Ausjage des 
Schiffers und der Mannſchaft über Unfälle auf der Reije, eine Art 
Bemweisaufnahme zum ewigen Gedächtmijje gegenüber der Nhederei, den 
Yadungöintereffenten und den Afjefuradeuren, gleichzeitig aber auch Rechenſchafts— 
ablage. Auf der einen Seite eine Vergünftigung im Vergleich mit den gewöhn— 
lichen Regeln vom Beweife, ift der ©. daher andererjeits eine Verpflichtung 
des Schiffer, eventuell des im Range nächjten Schiffsoffiziers, deren Erfüllung 
zwar nicht Bedingung feiner Anjprüche an die Intereffenten ift, deren Nichterfüllung 
ihn aber nicht nur jener Beweiserleichterung beraubt, ſondern auch für allen durch 
den Mangel veranlaßten Schaden verantwortlich macht. Ein Protejt in engerem 
Sinne ift darin nur injofern enthalten, ala der Schiffer in der Regel jeine Verant— 
wortlichfeit für den eingetretenen Unfall abzulehnen ſucht. Indeſſen fommen hier 


654 Zeeproteit. 


und da dergleichen bloße einjeitige Protejte des Schiffers, wenigjtens als Vor: 
bereitung der ordentlichen Berklarung („vorläufiger Protejt“) vor, welde 
freilich als Beweismittel nur gegen den Schiffer wirken fünnen. Das Allg. Deutſche 
HGB. kennt nur die wirkliche Verklarung und verpflichtet zu deren unverzüg— 
lichen Ablegung am erjten geeigneten Orte binfichtlich aller wirklich eingetretenen 
Unfälle, fie mögen den Berluft oder die Beichädigung des Schiffs oder der Yadung, 
das Ginlaufen in einen Nothhafen oder einen jonjtigen Nachtheil zur Folge haben. 
Die Ablegung geichieht unter Zuziehung der (zur Mitwirkung bei der Verflarung 
verpflichteten) Schifisbeſatzung, welche der Schiffer zu diefem Zwede vollitändig 
oder doch in genügender Anzahl zu geftellen hat. Bezüglich des Inhalte it be 
itimmt, daß die Verklarung einen Bericht über die erheblichen Begebenheiten der 
Reife, namentlich eine vollftändige und deutliche Erzählung der erlittenen Unfälle 
unter Angabe der dagegen angewendeten Mittel enthalten fol. Innerhalb de: 
Gebiets des HGB. ift die Verflarung „bei dem zufjtändigen Geridt‘ 
(in Preußen dem Amtsgericht) anzumelden und abzulegen. Für das Verfahren 
des leßteren bejtehen gewiſſe Borfchriiten: Der Termin zur Bernehmung wir 
vorher je nach den Umständen öffentlich befannt gemacht; die Intereſſenten 
fönnen der Ablegung der Verflarung beiwohnen; letztere geichieht auf der Grund 
lage des von dem Schiffer jchon bei der Anmeldung vorzulegenden Journale: 
dem Richter jteht es zu, dem Schiffer und den Schiffäleuten einzelne Fragen vor: 
zulegen, auch Perjonen der Schiffsmannjchaft abzuhören, welche der Schiffer nicht 
dazu ausgewählt hat (während im Allgemeinen die Verklarung nicht als ein Kompler 
von Zeugenausiagen, jondern als freiwillige Geſammterklärung gilt); die 
Adgehörten haben ihre Ausſagen zu beſchwören; die Urjchrift der Verhandlung 
wird aufbewahrt; beglaubigte Abjchriften find jedem Betheiligten auf Verlangen zu 
ertheilen. Darüber, in welchen Formen und vor wen die Verklarung im Aus: 
Lande abzulegen jei, ift nichts beitimmt. Es genügt alfo im Allgemeinen die om 
des Ortes der Ablegung (locus regit actum). Nach dem Konſulatsgeſetz des Deuticen 
Reichs können jedoch die Konjuln des Reichs Verflarungen aufnehmen, jelbit 
wenn fie nicht vom Reichsfangler zur Abhörung von Zeugen und Abnahme von 
Eiden ermächtigt find. Die Vorſchriften des HGB. über die Beweiskraft der in 
den gejeglichen Fällen gerichtlich nach den Vorſchriften deijelben aufgenommenen 
Verklarung, jowie der in Art. 888 bezeichneten Beläge find zwar, ala mit dem in 
der CPO. enthaltenen Grundſatze der freien Beweiswürdigung unvereinbar, aufgehoben. 
Indeſſen behalten nicht nur die das Berjahren betreffenden Beftimmungen ihre volle 
Bedeutung, jondern es wird auch eine gehörig aufgenommene Verklarung in der Regel 
die dadurch beurfundeten Begebenheiten der Reife beweijen (für und gegen den Schifrt 
und die, welche für diejen verantwortlich find, 3. B. die Rheder). Selbſtverſtändlich 
iſt dabei vorausgeſetzt, daß die Ausſagen des Schiffers und der Mannſchaft in den 
wejentlichen Punkten unter fi und mit dem Journal im Einklang ftehen. Nicht 
nur durch dem Nachweis von MWiderfprüchen und anderen die Ungkanbwürdigkeit der 
DVerflarung ergebenden Thatjachen, jondern auch durch den Beweis des Gegen: 
theils der durch die BVerklarung beurfundeten Umftände können die Betheiligten 
die Beweiskrait der Verflarung entkräften. Selbſt eine nohmalige eidlidt 
Vernehmung der bei der Verklarung beeidigten Perjonen ijt nicht ausgeſchloſſen 
Andererſeits ift auch dem Schiffer eine nachträgliche Aufklärung dunkel gebliebene 
Ihatjachen, bzw. die nachträgliche Bekundung jpäter eingetretener oder befannt 9° 
wordener Thatjachen („Nachverklarung“) nicht zu verwehren. — In Frankreich, 
Holland und jelbit in England (mo ebenfalls eine gejegliche Beweiskraft der Ver 
farung nicht anerlannt wird) ijt der Gebrauch des S. noch ausgedehnter. Nach 
dent Code de comm. hat der Kapitän in jedem Hafen binnen 24 Stunden auf du 
Gerichtsichreiberei vor dem Präfidenten des Handelsgerichts, eventuell dem Friedene 
vichter des Bezirlſs, im Auslande vor dem Franzöftichen Konful feinen rapport yu 


Seeraub. 655 


erftatten. Bei Schiffbruch ift der Bericht vor dem Richter des Orts oder in deſſen 
Grmangelung vor einer anderen Givilobrigfeit zu erjtatten und durch das Schiffe: 
volf zu befräftigen, welches darüber vernommen wird. Auch Paſſagiere jollen 
vernommen werden, joweit es möglich ift. Außer dem Falle drohender Gefahr darf 
der Kapitän keine Waare ausladen, bevor er feinen Bericht erjtattet hat, widrigen- 


falls er fich einer „poursuite extraordinaire“ ausjeßt. In England wird der ©. 


in der Regel vor einem Notar erklärt. 

Gigb. u. Lit.: Allg. Deutiches HGB. Art. 490—493, 888 Ziff. 3. — Geſetz, betr. bie 
Organijation der Bundeskonſulate ıc. vom 8. Novemb. 1867, 88 36, 20. (B. G. Bl. ©. 137) u. 
Dienitinftr. f. d. Konſuln bes ©. on e- 6. Juni 1871. — Seemanndordnung vom 27. 


520. — Heiſe, HR, ©. 3885390. — dv. Kaltenborn, Grundf. bed praftifchen Europ. 
Seerechts. I. $ 66 (S. 172—176); II. S$ 166—168 (S. 129—130). — Buſch, Archiv für 


—* 648—650. R. Kod. 
Seeraub (Piraterie, piracy), ein Verbrechen, bejtehend in dem räuberijch ge— 
waltiamen Angriff gegen Dandelsichiffe auf hoher See. ©. tit ein Bölferrechts- 
verbrechen; der Seeräuber gilt als hostis generis humani und darf nicht nur von 
den Gerichtshöfen des Yandes, deſſen Flagge angegriffen wurde, jondern von jedem 
jeefahrenden Staate zur Strafe gezogen werden. Auf friicher That überwältigt, 
darf der Seeräuber jofort vom Leben zum Tode gebracht werden. Der TIhatbeitand 
des völferrechtswidrigen ©. iſt nicht überall gleichmäßig beitimmt. Streitig ıjt, ob 
(wie nad) Engl. common law) gewinnjüchtige Abficht dem Angriffe zu Grunde liegen 
muß oder nicht? Die Mehrzahl der Neueren verneint. Oder ob die That auch 
bon einer meuterijchen Schiffsmannjchait gegen das eigene Schiff verübt werden 
tann? Jedenfalls können die von gültig beſtellten Kapern verübten, gegen feind— 
liche oder bona fide gegen neutrale Handelsſchiffe begangenen Gewaltakte nicht als 
S. betrachtet werden. Verſchieden von dem Wölferrechtöverbrechen des ©. it das in 
einzelnen Strafgejeßgebungen (namentlich in England und Nordamerika) vorkommende, 
bejonders bedrohte Verbrechen des ©. Die Abgrenzung des Thatbejitandes diejer 
beiden Berbrechensgattungen kann aber zweifelhaft werden, 3. B. wenn eine im Auf— 
jtande befindliche, als „£riegführend“ von den Neutralen anerfannte Partei während 
des Bürgerfrieges den Handel zur See jchädigt (wie während des amerikanischen 
Bürgerkrieges). Sklavenhandel ſoll nach den Gejegen jeefahrender Nationen und 
den zu feiner Unterdrüdung abgejchlofjenen Verträgen gleichtalle als ©. angejehen 
werden; wo aber das Recht der Durchjuchung verdächtiger Schiffe auf hoher See 
der fremden Flagge verjagt wird, kann auch die Beitrafung nach den für ©. gelten- 
den Beitimmungen nicht praftifch werden. Aufrallend iſt im Vergleich zu anderen 
Geſetzgebungen, daß S 4 des Deutichen StrafGB. ©. nicht unter den ausländijchen 
Delitten erwähnt, die beitrait werden können. Sandelsrechtlich fommt der ©. unter 


den Tyällen der großen Havarie zur Geltung. 

Gfgb.: Franz. Gel. vom 10. April 1825. Reglement vom 12. Nov. 1806 (bezügl. bes 
Verfahrens vor den Tribunaux maritimes). — United States Laws IX. 175. — Sprague, 
I,aw Reports, XXIV. 18, 18. — Proclamation of tbe United States President 19. April 
1861 (U. S. Laws XII App. for 1862 B: 2.) — Englanb: V. Georg IV. c. 113; 1 Vict. 
c. 91 (bezüglich des Stlavenhanbels); 1 Viet. c. 88; 13 & Vict. c. 26 (bezüglid) der Piraterie 
und der Belohnungen der Schiffsmannſchaften wegen der gegen den ©. geleijteten Dienfte). 

Handelarehtlih: Mllg. Deutſches HGB. Art. 453, 630—636, 708. — Stalien: 
Codice di mar. merc. a. 320. 

£it.: Broglie, Sur la piraterie (in deſſen Eerits, III. 335). — Phillimore, Internat. 
Law, L 394—406. — Wildmann, Internat. Law, Il. 150. — Wheaton, Intern. Law, 
Ss 124. — Hejfter, Völkerrecht, $ 104. — Esperson, Diritto diplomatico, II. 2, 12. — 
Gareis, Das heutige Völkerrecht und der Menichenhandel, 1879. v. Holkenbdorff. 


656 Seeitraßenreht — Seeverfiherung. 


Seeſtraßenrecht (Rule of the road at sea, Thl. I. S. 546) bezeichnet den 
Inbegriff der internationalen Vorichriiten, welche zur Verhütung von Schiffstolli- 
fionen gegeben find. Die Aufftellung jolcher Vorſchriften ift durch die Thatſache 
veranlaßt, daß die Zahl der Seeunfälle durch die Anwendung der Dampifrait im 
Schiffsverkehr außerordentlich vermehrt worden iſt. Vorangegangen ift in dieſer 
Beziehung England. Man begann (und zwar jeit dem Jahre 1846) mit der Auf: 
itellung gewwiffer Regeln über das Ausweichen, fügte dann jolche über das rühren 
von Yichtern zur Nachtzeit und über die Anwendung don Nebelfignalen hinzu. Zu: 
nächit nur für Dampfichiffe berechnet, wurden dieje Vorſchriften ſpäter aud auf 
Segelichiffe ausgedehnt. Dieje Beitimmungen, welche die meijten anderen Staaten 
adoptirt hatten, wurden in Folge eines Webereinfommens zwiichen England und 
esranfreich einer Revifion untenvorfen. Die hieraus hervorgegangenen Regeln über 
die Verhütung von Schiffskollifionen zur See find gegen Ende des Jahres 1862 in 
Frankreich, Anfang des Jahres 1863 in England publizirt und in den folgenden 
Jahren auch von den übrigen Seeftaaten angenommen worden, in Deutichland zuerit 
von den einzelnen Küjftenjtaaten, ſpäter auch von NReichswegen (faiferl. Verordnung 
vom 23. Dez. 1871). In der jüngiten Zeit (1876 — 1878) find auf Anregung 
Frankreichs neue Vorichriiten zwiichen den Regierungen der jeefahrenden Nationen 
vereinbart worden, und es find diejelben für das Deutiche Reich mittels kaiierlicher 
Verordnung vom 7. Januar 1880 publizirt worden. Es wird in diejen Beſtim— 
mungen den Schiffen (Dampfichiffen wie Segelichiffen) das Führen von Lichter zur 
Nachtzeit vorgeichrieben, jowie das Geben von Signalen (mittels Dampfpfeite oder 
jonitigen Dampfjignalapparats — bei Dampfichiffen —, Nebelhorn, Glode) bei 
Nebel, diem Wetter oder Schneefall; ferner wird die Mäßigung der Geichwindig- 
feit bei folchem Wetter angeordnet; und endlich werden bejtimmte Regeln über das 
Ausweichen der Schiffe (Steuerregeln) gegeben. Das Uebertreten diefer Anordnungen 
it in Deutichland durch das RStrafGB. (S 145) mit Sriminalitrafe bedroht. 

Gigb. u. Lit.: Kaiferl. Verordnung zur Verhütung bed Zuſammenſtoßens der Schiffe 
auf See, v. 7. Yan. 1880, mobif. durch die Verordnung Bir die Suspenfion des Art, 10 der 


cit. Verordnung v. 16. fyebr. 1881. --- Romberg, Das Straßenredht auf Eee, Bremen 1870. 
— Lewis, Deutjches Seerecht, II. ©. 88 fi. Lewis. 


Seeverfiherung. Das bedeutende Rifito, unter welchem der Natur der 
Sache nach die Seeichiffahrt betrieben wird, hatte bereits im Altertfum und im 
Mittelalter zu NRechtseinrichtungen geführt, welche darauf abzielten, die durch Ser 
jturm, Piraterie und jonjtige Schiffaunfälle entjtandenen Verlufte auf mehrere Per 
jonen, die fi an dem Ausgange des Seehandelsunternehmens direkt oder indirekt 
betheiligten, zu retribuiren und durch gemeinfames Tragen den Ginzelnen weniger 
rtühlbar zu machen. Wol im Anjchluffe an derartige Einrichtungen entwidelte ſich 
das ©.wejen, und zwar zuerjt nicht in der Form einer Verficherung gegen Prämie, 
jondern als Verficherung auf Gegenseitigkeit; das erjte Gejeg, an welches man die 
Entſtehung eines bejonderen S.rechts anzureibhen pflegt, ein PBortugiefiiches Geſetz aus 
der Zeit des Königs Ferdinand don Portugal (1367 — 1383) enthält die Ge 
nehmigung der Errichtung einer auf Gegenjeitigfeit gegründeten Gejellichait von Portu— 
giefiichen Rhedern, welche ſich die Entichädigung der fie treffenden Seeunfälle gegen: 
jeitig zuficherten. Die eriten Spuren einer ©. gegen Prämie finden fich in ben 
DOrdonnanzen von Barcelona (von 1435, 1436, 1458, 1461 und 1484), dem 
Haupt-Aflefuranzplaße des gefammten damaligen Mittelmeerhandels. Bei den regen 
und alljeitigen Beziehungen, welche von diefem Gatalonischen Emporion aus unter 
halten wurden, fonnte nicht ausbleiben, daß das Barceloner S.recht, ſei es auf dem 
Wege recipivender Geſetzgebung, ſei es ala Gewohnheitsrecht nicht blos in Italien, 
jondern auch weiterhin und namentlich in Flandern Gingang jand. In den Nieder— 
landen jcheint jehr bald Brügge eine hervorragende Rolle auf dem Gebiete der ©. 


Seederfiherung. 657 


geipielt zu haben; zahlreiche Nechtsfprüche des Schöffengerichts daſelbſt aus der 
Mitte des 15. Jahrh. (1444—1470) Lafjen erfennen, daß in Brügge die Handels— 
leute von Genua, Florenz, Yucca, Venedig und Salamanca nicht minder ala die 
von Frankreich und Flandern jelbit ihre Schiffe und Ladungen gegen Seegefahr 
verficherten und welche ala BVerficherer wie als Berficherte Recht nahmen vor der 
„Chambre des echevins des Bruges“ ; die Rajchheit der Grefution in S.jachen 
wurde bejonders für Flandern verordnet durch einen Grlaß des Herzogs 
Philipp von Burgund vom 15. Febr. 1458; einen ähnlichen Zwed verfolgte eine 
Verordnung Karl’s V. vom 25. Mai 1537, während im materiellen Verficherungss 
weſen jelbit die Gewohnheit nahezu ausjchließlich rechtserzeugend wirkte und ins— 
beiondere die unbejchränfte Verficherungsfreiheit, der Gebrauch der Policen, die Ver- 
ficherung des imaginären Gewinnes und die Berfücherung gegen Wegnahme des 
Schiffes (ſei es Seeraub oder Kaperei oder Verfügung von hoher Hand), all dies 
ihon am Anfang des 16. Jahrh. in freiefter Ausdehnung gewohnheitsrechtlich zu— 
läffig, geordnet und geübt war. Dieſe S.freiheit erfuhr da, wo fie am bedeutenditen 
blühte, aber auch manche Mikftände erzeugte, in den Niederlanden, die erite Ein— 
ichränfung durch ein Placard Karl's V. vom 28. Januar 1549, in welchem, ähn— 
lich wie in Barcelona und Burgos bereits Rechtens war, namentlich das verficher- 
bare Intereſſe geieglich Limitirt wurde. Einen merkwürdigen Gingriff in die ©., 
welche auch im 16. Jahrh. noch wefentlich durch Gewohnheitärecht, aus der Mitte 
des genannten Jahrhunderts hauptjächlich durch das Goutumerecht der Antwerpener 
Börſe geregelt und fortgebildet ward, enthalten zwei Ordonnancen des Herzogs don 
Alba vom 31. März 1569 und 27. Oft. 1570: fie verbieten für den gefammten 
Niederländifchen Handel die ©., und zwar deshalb, weil die verficherten Rheder die 
Ausrüftung und Bewaffnung ihrer Schiffe vernachläffigten und dadurch die Unfälle 
und inäsbejondere den Seeraub indirekt fürderten und weil in das S.geichäft jelbit 
fi) eine Menge von Betrügereien und Mißbräuchen eingeniftet hatte; die leb— 
haften Reklamationen, welche der Seehandeläftand gegen diefe Maßregeln erhob, 
rührten dazu, daß der Herzog das Verbot wieder aufhob, aber zu einer gejeßlichen 
Regelung des S.weiens überging. (Ueber die Geichichte des S.recht ſ. insbeſondere 
Reaß a. a. D.) Bon da an beichäftigte fich überhaupt die Gefeßgebung mit der 
S. in allen Seehandel treibenden Ländern, und jo fam es, daß die ©. dasjenige 
Sebiet des Verſicherungsweſens bildet, welches die ausführlichite und am feinften 
Dutchgebildete Regelung fand und beſitzt (vgl. außer Reatz auch Benede, 
Zedlenborg und Brandt a. a. D.), im Deutichen Reiche in Folge der Ein- 
führung des (in Dejfterreich nicht eingeführten) fünften Buches des Allg. Deutjchen 
SGwB. Fit. 11. 

Der Seeafjeturangvertrag it als beiondere Art des Berficherungsvertrags den 
aflgemeinen Regeln diejes letteren unterworfen und von der dee des Aſſekuranz— 
mefens überhaupt beherricht; hierüber f. d. Art. Verficherungspvertrag. 

Was den Abichluß des ©.vertrags anlangt, To jchrieb die Gewohnheit und 
theilweiſe auch die Gejehgebung vergangener Jahrhunderte den Gebrauch von Schrift= 
ſtücken, ja jogar von bejtimmten Police Formularen für die Abjchließung des NRechts- 
geichäfts der S. vor (3. B. die Ordonnance von Philipp II., gegeben zu Brüfjel 
am 31. Oft. 1563, Kap. II. u. III); für diefe Papiere waren früher die Namen: 
„carta à scriptura de la seguretat“ oder „seguretats“ (Barcelona 1435) oder 
„ce&dule d’asseurance*, lettre d’asseurance“, von 1468 an jchon „police d’asse- 
urance“ gebräuchlich. Die uns überlieferten Policen (3. B. in der eben erwähnten 
Ordonnance, die Policen (brieven van assurantie ende versekerheyt) von Antwerpen 
ınDd Hamburg, ferner die formula assecurationis, welche Benvenuto Straccha, Tract. 
de assecurat., 1569, aus der anconitanischen Seehandelapraris 1567, mittheilt) 
Hieten anjcjauliche Bilder von den Einzelheiten der ©. damaliger Zeit. In den 
Heuatigen Rechten ift der Abjchluß des S.vertrags nicht mehr an die Erfüllung einer 

v. Holgendorff, Enc. II. Rechtslexilon M. 3. Aufl, 42 


658 Seeverſicherung. 


Formvorſchrift gebunden (vgl. Entſch. des ROHG. Bd. II. ©. 85 und die dort 
Git.), doch iſt der Werficherer verpflichtet, eine von ihm unterzeichnete jchrittliche 
Urkunde (Police) über den Berficherungsvertrag dem Berficherungsnehmer auf deilen 
Verlangen auszuhändigen. Die Police fann an Ordre geftellt werden und iſt dann 
durch Indoffament übertragbar. Weber die Policen 5. d. Art. Polize umd die dort 
cit. Lit. Ebenda ſ. die Begriffe: „tarirte“, „vorläufig tarirte“ und „offene Police“. 

Den S.vertrag fchließt der Verficherungsnehmer mit dem BVerficherer (Ber: 
ficherungsgejellichait) ab, gleichviel ob Erfterer Rheder oder Befrachter oder eine 
dritte Perion it; denn der Verficherungsnehmer kann entweder fein eigenes Intereſſe, 
nämlich das Intereſſe, welches er jelbft daran hat, daß Schiff oder Ladung die Ge 
fahren der Seeichiftahrt beitehe, oder das Intereſſe eines Dritten zum Gegenitande 
der Verficherung machen; eriteren Falls liegt eine „Verficherung für eigene Rechnung“, 
nämlich des Verficherungsnehmers, legteren Falles eine „Verficherung für fremd 
Rechnung“ (und zwar mit oder ohne Bezeichnung der Perfon des Verficherten) vor, 
ja es fann im Vertrag auch unbejtimmt gelaffen werden, ob die Verficherung für 
eigene oder für fremde Rechnung genommen wird (für Rechnung „wen es angeht“). 
Ergiebt fich bei einer Verficherung für Rechnung „wen es angeht“, daß diefelbe für 
fremde Rechnung genommen ijt, jo fommen die Vorſchriften über die Verficherung 
für fremde Rechnung zur Anwendung. 

Die Verficherung gilt ala für eigene Rechnung des Berficherungsnehmers ge: 
ichloffen, wenn der Vertrag nicht ergiebt, daß fie für fremde Rechnung oder für 
Rechnung „wen es angeht“ genommen ift. 

Die Berficherung für fremde Rechnung ift jedoch für den Verficherer nur dann 
verbindlich, wenn entweder der Verſicherungsnehmer zur Eingehung derjelben von 
dem Verficherten beauftragt war, oder wenn der Mangel eines folchen Auftrags 
von dem Berficherungsnehmer bei dem Abſchluß des Vertrags dem Verſicherer an: 
gezeigt wird; it die Anzeige unterlaffen, jo fann der Mangel des Auftrags dadurd 
nicht erjeßt werden, daß der Verficherte die Verficherung nachträglich genehmigt; iſt 
die Anzeige erfolgt, jo it die Verbindlichkeit der Verſicherung für den Werficherer 
von der nachträglichen Genehmigung des DVerficherten nicht abhängig. 

Gegenjtand der ©. kann nach heutigen Rechten jedes in Geld ſchätzbare Inter: 
effe jein, welches Jemand daran hat, daß Schiff oder Ladung die Gefahren der 
Seeſchiffahrt beiteht, insbejondere können verfichert werden: Das Schiff (entweder 
im Ganzen — Gascoverficherung — oder in einzelnen Schiffäparten), die Fracht 
(in älteren Rechten von der Verficherung ausgeichloflen, ein Verbot, zu deſſen Um: 
gehung man fich der polices d’honneur bediente), die Ueberfahrtsgelder (vgl. Entſch 
des ROHG. Bd. VII. ©. 309, XVII. ©. 342), die Güter (Gargoverficherung), die 
Bodmereigelder, die Havereigelder, andere Forderungen, zu deren Dedung Scif, 
Tracht, Ueberfahrtsgelder oder Ladung dienen (nicht aber die Heuerforderungen), die 
zu verdienende Proviſion (3. B. eines abſendenden Kommiſſionärs), die von dem 
Verſicherer übernommene Gefahr (S. ala Rückverſicherung) und der vor der An: 
funft der Güter am Beltimmungsorte erwartete Gewinn („imaginäre Gewinn‘). 
In Folge der Zulaffung der Verficherung dieſes lebteren Intereſſe jowie der det 
Provifion erfährt das jonit im Verficherungärecht geltende Verbot der Ueberverſicherung 
eine eigenthümliche Modifitation: Bei der Verficherung von Gütern ift der imagı- 
näre Gewinn oder die Provifion, jelbit wenn der Verficherungswerth der Güter tarır 
it, als mitverfichert nur anzufehen, jorern es im Vertrage beitimmt ift. 

Sit im Falle der Mitverficherung des imaginären Gewinns der Verficherungs: 
werth tarirt, aber nicht beitimmt, welcher Theil der Tare auf den imaginären Ge 
winn fich beziehe, jo wird angenommen, daß zehn Prozent der Tare auf den imagı: 
nären Gewinn fallen. Wenn im Falle der Mitverficherung des imaginären Gewinn: 
der Verficherungswerth nicht tarirt ift, jo werden als imaginärer Gewinn zebn 
Prozent des PVerficherungswerthes der Güter als verfichert betrachtet. 


Seeverficherung. 659 


Diejelben Beitimmungen gelten auch im Falle der Mitverficherung der Provifion 
mit der Maßgabe, daß an Stelle der zehn Prozent zwei Prozent treten. Iſt der 
imaginäre Gewinn oder die Provifion felbjtändig verfichert, der BVerficherungswerth 
jedoch nicht tarirt, jo wird im Zweifel angenommen, daß die Berficherungsfumme 
zugleich ala Tare des Verſicherungswerths gelten fol. 

Immerhin aber bleibt der Sat in Kraft: Die BVerficherungsiumme fann den 
Verficherungswerth nicht überfteigen und joweit dies troßdem der Fall ift, Hat die 
BVerficherung feine rechtliche Bedeutung; Folglich befteht auch für die ©. das Verbot 
der Ueberverficherung in Kraft, und es handelt fich nur darum, die Feitftellung des 
Verficherungswerthes gejeßlich zu regeln, wa8 durch eine Reihe von Einzelbeſtim— 
mungen in den heutigen Gefeßen (3. B. Art. 790—807 des Allg. Deutichen HGB.) 
geichieht. 

Auch die Doppelverficherung ijt verboten: Wird ein Gegenftand, welcher be— 
reits zum vollen Werthe verfichert ijt, nochmals verfichert, jo hat die jpätere Ver: 
fiherung injoweit feine rechtliche Geltung, ala der Gegenstand auf diefelbe Zeit und 
gegen diejelbe Gefahr bereits verfichert ift. 

Iſt durch die frühere Verficherung nicht der volle Werth verfichert, jo gilt die 
ipätere Verficherung, inſoweit fie auf diefelbe Zeit und gegen diejelbe Gefahr ge— 
nommen iſt, nur für den noch nicht verficherten Theil des Werths. 

In gewiflen Fällen (Art. 793 des Allg. Deutichen HGB.) hat jedoch die nach» 
folgende ©. troß der früheren Verficherung Geltung und andererfeit3 hat die jpätere 
DVerficherung, nicht aber die zuerjt genommene Geltung, dann nämlich, wenn die 
frühere Verficherung für fremde Rechnung ohne Auftrag, die jpätere dagegen von 
dem Verſicherten jelbjt genommen wird, ſofern in einem folchen Falle der Ver: 
ficherte entweder bei Eingehung der jpäteren Berficherung von der früheren noch 
nicht unterrichtet war oder bei Eingehung der jpäteren Verficherung dem Berficherer 
anzeigt, daß er die frühere Verficherung zurückweiſe. 

Verboten und ungültig find alle Berficherungen, denen nicht ein wirkliches 
Intereffe zu Grunde liegt, fondern die nur um der Berficherung ſelbſt willen ab» 
geichlojjen werden und durch die Verficherung jelbit zu Gewinn führen jollen; die 
ſog. MWettafjeturangen, man bezeichnet ſolche Berficherungen auch als „polices 
d’honneur“ (j. Yewis, a. a. DO. ©. 177 Anm. 3). 

Abgeſehen von derartigen zwingenden Vorſchriften der Gejege bemißt fich Recht 
und Pflicht der S. nach den Vereinbarungen der Kontrahenten, in deren Ermange— 
lung die dispofitiven Beltimmungen des Gejeges in Anwendung zu bringen find. 
Zu den Bertragsvereinbarungen find auch die von einer oder mehreren ©.geiell- 
ichaften aufgejtellten ftatutarischen Beitimmungen zu rechnen, denen fich der Ber: 
ficherungänehmer bei Abjchluß der S. unterwirit; jo auch die „Allgemeinen ©.be- 
dingungen der Norddeutichen Seepläbe*, vom Jahre 1867, revidirt im Jahre 1875; 
über Dieje j. Lewis, a. a. DO. ©. 175 und Entich. des ROHG. Bd. III. ©. 88, 
vgl. Bd. IX. ©. 223. 

Dem Berficherungsnehmer liegt vor Allem die Erfüllung der im Gejeße näher 
normirten Anzeigepflicht ob: er hat bei dem Abſchluſſe des Vertrags dem Verſicherer 
alle ihm befannten Umftände anzuzeigen, welche wegen ihrer Erheblichkeit für die 
Beurteilung der von dem Berficherer zu tragenden Gefahr geeignet find, auf den 
Entſchluß des lehteren, fich auf den Vertrag überhaupt oder unter denjelben Be- 
ftimmungen einzulaffen, Einfluß zu üben. (Man vgl. in dieſer Hinficht die Entich. 
des ROGG. Bd. II. ©. 32, VII. ©. 394, XVI. ©. 57 ff., 75 ff.) Wird Diele 
Berpflichtung nicht erfüllt, jo it der Vertrag für den Verſicherer unverbindlich, 
gleichwol aber gebührt dieſem in ſolchem Falle die volle Prämie: fie ift hier als 
geſetzliche Privatitrate und theilweife wenigitens als Erſatz des Intereſſe am Ver: 

tragszuftandefommen anzujehen. Die Anzeigepflicht beiteht fort während des ganzen 
Laufes der Verficherung und dehnt ſich auch auf den DVerficherten aus, welcher 
42* 


660 Seeverſicherung. 


nicht Verſicherungsnehmer iſt; insbeſondere muß jeder Unfall, ſobald der Ver— 
ſicherungsnehmer oder der Verſicherte, wenn dieſer von der Verſicherung Kenntniß 
hat, Nachricht von dem Unfall erhält, dem Verſicherer angezeigt werden, widrigen— 
falls der Verficherer befugt ijt, von der Entichädigungsfumme den Betrag abzuziehen, 
um welchen diejelbe bei rechtzeitiger Anzeige fich gemindert hätte. 

Außer der Anzeige ift die Zahlung der Prämie die wichtigite Verpflichtung 
des Verſicherungsnehmers; die Prämie ift, fofern nicht ein Anderes vereinbart it, 
fofort nach dem Abichluß des Vertrags und wenn eine Police verlangt wird, gegen 
Auslieferung der Police zu zahlen. 

Wenn aber bei der Verficherung für fremde Rechnung der BVBerficherungänehmer 
zahlungsunfähig geworden ift und die Prämie von dem VBerficherten noch nicht er— 
halten hat, jo fann der Berficherer auch den Verficherten auf Zahlung der Prämie 
in Anipruch nehmen. 

Auf den VBerficherten, welcher nicht Berficherungsnehmer ift, laftet, wie erwähnt, 
ebenfalls die Pflicht zur Anzeige und zur Prämienzahlung; zudem entipringt aus 
dem Weſen der Verficherung überhaupt und der S. inäbejondere für ihn die Ber- 
pflichtung, die thatfächlichen Verhältniffe, von denen der Vertragsichluß ausging und 
die der Vertrag vorſah, möglichjt aufrecht zu erhalten und jedes policewidrige Per: 
halten, insbejondere jede Abweichung (Deviation) von der policemäßigen Fahrt 
(voyage convenue, ghedestineerde, gheasseureerde voyage, wie fie in älteren 
Niederländiichen Ordonnancen heißt) thunlichjit zu vermeiden; wird, bevor die 
Gefahr für den Verficherer zu laufen begonnen hat, eine andere Reife angetreten, 
jo ift der Verficherer bei der Verficherung von Schiff und Fracht von jeder Haftung 
frei, bei anderen Verficherungen trägt der Verficherer die Gefahr für die andere Reiſe 
nur dann, wenn die Veränderung der Reife weder von dem Werficherten noch im 
Auftrage oder mit Genehmigung deifelben bewirkt iſt. 

Wird die verficherte Reife verändert, nachdem die Gefahr für den WBerficherer 
zu laufen begonnen hat, jo haftet der Verficherer nicht für die nach der Verände— 
rung der Reife eintretenden Unfälle. Er haftet jedoch für diefe Unfälle, wenn die 
Veränderung weder von dem Berficherten noch im Auftrage oder mit Genehmigumg 
deifelben bewirkt oder wenn fie durch einen Nothfall verurfacht ift, es fei denn, daß 
der Yebtere in einer Gefahr fich gründet, welche der Verficherer nicht zu tragen hat. 

Das Geſetz hält jedoch die Pflicht des Verficherers in gewiffen Ausnahmetällen 
aufrecht, namentlich wenn der Schiffer zur Deviation durch das Gebot der Venid: 
lichkeit genöthigt war. 

Die wefentlichite Pflicht des Werficherers ijt die Zahlung der Berficherung: 
jumme nach Maß der Vereinbarung und der wirklichen eingetretenen Schädigung 
aus der übernommenen Gefahr; er trägt alle Gefahren, welchen Schiff oder Yadung 
während der Dauer der Verficherung (in alter ©. ogni caso di mare, ogni cas0 
portevole fortuito distastro sinistro impedimento et caso sinistro etc.) ausgeſetzt 
find, joweit nicht durch die bejonderen Einzelbeftimmungen der Geſetze (z. B. Art. 
825 des Allg. Deutichen HGB.) oder durch Vertrag (3. B. durch die Klauſeln 
„ei don Kriegsmoleſt“ — Art. 852 —, „nur für Seegefahr“ — Art. 853 —, 
„für behaltene Ankunft“ — Art. 854 —, „frei von Beichädigung außer im Stran- 
dungsfalle“ — Art. 855 —, „frei von Bruch außer im Strandungsfalle* — Art. 
856 des Allg. Deutichen HGB. —) ein anderes beitimmt it. Von derartigen 
Ausnahmen abgejehen, trägt der Verficherer insbejondere die Gefahr der Elementar: 
ereigniffe und der fonjtigen Seeunfälle, jelbjt wenn dieſe durch das Verjchulden eines 
Dritten veranlaßt find, ala: Eindringen des Seewaſſers, Strandung, Schiffbrud, 
Sinken, Feuer, Grplofion, Blitz, Erdbeben, Beichädigung durch Eis u. ſ. w.; er 
trägt ferner die Gefahr des Krieges und der Verfügungen von hoher Hand (Kriege 
molejt, worunter auch die Kaperei Fällt, jowie Embargo, Blofade u. dgl.), fermer 
die Gefahr des Zuſammenſtoßes, dann die des Diebftahls, des Seeraubes, der Plün: 


— 


Seeberfiherung. 661 


derung und jonjtiger Gewaltthätigfeiten („Revier- und Türkengefahr“, in der Nieder: 
ländiichen Verordnung von 1549 „thegens de Schotten oft ander zeeroovers“), 
nad; Deutjchem Seerecht auch die Gefahr der Baratterie (Unredlichkeit oder jonjtiges 
Verſchulden einer Perfon der Schiffsbefagung jelbjt (während das Franzöfiiche und 
Spaniſche Recht diefen Haftfall ausjchließt, das Engliſche, Holländiſche und Nord- 
amerifanifche Recht ihn eingefchräntt annehmen), ferner gewiſſe Gefahren des Arreſtes 
und der Verbodmung. Die Gejeßgebung umgrenzt den Umfang der Gefahr und 
die folgeweiſe vom DVerficherer üibernommene Zahlungspflicht eingehend für die ein- 
zelnen Fälle der S. Vgl. Art. 824— 857 des Allg. Deutſchen HGB.; über 
Umfang des Schadens j. Art. 858—885, über Bezahlung des Schadens Art. 886 
bis 898. 

Eine jeerechtliche Eigenthümlichkeit findet fich im Falle eines präfumtiven oder 
fitiven Totalverlujtes, nämlich der Abandon bei Verjchollenheit oder Quafiverfchollen- 
heit eines Schiffes. Bereits ehe das Schidjal eines verficherten Schiffes definitiv 
zur Kenntniß der BVerficherungsintereffenten gelangt ift, kann die Verſicherungsſumme 
fällig werden; der Verficherte ijt nämlich befugt, die Zahlung der PVerficherungs- 
fımme zum vollen Betrage gegen Abtretung (Abandonnirung) der in Betreff 
des derficherten Gegenftandes ihm zuftehenden Rechte in folgenden Fällen zu ver 
langen (Abandon): 

1) wenn das Schiff verſchollen ift (wann dies angenommen werden dürfe, 
wird in gejeßlichen Bejtimmungen genau angegeben), und 

2) wenn der Gegenjtand der VBerficherung dadurch bedroht ift, dak das Schiff 
oder die Güter unter Embargo gelegt, von einer friegführenden Macht aufgebracht, 
auf andere Weife durch Verfügung von hoher Hand angehalten oder durch See— 
räuber genommen und während einer Friſt von jechs, neun oder zwöli Monaten 
nicht Freigegeben find, je nachdem die Aufbringung, Anhaltung oder Nehmung ge— 
ſchehen iſt: 

a) in einem europäiſchen Hafen oder in einem europäiſchen Meere oder in einem, 
wenn auch nicht zu Europa gehörenden Theile des Mittelländiſchen, Schwarzen oder 
Aſow'ſchen Meeres, oder 

b) in einem anderen Gewäſſer, jedoch diefjeit des Vorgebirges der Guten Hoff: 
nung und des Kap Horn, oder 

ec) in einem Gewäſſer jenfeit des einen jener Vorgebirge. 

Die Friften werden von dem Tag an berechnet, an welchem dem Verſicherer 
der Unfall durch den Verficherten angezeigt ift. 

Die Abandonerklärung muß gewiſſen gejeglichen Erforderniffen entfprechen (Allg. 
Deutſches HGB. Art. 868 ff.) und ift unwiderruflich. 

Der Berficherte hat, um den Grja eines Schadens fordern zu können, eine 
Schadenäberechnung („Andienung des Schadens“) dem Verſicherer mitzutheilen ; „der 
Schade muß dem Verficherer ſofort angedient werden“ (vgl. Entich. des ROHG. 
Bd. XIV. ©. 122 ff); die Berechnung muß mit gejeßlich erforderten Belägen ver: 
jehen jein, über deren Beweisfraft nunmehr im Deutfchen Reiche (nach Aufhebung 
des Art. 889 des Allg. Deutichen HGB. dur $ 13 des EG. zur CPO.) das 
freie richterliche Ermeſſen enticheidet. 

Eigenthümlich find die Folgen der Thatjache, daR das verficherte Objekt gar 
nicht der Gefahr ausgejeßt wird, im Falle der Riftornirung. Unterbleibt nämlich 
die policemäßige Reife gänzlich, wird die Unternehmung, auf welche die Verficherung 
fich bezieht, ganz oder zum Theil von dem Verficherten aufgegeben, oder wird ohne 
fein Zuthun die verficherte Sache ganz oder ein Theil derjelben der von dem Ver— 
ficherer übernommenen Gefahr nicht ausgejeßt, jo kann die Prämie ganz oder zu 
dem verhältnigmäßigen Theil bis auf eine dem Verficherer gebührende Vergütung 
zurückgeiordert oder einbehalten werden (Riftorno). 


662 Seewarte. 


Die Vergütung (Riſtornogebühr) beſteht, ſofern nicht ein anderer Betrag 
vereinbart oder am Ort der Verficherung üblich ift, in einem halben Prozent der 
ganzen oder des entiprechenden Theils der Berficherungsjumme, wenn aber die Prämie 
nicht ein Prozent der Berficherungsfumme erreicht, in der Hälfte der ganzen oder 
des verhältnigmäßigen Theil der Prämie (vgl. Art. 899 — 905 des Allg. Deut: 
ihen HGB.). 

Endlich fieht das Seehandelärecht eine beitimmte Verjährung der Rechte aus 
der ©. vor; die Verjährungsfrist beträgt fünf Jahre, deren Yauf mit dem Ablauf des 
legten Tags des Jahres, in welchem die verficherte Reife beendigt ift, und bei der 
Berficherung auf Zeit mit dem Ablaufe des Tags, an welchem die VBerficherungs- 
zeit endet, beginnt. Wenn das Schiff verichollen ift, jo beginnt die Verjährung mit 
dem Ablaufe des Tags, an welchem die Verſchollenheitsfriſt endet (Allg. Deutiches 
HGB. Art. 910). Ebenfalls fünf Jahre j. Code de comm. art. 432. 

Quellen: Allg. Deutiches HGB. Bud V. Tit. 9 (Art. 782—905). — Code de comm. 
liv. II. tit. 10. — Span. HGB. 1. I. tit. 9; Portugiei. II. 8; Italien. II. 8; 
Holländ. I. 9 u. 11. 9; Schweb. (svenska sjölag) 83 186—274. — Rujl. Schiffahrt: 
orbnung v. 1781, Rap. 10. — Brajil. Codigo commercial II 8. 

Lit.: Wilhelm Benede’3 Spitem bed Geeafjelurang: und Bodmereiweſens. Bol: 
ftändig und zeitgemäß umgearbeitet von Bincent Nolte, 2 Bb., Hamburg 1851, 1852. — 
M. Pohls, Darftellung des Seeaſſeluranzrechts. 2 Bd., Hamburg 1852, 1834. — 9. Zedlen- 
borg, Syſtem bes Seeverſicherungsweſens nad) ber Natur der Sade, ſowie nach Bremer 
und Hamburger Affeturanzbedingungen u. 1. w., Bremen 1862. — Reat, Geichichte des 
Seeverficherungsrechts, Theil I, Leipzig 1870; Derielbe, Ordonnances de duc d’Albe 
sur les assecurances maritimes de 1569, 1570, 1571, Bruxelles 1877. — %. Brandt, 
Ueber Seeverfiherung, 1877; aus dem Norweg. überſetzt von Alb. ih ch, in den 
Annalen des — Verſicherungsweſens und ſeparat, Leipzig 1878. — Arnould, 
On the law of marine insurance, 5. edition by David Maclachlan, M. A. 2 volumes, 


London 1877. — W. Lewis, Das Deutiche Seerecht, Bd. II., Leipzig 1878, S. 174-399, 
303—404, u. die dort cit. Rechtsſprüche u. Kit. Gareis. 


Seewarte iſt eine durch Gele vom 9. Januar 1875 errichtete Reichsanitalt, 
„welche die Aufgabe hat, die Kenntniß der Naturverhältniffe des Meeres, jomeit 
dieje für die Schiffahrt von Intereſſe find, ſowie die Kenntniß der Witterung 
ericheinungen an den Deutichen Küſten zu fördern und zur Sicherung und Erleichte— 
rung des Schiffahrtöverfehrs zu verwerthen.“ Letzteres geichieht aber nicht nur durch 
periodische Bekanntmachung der aus den Beobachtungen über den meteorologilchen 
Zujtand der Atmoiphäre gezogenen, für die Navigation wichtigen Refultate, Tomte 
durch regelmäßige telegraphiiche Verbreitung von Mittheilungen über den augen: 
blilichen Zuftand der Atmoſphäre und unverzügliche Veröffentlichung jolcher Wahr: 
nehmungen, welche einen gefahrdrohenden Witterungsumjchlag erwarten laſſen; ſon— 
dern auch durch Prüfung und Berichtigung der auf Schiffen gebräuchlichen, für die 
Sicherheit der Fahrten und die Zuverläfligkeit der Beobachtungen wichtigen Jnſtru— 
mente, durch Bearbeitung der verichiedenen Seewege in Segelhandbüchern, durd) 
Ausarbeitung rationeller Segelanweijungen für bejtimmte Fahrten auf Bitten ein 
zelner Schiffer u. j. w. Die ©. hat ihren Sig in Hamburg und ift der Admiralität 
unterjtellt. Sie hat an den geeigneten Küſtenpunkten die erforderlichen Dienititellen, 
nämlich: 1) Agenturen, welche den Verkehr zwiſchen der S. und den Schiffern und 
Rhedern zu vermitteln und die Intereffen der ©. wahrzunehmen haben; 2) Beob- 
achtungsitationen, die durch Anftellung meteorologischer Beobachtungen das Material 
liefern, welches die Grundlage bildet zur Ausübung der praftiichen Wetterprognote, 
jowie zu den wiflenjchaftlichen Unterfuchungen; 3) Signalftellen, welche die Aufgabe 
haben, die ihnen von der ©. zugehenden Sturmwarnungen befannt zu machen, aud 
durch eigene Beobachtungen und durch den Verkehr mit den Seefahrern zur Ver 
volltommmung der Sturmwarnungen beizutragen. 

Gigb.: Reichägeich, betr. d. Deutiche S., v. 9. Jan. 1875. — Kaiſerl. Verordn., betr. den 
Geſchäftskreis, die Cinrihtung und die Verwaltung der Deutihen S., v. 26. Dez. 1875. — 
Verzeichniß der Dienfiftellen ber S. im Handbuch f. d. Deutiche Handelämarine, ut er f. 

ewis. 


Seewurf — Seidenitider. 663 


Seewurf (Thl. I. S. 546) liegt vor, wenn durch den Schiffer oder auf deſſen 
Geheiß zum-Zwede der Errettung von Schiff und Yadung aus einer gemeinjamen 
Seegeiahr Güter, Schiffstheile, Zubehör oder Geräthichaften über Bord geworfen 
werden. Schon das von den Römern rezipirte Rhodiſche Gejeß jchrieb vor, daß 
beim ©. die Gigenthümer des geretteten Schiffs und der geretteten Güter den Eigen- 
thümern der geworfenen Güter verhältnigmäßigen Erſatz zu leiften hätten. Das 
Inftitut erfcheint jegt als ein Fall der daraus jelbjt im Laufe der Zeit erwachjenen 
großen Havarie. Ein ©. iſt nur dann jtatthait, wenn die Grrettung von Schiff 
und Yadung von einer Erleichterung des erjteren, welches zu ſinken droht, auf einer 
Sandbant Fejtfitt u. j. w., abhängt. Dagegen ift auch für das FFranzöfiiche Recht 
unpraftiich die Beitimmung de Code de commerce (art. 410), daß der Kapitän 
über die Nothwendigfeit der Maßregel den Rath der Yadungsinterefenten, wenn fich 
jolhe an Bord befinden, wie der principaux de l’&quipage einholen joll. Als große 
Hadarie ericheinen bei einem S. und find demgemäß Gegenjtand der Entjchädigung 
nicht nur die geworfenen Sachen, jondern auch die mittelbar durch den ©. ver- 
anlaßten Schäden, vorausgejeßt daß zwiichen letzteren und dem eriteren ein Kauſal— 
nerus bejteht, wie 3. B. der Schaden, welcher den Gütern durch das Waller, das 
in die behufs eines ©. geöffneten Luken einftrömt, zugefügt, welcher in Folge der 
Störung der Stauung herbeigeführt wird, welchen der Schiffsförper durch das 
Niederfallen eines gefappten Maftes erleidet. Der ©. führt nach Deutichem See- 
recht nicht zu einem Anſpruch auf Entjchädigung, wenn davon betroffen find Güter, 
welche auf Ded geladen waren; über welche weder ein Konnoflement ausgeſtellt ift, 
noch das Manifeſt oder Ladebuch Auskunft giebt; Koftbarkeiten, Gelder oder Werth- 
dapiere, welche dem Schiffer nicht gehörig bezeichnet find; eine in der Natur der 
Sache begründete Ausnahme, welche ſich, allerdings mit manchen Ausnahmen, auch 
in den fremden Rechten findet. 

Gigb. u. Lit.: Deutſches HGB. Art. 708 in Berbind. mit 702, Art. 710. — York and 
Antwerp Rules 1 und 2; vgl. Lewis in Goldſchmidt's Ztichr. XXIV. ©. 5ilff. — 
Code de comm. art. 400, 410429, — Maclachlan, On the law of merchant shippin 
(2 ed. London 1876), p. 615 ss. — Arnould, On the law of marine insurance (4. ed. 
— 1872), II. p. 765 ss., 801 ss. — Courcy, Questions - droit maritime, I. (Paris 1877) 

225 —* — a in Boigt’ 3 Neuem Ardhiv f. H.R. I 201 fi. — Lewis, Deutfches 
Ser, 50 Lewis. 

€ Bierte, & 1504 zu Paris, 1549 avocat gen. au Parl., 1554 
Pres. a — bekämpfte die Prätenſionen Roms bei dem Streit zwiſchen Yulius III. 
und Heinrich IL, widerjeßte fich der Einführung der Inquifition, T 1580. — Sein 
Sohn Antoine, 1552— 1626, avocat gen. unter Heinrich IIL, ließ 1591 eine 
Bulle Gregor’3 XIV. vom Parlamente verurtheilen als entgegen den libertes gallicanes, 
1597 Pres. & mortier. — Sein Enkel Pierre III. 1588 — 1672, Intendant de 
Guyenne, Garde des Sceaux 1633, Chancelier 1635, Fondateur - Protecteur de 
l’Acade&mie frangaise, hatte Theil an Abfaffung des Code Louis. 

Sfguier, Ant. Louis, 1726—1791, avocat gen. au Parl. 1755 — 1771, 
1774—1790, Membre de l’Acad. 1757. 

Berjafler von Mercuriales, Plaidoyers, ur Discours académiques. Sein Eloge 

ur 


par I. E. Portalis, Paris 1806 (Monite 7 janv. 1806). 
2it.: Gaudry, "Hist. du barreau, I. 222, 248, 244; II. 238—244. — Michaud. — 


Sergent, Poötes du palais, 1878, p. 124. Teihmann. 

Seidenftider, Joh. Ant. Ludw., & 23. XI. 1760 zu St. Andreasberg 
(Oberharz), habilitirte fich in Göttingen, wurde 1804 ordentl. Prof. in Jena und 
Sofrath, 1816 Oberjuftizrath in Hannover, T 30. X. 1817. 


Schriften: Geift b. — Lit. d. J. 1796, Gött. 1797. — Juxiſt. Fragmente, Gött. 
1802. — Einleit. in den Code Napoleon, Züb. 1808, — Lit. bes Napoleoniſchen Rechts, 


Rit.: Güntger, ‚Bebenäfigen ena 1858, ©. — Güldenapfel, nn 


Univ. »Almanad, 11 aalfeld, Geichichte F Univ. ———— S. 158 
Teichmann. 


664 Sefundo- und Tertiogenituren — Selbithülfe. 


Selundo- und Tertiogenituren haben den Zwed, die zweite, bzw. dritte 
Linie einer Tyamilie auszuftatten zum Erſatz dafür, daß der Hauptſtamm dei 
Tramilienvermögens als Fideilommiß oder Stammgut der eriten Linie vorbehalten 
it. Gine Bereinigung der Objekte der Sefundo- und Primogenitur in Giner 
Hand fann nur dann eintreten, wenn aus der beftifteten Familie nur nod en 
einziges fucceffionsfähiges Glied vorhanden ift. Dieje Vereinigung dauert jo lange, 
bis wieder mehrere Linien entſtehen. Im Uebrigen fann das Verhältniß zwiſchen 
Primo= und Sekundogenitur verichieden beftimmt fein. In der Regel gelangen die 
Deicendenten des Stifter aus der erften Linie nicht zur Succeffion in das Objelt 
der Sekundogenitur, jo lange noch ein anderer vom Stifter entiprofiener Manns 
ftamm vorhanden ift. Geht die zweite Linie aus oder wird fte durch Grlöicen 
der ihr vorangehenden zur erjten Linie, jo kommt die dritte Linie (nunmehr die 
weite) in den Befi der Sekundogenitur. Die Stiftung fann aber auch in der 
Art eingerichtet jein, daß die Sefundogenitur bei einer Theilung der erjten Linie 
aus der zweiten in den meugebildeten Nebenarm der eriten überjpringt. Die An 
wendung der oben dargeitellten Grundjäße der Primogenitur auf die Sefundogitu 
ergiebt fich von ſelbſt; ebenjo läßt fich nach dem Gejagten das Verhältniß einer 
etwaigen Tertiogenitur zur Sekundogenitur beurtheilen. Vgl. im Uebrigen den Art. 
Familienfideilommiß. 

Lit. u. Bigb.: dv. Salzau u. Lichtenau, Die Lehre von Familien, Stamm- u. &: 
ſchlechtsfideikommiſſen, $ 68. — Wildner, fFideilommiffe, 162. — Preuß. Allg. ER. IL 
88 169 ff. — Defterr. AGB. 8 625. Heinrih Brunner. 


Selbfthülfe. Gigenmächtige Geltendmachung eines Rechts. Im Verbhältnif 
der Staaten zu einander noch allgemein als legitim und als die normale Form 
der Befämpfung des Unrechts zu betrachten. Im Bereiche des internen ftaatlichen 


— 


lihung fich als unanwendbar darftellt. Im Einzelnen ift Hier die defenfive und 
die aggreifive ©. zu unterjcheiden. 

Die deienjive ©., d. i. die eigenmächtige Abwehr eines rechtswidrigen 
Angriffe, ift überall innerhalb gewiffer, jedoch verjchieden bejtimmter Grenzen ge 
itattet. Im Allgemeinen iſt zu bemerken, daß es dabei auf eine Verfchuldung au’ 
Seiten des Angreifers nicht ankommt. Gntjcheidend ift vielmehr, daß der Angriff 
jeinen objektiven Merkmalen nach, fich als ein rechtswidriger darftelle. Jene Zub: 
fidiarität des Rechts der S. aber fommt darin zum Ausdrud, daß ein „gegen: 
wärtiger““ rechtswidriger Angriff vorausgejeßt wird. Es gilt.dies auch für die S. 
dem Amtsmißbrauch gegenüber. Das Nähere gehört in die Lehre von der Notb- 
wehr und dem Nothitande und don dem erlaubten Widerftande gegen die Staatt 
gewalt. ©. die betreffenden Art. 

Die aggreſſive S. Von der Geltendmachung von Anfprüchen civilreht- 
licher oder dffentlichrechtlicher Natur ift hier die auf Erlangung einer Genugthuung 
für erlittene Kränfungen gerichtete zu unterjcheiden. Die letztere erjcheint ın der 
Regel (vgl. indefjen die SS 199 u. 233 des NStrafGB.) als jtraibar. Es gehört 
hierher die Herausforderung zum Zweikampfe. Die erjtere interejfirt hier jpegieller 
Diefelbe kann die verjchiedenjten Formen annehmen, je nach der Natur des Rechts, 
um deſſen Verwirklichung es fich handelt, und der Mittel, welche dem Berechtigten 
hierzu dienlich jcheinen. So kann fie die Form eines Angriffs gegen die perſönlich 
Freiheit des Schuldners haben, oder die eines Eingriffs in die VBermögensipbän 
des letzteren ꝛc. Sie iſt (vom Bölferrechte abgejehen) nur innerhalb enger Grenza 
fanktionirt. Aus dem Givilrechte gehört insbejondere die, übrigens jehr verschieden 
normirte, eigenmächtige Prändung hierher. Außerhalb diefer Grenzen zieht fie möglicher 


Selbſthülfeverlauf. 665 


weiſe Privatſtraſen nach ſich. So nach dem „decretum divi Marci“ des Röm. 
Rechts. Hinſichtlich deſſen heutiger Anwendbarkeit vgl. den Art. über daſſelbe. 
Mit Unrecht hat man angenommen, daß die Strafen dieſes Geſetzes durch das EG. 
— RStraf GB. ausgeſchloſſen worden ſeien. Unter Umſtänden zieht die aggrefſive 

©. öffentliche Strafen nach ſich. Hinſichtlich derſelben find verſchiedene Syſteme 
zur Anwendung gelangt. 

Einige Geſetzgebungen (Baden 279, Württemberg 200; vgl. Sachſen 247) 
nämlich behandelten die ©. als ein jelbjtändiges Delikt. Als dejjen Gegenjtand 
it das Intereſſe an der geordneten Verwirklichung des Rechts zu betrachten. Die 
gewählten Mittel fommen bier, je nachdem fie den formen jchiwererer oder leichterer 
Delikte entiprechen, als Straferhöhungs- oder Strafminderungsgründe in Betracht. 
Dies Verfahren iſt prinzipiell korrekt. Dean Hat jedoch dagegen geltend gemacht, 
dat es manche Fälle in das Bereich des Strafrechtö hineinziehe, bezüglich welcher 
ein praftiiches Bedürfniß Hierzu nicht vorliege. Mit Rüdficht auf diefen Einwand 
bat man das fragliche Delift unter die ‚‚Antragsverbrechen‘ eingereiht, damit aber 
ein Auskunftsmittel gewählt, das mit der Natur des unmittelbar gegen ein öffent- 
liches Intereſſe gerichteten Delikts nicht im Einklang zu ftehen jcheint. 

Andere Gejeßgebungen kennen die ©. als eine bejondere Verbrechensart nicht. 
Sie überlafjen e8 dem Richter, die Strafbeitimmungen über andere Delikte zur 
Anwendung zu bringen, falls die ©. im einzelnen Falle deren Merkmale annimmt. 
Zeigt fie jolche Merkmale nicht, jo bleibt fie ſtraflos. Diejen Gejeßgebungen hat 
ſich unfer RStrafGB. angeichloffen. Nach ihm kann 3. B. unter Umſtänden Dieb- 
jtahl vorliegen (j. hierüber den Art. Diebſtahl). Zahlreiche Formen der aggrejfiven 
S. aber bleiben nad ihm ſtraflos. So die eigenmächtige Realifirung von Rechts— 
anfprüchen in den Formen der Erpreffung oder des Betrugs, oder durch Entwendung, 
Unterjchlagung oder Raub des Gegenftandes der Tyorderung. Uebrigens ijt das 
Verhalten des StrafGB. hier nicht fonjequent. Dan hat fich bei der Herſtellung 
deflelben über die uns bejchäftigende Trage feine deutliche Rechenſchaft gegeben. 
Allgemein fällt die ©. unter das Straigejeß, wenn fie fich unmittelbar gegen die 
Perjönlichkeit richtet. Wer 3. B. die Erfüllung einer Forderung durch Gewalt oder 
gerährliche Drohungen herbeitührt, macht fich des jubfidiären Verbrechens gegen die 
Freiheit (RStraißB. $ 240) ſchuldig. Der Umftand, daß es fich um die Geltend- 
machung eines Rechts handelt, iſt hierbei ala ein Schuldminderungsgrund zu berüd- 
fichtigen.. Das Gleiche gilt in Bezug auf die Störungen des öffentlichen Friedens 
(RStraiGB. 88 128 ff.) ꝛc. 

Gigb.: RStrafGB. sy 58, 52, 54, 113, 117, 240. -- ——— Ss 82, iv 8. — 


Ungern 79, 163 ff. — Preuß, Allg. ER. Einl. SS 77 fi.; TH. I. Zit. 14 SS 4l 
Lit: ©. d. kit. zu den oben erwähnten Artiteln. * Meter 


Selbithüffeverfauf (jo namentlich das ROHG. und das Reichsgericht) oder 
Berkaufsjelbithülie (jo Thöl und Endemann). Iſt der Käufer mit der Em— 
piangnahme der Sache im Verzug, jo entiteht daraus für den Verkäufer weder eine 
Befreiung von feiner Verbindlichkeit, noch ein Rücktrittsrecht; es fann für den Ber: 
fäufer von Intereſſe jein, daß das obligatorische Verhältniß betr. die Aufbewahrung, 
Fürjorge für die Sache auch nicht in der loſeren Weiſe fortbeftehe, in welcher der 
Berzug des Käufers dafjelbe jortdauern läßt (Mommijen, Mora, ©. 306; Wind— 
jcheid, Pand., 4. Aufl. $ 346); er will der Sache entledigt jein. Eine Klage 
auf Abnahme wird jelten zuftehen (Mommijen, Mora, ©. 134, 307; Zeitfchr. 
f. d. geiammte H.R. von Goldſchmidt ıc. XXIU. ©. 567). Das Gem. Recht 
gewährt dem Verkäufer drei Mittel: gerichtliche Niederlegung, Verlauf, Preisgeben 
der Sache (Windicheid, 8 346). Weſentlich in Uebereinſtimmung hiermit ſteht 
das Sächſ. BGB. 88 756 ff. 

Das Allg. Deutſche HGB. Hat dieſes Rechtsverhältniß für das Gebiet des 
Handelkaufes in Art. 343 jelbitändig geftaltet, und zwar dahin: 


666 Selbitgülfeverlauf. 


„Iſt der Käufer mit der Empfangnahme der Waare im Berzuge, jo kann der 
Verkäufer die Waare auf Gefahr und Koften des Käufers in einem Öffentlichen 
Yagerhaufe oder bei einem Dritten niederlegen. Er iſt auch befugt, nach vorgängiger 
Androhung die Waare öffentlich verfaufen zu laſſen; er darf, wenn die Waare einen 
Börienpreis oder einen Marktpreis hat, nach vorgängiger Androhung den Verkauf 
auch nicht öffentlich durch einen Handelsmäkler oder in Grmangelung eines jolchen 
durch einen zu Verjteigerungen befugten Beamten zum laufenden Preije bewirken. 
Iſt die Waare dem Berderben ausgejegt und Gefahr im Verzuge, jo bedarf es ber 
vorgängigen Androhung nicht.“ 

„Bon der Vollziehung des Verkaufs hat der Verkäufer den Käufer, ſoweit es 
thunlich, ſofort zu benachrichtigen; bei Unterlaffung ift er zum Schabenserjaße ver- 
pflichtet.“ 

Das Preisgeben (1.1. 12, 14 D. de per. et. comm. 18, 6; Mommſen, Mora, 
©. 308) iſt befeitigt ; das Niederlegen (Thöl, H.R.$ 268; v. Hahn, Kommentar, 
II. 272; Keyßner zu Art. 343, Nr. 7) jcheidet Hier von der Grörterung aus. 
Vorausjegung für die ©. iſt Berzug des Käufers mit der Gmpfangnahme der 
MWaaren ; hierunter ift, ganz unabhängig von der nad) den verichiedenen Landesgeſetzen 
zu beurtheilenden juriftiichen Tradition, das thatjächliche Anfichnehmen auf die Ab: 
lieferung zu verſtehen; joiern die Waare beim Verkäufer lagert, das Räumen; foren 
die Waare zugefendet wird, und zwar, obwol nach Allg. Preuß. XR. I. 11 $ 128 
die Uebergabe mit der Abjendung als vollzogen gilt, die Abnahme vom Fracht⸗ 
führer (Entih. des ROHG. IV. 16, IX. 81, XI. 57). Stellt der Käufer die 
abgelieferte Waare (Art. 347) zur Verfügung, To entiteht auch hier eine Annahme 
weigerung und die Berechtigung zum ©. (Erf. des Reichögerichts vom 6. März 1880 
in Gruchot's Beiträgen XXIV. 1091). Der Verzug (j. den Art. Mora) ift nad 
Landesrecht zu prüfen, und ift die Annahmeweigerung ganz unabhängig von ber 
Zahlung des KHaufpreifes (Art. 354), kann jogar troß eriolgter Zahlung vorliegen 
(Entih. des ROHG. IX. 81). Der Annahmeverzug hat eine Wealoblation 
nicht unbedingt zur VBorausfegung (Mommijen, Mora, 133 ff.), vielmehr dar es 
als genügend bezeichnet werden, wenn der Käufer, jobald der Zeitpunft der Lieferung 
gefommen, dem Käufer fundgiebt, daß er bereit und im Stande ſei zu liefern, und 
hiergegen die Annahmeweigerung erklärt wird, oder bei bereits erflärter Annahme 
weigerung nicht die Bereitwilligfeit zur Annahme zu erkennen gegeben wird (Kit. 
hierüber bei Keyßner, Kommentar zum HGB. zu Art. 843 Nr. 4). Hat der 
Käufer über die Waaren dem Verkäufer noch nähere Aufgaben zu machen, 3. 2. 
über Geftaltung, ſowie Verpadung u. dgl., und lehnt er dies ab, fo konſtatirt 
fich hiermit der Annahmeverzug (Entjch. des ROHG. XV. 146). Die Form des ©. 
ift zur Sicherung des jäumigen Käufers gejeßlich beitimmt; nur ein Verkauf unter 
SAnnehaltung der beftimmten Formen ift ein folcher, welchen der Berkäufer dem 
jäumigen Käufer gegenüber als für deſſen Rechnung geichehen, geltend machen kann. Die 
Formerfüllung hat der Verkäufer zu beweifen; die Verabſäumung derjelben kann nicht mit 
dem Nachweis der negotiorum gestio (f. diejen Art.) entichuldigt werden (Entic. 
dee ROHG. VII. 104, 377; XIX. 92; des Reichägerichts I. 358); dagegen ift micht 
ausgeichloffen die durch Umſtände erforderte andere Verkaufsausführung (Entſch. des 
ROGHG. XI. 58, 177; XI. 59; XVI 326). Durch Handelsgebrauch (Art. 1 des 
HGB.) kann die Verfaufsform nicht abgeändert werden, auch fommen erleichternde 
Beitimmungen des Yandesrechts gegen das Neichärecht nicht in Betracht; dagegen 
ift es den Parteien unbenommen, den Verkauf anderweit zu regeln (Keyßner, 
Kommentar zu Art. 343. Nr. 9; Deutiche Jur. Zeitung 1879, 810). Durch den 
Annahmeverzug ift nur die Zeit beitimmt, von welcher ab der ©. zuftändig iſt; 
behält der Verkäufer die Waare auf Yager, jo kann er fich nachträglich zum ©. ent— 
ichließen, doch darf hierbei nicht eine Benachtheiligung des Käufers zu Tage treten; 
wobei jedoch zu beachten, daß aus dem Verzuge in der Zahlung des Kaufpreiies 


Selbithälfeverfauf. 667 


(Art. 354) ein jerneres Recht zur S. erwachien fann. Auch mit der Niederlegung 
der Waare wird S. nicht ausgeſchloſſen; ebenfowenig die Klage auf Vertragserfüllung 
(Entih. des ROHG. XXIII. 19). Der Verkäufer joll dem ſäumigen Käufer den 
S. vorher androhen, wobei es jedoch der Angabe des Verkaufstermins, ob öffent— 
(ih oder nicht verkauft werden ſoll, nicht bedarf (Entjch. des Neichägerichts I. 5); 
zwifchen Androhung und Realifirung muß ein jolcher Zeitraum liegen, daß dem 
Käufer eine den Umftänden nach ausreichende Friit bis zum Verkaufe bleibt, um 
die erforderlichen Maßregeln zu treffen behuis Schadensabwendung, jei es durch 
Abnahme oder durch Hinwirken auf guten Verkauf (Entich. dee ROHG. XIX. 
194). Durch die Weigerung, die Waaren anzunehmen, wird die Verkaufsandrohung 
nicht erledigt (Entich. des ROHG. XIX. 294; des Neichäger. I. 310). Sit die 
Waare dem Berderben auögejegt und gleichzeitig Gefahr im Verzuge, jo ift die 
Verfaufsandrohung nicht jormelles Vorerforderniß. Ueber den Ort der Verkaufsſelbſt— 
hülie Hat das Geſetz wegen Berjchiedenartigkeit der Fälle nicht Beitimmung getroffen. 
Gemeinhin wird der Verkauf dort ftattfinden, wo der Annahmeverzug des Käufers 
ſich bethätigt; der Regel nah am Erfüllungsort ; jofern dort feine Verkaufsgelegen— 
heit, 3. B. weil fein Marktort, obwol die Waare eine marftgängige, ift die Waare 
zum Marktort zu ſchaffen; wird vor Abjendung die Annahme verweigert, jo fann, zur 
Vermeidung zwedwidriger Belaſtung mit Transportfoften, der Verkauf am Abjendungs« 
ort geſchehen (Entich. des ROHG. V. 174, XIV. 422, Fenner und Mede, 
Samml., VI. 285; Zeitichr. j. d. gei. H.K. XXIU. 583; Keyßner, Kommentar, 
S. 347). Der ©. muß diejenigen Waaren betreffen, mit deren Annahme der 
Käufer in Berzug ift; beim Speziesfauf liegt dem Berkäufer Beweis der Jdentität, 
beim Genusfauf liegt der Beweis der gejegmäßigen und vertragsmäßigen Eigen 
haften ob (Entich. dee ROHG. XV. 149, XXIV. 33; Rhn. Archiv XXVII. 
15). Daß der Verkauf mit allen verabredeten Klauſeln ftattfinde, ift nicht 
notwendig; die Waare darf verfauft werden, wie fie verfäuflich, d. h. markt— 
gängig ift (Entich. des ROHG. X. 372). Steht dem Käufer über die Waare 
noch ein Wahlrecht zu, jo wird die noch zu fertigende Waare (Spezififation bei 
Stabeifen) mit diefem Wahlrecht verkauft (Entjch. des ROHG. XV. 146, XVII. 
336, XXH. 5; Zeitſchr. F. d. geſ. H.K. XXIU. 635; Römer, Abhandl. aus 
dem Röm. Necht, Handels- und W.R., ©. 132). Der öffentliche Verkauf muß 
befannt gemacht werden nach den für öffentliche Verfteigerungen geltenden örtlichen 
Vorichriften, abgehalten unter allgemeiner Zugänglichkeit durch einen für öffentliche 
Berfteigerungen obrigfeitlich Angejtellten (Keyßner, Kommentar zu Art. 311 
Nr. 3). Der öffentliche Verkauf erfordert feine gerichtliche Mitwirkung; das nahm 
auch der oberjte Dejterr. Gerichtshof (Adler und Clemens, Samml., III. 424, 
447) an, ift jedoch, ohne jeine frühere Rechtiprechung zu beachten, zur entgegengefeßten 
Anficht übergegangen (Erf. v. 17. Novbr. 1880; Wiener Jur. Blatt, 1881, ©. 23). 
Betreffend die Waaren, welche einen Börjenpreis oderMarftpreis haben, j. diejen 
Art. Durch das Grforderniß, daß diefe Waaren nur zum laufenden Preiſe ver- 
fauft werden follen (vgl. Keyßner, Kommentar zu Art. 311 Nr. 6) wird für den 
Käufer der Preis gefichert. Den rechtlichen Bedenken gegenüber (Goldihmidt, H.R., 
1.2 ©. 945; Anijhüß und v. Völderndorff, III. 181, 278) ift der Verkäufer 
der Waare als Käufer bei der Verkaufsſelbſthülſe anerfannt (Zeitich. f. d. geſ. H.R. 
XVII. 234, XXIII. 593; Entſch. des ROHG. IV. 20). Die unterlaffene Mit- 
theilung von der Verkaufsvollziehung macht jchadenserjakpflichtig, ohne jedoch die 
Geltung der ſonſt gehörig vollzogenen Verkaufsſelbſthülfe zu berühren. Für den Fall, 
daß der Käufer mit der Zahlung des KHaufpreijes im Verzuge und die Waare noch 
nicht übergeben ift, giebt Art. 354 des HGB. dem Berfäufer das Wahlrecht, 
Erfüllung des Vertrages nebſt Schadenserfat wegen jpäterer Erfüllung zu verlangen, 
oder die Waare im Wege der BVerfaufsielbithülfe für Rechnung des Käufers zu ver— 
fauien, oder vom Bertrage zurüdzutreten, gleich als ob derjelbe nicht geichloflen worden. 


668 Selbitmord — Selbitverftümmelung. 


git.: Thöl, HR., PX — 268, 281, 2802. — Endemann, H.R. 3. Aufl., S. 350, 


546, 571. — Gareis, DR Dgslelte, Das Stellen zur ispofition, S. 47. — 

Lamprecht in Buſch' 8 35 — Die Kommentare zum Allgemeinen 

a > 66 au Art. 348, 354. Keyßner. 
el ſtmord. Die gemeinrechtliche Praris hatte denſelben unter dem Einfluß 


der Kirche zu einem Delikte geſtempelt. Man beſtrafte den vollendeten ©. nad 
Verichiedenheit der Umstände mit ſchimpflichem oder mit ftillem (ohme Kirchliche 
Geremonien ftattfindenden) Begräbniffe, den verſuchten arbiträr mit Gefängnik, 
Verweiſungs- oder anderen Strafen. In der neueren Zeit ift man von der Pr 
jtrafung jowol des vollendeten, wie des verjuchten ©. abgefommen (jedoch nid! 
in England und Amerika), mit Nüdficht theila auf ihre praftiiche Wirkungslofigfeit 
und Zweckwidrigkeit, theils auf den Umstand, daß in den meiften Fällen 
die Zurechnungsfähigfeit als eine problematifche erfcheint, theils endlich mit Rüd: 
fiht auf die Schwierigkeiten einer rechtlichen Begründung diefer Beſtrafung vom 
Standpunkte des modernen, durch religiöje und ſpezifiſch-moraliſche Gefichtspunfte 
nicht mehr beherrichten, Rechtes aus. — Mehriach fanden fich indeß in der neueren 
Gejeßgebung bejondere Strafbeftimmungen in Betreff der Beihülfe zum S. Baden 
drohte hier Gefängniß oder Arbeitshaus; Ungarn bedroht Anftifter und Gehülien 
mit Gefängniß, im Falle des ſog. Amerikanischen Duella aber mit Staatögerängnik 
($ 283). Abgefehen von jolchen bejonderen Vorſchriften ift die Beihülie zum ©. 
nicht zu beftrafen, was in der (Franz., Defterr. ıc.) Praris jedoch nicht unbeftritten 
ift. Gleiches gilt in Betreff der Anſtiftung, infofern nicht die zur Anwendung ge: 
brachten Mittel (Drohungen, Mißhandlungen 20.) den Thatbeitand eines Verbrechen: 
gegen. ie perjönliche Freiheit oder gegen die körperliche Integrität herſtellen. 
v. Wächter, Revifion der Lehre vom ©., Arc. des ER.X. A. Mertel. 

"Eelöftverftümmelung. Der Einzelne ift dem Staate und Einzelnen we: 
pflichtet, jo lange er lebt. Wenn fich derſelbe jelbjt verftümmelt, jo verlekt er 
zunächſt dadurch Pflichten gegen fich jelbft und Andere. Der Staat ftraft jedod) 
nur dann die ©., wenn dieje in der Abficht geichieht, fich zum Militärdienſte un: 
tauglich zu machen oder durch fünftlich hervorgebrachte Gebrechen fich dem Dienite 
zu entziehen. Hier ift der wehrpflichtige Selbitverleger Subjekt und zugleich Gegen: 
ftand der llebertretung, deren rechtliches Objekt die Militärpflicht darjtellt (Deutiches 
StrafGB. 8 142). Wehrpflicht ift hier gleichbedeutend mit gejelicher Verpflichtung 
zum Militärdienfte (Meichamilitärgefeg vom 2. Mai 1874, 88 10, 11, 18, aud 
Gef. über den Landfturm vom 12. Febr. 1875). Der Waffendienft ijt die prin: 
zipielle Verrichtung, die anderen militärifchen Dienftleiftungen die eventuelle. Cs 
genügt die Untauglichmachung fürleßtere. Nach dem Preuß. Straigeſetz verwirkte derjenigt 
die Strafe des Gefängniffes nicht unter einem Jahr und zeitiger Unterjagung der Ausübung 
der bürgerlichen Ehrenrechte, wer fich vorjäßlich durch ©. oder auf andere Weiſe zu dem 
Militärdienfte untauglich macht oder untauglich machen läßt. Die Straibarfeit wird da: 
durch nicht ausgejchloffen, daß der Schuldige zu militärischen Nebendienftleiftungen, außer 
dem eigentlichen Waffendienfte, befähigt geblieben ift; auch ift die Hervorbringung 
einer dauernden Untauglichkeit nicht nothiwendig. Der Thäter wird nach vollftredter 
Strafe zu demjenigen Militärdienfte abgegeben, zu welchem er noch tauglich be 
funden. Nach der Preuß. Militär-Griaginftruftion vom 9. Dez. 1858 $ 54 waren 
Militärpflichtige und Rekruten, welche der vorjäglichen S. wegen bejtraft worden, 
im alle der Arbeitsfähigkeit ohne Rückſicht auf jonftige Zurüdftellungsgründe zur 
Ableitung der gejeßlichen Dienftpflicht in eine Arbeiterabtheilung einzuftellen. Nach 
dem Defterr. Wehrpflichtgeiege vom 5. Dezbr. 1868 8 47 iſt jeder Webhrpflichtiar. 
welcher der vorjäßlichen Selbjtbeichädigung überwiejen wurde, injofern er zu irgend 
einer Dienftleiftung im Heere oder in der Kriegsmarine noch tauglich ijt, dahin 
abzujtellen und hat zwei Jahre über die gejegliche Yiniendienftdaner zu dienen. 
Hat die Abgabe zum Militärdienfte auch bei jolchen Individuen zu geichehen , bei 
welchen wegen eingetretener Verjährung von dem Verfahren abgelaflen wurde? Jr 


Selchow — Sell. 669 


Defterreich wurde diefe Frage bejaht. Selbitverlegung aus Unbedachtfamkeit ift 
ausgeichloffen. Nach dem Dejterr. Mil.Straf®B. begeht das Verbrechen der Selbjt= 
beichädigung, wer nach abgelegtem Dienfteide durch Berjtümmelung feines Körpers 
oder durch gefliffentliche Hervorbringung einer Krankheit zum Militärdienfte ich 
untauglic zu machen und dadurch feine Entlaffung zu bewirken trachtet. Die 
ichwere Kerkerſtrafe richtet fich nach dem Erfolge. Nach ausgeitandener Strafzeit 
ift auszufprechen, ob die betreffende Militärperfon noch zu irgend einer Dienftleiftung 
bei einer Heeresanjtalt geeignet jei. Bei gänzlicher Dienftuntauglichkeit des Selbit- 
beichädigers tritt die Nebenftrafe der Stellung eines Griaßmannes ein. Die fakul— 
tative Androhung der Ehrenfolgen rechtiertigt fich bei dieſem Delift durch die Er— 
wägung, daß dafjelbe nicht immer aus ehrlojer Gefinnung, jondern auch aus Rück— 
fichten für hülfsbedürftige Eltern ıc. begangen werde. Sachien jaßte diejes Delift aus 
dem Gefichtspunft einer jtrafbaren Hinterziehung der Leitung der Militärpflicht auf. 
Wer fich durch Spiel, Trunt, Müßiggang erwerbsuntauglich macht, verfällt dem 
s 361, 3.5 des Deutſchen StrafGB., injofern er mittels der Selbjtbefchädigung 
ihm obliegende Unterhaltungspflichten verleßt. 


18: u. Lit.: dv. Holtzendorff, Hanbb., III. $ 39. — Hälſchner, Gem. d. Strafr. 
1881, 1 — feller, ilitärftrafgefeb, 1873, — Preußiſches Strafe. 113. — here 
off, v. Helldorff, Dienftvorfhriften der Preuß. Armee, 1865, ©. 62. — Pud 
Allee Geſche der vadiſchen a gebung, 1868, 153. — Rübdo cff, Deutſches dlt 
ſtrafgeſetz, 1872. — Dagegen =. omm. tiber das StrafGB., 1879, ©. 635. — Komm. ber 
5 142—53, v. Schwarze, ©. 365 ff. — Gerichtäfaal, 1857, II. 139. — — Hubner, Defterr. 
ilitärftrafgefeße, 1878. Wahlberg. 
Selchow, Joh. Heinrich Chriſt, 5 1732 in der Markt Brandenburg, 
wurde 1757 -ordentl. Prof. in Göttingen, 1764 Beifißer der Juriftenfafultät, 1770 
Hofrath, T 1795. 
Schriften: Elem. er uit. jur. Rom. publ. et priv., Gott, 1756. — Elem. hist. jur. 
univ. per Germ. obtinentis, Gott. 1759, Beuth Götting, 1767). — Instit. jurispr. Germ., 


Gott. 1757. — Elem. jur. Germ. priv. hod. 2. Hannov. 1762, 8. 1795. — Srundfäpe 
d. W.R., Gött. 1758, 1777. — — — Benunfhioeig &äneh, Privatre ig Bött. 1764. — 
Electa jur. publ. et priv. Germ., Lips. 1771. — Grbrif. d. ri R.geſch, Gött. 1775. — 


Einl. in den Reichshofrathspre., Lemgo — — Mag. f. d. Deutihe R. und Geſch., 
Gött. Lemgo 1779. 
Lit: Pütter, II. 22—24. Zeihmann. 


Selden, John, & 1584 zu Salvington (Suffer), trat mehrfach im Parla= 
mente gegen die Regierung auf, wurde zweimal gefangen geſetzt, jaß 1640 im langen 
Bart., 7 1654. „Gloria Britanniae.‘“ 

Schriften: History of tithes, that is the practice of —X of them, 1618, 1680. — 
Mare clausum sive de dominio maris libri duo, 1636. — Diss. historica ad Fletam. — Notes 
on Fortescue. — De uxore ebraica s. de nupt. et divort. ex jure civ. i. e. divino et 
talmudico, Lond. 1646. — De jure nat. et gentium juxta discipl. Ebraeorum, London 
1640; Argent. 1665. — Table Talk, 1689. — Opera, Lond. 1726. 

git.: Hinrichs, . er: R. u. Staatöprinzipien, 1848, I. 107—114. — Gessner, 


Droit des neutres, 1865, — Schulte, Geichichte, II. b 271. — Fran ck, Les 
r&eformateurs et pablieisten l’Europe, 17. siöcle, Paris 1881. — — (8) I. 39. 
eihmann. 


Cell, Georg Wild. Aug., 5 1804 zu Darmitadt, wurde 1830 Privat- 
Dozent in Gießen, 1834 Prof. in Zürich, 1841 in Gießen, T 25. III. 1846. 
Schriften: Ueber dad Recht des correns debendi vor bem anderen correus, Giehen 
1830. — Berl. im Geb. d. Civilrechts, Göttingen, 1833, 34. — Abh. in ber — für 
33 u. Prz. v. Linde, III. eit 2, 3. Er gründete mit feinem Bruder Karl Sell 
bie ERDE SD DEE: hift. u. dogım. earb. d. Röm. nel Braunihw. 1841—44. 
: N. Nekr. d. Deutjchen, Bd. — S. 201, 202 Teichmann. 
"ea. Karl, 8 20. VII. 1810 zu Darmftadt, Bruder d. Vor., jtudirte in 
Gießen und Heidelberg, habilitirte fich 1834 in Gießen, bald außerord. Prof. dai., 
1839 als ordentl. Prof. nad) Bonn berufen, 1854 Geh. Juftizrath, T 23. VII. 1879. 
Schriften: De condictionibus quaestiones duae, Darmst. 1834. — Die Recuperatio 
der Römer, Braunichw. 1837. — De juris Rom. nexo et mancipio, Brunsv. 1840. — Röm. 


670 Zemera — Seminarien. 


Behre d. Eigenthums nebft Einleit. von ben dingl. Rechten überhaupt (1834), Bonn 1852. — 
Aus dem Noxalrecht der Römer, Bonn 1879. 


Lit.: Gebädhtnißrede von H. von Dechen (in „Bonner Zeitung“ Nr. 213 vd. 6. Aug. 
879). Teichmann. 

Semeca (Zemeke, Joh. Teutonicus), ſtudirte in Bologna unter Ayo, 
wurde Propſt in Goslar, dann in Halberſtadt, ſcheint in Bologna gelehrt zu haben, 
i 1245 oder 1246. 

Er ſchrieb: Gloflen zu Gratian’s Dekret, u. zur Kompil. IV. 

Lit: Schulte in Ziſchr. f. Kirchenrecht x. 107—132. Zeihmann. 

Seminarien (kirchliche) (Th. I. ©. 626, 628, 648, 649). Das Konil 
von Trient verpflichtet die Biichöfe in ihren Diögefen bei der Kathedrale oder an 
einem anderen geeigneten Orte Xehranftalten (seminaria) zu errichten, in denen 
ehelich geborene Knaben, vorzüglich armer Eltern, vom zwölften Lebensjahre ab die 
nöthige Unterweifung in allgemeinen Wiflenichaiten, der Theologie, ſowie in der 
Bornahme kirchlicher Funktionen behufs der Vorbereitung für den Priefterjtand em- 
piangen jollen, — eine Anordnung, bei welcher das von Ignaz von Yoyola geitiftete 
Deutiche Collegium in Rom als Mufter gedient hat, und deren Zwed die Iſolirung 
der Elerifalen Bildung gegenüber dem neu erwachten wiflenjchaftlichen Geift war. — 
Für die Errichtung und die Unterhaltung der ©. kann der Biſchof unter Einholung 
des Rathes zweier Domherren, von denen er den einen, das Domkapitel den andem 
beftimmt, und zweier Mitglieder des Stadtklerus, deren eines durch den Bilder, 
das andere aber durch den Klerus gewählt wird, den Benefizien und Fabriken der 
Diözefe, von feiner eigenen mensa episcopalis anfangend, eine Abgabe (seminaristieum. 
alumnaticum) auferlegen. Können auf diefe Weife nicht die erforderlichen Mittel 
beichafft werden, jo braucht blos für die ganze erzbiichöfliche Provinz ein ©. er 
richtet werden. — Die Anordnungen über die Gintheilung der Klaſſen, die Gegen: 
ftände und Methode des Unterrichts, jowie die Anftellung der Xehrer fteht dem 
Biſchof zu, welcher dabei zwei ältere und angejehenere Kanoniker ala Beirath yu 
ziehen fol. 

In Deutichland find indeſſen dieſe Vorichriiten des Konzils von Trient jaſt 
gar nicht ausgeführt worden, die hier bejtehenden Priefter- (auch Klerikal-) ©. dienen 
vielmehr nur der praftiichen theologischen Ausbildung jolcher Kandidaten, welde 
ſchon die wiſſenſchaftlichen theologischen Studien vollendet haben. Die allgemein: 
Vorbildung erhalten diefelben dagegen in den jog. Anaben-S. — in denen theile 
der vollftändige Gymnafialunterricht ertheilt wird, theils aber die Zöglinge mur 
gemeinfam erzogen werden (jog. Ktonvifte), indem fie daneben den Unterricht an 
den öffentlichen Gymnaſien des Ortes empfangen —, die theologische Bildung dagegen 
bald auf den Univerfitäten, an denen fatholiich-theologiiche Fakultäten vorhanden find 
(Breslau, Bonn, München, Würzburg, Freiburg und Tübingen), theils an eigenen 
von den Bijchöfen geleiteten theologischen Yehranftalten, von Manchen auch Klerital: 
©. genannt (jo in Oeſterreich, Bayern und Preußen, ſoweit dieſe Hier nicht ſeit 
dem Jahre 1873 von Staatöwegen geichlofjen find). 

Für Preußen, wo jeit 1850 über die geiftlichen Bildungsanftalten feine Staats 
aufficht geltend gemacht wurde, hat das Gejeh vom 11. Mai 1873 über die Vor: 
bildung der Geiftlichen, indem es zur Erlangung eines geiftlichen Amtes 1) Ab: 
legung der Abiturienten-Prüfung, 2) die Zurüdlegung eines dreijährigen Studiums au' 
einer Staatsuniverfität des Deutjchen Reiches, und 3) die Abjolvirung einer Staat: 
prüfung im Betreff der allgemeinen wifjenjchaftlichen Bildung fordert, beitimmt, 
daß Knaben-S. und Knaben-Konvikte nicht mehr errichtet, und auch neue Zögling: 
in diefelben nicht mehr aufgenommen werden jollen, ſowie daß das wiſſenſchaftliche 
theologifche Studium an einer biichöflichen Lehranftalt nur dann abjolvirt werden 
darf, wenn vom KHultusminifter anerkannt ift, daß ein jolches Studium das Uni: 
verſitätsſtudium zu erjeßen geeignet fei, ein Vorrecht, welches aber die Lehranitalten, 
welche fich an dem Orte einer fatholifch-theologiichen Fakultät befinden, nie erlangen 


Sendenberg — Seniorat. 671 


können. Die praktiich-theologische Vorbildung zu regeln, überläßt das Geſetz der 
Kirche jelbit. Dagegen unterwirft daſſelbe ferner alle Lehranftalten der Staats— 
aufficht, welche durch den Oberpräjtidenten geübt wird und fich in Reviftonen der— 
jelben bethätigen fann. Auch müſſen die Hausordnungen und Disziplinarregle= 
ments jämmtlicher Anjtalten, ferner die Lehrpläne der Knaben-S. und theologischen 
Lehranftalten (nicht der Priefter-S.) dem Oberpräfidenten eingereicht werden. End: 
lich jet es die Dualifitation der Lehrer näher jet und unterwirft ihre Anftellung 
dem ftaatlichen Einſpruchsrecht. Bei Nichtbefolgung der gejeglichen Beitimmungen 
fann der KHultusminifter die für die betreffende Anjtalt bejtimmten Staatämittel 
einbehalten, die Zöglinge von dem Bejuche der Gymnaſien und Ablegung der Abi- 
turientenprüfung zurüdweifen, und auch die Anftalt jelbit jchließen. — Das 
Badiiche Geſetz vom 19. Febr. 1874 ordnet die Schließung der Knaben-Konvikte 
und der nternate für Theologie Studirende an, und läßt der Kirche nur Freiheit 
in der Errichtung von Anftalten zur theologiſch-praktiſchen Vorbildung. — In 
Bayern und Württemberg jtehen die theologischen Bildungsanftalten ebenfalls 
unter jtaatlicher Aufficht. 

In der evangelijchen Kirche fommen zwar auch Seminarien vor, dieje dienen 
aber nur dem Zwecke der praftiichen Vorbereitung auf das geiftliche Amt und der 
Erweiterung und Vertiefung der theologijchen SKenntniffe. Für die Regel nehmen 
fie die Kandidaten erjt nach vollendetem Univerfitätsftudium oder erjt nach ab— 
jolvirtem erjten oder zweiten Gramen auf. Einzelne vereinigen auch die Kandidaten 
zur — bilden alſo Konvikte. 

en: Conc. Trid. Sess XXI. c. 18 de ref. 

Lit: Aug. Theiner, Geſchichte der geiftlicden Bildungsanftalten, Mainz 2 — De 
l'$ducation clericale et des seminaires provinciaux in ben Analecta jur. Ye p- 654, 
1067; IH. p. 281. — Schulte, rn, II. 149; Deijelben Xehrb. d ſeirchenreqhis, 
6. 597. — Richter-Dove, Kirchenrecht, 7 . Aufl., E. 1068. — P. dinſchius, Die Preuß. 
ſtirchengeſetze, Berlin 1873, S. XIX., 107 ff. P. Hinihius. 


Sendenberg, Heine. Chrift. Freih. v., 5 1704 zu Frankfurt a./M., 
wurde 1730 erjter Rath zu Dhaun in rheingräfl. Simfen, 1735 Prof. in Göttingen, 
1738 in Gießen, 1745 Reichehofrath und Freiherr, 7 3. V. 1768 zu DEN, 

Schriften: Selecta jur. et hist. tum anecd. tum jam edita et — 
1734—42. — Anfangsgründe der alten, mittleren J neueren teutſch. gem. Rechtsg — 
Gött. 1737. — Corp. jur. feud. Germ., 1740. —— jur. Germ. publ. ac a. hactenus 
ineditum, 1760—66. — Gebdanfen von >. jeder ‚ei lebhaften Gebrauche d. — teutſchen 
bürg. u. Staatärechta in den bisherigen Reichägefegen und Gewohnheiten, 1759. — Neue und 
vollftänbd. — d. R.A., Frankf. 1747. — De jure primarum precum regum Germ., 
Francof. 17 

Lit.: Pütter, gitt., I. 446—355. 

Sein Sohn Renatus Karl, & 1751 zu Wien, that fich hervor ala Fort» 
* v. Häberlin's Deutſcher Reichsgeſche Bd. 21—27, Frankf. 1798, 1799; 

1800. 

Lit.: Stobbe, Redhtäquellen, L. 11. — Schulze, Einl. in das ee 

©. 83. — Kriegk, Die Brüder S., Frankfurt 1869. — Preußiſche — 
Teichmann. 

Seniorat. Für die Güter des Adels gilt in Folge von Hausſtatuten, Ob— 
ſervanzen oder Fideikommißſtiftungen häufig das Prinzip der Individualſucceſſion, 
welchem zufolge das Familiengut ungetheilt nur auf einen Erben übergeht. Mit— 
unter iſt dieſe Erbfolge nad) dem ©. geordnet, d. bh. es iſt ſtets das älteſte der 
erbberechtigten Familienglieder — ohne Rückſichtnahme auf Parentel und Grad — 
zur Succeſſion berufen. In Deutſchland hat der ©. für die Erbfolge ſtets nur eine 
jehr vereinzelte Anwendung gefunden. 

Zit. u. Gjgb.: Rudloff, De iure senii in familiis illustribus, 1769. — v. Salza 
und Qichtenau, Die Lehre dv. Familien», Stamm: u. Gejchlechtäfideitommiffen, ss 77, 78. — 


Wildner, Fideitommihfe, 169. — Preuß. Allg. ER. II. 4 88 135—140. 
Heinrih Brunner. 


672 Separatio bonorum, 


Separatio bonorum (Gütertrennung, Abſonderung) iſt zumächit der 
allgemeine Name für Fälle, wo eine Vermögensmaſſe in verfchiedene Bejtandtheile 
zerlegt wird, wie bei der Auseinanderjegung zwijchen Zehn und Allod, zwiſchen 
Dotalgut und ehemännlichem Bermögen. Sodann aber bedeutet es namentlich die 
Abſonderung eines Nachlafjes vom eigenen Bermögen des Erben, auf welche die 
Nachlakgläubiger ein Anrecht haben, um fich gegen die Konkurrenz der Gläubiger 
des möglicher Weife überjchuldeten Erben zu jchüßen (jog. beneficium separationis), 
(1. 1 pr. $$ 1, 14D.h.t.). Dies vom Prätorichen Edikt geichaffene Recht gewähren 
ihnen auch alle Deutjchen Zandesrechte (Preuß. Allg. ER. I. 16 88 500—512; 
Deiterr. BGB. $ 812; Sächſ. BEB. 88 2333— 2342), und der Code civil art. 
878 ff. Als Vorausſetzung defjelben gilt nicht blos erwiejene Ueberjchuldung des 
Erben, fondern jchon jede Gefährdung durch defjen Gläubiger (Seuffert’a Arc. XI. 
173; noch weiter geht Windſcheid, $ 607, Anm. 3); nach Preuß. Recht jedoch 
nur Konkurs des Erben. Tür dieſen überall wichtigften Fall hat auch die RKO. 
$ 43 das Abjonderungsrecht, joweit e8 landesgefeglich befteht, anerfannt und geregelt, 
woraus man jedoch nicht mit Dernburg, III. 5 233, Anm. 4, folgern darf, dat 
es nunmehr nach Reichsrecht nur im Falle des Konkurjes gelte. Ueberdieß ijt nad) 
manchen Yandesrechten das Abjonderungsrecht für die Fälle, wo der Erbe mit der 
Rechtswohlthat des Inventar angetreten hat, entbehrlich geworden. Denn bier 
wird vielfach, 3. B. vom Preuß. Allg. ER. I. 9 $ 443, der Nachlaß ala ein vom 
Vermögen des Erben getrenntes Ganze behandelt und an bdemielben nur ein zu 
Gunſten der Gläubiger bejchränftes Eigenthum des Erben anerkannt. Vgl. Dern: 
burg, III. SS 221 ff. Bei diejer Auffaffung können die Nachlaßgläubiger, wenn 
die Erbſchaft überfchuldet ift, über diejelbe Konkurs eröffnen laffen, ohne eines 
Separationsrechtd zu bedürfen (RED. $ 202 und Motive dazu), und wenn fie 
nicht überjchuldet ift, Sicherheitsmaßregeln betreiben, durch welche ihr Recht auf 
vorzügliche Befriedigung aus dem Nachlaß gegen die Konkurrenz der Gläubiger des 
Erben gejchüßt wird. Nach diefen Landesrechten bleibt daher das Abſonderungsrecht 
nur dann praftifch wichtig, wenn der Erbe ohne Vorbehalt angetreten hat. Berechtigt 
zur s. b. iſt jeder Nachlaßgläubiger und Vermächtnißnehmer (l. 6 pr. D. h. t. 
NEO. 8 43). Die Frift zur Ausübung des Nechts beträgt nad) Gem. Recht fünf 
Jahre jeit dem Erbichaftsantritt (. 1 $ 13 D. h. t.), ift aber durch die Landesrechte 
meist gekürzt, in Preußen auf ein Jahr (vgl. die UWeberficht in den Motiven zu 
5 43 Ver RKO.). Das Preuß. Recht verlangte bisher außerdem auch Innehaltung 
der Anmeldungsfrijten im Konkurfe (Preuß. KO. $ 126); dies ift durch die RAD. 
bejeitigt, und danach der Anspruch auf Abjonderung bis zum Ende des Konkurſes 
jtatthaft. Jedoch wird das Recht verwirkt durch Annahme des Erben zum perfön- 
lichen Schuldner (1. 1 $$ 10, 11, 15, 16 D. h. t.), nach Preuß. Recht erſt durch 
Novation. Die Ausübung des Rechts auf s. b. erfolgte bisher in allen Fällen 
durch Erwirkung einer Verfügung des Nachlaßrichters (vgl. über die Kompetenzfrage 
Ubbelohde im Archiv für civ. Prari® LXI. ©. 63 ff.), kraft deren eine völlige 
Trennung des Nachlaß- und des Erbenvermögens in der Art eintrat, daß es bei 
Ueberjchuldung der einen oder anderen Maffe zu einem Univerfalfonfurs über die 
(etere und zu einem Partikularkonkurs über die erftere fam. Aehnlich nach der 
Preuß. KO. $ 259. Dies ift durch die RKO. dahin geändert, daß ein Partikular- 
konkurs über den Nachlaß nie mehr jtattfindet. Denn wenn derjelbe mit Vorbehalt 
angetreten ift, fo fann er nach 88 202 ff. nur Gegenjtand eines eigenen, auf den 
Namen des Erblaffers einzuleitenden Konkurjes werden. Wenn der Erbe aber ohne 
Vorbehalt angetreten Hat, jo werden die Nachlaßſtücke nicht mehr ala Einheit, fondern 
als einzelne Sachen behandelt; daher behält der Konkursverwalter fie in feiner Ver: 
waltung, verfilbert fie und befriedigt mit dem Erlöfe die Nachlaßgläubiger und Ver— 
mächtnißnehmer, welche ihren Abfonderungsanfpruch bei ihm geltend machen. Bal. 
die Motive zur RED. SS 43 und 202, und Dernburg, IN. $ 233, U. 13. 


Sequeiter, 673 


Nah feinem Umfang begreift das Separationsrecht des $ 43 der RKD. die bei 
der Gröffnung des Konturſes vorhandenen Nachlaßgegenftände. Danach ift für das 
vom Erben bereits Verausgabte oder DVerzehrte fein Erſatz zu leiften. So— 
jem jedoch nach Landesrecht das für eine Nachlaßjache erworbene Aequivalent an 
deren Stelle tritt, wie 3. B. nach $ 2341 des Sächſ. BGB. Forderungen von 
Gegenleiftungen für veräußerte Erbſchaftsgegenſtände, wird auch die8 von dem 
Separationsrecht ergriffen. Bgl. Dernburg, a. a. D. und $ 230, WU. 22. 
Fraglich it, ob die Abjonderungsberechtigten auch aus den eigenen Mitteln des 
Erben Berriedigung verlangen können. Das Röm. Recht enthält widerſprechende 
Gnticheidungen (vgl. 1.51.1817 und 1.38 2 D. h. t.); nach der RRDO. $ 57 
iſt die Frage zu bejahen für den Betrag, zu welchen der Gläubiger auf abgejonderte 
Befriedigung verzichtet, oder mit welchem er bei der lebteren ausgefallen ift. Die 
frühere Praris und das Preuß. Recht legten auch den Gläubigern eines Erben, 
welcher eine Erbſchaft ohne Vorbehalt angetreten hat, das Recht auf Trennung 
jeines Vermögens von der Grbichaft bei. Dies ift durch die RED. aufgehoben. 
Dal. die Motive zu $ 43, ©. 223. 

Quellen: Tit. Dig. de separationibus 42, 6. 

Neuere Lit.: Sintenis, Gem. —— III. $ * — Pe Lehrb., I. S 157. — 
Windicheib, Lehrb,, $ 607, — Unger, Oefterr. Erbr., ernburg, — b. 
Preuß. Privatrecht, III. $ 233. — Die Kommentare zur FO 


Sequefter. Sequeftration ift die Hinterlegung einer Sache, deren juriftiiches 
Schickſal ungewiß ift, bei einer unbetheiligten Perjon, welche die Verpflichtung über 
nimmt, die Sache an denjenigen herauszugeben, welcher jein Recht auf diefelbe er= 
wiefen hat. Der bei Weiten häufigjte Anwendungsfall der ©. ijt die Depofition 
einer im Streite befangenen Sache durch die Progekparteien, wo dann der Sieger 
das Rückforderungsrecht hat. Die Sequeftration wird entweder von den Betheiligten ſelbſt 
vorgenommen (s. voluntaria) oder vom Richter angeordnet (s. necessaria); die 
(eßtere tritt ein während eines Prozefjes als Sicherheitsmittel (zur Abjchneidung 
verbotener Selbithülfe oder zur Vermeidung der Deterioration der ftreitigen Sache) 
oder nach geendetem Streit ala Erefutionsmittel. Der ©. hat die Stellung eines 
Depofitars, die Klage gegen ihn heißt depositi sequestraria actio; er hat die Sache 
aufzubewahren jo lange, bis fejtgeftellt worden iſt, an wen fie herauszugeben ift, 
bzw. bis er ſonſt der übernommenen Verpflichtung entledigt wird. Die viel be= 
handelte Frage, ob der ©. Beſitz an der Sache habe, ift meines Grachtens nach 
der Verjchiedenheit der Beitimmung der ©. zu beantworten; erfolgt die ©. nur zur 
* jaktifchen Sicherheit der Sache (custodiae causa), jo dauert der bisherige Beſitz fort 
und der ©. erhält nur die Detention; foll fie dagegen eine Erſitzung unter- 
brechen , jo geht der Befiß unter, der ©. erhält dann den fog. abgeleiteten Befit 
Der ©. vertritt die Parteien, bzw. dad Gericht, er ift aber nicht Bevoll- 
mächtigter in dem Sinne, daß die von ihm angeordneten Maßregeln über die Dauer 
der ©. Hinaus Wirkung haben. it mit der ©. eine Art von Verwaltung ver- 
bunden, wie dies im modernen Recht gewöhnlich der Fall ift, fo ift die S. nicht 
eigentlich ein Depofitum, jondern ein Mandats- oder Dienjtmiethe-Verhältnid. Den 
Ausdruck S. behält man aber auch hier bei, doch beurtheilen fich die Gegenansprüche 
des S. wegen feiner Auslagen, Verwendungen u. ähnl. dann lediglich hiernach, 
während ihm im eriten alle die depositi actio contraria zujteht. 

Ueber die gerichtliche ©. find in der CPO. einige allgemeine Beitimmungen 
getroffen. Danach ift eine jolche zuläffig im Zwangsvollſtreckungsverfahren, wenn es 
fih um die Piändung eines Anfpruches auf Herausgabe einer unbeweglichen Sache 
handelt: die Sache muß an einen auf Antrag des Gläubiger (oder des Dritt- 
ichuldnerd) von dem Amtögericht der belegenen Sache zu beitellenden S. heraus 
gegeben werden; die Zwangsvollitredung jelbjt erfolgt dann nad) Maßgabe der 

v. Holhenbdborff, Ene. II. Retäleriton III. 3. Aufl. 48 


674 Serrignyg — Servin. 


Landesgeſetze, alfo eventuell zunächit wieder durch S. In gleicher Weife ift betreffs der 
Vollziehung eines Arreftes auf umberwegliche Sachen auf die Landesgeſetze verwieſen, 
während bei der einftweiligen Verfügung ausdrüdlich gefagt wird, daß fie im einer 
©. beitehen könne (val. die SS 747, 752, 757, 811 und 817 der CPO.). 

Unter den Partikularrechten fennt das Preuß. Allg. IR. die ©. nur als 
eine Unterart der gerichtlichen Verwahrung (und Berwaltung), wenn Perjonen oder 
Thiere oder unbewegliche Sachen den Gegenftand derfelben bilden; fie tritt ein bei 
fruchttragenden Sachen, um ein Recht auf die Früchte und bei nicht fruchttragenden, 
um ein Recht auf die Sache jelbit zu fichern, falls eine Beichädigung der Sadıe zu 
bejorgen ift und die Vorausfegungen eines Arreftichlages vorliegen. Im Webrigen 
dient die Sequejtration auch ala Erefutionsmittel. Bei Auswahl des S. hat der Richter 
mäßiges Verjehen zu vertreten. Der ©. iſt ftets Inhaber der Sache und hat die 
poſſeſſoriſchen Rechtsmittel; it ihm eine Verwaltung übertragen, jo kommen die 
Grundjäße des DVerwaltungsvertrages zur Anwendung. Beltritten ift, ob eine fret- 
willige, außergerichtliche ©. zuläſſig ift. 

Das Dejterreichifche Recht behandelt die ©. als eine Unterart des Verwahrung: 
vertrages ganz wie das Gem. Net. Das Franzöſiſche Necht fcheidet ebenfalls 
zwifchen Sequestre conventionel und Sequestre ou Depöt judiciaire und enthält 
über diejelben jehr ausführliche Beitimmungen, welche indeſſen im MWejentlichen mit 
dem Gem. Recht übereinftimmen; ausdrüdlich wird erwähnt, daß die Sequeftration 
auch bei unbeweglichen Sachen und gegen Entgelt eintreten fanı. Das Sächſ. BEP. 
endlich kennt nur die gerichtliche Sequeitration, welche ein hypothekariſcher Gläubiger 
erwirfen fann, wenn er aus den Früchten der verpfändeten Sache befriedigt fein 
will; andere hypothekariſche Gläubiger fünnen diefem Antrage nicht widerſprechen, 
wol aber fann der vorftehende Gläubiger verlangen, daß die einmal angelegte 
Sequejtration zu feinen Guniten fortgejeßt werde. 

Quellen u. Lit.; Tit. depositi vel contra Dig. 16, 3; Cod. 4, 34. — Preuf. “ur 
ER. J. 14 53 103-108. Anwendungsfälle: 1. 7 88 159—161; 11 8 327; 21 88 140-142, 
204; II. 2 SS 27, 42, 44: 4 88 108 u. 109. — Allg. Gerd. IL. 24 88 112, 115 fi; 0 
19. — Preuh. AG. zur CRD. vom 24. März 1879, $ 17. — Oefterr. Allg. BEB. 868. — 

ode civil art. 1955—1963. — ag BOB. SS 424, 435, 436 (vergl Siebenhaar, 

Komm. zum BGB zu $ 1279), — Muther, Sequeſtration und Arreſt im Röm. Recht, 
1856. — Windicheid, Pandelten, Bd. II. $ 380. — Sintenis, Civilrecht, Pb. IL 
8 112. — Förfter, Theorie und Praxis de Preuß. Privatrechtes, Bd. L 8 48, Bd. IL 
$$ 139, 194, 292. — Dernburg, Lehrbuch bes Preuß. Privatrechts, Bb. I. S 147, Do. II 
$211l. — Zahariä, Franz. Civilrecht, Bd. II. SS 407 fi. — Seuffert's Archiv V. 18, 
577; VI. 95; XII. 306; Vllt. 48, 234; XXII. 99; XXI. 44; XXX. 207. Keil. 


Serrigny, Denis, & 8. I. 1800 zu Savigny-ſous-Beaune, Prof. in Dijon. 
ihied 1872 aus, T 17. X. 1876. 
Schriften: Traite de l’organisation, de la competence et de la procedure en matiere 


contentieuse administrative, 18342—46, (2) 1865. — Traité de droit public, 1846. — 
Questions et trait&s de droit administratif, 1854. — Mem. sur le regime municipal en 
France dans les villages, depuis les Romains jusqu’ & nos jours, 1861. — Droit public & 
administratif romain du — siecle, 1862. 


Lit.: Gazette des Tribunaux du 22 décembre 1876. — Dumay, Etude sur Proudhon 
1878, p. 114. — Bufnoir in Revue critique, XXVI. annee (1877), p. 133—137. 
Teichmann. 
Servin, Louis, F 1555 zu Vendöme, wurde ſehr jung (1589) General: 
advofat zu Tours, T 1626. 

Schriften: Actions notables et plaidoyers, 1604, 1631, 1640. — Vindiciae secundum 
libertatem eccl. gallicanae et defensio regii status, Tours 1590; Genève 159 im 
Goldast, Mon. sacra, III. 178, 762). — Pro libertate status et rei publ. Venetorum, 
1606. — Remontr. sur le livre de Bellarmin de summo pontifice, 1610. 


Ein anderer Servin, Ant. Nic., 5 1746 zu Dieppe, Advokat am Parlament 
zu Rouen, 7 1811. 


Gr jhrieb in Beantwortung ber Berner Preiöfrage: De la legislation criminells, 
par Iselin, Bäle 1782. 


Setzungsrecht — Sicardus. 675 


git.: Miehaud. — Ny ee Bibliotheque, 65. — Sergent, Poötes du Palais 1878, 
p. 125. — Schulte, Geld, . 590. — Gaudry, Barreau de tr 493 88. 
Zeihmann. 


Setzungsrecht (Th. I. ©. 544) ift das bei einer Mhederei der Minorität 
zuftehende Necht, fich bei Differenzen in Betreff der Leitung der Rhedereiangelegen- 
heiten der Ausführung der Beichlüffe der Majorität dadurch zu entziehen, daß fie 
dad Schiff zu einem bejtimmten Preife veranjchlagt; in welchem Falle die Mehrheit 
der Mheder entweder das Schiff gegen Auszahlung der Antheile der Minderheit nach 
jenem Preife zu übernehmen oder das Schiff der leßteren gegen Auszahlung der eigenen 
Antheile nach demielben Preiſe zu überlafien hat. sHervorgegangen aus einem im 
ipäteren Mittelalter und noch über diejes Hinaus in einem großen Xheil der 
Guropäifchen Seerechte anerkannten eigenthümlichen Theilungsverfahren, welches jeder 
einzelne Mitrheder provoziren konnte, war das Inſtitut ſchon vor Erlaß des Deutjchen 
HGB. von jehr beichränfter, in Deutjchland Lediglich partitularrechtlicher Geltung. 
Nach dem Zuſtandekommen des lekteren hat das ©. feine Geltung nur in Medien: 
burg behauptet, wo e& durch die Einf.=Verordn. zum HGB. vom 28. Dez. 1863 $ 53 
von Neuem geregelt worden iſt, welche Beitimmung bei der Erhebung des HGB. 
zum Geſetz des Norddeutichen Bundes (reſp. Neichögefeh) durch das Bundesgejeß vom 
5. Juni 1869 8 4 als Medlenburgiiches Landesgeſetz ausdrüdlich anerkannt, durch 
die Verordn. vom 22. Oft. 1869 aber wejentlich modifizirt worden if. Die ©. 
hat nicht die Auflöfung der Rhederei zur Folge, fondern nur das Ausſcheiden des 
betreffenden Theils der Nheder. Der das Schiff behaltende Theil tritt hinfichtlich 
der zu übernehmenden Parte in die laufenden Rechte und VBerbindlichkeiten der 
Rhederei ein. Außerhalb Medlenburgs kann in Deutichland ein S. nur durch den 


Rhedereivertrag für eine bejtimmte Rhederei eingeführt werden. 
Lit.: Bejeler in ber Zeitihr. f. D. R. XVIIL Nr. 9. — Lewis, — See⸗ 
recht, J. S. 82. ff. — R. Wagner, Beiträge zum Seerecht (Riga 1880), e.ı = 
— 


Seuffert, Joh. Adam v., 5 15. II. 1794 zu Würzburg, machte den 
Feldzug von 1814 mit, promovirte 1815, habilitirte fich in Göttingen, wo er auch 
zum Dr. philos. ernannt wurde, 1817 außerordentl. Prof. in Würzburg, 1819 
ord. Prof., jpäter hervorragendes Mitglied der Abgeordnetenfammer, wurde der 
Profefjur enthoben und 1834 Rath am Appellationsgericht in Ansbach), jpäter Eich- 
jtädt, zog fich 1839 nad) —— zurück, 7 8. V. 1857. 

Schriften: De eo Justum est circa reclamationem uxoriam jur. Franconici, 
1315. — Ueber ben dates Geift in dem politiichen Leben ber Griechischen —— 
1816. — Das Baurecht, die Reallaſten und das Näherrecht, 1819. — Civiliſt. Er rterungen, 
1820. — GErörterungen ei 7 Lehren de? Röm. Privatrehts, 1820, 21. — Beiträge zur 
no. vom Weiderecht, — Beiträge zur Gefehgebung, inäbef. des Königreichs Bayern, 
1823. — Beiträge zur &bfung Röm.srechtl. Kontroverfen, 1824. — mn — Lehre von 
der Kodizillarklaufel, 1829. — Gefammelte rechtöwifjenicaftl. Abhandlungen, 1 — flomm. 
über die Bayer. — ———— 1836 (Handbuch des Deutſchen Civilpro ſorig F 
Lauk, 2. Aufl., Erl. 1854—58). — Praft. Pandektenrecht 1825, 4. Aufl. beſorgt v. E. A 
Seuffert Mürzb. 1860—1871. — Arch. f. d. Enticheidbungen d. oberiten Gerichte in ben 
Deutichen Staaten, bis jeht 36 Bände. (fortgeiegt v. Preußer u. Schütt), München 1847 
(Neuer Abdrud db. erftien 30 Bände, 1866-76.) — Blätter für Rechtsanwendung, zunächft 
in — Erl. 1836 ff. u von hr u. Hettich, 46. Jahrg. 1881). 

: Krit. Ueberſchau, 137—146. — Blätter f. Rechtaanwendung XXI. 
Nr. 15, Beil Teihmann. 


"&öge, Raymond comte de, & 26. IX. 1748 zu Bordeaur, Advolat in 
Bordeaur und Paris, 1815 Präftdent des Kaſſationshofes, T 2. V. 1828. 

Bekannt dur: Defense du roi Louis XVI. le 26 dec. 1792. — Lettre du citoyen de 
Söze, 1793. — Opinion de M. de Söze, prononcee à la chambre des Pairs le 9 janvier 


1816, — 1817. 
@it.: Felix Grelot, Le premier an de Seze, 1876 (aus la France judiciaire.) — 


Le tribunal et la Cour de cassation, 1 eihmann. 
Sicarduß, 5 zu Gremona, bat in Bologna jtudirt und wol auch gelehrt 
dann in Mainz, 1185 Biſchof von Gremona, 7 1215. 
43 * 


676 Siccama — Sicherheitsteiftung. 


Gr ſchrieb: Liber mitralis. — Chronicon (Muratori, Script. rer. Ital., VII. 529 ss.) — 
Summa canonum. 

Lit: Schulte, Geidh., I. 143—145. TZeihmann. 

Eiccama, Sibrandus Tetardus, & 1570 zu Bolswerd, Sekretär zu 
Hafſelt, 1617 in Boläwerd, T 1622. 

Er ihrieb: Fastorum Rom. Kalendarium, Amst. 1600 (in Gräve's Thesaurus III. 
285 fi.). — De maee centumvirali (ebenda * 1824, Halle 1725, 1776). — Lex Frisionum, 
Franeq. 1617, v. Gärtner Lips. 1730. 

git.: ale II. 179—184. — De Wal, Oratio de claris Frisiae Ictis, Leov. 1825, 
p. 41, 161—165, 439. — Nypels, Bibliothöque, 18, TZeihmann. 

Sichardi, (Siehardus) Johannes, S gegen 1499 zu Tauberbiſchojsheim, 
befuchte die Schule in Erfurt, jeit 1514 die Univ. Ingolitadt, wurde Lehrer an 
der schola poötica in München, 1521—1524 in freiburg, wo er mit Zaſius 
verfehrte, ging 1525 nach Bafel als Lehrer der Rhetorik, trat in engjte Beziehungen 
zu Erasmus, unternahm von 1527 an eine Forſchungsreiſe, von der er reiches Material 
beimbrachte, fehrte 1530 nach Freiburg zurüd, wo er fich dem Rechtsſtudium zu— 
wendete, promovdirte 1531, ging 1535 nach Tübingen, wo er jehr bald die Prof. 
des Codex zugewielen erhielt, an der Verwaltung und Reform der Univerfität den 
regiten Antheil nahm, viel beichäftigt und berühmt als Konſulent, namentlich des 
Herzogs Ulrich, mitwirfend bei der Revifton der erſten Eheordnung, der Entwerfung 
des eriten Landrechtes, den Vorarbeiten für eine Mömpelgardifche Gerichtsorbnung, 
F 9. IX. 1552. 

ab area Cod. Theodos. libri XVI. Volusii Maeciani lib. de asse, Julü 
Frontini Ab. e controversiis limitum, Basil. 1528. — Leges Riboariorum, Bajoarumque, 
Alemannorum, Basil. 1530. — Seine Gobervorlej. wurben ebirt opera Fickleri, Basil. 1565, 
per Fr.Modium, Francof. 1586, v. Samson Hertzog, Francof. 1598 (Sichardus redivivus, 
von ber Iuriftenfatultät bevoriortet), feine Responsa —* Godelmanni, Francof. 1599. 

Lit. ty, Johannes Sicharbdt, eine aladem. Stuttg. 1874, — E Wäcdter, 
Mürttemb. Privatrecht, I. 173, 192, 242, 354. — Stobbe, Nechtäquellen, I. 8; II. 86, 42, 
62, 385, 410. — Viſcher, Geſch d. Univ. Baſel von 14601529, Bajel 1860. 6. as. _ 
Schreiber, Geſch. ber Univ. Freiburg, II. 327. — v. Sti nping g, Zafius, 286; 
Derijelbe, PR te d. —— — (1880), I. 212 219. — erdin Stral 
rechtliche Consilia, üb. 1877, Lüpfel, Univ. Tübingen, Lpz. ine ©. 17, 91. 

Zeihmann. 


Eicherheitsleiftung im Civilprozeß zum Unterichied von den Kautionen 
im materiellen Recht (j. diefen Art.) ift bejtimmt, eine Partei gegen Nachtheile aus 
der Prozehführung des Gegners zu ſchützen. Diefe jog. prozeſſualiſche Sicherheit iſt 
nunmehr durch die REPD. neu geregelt. . Danach find die Fälle derfelben weit 
geringer an Zahl, als nach Röm, und bisherigem Gemeinen Recht, weil die heutige 
Gejeßgebung die Tendenz hat, durch größere Leichtigkeit und Freiheit des Verfahrens 
jenes indirefte Hülfsmittel entbehrlich zu machen. Und zwar ijt eine ©. aufzuerlegen 
1) auf Verlangen der Gegenpartei dem Ausländer, der ala Kläger auftritt, zur 
Dedung des Beklagten wegen der Prozekfoften ($ 102). Ausnahmen fügt Abi. 2 
hinzu. Diefe ©., die jchon im Gem. Recht als cautio pro expensis auägebildet 
war (KGO. von 1555 III. 49 $ 8), kann jogar mittelö prozeßhindernder Einrede 
erzwungen werden ($ 247 Nr. 4). — 2) Nah $ 85 Ab. 1. kann das Gericht die 
einftweilige Zulaffung eines Stellvertreter ohne Vollmacht von einer S. für Koften 
und Schäden abhängig machen. Diefe ©. iſt ein Erſatz für die gemeinrechtliche 
cautio de rato bzw. iudicatum solvi, während die nach klaſſiſchem Röm. Recht 
gebotene Anwendung diefer Kautionen auch im Falle vorhandener Vollmacht (Keller, 
CivPrz., $ 57) jchon mit der Abjchaffung des für den Vertreter entjtehenden dominium 
litis weggefallen war. 3) In der Grefutionsinjtanz fann bald die Anordnung der 
Zwangsvolljtrefung, bald deren Einjtellung bzw. Wiederaufhebung in den Fällen, 
wo das Urtheil noch nicht die Rechtskraft beichritten hat (SS 650, 652), oder wo 
eine Wiedereinjegung in den vorigen Stand oder eine Wiederaufnahme des Ver: 
tahreng beantragt ($ 647), oder eine Ginmwendung gegen die Zuläffigkeit der Boll: 
ftredungsflaufel ($ 668) oder gegen den durch das Urtheil feitgeitellten Anipruch 


Sicherheitsleiftung. 677 


($ 688) erhoben ijt, oder wo ein Dritter am Gegenftande der Zwangsvollſtreckung 
ein die Veräußerung Hinderndes Recht geltend macht ($ 690), von einer ©. des 
Gläubigers (cautio de restituendo) bzw. des Schuldnerd oder des Dritten abhängig 
gemacht werden. Auch zur Bollftredung des Urtheild, welches den Schuldner ver: 
pflichtet, eine Handlung zu unterlaflen oder die Vornahme einer Handlung zu dulden, 
fann der Schuldner, der demjelben zuwider gehandelt hat, auf Antrag des Gläubigers 
zur Leiftung einer Sicherheit für den durch fernere Zuwiderhandlung entjtehenden 
Schaden auf bejtimmte Zeit verurtheilt werden (S 775 Abi. 8). — 4) Eine 
Arreitanlegung fann in jedem alle, und muß alsdann, wenn der Anfpruch oder 
der Arreitgrund nicht glaubhait gemacht ift, von einer ©. wegen der dem Gegner 
drohenden Nachtheile abhängig gemacht werden ($ 801). Andererjeits kann der 
Schuldner durh ©. ein Recht auf Aufhebung des Arreftes erwerben (88 803, 807), 
und das Gleiche gilt bei einer einjtweiligen Verfügung des $ 818. Endlich kann 
das Gericht auch in dem Urtheil über die Rechtmäßigkeit eines Arreſts deſſen Be— 
ftätigung, Abänderung oder Aufhebung an eine von der einen bzw. andern Partei 
zu leiftende Sicherheit knüpfen ($ 805). — Dagegen iſt die im Gem. Recht anerkannte 
©. für die Fortſetzung des Prozeßverfahrens Hinmweggeiallen und diejenige für die 
gerährdete Vollitrekbarkeit des Artheils in das Vermögen des Schuldners durch den 
Arreft erjeßt worden. — Als Mittel zur ©. verlangt $ 101, abweichend vom 
Gem. Recht, welches Bürgen (l. 7. D. de stip. praet. 46, 5) oder Piand geitattete, 
grundfäglich Hinterlegung in baarem Gelde oder in jolchen Werthpapieren, welche 
nach richterlichem Ermeſſen eine genügende Dedung gewähren. Nur wenn die Par: 
teien es anders vereinbart haben oder die CPO. eine nach freiem Ermeſſen des 
Gerichts zu beitimmende Sicherheit zuläßt (SS 801, 805, 807), können auch jonjtige 
Deckungsmittel benußt werden. Die Behörde, bei welcher die Hinterlegung erfolgt, 
beitimmt fich nach den Landesgejeßen. ©. darüber den Art. Depofition. Dajelbit 
ift auch das an den hinterlegten Sachen entjtehende Rechtsverhältniß näher bezeichnet. 
Das Verfahren it für den Fall des vom Beklagten gejtellten Verlangens nad) 
©. wegen der Prozeßkoſten in den 88 104, 105 geregelt. Danad) hat das Gericht, 
und zwar nach miündlicher Verhandlung ($ 248), dem Kläger eine Friit zur ©. 
anzuberaumen. Nach Ablauf der Frijt ergeht auf Antrag des Beklagten, wenn die 
S. bis zur Entſcheidung nicht erfolgt ift, die [ehtere dahin, daß die Klage für zurück— 
genonmen zu erklären, bzw. in höherer Inftanz daß das Rechtsmittel des Klägers 
zu verwerfen. Stellt fich die geichehene S. als unzureichend heraus, 3. B. wegen 
Sinkens der Werthpapiere, jo kann eine weitere Sicherheit verlangt werden. Dieje 
Regeln find analog auch auf die übrigen Fälle der ©. zur Anwendung zu bringen. 
Doch ift eine mündliche Verhandlung feineswegs vor jeder Auferlegung einer ©. 
erforderlich und das Präjudiz, unter welchem die ©. aufzuerlegen ift, wird fich in 
den übrigen Fällen regelmäßig dahin bejtimmen, daß die Vergünftigung, welche von 
der ©. abhängig gemacht ift, beim Ausbleiben der letzteren dem Antragsteller nicht 
zu Theil werde. 

git.: Für bad Gem. Recht: Schlayer, Die Lehre von ben Kautionen, in Linde's 
——— j. Civilxecht und Proz., Neue Folge IX. Nr. 1, 7, 10. — Für das Recht der CPO.: 

ie Kommentare zu berjelben und Yitting, $ 103. Ed. 

Sidherheitsleiftung kennt der Straiprogeh (John, TH. I Suppl. ©. 35) 
als Beichaffung einer Gewähr, namentlich einer vermögensrechtlichen, entweder für 
die Lünftige Berriedigung eines bereits bejtehenden oder möglicherweije künftig ent— 
ftehenden Anſpruchs oder für die Vornahme oder Unterlaffung einer bejtimmten 
Handlung Die Deutjche Strafprozeßgeſetzgebung fennt I. als ©. für die fünftige 
Beiriedigung von Anſprüchen 1) den Vorſchuß für Gerichtsfojten bzw. 
Auslagen, weldhen der Staat im Verfahren auf Privatanklage vom Privatfläger 
oder Rechtömittelkläger für das Verfahren bzw. die Inſtanz oder vom Antragiteller 
bei Handlungen, welche mit Auslagen verbunden find, fordert, und welchen er jelbjt 


678 Zicherheitsleiftung. 


bei Verurtheilung des Gegners in die Koſten nicht zurüdzahlt, wenn der Anſpruch 
der Gerichtskaſſe auf den entiprechenden Betrag zu Recht beitehen bleibt; 2) der 
Vorſchuß, welchen bei öffentlicher Anklage der Angeklagte den für die Hauptver 
handlung unmittelbar von ihm geladenen Zeugen und Sachverjtändigen für Reiſe— 
fojten und Verſäumniß baar anbieten oder auf der Gerichtäjchreiberei hinterlegen 
muß, um fie zum Grjcheinen zu verpflichten; 8) die ©. für die Prozeßkoſten 
aller Injtanzen, welche ausländiiche Privatfläger, wenn fie nicht auf Armen: 
recht Anſpruch haben oder nicht Gegenfeitigfeit jtattfindet, dem Staate wie dem 
Beichuldigten zu einem vom Gericht nach Ermefjen feſtgeſetzten Betrage binnen einer 
eventuell vom Gericht anzuordnenden Friſt mittels Hinterlegung von Geld oder 
MWerthpapieren zu leiften haben, widrigenialls die Anklage ala zurüdgenommen an 
gejehen bzw. die Berufung verworfen werden fol. Wenn im Giv.Prz. die Zurüd: 
nahme der Klage ihrer Wiederanftellung nicht entgegenftehen würde, fo ift die 
Wiederanftellung einer zurüdgenommenen Privatllage im StrafPrz. durch $ 432 
der StrafPO. und defien Motive zu unbedingt auägeichlofien, als daß davon eine 
Abweichung zuläffig erichiene, zumal die Verweifung auf die Beitimmung der EPD. 
über die Friſt zwar wol ala eine Verweifung zugleich auf die unmittelbare Folge 
ihrer Verſäumniß, aber nicht ohne Weiteres auch auf deren Folgen zu erachten ift; 
4) die ©. für die Koſten des Verfahrens über die Verpflichtung der Staats— 
anwaltichaft zur Erhebung der öffentlichen Klage und des fich aus diejer ergebenden 
Verfahrens über die Hauptjache, welche dem Antragjteller zu Guniten der Staats 
fafje wie des Beichuldigten vom Oberlandes- bzw. Neichägericht binnen Friſt zu 
beichaffen auferlegt werden fann, mit deren Verſäumniß der Antrag für zurüd- 
genommen zu erklären ift. Eine Erneuerung des Antrags binnen der etwa nod 
laufenden Antragsfriſt dürfte, da der Antrag die Bedeutung eines Surrogats der 
jubfidiären Privatanflage hat, nach Analogie der Zurüdnahme der Privatanklage 
auch hier auszuschließen fein. II. Als ©. für die Vornahme oder Unterlafjung 
gewiffer Handlungen fchreibt die Deutiche StrafPO. vor: 1)die ©., gegen welde 
Aufſchiebung der Bollftredung von fFreiheitsitrafen, mögen fie an 
die Stelle von Gelditrafen geſetzt oder ummittelbar erfannt fein, von der voll 
jtredenden Behörde für einen Zeitraum von höchitens vier Monaten gewährt werden 
fann. Die ©. erfolgt für Siftirung nach Ablauf der Friſt; ihre Form hängt vom 
Ermeflen der Behörde ab, jo daß auch bloßes Handgelöbniß zuläffig erichennt, 
vom gleichen Ermeſſen bzw. auch ihr Betrag. 2) Die ©. zum Zwed der Ber: 
ihonung mit Unterfuhungshaft, alfo zur Abwendung derjelben und, wenn 
fie jchon verwirklicht ift, zu ihrer Aufhebung. Abgejehen vom ficheren Geleit (vgl. 
d. Art. Geleit), bei welchem fie jchon früher möglich iſt, hat fie ihre regelmäßige 
Veranlaffung in der Anordnung oder dem Bejtehen der Unterfuchungshait, ift aber 
nur zuläffig, wenn allein Fluchtgefahr Grund derjelben ift, nicht aber wo der Haft: 
befehl wegen Ausbleibens in der Hauptverhandlung oder wegen Kolluftonsgeiaht 
abgegeben und leßtere nicht bejeitigt ift. Ihre Veranlaſſung bringt es mit fi, 
daß fie in den meilten Fällen vom Inhaftirten oder jeinen Angehörigen und Freunden 
angeboten werden wird. Aber im Straf Prz. tritt die Verhandlungsmarime zurüd, 
und es jteht nichts im Wege, kann fogar einfach Gerechtigkeit gegen den Inhaftirten 
jein, daß der Richter auf die Zuläffigfeit der S. aufmerfiam madt. Die Ent 
icheidung über Zulaffung der ©. fteht natürlich bei dem Nichter oder Gerichte, 
welchem die Enticheidung über die Unterfuhhungshait (vgl. diefen Art.) zufteht. Die 
Zulafjung entjcheidet fich nicht danach, ob die ©. jede Annahme einer Fluchtgeiahr 
bejeitige, fondern danach, ob fie allein oder in Verbindung mit anderen Umftänden 
eine genügende Wahricheinlichkeit für die jederzeitige freiwillige Geitellung des Frei— 
zulaffenden in der Unterfuchhung und zur Uebernahme der zu erwartenden Strak 
begründe, Demgemäß hat der Richter, wie v. Holtzendorff hervorhebt, einerjeits 
die Wahricheinlichkeit einer Verurtheilung, die Schwere des angeichuldigten Wergehens, 


Sicherheitsleiftung. 679 


die Art und das Maß der vermuthlich verwirften Strafe zu erwägen, andererfeits die 
Verhältniffe der ©., welche, wenn Ausländer oder Perfonen, die fich nicht ausweiſen 
fönnen, wegen bloßer Webertretung verhaftet find, jchon allein die Fluchtgefahr 
aufwiegen kann, deren Werth auch die Keiftung durch nahe Verwandte oder 
durch angejehene und ehrenhafte andere Perjonen verftärfen kann, ferner die Un— 
beicholtenheit, die perjönliche Vertrauenswürdigkeit des Inhaftirten, welche auch durch 
Selbitanzeige des vorgeworfenen Vergehens erhöht fein fann, feine Anjäffigfeit, feine 
Vermögens-, feine Zamilienverhältniffe, die nicht Keder ohne Weiteres im Stich läßt. 
Iſt hiernach für die Zulaffung der ©. zu enticheiden, jo können diejelben Verhält— 
niffe auch für die Beitimmung ihres Betrages maßgebend fein, der für den In— 
haitirten und feine Interzedenten nicht in unerjchwinglicher Höhe oder zu ihrem 
Vermögensruin, fondern in billiger Berüdfichtigung ihres Vermögensſtandes jejt- 
zufegen ift. Die Form der ©. kann in Hinterlegung von Geld oder Werthpapieren, 
ausländiichen wie inländifchen, in Pfandbeitellung oder in Bürgſchaft beitehen. Auch 
über fie entjcheidet das richterliche Ermefjen, welches hier gleichjalls zu bedenken hat, daß 
Vertrauenswürdigfeit des Inhaftirten ihm zuverläffige Bürgen finden laffen kann, 
dagegen nicht Jeder baares Geld oder Werthpapiere befigt oder aufzubringen vermag. 
©. theilweife durch Hinterlegung von Werthen, theilweife durch Bürgjchaft ift zwar 
mit dem Gejege verträglich, kann aber die Verhältniffe erfchweren, und ift darum 
möglichit zu vermeiden. Bei einer Mehrheit von Bürgen ift Solidarhaft nicht vor— 
geichrieben, Theilhaftung daher zuläffig. Die Einrede der Vorausklage ift, weil der 
Inhaftirte nicht Für eine Vermögensſchuld haftet, nicht begründet. Im Fall der 
Zulaffung zur ©. übernimmt der Inhaftirte die Pflicht, fich der Unterfuchung und 
dem Antritt der erkannten Fyreiheitäftrafe nicht zu entziehen bzw. ala Ausländer 
auch dem fonjtigen Inhalt des Urtheils Folge zu leiften, ferner auf an ihn ergangene 
Ladung zu erfcheinen, weshalb im Auslande wohnhafte Inhaftirte auch eine im 
Gerichtäbezirt wohnhafte Perjon für Zuftellungen bevollmächtigen müflen. Die ©. 
it demnach cautio judicio sisti und judicatum solvi. Die ©. hat feine bedingungs— 
(oje Frreilaffung zur Folge. Wiederverhaftung hat einzutreten, wenn der Entlafjene 
Anftalten zur Flucht trifft, auf an ihn ergangene Ladung ohne genügende Entjchul- 
digung au&bleibt oder neu Hervorgetretene Umſtände, 3. B. Kollufionen, neue Ver: 
dachtögründe, neue ermittelte ſchwerere Vergehen fie fordern, nicht aber wegen theil= 
weiſer Entwerthung der ©., es ſei denn, daß lettere alleiniger Grund der Freilaffung 
gewejen wäre oder die Entwertdung eine erhebliche ift und durch fie bei den vor- 
bandenen Umftänden die Frluchtgefahr wieder erheblich erhöht wird. Die Sicherheit 
wird, was auch durch eine förmliche Enticheidung feitgeftellt werden kann, ipso jure 
frei, wenn der Entlaffene bei demjelben Gerichte in derjelben oder in anderer Sache, 
wie mit v. Holßendorff anzunehmen ift, zur Haft gebracht, oder der Haftbefehl 
unmittelbar oder mittelbar durch Einftellung des Verfahrens, Freiſprechung und 
bzw. durch Erkennung anderer ala Freiheitsſtrafen aufgehoben iſt, oder die erfannte 
Freiheitsstrafe angetreten wird, alfo der Beichuldigte fich der volljtredenden Behörde 
geitellt Hat, oder wenn er während des Verfahrens jtirbt. Auf Freigebung der ©. 
ift zu erfennen, wenn der Beichuldigte fich Zwecks Befreiung derjelben zur Wieder- 
verhaftung geftellt hat, oder von jeinen Interzedenten, denen dazu, ſo lange der 
Berfall der Sicherheit noch nicht erkannt iſt, eine Friſt vorgeſchrieben werden kann, 
geitellt wird, oder wenn diefe von Thatjachen, welche den Beſchuldigten der Fluchi⸗ 
abficht verdächtig machen, dem Gericht oder bei Gefahr im Berzuge einer zur vor— 
läufigen Feſtnahme berechtigten Behörde fo zeitig Anzeige bejchaffen, daß die 
Verhaftung bewirkt werden fann, worüber, wie Löwe bemerkt, der Strafrichter 
entjcheidet. Die Sicherheit verfällt der Gerichtäfaffe, wenn der Beichuldigte fich der 
Unterfuchung oder dem Antritt der erkannten Freiheitsſtrafe durch Flucht oder 
PBerborgenhalten oder fonjtiwie entzieht, alfo nicht jchon, wenn er blos auf eine 
Ladung außgeblieben iſt. Der Verfall tritt, weil den Interzedenten eine Geſtellungs— 


680 Sicherung des Beweiſes. 


frift gewährt werden darf, nicht ipso jure ein, fondern erſt mit der Entſcheidung, 
iſt alfo ausgefchloffen, wenn der Beichuldigte ſich vor derjelben jtellt oder durd 
jeine Jnterzedenten gejtellt wird, nicht aber, wo er auf Beranjtaltung der Behörden 
ergriffen wird. Vor der Enticheidung find der Beichuldigte, der im Fall der Ab: 
wejenheit, wie Löwe bemerkt, nach $ 40 der StrafPO. zu laden ift, und jeine 
Interzedenten zu einer Erklärung aufzufordern. Gegen die Enticheidung, welche 
bezüglich der Interzedenten einem vorläufig vollitrefbaren Givilurtheil gleichgeitellt 
iſt, Steht den Betheiligten, aber ebenjo auch der Staatsanwaltichaft die Beichwerde 
zu. Vor der Entjcheidung über die Beichwerde, welche für die Interzedenten nad) 
Ablauf der Bejchwerdeiriit einem vechtäfräftigen Givilurtheil gleichiteht, iſt den 
Betheiligten und der Staatsanwaltichaft Gelegenheit zu fontradiftorifcher mündlicher 
Verhandlung über ihre Anträge und über ftattgehabte Ermittelungen zu geben. — 
Nach der Oeſterreichiſchen StrafPO. kann der Unterfuchungsrichter den Beſchul— 
digten gegen einfaches Gelöbniß, die Unterfuchung nicht zu vereiteln und fich nicht 
zu entfernen oder zu verbergen, entlaffen; bei der Rathskammer fann der Beichuldigte 
Gntlaffung gegen Bürgichait oder andere Realkaution und zugleich jenes Gelöbnik 
fordern, wenn e& fich nicht um ein Verbrechen handelt, welches mit mindejtens fünf 
Jahren Kerker bedroht ift; die zweite Injtanz kann fie nach Ermefjen auch in ſolchem 
Falle bewilligen. Die Bejchwerde der Staatdanwaltjchaft gegen den Beichluß der 
Rathskammer ift bei Verluſt des Suspenfiveffefts binnen drei Tagen anzubringen. 
Der durch die jtraibare Handlung Beichädigte endlich hat ein Recht auf Befriedigung 
aus der verfallenen Kaution. 

Quellen: Deutjche StrafPD., 88 117 ff., 174, 219, 419, 486, 488; Motive, ©. 73 ff. 
225, 229; Prot. b. Beiditad Romain, S. 151 ff., 1130 * — CRD. ss 101 
ff., 106 — Deutſches Gerichtätoflengejeh v. 18. Juni 1878, — Deiterr. 
StrafBO. sg 191 ff. — Code d’instr. art. 91, 94, 113 ss. (Loi 14 Hillet 1865). 

Lit.: Bauer, Lehrb., $ 74. — Heinze, Rd. Unterfuchhungshaft, ©. 35. — Sontag, 


Kautionen im StrafPrz. — Bau: Sirafgerichis Verfahren, ©. 161. — v. Hol ne 
dorff, Handbuch des StrafPrz.R., II. ©. 364 fi. — Homment. zur Deutichen Straf PO. 
von Löwe, v. Schwarze, un u. 4. K. Wieding. 


Sicherung des Beweiſes. Die Deutſche CPO. hat das im Gemeinen 
Prozeß ausgebildete Inftitut des jog. Beweifes zum ewigen Gedächtniß (probatio 
in perpetuam rei memoriam), deffen Zwed es war, die Parteien vor dem Verluſte 
eines Beweismittelö zu fichern, ehe es zum Progeh oder wenigjtens zum Beweis— 
verfahren fommen fonnte, unter der angegebenen Bezeichnung aufgenommen. — Ein 
Verfahren zur ©. iſt ftatthaft behufs Ginnahme des Augenjcheines, der Vernehmung 
von Zeugen und Sachverjtändigen, falls die Bejorgniß obwaltet, daß das Beweis 
mittel verloren geht (der Zeuge jtirbt) oder feine Benutzung erjchtvert wird (der 
Zeuge nach Auftralien auszuwandern beabjichtigt). Das Gejuh um Einleitung des 
Verfahrens hat den Gegner, die Ihatjachen, über welche Beweis erhoben werden 
joll, und die Beweismittel zu bezeichnen, ſowie den Grund, welcher die erwähnte 
Beſorgniß rechtfertigt, anzugeben, auch ift der letere glaubhaft zu machen. Nur, 
wenn der Gegner damit einveritanden ift, kann das Gericht die Beweisaufnahme 
auch ohne Vorliegen der Bejorgniß eines Verluſtes der Beweismittel anordnen. 
Das Geſuch iſt fchriftlich oder zu Protokoll des Gerichtäjchreibers anzubringen; bei 
ihon begonnenem Prozeß bei dem Wrozeßgericht, anderenfalld bei demjenigen 
Amtsgericht, in deſſen Bezirk fich die zu vernehmenden Perfonen oder zu befichtigenden 
Gegenjtände befinden. Ueber das Geſuch fann ohne mündliche Verhandlung ent: 
jchieden werden. Nur bei Ablehnung deffelben iſt die Beſchwerde gegen den Gerichts: 
beichluß ſtatthaft. Bei Zulaffung der Beweisaufnahme wird ein WBeweistermin 
angejeßt und in dieſem mit der Beweisaufnahme nach den gewöhnlichen Regeln 
vorgegangen, auch das Ergebniß protofollirtt. Zu dem Termin hat der Beweis— 
führer, wenn angänglich, den Gegner unter Zuftellung des Beſchluſſes und einer 
Abſchrift des Gefuches jo zeitig zu laden, daß diefer feine Rechte wahrzunehmen 


Sichtwechſel. 681 


vermag. Die Unterlaſſung der Ladung hindert aber die Beweisaufnahme nicht. 
Die aufgenommenen Protokolle werden bei dem Gericht aufbewahrt, bis fie jpäter 
gebraucht werden. Jede Partei hat dann das Recht, fie zu benutzen. War 
aber der Gegner in dem Termine nicht erichienen, jo fann der Beweisführer dies 
nur unter der Vorausſetzung thun, daß der erjtere rechtzeitig geladen war oder er 
jelbft glaubhaft macht, daß die Ladung ohne fein Verſchulden unterblieben oder 
nicht rechtzeitig erfolgt it. — Ohne Bezeichnung eines Gegners iſt das Gejuch auf 
©. nur dann zuläffig, wenn der Antragjteller glaubhaft macht, daß er ohne jein 
BVerichulden außer Stande ift, einen Gegner anzugeben (3. B. wenn bei einem 
Beweije über einen angerichteten Schaden der Thäter fich nicht ermitteln läßt). 
Bei Zulafjung der Beweisaufnahme kann das Gericht in folchen Fällen dem 
unbefannten Gegner zur Wahrnehmung feiner Rechte einen Vertreter beftellen. 
Ueber die Tragung der Koften des Verfahrens beitimmt die CPO. nichts. Der 
Antragfteller hat indefjen nach dem Gerichtskoſtengeſetz die erforderlichen Vorſchüſſe 
zu leiften. Ob er diefe und die ihm ſonſt entitandenen Koften in dem Prozeſſe, in 
welchen die Beweisprotofolle gebraucht werden, erjtattet verlangen fann, hängt davon 
ab, ob diefelben im gegebenen Fall als nothiwendig für eine zweckentſprechende Rechts— 
vertolgung oder Rechtsvertheidigung zu erachten find. 

Quellen: Deutſche EVD. SS 447—455, 87. — Deutſches Gerichtäfoftengejeß SS 81, 84. 

P. Hiniins. 


Sichtwechſel ijt ein gezogener oder eigener Wechfel, deſſen Zahlungszeit da= 
durch beſtimmt ift, daß der Sontert des MWechjels in wechjelmäßig üblicher Weife 
andeutet, die Wechſelſumme werde entweder jotort bei Vorzeigung, Präfentation (d. i. 
©. im engeren Sinne, reiner ©., Wechjel auf Sicht) oder bei Ablauf einer im 
Kontert des Wechſels genannten Friſt, deren Lauf mit der Vorzeigung beginnt. 
(Nachjichtwechjel, zu den ©. im weiteren Sinne gehörig, auch Zeit-S. genannt), 
bezahlt werden. Das Charakteriftiiche des ©. iſt demnach die eigenthümliche Art, 
in welcher die Zahlungszeit im Wechjelbriefe angegeben ift; es gejchieht dies in einem 
S. durch die Worte: „bei —“, „auf —“, „nah—“, „gegen Sicht“, oder „bei 
Vorzeigung“ u. dgl., „a vista“, „A vue“, im Engl.: „at sight“‘, wenn drei Reipett- 
tage zugelafjen werden, d. h. wenn der Wechjel am dritten Tage nach der erjten 
Präfentation nochmals vorgezeigt und dann erjt bezahlt werden joll, dagegen „on 
demand‘‘ oder „on presentment‘, auf Anforderung, d. 5. zahlbar auf Sicht ohne 
Zulaffung von Reipekttagen (ſ. hierüber v. Wächter a.a. DO. ©. 893), à piacere, 
„auf Verlangen“, „nach Belieben“ (nicht aber: „auf Kündigung“). In Zeit- oder 
Nach-S. wird die Zahlungszeit durch die Angabe einer beftimmten Frift, die nach 
dem erſten PVorzeigen des Wechſels verlaufen muß, um den Wechjel zahlbar zu 


machen, mit den Worten feftgejeßt: „. . . . Tage (Wochen, Monate zc.) nad) 
Bil, „2 nach Vorzeigung”, „a... un ou plusieurs jours (mois, usan- 
ces) . ... de vue, „.- .. after sight“. Uebrigens iſt ala ©. auch ein präjudizirter, 


mit Nachindoffament verjehener Tag- oder Datowechjel zu behandeln (Entjch. des 
ROHG. Bd. VI. ©. 99 ff.). 

ALS juriftiiche Folge der erwähnten Eigenthümlichkeit des ©. ergiebt fich zunächſt die 
Verpflichtung, die Zeit-S. (Nach-S.) zur Annahme zu präfentiren. Während näm- 
lih der Inhaber eines Wechjeld (abgejehen von den Domizilwechſeln, j. diejen 
Art.) nicht verpflichtet it, den Wechjel bejonder zur Annahme zu präfentiren, 
müfjen die Nach-S., bei Verluſt des wechjelmäßigen Anspruchs gegen die Indoſſanten 
und Den Ausſteller, nach Maßgabe der beſonderen im Wechſel enthaltenen Beſtim— 
mung und in Ermangelung ſolcher binnen zwei Jahren nach der Ausſtellung zur 
Annahme präjentirt werden; iſt von einem Indoſſanten auf einem ©. eine beſondere 
Präfentationstrift vorgefchrieben, jo erlischt die Negreßpflicht diejes Indoſſanten, wenn 
der ©. nicht innerhalb der von ihm gejegten Frift zur Annahme präfentirt worden 


682 Zidneyg — Ziebdrat. 


ift. Ausländiſche S. werden bezüglich der Präfentationsfrift nach dem Recht des 
Ausftellungsortes behandelt, jelbit wenn fie im Inlande Indoſſamente erhielten. 

Sit bei der hiernach erforderlichen Präfentation des S. fein Nccept oder fein 
datirtes Accept zu erlangen, jo muß der Inhaber, bei Verluſt des Wechielregreiles 
gegen Indofjanten und Ausſteller, die rechtzeitige Präjentation durch einen noch in 
nerhalb der Präfentationäfrift erhobenen Protejt feititellen lafjfen; der Tag der Pro» 
tejterhebung gilt in diefem Falle für den Tag der Präfentation; ift die Proteft- 
erhebung unterblieben, jo wird gegen den Acceptanten, welcher die Datirung feines 
Accepts unterlaffen hat, die Verfallzeit des S. vom lebten Tage der Präjentations- 
frift an gerechnet, und zwar ohne daß der Nachweis, die Präfentation habe zu einer 
anderen Zeit ftattgefunden, zugelaffen ift (Entich. des ROHG. Bd. XX. ©. 173). 

Was die Verfallzeit der S. anlangt, jo bejtimmt die WO., daß ein auf Sicht 
geftellter Wechjel (reiner ©.) bei’Vorzeigung — und ala ſolche hat auch die Ein- 
flagung zu gelten (Entich. d. ROHG. Bd. V. ©. 815, 373, Bd. XIV. ©. 30) — 
fällig ift; ein ſolcher S. muß bei Verluft des wechjelmäßigen Anſpruchs gegen die 
Indoſſanten und den Ausiteller, nach Maßgabe der beionderen im Wechjel enthal- 
tenen Beitimmung und in Grmangelung derjelben binnen zwei Jahren nach der 
Austellung zur Zahlung präfentirt werben. 

Hat ein Indoffant auf einem Wechſel diefer Art feinem Indoffamente eine be 
fondere Präfentationsfrift hinzugefügt, jo erlifcht feine wechjelmäßige Berpflichtung, 
wenn der Wechjel nicht innerhalb dieſer Frift präjentirt worden iſt. 

Hiergegen tritt bei Nach-S. die DVerfallzeit ein: a) wenn die Friſt nad 
Tagen bejtimmt ift, an dem letzten Tage der Friſt; bei Berechnung der Frift wird 
der Tag, an welchem der nach Sicht zahlbare zur Annahme präfentirt ift, nicht 
mitgerechnet; b) wenn die Friſt nach Wochen, Monaten, oder einem, mehrere Mo— 
nate umfaffenden Zeitraume (Jahr, halbes Jahr, Vierteljahr) beftimmt it, an dem— 
jenigen Tage der Zahlungswoche oder des Zahlungsmonats, der durch feine Benen- 
nung oder Zahl dem Tage der Präfentation entipricht; fehlt diefer Tag in dem 
Zahlungsmonate, jo tritt die Verfallzeit am lebten Tage des Zahlungsmonats eın. 

Der Ausdrud „halber Monat“ wird einem Zeitraume von 15 Tagen gleich- 
geachtet. Iſt der Wechſel auf einen oder mehrere ganze Monate und einen halben 
Monat geitellt, jo find die 15 Tage zuletzt zu zählen. 

Endlich ift bezüglich der juriftischen Eigenthümlichkeiten der ©. zu bemerfen, 
daß durch die Einrichtung von jog. Kaffirtagen (WO. Art. 93) die Zahlungszeit 
beim reinen S. nicht aufgehoben werden kann; Reſpekttage (WO. Art. 33) finden 
jelbjtverftändlich bei S. ebenfowenig wie bei anderen Wechjeln nach Deuticher WO. 
ftatt. Ueber ©. ala Rückwechſel j. dieſen — 

Quellen: Allg. Deutſche WO. Art. 4, Ziff. 4, Art. 19, 29, 31. — Code de comm. 
art. 122 an ranzöl. *8 vom 3. Mai 1862. — DD de3 RCHG. II. ©. 291; 
IV. 344; 314 fi., 373; VI. 99 ff.; XL 47; XIV. 30; XVI 346; XX. 173; XXIII 109. 


Lit St, * II. Theil: Mechielrecht, 4. Aufl, $ 39. — D. dv. Mäcter, Ency 
lopädie WR 1 „S. 882899. Garei2. 


Sidney, Algernon, 5 1622, Mitglied des High Court of Justice, in Folge 
des Rye-House-Plot verhaitet und ‚troß mangelhafter Beweiſe verurtheilt, 7. XL. 
1683 hingerichtet. 
Er jchrieb: Discourses conc. government Lond. 1698, ed. Hollis 1772 (beutjch von 
Be 38. 1794). — Sidney-papers, Lond. 1825. 
it.: Secret hist. of the Rye- -House-Plot and of Monmouth’s — Lond. 
1754. — AcqI, Life and Times of A. S., Lond. 1873. — age I. 231, 327. — 
Walter, Naturredit, ss 52, 560. — Ahrens, Naturrecdht, (6) 1870, 8 88. ne 
Zeihmann. 


Siebdrat, Guſtav Albert, 5 2. II. 1806 zu Leipzig, wurde 1828 Ad» 
vofat, 1829 Dr. jur., 1835 Appellationsrath in Zwidau, 1843 Oberappellation= 
rath in Dresden, 1849 Geh. Juſtizrath, 1872 penftonirt, F 17. I. 1876. 


Siegel — Sieyes,. 688 


Schriften: De dominio epistolarum, Lips. 1829. — Kriminaliſtiſche Jahrbücher, (mit 
dem jpätern MWeimarifchen Minifter v. Watzdörf, Zwidau 1836 ff., fortgeführt ald „Jahr: 
bücher“ bez. „Neue Jahrbücher für Sächſiſches Strafreht“ von Held und Fr. Östar 
d. zung bis 18556). — gig ig ng für Sadjen (mit ©. F. Helb), Leipzig 
1848. — S Kite für Sadjfen v. 11. Aug. 1855, Leipzig 1862. 

Lit.: v. Wächter, Das fol. Sächſiſche und das hüringefehe Strafrechl, Stuttg. 1857, 
©. 36, 56; Derjelbe, Beilagen, 1877, ©. 163, 167. — Berner, .. ebung, 1867, 
S. 105, 320. eihmann. 


Siegel, Joh. Gottlieb, & 1699 zu Klofter Heßlar, wurde 1720 Doktor, 
1734 Advofat in Leipzig, Profeffor, Konjulent der Kaufmannjchaft, 1741 Syndikus 
der Univerfität, T 1755. 

Schriften: Princ. jur. feud., Lips. 1738, 1746. — Tract. de litteris investiturarum, 
Lips. 1739. — Corp. jur. cambialis, Lips. 1742, fortgefegt von Uhl 1758, 1764, 1771, 
” 6. = ER zum Mechjelxecht, 1743, 3. Auflage 1773. — Borfichtiger Wechjelgläu- 
iger, Leipzi 5 

. git.: Meufel, Leriton XIII. 154—157. — Hartmann, Dad Deutfche Wechſelrecht, 
Berl. 1869, ©. 4, 98, 94, 95. Zeihmann. 


Siegmann, Georg, & 1. XI. 1813 zu Leipzig, 1851 Appellationsrath bei 
dem Appellationsgericht zu Bauben, langjähriges Mitglied des vormaligen königlich 
Sächſiſchen Oberappellationsgericht3 zu Dresden, welchem er feit 1854 ala Hülfe- 
arbeiter, jeit 1859 ala Rath, jeit 1875 ala zweiter Bizepräfident angehörte, 
5. XII. 1873 von der Iuriſtenfakultät zu Leipzig zum Ehrendoktor ernannt, 
erwarb fich bejondere Verdienjte um die theoretische Durcharbeitung und praftijche 
Ausbildung des Grund und Hypothekenrechts, T 17. VIII. 1877. 

Schritten: Das gl. Sächſ. Grund: und een t, Seipaig 1861. — Die tal. 
Sidi. Hypothelenorbnung, Seipaig 1872. — Das fol. Sächſiſche Hypothelenreht nach dem 
—— eſetzbuche für das Königreich Sachſen, Leipzig 1865, Abth. IV. des Deutſchen 
Hypot hekenrechtes, herausgegeben von dv. Meibom. — Abhandlungen über verſchiedene Rechts: 
materien in den Annalen des fol. Sächſ. Oberappellationägericht3, u ara alte 

olge 1. &. 97—121, 385402; II. ©. M—124, 486-497, II. ©. 337-868; IV. ©. 
93—256; V. S. 1-16, M—121, 529-561; VI. 337—365; VI. ©. 1—7; VIII ©. 
433447, 529548 ; neue Folge I. ©. 145175, 289-315, 433466; II. ©! 115—152; 
II. S. 154—200, 433—458; IV. &. 489-517; VO. ©. 241—267; VIII ©. — 
amm. 


Siegwart⸗Müller, Konſtantin, & 1801, wurde 1828 Fürſprech in Alt 
dorf, 1835 erfter Staatöfchreiber in Luzern, 1841 Mitglied des Regierungsrathes, 
SchultHeiß und Präfident der Schweizerifchen Zagfagung 1844, floh im Sonder: 
bundäfriege 1847 nach Mailand, lebte in München, Sigmaringen, Köln, im Eljaß, 
fehrte 1857 zurüd, F in Altdorf im Jahre 1869. 

Er jchrieb (neben anderen gefchichtl. Sen Nothwend. und Aufrechthaltung der Ehe 
und Beftrafung der Unzucht im Staate, Luz. 1829. — Tas Strafreht der Kantone Uri, 
Schwyz, Unterwwalden, Glarud, Zug und Appenzell, St. Gallen 1833. 

Lıt.: v. Mülinen, Prodromus einer Schweiz. Hiftoriographie, Bern 1874, ©. 183. — 
v. Holgendorff, Hanbb. db. Deutichen Strafrechts (1871), I. 149. Zeihmann. 


Sieyöß, Emanuel Joſeph, & 3. V. 1748 zu Frejus, wurde Generalvitar 
des Biſchofs von Chartres, 1788 Abgeordneter in Orleans, dann in der National- 
verfammlung, jtimmte für Louis’ XVI. Hinrichtung, trat ins Direktorium ein, jpäter 
in den Senat, nach der zweiten Rejtauration ala Königsmörder verbannt, zog fich 
bis 1830 nach Brüffel zurüd, 7 20. VI. 1836. 

Schriften: Essai sur les privileges. — Qu’est ce que le tiers-6tat 1789, deutſch von 
Roppel, Dresden 1875. — Reconnaissance et exposition des droits de l’homme et du 
eitoyen, 1799. — Politiiche Schriften, 1796. — Theorie der Volkävertretung in der fonftit. 
Monarchie (in Riedel's Bibliothek f. moderne Politik u. Staatswiſſenſchaft), Darmft. 1843. 

Lit.: Bluntjihli, StaatsWörtB. IX, 422. — Mohl, I. 38, 274, 280. 
Beauverger, Etude sur S., Par. 1851.— Mignet, Hist. de la Revolution; Derjelbe, 
Portraits et notices hist. et litter., (4) 1877, I. 71—99. — Oelsner, Des opinions politi- 
— du citoyen S., 1799. — Boulay de la Meurthe, Théorie constitutionelle de S., 

ar. 1836. — Revue de legislation, 1851, I. 313—380. — Verge, Diplomates et publicistes, 
Par. 1856, p. 135—178. Zeihmann. 


684 Sigonius — Simon. 


Eigoniuß, Carolus (Sigonio), & 1524 zu Modena, wurde 1522 
Profefior der jchönen Künſte in Venedig, 1560 in Padua, dann in Wologna, 
T 1584. 

Schriften: Regum, consulum .. . fasti, Modena 1550; Venet. 1550; Oxf. 1802. — 
De nominibus Rom., Venet. 1553. — De mim jure civium Rom., Venet. 1560, ed. 
Franck Hal. 1728. — De judiciis 1. onon. 1574; Franeof. 1593. — De re 
— ——— Bonon. 1564. — De republica Hebraeorum, 1582. — Opera, Mil. 

git.: ——— Vita 8. in den — gener. Vol. 43 9* — Vita 8. 
expl. Krebsius, Weilb. 1837; beutich Bee 1500 Zeihmann. 


Eigurdfion, Jon, 5 17. VI. 1811 zu Rafinſeyri im äußerjten Nordweiten 
Islands, jtudirte in Kopenhagen, jehr thätig auf dem Gebiete der Philologie, Ar- 
chäologie und Gefchichte, Höchit verdient ala unermübdlicher Vertreter der Rechte feiner 
Heimath, feitens des Alldings des Jahres 1875 geehrt durch Gewährung eines 
— von jährlich 3200 Kronen, 7 7. XII. 1879 zu Kopenhagen. 

Schriften: Diplom. Island. 185776. — Samml. — sr (zuerft mit Oddgeit 
aa A —77. — Om Islands ne Forhold, 1855 

Maurer in ber Augsb. Allgem. Big, Beilage Nr. re (1880), ©. 59355; 
Berjelbe Udsigt over de Nordgerm. Retskilders Historie, Kristiania 1878, ©. 110: 
Derjelbe we Bar 1874, ©. 472 u. d. — New-York Tribune v. 4. Jan. 1880. — 
Horn, Geſch. d vit. dElanbinaviſchen Nordens, Leipzig 1880, ©. 80. Teichmann. 


Simöon, Joſeph IJsröme, Graf, & 30. IX. 1749 zu Air, hervorragend 
als Advokat und Lehrer an der Univerjität Air, Mitglied des Rathes der 500, am 
18. Fructidor proffribirt, nahm fpäter am Konkordate und den Vorarbeiten des 
Code eivil Theil, wurde Staatsrath und Graf, organifirte in Weitfalen die Rechte: 
pflege, unter der Reſtauration Juftize, dann Minifter des Innern, 1821 Pair, 
1832 Mitglied der Acad. des sciences morales, 1833 Präſident des Rechnungshofes, 


T 19. I. 1842. 

Lit.: Nöllner, Die Deutſchen Juriften, Kaſſel 1854, ©. 412—421. — Mignet, 
Portraits et notices hist. (4) 1877, p. 1-48. — Le tribunal et la Cour = cassation 1879, 
p. 385. Teihmann. 


Simon, Heinrich, 5 29. X. 1805 zu Breslau, begann feine Laufbahn in 
Brandenburg 1827, wurde 1836 in Greifswald angejtellt, ging nach Breslau, 
machte Reifen, 1841 und 1842 Hülfsarbeiter im Eichhorn’schen Miniſterium, ging 
1843 nach Breslau, wo er Stadtgerichtsrath wurde, jtritt für Unabhängigkeit dei 
Nichteritandes, nahm 1845 feinen Abjchied, 1847 wegen Mlajeitätsbeleidigung an: 
geklagt, 1848 Führer der Volkspartei, Mitglied des Frankfurter Parlaments, flüch— 
tete nach der Schweiz, wo er fich amfiedelte, jeit 1851 in Zürich, wo er zum Dr. 
jur. * der Univerſität ernannt wurde, ertrank im Wallenſee am 16. VIII. 1860. 

chriften: Ergänzungen u. Erläuterungen ber Preuß. ea rec an Bryusg- 
u. Rehtamiflenfhaft (log. Fünf: ‚Männertvert), resl. 1837—1839, 6. Au Die 
Verfaſſung u. Verwaltung bed ‘Preuß. Staates, Bresl. Berl. 1800- Fre * Ange, Freu, 
Staatsreht, Bresl. 1844. — Die Preuß. Richter u. die Geſetze v. 29. Mär 2. Ausg 
mit Nachwort an Kamptz. — Altenftüde * neueſten Geſch. der Preuß. Polizei, Leipzig 
1847. — Erinnerungen an bad Min. Wöllner, Leipz. 1848. 
Bit.: Jacoby, H.S., Berl. 1865 (editio incastigata, castigata). Teihmann. 


Simon, Ludwig, & 1810, wurde Advofat zu Trier, 1848 in die National: 
verjammlung gewählt, wo er der äußerften Linken angehörte, einer der ſchlagfertigſten 
und feurigjten Redner des Frankfurter Parlaments, ging auch nach Stuttgart, entflob 
im Juli 1849 nach der Schweiz, wegen Hochverraths in contumaciam zum Tode 
verurtheilt, 1855 nach Paris, wo er 1866 ein eigenes Bankgeſchäft gründete, 187 
nach der Schweiz, T 2. II. 1872 zu Mtontreur. 

Gr ſchrieb: Aus dem Erile, Gießen 1855. 


git.: Haym, Die Deutiche Nationalverfammlung, II. 10, 12, 313—315; II. 13, 34, 
35, 39, 48, 84, 117, 121, 123, 125—127, 136. Teihmann. 


Simoni — Simulation. 685 


Simoni, Alberto de, & 3. VI. 1740 zu Bormio, wurde durch Napoleon's 
GEmennung Mitglied des Istituto Italiano di lettere, scienze ed arti, 1804 Appell- 
richter im Departement „di Lario“, dann Präfident, 1807 Rath am Kaſſationshof, 
7 30. I. 1822 in Morbegno. 

Schriften: Della donazioni fra vivi, Lugano 1783. — Del diritto pubblico di conve- 
nienza politica, Como 1817. — Saggio critico, storico e filosofico sul diritto di natura e 
delle genti, Milano 1822—24. — Del furto e sua pena, Lugano 1776, Milano 1823, per 
Felice Turotti Mil. 1854 (in der Biblioteca scelta del foro criminale Italiano, Vol. V.) — 
Della ragione d’esigere il denaro al corso del tempo, Brescia 1776. — Divisione della 
terra, Como 1777. — Prospetto storico apologetico del governo della Valtellina, Como 
1791. — Dei delitti considerati nel solo effeto ed attentati, Como 1783, Milano 1818, 
1530, per Felice Turotti, Milano 1854 (in ber Bibl. scelta, Vol. VI). 

Lit. Nypels, Bibl. N. 315 (pag. 32). — ®Biogt. von Turotti vor dem Wert Del 
furto p. 9—72. (Turotti, La mente di A. de S. giureconsulto, Mil. 1855). — Tipaldo, 
Biogr. degli Ital. illustri 1. 258. — Wurzbad, III. 253. — Cantü, Storia della eittà 
e diocesi di Como. — Romagnosi in ber Biblioteca italiana, Zeihmann. 


Simulation Heißt diejenige Willenserklärung, durch welche man mit Vor: 
bedacht etwas Anderes ausdrüdt, als man denkt. Der Rechtöverfehr unter den 
Menjchen ermöglicht fich nur dadurch, daß die Erklärung des Willens mit dem 
Dafein defjelben übereinftimmt; eine folche Webereinftimmung wird daher bei einer 
jeden auf Rechtswirkung gerichteten Weußerung eines vernünftigen Menſchen an- 
genommen. Wer aljo einen Widerfpruch zwifchen dem, was erklärt, und dem, was 
gewollt ift, behauptet, muß ihn beweifen. In neuerer Zeit ift diefer Sat beftritten 
und ftatt defjelben der Grundſatz aufgejtellt worden, daß nicht der Wille des Er— 
flärenden entjcheidend fei, jondern dasjenige, was jeinem Kontrahenten in berechtigter 
Weiſe ala wirklicher Willensausdrud erfchienen fei (vgl. Windicheid, 5. Aufl. I. 
z 75 Anm. 1a und die Literatur daſelbſt). Die Anſchauung wird jedoch durch die 
in den Quellen über den Irrthum enthaltenen Entjcheidungen widerlegt (Wind- 
Iheid, Wille und Willenserklärung, 1878). Diefer Beweis ift unmöglich, ſofern 
der Widerfpruch nur heimlich, im Innern des GErklärenden vorhanden und für jeden 
Andern unerfennbar ijt (jog. reservatio mentalis, welche zwar in cap. 26 X. 4, 
1 anerkannt, aber heutzutage als Rechtöprinzip allgemein verworfen iſt (Wind— 
iheid, Pand., $ 75 Anm. 2a). Der fimulirte Wille ift nur ein Scheinwille und 
deshalb ohne jede rechtliche Wirkung. Die ©., auch wenn fie nur von Einer Perfon 
vorgenommen wird, kann darauf gerichtet fein, einen Dritten zu täujchen (l. 14 pr. 
D. 18, 2). Sie kann aber auch darin beitehen, daß Worte, welche an fich zur 
Herborbringung eines jurijtiichen Zwedes und Erfolges geeignet find, zum Scherz, 
Spiel, zur Belehrung und Uebung gebraucht werden (l. 3 S 2 D. 45, 1) oder um 
nur die mögliche Richtung des Willens, noch nicht defjen Firirung anzudeuten; jo 
ſoll in einer blos geiprächsweijen Aeußerung des Soldaten: „te heredem facio“ 
fein wirkliches Teſtament gejehen werden, ſofern nicht der Wille auf die Errichtung 
eines ſolchen abzielt (1. 24 D. 29, 1). Man kann endlich” Worte nur ſymboliſch 
anwenden und dadurch wirkliche Rechtsgeichäfte abjchließen, welche ganz verjchieden 
von denjenigen find, welchen der eigentliche urfprüngliche Wortfinn zu Grunde liegt. 
Dergleichen Fälle gab es im bvorjuftinianifchen Recht jehr zahlreiche (Gajus, II. 
ss 103, 252; IV. $$ 93, 4), fie dienen zur Weiterentwidelung des Rechts und find 
nur althergebrachte Formen, welche einen neuen juriftifchen Gedanken zur Geltung 
bringen und neue Lebensbedürfniffe auf befannten Wegen befriedigen jollen. — 

Am Häufigiten beiteht die ©. in einem Zuſammenwirken Mehrerer, welche in 
Uebereinſtimmung mit einander ihrer Willenserklärung eine andere, ald die gewöhn— 
fihe Bedeutung geben; ohne eine gegenjeitige Uebereinſtimmung gelten nicht die 
Grundfäße der ©., fondern des Jrrthums, der piychifchen oder phyfiichen Gewalt. 
Nah v. Savigny zeigt fich die S. im engeren Sinne in drei verichiedenen An— 
wendungen: 


— 


686 Sinibaldus. 


1) Wenn überhaupt gar kein Rechtsgeſchäft gewollt iſt, obgleich die Worte au! 
ein jolches lauten. 

2) Wenn ein anderes, ala das wörtlich ausgeſprochene Rechtsgeſchäft gewollt wird. 

3) Wenn andere Perjonen Träger des Rechtöverhältnifieg fein follen, ala worauf 
die Worte der Willenserklärung lauten. 

Für alle diefe Fälle gilt die an die Spike des Godertitels (IV. 22) aufgeftellte 
Negel: plus valere quod agitur, quam quod simulate concipitur. Der Schein, 
welcher durch die Erklärung hervorgerufen wurde, ſoll außer Acht gelaffen und nur 
die wahre Willensmeinung ermittelt werden. Es wird fich alſo in jedem einzelnen 
Falle fragen, ob in der fimulirten Erflärung nicht ein wirkliches von den Parteien 
beabfichtigtes Gejchäft verborgen jei. Diejes gilt aladann, wenn es nicht durch das 
Geſetz verboten ift. Unter diefen Vorausſetzungen ift der Zwed, welcher mit der ©. 
verbunden und jehr mannigjach fein kann, ohne weitere Bedeutung. 

Selbitveritändlich ift es, daß, wer durch die ©. Schaden erlitten hat, Grias 
deffelben von den fimulirenden Parteien, welche ſolidariſch verhaftet find (1. 49 pr. 
D. 18, 1), verlangen kann, während für die Simulanten aus der ©. jelbjt gegen- 
feitige Anfprüche nicht erwachien. UWeberhaupt muß das fimulirte Rechtsgeichäft gut— 
gläubigen Dritten als echt gelten, ſofern die Parteien ſolche Anjtalten treffen, daß 
ihre Willenserklärung dem Publitum gegenüber ernfthaft ericheint. 

Die neueren Partikulargejeßgebungen weichen von den Römijcherechtlichen Be— 
ftimmungen über die S. nicht ab; das Defterr. BGB. und das Sächſ. BGB. iprechen 
allgemein aus, daß das fimulirte Gefchäft nach denjenigen gejeglichen VBorichriften 
beurtheilt werden muß, denen es vermöge feiner wahren Bejchaffenheit unterworfen 
it. Der Code eivil handelt von der ©. mur im Erbrecht; jede Verfügung zu 
Gunſten eines Unfähigen ſoll nichtig fein, auch wenn fie in der Form eines läjtigen 
Vertrages oder in Vermittelung einer untergejchobenen Perfon erfcheint. Zahlreicher 
find die Vorjchrifiten, welche das Preuß. Allg. LR. über die ©. von Willens 
erflärungen überhaupt und bei Kaufgeichäften im Bejondern giebt. Hervorzuheben 
it nur, daß namentlich gegen den Schein vermuthet wird, wenn fich Jemand in 
Angelegenheiten jeines Gewerbes oder Berufes geäußert hat und daß die ©. aus den 
Umſtänden klar erhellen joll, weswegen Koch (Kommentar, Anm. 65 zul. 48 55) 
den Beweis durch Eid ausſchließt, eine Kontroverje, welche durh EG. zur CPO. 
$ 14 Nr. 2 gegenjtandslos geworden ift. Beſtraft wird endlich der Abſchluß ſimu— 
lirter Kaufe und Taufchverträge zur Erlangung eines Darlehns bei einem Dritten. 
Bejonderd hervorgehoben wird die Anfechtung fimulirter NRechtsgejchäfte durch die 
Gläubiger innerhalb und außerhalb des Konkurjes. 

Quellen: Tit. Cod. 4, 22. — Defterr. BGB. $ 916. — Code civil art. 911. — 
Sächſ. BGB. S 61. — Preuß. Allg. ER. I. 488 52—56; I. 11 88 70—74. — Preuß. Rubli- 
fandum vom 20. Februar 1802 (Nov. Corp. Const. XI. 767 Nr. 14 de 1802 bei Rod, 
Komment., Anm. 46 zu I. 11 g7 und Rehbein-Reinde, ER., 1880, ©. 410). — Preuß 
KO. vom 8. Mai 1855 SS 99—112. — Preuß. Geſetz vom 9. Mai 1855. — RAD. S 4 
Nr. 1. — Ref. v. 21. Juli 1879 (R.G.Bl. ©. 277) 8 3 Nr. 1. 

Lit.: v. Savigny, Syſtem, II. ©. 259 ff. — ering, Jahrb. f. Dogm., IV. €. 74, 
75; Derielbe, GR Deo Römiicen Fe in 18 —28 I 1865, ©. 259 fi., 
265 fi. — Kohler, Jahrb. f. Dogmatit, XVL. ©. 118 ff. Rapier. 


Sinibaldus Fliscus (Papft Innocenz IV. 1243—54), aus Genua, be 
fämpfte die Kaiſer Friedrich II. und Konrad IV., floh 1244 nach yon, wo er auf 
einer Kirchenverfammlung den Bann und die Mbieung über Friedrich II. ausiprac, 
ftellte Heinrich Raſpe als Gegenfönig auf, fehrte 1251 nach Rom zurüd, verfuchte 
vergeblich die Griechifche Kirche mit der Römiſchen zu vereinigen, F 7. XI. 1254. 
„Pater et organum veritatis.‘ 


Er jhrieb: Comm. in 5 libr. Decretalium, Strassb. 1477; Lugd. 1525; Venet. 1481. 
1491, 1495, 1570, — Apologeticus contra Petr. de Vineis. — Tract. de exceptionibus. 


Sintenis — Stontration. 687 


git.: Schulte, Geichichte, II. 30, 91—94. — v. Stinking, ce ber pop. Lit., 
Leipz. 1867, ©. 287 fi. — Wunberlid in Zeitſchr. für geſch. Rechtswiſſenſchaft XI. 89. — 
Bethmann-Hollweg, VI 59. Teihmann. 

Einteniß, Carl Friedrich Ferdinand, & 25. VI. 1804 zu Zerbit in 
Anhalt, jtudirte 1822—25 in Leipzig und Nena, wurde 1825 Advokat, 1837 Pro— 
teffor in Gießen, 1841 Rath in Deffau, 1850 zweiter Präfident des Oberlandes- 
gericht für Anhalt-Deſſau-Köthen, 1853 Präfident, 1863 Minifter der Juſtiz, 7 
2. VIII. 1868. 

Schriften: Handbuch des Gem. Pfandrechts, Halle 1836. — Ausgabe der Meberjegun 
des corp. jur. civ. et can. mit Otto unb —— 1835. — Zur Frage von ben Civil 
—— Leipz. 1853. — Das praktiſche Gemeine Civilrecht, Leipz. 1844—1851, 3. Aufl. 
869. — Anleitung zum Studium des BGB. für dad Königrei — Leipz. 1864. 


Lit: Blätter für Rechtspflege in Thüringen und Anhalt, 
Teihmann. 


Eirey, Jean Baptifte, & 25. IX. 1762 zu Sarlat (Perigord), zuerſt 
Geiftlicher, Heirathete dann, ausgejchieden, die Nichte Mirabeau’s, längere Zeit ver— 
baftet, nach 1799 einer der 50 Vertheidiger (avouds, puis avocats), T 4. XL. 
1845, ala Verwandte gegen ihn einen Interdiktionsprozeß anjtrengten. 

Derauögeber des Recueil general, 1802—1830 (von Verſchiedenen bis jebt fortgeſetzt) — 
Jurisprudence du 19. siecle, 1821, 1826 (Nachdrud Brüffel 1823) und der vielen einzelnen 
Codes annotes. — Er jhrieb: Lois civiles intermediaires (1789—1804), Par. 1306. — Du 
conseil d’Etat selon la charte, 1818. — Jurisprudence du conseil d’Etat, 1818—1823. 

git.: Michaud. Teihmann. 


Sirmond, Jacques, & 22. X. 1559 zu Riom, Tehrte zu Paris, wurde 
Beichtvater Louis’ XIII, ging 1645 nad Rom, F 1651 zu Paris. 

Schriften: Notae stigmaticae, Francof. 1612 (Fabricius). — Censura conject. anon. 
script. de suburbicariis regionibus et eccl., Par. 1618. — Triplex nummus antiquus, 
1650. — Concilia antiqua Galliae, Par. 1629 (1666). — Opuscula dogm. veterum V. script., 
1630. — — Cod. Theodosiani novis constitutionibus cumulatior, Par. 1631. — 
Opera, ed. La Baume, Par. 1696. 

git.: Briet, Elogium J. S., 1653. — Colomies, Vie de J. S., 1671. — Stobbe, 
Rechtsquellen, I. 247. — Herzog’3 Realencyklopädie XIV. 455. — Schulte, Geſchichte, 
II. a 573. Zeihmann. 


Eismondi, Jean Charles Leonard Simonde de, 59. V. 1773 zu 
Gent (aus einer Italienifchen Familie, die 1524 nach der Dauphine flüchtete, 
dann nach der Echweiz), flüchtete mit den Seinigen nach England, bald zurüd- 
gekehrt von Neuem in die Gegend von Pescia, 1800 secretaire de la chambre de 
commerce du Léman, freund Neder’s, der Mme. de Staöl, Joh. v. Müllers, 
Schlegel’3, Cuvier's u. a., trat nach 1813 in den Großen Rath ein, ſprach fich für 
Napoleon aus (nach deffen Rückkehr aus Elba), gegen Sklavenhandel, für die Sache 
der Griechen, 1833 Mitglied der Franzöfiichen Akademie, T 25. VI. 1842, 

Neben vielen nationalöfonomifhen und hiſtoriſchen Schriften find werthvoll jeine 
Etudes sur les constitutions des peuples libres, Par. 1836. — Lettres inedites, Par. 1863 
u. 1868. — Correspondance, Par. 1863. 

Lit.: Bluntſchli, StaataWört.B., IX. 426. — Mignet, Portraits et notices hist. et 
littöraires, (4) Paris 1877, II. 49—81. — Secretan, Galerie suisse, 1873—80. — Galiffe, 
Le refuge italien ä Geneve au 16. et 17. siöcle, Genöve, Lyon 1881, — Mohl, III. 510, 
575. — Walter, Naturredht, 88 228, 231, 235, 236, 241, 265. Teihmann., 


Sfontration (von scontrare — fich vergleichen laffen, scontro, Ausgleihung 
— „Zahlung mit geichloffenem Beutel“) ift eines derjenigen NRechtögeichäfte, welche 
der dem Handelsverkehr bejonderd eigenen Tendenz dienen, bei „Regulirungen“ von 
Geſchäften möglichit Zeit, Arbeit und Kapital zu jparen, inäbejondere Münzwechjel 
und Münzabnutzung zu vermeiden, und gehört ſomit zu den ſog. indireften Zah— 
lungsarten. Sie ift juriftifch ein von mehr als zwei Perfonen abgeſchloſſenes Rechts— 
geichäft, deſſen Kontrahenten fich unter einander verpflichten, jo viele und fo geftal- 
tete Geffionen, Delegationen und Kompenjationen vorzunehmen, als erforderlich find, 


688 Slevogt — Sell. 


um thunlichit viele, womöglich alle unter den Kontrahenten beitehenden Schuld» und 
Forderungsverhältniffe ohne Baarzahlung ausgleichen und dadurch tilgen zu können; 
die ©. ift demnach ein eigenartiges Nechtögefchäft, welches ala pactum de compen- 
sando, de cedendo u. ſ. w. bezeichnet werden fann, und welches erfüllt wird durch 
die Abſchließung der vertragsmäßig gewollten und dann auch zwangs- oder einrede: 
weije durchzufegenden Schuld» und Forderungsüberweiſungen u. j. w., joweit diejelben 
zur Erreichung des Zweckes einer möglichit allgemeinen Schuldauägleichung innerhalb 
des Kreiſes der Skontranten geichäftsmäßig erforderlich find. Vereinbarung oder 
Handelsſitte fonzentrirten die Ausführung der ©. an bejtimmten Pläßen (3. B. clea- 
ring house in London), an denen fich die Skontranten perjönlich treffen, und 
ichreiben die durch geeignete Zus, Ab» und Umſchreibungen fich darftellende Methode 
des Skontrirens im Einzelnen vor; außerdem dient num der ausgebildete Giroverfehr 
der älteren Girobanfen und nun auch der der Reichsbank den Zweden ber ©. 


git.: Endemann, HR., 3. Aufl, $ 136. — Thöl, H.R., 88 334341 umb bie dort 
eit. Lit. — Vgl. auch Rei Sbanfgefeß 8 13, Biffer 7. Gareis. 


Slevogt, Joh. Philipp, & 27. II. 1649 zu Jena, 1681 ordentl. Profeſſor 
der Rechte, 1695 Ordinarius der Fakultät und des Schöppenftuhls, 1719 Sädf. 
Hofrath, F_7. I. 1727. 

Seine Schriften bei Pa — Geihichte, III.b ©. 67. — Yugler, II. 384 fi. — 


Günther, Lebensſtizzen, ©. — Ueber Gottlieb S., + 1732, vgl. Jugler, IL 
406. — Schulte, ® te IE m * S. 108. Teichmann. 


Smallenburg, Nikolaus, 5 1. XII. 1761 zu Nootdorp (Holland), promo⸗ 
virte in Leiden, wurde ordentl. Profeffor in Franeker, jeit 1790 in Leiden, 7 30. 
VII. — 


Er ſchrieb namentlich: Ant. Schultingii Notae ad Digesta s. Pandectas ed. atque 
animadversiones adjecit N. S., Lugd. Bat. 1804—1835. 
Lit.: Bijdragen X. 628 - 630. — Rivier, Introd. hist. 1881, p. 564. Zeihmann. 


Snell, Ludwig, & 6. IV. 1785 zu Idſtein in Naffau, wurde nach den 
Karlsbader Beichlüffen von jeiner Stelle ala Direktor des Gymnafiums in Wehlar 
entlaffen, begab fich zuerft nach London, dann nach der Schweiz, wo er eifrig für 
die politiiche Reform wirkte, übernahm 1831 die Leitung des „Republikaner“ und 
ward, nachdem er. das Bürgerrecht im Kanton Zürich erhalten, in den Großen Raih 
gewählt. Nach Gründung der dortigen Hochjchule erhielt er eine Profeffur, folgte 
indeß ipäter einem Rufe nach Bern, !gerieth in Streit mit der herrichenden Partei 
und mußte 1836 den Kanton verlaffen. Er zog fich nad) Zürich, dann nach Küß— 
nacht zurüd, F 5. VII. 1854. 

Er verjaßte —— ect des von ſeinem Bater ChriftianWilhelm ©. [(1755— 184), 
ber auch eine philofophiiche Rechtälehre, Gieken 1807, 1808, geilprieben] 1 und Oheim —— 
reg der Kant'ſchen Philofophie, Zürich 1837, und ihrieb: Die Verhältniffe der fathe- 

ſchen Kirche zu den Schweizer. —— Zürich 1828. — Dofumentirte pragmatiiche 
Erzähl. der neuen s eränd. in der fathol. —8 Surſee 1833 (umgearbeitet Snell, 
Glück und Henne, Pragmat. *38*8 Mannh. 1850, 1851). — des Kampfes der 
liberalen talhol. Schwei Ra — ömiſchen Kurie, Soloth. 1839. — —— uch d. Schweizer. 
Staatsrechts, Zürich 1 — Da3 verlehte Völkerrecht an der Gidgenofjenichaft, Für. 
1834. — Geſchichte der . der Nuntiatur in der — — Baden 1848. 
Lit.: Ludwig Snell's Leben, ——* 1858. — Mohl, J. 482, 491, 492, 495. 
Teichmann. 


Snell, Wilhelm, der Bruder des Vorigen, 5 8. X. 1789 zu Idſtein, ſtu— 
dirte in Gießen, wurde Unterfuchungsrichter in Dillenburg; vom NRegierungspräfident 
verfolgt, ging er 1819 ala Profeſſor nach Dorpat, wandte fich, auch dort verdäch— 
tigt, nach Bajel, 1833 nach Zürich, 1834 nach Bern, mußte in Folge einer un: 
gerechten Hochverrathsanflage den Kanton verlaffen. Lieſtal in Bajelland, wo er 
früher das Bürgerrecht erhalten, wurde nun jein Aufenthaltsort, bis er nach Reior— 
mirung der Berner Berfaffung wieder nach Bern zurüdfehrte, T 8. V. 1851. 


Sorietas, 689 


Schriften: Abhanbl. über verfchiedene Gegenftände der Strafrechtswiſſenſchaft (Betracht. 
über die Anwendung der Pivchologie im Verhöre mit peinl. Ungekhulbigten, Giehen 1819. — 
Naturrecht, Bern 1857 (1859), Neue Ausgabe von Hobler, 1877. 

git.: dv. Orelli, Rechtsſchulen und Rechtäliteratur, Zürich 1879, ©. 73, 91. — Ztſchr. 
be3 Bernifchen Juriftenvereind, II. 409. — Hartmann, Gallerie berühmter Schweizer der 
Neuzeit, Baden 1871, IL. R. 68 (im Art. Samuel Shnell). Zeihmann. 


Societas (Geſellſchaft) iſt I. dem Begriffe nad) die vertragamäßige 
Vereinigung zweier oder mehrerer Perfonen zu Leiftungen, durch welche ein gemein- 
ſamer Endzwed erreicht werden joll. Der darin liegende Vertrag iſt nothwendig 
jweifeitig, zwar nicht in der Art, wie die auf Umſatz gerichteten Taufchverträge, 
wol aber infofern, als durch ihn jeder Gejellichafter verpflichtet wird, feine Leiftungen 
dem Zwede, welcher auch derjenige des anderen ift, zu widmen. In diefem Sinne 
bringt die ©. ala folche auch eine Vermögensgemeinſchaft mit fi. Der Endzweck, 
welcher erreicht werden ſoll, darf fein unerlaubter jein (1. 57 D. h. t.; Seuffert, 
Arch. XIII. 257); fonft jeder beliebige, nicht blos ein Vermögenszweck, jondern auch 
Vergnügen, Belehrung, Wohlthätigkeit, gemeiner Nuben ıc. (früher jog. societates 
mere personales). Betrifft er das Vermögen, jo kann er entweder in dem gemein= 
ſamen Haben und Gebrauchen oder in der Erzeugung und Gewinnung von Werthen 
beitehen und in beiden Fällen mehr oder weniger umfaffend fein. Fälle der eriteren 
Art bilden die Vereinigungen zur Gemeinschaft einzelner Gegenftände (1. 52 $$ 11—13; 
l. 58 pr. D. eod. soc. quadrigae habendae causa) oder einer ganzen Gattung des 
Grwerbes (3. B. von Erbichaften, 1.3 $ 2 D. eod.) oder des Vermögens überhaupt, 
blos des gegenwärtigen oder auch des zufünftigen (fog. omnium bonorum, 1.181; 
1.381; 1.5 pr. D. eod., welche lette indeſſen thatjächlich nur unter Ehegatten 
vorfommt und im Preuß. Necht auch gejeglich anderen Perfonen nur in Gejtalt 
einer allgemeinen Erwerbsgemeinſchaft geftattet ift, Allg. ER. I. 17 88 176 —182). 
Desleichen kann auch der zweite Vermögenszweck, die Erzielung von Gewinn, als 
Grgebniß entweder eines einzelnen Gefchäfts (1. 58 pr. D. eod. soc. quadrigae ven- 
dendae causa; 1. 44, 71 D. eod.; Seuffert, Arch. XVIII. 36) oder eineö Ge— 
werbebetriebes (l. 52 SS 4, 5 D. eod.) oder auch jeder Geichäftsthätigkeit überhaupt 
gedacht jein. Bei der letzten (ſog. societas quaestuaria) werden alle Gejchäfte, mit 
Ausnahme der Eriwerbungen aus Schenkung und Teßtwilliger Verfügung, auf den 
Geſellſchaftszweck bezogen, 1.1. 8—13 D. eod., und hierauf joll nach 1. 7 D. eod. 
im Zweifel, wenn eine ©. jchlechthin geichloffen worden ift, die Abficht der Parteien 
gerichtet fein. Doch darf diefe Auslegung Heute als veraltet angejehen, und der 
Wille der Kontrahenten eher auf den gemeinjamen Betrieb eines bejtimmten Ge— 
werbes gedeutet werden. Tür diejen häufigiten Fall, die ſog. Handelägejellichait, 
hat das HGB. neue Beitimmungen gegeben (vgl. darüber d. Art. Handels— 
geſellſchaft), — Aus dem Begriff der ©. folgt, daß jeder der Genofjen dem 
anderen zu Leiftungen verpflichtet und zur Theilnahme an dem erzielten Vortheil 
berechtigt fein muß. Gin Gefellichaitävertrag, der das eine oder das andere aus— 
drücklich ausschlöffe, enthielte in Wahrheit eine Schenkung an den nicht verpflichteten, 
bzw. an den allein berechtigten Genofjen und würde nur als jolche klagbar fein. 
In den Quellen wird ein derartiger Vertrag unter Anfpielung auf die Aeſopiſche 
Fabel societas leonina genannt (1. 29 $ 2; 1. 5 $ 1 D. eod.; Seuffert, 
Arch. XVI. 110; XXXIH. 134). Dagegen können Art und Umfang der Laſten 
und des PVortheils für jeden Genofjen frei beitimmt werden, und nur im Zweifel 
gelten alle als gleichgeftellt (1. 29 pr. D. eod.). Demgemäß können die Leiftungen 
eines Genofjen in der Einzahlung von Geld oder in der Ginlieferung von Sachen, 
jei e8 förperlichen oder unförperlichen, oder in Arbeit (operae), Kredit (gratia) ıc. 
beftehen (I. 80; 1. 29 pr. $ 1; 1.52 88 2, 7 D. eod.). 68 fann ferner die 
Tragung des etwa entjtehenden Vermögensſchadens jedem zu einem befonderen Bruch: 
theil auferlegt, ja es kann fogar ausgemacht werden, daß aller Schaden einem der 

v. Holtenborff, Enc. II. Rechtsleriton III. 3. Aufl. 44 


690 Sorietas. 


Genoſſen ausichließlich zur Laft fallen jolle; doch muß bei diejer legten Vereinbarung 
freilich, wenn die Abficht noch auf eine ©. gerichtet fein foll (1. 29 pr. $1D. 
eod.), dvorausgejeßt werden, daß der vom Schaden befreite Genoffe um jo viel mehr 
an perjönlichen Dieniten geleiftet habe ($ 2 I. de societate 3, 25; 1. 29 82; 
l. 30 D. h. t.). Gbenjo können andererjeitö die Gewinnantheile gleich oder ungleid, 
und mit den Antheilen am Schaden übereinjtimmend (was vermuthet wird, $ 3 1 
l. c.), oder nicht übereinftimmend beitimmt werden (leg. eitt.). Nur wird in dem: 
jelben Maße, in welchem der Gewinnantheil eines Genofjen zu feinen Geſammt— 
leijtungen in ein offenbares Mißverhältniß tritt, der Gejellichaftsvertrag als eine 
partielle Schenkung (negotium mixtum cum donatione) ericheinen , wie er denn bei 
ausjchließlichem Gewinnanſpruch eines Genofien in eine reine Schenkung übergeht 
(1. 32 $ 24; 1. 5 $5 D. de don. int. v. e. u. 24, 1; Windjcheid, Lehrb. I. 
$ 405 Anm. 15—17; v. Vangerom, II. 8 651 Anm. 1; Sintenis, I. 
$ 121 Anm. 35). — I. Eine Form des Selellichaftstontratts it im Röm. umd 
Gem. Recht nicht vorgefchrieben. Er kann aljo ſelbſt jtillfchweigend zu Stande 
fommen (Holzſchuher, Theorie und Kafuiftit, III. $ 304 Nr. 1). Nur mh 
die Willenseinigung über alle wejentlichen Punkte feititehen (1.1. 75—80; 1.1 pr. 
D. h. t.). Doch verlangen PBartikularrechte, wie 3. B. das Preuß. ER. (58 170—175 
I. 17), jchriftliche Abtaflung, in deren Ermangelung zwijchen den Parteten nur das 
realfontraftliche VBerhältniß einer communio incidens eintreten fann. Bgl. C. F. Koch, 
Komm. zum Allg. ER., S 170 a. a, D. Anm. 3. — IH. Die Wirkungen de 
©. beitehen zunächſt: A. in Nechtöverhältniffen der einzelnen Genofjen zu einander 
(nach innen), zu deren Geltendmachung die actio pro socio, eine vom Richter frei 
(ex fide bona) zu beurtheilende Klage beitimmt ift (1. 52 $ 1 D. h. t.). Haupt 
jächlich ift jeder Genofje verpflichtet, die vertragsmäßigen Beiträge zu leiften. Be 
jtehen Ddiefelben in der Ginlieferung von Sachen, fo ift im einzelnen alle zu er 
meſſen, ob die leßteren der Gejammtheit der Genofjen übereignet oder ohne Rechte⸗ 
veränderung mur zur Verfügung gejtellt werden jollten; im erjteren Falle entiteht 
bei theilbaren Rechten eine Gemeinſchaft zu intellektuellen Theilen (1. 58 pr. $ 1 
1. 52 8 2 D. eod.; v. VBangerow, a. a. D. Anm. 2; Sintenis, Anm. 24). 
Nach Preuß. Allg. ER. I. 17 88 198, 201, 202 wird der jufammengetragene Fonde 
immer gemeinjchaftliches Eigenthum (societas sortis), und nur bei Grunditüden, 
deren Beſitztitel nicht auf die Genoſſen umgejchrieben ift, vermuthet, daß fie blos 
geliehen jeien (soc. quoad usum). Vgl. Koch, Anm. 22 zu 5201. Zu den Bei⸗ 
trägen gehört bei der allgemeinen Vermögensgemeinſchaft auch das, was ein Genoſſe 
durch die gegen ihn verübten Delikte anderer, nicht aber, was er durch eigene Delikte 
erwirbt (1. 52 88 16, 17 D. eod.). In allen Fällen gehört dazu, was er durch 
Geichäfte für die Geiellichaiter (communi negotio, 1. 52 pr.; 1. 67 pr. D. eod.) 
oder aus Gejellichaftsmitteln (1. 38 S 1; 1. 60 pr. D. eod.) eingenommen bat. 
Daher muß ein Genofje auch den Vortheil, den er aus der Verwendung von Ge 
jellichaftsgeldern in eigenen Angelegenheiten zieht, herausgeben (Communicare): 
nur infofern, als er dergleichen Geld ohne Widerrechtlichkeit auf eigene Gefahr aus 
leiht, haben die Genofjen auf die Zinjen feinen Anſpruch (Windſcheid, $ 40% 
Anm. 9). Außerdem ijt jeder Genoffe verpflichtet, dem anderen die Aufwendungen, 
die diefer im gemeinfamen Intereffe gemacht, und den Schaden, den er gelegentlidh 
der Führung gemeinjamer Gejchäfte erlitten hat, antheilsweife zu vergüten (1. 38 
$ 1;1.52 88 4, 10, 12, 15; 1. 60 $ 1; 1. 61 D. eod.); und endlich haften die 
Genofi ſen Sich wechfelfeitig wegen einer folchen Nachläffigkeit, welche fie im eigenen 
Angelegenheiten zu vermeiden pflegen (jog. diligentia quam suis, culpa in concreto: 
l. 72 D. eod.; $ 9 I. de societ.). Uebereinſtimmend das Preuß. ER. I. 17 8211. 
Wird für einen Gejellichafter die Leiſtung feines Beitrages ohne eigene Schuld un: 
möglich, jo hat er dafür feinen Griaß zu geben. Aber wenn er von den übrigen 
die Leiſtung ihrer Beiträge beaniprucht, jo können ihm diefe nunmehr die Einredt 


Sorietas, 691 


des nicht erfüllten Vertrages (exc. non adimpleti contractus) entgegenjeßen. Nur 
an demjenigen, was bereit3 gemeinfames Vermögen geworden iſt, verbleibt jenem 
eriten jein Antheil (vgl. 1.58 pr. $1 D. h. t. und darüber die bei Windſcheid, 
$ 406 Anm. 4 angegebene Literatur). Ueber. Punkte, die im Soyietätsvertrage nicht 
jeftgeftellt find, muß eine neue MWillenseinigung unter den Genofjen jtattfinden. 
Majoritätsbeichlüffe find für die Minderheit nicht bindend (1. 28 D. comm. div. 10, 3; 
l. 11 D. si serv. vind. 8, 5). Anders nach Preuß. ER. I. 17 SS 209, 12 ff. 
Sind die Antheile der Genoffen an dem Gefellichafsvortheil nicht beitimmt, jo werden 
Kopitheile (partes aequae) angenommen. Danach) wird der Gewinn, d. 5. der 
Ueberſchuß über die gemachten Einlagen (l. 30 D. h. t.), vertheilt. War die Ge— 
jellichaft auf da3 gemeinfame Haben von Vermögensſtücken gerichtet, jo werden auch 
diefe legteren nach jenem Maßſtabe zu theilen jein (1. 29 pr. D. h. t.;S 1 I. de 
societ.; Seuffert, Arch. VII. 175; v. Bangeromw, $ 651 Anm. 2). Ueber die 
Art der Auseinanderjegung j. d. Art. Adjudifation. Uebereinjtimmend Allg. ER. 
I. 17 S$ 175, 205. B. Dritten gegenüber (nach außen) wirft die S. zwar joviel, 
daß die Sefammtheit der Genofjen durch den Gebrauch der Firma (f. diefen Art.) 
oder einer entjprechenden Bezeichnung einheitlich handelnd auftritt. Gleichwol bildet 
diejelbe fein jelbjtändiges, von der Summe der Genofjen verjchiedenes Rechtsfubjekt. 
Vielmehr giebt es Rechte und Pflichten nur für die einzelnen Genoffen, nur diefe 
können klagen und verflagt- werden, nach ihrer Perjönlichkeit beitimmt fich der Ge— 
richtsſtand ꝛc. Daraus folgt hauptiächlich, daß von den Gejellichaftsgläubigern nicht 
blos das den Genoffen gemeinjame Vermögen, jondern auch das Privatvermögen 
jedes einzelnen angegriffen werden kann; ob ſofort oder erjt nach Erſchöpfung des 
eriteren, wie Windjcheid (S 407 Anm. 4) wegen 1.65 $ 14 D. h. t. behauptet, 
ift jtreitig, doch im erjteren Sinne zu entjcheiden (vgl. Seuffert, Arch. XXX. 27). 
Zur Entitehung eines Rechtsverhältniffes zwiſchen den Genoffen und einem Dritten 
gehört entweder, daß die eriteren jämmtlich mit ihm verhandelt haben, oder daß 
ein einzelner fie befugter Weiſe vertreten hat. Dieſe Befugniß wird aber nur bei 
der Handelsgejellichaft für jeden Genofjen vermuthet. Bei allen anderen Gejelljchaften 
muß fie befonders eingeräumt werden (Seuffert, Arch. XII. 60, 270; 88 206— 210 
1. 17 Allg. ER.). War der Handelnde zur Vertretung der Gefammtheit befugt umd 
bat er für dieje das Geſchäft geichloffen, jo werden die einzelnen Genofjen daraus 
unmittelbar berechtigt und verpflichtet, jo weit das Necht überhaupt eine direkte 
Stellvertretung gelten läßt, d. h. heutzutage ganz allgemein. Nach reinem Röm. 
Recht dagegen wurde die Beziehung zwiſchen den vertretenen Genofjen und dem 
Dritten wenigitens bei obligatorischen Gejchäften erſt durch Ceſſion der Geſchäftsklage 
an jene und Erſtreckung der Schuld auf ſie vermittelſt actiones adj. qual. hergeſtellt. 
Die Frage, zu welcher Quote die Genoſſen für die Geſellſchaftsſchulden haften, be— 
antwortet ſich nach allgemeinen Regeln, wie folgt. Haben alle gemeinſam kontrahirt, ſo 
wird jeder nur für ſeinen Geſellſchaftstheil verpflichtet (1.11 $ 2 D. de duob. reis 45, 
2; 1. 44 81 D.de aed. ed. 21, 1). Bei Vertretung durch einen institor oder dgl. 
haiteten nach Röm. Recht die Vertretenen als Korrealfchuldner (1. 5 $ 1 D. quod 
iussu 15, 4; 1. 1 $S 25; 1.4 $S 2 D. de exerc. act. 14, 1); * heutigem 
Recht dagegen, welches die direkte Stellvertretung auch bei Obligationen auägebildet 
und damit die Römiſche Ginheit zwifchen der Schuld des Inſtitors und des Prin- 
zipals aufgehoben hat, muß behauptet werden, daß auch bei Gingehung der Schuld 
durch einen Bertreter die Haftung jedes Genoflen auf jeinen Gejellichaitstheil be— 
ihränft it. So namentlih Kübel, Württemb. Arch. if. Recht, XI. ©. 6 ff.; 
XIV. ©. 317 ff.; Windicheid, $ 407 Anm. 7 und die dafelbit Angerührten ; 
auh Seuffert, Arch. XX. 127. Strenger wieder die neueren Partikularrechte, 
wie 3. B. Allg. ER. I. 17 5 239. Dal. überhaupt dv. Bangerow, 5 653 Anm. ; 
Sintenis, $ 121 Anm. 98. Durch Handlungen eines zur Vertretung nicht be— 
44 * 


692 Sorinus. 


fugten Gejellichafters fünnen die übrigen nur infoweit verpflichtet werden, als dadurd 
eine Bereicherung für fie bewirkt iſt (l. 82 D. h. t. und dazu Zimmermann, 
Stellvertr. negot. gestio, ©. 323). — IV. Die Aufhebung einer ©. erfolgt, ab» 
gejehen von den allgemeinen Gründen «(Eintritt des dies ad quem, der auflöjenden 
Bedingung, mutuus dissensus ıc.) noch durch folgende: 1) Erledigung des Gefell- 
ichaftazweds (1. 63 8 10; 1. 65 8 10 D. eod.); 2) Tod eines Gejellichaiters. 
Auf die Erben fann eine ©. nicht einmal durch ausdrüdliche Feſtſetzung eritredt 
werden (1. 63 $ 8; 1. 52 $ 9; 1. 59 pr. D. eod.); doch werden Handlungen, die 
ein Genofje ohne Kenntniß vom Tode des anderen vornimmt, durch die Aufhebung 
der ©. nicht berührt (1. 65 $ 10 D. eod.). Auch joll ein Erbe die vom Erblafler 
begonnenen Gejchäfte unter Vertretung grober Nachläffigkeit fortführen (1.1. 35, 40 
D. eod.). 3) Ginfeitigen Rücdtritt eines Genofjen. Iſt die Gejellichait auf eine 
gewifje Zeitdauer eingegangen, jo kann vor Ablauf derjelben der Rücktritt nur aus 
einem Grunde, der ihn rechtjertigt, erklärt werden; ſonſt nach Belieben und ohne 
Kündigungsfrift (. 4 $1; 1.63 810D. eod.; Seuffert, Arch. XX. 44). Doch 
haftet allemal derjenige, welcher ungzeitig (intempestive) zurüdtritt, auf Schadens— 
erfa (1.1. 14, 17 $ 2 D. eod.); und wer argliftiger Weife oder ohne Berugnif 
fündigt, muß fich jogar gefallen laffen, daß die S., je nachdem fich aus der bie 
zum Termin des rechtmäßigen Rücktritts jortgefegten Geichäftsführung der Genofien 
Verluſt oder Gewinn ergiebt (1. 30 eod.), gegen ihn als fortdauernd oder als auf 
gelöft behandelt werde (socium a se, non se a socio liberat) (1. 65 88 3, 4, 6, 8 
D. eod.). — 4) Berluft des gefammten Vermögens für einen Genofjen, ſei es durch 
Konkurs, durch Konfisfation oder wie fonit (1. 65 SS 1, 12; 1.4 S1D. eod.). — 
In allen Fällen, wo nad) Wegiall eines Genoffen die übrigen in Gefellichaft bleiben, 
liegt darin eine neue, nicht Fortſetzung der alten ©. ($ 8 I. de soc.; 1. 65 $ 9 
D. h. t.). Nach den bier entwidelten Grundjägen jtellt fich die Römische ©. als 
ein wejentlich auf der Perfönlichkeit beruhendes und daher leicht auflösbares Ber- 
hältniß dar; demgegenüber ift in den neueren Rechten wenigitens die Sandelägeiell- 
ſchaft mehr auf die Kapitalmacht, welche die Genoffen zur Verfügung jtellen, und 
damit auf eine von den Perjonen unabhängige Grundlage gebaut worden. Val. 
auch den Art. Genojjenichaften. 

Quellen u. Lit.: Zit. Inst. 83, 25; D. 17, 2; C.4, 37. — Glüd, XV. S. 371 
bis 476. — Unterholzner, Schuldverhältnifie, IL ©. 378-892. — v. Vangerom, 
Zehrb., IH. SS 651—655. — Sintenid, Gem. Eivilreht, II. S 121. — Winbideid, 
Lehrb. II. SS 405—408. — Treitſchke, Die * von der unbeſchränkten obligatoriſchen 
SGewerbegeſeliſchaft, Leipz. 1844. — Dernburg, Lehrb., II. SS 214— 224. Ed. 


Socinus, Marianus, & 1401 zu Siena, lehrte dafelbjt, ging ala Ge 
jandter nach Rom, FT 1467. 


Sein Sohn Bartholomäus, 5 1436 zu Siena, lehrte zu Siena, Ferrara, 
Piſa, wurde auf Beichl der Florentiner Regierung gefangen gejeßt, lehrte nach ſeiner 
Freilaſſung zu Pifa, das er 1494 verließ, ging nad) Bologna, dann nach Padua 
und endlich nach Bologna, F itumm geworden 1507. 

Gr ſchrieb: Consilia, Lugd. 1525, 1529. 


Sein Brudersſohn, Marianus ©. der Jüngere, 5 1482 zu Siena, mar 
21 Jahre Doktor zu Bologna, lehrte auch zu Pia, Siena, F 1556 zu Bologna. 

Gr war Lehrer des Ant. Auguflinu3 und Pancirolus und jchrieb: Consilia. — Tract. 
de judiciis et jurisdietione (Tract. univ. jur., Venet. 1584, t. III. p. 1 fol. 96b) — De 
testibus (ebenda t. VI. p. 1). Auch gilt er zwar nicht ala Erfinder, jo body ald Begutachter 
der ſog. Sociniſchen Kautel. 

Lit: Savigny, VI 342 -355. — Glück, VI. 86 ff. — Ken, Preuß. Erbredit, 
Berl. 1866, ©. 512. — de Wal, Beiträge, herausg. von v. a [. 1866, ©. 46. — 
v. Stin ging, Geſchichte der Deutichen Rechtswiſſenſchaft, (1880) I. 127, 221, 568, 578, 579, 
589. — Rivier, Introd. hist. 1881, p. 574, 575, 597. Zeihmann. 


Soden — Sodomie, 693 


Soden, Friedr. Jul. Heinr. Graf von, & 4. XII. 1754 zu Ansbach, 
wurde jehr jung Geh. Regierungsrath, nachher Geh. Rath, lebte als Preuß. Ge— 
jandter am Fränkiſchen Kreiſe zu Nürnberg, 1790 in den Reichsgrafenſtand erhoben, 


7 13. VII. 1831. 

Schriften: Geift der peinl. Gejehgebung Deutichlande, 1782, 1783, 2. Aufl. Frankf. 
1792. — Ueber Nürnbergs Finanzen, 1795. — Das agrar. Geſetz, Anab. 1797. — Die Staat: 
MEER ‚ Erl. 1812. — Die Nationalötonomie, Leipz., Aarau und Nürnb. 1805—1824. 

it.: midt, Neuer Nekrolog der Deutichen, IX. ©. 624—627. — Roſcher, Geld. 
der Nationalöfonomit, 1874, S. 674—686. Zeihmann. 


Sodomie: Unkeuſchheit wider die Natur, nefanda venus seu libido, verübt 
an fich ſelbſt, mit anderen Menfchen gleichen Geichlehts, an Thieren, an Leichen. 
Don diefen Arten der naturwidrigen Berriedigung des Gefchlechtätriebes werden nur 
einige ala friminell ſtrafbar behandelt; obgleich Selbſtbefleckung am verderblichiten 
it, gilt jelbige durch Jahrhunderte nicht ala Verbrechen. Seit Damhouder, 
Carpzov ift grumdjäßlich jede widernatürliche Wolluft ala bürgerlich jtrafbar er— 
klärt. Das Moſaiſche Recht ftraft mit Tod die unnatürlichen Gräuel der Begattung 
zwiichen Menſch und Vieh, die irrigerweije für fruchtbar gehalten wurde und die 
Wolluftbeiriedigung von Mann mit Mann, die Päderaftie. Das Lajter der Tribaden 
oder die Lesbiſche Liebe erjcheint nicht mit Strafe bedroht; jo tief der fittliche 
Abichen vor Verunreinigung der Art und Gattung, vor Frevel gegen die durch 
Zeugung geheiligte Lebensordnung erfaßt wird, jo tehlt doch der klare Ausſpruch, 
daß durch die widernatürliche Unzucht zwiſchen Perfonen gleichen Gejchlechts zugleich 
eine Mitſchuld begründet werde, die bei der Unzucht an Kindern und Thieren nicht 
vorhanden ijt; fachlich gedacht, erjcheint die sodomia ratione sexus jtraibarer ala 
die sodomia ratione generis, fie ift zugleich Korruption der Gefchlechtsfittlichkeit und 
verfündigt fich an der Mtenjchennatur im Mitjchuldigen, abgejehen von der Ent: 
nervdung und VBerfumpfung durch Entartungen der Gejchlechtsgemeinfchaft. Der Peit- 
bauch diefer Karrifatur der natürlichen Gefchlechtäliebe infizirt die vorchriftliche Ge— 
ſellſchait und Literatur, auch die Griehiiche Männerliebe ſinkt zu naturwidriger 
Geilheit herab und bringt Verderben nah Rom, wie Martial’s Epigramme und 
Paulus’ Brief an die Nömer bezeugen. Das Röm. Recht jtellt nur gewiſſe 
Arten der naturwidrigen Unzucht, namentlich Knabenjchändung unter den Geſichts— 
puntt des stuprum. Valentinian greift auf die aus dem Moſaiſchen Recht ab» 
geleitete Strafe des Feuertodes zurüd, welchem das firchliche und Gemeine Deutiche 
Recht ſich anjchließen. Die CCC behandelt nur die Unzucht zwiſchen Männern und 
die Beftialität als Kapitalverbrehen. Im 17. und 18. Jahrh. wird der Kreis der 
Kriminalität ungeheuerlich erweitert. Ausläufer diefer Richtung fanden fich noch in 
einzelnen neueren StrafGB. für Braunfchweig, Hefien, Thüringen, welches letztere auch 
Leichenichändung bis zu einem Jahr Gefängniß beitrafte. Cine andere Richtung in 
der Auffaſſung der Fleifchesverbrechen fällt mit der bedeutfjamen, wenngleich ein- 
jeitigen Beichränfung des Verbrechensbegriffes auf unmittelbare Rechtäverlegungen 
zufjammen jeit Beccaria, Gella, Feuerbad. Da Onanie, ©., Beltialität 
blos Sünden, feine Rechtöverlegungen enthalten, jtrich leßtere das Oeſterr. Kriminal: 
gejeß von 1787 aus der Reihe der Verbrechen. Diejem folgte die Strafgejehgebung 
für Bayern von 1813, für Württemberg und Hannover, obgleich Feuer bach jpäter 
1822 davon abgewichen ijt und die widernatürliche Wolluft den Verbrechen gleich 
gejtellt Hat, ungeachtet dadurch Rechte anderer nicht verlegt werden. Preußen blieb 
auf dem gemeinrechtlichen Boden ftehen und das RStrafGB. jagte fi) von der 
Strafbeitimmung des $ 143 des Preuß. Straigefehes nicht lo8, während das Gut» 
achten der Preuß. Medizinaldeputation 1869 die Bejeitigung derjelben nach dem 
Vorgange des Dejterr. Entw. von 1867 befürwortet hat. Der Entw. von 1874, 
$ 190 bedroht die widernatürliche Unzucht, welche zwiſchen Perfonen des männlichen 
Gejchlechts oder von Menjchen mit Thieren begangen wird, mit Gefängniß. Wenn 


694 Sohet — Zolidarobligation und Korrenlobligation. 


Straibeitimmungen über die öffentliches Aergerniß erregende Verlegung der Scham: 
baftigfeit und unzüchtige Handlungen mit Kindern beitehen, jo ericheinen bejondere 
Strafdrohungen auf Fälle der naturwidrigen Unzucht entbehrlich. 

Gigb. u. Lit.: Der $ 143 des — Strafgeſetzes und ſeine Aufrechterhaltung als 


$ 152 des Nordd. Entwurfes 1869, ©. 79. — Württemberg 310. — Bayern 214. — 
Deutiches Straf®B. $ 175. — Weis, Komment., II. 18. — Zticr. für Gfgb. u. Rechts 
Ds in Bayern, IX. 219, 427, 618. — ‚Friedreig, Blätter für gerictl. — ———— 
6. H. 58- 76. — Anfelm euer ns 8 a 17 Hai aß, 1853, IL 354. — 
Jarde, Sanbb., III. 171—182. v. ter 76, 369; — zu dem 
eiterr Steafgeiehentmurf 1867, e. 110. — % Bettin en, Si Moralftatiftit, 2. Aufl. 
(1874), 494. — Schüße, Die X as. am Verbrechen, 1869, ©. 366; Derjelbe, 
Lehrb. 337. — Rübdorff, Straf®B. MWahlberg. 


Sohet, Dom., 5 1728 zu — bei Givet, wurde Friedensrichter, nahm an 
den — zum Code civil Theil, 7 1811. 


Er jhrieb: Instituts de droit, Bouillon 1772—1781. 
git.: Nypels, Bibliothöque, 94. Zeihmann. 


Soldatenteftament (test. militis) ijt ein außerordentliches, aus Rüdficht auf 
Perſon und Lage des Teſtators vor allen anderen erleichtertes Tejtament. Entſtanden 
aus dem alten test. in procinetu, beichränft auf eingereihte Militärperjonen , jowie 
ſolche Nichtioldaten, die ihres Berufes halber beim Heere waren und umgefommen 
find, und auf die Dauer des Feldzuges, bedurfte es jeit Trajan überall feiner 
Solennität, fondern nur der Willensgewißheit. Der jure militari errichtete letzte 
Wille, bevorrechtet nicht blos in der Form, fondern auch nach Inhalt und Wirkung 
in jeglicher Richtung, wurde jedoch hinfällig durch ehrenrührige Entlaffung jorort, 
bei ſonſtiger Entlaffung durch Jahresablauf. Die Deutiche Notariatsordnnung be 
jchränfte nach damaliger Auslegung jene Formlofigkeit auf Verfügungen während 
des Gefechts („in Uebung des Streits“), forderte ſonſt Zuziehung zweier Zeugen. 
In den neueren Gejeßgebungen handelt es fich, nach Bejeitigung des Cafes: nemo 
pro parte testatus etc., nur noch um erleichterte Form für das militärifche Tejtament 
zur Kriegszeit, und um die Dauer der Gültigkeit; die Vorfchriften betreffen daher 
theils jchriftliche theil® mündliche Errichtung, die Vorausjegungen nach Perfonen und 
Errichtungszeit ꝛc. Dieſelben finden fich heute durchweg in der Militärgejeggebung, 
auf welche dann das Bist BGB. nur zu verweilen — 

a 


Lit. u. Gigb.: Heimbach in Weiske's Rechtäler. X. ©. 797 ff. — ee Zur 
Bere ” Solb. -Teftam., 1866. — rg Lehrb., Im. 8 544. — Inst. 2 D. 
6, 21; R. Not. Ordn. von 1512 II. 82. — Sefterr. BEL. S 600, Mil.-Dienftregl 
vom x Aug. 1873, $ 101. — ne —— Sei. v. 2. Mai 1874, $ 44. — Sä . 
BEB. SS 2109 ff. — Preuß. Allg. ER. ss 177—197. — Code civil. ar 981 ss. — 
Mommien, Erbr.:Entwurf, $ 78. Schütze. 


Solidarobligation und SKorrenlobligation find zwei verſchiedene Er— 
ſcheinungsformen derjenigen Obligationen, in welchen auf der Gläubiger» oder 
Schuldnerjeite oder auf beiden Seiten eine Mehrheit von Subjekten fich befindet. 
Man fann joldhe Obligationen Gejammtobligation nennen und untericheidet danach 
aftive und pafſive Gefammtobligation. Jedoch muß die das Objekt der Obli— 
gation bildende Yeiftung eine nur einmal zu machende jein; jeder Gläubiger muß 
diefelbe ganz fordern dürfen, jeder Schuldner fie ganz ſchuldig fein, aber fo, daß 
mit der einmaligen vollitändigen Leiſtung jeder Gläubiger als befriedigt gilt, aud 
der, an welchen nicht direft geleiftet ift, und daß durch diefelbe jeder Schuldner be 
freit ift, auch der, welcher nicht jelbit geleiftet hat. In diefer Hinficht unterscheiden 
fich daher wejentlich von der Gefammtobligation und find mit derjelben nicht zu 
verwechjeln die Fälle: wenn für eine Mehrheit der Berechtigten oder Verpflichteten 
nicht eine Jdentität im vorigen Sinne, fondern nur eine quantitative und qualita= 
tive Gleichartigkeit der Leiſtungen begründet ift, wie bei Straigeldern (fr. 11%2 D. 
9, 2; fr.1$9 D. 47, 10); jodann: wenn die einheitliche, aber theilbare Leiſtung 


Solidarobligation und Korrealobligation. 695 


auf-jeden nur pro parte enträllt, wie beim GErbgang (c. 6 C. 3, 36). Das lebte 
Verhältniß getheilter Obligation ift bei Verträgen ſogar nach Römischen Rechte 
(fr. 11$ 2 D 45, 2) zu präfumiren. 

Wo aber die bejchriebene Identität des Xeiftungsgegenjtandes vorhanden ift, 
da thut e8 dem Begriff der Gejammtobligation feinen Eintrag, wenn das Forde— 
rungsrecht oder die Leiſtungspflicht für den einen der Betheiligten bedingt oder be= 
friftet ift, für den anderen nicht oder anders bedingt oder befriftet ($ 2 I. 3, 16); 
ebenjowenig, als e8 der Gültigkeit der Gefammtobligation jchadet, wenn etwa von 
* ſich — Verpflichtenden Einzelne verpflichtungsunfähig ſind (fr. 12 
$1D. 45, 2). 

68 giebt nun eigentlich drei Arten eines jolchen Gejammtjchuldverhältnifies: 
die Korrealobligation, die jog. blos folidarifche Obligation oder nach Savigny’s 
Bezeichnung (Obligationenrecht, I. 88 20, 21) die unechte Korrealobligation und 
die Obligation mit untheilbarer Leiſtung. Man hat diejen Unterschied aber erſt 
ipät erfannt. Bis auf die Arbeit Ribbentrop’s, Zur Lehre von den Slorreal- 
obligationen, 1831, pflegte man jede einheitliche Obligation mit Mehrheit der Sub— 
jette al3 obligatio correalis zu bezeichnen; der Ausdrud war dem nur in einer 
Digeitenftelle im Sinne von „Mitjchuldner“ vortommenden Worte conreus (fr.3$ 3 
D. 34, 3) entnommen. Auch Ribbentrop hat die Konjequenzen feiner Entdeckung 
nicht alle gezogen, erft Savigny hat in feinem Obligationenrecht, I. SS 16—27, 
den Ausbau der Ribbentrop’fchen Idee in Angriff genommen. 

Den Differenzpunft zwifchen der Korrealobligation und jenen beiden anderen 
Gejammtobligationsverhältniffen findet die neuere Theorie meift darin, daß bei der 
Korrealität una eademque obligatio für alle Subjefte vorliege, während bei jenen 
plures obligationes, und zwar fo viele ala das Multiplum der Schuldneranzahl und 
der Gläubigerziffer ausmacht, vorhanden ſeien. Diefe Auffaffung (ſog. Einheits- 
theorie) verträgt fich freilich nicht mit dem Sprachgebrauch der Quellen, welche für 
die plures rei promittendi und stipulandi, d. h. für den typiichen Fall einer 
Korrealobligation zwar an vielen Stellen una obligatio, aber an anderen auch plures 
obligationes annehmen (3. B.fr.13 D. 45,2; fr.5 D. 46,1; Fitting, a. a. O. 
$ 4); allerdings würde e8 auf folche Abweichungen, wenn die Theorie von der 
una obligatio brauchbar wäre, nicht ankommen. Manche Schriftiteller laſſen fich 
jedoch durch den Sprachgebrauch der Quellen bewegen, auch bei der Korrealobliga= 
tion eine Mehrheit von Obligationsverhältniffen anzuerkennen (ſog. Mehrheitstheorie), 
Andere juchen beide Theorien zu fombiniren (3. B. Baron, Die Gejammtrechtö- 
verhältniffe, $ 19: die Korrealobligation enthalte für den einzelnen Betheiligten je 
eine, für die Gejammtheit aller Betheiligten nur eine obligatio), wieder Andere gehen 
der Alternative, ob una obligatio oder plures obligationes, ganz aus dem Wege und 
fonjtruiren die Korrealobligation z. B. ala ein Obligationsverhältniß, in welchem 
jeder auf derjelben Seite Betheiligte Vertreter des anderen ſei (Brinz), oder ala 
eine Dbligation mit alternativem Inhalt, deren Unbeſtimmtheit Hinfichtlich der 
Perfon, die fie geltend mache, oder Hinfichtlich der Perfon, gegen welche fie geltend 
gemacht werde, erjt durch die von einem der Gläubiger oder Schuldner getroffene 
Auswahl zu heben jei (Fitting a. a. D., 136 ff. Dazu jeßt: Pescatore, 
Die jog. alternative Obligation, 1880 ©. 23 ff.). —. Ueber die Vertreter dieſer 
verichiedenen Meinungen ſ. die Zujammenftellung bei Windfcheid, Pand., II. 
S 293, 1; $ 298, 3; Arndt, PBand., $ 213, 5. — 

Für die Darftellung ericheint e8 am zwedmäßigiten, von der Möglichkeit eines 
prinzipiellen Gefichtspunftes abzufehen und auf das Detail der Wirkungen einzugehen, 
welche das Römiſche Recht den Gejfammtobligationen beimißt. Diefer Verzicht wird 
ſich namentlich dadurch rechtfertigen, daß die Durchtührbarfeit eines Prinzips an 
allen Wirkungen diejer Obligationen gegründeten Bedenfen unterliegt. 


696 Solidarobligation und Korrealobligation. 


I. Vorerſt aber ift noch von Entjtehung der Gejammtobligation zu handeln. 

1) Für die Korrealobligation ijt im Römiſchen Recht nur ein Ent: 
jtehungsgrund völlig erweislich; es ift der Fall, von welchem die Theorie der 
Korrealobligation ausgeht: die Stipulation zwiichen mehr ala zwei Perjonen (pr. 
I. 3, 16; fr. 2 D. 45, 2; c. 2 C. 8, 39). Das Gemeine Recht läßt daher Die 
Korrealobligation entjtehen durch Bertrag, wenn 3. B. Mehrere ſich ausdrücklich 
verpflichten „alle für einen, einer für alle“, „ſammt und jonders“, „zur ungetheilten 
Hand“ Halten zu wollen, aber auch durch gejeßliche Vorichriitt und als paſſive 
Korrealobligation durch VBermächtniß „zu Laſten des A oder B“ (fr. 25 pr.D. 32; 
nicht als aftive Korrealobligation beim Vermächtniß „an A oderB“, c.4C. 6,38). 
Die Fälle ſog. geieglicher Begründung von Korrealobligationen find übrigens nicht 
alle zweifellos. Als fichergeftellt mag betrachtet werden die Schuldnermehrheit bei 
den actiones adjecticiae qualitatis und bei Miteigentum an einem jchädigenden 
Thiere. Dagegen ift es nicht zweifellos Korrealobligation, wenn „ein Vertrag da— 
hin abgeichlofien wird, daß in eine durch eine andere Thatjache begründete Obliga— 
tion ein neuer Gläubiger oder Schuldner hineintreten ſolle“ (Windicheid, Pand., 
1. S 297, 3). Dahin gehört das Nechtsverhältniß zwiſchen Hauptichuldner und 
Bürgen, fowie das zwiſchen dem Gedenten und dem Gejfionar dor der erforderlichen 
denuneciatio an den debitor cessus. Die Quellen jeßen jedenjalls durchgehends den 
fidejussor und reus den plures rei promittendi entgegen und bei der Geifton gilt 
der Gedent doch wohl jchon vor der denuneiatio nicht mehr als forderungsberechtigt 
(vol. Thl. I. 408, 425). — Daß richterliche Enticheidung ein Korrealverhältnig 
begründen fönne, ift weder auf Grund von fr.43 D. 42, 1; c.2 C. 7,55 zu be— 
jahen, noch allgemein zu verneinen, nämlich möglich iſt es im Theilungsprozeh. 

2) Auch die „bloße Solidarität“ fann durch Vertrag begründet werden, wie eg nad) 
den Quellen bei der auf dem Wege des Kreditmandats und des constitutum ein— 
gegangenen Bürgichaft der Fall ift (fr. 59 $ 3 D. 17, 1; fr. 52 83 D. 46, 1; 
fr. 188 3 D. 13, 5; vgl. mit Nr. II. 1 unten). Der Hauptfall ift aber bier die 
Gemeinjamkeit der Verantwortung für angerichteten Schaden und dieje liegt nicht 
blos vor bei gemeinjam verübten Delikten, jondern auch dann, wenn eine Sache 
mehreren Perſonen zur Aufbewahrung übergeben oder geliehen wurde, wenn mehrere 
Mandatare dafjelbe Geichäft übernahmen, ferner im Verhältniß mehrerer Mitvor: 
münder, im Verhältniß mehrerer Bewohner eines Gemaches gegenüber der actio de 
effusis vel deiectis, jobald in diejen Fällen eine Verlegung des bejtehenden Kechts- 
verhältniffes eintritt (Kzyhlarz, a. a. D. 60 ff). Man pflegt den Unterichied 
diefer Begründungsarten der Solidarobligation von denen der Korrealobligation meift 
in der Mehrheit der Verpflichtungsafte zu erbliden, 3. B. das Wohnen des A je 
nicht das Wohnen des B u. j. w. (Windicheid, $ 298, 17). 

3) Für die zweite Art von Colidarität fommt feine befondere Begründungsart 
in Frage, es müſſen nur irgendivie Obligationen begründet fein, welche daſſelbe un: 
theilbare Leiftungsobjeft zum Grfüllungsgegenjtand haben. 

I. Bon den Wirkungen der Gejammtobligation find folgende hervorzuheben: 

1) Durch litis contestatio eines Horrealgläubigers gegen einen Korrealichuldner 
ward nach klaſſiſchem Römiſchem Recht die Obligation für alle übrigen auf aftiver oder 
pajliver Seite Betheiligten fonjumirt, die exceptio rei in judicium deductae wirfte, 
mochte der Prozeß ausgehen, wie er wollte, gegen alle Gläubiger und zu Guniten 
aller Schuldner. Bei den Solidarobligationen dagegen trat die Konſumtion des 
obligatorischen Anſpruchs zum Nachtheil aller Mitgläubiger und zum Vortheil aller 
Mitichuldner nicht ein. Diefer Unterjchied in der Wirkung war es gerade, welcher 
den Begründer der Trennung von Korreal- und anderen jolidariichen Obligationen 
auf diefe Unterjcheidung führte. Jedoch im Juſtinianiſchen Rechtsbuch ift die fon- 
jumirende Kraft der litis contestatio bei KHorrealobligationen nur noch für die aftive 
Seite anerfannt (3. B. fr. 16 D. 45, 2; fr. 5 i. f. D. 46, 1), die Berreiung der 


- 


Solidarobligation und Korrealobligation. 697 


nicht litem Eontejtirenden correi promittendi durch litis contestatio des einen ift 
von Juftinian ausdrüdlich bejeitigt worden (c.28 $ 2 C. 8, 40). Demnach bleibt 
es nunmehr in allen Fällen dem Gläubiger unverwehrt, die ſämmtlichen Mit— 
ihuldner insgefammt, auf's Ganze oder nur zu Theilen zu belangen und eventuell 
unter Abjtehen von der gegen Einen erhobenen Klage (CPO. $ 243) fi an die 
Anderen zu wenden; nur fonzentrirt fich bei der Korrealobligation das Klagerecht 
auf den litem £onteftirenden Gläubiger und das gegen ihn ergangene Urtheil macht 
gegenüber allen jeinen Mitgläubigern res judicata. An Stelle der litis contestatio 
ift übrigens durch CPO. $ 239 der Moment der Klagerhebung (j. daf. $S 230, 1; 
460; 461, 2) getreten. 

2) Eine gleiche Konzentration, wie im vorigen falle, tritt nach fr. 10 D.13,5 
bei der Horrealobligation, nicht aber bei den jolidarischen Obligationen in Folge 
eines constitutum debiti proprii wenigjtens auf aktiver Seite ein, „weil das con- 
stitutum jo gut wie Zahlung jei“. (Neuere und abweichende Erklärungen dieſer 
Stelle j. bei Windicheid, Pand., I. $ 296, 2; Weibel, a. a. O. 51.) 

8) Die zu Gunften eines einzelnen Gläubigers oder gegenüber einem einzelnen 
Schuldner erfolgte Unterbrechung der Klagverjährung wirft nur bei der Korreal— 
obligation auch für reip. gegen die übrigen (c. 4 C. 8, 39). Ausnahme nad 
WO. Art. 80 (j. aber EG. zur CPO. S 13, 3, zur KO. 8 3, 3). 

4) Die Verichuldung des einen correus debendi, mit Ausnahme feiner mora 
(fr.32 $S 4 D. 22,1; fr.173 $2 D. 50,17), erweitert das Obligationsverhältniß 
um die Schadenseriaghaftung auch zum Nachtheil der übrigen Mitjchuldner (fr. 18 
D. 45,2; anderer Meinung Windſcheid, Pand., II. 8295, 13). Bei den wegen 
Untheilbarfeit der Yeiftung folidarischen Obligationen gilt gerade das Gegentheil 
diefes Sabes, während in den übrigen folidarischen Verhältniffen die Thatjache, daß 
an angerichtetem Schaden Einer in erjter Linie jchuldig ift, nur feinen Mitjchuldnern 
die Einrede der Vorausflage (j. Nr. 6) verichafft. 

5) Ein Regreß- (Rüdgriffs-)recht der nicht direft befriedigten Korrealgläubiger 
gegen denjenigen, welchem der Schuldner das Ganze geleijtet hat, jowie ein Regreß— 
recht des allein das Ganze leiftenden Schuldners gegen die durch ihn befreiten Mit— 
ſchuldner versteht fich bei KHorrealobligationen nicht von ſelbſt, jondern muß exit 
durch ein bejonderes zwiſchen den correi beitehendes Rechtsverhältniß (3.8. Mandat, 
negotiorum gestio, societas, ungerechtfertigte Bereicherung) begründet werden. Solidar— 
gläubiger und -Schuldner aber haben den Rüdgriff, wenn es ſich um Untheilbarfeit 
der Erfüllung handelt, unbedingt, in anderen Fällen bat ihn wenigjtens der auf 
Schadenserjat haftende Mitichuldner, wenn er feinem nicht mitbelangten Mitjchuldner 
alleiniges oder theilweijes Verjchulden des Schadens vorwerfen fann oder wenn die 
Haftung durch fremdes Verſchulden begründet worden ift. Wo der Schuldner vegreß- 
berechtigt ijt, da hat er das beneficium cedendarum actionum (c. 13 S1C4,65; 
Windicheid, 8298, 13); nur bei der Solidarität wegen untheilbarer Leiſtung be— 
darf er diejer Geffion nicht, da er hier jedenfalls Regreßanſpruch hat. — Spezial— 
literatur über das Negreßrecht j. bei Windſcheid, Pand., II. S 294, 1. 

6) Der verflagte Gefammtjchuldner braucht fich nicht in allen Fällen die Klage 
auf die ganze Leiftung gefallen zu laſſen; er fann manchmal einredeweije geltend 
machen, daß jeine Mitjchuldner, deren Belangbarfeit (praesentia) vorausgejeßt, 
gleichzeitig belangt werden jollen und daß er erjt nach herausgeftellter Jnjolvenz 
jener — den Beweis der Inſolvenz hat der Kläger zu führen — auf das Ganze 
hafte. Die Einrede wird entweder damit begründet, daß er widrigenialle für gar 
nichts hafte (jog. beneficium ordinis s. excussionis), oder damit, daß er primär 
nur feinen Kopftheil jchulde (jog. beneficium divisionis). Wann dieſe Einwendungen 
ftatthaft jeien, das hängt von der Auslegung der nov. 99, fpeziell der Worte 
aldmheyyiog Önevtvvor in derjelben, ab (j.v. Bangeromw, Pand., III. 78—87). 
Bei der blos folidarischen Obligation hat das Recht zu dieſen Grceptionen nach» 


698 Solidarobligation und Korrealobligation. 


weisbar nur der auf Schadenserjat Belangte in den Fällen, wo ihm gegen feine 
Mitichuldner ein Rüdariff zuftcht (f. Nr. 5). Der Schuldner einer untheilbaren 
Yeiftung dagegen bedarf der Einwendungen nicht; denn, falls er feine Mitichuldnner 
neben fich, aber mehrere Perfonen zu Gläubigern hat, jo fann er entweder ver— 
langen, daß ihm die Yeiftung an alle Gläubiger ermöglicht werde, oder daß ihm 
der Kläger dafür Sicherheit gewähre, die übrigen würden fich für befriedigt halten, 
und ala Mitichuldnier möchte ihm zwar das beneficium ordinis, gewiß aber (eben 
wegen der Untheilbarfeit des Schuldobjefts) nicht das beneficium divisionis zu— 
geitanden werden dürfen, es müßte denn die untheilbare Leiſtung fich durch aesti- 
matio in eine theilbare verwandelt haben (lebteres beftreitet Windicheid, $ 299, 7). 
Von den reichsgeleglichen Borfchriften über Gefammtobligationen (ſ. unten IV) haben 
übrigens manche die beiden Ginreden der Vorausflage und der Theilung (jo das 
SGB. Art. 281, 1 für alle feine Fälle, die Rechtsanwalts-Gebührenordnung S 3) 
oder doch die Einrede der Theilung (Genoſſenſchaftsgeſetz v. 4. Juli 1868 8 12,1} be 
jeitigt. — Literatur über die exc. divisionis: v. Schröter, Zichr. F. Eiv.R. und 
Proz. VI. 435 ff.; Heimbach, daſ. XVI. 2, 10; Appelius, Arc. f. d. civ. 
Prar. XVI. 12; Burdhardi, daſ. XIX. 3; Dedefind, dal. XL. 270 ff.; 
Dedekind, Deexc. divis., 1853; Wieding, Nov. Justiniani XCIX., ©. 82 ff. — 

II. Die Geljammtobligation erlifcht durch alle Erlöfchungsgründe von Obli— 
gationen, welche nicht nur ein einzelnes Subjeft der aftiven oder paffiven Seite 
betreffen, wie confusio durch gegenfeitige Beerbung, Erlaß, Novation, in integrum 
restitutio für Einzelne, Verjährung gegenüber Einzelnen, wenn die Obligation nicht 
für Alle gleichzeitig begonnen hat (capitis deminutio Ginzelner nach fr. 19 D. 45, 2), 
namentlich nimmt man bei der Solidarität wegen Untheilbarkeit der Leiſtung Ein— 
flußlofigkeit der Dispofitionen eines Mitgläubigers für alle übrigen Mitgläubiger 
an. Alfo erliicht die ganze Gefammtobligation durch Zahlung und deren Surro= 
gate (datio in solutum, gerichtliche Öinterlegung, Rompenjation), durch Novation 
(fr. 831 $ 1 D. 46, 2; Windicheid, Pand., IL S 295, 3; $ 298, 5), vollfom= 
menen Grlaß und deifen Anmwendungsfälle bei Vergleich und Schiedövertrag, durch 
aberfennendes Urtheil — jelbit wenn bei einem derartigen Rechtegeichäft oder Prozeß 
nur ein einzelner Gläubiger und ein einzelner Schuldner betheiligt war. 

Uebrigens ift das Gefagte nicht bei jämmtlichen der angegebenen Endigungs— 
gründe unbeftritten (vgl. Windicheid, Pand., II. $ 295, 4. 5. 8; $ 298, 6; 
Arndts, Pand., $268, 11; 273,2), und e8 fommen gelegentlich auch noch andere 
Punkte in Trage; jo bei der Kompenſation: ob der Gefammtichuldner auch mit der 
Forderung feines Mitfchuldners und ob er gegen die Schuld eines anderen Geſammt— 
gläubigers als des ihn Belangenden aufrechnen dürfe, was Beides nach Römtichen 
Recht, bei den correi wenigjtens, von beftehender Regreßpflicht abhängt (fr. 10 D. 
45, 2; Windfcheid, Pand., II. S350, 19. 20, theilweiie anders nach Allg. IR. 
I. 16 $$ 303, 306, 307 ; Code civil art. 1294, 2; Sächſ. BGB. 8 1027). Jedenfalls 
wird man annehmen müflen, daß nicht eim einzelner Gläubiger willfürlich die 
DObligation zum Nachtheil feiner Mitgläubiger jchmälern und aufheben, nicht ein 
einzelner Schuldner mit Rechtswirkung für feine Mitſchuldner die beitehende Ver— 
pflichtung erweitern fann (abgefehen von Verichuldung, j. oben Nr. 4), wenn er nicht 
zur Stellvertretung der anderen ermächtigt oder eine Regreßberechtigung derjelben 
gegen ihn begründet ift (vgl. fr. 27 pr. D. 2, 14). 

IV. Bon den modernen Gejehgebungen fennt feine einen Unterſchied 
der Korrealobligation und blos jolidariichen Obligation ; die Solidarität wegen Un— 
theilbarfeit des Gegenftandes berüdfichtigen manche befonders (ſ. Oeſterr. Allg. 
BGB. 8 890; Sächſ. BGB. SS 1037, 1038, Entw. eines Schweiz. Obl. R. 
1875 Art. 20, 2). Diefelben stellen aber nur einen Begriff der „SHorrealität“ 
(Codex Maxim. IV. 1, 21 ff.; Allg. ER. I. 6 SS 424 ff.; Deiterr. Allg. BEP. 
z8 891 ff.), „Solidarität“ (Code civil art. 1197 fi.; Entw. eine Schweiz. 


ost 





Solidarobligation und Korrenlobligation. 699 


Obl.R. Art. 11 ff.) oder des „Geſammtſchuldverhältniſſes“ (Sächſ. BGB. 88 1019 ff.) 
auf. Die gemeinrechtliche Konſtruktion des Nechtsverhältnifies wird im Allgemeinen 
tejtgehalten, indem 3. B. die einen fich Für die gemeinrechtliche Präſumtion getheilter 
Haftung bei Verträgen (Codex Maxim. IV. 1, 21, 6; Oeſterr. BGB. $ 888; 
Code eivil art. 1202), die anderen fich gegen diejelbe (Allg. ER. I. 5 $$ 424, 425) 
erflären, indem fie die Unterbrechung der Klagverjährung entweder für alle Be- 
theiligten (Code civil art. 1199, 1206, 2249, mit Modifikation Allg. ER. I. 9 8 577) 
oder nur jubjettiv wirken laffen (Sächſ. BGB. $ 1035), indem fie den Sab: 
alterius factum alteri quoque nocet entweder anerfennen (Codex Maxim. IV. 1, 
21,4, mit Modififation Code civil art.1205, 1207) oder nicht (Allg. ER. I. 5 $ 438; 
Deiterr. BGB. 8 894; Sächſ. BEP. 88 1025, 1316). Allgemein ift ferner 
die KHonzentrirung der Obligation eines einzelnen Schuldners gegenüber demjenigen 
Gläubiger, der ihn belangt, aber ohne daß dadurch die anderen Mitichuldner frei 
würden (Codex Maxim, IV. 1, 22; Code civil 1198,1; Defterr. BGB. 88 891, 
892, Sächſ. BGB. $$ 1023, 1024; Schweiz. Entw. 19), und ebenfo allgemein 
ift die Bejeitigung des beneficium excussionis und divisionis (Codex Maxim. IV. 
1, 23; Allg. LR. I. 5 88 430—33;,; Code civil art. 1203, 1204, ſ. aber 1210—12; 
Deiterr. BGB. 88 891, 1359; Sächſ. BEB. $ 1024; Schweiz. Entw. 12). 
Dagegen enthält e8 eine wejentliche Abweichung von der gemeinrechtlichen Auf— 
faflung, wenn das Preuß. ER. und der Code civil zwiichen der aftiven und der 
paifiven Seite der Gefammtobligation ſcharf untericheiden und beiden eine verjchiedene 
Art der rechtlichen Behandlung zu Theil werden laffen, indem fie 3. B. manchen 
der vorhin angegebenen Grundfäße nur für die Mitverpflichteten aufftellen. Hierher 
tft auch der Umftand zu rechnen, daß die beiden genannten Gefeßgebungen (Allg. 
ER.1I.5 8445; Code civil art. 1213, 1214, 1216) im Anjchluß an andere (Codex 
Maxim, IV. 1, 22. 23 i. f.; Dejterr. BGB. $ 896; Schweiz. Entw. 17) ein 
Regreßrecht der Geſammtſchuldner jedenfalls anerkennen, jelbit dann, wenn das unter 
den correi bejtehende NRechtsverhältniß eine Regreßberechtigung nicht ergiebt (anders 
Sächſ. BGB. 88 1036, 1495). Das Preußische Recht zeichnet fich insbeſondere 
durch eine merfwürdige Auffaffung des Gläubigerverhältniffes aus, indem es ans 
nimmt, daß die Mitberechtigten die gemeinfamen Befugniffe auch nur gemeinjam 
ausüben können, daß alſo die Handlungen eines Einzelnen den Uebrigen in feiner 
Weile präjudiziren und der Schuldner fich durch Zahlung an den Einzelnen feines- 
wegs don den Andern befreie, jondern nur in die Rechte des Befriedigten gegenüber 
den Mitgläubigern eintrete (Allg. ER. I. 5 $$450—52; vgl. auch bezüglic; Nova= 
tion I. 16 $$ 459, 460). Grit die Preußifche Praris hat diefen Grundjaß in feinen 
Konfequenzen etwas gemildert (f. Dernburg, Preuß. Priv.R., II. $ 51 a. E.). 

Die Entftehungsgründe der Gefammtobligation find nach den meiften modernen 
Geſetzgebungen Vertrag und gejegliche Vorfchrift, unter die leßtere fallen meiſt auch 
gemeinjame Delikte (Codex Maxim. IV. 1, 21, 7; Dejterr. BGB. $$ 891, 892, 
550, 820, 821, 1203, 1302, 1352, 1357, 1359; Sächſ. BGB. 88 777, 1020, 
1021; Schweiz. Entw. 20); aber da& Preußifche Recht kennt nur aus Verträgen 
entjtehende Korrealverhältniffe, freilich auch aus Realkontrakten entjtehende (Allg. 
ER. I 14 $ 59) und ebenjo entfteht nach Franzöſiſchem Recht die solidarite entre 
les créanciers nur durch Vertrag (Code eivilart. 1197), während es für die solidarite 
de la part des debiteurs bejtritten ift, ob diejelbe, abgejehen von Vertrag und Ge— 
je (Code civil art. 1202), auch durch gemeinjames Delikt begründet werde, wofür 
Code penal art. 55 zu fprechen fchiene. 

Das moderne Deutiche Reichdrecht hat eine Reihe von „jolidarifchen“ Ver— 
bindlichkeiten geichaffen, ohme fich über die Art diefer Solidarität weiter zu erflären ; 
dieſe Fälle ftellen alſo gejeßlich begründete Gefammtichuldverhältniffe dar. Dahin 
gehören: HGB. Art. 112, 113, 173. 3, 178, 204, 241, 245. 4, 247 R. 3, 248. 
3, 257,269. 2,280; WO. Art. 81, 98 N. 10 vgl. 49; Genoſſ. Geſ. dv. 4. Yuli 1868 


700 Sonderredte. 


83 N.12, $ 12; RStrafGB. $ 231, 3; Marfenichubgei. v. 30. Nov. 1874 $ 15; 
Patentgei. v. 25. März 1877 3 36; — — 11. Juni 18708818, 4;20,2; 
v. 9. Jan. 1876 $ 16, 1; v. 10. Jan. 1876 $ 9; v. 11. Jan. 1876 8 14, 1: 
RStraf PO. SS 498, 2; 508, 4; Rechtsanmwaltsgebührenordnung 88; Wuchergei, 
v. 24. Mai 1880 Art. 8, 2. Andere Reichsgeſetze chließen in gewiſſen Fällen die 
Gejammthaitung befonders aus, wie HGB. Art. 467, 1; CPO. $ 95, 1. 4; Ge 
richtsfoftengej. SS 91, 92. Bon materiellrechtlicher Bedeutung ift endlich die Vor— 
jchrift der Deutichen KO. $ 61, wonach bei Konkurseröffnung über Gefammtichuldner 
der Gläubiger jeine Forderung in jedem Konkurs joweit anmelden kann, als fie bei 
Gröffnung des einzelnen Konkurſes noch nicht befriedigt ijt, ohne daß Theilzahlungen, 
die nach Eröffnung des einen Verfahrens erfolgen, auf die Dividendenberehnung 
im anderen einen Ginfluß üben. (Noch weiter geht Schweiz. Entw. 16.) 

Zum Scluffe jei bemerkt, daß einige Schriftjteller, aber ohne Griolg, dem 
Begriff der SHorrealobligation als einer befonderen Art der Gejammtobligation auch 
gemeinrechtlih — wie es in den modernen Gejeßgebungen geichehen iſt — Die 
Gültigkeit abjprechen, indem fie ihn für veraltet erachten, und nur Solidarobliga= 
tionen anerfennen wollen. (So Demangeat, a. a D.; Weibel, a.a. ©. 
101.) Gtwas Anderes ijt es, wenn man (wie Yitting, ©. 255) nur no von 
„jolidarischen“ Berbindlichkeiten ſpricht, aber unter dieſen „echte* und „unechte“ 
unterjcheidet. 

Röm. Quellen: I. 3, 16 de duobus reis stipulandi et promittendi; D. 45, 2 de 
—— reis constituendis; C. 8, 39 de duobus reis stipulandi et duobus reis promit- 
endi 

Don ber bei Windſcheid, Panbekten, II. SS 292, 253 angeführten reichen Literatur 
ift hervorzuheben: Ribbentrop, Zur Lehre von den SKorreal: ‚Obligationen, 1831. — 
v. Savigny, Dad ie mund, I. s$ 16—27, 33—36, 1851.— Brins, Krit. Blätter, 
Nr. 4 1853 u. Kit. BISchr. 1 ff. 1873. — Rüdert, Seitfhe. f. Givilteht u. Proz., 
Neue Folge XI. 1, 1855. — ve. eat, Des obligations solidaires en droit romain. 
1858. — inbicheid, Krit. Meberichau VI. il, 1859 u. Krit. B.J.Schr. III. 161 ff. 1861. — 
td, Die Natur der gg eig ir 1859. — Czyhlarz, Zeitichr. für öff. und 

rivatredht, III. 59—139, 1876. — Dazu ließe ſich noch fügen: Girtanner, Die Dakpaft, 
715 ff., 397 ff., 568 ff. 1850. immermann, Heidelb. Krit. zeitliche. V. 146 fi.. 1857 
v. Helmolt, Die — ligalionen 1857). — Koch, Das Recht der Dosberungen, 


2. Aufl., N 5 ff., 1859. — Goldſchmidt, Zeitſchr. für a8 est, K3 267 FF. (au 
Sitting) — Molitor, Les obligations en droit romain I. Ar. I. Nr. 1155 ff., 
U, Nr. 403 N 1865. — Weibel, Die Korrealobligation * Rom. —— 1873. 


Lehrb. d . Panb.: Arnbta, $ 213— 216. rinz, IL $ 140-143 (1. Aufl... — 
gojaen, 11. 88 372—75. — Reller, 1. 248. — Ruta, $ 233-235. — Seuifert, 
II. — Sintenis, 1. $ 89. — v. Vangerow, III. 8 573. — Windſcheid, IL 
sg 02-800. 

Partilularreht: Dernburg, Lehrb. d. Preußiichen Privatrechts, II. SS 47—51. — 
Siebenhaar, Korrealobligationen nad) Römiſchem, Gemeinem und Sächſiſchem Recht, IL 
1868. — Ro diöre, De la solidarit& et de P’indivisibilite, 1852. — Lewandowski, De 
la solidarit& en droit Romain et en droit civil ma 1866. — Zadhariä d. Singen: 
thal, rede d. Franz. Givilxechts (Puchelt), II. S 298. — Stabel, Inftitutionen bes 

ea 17 a $$ 130, 131. — Mages, Sie Srfammtichuldverhältniffe be3 Deiterreid. 
echt 

Weidsceht: Mandry, Der civilrechtliche Inhalt der Reichsgeſetze, S 27. 

%. Merkel. 


Sonderrehte. Der Ausdrud „S.“ hat in der Deutichen Rechtsſprache 
mehrere verichiedenartige Bedeutungen. Gr dient zunächjt als Bezeichnung derjenigen 
Vorrechte der jouveränen und der mebdiatifirten Deutichen Gefjchlechter, welche den= 
jelben über das Gem. Recht hinaus eingeräumt find (vergl. Hefiter, Die ©. der 
jouveränen und der mediatifirten, vormals reichsitändifchen Käufer Deutichlands, 
Berlin 1871). In einem für die Praris wichtigeren Sinne verjteht man unter ©. 
die Rechte einzelner Mitglieder von Körperſchaften, welche dieſe gegenüber der 
Körperichaft frei auszuüben befugt find. Hierbei ift „Körperſchaft“ im weitejten 
Sinne identiſch mit dem Ausdrude „Gemeinheit“ verjtanden, und umfaßt alle 


Sonderredte. 701 


Korporationen, Gemeinschaften, Genoſſenſchaften, Vereine zu öffentlichen und privat- 
rechtlichen Zweden ꝛc. In diefem Sinne hat der Begriff der ©. eine durch die 
Deutiche Rechtsgeſchichte ſich hindurchziehende Entwidelung, welche für die Geftaltung 
von Staat, Kirche, Stadtgemeinde ıc. von Erheblichkeit if. Bon ganz bejonderem 
Werth ift der gleiche Begriff für das Recht der Genofjenjchaiten geworden, welche 
in Deutichland zu zahlreichen öffentlichen und privaten Zwecken, in&bejondere auch 
ala Grwerbögenofjenichaften ausgebildet worden find (vgl. hierzu Gierfe, Daß. 
Deutiche Genoffenfchaftsrecht, 2 Bände, Berlin 1873). Eine hervorragende Bedeutung 
bat derjelbe Rechtsbegriff auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtes in neuefter Zeit 
jeit Wiederherjtellung des Deutichen Reiches erlangt. Das Reich beiteht aus einer 
Reihe einzelner Staaten, die fich zu einem Bundesſtaat vereinigt haben. Für die 
Interpretation der Reichöverfaffung ift von hoher Wichtigkeit die Frage, wie weit 
die einzelnen Mitglieder durch die Bündnißverträge obligirt find, und wie weit das 
Reich vermöge feiner Organe auf den gegenwärtigen Stand des Bündniſſes eine 
Veränderung auszuüben im Stande ift. Zur Beantwortung diejer Frage bedarf es 
einer Weititellung derjenigen Nechte, S. genannt, welche den einzelnen Gliedern des 
Bundesjtaates in und gegenüber demfelben zuftehen. Sie zerfallen in jolche, die in 
der Bundesverfaffung reſp. in den ala Grundlage bderjelben bejtehenden Verträgen 
ausdrüdlich vereinbart find, und in andere, die fih, ohne ausdrücklich vereinbart 
zu fein, aus der rechtlichen Natur des Bundesftaates von jelbjt ergeben. Eine 
iyitematifche Entwidelung diefer S. iſt in neuefter Zeit von Laband, kurz vorher 
von Hänel unternommen worden. (Laband, Der Begriff der S. nad) Deutſchem 
Reichärecht, in Hirth's Annalen 1874, ©. 1487—1524, und derjelbe in jeinem 
Staatörecht des Deutjchen Reiches, Tübingen 1876, Bd. I. ©. 109 ff.; Hänel, 
Studien zum Deutjchen Staatsrecht, Bd. I. Leipzig 1873, ©. 183 ff). Laband 
rührt aus (Staatsrecht, Bd. I. ©. 109), es ergebe fich aus der Natur des Bundes— 
itaates ala einer aus Staaten bejtehenden öffentlich-rechtlichen Korporation, daß die 
Mitgliedsftaaten Rechte ſowie auch Pflichten haben. Die Rechte werden unterfchieden 
in Mitgliedichaftsrechte und S. Unter den letzteren verfteht Laband bejtimmte 
Rechte einzelner Bundesjtaaten in deren VBerhältniß zur Gefammtheit, welche Ab = 
weichungen von der fonjt geltenden Regel zu Gunſten eines oder einzelner Staaten 
bilden. Ihrem Inhalte nach unterjcheidet er die ausdrüdlich Eonftituirten ©., im 
Weſentlichen in Webereinftimmung mit Hänel, in Beſchränkungen der Kompetenz des 
Neiches, 3. B. die Ausſchließung Württembergs und Bayerns hinfichtlich des Pojt- 
und Telegraphenweſens und Hinfichtlich der Beſteuerung von Branntwein und Bier, 
ferner in diejenigen Nechte, welche gewiffen Staaten Hinfichtlic der Organifation 
des Reiches eine bevorzugte Stellung gewähren, 3. B. das Recht Preußens, daß 
dem Könige von Preußen das Präfidium zufteht, das Recht Bayerns, in dem Bundes— 
rathe für das Landheer und die Feitungen einen ftändigen Sit zu haben und den 
Vorſitz in dem Ausſchuß für die auswärtigen Angelegenheiten zu führen, endlich in 
gewifje finanzielle Begünftigungen, 3. B. die fisfalifchen Ansprüche Heſſens gegen 
die Neichspoftverwaltung, der Anſpruch Bayerns auf eine Vergütung der Leiftungen 
für den diplomatifchen Dienjt 2c. ꝛc. Die Feſtſtellung diefer ©., welche in der Ver— 
faſſung oder den ſonſt beitehenden Verträgen ausdrüdlich vereinbart find, unter- 
Liegt feinen bejonderen Schwierigkeiten. Auch darüber beiteht kaum ein begründeter 
Zweifel, daß diefe Rechte nur unter Zuftimmung der betreffenden Berechtigten auf- 
gehoben oder verändert werden fünnen (vgl. Laband, Staatärecht, Bd. I. ©. 119). 
Schwieriger ift aber die Entwidelung und Feititellung derjenigen S., welche nicht 
in der Verfaffung oder den Verträgen ausdrüdlich genannt find, jondern fich aus 
der rechtlichen Natur des Bundesſtaates von ſelbſt ergeben. In diefer Beziehung 
herrfcht vorläufig Meinungsverfchiedenheit unter den Juriften, die wol bei dem eigen- 
thümlichen Charakter der Materie nicht anders ala auf der Baſis von Präzedenziällen 
eine definitive Löfung finden wird (vgl. hierzu Laband, Staatsrecht, Bd. 1. ©. 118 ff., 


ferner Hänel, a. a. ©. ©. 194 ff., und Löning in Hirth’3 Annalen 1875, 
©. 337 ff.). Nicht zu verwechjeln mit diefen ©. (jura singularia) jind diejenigen 
Rechte (jura singulorum) der einzelnen Staaten, welche in den Bündnißvertrag 
nicht mit inbegriffen, fondern den Staaten ungejchmälert verblieben find. Diele 
jura singulorum find feine ©.; denn die leteren laffen fich nur injoweit denken, 
als eine Mitgliedichait der einzelnen Staaten gegenüber dem Bundesitaat beftebt. 
Sie jehen das Vorhandenfein einer Gemeinichait voraus, während die jura singulorum 
gerade da ihren Anfang nehmen, wo die Gemeinjchait endigt. — Eine nicht minder 
hervorragende Bedeutung haben endlich die ©. neuerdings auf dem Gebiete des 
Privatrecht, und zwar in dem Necht der Aktiengejellichaiten erlangt. Die Aftien- 
gejellichatt ift unter den modernen Erwerbögenofienjchaiten vorläufig die am meiſten 
ausgebildete. Ihrer rechtlichen Natur nach ift fie eine Korporation; daher greifen 
bei ihr binfichtlich der Stellung der einzelnen Aktionäre ganz ähnliche Grundiäge 
Pla, wie nach den oben citirten Worten Laband's bei der jtaatärechtlichen 
Korporation des Deutichen Reiches Hinfichtlich der einzelnen Bundesitaaten. Auch 
die Rechte der Aktionäre muß man unterjcheiden in Mitgliedichaitsrechte und ©. 
Man kann die leßteren definiren als „diejenigen Rechte des einzelnen Aktionäre 
gegenüber der Aktiengejellichait oder in derielben, Hinsichtlich deren er dem Willen 
der Gejellichaftsorgane nicht unterworfen ift.“ Das Deutihe HGB. erwähnt die 
©. nit; nur indirekt folgt ihre Anerkennung aus Art. 224, infjofern darin gejagt 
ift, daß die Nechte, welche den Aktionären „in Angelegenheiten der Gefellichait“ zu— 
jtehen, von der Geſammtheit derjelben in der Generalverfammlung ausgeübt werden. 
Hieraus iſt zu folgern, daß auch jolche Rechte des Aktionärs als beitehend angejehen 
werden, welche ihm nicht „in Angelegenheiten der Gejellichait“ zuftehen, und über 
die mithin der Generalverfammlung fein VBerfügungsrecht eingeräumt it. Die 
neueren Verfuche, den Rechtscharafter der S. bei Korporationen im Allgemeinen zu 
bejtimmen, bieten zur genauen Erflärung der S. bei Aktiengejellichaiten fein aus- 
reichendes Material (vgl. in diejer Beziehung dv. Langenn und Kori, Erörterungen, 
Bd. II. ©. 1 fi. und Stobbe, Handbuch des Deutichen Privatrechts, Leipzig 
1870, 3b. I. ©. 351 ff.). Klaſſifikationen der ©. der Aktiengejellichaften find 
unternommen worden von Yaband (vergl. den oben citirten Aufla in Hirth's 
Annalen von 1874, Abſchn. 3) und von Thöl (Handelsrecht, 5. Aufl., Yeipzig 
1875, ®d. I. $ 161). Um den rechtlichen Inhalt der einzelnen ©. bei den Aftien- 
geiellichaften zu erfaſſen, iſt es nöthig, die verichiedenen Urjachen ihrer Entitehung 
als Unterjcheidungsmittel zu wählen. Danach trennen fich die ©. gang analog 
jener oben für das Deutiche Staatörecht ala maßgebend erachteten Untericheidungen 
in jolche, welche das Statut bzw. der Vertrag ausdrüdlich fonftituirt, und in ſolche, 
welche fich, ohne ausdrüdlich ausgeiprochen zu jein, aus der Natur der Aktiengejell: 
ihaften von jelbit ergeben. Zu den eriteren zählen bauptjächlich diejenigen echte, 
welche gewiſſen Aktien vertragsmäßig gegenüber der Gejammtheit verliehen find: 
die vornehmſte Gruppe bderjelben find die ſog. Prioritätsaktien. Nicht zu diejer | 
Klaſſe zählen die Gründervorrechte. Zwar find auch fie durch das Statut ausdrüdlic 
eingeräumt; aber die Berechtigten find nicht nothwendigerweiie Aktionäre; und ein 
©. muß immer zugleich ein Aftionärrecht fein. Diejenigen ©., welche nicht aus— 
drüdlich im Statut auögeiprochen zu jein brauchen, laſſen fich in zwei Klafſen unter: 
icheiden, nämlich gemäß der oben gegebenen Definition in Rechte in der Gefellichaft 
und Rechte gegenüber der Gefellichait. Die eriteren folgen aus der Befugniß des 
Aktionärs, in der Generalverfammlung an der Verwaltung der Gejellichait Theil zu 
nehmen, und in dieſer Gigenichait zu verlangen, daß das Gejellichaitsorgan der 
Generalverfammlung fich gemäß Statut und Geſetz verhalte. Die anderen praftiich 
wichtigiten, vornehmlich vermögensrechtlichen Inhalts, umiafjen diejenigen jura 
quaesita (in der Praris meiſtens „Individualrechte“ genannt), welche aus dem 
jeitens des erjten Zeichners geſchloſſenen Zeichnungsvertrage zu feinen Gunjten ber 


702 Sonderredte, 


Sonnenfels — Sonntagsarbeit. 103 


vorgehen, und Hinfichtlich deren ihm die Geſellſchaft als verpflichtetes Rechtsſubjekt gegen- 
überjteht (vergl. Löwenfeld, Recht der Aftiengejellichaiten, Berlin 1879, Abjchn. 10, 
S. 367 ff.). In dem gleichen Sinne hat auch dag ROHG. in einer Reihe von Erkennt— 
niffen (Entjch. Bd. XIV. ©. 355 ff.; Bd. XXI. ©. 19 ff. und Bd. XXIU. ©. 273 ff.) 
eine Unterfcheidung diefer Spezies von Rechten aufgejtellt. Als eine legte Klaſſe kann 
man neben den erwähnten noch diejenigen Rechte bezeichnen, welche dem einzelnen 
Aktionär nach ausdrüdlicher Geſetzes vorſchrift zuftehen, die alfo jelbft ohne ftatutarijche 
Betätigung gelten, und ihres Charakters wegen auch durch Statutenbeftimmungen 
nicht aufgehoben werden fünnen. Es find dies die Befugniſſe des Aftionärs, in gewiſſen 
Prozeffen der Generalverfammlung gegen die Vorſtands- und Auffichtsrathamitglieder 
accefjorisch zu interveniren (HGB. Art. 226, 194 u. 195). Während nun aber das 
ROHG. in der bezeichneten Weije die S. anerkennt, und in verjchiedene Unterarten 
eintheilt, hat es zugleich in einem der jüngjten Erfenntnifje eine, wenn auch nicht 
volllommene, doch immerhin jehr bemerfenswerthe Grenzlinie für den Umfang der 
fraglichen Rechte jkizzirt, indem es (Entich. Bd. XX. ©. 44 ff.) auägeführt hat, 
daß die Aftiengejellichait ihr Statut, auch injoweit dies nicht bejonders im Gejell- 
ihaftövertrage vorgejehen iſt, abändern dürfe, daß mindeftens nicht jede derartige 
Statutenänderung, ſchon weil fie nicht bejonders im Statut vorgejehen ift, ala rechts— 
widrig zu erachten jei. Würde man das Statut einer Aktiengejellfchaft nach den 
allgemeinen Grundjägen über Verträge zu beurtheilen haben, jo müßte man folgern, 
daß jebe nicht jchon bei Abjchließung des Vertrages zugelaffene Aenderung deijelben 
als eine Verlegung der ©. der diffentirenden Aktionäre, inſofern derlei Aenderuugen 
gegen die aus dem Gejellichaftsvertrage ertvorbenen jura quaesita verjtoßen, anzufehen 
je. Dem Reichägericht war, jomweit feine Rechtſprechung bisher durch den Drud be= 
fannt geworden ijt, Gelegenheit zu einer weiteren Ausbildung diefes Rechtsinftitutes 
noch nicht gegeben. Gin Erfenntniß vom 19. Februar 1881 (in Sachen von Kauf: 
mann wider Rumänifche Eiſenbahnen-Aktiengeſellſchaft) bejtätigt aber in gewifler 
Beziehung die von dem ROHG. überlieferten Rechtsjäße, injofern darin auf's Neue 
die Verlegung des Grundjages von der Nechtögleichheit der Aktionäre zugleich ala 


eine Verlegung der ©. derjelben aufgefaßt und behandelt wird. 
9. Löwenfeld. 


Sonnenfel8, Joſef Reichsfreiherr v. 5 1732 zu Nikolsburg, wurde 1763 
Lehrer der Staatswifjenjchaften in Wien, 1779 Hofrath und Beifißer der Studien- 
hoftommiſſion, 1797 Reichsfreiherr, 7 25. IV. 1817. 

Schriften: Ueber Abjihaffung der Zortur, Zür. 1775, (2) Nürnb. 1782. — Grund» 
fäge ber Polizei, Handlung u. Finanz (1765), 8. Aufl. 181922. — Ueber die Stimmen: 
mehrheit bei Sriminalurtheilen, 1808. — Sämmtl. Werte, Wien 1783—87. 


Lit.: Geib, Lehrb. des Deutichen —— Be 1861, 1. S. 314. — Roſcher, 
Geich. d. National-Delonomit 1874, ©. 533— — Berner, Gtenfgeleggebung, 1867, 
©. 50. — Wurzbach, XXXV. 317848. eıhmann. 


Sonntagsarbeit (vgl. den Art. Sonntagsjeier). Während im All- 
gemeinen nur diejenigen Arbeiten an Sonn= und Feittagen in Deutichland verboten 
find, welche, weil jte öffentlich bemerkbar oder bejonders geräufchvoll find, die äußere 
feier jener Tage jtören würden, jo hat die RGew.O. ein weitergehendes Verbot 
der ©. in doppelter Hinſicht aufgeftellt. 

1) Was zunächit die jugendlichen Arbeiter betrifft, jo war in Preußen deren Be- 
ihäftigung in Fabriken (und zwar damals für die Zeit vom 9.—16. Lebensjahre) bereits 
durch S 5 des Regulativs vom 9. März 1839 gänzlich unterfagt, und $ 6 außerdem 
vorgejchrieben, daß diejenigen chriftlichen Arbeiter, welche noch nicht zur heiligen 
Kommunion angenommen jeien, in denjenigen Stunden in Fabriken nicht bejchäftigt 
werden durften, welche ihre ordentlichen Seeljorger für ihren Katechumenen- und 
Konfirmandenunterricht bejtimmt hätten. Die Preuß. Gew.DO. vom 17. Januar 


704 Sonntagsarbeit. 


1845, welche fich überhaupt auf die fpezifiichen Verhältniffe der Fabrifarbeiter nicht 
eritredt, enthält ebenfowenig wie das Gejeg vom 16. Mai 1853, betr. einige Ab- 
änderungen des Regulativs vom 9. März 1839, einfchlagende Beitimmungen. Die 
RGew.O. vom 29. Juni 1869 hat dann dem Sinne nach die Preuß. Beitimmung 
von 1839 reproduzirt; der $ 129, Abi. 3 derjelben lautet: „An Sonn= und fFeier- 
tagen, jowie während der von dem ordentlichen Seelforger für den Katechumenen= 
und Konfirmandenumterricht beitimmten Stunden dürfen jugendliche Arbeiter (im 
Alter von 12—16 Jahren) nicht beichäftigt werden.“ Mit diefer Faſſung ftimmt 
endlich auch der $136, Abi. 3 des Geſetzes, betr. die Abänderung der Gew.D., pom 
17. Juli 1878, wenigftens im Wejentlichen überein. Derjelbe lautet: „An Sonn= 
und Feſttagen, jowie während der von dem ordentlichen Seelforger für den Katechu— 
menen- und Konfirmanden-, Beicht- und Kommunionunterricht beitimmten Stunden 
dürfen jugendliche Arbeiter nicht beichäftigt werden.“ Die Uebertretung diefer Vor— 
ichrift wird nach $ 146 der RGew. O. in Verbindung mit Art. 2 des Gejehes vom 
17. Juli 1878 mit Geld bis zu 2000 Mark, im Unvermögensjalle mit Gefängniß 
bis zu 6 Monaten beftraft. 

Der 8 126 des Geſetzes vom 17. Juli 1878 hat dann außerdem die Lehr— 
herren verpflichtet, den Lehrlingen die zum Beſuche des Gottesdienjtee an Sonn= 
und Feſttagen erforderliche Zeit und Gelegenheit durch Verwendung zu anderen 
Dienftleiftungen nicht zu entziehen; eine Beitimmung, welche dem $ 84 der Gefinde- 
ordnung vom 8. November 1810 nachgebildet ift, und inſofern jtrafrechtlich geichüßt 
erjcheint, als es fich dabei um eine Verlegung der gefeglichen Pflichten des Lehr— 
herren gegen den Lehrling handeln würde, jo daß nach $ 148 Nr. 9 der RGew. O. 
in Verbindung mit Art. 2 des Gefehes vom 17. Juli 1878 eine Gelditrafe bis 
zu 150 Mark, im Unvermögensfalle Haft bis zu 4 Wochen gerechtiertigt sein 
würde. 

In Frankreich Hatte bereit3 das Gejek vom 22. März 1841, betr. die 
Arbeit der in der Induftrie (manufactures, usines ou ateliers) bejchäftigten Kinder, 
Art. 4 und Art. 7 Nr. 5 die Beichäftigung der Kinder unter 16 Jahren an den 
Sonn= und gejeßlichen FFeittagen verboten, den VBerwaltungsreglements jedoch anheim— 
geitellt, eine derartige Beichäftigung in den Betriebsjtätten mit ununterbrocdenem 
teuer (dans les usines à feu continu) ausnahmsweije zu geitatten; jchon damals 
war von jüdischer Seite ein Antrag gejtellt worden, das Verbot auf eine Arbeit 
von mehr als jechs wöchentlichen Tagen zu bejchränfen, diefer Antrag jedoch in 
Uebereinftimmung mit dem Deputirten Yould, der inäbefondere auf die geringe Zahl 
der Juden Hingewiejen hatte, verworfen. Das Geſetz über die Arbeit der in der 
Industrie befchäftigten Kinder und minderjährigen Mädchen vom 3. Juni 1874 
enthält denn folgende Faſſung: Art. 5. ‘Les enfants äges de moins de seize ans, 
et les filles mineures de moins de vingt-et-un ans, ne pourront ötre employees à 
aucun travail, par leurs patrons, les dimanches et fötes reconnus par la loi, 
meme pour rangement de l’atelier. Art. 6. Neanmoins, dans les usines à feu 
continu, les enfants pourront être employ6s les dimanches et jours de feries, 
aux travaux indispensables. Les travaux toleres et le laps de temps pendant 
lequel ils devront &tre exécutés, seront determines par des röglements d’admini- 
stration publique. Ces travaux ne seront en aucun cas autorises que pour les 
enfants Agés de douze ans ou moins. On devra, en outre, leur assurer le temps 
et la libert& necessaires pour l’accomplissement des devoirs religieux. Die in 
Gemäßheit diejes Gejehes erlaffenen Dekrete des Präfidenten der Republit vom 22. 
Mai 1875 Art. 3 und 4 und vom 5. März 1877 Art. 2 haben dann noch feit- 
gejeßt, daß die ©. der Kinder und minderjährigen Mädchen in den Zuderfabriten 
mit Ausnahme der Zeit von 6 Uhr Morgens bis 12 Uhr Mittags, in den Glashütten 
mit Ausnahme der Zeit von 8 Uhr Morgens bis 6 Uhr Abends, in den Papier- 
und Metallfabrifen mit Ausnahme der Zeit von 6 Uhr Morgens bis 6 Uhr Abends 


Fa 


Sonntagsarbeit. 705 


geitattet ift (Gejeg vom 22. März 1841 bei Tallon et Maurice, Legislation sur 
les travails des enfants etc., Paris 1875, ©. 10; Geſetz vom 3. Juni 1874 bei 
Zallon, ©. 446; bei Lohmann, Fabrikgejeßgebungen, S. 127 ff.; Dekret vom 
22. Mai 1875 bei TZallon, ©. 572, bei Lohmann, ©. 149; Dekret vom 5. 
März 1877 bei Lohmann, ©. 158). MUebrigens hatte der Deputirte Bam-= 
berger jowol bei der zweiten ala auch bei der drittem Leſung des Geſetzes vom 
3. Juni 1874 in den Situngen der Nationalverfjammlung vom 5. Februar und 
vom 18. Mai die Befreiung der Yuden von der Sonntagsfeier im Namen der 
Gerechtigkeit und Toleranz und befonders auch deshalb beantragt, weil zahlreiche 
Juden vor der Fremdherrichaft aus Eljaß- Lothringen geflohen jeien. Der Antrag, 
der übrigens nach einander in dreifacher Gejtalt erfchien, wurde ohne lange Diskuffion, 
beionders im Hinblick auf die Gejeßgebung der Vereinigten Staaten, verworfen. Dan 
fand namentlich, daß was den Juden billig, den Diffidenten und Atheiften Recht 
fein würde (Tallon, ©. 270—278, 387). 

Dad Däniſche Geje vom 23. Mai 1873 über die Arbeit der Kinder und 
junge Leuten in den fabritmäßig betriebenen Werkftätten (Lohmann, ©. 156 ff.) 
verbietet in $ 5 die Arbeit der Kinder — nad) der jonftigen Ausdrucksweiſe des 
Gejeges der Kinder zwijchen 10 und 14 Jahren — an den Sonn und Feiertagen 
der Volkskirche. 

Für England Hatte zuerit das Gejeg vom 15. Auguft 1867 in Betreff der 
Ausdehnung der Fabrifgejehe in Art. 7 das Verbot der ©. für Kinder, junge Perjonen 
und frauen in den diefem Geſetze überhaupt unterworfenen Fabriken ausdrüdlich aus— 
geiprochen. In demjelben Sinne hatte das Werkjtätten-Regulirungsgejeß vom 21. Aug. 
1867 Art. 6 Nr. 4, verboten, daß Kinder, junge Perjonen und Frauen mit Handarbeit 
an Sonntagen oder nach zwei Uhr Nachmittags an Sonnabenden beichäftigt würden, 
ausgenommen die Fälle, wenn nicht mehr ala 5 Perſonen in derjelben Anjtalt beichäftigt 
find und wenn eine derartige Beichäftigung in der Erzeugung von Artikeln bejtehe, 
welche von der Fabrik im Detail verkauft würden, oder in Ausbeflferung von Artikeln 
gleicher Beichaffenheit (v. Bojanowski, Die Englifchen Fabrif- und Werkjtätten- 
gejeße, Berlin 1876, ©. 169 und 190, nebft den in den Noten gegebenen Erläute- 
rungen). Das Fabrik: und MWerkjtätten-Judengefeg vom 25. Mai 1871 Hat dann 
aber die Beichäftigung aller jungen jüdischen Perfonen und Frauen, nicht alfo auch 
der Kinder, an den Sonntagen freigegeben, unter der Vorausſetzung, daß der betr. 
Arbeitgeber gleichialle Jude ſei, das Gtabliffement Sonnabends bis Sonnenunter- 
gang gefchloffen und Sonntags für Grwerbazwede nicht geöffnet jei u. j. m. 
(vd. Bojanowafi, ©. 214). Endlich hat die Factory and Workshop Act vom 
27. Mai 1878 (41 Viet. Chap. 16) die genannten Beftimmungen wefentlich wieder: 
Holt; inäbejondere fpricht Art. 21 ganz allgemein den Grundjfaß aus: „A child, 
young person or woman shall not (save as is in this Act specially excepted) 
be employed on Sonday in a factory or workshop.“ Solche Ausnahmen find 
ziemlich zahlreich (Art. 22 und paſſim). Auch das Judenprivilegium iſt mit den 
obigen Beſchränkungen im Art. 51 im Weſentlichen wiederholt worden (Ausgabe der 
a and Workshop Act 1878; Annuaire de l6ögislation 6trangere, 1878, 

. 28, 31). 

Nach dem Schweizeriſchen REINE vom 23. März 1877, betr. die Arbeit 
in den Fabriken (Lohmann, Die Fabrikgeſetzgebung der Staaten des Europätjchen 
Kontinents, Berlin 1878), Art. 15 und 16 jollen Frauen unter feinen Umftänden 
zur ©. verwendet werden, während diejelbe jungen Leuten von 14—18 Jahren 
ausnahmsweije durch den Bundesrath gejtattet werden kann. 

2) Was ſodann die Sonntagsarbeit der Induftriearbeiter überhaupt betrifft, 
jo Hat zuerjt die Preußifche provisorische Verordnung mit Gejeßesfraft vom 9. Febr. 
1849 (fog. Heydtjche Novelle) in $ 49 Abſ. 2 den Sat aufgeltellt: „Zum Arbeiten 
an Sonn» und Feittagen ift, vorbehaltlich der amderweitigen Vereinbarung in 

v. Dolgenbdorff, Enc. II. Rechtälerilon III. 8, Aufl. 45 


706 Sonntagsarbeit, 


Dringlichkeitsfällen, Niemand verpflichtet.‘ Genau diejelbe Faſſung enthält die 
RGewO. 8 105 Abi. 2. Es waren zwar bei der zweiten Lejung in der Sigung 
des Reichstags vom 23. April 1869 weitergehende Anträge geitellt worden. Ins— 
beiondere hatte der Abg. dv. Brauchitſch (Genthin) folgende Faſſung vorgeichlagen : 
„Die Arbeit in gewerblichen Anjtalten it an Sonn- und Feſttagen verboten. Für 
Dringlichkeitställe find Ausnahmen, vorbehaltlich der Vereinbarung zwiichen Arbeit- 
geber und Arbeitnehmer, und mit Genehmigung der zuftändigen Behörde zuläffig. 
Den Yandesgejegen bleibt vorbehalten, für einzelne Arten von Fabriken allgemeine 
Ausnahmen herzuftellen“ ; während der Antrag des Abg. Fritzſche und Gen. dahin 
lautete: „Die regelmäßige Yohnarbeit an Sonn- und Feſttagen tjt verboten. Aus— 
genommen hiervon ift die Yohnarbeit bei den Berfehrsanitalten, Gajtwirthichaften 
aller Art, öffentlichen Erholungs» und Vergnügungsanftalten und beim Handel 
mit Yebensmitteln.‘ Indeſſen wurden beide Anträge, nachdem der Bundestommifjar 
Michaelis fich dagegen erflärt hatte, und nachdem der Abg. vd. Hennig ins— 
bejondere geltend gemacht hatte, daß der Zwangsftaat fich überlebt habe, verworfen, 
während der Abg. Braun jcherzweiie die Ausdehnung des Verbots der ©. auf Die 
MWochentage anheim gab. 

Die Frage fam dann von Neuem im Jahre 1878 bei Berathung der Gewerbe- 
nodelle zur Sprache. Damals hatte insbejondere die Kommiſſion einen viel jtärferen 
Schuß gegen den Mißbrauch der ©. für nothiwendig erklärt. In weientlicher Ueber: 
einftimmung mit dem Vorſchlage der Kommiſſion wurde auch bei der zweiten Lefung 
am 4. Mai 1878 mit 123 gegen 117 Stimmen folgende Faſſung angenommen: 
„Die Gewerbtreibenden fünnen die Arbeiter zum Arbeiten an Sonn- und Feſttagen 
nicht verpflichten; fie dürfen diejelben an Sonn= und Feſttagen nicht beſchäftigen 
in Fabrifen und bei Bauten.“ Die lebtere Beitimmung war übrigens durch eine 
Reihe von Ausnahmen durchbrochen. Nachdem indeſſen der Bundesrath (Hoffmann, 
Nieberding) dieje Faflung für unannehmbar erklärt hatte, weil dadurch in das den 
Yandesgeießgebungen gehörende Gebiet der Polizeivorjchriften eingegriffen werde, und 
außerdem auch ganze Induſtrien gefährdet werden fönnten, jo wurde bei der dritten 
Leſung am 18. Mai 1878 mit nur einer Stimme Mehrheit (132 : 131) der $ 105 
des Geſetzes vom 17. Juli 1878 nad) einem Antrage Ridert in der Faſſung der 
Regierungsvorlage angenommen, wonach derjelbe nunmehr dahin lautet: „Zum 
Arbeiten an Sonn und Feſttagen können die Gewerbtreibenden die Arbeiter nicht 
verpflichten. Arbeiten, welche nach der Natur des Gewerbebetriebs einen Aufſchub 
oder eine Unterbrechung nicht geitatten, Tallen unter die vorjtehende Beitimmung 
nicht.“ Das Refultat ift mithin: Der S 105 jchüßt zwar ebenjowol den Klein— 
betrieb ala den Großbetrieb, ein wirffamer Schuß liegt aber überhaupt nicht 
vor, denn diefer Schuß iſt nicht in die Sphäre des öffentlichen Nechts erhoben, 
fondern lediglich der privatrechtlichen Regulirung anheimgeftelt. Der Sat, daß 
der Arbeiter zum Arbeiten an Sonn= und Feſttagen nicht verpflichtet werden fann, 
it, wie der Abg. Stumm ganz richtig gejagt hat, vom praftiichen Standpunfte 
eine reine NRedensart; es fehlt eben an jeder wirklichen Willensfreiheit der Arbeit: 
nehmer, da ihre Zuftimmung im Hinblick auf die ſonſt ftattfindende Entlaffung 
nach jpätejtens 14 Tagen leicht zu erreichen fein wird; ganz abgejehen davon, daß 
dem Arbeitgeber naturgemäß die Beurtheilung darüber anheimgeftellt ift, ob gewifſe 
Arbeiten einen Aufſchub oder eine Unterbrechung geftatten. Die ganze Beitimmung 
bedeutet weiter Nichts, als daß der Arbeiter bei Verweigerung der ©. in der 
Regel nicht wegen Kontraktsbruchs civilrechtlich verantwortlich gemacht werden fann, 
auch dann nicht, wenn er fich ausdrücdlich verpflichtet hatte, da ſolche Verträge 
infoweit nichtig fein würden. 

Hinfichtlich der übrigen Länder gilt Folgendes. In Frankreich fehlt es an 
einem Schuße für die Erwachienen ganz. In England erjtredt fich die den Kindern 
und jugendlichen Perjonen gewährte Arbeitfreiheit auch auf die Frauen. Dagegen 


Sonntagsfeier. 707 


enthält das Schweizeriiche Bundesgeieg vom 23. März 1877, betr. die Arbeit in 
den Fabriken (Lohmann, Die Trabrifgeießgebung der Staaten des Europäiſchen 
Kontinents, Berlin 1878, ©. 70 ff.; Annuaire de legisl. comp. 1877, ©. 594), 
ein jehr weitgehendes Verbot. Insbeſondere lautet der Art. 14: ‚Die Arbeit an 
den Sonntagen ift, Nothfälle vorbehalten, unterfagt, ausgenommen in jolchen An— 
jtalten welche ihrer Natur nach ununterbrochenen Betrieb erfordern und Hierfür die 
in Art. 13 vorgejehene Bewilligung des Bundesraths erlangt haben.“ Auch in den 
Anjtalten diefer Art muß für jeden Arbeiter der zweite Sonntag frei bleiben. 
Der Stantonalgejeßgebung fteht frei, weitere Feſttage zu beitimmen, an denen die 
Fabrifarbeit wie an den Sonntagen unterfagt jein ſoll. Dieje Feſttage dürfen 
die Zahl acht im Jahr nicht überfteigen. Immerhin können ſolche Feiertage durch 
die Kantonalgejeßgebung nur für die betr. Konzeſſionsgenoſſen als verbindlich 
erflärt werden. Wer an weiteren firchlichen Feiertagen nicht arbeiten will, joll 


wegen Verweigerung der Arbeit nicht gebüßt werden dürfen. 
Lit.: Vergl. diejelbe hinter d. Art. Yabrifgejeggebung. Die neuefte vergleichende 


Darftellung der perichiedenen Geſetzgebungen hinfichtlich der Frauen: und Kinderarbeit: Hubert- 
Valleroux, Etude sur les diverses legislations concernant le travail des enfants et des 


femmes employés dans l’industrie (Bullet. de legislation comparee T. IX. Paris 1880, p. 
195 ss., be. p. 208 ss.). Ernft Meier. 


Sonntagsfeier. Was zunächſt die Feier der jtaatlichen Behörden und 
Anftalten betrifft, jo wird dieſe theils durch Geſetze, theils durch Verordnungen, 
Reglements und Inſtruktionen geregelt. Für Deutichland kommen in erjter Reihe 
die Beitimmungen der Reichsjuitizgefege, insbejondere der CPO. SS 171, 193, 
200, 681; jowie der StraiPD. 88 37, 43 in Betradht. Für Frankreich bildet in 
diefer Hinficht das Gejeg vom 17. therm. VIII noch immer die Grundlage, an 
welche fich die Bejtimmungen der Codes anjchließen. 

Was jodann die Freier der Privatperfonen betrifft, jo wird Dieje theils 
durch Geſetze und landesherrliche Verordnungen, theils durch ergänzende Polizei— 
jtrafverordnungen der Behörden, ſowol der Gentrale als der Provinzialbehörden, 
theils endlich durch bloße Polizeiftrafverordnungen der Behörden geregelt. Die 
ausschließlich geießliche Regelung findet fih in Dänemart in Gemäßheit des 
Gejeges vom 7. April 1876 über die öffentliche Ruhe während der Feſttage 
(Annuaire de legisi. 1876, ©. 603 ff.). Das gemiichte Syſtem gilt zunächit 
in Bayern, infofen dort auf Grund gejeglicher Ermächtigung (jet Bol. 
Straf. vom 26. Dezbr. 1871, Art. I. Nr. 5) eine KHönigl. Verordnung vom 
30. Juli 1862, betr. die freier der Sonn- und Feſttage, neben der jedoch noch orts— 
polizeiliche Vorjchriiten erlaffen werden fünnen, die Materie ordnet (Reger, Das 
in Bayern geltende allgemeine Polizeiftraigefeßbudh, Ansbach 1880, ©. 64 ff., 
278 ff.). Ganz ähnlich verhält es fich in Baden, wo auf Grund des Polizeijtrai- 
gejeßes vom 31. Dftbr. 1863 $ 69 Nr. 2 eine landesherrliche Verordnung vom 
8. Novbr. 1865 erlaflen worden iſt, an deren Stelle inzwiſchen die Verordnung 
vom 28. Januar 1869 getreten ift, wo aber die für gewiſſe lokale Verhältnifie 
gebotenen Spezialanordnungen den Bezirks: und Ortöpolizeibehörden zugewieſen find 
(cJolly-Eiſenlohr, Das PWolizeiftraigejegbuch für das Großh. Baden, Heidel— 
berg 1867, ©. 152 ff.). Für Sachjen ijt das Geſetz, betr. die Sonn», Feſt- und 
Bußtage, vom 10. Septbr. 1870 und die Ausführungsverordnung von demfelben Tage 
maßgebend (Xeuthold, Das Königl. Sächſiſche Verwaltungsrecht, Xeipzig 1878, 
©. 344 ff.). Endlich in Frankreich war bis vor Kurzem das Geſetz vom 18. Novbr. 
1814, welches durch Yofalverordnungen ergänzt werden konnte, in Geltung; daflelbe 
ift jedoch jammt allen auf Grund deflelben ergangenen, Verordnungen durch das Geſetz 
vom 12. Juli 1880 aufgehoben, jo daß irgendwelche Vorichriiten über Sonntags: 
feier, abgejehen von dem erwähnten Gejeße vom 17. therm. VIII und von dem im 
Art. Sonntagsarbeit erwähnten Gejege vom 3. Juni 1874 (Verbot der Kinder: 

45 * 


708 Sonntagsfeier. 


arbeit 2.) nicht beftehen (Blod, Diet. de l’administration, 2=° edit. 1877 und 
Supplement 1880 s. v. Dimanche; Block, Dict. general de la politique, 2” 
edit. 1873, s. v. Dimanche). 

In Preußen war jchon durch den letzten Abi. des $ 40 und durch den Schluß: 
ja des $ 45 der Verordnung vom 26. Dezbr. 1808 den Regierungen die Berugnif 
zum Grlaß allgemeiner Verbote mit Strafbeitimmungen beigelegt worden, die jedod 
der höheren Genehmigung beduriten und feine ftärfere Strafe ala in den Gefehen 
verhängen durften. Der $ 11 der Regierungsinftruftion vom 23. Oftbr. 1817 
(welche im Anhang die SS 40 und 45 aufgenommen hat) formulirt diefe Befugniß 
der Regierungen in folgender Weife: Allgemeine Berbote und Strafbeitimmungen 
dürfen die Regierungen nicht ohme höhere Genehmigung erlaflen, es jei denn, daß 
dad Verbot an fich ſchon durch ein Geſetz feftiteht, in leßterem aber die Straie 
nicht ausdrüdlich beitimmt ift. In diefem Falle kann fie innerhalb der Grenzen 
des Allg. ER. Thl. I. Tit. 20 SS 83, 35 und 240 die Strafe (50 Thaler 
oder 6 Wochen Gefängniß) beitimmen und bekannt machen. Zur Bejeitigung von 
Zweifeln, welche in einzelnen Zandestheilen über die Berugniß der Regierungen, durd) 
polizeiliche Beltimmungen die äußere Heilighaltung der Sonn: und Feſttage zu 
bewahren, und deren Befolgung durch Strafverbote zu fichern, entjtanden waren, hat 
dann die in der Geſetzſammlung publizirte Habinetsordre vom 7. Febr. 1837 den 
Regierungen diefe Berugniß innerhalb der Grenzen des $ 11 der Regierungsinitruf: 
tion ausdrüdlich beigelegt. Es ift nun aber unrichtig, wie vielfach in der Literatur 
und in der Rechtiprechung angenommen ift, die Kabinetsordre von 1837 noch als 
die Grundlage des jebigen Polizeiftrafverordnungsrechts in Bezug auf die Sonn: 
tagsfeier zu betrachten. Vielmehr ift dafür gegenwärtig einzig und allein das 
Geſetz über die Polizeiverwaltung vom 11. März 1850 maßgebend, mit demjenigen 
Modifikationen, welche durch den $ 76 der Provinzialverordnung vom 29. Juni 1875 
und durch die SS 72—-81 des Gefehes über die Organifation der allgemeinen 
Yandesverwaltung vom 26. Juli 1880 herbeigeführt worden find; wie fich denn 
auch feine der mir befannt gewordenen Polizeiftrafverordnungen jeit dem Erlaß des 
Geſetzes von 1850 noch auf die Habinetsordre von 1837 berufen hat. Daraus 
folgt num inäbejondere, daß der Erlaß folcher Verordnungen auf die Bezirfsregie 
rungen nicht mehr bejchränft ift, denen dieſe Befugniß jogar in den fog. Kreis 
ordnungs- Provinzen bereits gänzlich genommen ift. Es liegt aber auch fein Grumd 
vor, dieje Berugniß, wie fie den Oberpräfidenten und jeit dem 1. April den Regie 
rungapräfidenten unzweifelhaft zuiteht, den Kreis und Ortöpolizeibehörden an fi 
abzufprechen. Außerdem darf auch bei der Frage, ob eine folche Verordnung fh 
in ihren gejeglichen Grenzen gehalten hat, lediglich das Geje von 1850 zu Grunde 
gelegt, nicht aber aus dem Wortlaute der Kabinetsordre von 1837 argumentirt 
werben. 

Der Inhalt diefer Verordnungen in den verichiedenen Landestheilen ſtimmt im 
Ganzen überein — Sammlung der Polizeiverordnungen für Berlin, auf Grund amt: 
licher Quellen herausgegeben, Berlin 1878, ©. 89 ff.; v. Wichert, Die Polizei— 
verordnnung des Regierungsbezirtes Potsdam, Berlin 1880 (S. 303, 336 ff.); Die 
Verordnungen im Merjeburger Amtsblatt vom 14. Juli 1818 (S. 246 ff.), vom 
12. März 1838 (©. 95), vom 29. März 1852 (S. 132), vom 19. Mai 1854 
(S. 120), vom 13. Mai 1868 (S. 148); die in den älteren diefer Verordnungen 
(Merjeburg vom 14. Juni 1818 und 12. März 1838) enthaltenen Vorſchriften über 
das Schließen der Kirchenthüren und die äußere Ordnung beim Gottesdienite, 
find ſpäter nicht wiederholt; jeit 1854 hatte jchon eine Verftändigung über die 
Gleihmäßigkeit des Inhalts mit den beiden anderen Regierungen der Provinzen 
ſtattgefunden. 

Die gegenwärtig für den ganzen Umfang der Provinz Sachſen gültige Polizei— 
verordnung, betr. die äußere Heilighaltung der Sonn= und Feſttage, die vom Ober: 


Sortimentsbuhhandel. 709 


präfidenten mit Zuftimmung des Provinzialraths unterm 20. März 1879 erlafjen 
worden ift (Merſeburger Amtsbl. S. 199 ff.), verbietet zunächit ſowol die öffent: 
lichen und öffentlich bemerfbaren gewerblichen Arbeiten, als auch alle geräujchvollen 
derartigen Arbeiten innerhalb der Käufer und Betriebaftätten, aljo insbejondere die 
Feld» und Forftarbeiten, dad Treiben von Vieh mit Ausnahme des Weideviehs, 
das Auf und Abladen von Frachtfuhrwerken, insbeſondere auf den öffentlichen Straßen, 
den Betrieb derjenigen Handwerfäarbeiten, welche mit befonderem Geräujch verbunden 
find (Klempner, Schmiede, Schloffer, Arbeiten von Bauausführungen aller Art, die 
Fortſetzung des Betriebes, ferner geräufchvolle Reparaturarbeiten in den Fabriken, endlich 
außergewöhnlich geräufchvollen Straßenverkehr (Rollwagen, Wagen mit leeren Fäſſern, 
mit Gifenjtangen) ; indefien find die Ortäpolizeibehörden ermächtigt, in gewiſſen 
Fällen zu dispenfiren, während in Nothfällen eine jolche Dispenfation nicht einmal 
nothwendig iſt. Außerdem unterliegt der öffentliche Handelsverkehr gewiſſen Be— 
ihränfungen, die fich theild auf den ganzen Tag, theils nur auf die Zeit des 
Gottesdienſts beziehen. Daran fchließen fich Verbote über die Auszahlung des 
* an Tagearbeiter und Handwerker, über Verſammlungen, über Konzerte, über 
agden. 

Hinſichtlich der Strafſanktionen beſteht inſofern ein Dualismus, als ſich dieſelben 
theils nach den für die Verletzung von Polizeiſtrafverordnungen beſtehenden Vor— 
ſchriften, theils nach anderen Landes- reſp. reichsgeſetzlichen Normen beſtimmen. Im 
Anſchluß an das Preuß. StrafGB. 8 340 Nr. 8 hat insbeſondere das RStrafGB. 
8 866 Nr. 1 Gelditrafe bis 60 Mark oder Haft bis 14 Tagen Demjenigen ans 
gedroht, der den gegen die Störung der Feier der Sonn= und Feittage erlafjenen 
Anordnungen zuwiderhandelt. Der Schub des RStraf®B. bezieht fich mithin nur 
auf folche Anordnungen, welche eine Störung der Sonntagäfeier verbieten, die jeden- 
falla weiter greift, als eine Störung des Gottesdienjts, wie es denn auch für die 
Beitrafung blos darauf anfommt, daß folchen Anordnungen zuwidergehandelt it, 
während es gleichgültig iſt, ob eine Störung in concreto wirflich jtattgerunden 
habe. Diefer Dualismus ift num aber für Preußen wenigjtens injofern bejeitigt, 
als das Organifationsgefe vom 26. Juli 1880 8 73 den Oberpräfidenten, welche 
in den leßteren Jahren jolche Verordnungen vorzugsweife erlafjen haben, ein Strafe 
marimum von 60 Mark gleichtalla beigelegt hat; es wird deshalb infoweit fernerhin 
ohne Intereſſe fein, im gerichtlichen Erfenntniffen die ohnehin jchwierige Frage zu 
erörtern, ob eine Verordnung fich innerhalb des Rahmens des $ 366 Nr. 1 des 
RStrafGB. gehalten habe. 

Lit.: a lag, Die —— Deutſchlands über Sonntagsfeier u. ſ. w, in Tüb. 
—— 1880, ©. Win England: Gneift, Selfgovernment, 3. Aufl. 1871, 

248. — — — J legisl. Ts, ©. 9. — Ueber die Vereinigten Staaten: Rütti: 
mann, Kirche und Staat in Nordamerita, Züri 1871, ©. 38 ff. — Ueber die Stellun ber 
5* Jesoblon, 2 Das rg gg gt Preuß. rer Halle 1866, ©. 467 

ogt, Kirchen: und Eherecht, Berlin 1857, 0 fi. — Gutachten des Evan el. Öberfitchen- 
9— v. 26. Sept. 1880 über die Beton ns Sonn: und tage. (Alten ft. 1. 62.) — 

Verf. d. des Evangl. Oberkirchenraths, betr. bie Sonntageruhbe und Sonntagäheiligung, 
v. 7. März nu nebft DENE über die Sonntagäfrage ( irchl. dert u. Verorbnnungs: 
blatt, Jahrg. I ‚1876/77, & ernst Meier. 


Sortimentsbudhhandel ift derjenige Zweig des Buchhandels, welcher fich 
mit dem PVertriebe der vom Verleger (f. d. Art. Verlagsbuchhandel) ge 
lieferten buchhändlerischen Artikel befaßt. Sein Gebiet iſt alfo der eigentlich fauf- 
männifche Theil des buchhändleriichen Betriebes. Die Grundſätze vom Waaren- 
handel find indeilen bei der eigenthümlichen Natur der buchhändleriichen Waare auf 
den ©. nicht chlechthin anwendbar. Im Zufammenhang mit einer bewunderungs- 
würdigen Organijation des Deutichen Buchhandels, tür deſſen gemeinfame 
Intereſſen der jeit 1838 als anerfannte Korporation beitehende Börjenverein 
der Deutihen Buchhändler den Mittelpunft bildet, Haben ſich beitimmte 


710 Sortimentsbuhhandel. 


Geſchäftsformen für den Verkehr zwiſchen den Verlegern bzw. deren Manda— 
taren, den jog. „Kommiſſionären“, und den Sortimentsbuchhändlern ent 
widelt, deren rechtliche Natur gleichwol feineswegs unzweifelhaft ift. Die Geich- 
gebung hat fich jedoch Hiermit bisher faſt gar nicht beichäftigt. Das Allg. Deutiche 
HGB. beichränft fich auf die Beitimmung, daß (die Verlagägeichäfte, ſowie) bie 
jonftigen Gejchäfte des Buch- und Kunjthandels, wenn fie gewerbemäßig betrieben 
werden, Handelägejchäite jeien. Ebenſo fehlt es an umfafjenden wifjenichaft: 
lichen Bearbeitungen. Die in einigen Buchhändlerfonventionen umd in Privatarbeiten 
bzw. Ujanzenfammlungen enthaltenen Rechtögrundfäße find weder erichöpfend, noch 
allgemein anerkannt. Wird einer Sortimentsbuchhandlung ein Wert „auf fefte 
Rechnung‘ („Tejt‘‘) oder ‚gegen baar“ (gegen Nachnahme des Betrags) geliefert, jo 
find die Verhältniſſe freilich vom Waarenhandel juriftifch nicht verichieden. Der 
Verleger verkauft an den Sortimentsbuchhändler, und dieſer an das Publikum. 
Insbeſondere iſt das Verhältni von Subitribenten auf Sammelwerte zum Sorti— 
mentshändler fein anderes ala zum Verleger. Das Abonnement auf Zeitichrüten 
ꝛc. fällt unter den „Lieferungskauf“; der Zeitjchriitendebit der Poſtan— 
ftalten ericheint ala Verbindung von Frachtgeichäften mit Mandatsgeichäften nad 
Art der buchhändlerifchen Kommiffionsgeichäfte (jo das ROHG.). — Die Zweifel 
im Gebiet des ©. beziehen fih auf die beitellte oder unbejtellte Ueber: 
fendung don Novitäten (pro novitate) oder auf Rüdjendung (A com 
dition), wobei zu bemerfen iſt, daß jede Beitellung, welche nicht ausdrüdlid 
A condition gemacht wird, als feſte gilt. Nach altem Geichäftsgebrauche nämlich 
werden neu erjchienene Berlagsartitel entweder auf Beitellung (durch ſog. „Ber: 
langzettel‘‘ oder Ausfüllung der von den Berlegern eingefandten „Wahlzettel“) 
oder auf generelles Anerbieten der Annahme oder auch ohne diejes den Sortimente 
buchhändlern durch VBermittelung der an den Hauptftapelpläßen des Deutjchen Buchhandels 
(Leipzig, wo auch eine „Deutſche Buchhändlerbörje‘‘ beiteht, in zweiter Linie Stuttgart, 
auch Berlin) domizilirten „Kommiſſionäre“ zum Weiterverkauf überfandt. Die Abrechnung 
über die in Jahresrechnung (vd. 1. Januar bis 31. Dezember) empfangenen Bücher erfolgt in 
der nächſten Oftermeife (als letzter Zahltag gilt der Mittwoch vor dem Simmel: 
fahrtsfeft), und zwar entweder perjönlich oder durch Vermittelung der Kommiſſionäre 
(welche im Auftrage, für Rechnung und im Namen ihrer Kommittenten handeln, 
alfo nicht ‚„‚Kommiffionsgeichäfte‘‘ im Sinne der Art. 360 ff. des HGB. betreiben). 
Der Sortimentsbuchhändfer hat aladann für alle diejenigen im vergangenen 
Kalenderjahre empfangenen Artikel Zahlung zu leiften, die er nicht etwa (foweit er 
fie A condition empfangen) zurückſchickt („remittirt'') hat, oder deren Zurückbehal— 
tung zu weiterem Vertriebe („Dispofition“ ; die Artikel ſelbſt figuriren als 
„Disponenda‘) ihm nicht vom Verleger ausnahmsweiſe und bis auf Widerruf ge 
jtattet worden ift, was häufig bei jpät verfandten Novitäten geſchieht. Der Ge 
winn des Sortimentshändlers beim Weiterverfauf beiteht in dem vom Verleger (in 
der Regel in der Höhe von 25 Prozent) bewilligten Rabatt, für welchen er die 
Koiten der DVerfendung und Rückſendung (von dem Wohnſitze des Kommiffionärs 
bis zu dem des Sortimentsbuchhändler® und umgekehrt) zu tragen hat. Ten 
Yadenpreis darf er beim MWeiterverfauf nicht überichreiten. Die Gauptiragen 
find nun: Als weſſen Gigenthum und auf weſſen Gefahr lagen Disponenden, 
Novitäten und andere A condition-Sendungen des laufenden Jahres in den Sorti- 
mentöhandlungen? Zur Beantwortung werden die verfchiedenften juriftiichen Kon— 
itruftionen unternommen. Bald legt man ein Kommiſſionsgeſchäft (v. Gerber) 
oder ein Mandat (Hillebrand, Gengler), bald Kauf unter Reiolutivbe 
dingung (Bericht des Buchhändlers Liejching an den Börfenverein — 1844 —; 
Schürmann) oder Suspenfivbedingung (Hecht) unter oder greift auf den 
römischerechtlichen „Innominatvertrag” zurüd (DO. v. Wächter). Am meiſten Aehn- 
lichkeit hat das Geichäit unverfennbar mit dem Trödelvertrage (contractus aesti- 


Soto. 711 


matorius); indeſſen ift anzuerkennen, daß dazu die Eigenthümlichkeit des Deutjchen 
Buchhandel, wonach der Berleger den Ladenpreis bindend normirt, nicht 
ftimmen will. Auch Buhl bezeichnet das Konditionsgeſchäft ala einen durch die 
buchhändleriſche Uſanz eigenthümlich entwidelten und zunächſt nach ihr zu be= 
urtheilenden Zrödelvertrag (mit facultas alternativa) und läßt den Sortimenter daher 
unbedingt für Zufall haften, erkennt jedoch jelbit an, daß dies der „Billigfeit“ 
wenig entjpricht, und billigt deshalb die kaſuiſtiſchen Unterfcheidungen der Ueberein— 
funft von 1847. Das Richtigfte ift wol, (mit Endemann) ein neues und eigen- 
thümliche® (auf der einen Seite mit dem „Kauf nach Belieben“, auf der anderen 
mit dem Trödelvertrage verwandtes) Geichäft anzunehmen, wodurch der Sortiments- 
buchhändler das Recht und die Verpflichtung überfommt, das Werk entweder zu 
beſtimmtem Preife in eigenem Namen und Intereſſe abzujegen und aladann dafür 
in bejtimmter Zeit den sejtgefeßten Preis an den Verleger zu zahlen oder zu diejer 
Zeit das Werk zurüdzulieiern. Gigenthümer des unverfauiten Werkes bleibt 
bei diejer Auffaffung der Verleger und hat daher, wie übrigens faft allgemein an— 
genommen wird, ein VBindifationsreht im Konkurje des Sortimentsbuch- 
händlers. Ebenſo iſt e8 eine Konſequenz, daß der Verleger bis zur Erklärung des 
Sortimentsbuchhändlerd, das Buch behalten zu wollen, die Gefahr des fajuellen 
Untergangs trägt, wie er fich nicht darüber bejchweren kann, wenn das remittirte 
Buch in Folge der Lagerung oder der Verfendung an das Publikum zur Anficht 
und Auswahl die urfprüngliche äußerliche Mafellofigkeit eingebüßt hat. Indeſſen 
hat die (auf Grund des Liejching’schen Berichts) am 2. Mai 1847 vom Börien- 
verein entworfene Webereinkunft, welcher freilich nicht viel über 500 Firmen  bei- 
getreten find (während der Verein über 900 Mitglieder zählt und mit Leipzig mehr 
als 3000 Firmen in Verbindung ftehen), das Prinzip der unbedingten Haftung des 
Empfängers für allen Schaden bei Neuigkeiten, Dieponenden und verlangten à con- 
dition-Sendungen anerkannt. Nur bei Berluften, gegen welche fich der Empfänger 
durch feine VBerficherung jchügen konnte, joll die Haftpflicht nicht eintreten. Auch 
bei der entgegengejeßten Auffaſſung haftet übrigens der Sortimentsbuchhändler für 
Sorgfalt in der Aufbewahrung. Eine allgemeine Verpflichtung zur Aſſe— 
kuranz läßt fich nicht behaupten; feinesfalls trägt der Sortimentsbuchhändler die 
Koften derjelben. Uebergiebt der Sortimentsbuchhändler die Artikel an einen 
anderen Sortimentsbuchhändler zum Verkauf, jo trägt jener die Gefahr. Cine be- 
iondere Beitimmung des Berliner und des Leipziger PVerlegervereins ift es, daß, 
wenn ein vom Derleger direft oder im Buchhändlerbörjenblatte zurüdverlangter 
Dispofitionsartifel nicht binnen zwei Monaten remittirt wird, der Sortimentsbuch- 
händler nicht mehr remittiren darf, fjondern zur nächjten DOftermeffe Zahlung zu 
leiften hat. Ein eigentlicher ©. in Deutichem Sinne mit Remittenden, Disponenden 
ıc. ift weder in England noch in frankreich befannt. Der Holländiſche 
Buchhandel kennt Sendungen pro novitate und A condition, aber feine Disponenden. 
Gigb. u. Lit.: Allg. Deutiches HGB. Art. 272, Ziff. 5.— Gef. betr. d. Urheberr. ꝛc. vd. 
11. Zum 1870, $ 21. — Schellwiß in Weiske's Nechtäler. s. v. Buchhandel Bd. II. 
S. 495-501. — Wengler, Ufanzencoder f. Buchhändler (1859). — D. v. Wächter, Das 
Rechtsverhältniß zwiſchen d. Verleger und dem Sortimentsbuchhändler über die à condition 
gegebenen Artifel, bei Goldſchmidt, zu. f. d. geſ. H.R. II. ©. 479—544. — Enbe: 
mann, Dad Deutihe H.R., 3. Aufl., S. 831, 832. — Schürmann, Die Ujanzen des 
Deutichen Buchhandels und darüber: as bei Goldjhmidt u. Saband, Zeitichrift 
f. d. geſ. H.R. XU. ©. 319. — Buhl, Das Konditionägefhäft im Deutichen Buchhandel, daſ. 
XXX. ©. 142 fi. — Allg. Geichäftänormen d. Leipziger u. db. Berliner Verleger-Vereins, 
dal. XVII. ©. 176, 177. — Börfenorbnung f. d. Teütſche Buchhänblerbörfe in Leipzig v. 
5. April 1870, daſ. XVIIL ©. 178. — F. 9. Meyer, Organifation u. Geichäftäbetrieb b 
Deutichen Buchhandels, 2. Aufl. (1874). — Erk. d. D.Ger. Wolfenbüttel, daſ. ©. 285. — 
Entſch. d. ROHG. XXIU. ©. 9 ff. R. Koch. 
Soto, Dominicus, 5 1494 zu Segovia, wurde Dominikaner, lehrte zu 
Salamanca, war auf d. Trienter Konzil, trat troß Ernennung zum Erzbiſchof von 


712 Soto — Sparlafien. 


Segovia ald Prior in Salamanca ein, vertheidigte mit Las Caſas die Sache der 
amerifanijchen Eingeborenen vor Karl V., T 15. XI. 1560. 
Er jdrieb: De justitia et jure libri x, Salm. 1556, Venet. ER Lugd. 1582. 
git.: Cauchy, Droit maritime international, II. 4. — Walter, —. u. 
Politik, D — erzo 8 Encytl. XIV. 563. — Kaltenborn, Dorläufer d et 
1848, eı Yancı, 1 I. 176. — Travers Twiss ( - Magazine 187 
p. 140). — ee tudien, I . 168, 467. Zeihmann. 


Soto, Petrus de, Belaunter Dominikaner, Lehrer der Theologie am Seminar 
in Dillingen, jpäter in England, Lehrer in Orford, dann auf dem Trienter Konzil, 
h gan eb chris Vind. 1548 u. 4. Encytl. 

rieb: Instit, christi Aug. Vind. 1 i & a. 0. 
D. 563, 41 ann u >” derung I Euren 

Spangenberg, Grnft Peter Johannes, & 6. VIII. 1784 zu Göttingen, 

wurde 1811 Generaladvofat in Hamburg, 1814 Afjefjor in Celle, 1816 Hojrath, 


1824 am Oberappellationsgeriht, 1831 Beifiger des Geheimrathätollegiums in 
Hannover, T 15. II. 1833. 

Scdriften: Diss. hist. feminarum Rom. civilis specimen, Gott. 1806. — Instit. jur. 
civ. Napoleoni, Gott. 1808. — Komm. über den Code ap. Gött. 1810, 1811. — Einl. in 
das Röm. Juftin. Rechtsbuch oder corp. jur. civ. rom., Hann. 1817. — Samml. d. Berordn 
u. Ausichreiben für Hannover, Hann. 1819—24. — lleber die fittlicde u. bürgerl. Befferung 
ber Verbrecher mitteld bes Pönitentiarfuftems, Landsh. 1821. — Die Minnehöfe bes Mittel: 
alterö u. ihre ns en ober a aa Leipzig 1821. — Beitrag zu b. Deutſchen Recht 
des Mittelalter, Halle 1 Cujas u. feine Zeitgenofjen, Leipzig 1822. — Juris 
Rom. tabulae negotiorum —— modo in aere modo in marmore, modo in charta 
superstites, Lips. 1823. — Lehre vom Urtundenbeweije, Heidelberg 1827. — Komm. zur 


Sc, — für die Untergerichte Hannovers, Hannover 18 — Das OApp.Ger. 
elle 

— Neuer Nekrolog der Deutſchen XL 12—17. — Schulte, Geſchichte 
me Teihmann. 


"Sharkaflen find öffentliche Kreditanjtalten, welche unbemittelten Perſonen 
zum Sparen Gelegenheit geben, indem fie Geld innerhalb gewifler (Marimal- und 
Minimal-)Grenzen zinsbar annehmen und bei Rüdforderung ſofort oder nach furzer 
Friſt ganz oder in Theilbeträgen zurüdzahlen. Die Mittel zur Verzinfung jowie 
zur Dedung der Berwaltungstoften gewinnen fie durch Anlage der eingehenden 
Gelder zu höheren Zinjen in ficheren Wechjeln, Effekten, Hypotheken und dergl. 
Wird hierbei auch zumeilen ein Ueberſchuß erreicht, fo ift doch die Erzielung eines 
Gewinnes nicht Zwed des Unternehmens (das fich anjamımelnde Vermögen der Ans 
ftalt dient daher nur als Neferveiond). Gerade hierdurch untericheiden fich die ©. 
von den zahlreichen Depofitenbanten, welche gleichfalls verzinsliche Einlagen ans 
nehmen, um fie in ihrem Geſchäft zu verwenden. Weberhaupt tritt bei den ©. die 
Anlage der eingehenden Gelder als bloße Mittel zum Zwede hinter diefem, der 
Berdrderung des Sparen der ärmeren Klaflen, zurüd (daher die meiſtens ziemlich 
eng gegriffene Darimalgrenze der Einlagen). Um des jozialpolitiichen Zweckes willen 
jtehen die ©. häufig unter Verwaltung der Kommunen und ihre Verpflichtungen 
unter der Garantie der leßteren oder gar des Staates, welcher überall eine gewiſſe 
Dpberaufficht übt. Der reine Sparzwed unterjcheidet fie auch von den Kaſſen 
mannigfachjter Art, welche mit der Anleitung zum Sparen den Zwed einer Ber: 
ficherung gegen bejtimmte Unglüdställe verbinden (Sterbefafjen, Hülfskaſſen u. dgl. m.). 
Das Sparkaſſenweſen ift ziemlich neuen Urſprungs. Die Deutihen ©. find die 
älteften. Die erfte ift die ©. zu Hamburg (1778); dann folgen Oldenburg (1786), 
Kiel (1796); Hierauf erſt (1798) England (die Friendly society zu Sottenham 
von Miß Walefield). Dagegen jtammen die erjten S. Frankreichs, Preußens und 
Deiterreichs aus den Jahren 1818 und 1819, womit freilich die eigentliche Ent- 
widelung des Sparkaſſenweſens erſt beginnt. Gegenwärtig fommen nach der dem 
legten internationalen jtatiftiichen Kongreß (zu Budapeft — 1876) vorgelegten 
„Statistique internationale des caisses d’&pargne‘‘ (von Bodio) auf den Kopf der 
Bevölkerung an Spareinlagen in der Schweiz 108 Fyres., in Großbritannien, Deutich- 


Spartafien. 713 


land, Oeſterreich-Ungarn je 48 bezw. 49 Fres., Italien 22, Frankreich (wo die 
üblen Erfahrungen der Jahre 1848—1850 lähmend gewirkt haben) nur 14 res. 
u. ſ. w. — Die Gejeßgebung über die ©. beichäftigt fich mit der Entftehung 
berjelben (wofür meiſtens Staatögenehmigung vorgejchrieben tft), ihrer Organijation 
(juriftifche Perfönlichkeit, Vertretung nach Außen, Aufficht u. ſ. w.) jowie mit ihren 
Beziehungen zu den betheiligten Kreifen, Gemeinden u. ſ. w. (Garantie) und forgt 
endlich durch reglementariiche Beitimmungen für die Bewahrung des eigentlichen 
Zweds der ©. und die Sicherung der Ginlagen. Dabei bleibt der Autonomie ein 
mehr oder minder weiter Spielraum. Die Deutſche Reihögejehgebung hat 
fi) bisher mit den ©. nicht befaßt. Dagegen ift in Preußen (welched mehr als 
1000 ©. zählt) durch das für den ganzen damaligen Umfang des Staats erlafjene 
Reglement vom 12. Dezember 1838 die Einrichtung der unter der Vertretung der 
Gemeinden zu errichtenden S. geregelt. Hiernach, jowie nach dem fog. Kompetenz- 
gejege vom 26. Juli 1876 fteht die Berugniß zur Genehmigung der ©. fowie zur 
Beitätigung der Statuten von Kreid- und Gemeinde-S. dem Oberpräfidenten zu, 
welcher diejelbe nur unter Zuftimmung des Provinzialraths verfagen darf. Die 
Aufficht über die Verwaltung führen die geordneten Kommunalauffichtsorgane. Für 
die Hohenzollernſchen Lande bejteht eine gemeinfchaftliche Spar- und Leihkaſſe mit 
den Rechten einer Öffentlichen Behörde. — Sehr auägebildet iſt die Gejeggebung 
über ©. in Frankreich (Gejeße von 1835, 1845, 1852, 1875). Die Englijche 
Gejeßgebung beruht auf einem Geſetz von 1817. Noch bedeutungsvoller aber ijt das 
Gej. von 1861, welches (unter Sladjtone) die Poſt-S. ins Leben rief (Post-office- 
saving-banks), welche Einlagen von 1 ©&h. ab bis zu 30 Litr. (pro Jahr) annehmen 
und mit 2'/, Prozent jährlich verzinfen. Der Gedanke hat in Belgien (jeit 1870), 
Italien (1876), den Niederlanden (1880) und Japan (ſeit 1875), neuerdings 
auh in Frankreich Nahahmung gefunden. Auch die oberiten Behörden des 
Deutſchen Reichs find demjelben bereit? näher getreten. Cine verwandte Ein— 
rihtung find die Belgiſchen Schul-S. (jeit 1865), wodurch die Jugend zum 
Sparen angehalten wird. 

Die Gejchäfte der ©. fallen hauptjächlich unter den Begriff des Darlehns. 
Ueber die empfangenen Ginlagen werden regelmäßig Quittungen in Form von Gin- 
trägen in Bücher ausgeftellt, welche zu YZufchreibungen und Abjchreibungen von 
Kapital und Zinſen eingerichtet find. Diefe „Sparkaſſenbücher“ find Werth: 
papiere (Effekten — j. diejen Art.), und zwar, wenn nicht reine, doch in der Regel 
jog. unvolltommene Inhaberpapiere („Legitimationspapiere“), dergeitalt, daß die ©. 
an jeden Inhaber ohne weitere Legitimationsprüfung zu zahlen berechtigt ift 
(ſo 3. B. nad) dem Preuß. Negl. von 1838). Da wo letteres nach den Statuten 
oder den den Büchern vorgedrudten Beitimmungen der Fall ift, find die Bücher 
vindifabel; auch fünnen fie im Falle des Abhandenkommens gerichtlich” amortifirt 
(3. B. nad) dem Preuß. Regl.), aber nicht außer Kurs gejeßt werden. Die 
Form der Schenkung oder jonftigen Veräußerung von Sparkafjenbüchern richtet fich 
jedoch, wenigſtens nach der in der Preußiſchen Praxis herrſchenden Auffaſſung (anderer 
Anficht: C. F. Koch und Fr. Förſter) nad den Grundjäßen des Obligationene, 
nicht des Sachenrecht (Geffion, nicht bloße Tradition; nad) Preuß. Recht ift alfo bei 
— von mehr als 150 Mark Schriftform eriorberlich). 

Kit: Konft. Schmidt und Brämer, Das Sparfafjenweien in Tr —— 
— — — uelin et Guillaumin, Dict. de ’&conomie pol. (Paris 1873), I. p. 246 s 

v. caisse d’epargne). — Ch. Dupin, Histoire et avenir des caisses d’&pargne de 
— (Paris 1844). — I. Tidd-Pratt, The history of Saving banks in England ete. 
(London 1842). — Elfter, Die Poftiparkaffen a 1 ar — — En in den Jahrbüchern 
für Nationalölonomie und Statiftit XVI. (1871) ©. 363 ff. ilhelmi, e Schul⸗ 
ge (Leipzig 1877), — Meyer, Deutiches * oo (Epz. 1880), ©. 711 ff. — 


el, Zeitichr. ae Be en Püreaus, 1880 ‚2. — leber Sparfajfenbüder: 
8. b. 3066 m. ©. 164. — ni .b. Preuß. OTrib. Bd. 47 ©. 424. — 


Eeeletssık ae 8 Rechtsf., Band 65 ©. 77, and 69 ©. 273, Bb. 89 ©. 111. — 


714 Speditionsgeihäft. 


Grudot, Beitr,, II. S. 426, VI. ©. 408, XIL ©. 328, 840. — Förfter, Th. und Pr. bei 
Preuß. Priv. R,, 8. Aufl., IL. ©. 21, IL. ©. 244. — C. F. Koch, Allg LR., 5. a — 290 
Ko 


Speditionsgeſchäft (Thl. J. S. 541) iſt die gewerbemäßige Uebernahme 
und Ausführung eines Auftrages zur Beſorgung der Verſendung von Gütern 
Die wirtbichaftliche und juriftifche Ausbildung deffelben ijt eine Folge der jort- 
jchreitenden Arbeitätheilung im Handel. Das ©. iſt Handelsgeſchäft, aud 
wenn der Auftrag von einem Nichtlaufmann ertheilt it (Goldjchmidt, Endemann; 
anderer Anfiht Gareid). Der Spediteur — im Sinne des Allg. Deutjchen 
HGB. alſo jelbit „Kaufmann“ — eripart dem Verſender die Auswahl 
geeigneter Transportmittel, zumal wo während de Transports ein Wedel 
derjelben erforderlich ift, jowie den ganzen perfönlichen Verkehr mit den Transport⸗ 
anftalten und übernimmt gleichzeitig eine mannigfaltige, zum Zwecke des Transporte 
und durch bdenjelben benöthigte Fürſorge für die Waaren. Inſoweit er 
drittenPerjonen, objchon für jremdeRechnung handelnd, doch in eigenem 
Namen gegenübertritt, aljo die Frachtverträge ıc. weder blos (ala Frachtmätkler x.) 
vermittelt, noch in äußerlich erfennbarer Weije ald Bevollmäd- 
tigter abichließt, hat er die rechtliche Stellung des Kommiſſionärs (f. d. At. 
Kommiffionsgeichäft). Diejer Geſichtspunkt beherrſcht die juriftiiche Geftaltung 
des ©. im HGB. wie im Code de comm. Die berrichende Lehre GGoldſchmidt, 
Grünhut ıc.) bezeichnet das S. daher geradezu als eine Unterart des Kommiſſions- 
geichäfts, während Andere (Endemann, Gareis ıc.) die Seite der Dienitleijtung 
(„Arbeitögejchäft“) hervorheben. Indeſſen find auch manche vorfommende Modi: 
fifationen des ©. gejeglich anerfannt, welche dafjelbe aus einer Unterart des Kom: 
miſſionsgeſchäfts mehr oder weniger in eine eigene Transportunternefmung über 
gehen Lafien. Insbeſondere kann der Spediteur — ebenjo wie der Kommifftonär 
ala Selbittontrahent eintreten daff — nah dem HGB. in Ermangelung ab: 
weichender Vereinbarung den Transport der Güter jelbit ausführen und gilt 
dann zugleich ale Frachtführer (jog. Verlader). — Hinfichtlid des Ab: 
ihlujjes des Vertrages gelten feine Bejonderheiten. Als Handelsgeſchäft 
bedarf er keinesfalls der Schriftform, obſchon jchriitliche Aufträge (Speditionäbrieke, 
Adisbriefe) Häufig find. Der Auftrag kann von dem Verfender oder von dem 
Empfänger (Deitinatär) oder auch von beiden ausgehen. — Die kontroverje 
frage wegen der Haftung des Spediteurs, insbeſondere für die von ihm ausgewählten 
Mitteleperjonen (Fuhrleute, Schiffer, Zwijchenjpediteure — |. 
diefe Art.), ift vom HGB. im Sinne des milderen, bereit3 im größten Theil 
von Deutjchland geltenden Syſtems dahin entichieden, daß er nur für die Ber 
nachläffigung der Sorgfalt eines ordentlihen Kaufmanns, injonderbeit 
bei der Wahl der Mittelöperfonen einjteht. Das ftrengere Spyitem gilt in 
Frankreich: der Transportlommiffionär ift unbedingter Garant der Ankunft der 
Waare (vis maior ausgenommen) und haftet namentlich für die Handlungen des 
Zwiichentommiffionärs. Gin mittleres Syitem befolgt das Holländijche Recht. — 
Die Verpflihtungen des Spediteur äußern fich bereit® bei der Empiang: 
nahme des Speditiondguts. Die frühere Streitirage, wieweit fi die Prüfung 
und Freititellung des Zuftandes der Waare zu erjtreden habe, beantwortet fich gemäß 
dem HGB. nach den Grundjäßen vom Kommiffionsgeichäft, welche überhaupt jubfidiär 
für anwendbar erklärt find, mithin im Sinne derjenigen, welche jene Pflicht auf 
äußerlih erfennbare Mängel beichränten (Pöhls, Heinefen x.). Die 
gleiche Sorgfalt präftirt der Spediteur bei der ihm obliegenden Aufbewahrung 
des Guts. Zur Verſicherung iſt er zwar (für Rechnung des Kommittenten) be 
rechtigt (wie wenigitens die Preußifche Praris annimmt), aber in Ermangelung be 
fonderen Auftrags nicht verpflichtet. Seine Hauptleiftung it die Auswahl 
der Frachtführer und, wo eine direkte Erpedition nicht räthlich, der Zwiſchen 


Speditionsgeichäft. 715 


ipediteure, jowie dev Abjchluß der Verträge mit diefen Perjonen, wobei er 
für möglichjt vortheilhafte Bedingungen zu forgen hat. Dies ift die eigentliche 
Ausführung der übernommenen Güterverfendung. Bedient er fich dazu, ohne 
daß dies auödrüdlich oder vermöge der Natur der Berhältniffe geftattet iſt, eines 
Vermittlers (Güterbeſtätters zc.), jo befreit ihn diefer Umftand nach der richtigen 
Anficht nicht von der Haftung für eigene Diligenz. Mit der Ablieferung des 
hinter ihm befindlichen Frachtgutes an den angenommenen Fradhtiührer 
iſt feine Verpflichtung beendet. Indeſſen gehört dazu, daß dad Gut in ſolchem 
Zuftande und mit folchen Inftruftionen und Legitimationen übergeben werde, daß 
der Frachtführer die richtige Ablieferung an den Empfänger zu bewirken im Stande 
ſei. Insbeſondere haftet der Spebiteur für gehörige Deklaration, Berzollung, Ein- 
richtung des fyrachtbriefs u. dgl. m. Der Code de comm. verpflichtet ihn auch zur 
Eintragung der Deklaration in jein Journal und des Frachtbriefs in ein foliirtes, 
paraphirte®, in umumterbrochener Reihenfolge zu führendes Regiſter. Ueber die 
Grfüllung jeiner Verpflichtungen hat der Spediteur jeinem Kommittenten Rechen- 
ihasit zu geben, und, wie das HGB. außer Zweifel jtellt, ift er gehalten, die 
Anwendung der ihm obliegenden Sorgfalt zu beweijen. Es iſt nicht Sache des 
Kommittenten, dem Verfahren des Spediteurs nachzuforichen; jondern diefer hat 
das thatjächliche Mtaterial zu geben und in möglichjt eingehender Weife feine Ge— 
ihäftsführung darzulegen. Erſt hieraus wird fich in der Regel ein Schadenserfaß- 
anſpruch wegen verzögerter oder unterlafjener, bzw. unvolljtändiger Ablieferung des 
Guts an den Dejtinatär gegen ihn geltend machen laſſen. Schlehthin haftet er 
in diefem Punkte nach dem in Deutichland angenommenen Haftungsfyiteme (fiehe 
oben) nicht, jofern er nicht ſelbſt ala Frachtführer zu betrachten iſt oder das del 
credere für Zwiſchenſpediteure und (unmittelbar oder nur mittelbar von ihm an— 
genommene) Frachtführer übernommen hat, was dadurch geichiehft, daß er fich 
mit dem Abſender oder Empfänger über beſtimmte Sätze der Transportkoſten 
(prix à forfaite, average, rate) einigt. Die Klage gegen den Spediteur fteht ſtets 
dem Kommittenten, aber nicht dem Empfänger als folchem zu, wenngleich die 
Verjendung in deſſen Intereffe erfolgt ift oder auf feinem ausdrüdlichen oder (beim 
Handelskauf vorauszujegenden) ftillichweigenden Auftrage beruht. Nach dem Code 
de comm. hat der, welchem die Waare gehört, den Regreß gegen den Transports 
fommiffionär. Gegen den von dem Spediteur angenommenen Zwiſchenſpediteur 
und Frachtführer können Abjender (und Empfänger) nur ex iure cesso lagen. Die 
(Schadenserjag-)Klagen und die Ginreden wegen Berluftes, Berminderung, Bes 
ihädigung oder verjpäteter Ablieferung des Guts unterliegen mit Ausnahme der 
Fälle des Betruges oder der PVeruntreuung nach dem HGB. einer kurzen Ver— 
jährung (1 Jahr); durch rechtzeitige Abfendung der Anzeige an den Spediteur 
wird die Einrede für immer gewahrt. — Der Spediteur hat jeinerjeits die Pro— 
viſion in bedungener und ortsüblicher Höhe, jowie die Erjtattung des nothwendig 
und nüßlich Aufgewendeten, 3. B. der Zölle, Steuern, unter befonderen Um— 
itänden auch der unrechtmäßig erhobenen, zu fordern. Wie ein Kommilfionär 
darf er Hierbei nur das wirklich Verauslagte in Rechnung ftellen. Jedoch 
fann die gewöhnliche Fracht (mebit der Provifion und den Koſten) gefordert 
werden, wenn der Spediteur die Verjendung mitteld von ihm für eigene Rech— 
nung gemietheter Transpertmittel bejorgt, oder wenn er den Transport jelbit aus- 
rührt; in dem Ießteren Falle darf er auch jtatt der wirklich erwachjenen die bei 
©. ſonſt regelmäßig vorfommenden Unfojten berechnen. Der del credere 
ftehende Spediteur ift zur Provifion nur dann berechtigt, wenn eine jolche neben 
dem Zransportkoften-Paujchiage vereinbart ift. — Wegen aller diejer Forderungen 
und wegen der dem Verjender auf das Gut geleifteten Vorſchüſſe — aber nicht 
wegen Darlehen, Wechjel oder anderer rüdfichtlich des Guts eingegangenen Berbind- 
fichfeiten oder wegen forderungen aus laufender Rechnung im S. — gewährt das 


716 Speditionsgeihhäft. 


HGB. dem Spediteur neben dem gewöhnlichen faufmännnifchen Retentionärecht 
(wenn deſſen Borausfegungen vorliegen) ein wahres gejegliches Pfandrecht an 
dem Gute, ſofern er legteres noch in jeinem Gewahrſam hat oder in der Lage ift, 
darüber zu verfügen. Daſſelbe befteht mit voller Wirkung auch im Konkurſe und 
überhaupt gegenüber anderen Gläubigern des Schuldners. Bei Verzug des Kom— 
mittenten kann fich der Spediteur jelbft aus dem Piande bezahlt machen. Das 
Verfahren richtet ſich nach den Vorſchriften, welche für das jchriftlich beitellte kauf⸗ 
männifche Fauftpiand gelten. Das Piandrecht wegen der durch Verfendung oder 
Transport entjtandenen forderungen geht allen übrigen geſetzlichen Pfandrechten, 
auch dem wegen Borjchußforderungen des Spediteur® dor, und zwar hat das jüngere 
den Vorzug vor dem älteren („salvam fecit totius pignoris causam“). Auf die 
Wiſſenſchaft des Vorgehenden von dem älteren Piandrechte kommt es bei bdieler 
Rangorbnung nicht an, während im Uebrigen der Grundjag „Hand wahre Hand“ 
gegenüber dem Gigenthümer, wie älteren Piandgläubigern durchgeführt ift (aud 
nach Franz. und Engl. Recht). Wegen anderer forderungen des Spediteurs kann 
ein kaufmänniſches Retentionsrecht begründet fein. Inwiefern dieſes aud 
gegenüber der Rüdforderungsflage des Kommittenten (actio mandati) oder dem aud 
in die KO. des Deutjchen Reich aufgenommenen Verfolgungsrecht des unbezahlten 
Abjenders (stoppage in transitu, droit de suite) wirfjam werden kann, tft ftreitig. Nach 
der herrſchenden Anficht (Oberappellationsgericht Lübeck, Voigt, Englifche Praris x.) 
fteht dafjelbe weder dem einen,.noch dem anderen entgegen. Ebenjo das ROHG. bezüglich 
des Verfolgungsrechts. Deractio mandati gegenüber erklärt derjelbe Gerichtshof mit Recht 
das Retentionsrecht des Spediteurs für durchgreifend. Ebenjo Grünhut, Frand u. A. 
Goldichmidt, aus der Natur des Retentionsrechts als „eines wahren, wenngleich in 
der Rechtäverfolgung beichränkten Pfandrechts“ argumentirend, untericheidet, ob das 
Eigenthum bereits auf den Dejtinatär übergegangen ift, und läßt das 
Retentionsrecht in diefem Falle durchgreifen (ähnlich au v. Hahn, Wolft u. I); 
jedoch erfordert er dem unbezahlten Abjender gegenüber no guten Glauben de 
Cpediteurd. Hinfichtlich des BVerfolgungsrechts laſſen ſich wol allgemeine Grundſätze 
nicht aufftellen,; e8 kommt ſtets auf deffen (in den Gejegen jehr verjchieden bejtimmte) 
juriftifche Natur an. In der Deutichen KO. bat man abfichtlich die Nechtäverhält: 
niffe Dritter in Bezug auf die dem Ausfonderungsaniprud; des $ 36 umterliegenden 
Waaren unberührt gelaffen. Wie gegenüber dem Gemeinfchuldner, fo findet das Ver: 
tolgungsrecht auch gegen Piandgläubiger und Andere ftatt, welche ihre Anſprüche auf das 
Eigenthum des Erfteren gründen. — Den Erwerb dinglicher Rechte, welche nicht 
ſowol der Ausführung als der Revokation oder Aenderung des Mandats zunviderlaufen, 
zu unterlaffen, ift der Spediteur nicht verpflichtet. Der Nachweis eines folchen fann 
denjelben daher von der Kontraftöflage jeines Kommittenten befreien, wenn 
der Erwerb nicht mala fide zur Vereitelung der Gontreordre gemacht ift. — Wann 
im Falle der Verſendung durch Spediteure die Lebergabe an den Empfänger als 
vollzogen gelte, ijt im HGB. nicht bejtimmt worden. Nach Preuß. Recht (ähnlich 
auch das Dejterr. und Sächſ. BGB.) ift der Zeitpunft der Uebergabe an den 
Spediteur enticheidend, wenn die Uebermachung entweder nach der Anweifung 
des Käufers gejchehen, oder von diefem die Art derjelben dem Gutbefinden des Ber: 
käufers ausdrüdlich oder ftillichweigend überlaffeh worden ift. Nach Gem. Recht ift 
daran jeitzubalten, daß der Auftrag zur Bejorgung des Transports noch nicht den 
Auftrag in fich fchließt, für den Adreſſaten Befig zu ergreiien. Die Zwifchenperion 
für den Transport ala folche ift nicht Vertreter, weder des Verſenders für die 
Beſitzübertragung, noch des Adrefjaten für den Befigerwerb. Hierin ändert es auch 
nichts, wenn die Zwijchenperfjon vom Adrejjaten aufgegeben oder bezeichnet oder 
vom Berjender angewiejen ijt, die Waare auf Nechnung und Gefahr des Abſendere 
zu befördern oder zu deflen Verfügung zu halten oder zu ftellen, oder dem Adrefjaten 
angezeigt hat, daß fie die Waare zu deſſen Verfügung halte. Bezüglich des Leber: 


Speditionsgeichäft. 717 


gangs der Gefahr beitimmt das HGB., daß der Käufer diejelbe trage, jobald 
die Waare an den Spediteur oder die fonftige Zwiſchenperſon übergeben fei, falls 
nicht etwa nach bürgerlichem Recht die Gefahr jchon früher von dem Käufer 
getragen wird. Das Tranz. Recht entjcheidet gleichfalls nur über den Ueber— 
gang der Gefahr („La marchandise sortie du magasin du vendeur ou de 
l’expediteur voyage, s’il n’y a convention contraire, aux risques et p6rils de 
celui à qui elle appartient*. Man nimmt indefjen allgemein an, daß 
auh das Eigenthum ſofort mit der Verſendung übergehe. Sehr ähnlich ift die 
Theorie des Engl. Rechts („constructive delivery“). — Die Ablieferung des 
Guts an den Empfänger darf der (letzte) Spediteur (ſog. Abrofl-Spediteur) nur 
gegen Bezahlung der darauf Laftenden Speſen bewirken, reſp. zulaflen. Er hat in 
diejer Beziehung ein Einhebungsmandat des Abjender8 wie der ſonſtigen VBormänner 
(Spediteure oder Frachtführer) zu erfüllen, fofern nicht deren Rechte, was durch Be— 
friedigung der Vormänner mittels Nachnahme oder fonft ohne Weiteres gejchieht, 
geradezu auf ihm übergegangen find. Wird das Gut ohne Bezahlung abgeliefert 
und das Piandrecht nicht rechtzeitig geltend gemacht (wozu nur der Frachtführer 
noh 3 Tage nach der Ablieferung Zeit Hat), jo werden der Frachtführer, ſowie die 
vorhergehenden Frachtführer und die Spediteure des Rüdgriffs gegen die Vormänner 
verluftig.. An den Empfänger kann fich der Spediteur deffenungeachtet unmittelbar 
aus eigenem Recht — wie der Frachtführer — Halten, jobald jener dad Gut und 
den Trachtbrief angenommen hat. Iſt ihm der Regreß nicht durch ein Verſehen 
bei Ausübung des Piandrechts verloren gegangen, jo fann er auch auf jeinen 
Kommittenten jogleich zurüdgehen. Wenn der Empfänger nicht auszumitteln ijt 
oder die Annahme verweigert, jowie bei Streit über die Annahme oder den Zuftand 
des Guts, verfährt der Spediteur nach Analogie des Frachtführer. Keinesfalls 
darf der Spediteur das Gut feinem Schidjal überlaffen, jondern Hat für dafjelbe 
mit kaufmännischer Sorgfalt Fürforge zu treffen. — So lange die Ablieferung des 
Guts oder des Frachtbrieis an den Empfänger noch nicht erfolgt, aljo noch res 
integra ift, hat der Spediteur die Gontreordre jeines Kommittenten jelbit 
dann zu reſpektiren, wenn er angewiejen ift, die Waare zur Verfügung des Deitinatärs 
zu halten. Sat der Spediteur von beiden Theilen Auftrag erhalten, jo wird 
um Allgemeinen der erfte Auftrag den Vorzug haben, jofern diefer nicht eben dahin 
ging, die Weifungen des Deitinatärs zu befolgen, und dieſer dem entjprechend 
bereits ala Befiger, bzw. Gigenthümer zu betrachten war (was immer nur in 
concreto fich entjcheiden kann). — Im Mebrigen folgt die Auflöjung des 
Speditionsvertrages den Grundjägen vom Kommiſſionsgeſchäft(ſ. diefen Art.). — 
Die Gejchäfte der jog. Annoncen-Bureauzx find eine Mifchung von Kommiſſion 
und Spedition. 


Gigb. u. Lit.: Allg. Deutſches HGB. Art. 272 Ziff. 3, 306, 313—315, 317, 344, 
379—389, 40641 12. — RAD. * — te 66. >. 3. Art. 8, =. —  Breubilden 
ie Landrecht 1.11 88 er 1 — defiert. v u Bar 

e de comm. art. 96—10 — 1865), 3b. I. Tit. IV. 77--81. — 
— Beiträge zur Sehr dom * 8 — R. Koch, Das S. in heutigen 
Geſtalt, bei 3 zus. Archiv v für Theorie unb Praxis. des Deutſchen HR., I. ©. 444; 
Neue Solge a 384. Adermann, Zur Lehre von ber Spedition, baf. IIL © 
1—44. Ro in Löhrs (älterem) Gentralorgan für den Deutichen Hanbeläftand, 
©. 57 fi (Mr. 11). — Wolff, Dad ©., bei Siebenhaar, Ardhiv für Deutiches —* 
u. H.R. XVII. ©. 171—206. arber, Handelsxechtl. Adh,, U. Zum S. (1870). 
Gareis, Daß jur. Bez des 6, ei Be arimann, Gentralorgan, Neue Folge VI. ©. 257; 
Derjelbei in . N. (1880), ©. m — er we des —— 
handels (1879), ©. 5 576. — Gri. b. Gojämi: — geſ. H.R. XVI. 
XIX. ©. 557— 565, 584. — Entſch. des Ar 47, "3189 266; IV. 149 134: 
VI. 273, 299, 309; "vl. 305; VII. 101, 171, 192, I x. 70, 800; XI. 88, 259: XI. 214, 
380; XI. 6, 75, 322; XIV. 277; XV. 261, 266, 377; XVI. 42, 349, 975; XVII. 61, 78: 
XIX. 67; Xx. 187, 192, 231; XXI. 40. XXI. 68, 160, 802; XXI. 26; XXIV. 286, 


718 Spee — Spezialität der Hupothef. 


305. = SAMENR, Ripr. d. ROHG. II. &, 168, 2339; II. ©. 37; IV. ©. 8, 286; 
VIL ©. 219, 232. — Pardessus, Cours de droit comm., II. nr. 574—577. 
Ueber Hort und vl N u Yun und Retentiongredht des Spebiteur: 
I. noch: Goldihmidt, Handb ©. 617 fi, 2% ff. — Frand, Dai 
euere beö Spediteurs, bei Sie — Archiv xiii. 225—280. — Gotter 
bei Löhr, Gentralorgan für dad Deutſche H.- u. 38 wg —* er ©. 471-474. — 
Laband, bei Goldſchmidt u. Laband, Zeitichr. j 75 ff. 569411, 
(Ret.» u. PiandR.) — x Das Verfolgungeredt Mi Übiendere bei Voi tu. Heinelen, 
Neues Archiv für H.R. IV. ©. 445—463. (nach Kent) (ij. auch daſ. III. ©. 248—343; IV. 
©. 379—444). R. Koch. 

Spee, Friedrich von, & 1595 zu Langenfeld bei Kaiſerswerth, Jefuit, 7 12. 
VII. 1635 zu Trier. 

Belannt durch feine „Trutz-Nachtigall“ umd die gegen a —— Cautio 
criminalis seu de processibus contra sagas, Rinthelii 1631, F Salisb. 
1718 u. ö., Augsb. 1731 (deutih: Joſ. Seiffert, Gemwifjensbu don Prozefien gegen 

exen, Breinen 1647; Herm. Shmibt, Derficerung, fein böſes Halsgericht zu thun, 

—F Lyon 166 60). 
e 


ar 169, im. 1657; 
Schulte, gi a ©. 139. — v. Wächter, Beitr,, gr ©. 100, „2 
Derfelbe, Beilagen 1877, ©. 184. — N pels, Nr. 1237, 1864. — Golban, eich. der 
Hexenprogefie herausg. von 5 Heppe, Sluttg. 1880 1880 Teihmann. 

Speransfy, Graf Michael, Ruffiicher Stantömann, & 1. I. 1772 im Dort 
Zicherfutino des Gouvernements Wladimir, Sohn des Geistlichen Nadeichdin, 1797 
Profeffor der Mathematit und Phyſik in Petersburg, dann Privatjefretär des Füriten 
Kurafin, mit der Organifation des Minifterium des Innern, der Geſetzkommifſion, 
des Reichäraths betraut, 1809 Wirklicher Geheimrath, Reichsſekretär, plöglich 1812 
verbannt, 1819 Generalgouverneur von Sibirien, in weldyer Stellung er für die 
Berbannten und Angefiedelten jegensreich wirkte, 1821 Mitglied des Reichsrathe, 
mit der Abjafjung des Ruſſiſchen Geſetzbuchs beauftragt, in den Grafenjtand erhoben, 
r UI. 1839. 

. Gr ſchrieb 1838: Precis ou notions hist. sur la formation du corps des lois russes. 

git.: von Korff, Leben bes Grafen S. (ruffiich), Peteröburg 1861. — Baltiiche Monati 

ſchrift 1861 (November), S. 373—406. — Brusa, Appunti, Torino 1880, p. 170. — 

v. Holtenbdorff, Hanbb. bes Deutichen Strafrecht, 1871, I. S. 234. — Revue des deut 

Mondes, 1856. — Gervinus, Geichichte des 19. Yahrhunderts, Theil II, m. Ga S. 70. 
TZeihmann. 

Spezialität der Hypothek (Thl. I. S. 502). Die moderne Hypothel it 
im Gegenjaß zur Römifchen bezüglich ihrer Forderung und ihres Prandobjefts itets 
ganz genau bejtimmt, ſpezialifirt. Die Hypothek entiteht durch Gintragung im 
Grund, Piand- oder Hypothekenbuch; diefes Buch ift nach Folien geordnet, je Ein 
Folium ift Einem jelbjtändigen Immobile gewidmet, nur ausnahmsweiſe dürjen 
mebrere demjelben Gigenthümer gehörige Grundftüde auf demfelben Folium verzeichnet 
werden. Das Folium befchreibt die in ihm verzeichneten Grunditüde ganz genau 
nach Yage, Größe u. j. w. Demgemäß trifft eine durch Gintragung entitehende 
Hypothek jtets mur ganz genau jpeztalifirte Grundſtücke. 

Rei der Eintragung muß auch die Höhe der zu fichernden Forderung gany 
genau angegeben werden. „Jeder zu etwaigem weiteren Pfanderwerb aufgerorderte 
Dritte hat demgemäß einen Anhaltspunft für feine Prüfung, ob und wieweit die 
vorhergehenden Piandiorderungen den Werth des Objelts abjorbiren. Die Berech— 
nung wird lediglich dadurch — allerdings nur innerhalb gejeßlicher Grenzen — 
etwas alterirt, daß das Piandobjeft außer für die Hauptſumme auch für beftimmte 
Zinsrüdjtände, Kojten u. j.w. haftet. Eine eigene Stellung nehmen die Kautions— 
hypotheken ein, bei denen zur Zeit der Eintragung die Größe des etivaigen jpäteren 
Anspruchs fich nicht überſehen läßt (Amtsfautionen von Rechnungsbeamten, Padt-, 
Bau, Negreßfautionen); zur Wahrung der Erfennbarfeit ihres etwaigen Einfluſſes 
auf die Hreditwürdigfeit des belajteten Prandes wird die Gintragung des höchiten 
Betrages, bis zu welchem daſſelbe haften joll, für fie verlangt. Dieje Gattung von 
Hypotheken ift im Preuß. Recht von der Umwandlung in eine Gigenthümerhupotbet 


Spezialprozefie. 719 


ausdrüdlich ausgeichloffen, ohne Unterfchied, ob demnächſt noch ein bejtimmter Be— 
trag ala Schuldjumme ermittelt und gebucht ift oder nicht. Auch die Umwandlung 
in eine Grundjchuld erjcheint hiernach nicht zuläffig. 

Als die Forderung der Spezialität alterivend und gerährlich für den Grund» 
fredit wird die Korreal hypothek betrachtet: die Haftung verjchiedener Grundſtücke 
für diefelbe ungetheilte Forderung. Kommt dieſe bei einem derjelben ganz zur 
Hebung, während bier nacheingetragene Gläubiger ausfallen, was joll gejchehen? 
Sollen diefe den Schaden haben, während auf den mitverhafteten Grundftüden die 
dort noch eingetragenen Gläubiger den Vortheil ziehen, daß die bezahlte Korreal— 
hypothek vor ihnen gelöjcht wird? Nach neuejtem Preuß. Recht (ſ. 1869): ja; nad) 
älterem und Bayer. Recht nicht; hier rücden die beim erjten Grundftüd Ausgefallenen 
in die Stelle der Korrealhypothek auf den anderen Grundjtüden, woraus allerdings 
Verwirrung erwächſt. Zroß ber Erſchwerung des Sredits und der Parzellirungen 
find einige Gejeßgebungen dazu gejchritten, nicht nur für den Wall, daß eine zur 
Grefution jtehende Forderung mitteld des Prozekrichters zur Eintragung auf mehrere 
Grundſtücke gelangen joll, deren Bertheilung auf diefelben vorzujchreiben (Preußen), 
jondern die Korrealhypothek überhaupt für unjtatthaft zur erflären (Hamburg, Medlen- 
burg). Won der Korrealhypothek unterjcheidet v. Meibom, Medlenb. Hypotheken— 
recht $ 15, die „Verbandhypothek“, d. h. die Eintragung auf einen Komplex, zu 
dem die zu belaftenden Grundſtücke vereinigt find. Iſt diefe Vereinigung buchmäßig 
bewirkt, alfo durch Zujammenjchreibung mehrerer Folien auf Ein Folium, jo ft 
indeß eine einfache Hypothek hergeftellt; andernfalla verbleibt es bei einer Korreal— 
hypothek im engeren Sinn. Uebrigens find für diefe außerhalb Preußens ver: 
ichiedentlicd andere Namen hergebracht (Solidar-, Simultan-, Gejfammt-, auch 
Verband-Hypotheken). Sie iſt von befonderer Bedeutung für die Befiker von 


Wandelädern. 
Gi Preuß. Hüpothefenordnung II. SS 109, 159 fi. RD. S 56 (1855, 1869). 
zent — über den Eigenthumserwerb an Grundjtüden vom 5. Mai 1872, SS 23—26, 30, 
67. Wandeläder: Inftruftion vom 19./29. April 1834 (auch 1797, 1820, 1839) 
j8ie) Seht Formulax II. (Artikel) der Grundbuchordnung vom 5. ur 1872, ss 14, 62. — 
Bayer. Hypothekengeſetz 5 120. Geſetz vom 1. Juli 1856 (G. Bl. S 879). — Medien: 
burg, Hypothekenordnung für die Rıttergüter * 9* Domanium (vom 18. Ott. 1848, 
$ 11; Gele vom 2. Januar 1854). — — du Preuß. Zuft.Diin.Bl. von 1848, 
S. 42. Grundbuhorbnung vom 4. Dez. J—— (Simultanh. — Eintrag. 
A. mw.) — — Sachſen, BGB. 8 8 (Geſammtſache), 88 422—423; Geſetz vom 
6: Nov. 1848 88 ff. — Dürrf Ihmidt, Zur Lehre von den Derbandahnpotheten des 
Deutichen Rede mit bejonderer Berüdfichtigun ber Bayeriſchen Gejeßgebung (1856). — 
Stobbe, Handbuch des Deutichen Privatrecht, Bd. II. 1 (1875) $ 112. Schaper. 


Spezialprozefle, bejondere Prozeiie(v. Bar, Th. I. Suppl. ©. 90), nannte 
die Preuß. Konkursgeſetzgebung von 1855 alle Rechtsjtreitigfeiten, welche vom Konkurs— 
gerichte im Gegenjag zum Konkurskommiſſar entjchieden werden jollten, unter ihnen 
auch Diejenigen, welche durch Bejtreitung einer angemeldeten Konkursforderung im 
Prüfungstermin entjtanden. Die Defterr. und die Deutjche KO. haben diefe Be- 
zeichnungen aufgenommen, begreifen jedoch unter ihnen nur die legterwähnten Streitig- 
feiten. Das Gemeine Recht gejtaltet diefe Streitigkeiten als ©. nicht, vielmehr 
erscheinen fie ala Fortſetzung der gegen den Kontradiktor als Vertreter des Schuldner: 
vermögens und des Gemeinjchuldners über die angemeldeten Trorderungen beim 
Konfursgerichte eingeleiteten Liquidationsprozefie oder als FFortiegung der dor dem 
Konkurje gegen den Gemeinjchuldner bei anderen Gerichten anhängig gewordenen, 
nach dem Konkurſe vielleicht an jeiner Statt vom Kontradiftor übernommenen 
Prozeduren. Die einzelnen Gläubiger, deren Befriedigung durch Zulafiung der be— 
treffenden Forderung im Konkurſe gerährdet jein würde, und welche deshalb im ſog. 
Grzeptionstermin gegen diejelbe Widerfpruch erheben, find berechtigt ala acceſſoriſche 
Intervenienten des Kontradiftors in dieje wie jene Prozeile einzutreten und, wo der 
Kontradiktor vom Verfahren zurüdtritt bzw. dafjelbe nicht aufnimmt, für jich allein 


720 Spezialprozeffe. 


den Prozeß fortzuführen. Diefe Geftaltung erlitt eine Veränderung in der Preuß. 
KO. von 1855, welche vorichrieb, daß der Liquidant bei Wideripruch von Ber 
walter und Gläubigern im Prüfungstermin den ©. gegen die Wideriprechenden beim 
Konfursgericht mit einer vollftändigen Klage zu eröffnen habe. Inſofern der Kom: 
miffar indefien nur Deputirter des Konkursgerichts war, Klage und S. an Anmeldung 
und Prüfungsrefultat gebunden waren und leteres die Widerfprechenden als einheitliche 
Gegenpartei gegenüber dem Yiquidanten feititellte, war der ©. immer doch nur 
eine einfache Jnzidentverhandlung unter den Parteien des Konfurjes und ihren Inter: 
venienten, die im Konfurje ihren Ausgangspunkt hatte, wie fie in ihn mit ihrem 
Refultat auch wieder ausmündete. Dies Ergebnik wird auch durch die Klage nicht 
zweifelhaft, mit welcher der S. beginnen joll, da der Antrag der Inzidentverhand: 
lung, wenn fie Anfprüche betrifft, ganz die Verhältniffe der Klage annimmt; und 
wenn außerdem nur die Vorjchriften des ordentlichen Verfahrens zur Anwendung 
fommen follten, jo Hatte man auch im Gemeinen Recht ichon die Formen dei 
Mandat ıc. -Verfahrens für die Liquidationsprozeſſe ausgeſchloſſen. — Die Deiterr. 
KO. folgte der Preußiichen. Für eine größere Selbftändigfeit der S. fünnte man fd 
hinfichtlich ihrer darauf berufen, daß die ©. gegen die Bejtreitenden als Streit: 
genofien und Vertreter der Gläubigerichaft geführt und der etwa mitjtreitende Ber: 
walter als „Eritbeflagter“ dabei vorangejtellt werden jolle. Eine ſolche Auffafſung 
würde jedoch wieder an der Beitimmung jcheitern, daß das Beitreitungärecht der 
Gläubiger erliicht, jobald ihr Intereſſe an der Beitreitung aufhört, daß fie alio 
nach wie dor Jntervenienten bleiben. — Für die Deutſche KO. ift die Frage 
nach der Selbjtändigfeit der S. in veritärttem Make aufgeworfen, und zwar von 
v. Völderndorfi verneint, im Allgemeinen aber überwiegend bejaht worden. 
Die letztere Auffaffung würde die Bedeutung haben, daß jo viele ©. über eine 
Forderung entjtehen könnten, ala Widerjacher des Yiquidanten vorhanden wären, 
und wie dadurch Koſten und Weitläufigkeiten für alle Betheiligten vervielfacht wür- 
den, jo hätten einestheil® die Gerichte die Forderung bald für feftgeitellt, bald für 
nicht feitgeftellt zu erklären, alſo wideriprechende Urtheile abzugeben, und würde 
anderntheil® die Befriedigung des Yiquidanten, wo ihm ein rechtöfräftiges Judilat 
oder ein Grefutionstitel zur Seite ftände, durch den Muthwillen feiner ſucceſſide 
auftretenden Gegner lange Zeit verhindert werden können, da für die Gegner in der 
Verhütung der Auszahlung der Dividenden an ihn der einzige Antrieb zu be 
ichleunigter Geltendmachung ihres Widerſpruchs gegeben wäre. Gegenüber jolcen 
Refultaten dürfte jedoch zu erwägen fein, daß die ©. auch nach der Deutichen KO. 
noch ihre Grundlage und ihr Ziel im Konkurſe haben. Mit Nüdficht hierauf if 
zunächit hervorzuheben, daß die Forderung, um deren Feſtſtellung es fich Handelt, 
gegen den Schuldner begründet und daher gegen den Verwalter gerichtet iſt, umd 
daß die einzelnen Gläubiger, weil fie nicht in die Verpflichtungen des Gemein- 
ichuldners juccediren, ihr Widerjpruchsrecht nur als Intervenienten üben fönnen. 
Der Xiquidant hat daher nicht jo viele Feſtſtellungsklagen ala Gegner vorhanden 
find, jondern nur eine, bei welcher Bellagter und Intervenienten ihm gegenüber 
jtehen. Mit diejer ift er genöthigt, alle feine Gegner gemeinjam zu belangen, weil 
er gegen die ausgelaſſenen ntervenienten eine bejondere Klage nicht befiten und 
die Treititellung der Forderung gegenüber den Belangten, wofern fie möglich wäre, 
was nicht der Fall ift, weil es fich um Feititellung für die Berriedigung im Kon 
furje überhaupt handelt, den Widerfpruch der ausgelafjenen nicht bejeitigen würd. 
Was jodann die mit Judikat oder Erefutionstitel verfehenen Forderungen anlangt, 
bei welchen die Widerfprechenden die Anfechtung zu betreiben haben, jo werden dieſe, 
wo es fih um Ginipruch und Rechtsmittel handelt, jchon durch die Friſten zu gleid> 
zeitiger Rechtsverfolgung vor den im bisherigen einheitlichen Prozeſſe zuftändigen 
Gerichten genöthigt jein, wenn ihr Wideripruchsrecht nicht verloren gehen joll. Wo 
aber die betreffenden Nechtsverfolgungsmittel in Klagen, wie Anfechtungäflagen, bei 


— — — — = —  ” 


Spezififation. 721 


welchen eine Intervention der Gläubiger nicht ausgeſchloſſen ift, in Nichtigkeits-, 
Reſtitutionsklagen ıc. beitehen, würden vereinzelt flagende Gläubiger jchon darım 
abzumeifen jein, weil Intervenienten zwar das Recht haben, in anhängige Prozefle 
einzutreten, aber nicht das Recht, jolche anhängig zu machen und zur Erhebung von 
Klagen zu fchreiten. Hätte aber der Verwalter die Klage angeftellt, und hätten 
ihm nicht ſämmtlich übrige Kontradigenten interzedirt, jo wäre das Interventions— 
recht der nicht beigetretenen mit dem rechtäfräftigen Erfenntniß über die Klage aus— 
geichloffen.. Außerdem aber find vereinzelt auftretende Kontradigenten mit ihrer 
Rechtsverfolgung immer abzutveifen, weil es fich auch hier um fFeftitellung der Zu— 
laffung der Forderung zur Konkursbefriedigung handelt und dieje nur gegenüber dem 
Widerſpruch aller möglich ift, gegenüber dem Widerſpruch einzelner aber vergeblich 
erfolgen würde. — Hiernach die befonderen Beitimmungen anlangend, find nach der 
Deutſchen KD.: 1) die Forderungen, wegen welcher bisher ein Verfahren nicht 
anhängig war, wenn fie nicht vor ein bejonderes Gericht, ein Berwaltungägericht 
oder eine Verwaltungsbehörbe gehören, wo diefe anzugehen find, beim Konkursgericht 
als Amtsgericht oder, wenn fie die Gerichtägewalt der Amtsgerichte überfchreiten, 
was vom Prozeßgerichte nach Verhältniß der Theilungsmaſſe zur Schuldenmaffe zu 
beitimmen ift, bei dem ihm entiprechenden Landgericht im ordentlichen, das heißt 
im amts- bzw. landgerichtlichen, Verfahren fo anzubringen, wie es dem Gtreit- 
verhältniß des Prüfungstermine und dem Auszug aus der Gläubigertabelle ent— 
ipricht. Eine Menderung des Grundes oder eine Weberfchreitung des Betrages der 
Forderung ift nur im Wege neuer Anmeldung und nach erneuter Prüfung möglich, 
eine Intervention neuer Kontradigenten ebenfo nur in Folge einer folchen. Cine 
Friſt zur Klagerhebung iſt dem Gläubiger nicht vorgefchrieben, aber fie ijt Voraus— 
ſetzung für Berüdfichtigung der Forderung bei den Vertheilungen. 2) Forderungen, 
wegen deren vor dem Konkurſe das Verfahren bereits anhängig war, find durch 
Aufnahme diejes Prozefles, und alfo bei dem bisherigen Gerichte, feftzuitellen, wobei 
durch die Konteftationen des Prüfungstermine Modifikationen der Anträge und 
anderer Verhältniſſe jelbjtverftändlich nothwendig werden. Die Deiterr. KO. läßt 
dieſe Prozefie beim Konfursgerichte aufnehmen. 3) Beſitzt der Gläubiger für jeine 
Forderung einen mit Bollitredungsklaufel verfehenen Schuldtitel, ein Endurtheil oder 
einen Vollſtreckungsbefehl, ſo müflen die Kontradigenten, wenn fie die Auszahlung 
der Dividenden an den Gläubiger verhindern wollen, ihren Widerſpruch mit den 
zuftändigen Rechtsverfolgungsmitteln, denen ein auf die FFeititellung im Konkurſe 
bezüglicher Zufat zu geben ift, bei den zuftändigen Gerichten verfolgen. Die Defterr. 
KD. fennt von diejen Fällen nur den des ergangenen Endurtheils und ändert an 
der Zujtändigfeit der Rechtämittelinftanzen nichts, aber, abgejehen von der Einfügung 
der Kontradizenten, auch nichts an der Parteiftellung. Wegen des Ranges der For— 
derung hat der Gläubiger hier indeffen eine abgefonderte Klage beim Konfurägericht 
anzujtellen, und die in den ©. ergangenen Entfcheidungen werden vom erfennenden 
Gericht dem Kommiſſar zugeftellt, der die Berichtigung der Tabelle veranlaft. Nach 
der Deutichen KO. wird die letere vom obfiegenden Theil herbeigeführt. Die rechts- 
kräftige Enticheidung ift für alle Gläubiger verbindlich. Die Koften des Verwalters 
find Mafjeichulden und die der fontradizirenden Gläubiger gelten nach der Deutſchen 
KD. gleichtalls ala folche und werden ihnen erſetzt, wenn fie den ©. ohne den Ver— 
walter führten und gefiegt haben, 

Quellen: Preuß. AD. SS 124, 125, 172, 178, 199, 204, 227 ff. 245, 330, 394; 
Minift.Infir. v. 6. Aug. 1855 $S 1, 27, 42 f., 56. — Defterreich. RD. 88 7, 118 ff, 
124 ff. — Deutice KD. 88 182 fi., 140 ff., 155; Motive S. 295 ff., 362 ff., 875, 384, 387. 

yvit: Schweppe, Konk. der Gläubiger, $ 130. — Bayer, Konlkursprozeß, $ 34. — 
U. ©. I. Schmid, Handbuch des Gemeinen Givilprozeffes, II. SS 218, 219. — Fuchs, 
Deuticher Konkursprozeß, $ 35. — Kommentare zur Deutſchen KO. 1.l. von v. Völderndorff, 
Sarwey, Wilmowskiu. 9. K. Wieding. 

v. Holgenborff, Enc. II. Redtälerilon II, 3. Aufl. 46 


722 Spezififation. 


Spesififation, ein den Römifchen Quellen nachgebildeter (ex materia speciem 
facere: $ 25 I. 2,1; fr. 78 7 D. 41, 1), zuerſt im Brachylogus II. 5 ale 
technischer fich ee Ausdrud, bezeichnet eigentlich die Geitaltung eines noch 
ungeftalteten Stoffes zu einer körperlichen Sache beftimmter Art, dann aber über: 
haupt die Neugejtaltung einer vorhandenen Sache zu einem Objekt anderer Art. 
Daß die neue Sache anderen Namens und Begriffes jei, ala die bisherige, it noth— 
wendig; der bloße Stoffwechiel, 3. B. in Folge fortgeiegter Reparaturen, ift noch 
feine ©. (fr. 76 D. 5, 1). — 

Juriſtiſch kommt die Thatjache der ©. nun als Untergang der bisherigen Sad 
in Betracht, injofern es fich fragt, ob die bejtehenden Rechte an dem bisherigen Ob- 
jett auf die Neugeftalt übergehen. Das ift 3. B. nicht der Fall hHinfichtlich der 
PBerjonaljervituten (Arndts, Pand., $ 194, b) und nicht hinſichtlich des Ver: 
mächtnißanipruches (fr. 88 D. 32; fr. 44 SS 2, 3 D. 30); ebenfo geht am der 
früheren Sache das Eigenthum unter, und es beginnt ein neues, gleich dem neuen 
Gigenthumsrecht an der jeparirten Frucht. Diejes neue Eigenthum an der neu 
geitalteten Spezies jollte eigentlich ebenjo twie das Fruchteigenthum dem Eigenthümer 
der früheren Sache zuiallen, und das war denn auch die Meinung der Sabiniani- 
ſchen Rechtsichule (anderer Meinung: dieje hätte fein neues Eigenthum angenom: 
men: Brinz, S 149, 15 fi.); allein die Profulianer waren anderer Anficht: fie 
meinten, das Gigenthum der neugeichaffenen Spezies falle dem Spezififanten zu, 
aljo dem bisherigen Gigenthümer nur, wenn er jelbjt die ©. vorgenommen habe, 
font gehe «8 leßterem verloren (Gai. II. 79). Ueber die rechtliche Grundlage dieler 
neuen Meinung, ob die ©. als Dffupation der neuen herrenloſen Sache betrachtet 
wurde oder ob man den Gigenthumserverb ala Xohn der Arbeit gewähren wollte, 
herrſcht Meinungsverichiedenheit (Windicheid, $ 187, 2); jedenfalls recipirte 
Auftinian die Auffaſſung der Profulianer nicht ohne die Modifitation, daß der 
fremde Spezififant nur Eigenthümer werde, wenn die ©. nicht mehr rüdgängig zu 
machen jei: babe er freilich zur ©. des fremden Stoffes eigenen Stoff mitauf 
gewendet, d. h. durch confusio, commixtio, adjunctio mitverbunden, dann fomme es 
auch auf dieje Diftinktion nicht an (S 25 I. 2, 1). 

In diefer letzteren Geftalt it denn die Lehre vom Eigenthumserwerb 
durch ©. in das Gemeine Recht übergegangen und hier ift es, wo die ©. ihre Haupt: 
rolle jpielt. Aber Mangels einer einheitlichen Geftaltung der Yehre in der Kompilation 
Juſtinian's ift denn auch fait alles Uebrige ftreitig geblieben oder geworden. Bor 
Allem: ob nur der gutgläubige Spezifitant Eigentum erwerbe (Windicheid, 
$ 187, 3, wozu unter den Gegnern noch Bekker, Das Recht des Befites bei den 
Römern, 28, 1); die Quellen jagen nämlich nur, daß die Furtivität des Stoffes 
auch dem Fabrikat anflebe und daß, wer wiſſentlich fremde Sachen verarbeite, 
actione ad exhibendum haite, woraus fich eben noch nicht ergiebt, daß der bös 
gläubige Spezififant nicht Gigenthümer werde. Ebenſo läßt fich fragen, ob aud) 
gegen den gutgläubigen Spezifitanten der frühere Gigenthümer einen Erſatzanſpruch 
wegen der erlangten Bereicherung habe (Brinz, $ 149, 44 ff.), welchen er natür 
lich gegen den bösgläubigen mit verjchiedenen Rechtämitteln geltend machen kann 
(Windſcheid, $ 187, 6), wie andererfeits der gutgläubige Spezififant, falls dieſer 
das Gigenthum nicht erwirbt, jeine Erjaßanjprüche wegen Verwendungen jtellen kann. 
Endlich kann es nach den Römischen Quellen ſelbſt noch als höchſt zweifelhaft be: 
trachtet werden, was ©. jei, da die Quellen in diejer Beziehung nur eine feines 
wegs reiche Kaſuiſtik aufftellen und im Einzelnen jelbſt differiren (3. B. hinfichtlich 
des Ausdreſchens von Getreide 8 25 I. 2, 1; fr.7 8 7 D. 41,1, hinſichtlich des 
Verbrauchs von Dlaterial zum Schiffbau fr. 26 pr. D. 41,1; fr. 61 D. 6,1; 
fr. 188 3 D 13, 7); eine prinzipielle Feſtſtellung ift Freilich bier faum möglich, 
insbejondere fann die Grenze zwiſchen S. und bloßer „Verbindung“, bei welch le 


Spiel, 7235 


terer befanntlich wieder andere Grundjäße über den Gigenthumserwerb gelten, im 
einzelnen Fall ſchwer zu finden fein. 

Soviel fteht jedenfalls jejt, daß der Spezififant bei der ©. nicht völlig allein 
jeine Arbeitskraft aufzuwenden braucht, jondern es genügt, wenn ein Anderer für 
ihn, 3. B. im Auftrag, die S. vornimmt (fr. 31 pr. D. 24, 1; fr. 25, 27 81 
D. 41, 1); überhaupt erwirbt blos derjenige Spezifitant Eigenthum, welcher „suo 
nomine* jpezifizirt (fr. 7 $ 7 eit.). Die neuere Theorie endlich wendet den Grund» 
ja des Gigenthumserwerbes dur ©. aud dann an, wenn die neugejchaffene Spe= 
zies zwar auf die Gejtalt, welche fie vor der Verarbeitung hatte, zurüdgeführt wer— 
den fann, aber „der Stoff gegen die Form in einem ganz untergeordneten Verhält— 
niß ſteht“ (3. B. die von einem Gefangenen aus Brod geknetete Uhr). 

Don den modernen Kodifikationen iſt, abgeſehen vom Bayriſchen ER. (v. Roth, 
Bayr. Eiv.R., I. 8 143, 2—6), feine auf dem Standpunkt des Jujtinianischen Rechts 
jtehen geblieben. Nach Preuß. und Sächſ. Nechte tritt der Eigenthumserwerb durch 
©. ohne Rüdficht auf die Rüdrührbarfeit zur früheren Gejtalt ein (Dernburg, 
Preuß. Priv.R., I. $ 235 Nr. 1; Sächſ. BGB. 3 246), auch wird nach Preuß. 
Recht der Begriff der ©. viel weiter gefaßt als nach Gemeinem und die Erſtattungs— 
pflicht des Erwerbers ift anders gejtaltet. Nach Defterr. und Franzöſ. Recht ent- 
jcheidet der Vlehrwerth des Stoffes oder der Arbeit darüber, ob der Eigenthümer 
des Stoffes oder der Spezififant das Recht hat, die Sache gegen eine an den Gegner 
zu leiltende Vergütung zu beanjpruchen (Dejterr. BGB. SS 414—16; Code civil 
art. 570—72, 576); das Defterr. BGB. $ 415 fieht aber dabei darauf, daß die 
Neugejtalt nicht rückführbar ſei. Auf bona fides des Spezififanten kommt es nach 
diejen Yandesrechten, abgejehen vom Franzöſiſchen, auch an; nach Sächfiichem Recht 
freilich blos in Beziehung auf den Umfang der Gritattungspflicht, nach Preußiſchem 
(Dernburg, I. $ 235 Nr. 3) und Defterreichiichem richtet fich aber das Anrecht 
auf die neue Spezies danadı. 

Lit: Meykow, Die Lehre des Römiſchen Rechts von dem Eigenthumserwerb durch ©. 


(in Dienbrüggen,, ‚Borpater juriſtiſche Studien, 149 fi.) — Fitting im Archiv f. d. — 
Prar. XL 1—25, —194, 311— 365 (1865). — Bremer, Kit. BV.J.Schr., 


1—67 re — Lehrb. nd. Arnbta, $ 155; Böding, ILS 154, 5—27; —— 
2. Aufl., $S 149; Seller, L S 141; Bucta, $ 154, f—h; Geuffert. 1.$ 131; 
v. ee I. $ 310; Mindiceid, 4 51 J. Mertel. 


Spiel. Bei einigen Verträgen a die Verpflichtung zur Keiftung des 
einen oder beider Stontrahenten von einem ungewiſſen Umjtande in der Art ab» 
hängig, daß bei dem Eintritt defjelben ein größerer, aber einftweilen gleichfalls noch 
ungewifjer Gewinn des einen und Verluſt des anderen Theils zu gewärtigen iſt. 
Zwei bejonders häufig vorfommende Arten jolcher Verträge find Spiel und Wette. 
Bei beiden Liegt den Kontrahenten die Abficht zu Grunde, den Zufall zum Seren 
über Gewinn und Berluft zu machen. In ihrer Gingehung find dieſe Verträge 
zweiſeitig, in ihrer Erfüllung einjeitig; denn es verfprechen beide Kontrahenten ihre 
Zeijtungen unter Bedingungen dergeftalt, daß nur die eine zu erfolgen habe, und 
der Zufall entjcheidet, welche (v. d. Piordten, a. a. O. ©. 327). 

Ueber den Unterjchied zwiichen ©. und Wette herricht Streit. Einige Schrift- 
fteller haben behauptet, daß für eine jolche Untericheidung nur Sitte und Sprad): 
gebrauch einer bejtimmten Zeit maßgebend jein fünnten (Souchay in Xinde’s 
Beitichr. }. Eiv.R. und Prz. II. Abb. XVII. ©. 330). Andere definirten das 
©. als ein gegenjeitiges Verjprechen, daß jede von zwei Parteien im alle des Ein- 
tretens oder Nichteintretens eines ungewiſſen Thatumjtandes etwas an die andere 
verlieren wolle; bisweilen wird noch hinzugefügt, daß das Ueberlaſſen und Empfangen 
des Gewinnes nach Regeln beitimmt jein müfle (Thibaut, Glüd, Mübhlen- 
bruch, Sintenis u. W.). Der Begriff Wette wird dagegen übereinjtimmend als 
ein auf verichiedene Behauptungen bezogenes Verſprechen definirt, nach welchem der: 
jenige, deſſen Behauptung fich als richtig erweilt, von dem Anderen etwas erhält. 

46 * 


724 Spiel. 


Es joll alfo für die Wette noch charakteriftiich fein, daß die Parteien verichiedene 
Meinungen als richtig behaupten (vgl. auch Stobbe, a.a. D. ©. 326). 
Dieſe Berichiedenheit der Meinungen ift aber auch beim &. vorhanden, wenn 
nicht in demſelben eine Schenfung enthalten jein fol. Zwar werden beim 
©. dieſer Meinungsverfchiedenheit gewöhnlich nicht Worte geliehen, aber fie ift 
immer als vorhanden anzunehmen und ift fie vorhanden, jo ift der Inhalt von 
©. und Wette identifh. Wenn aber Stobbe (a. a. D. ©. 326 Note) nicht auf 
das Vorhandenſein, fondern auf das Ausfprechen der verichiedenen Memungen Ge: 
wicht legt, jo giebt er doch damit zu, daß es den Spielern jederzeit möglich wäre, 
durch die Beobachtung jenes Unterjchiedes, alfo durch das ausdrüdliche Ausiprechen 
verichiedener Behauptungen, das klagloſe S. zum flagbaren Wettvertrage zu machen. 
IHöl (Verkehr mit Staatöpapieren 1855, ©. 257 und a. a. O. $ 304) hält es 
für unmöglich, den Unterfchied des ©. und der Wette durch Abſtraktion zu finden 
und, indem er fich lediglich an das Römiſche Recht anichließt, gelangt er zu dem 
Rejultate, daß beim ©. Lediglich die Thätigkeit der Intereſſenten das Eintreten 
oder Nichteintreten des (enticheidenden) Thatumſtandes herbeiführe, während fich bei 
der Wette die Intereffenten paffiv verhielten. Er fagt: „Der Vertrag, den zwei 
Engländer jchloffen, daß der Eine oder der Andere eine beftimmte Summe an den 
Gegner verlieren folle, je nachdem von zwei auf das eine Ende eines Tifches gefetzten 
Schneden die eine oder die andere zuerit das entgegengeießte Ende erreichen werde, 
it ein S. Hätten die Kontrahenten die Schneden jo vorgefunden, daß fie, die Kon— 
trahenten, auch nicht im Mindejten auf die Enticheidung des Vertrages eingewirft 
hätten, jo wäre es eine Wette geweſen.“ Die Anfiht Thöl's ift nach Römischen 
Rechte berechtigt, an fich ift aber dieſer Gegenjag weder ein logiicher, noch ein 
juriftifch relevanter für die frage, weshalb er beinm S. Klagbarkeit, bei der Wette 
Klaglofigkeit begründet. Andere, wie Wilda, Bejeler, v. d. Piordten fuchen 
den Unterjchied zwiichen ©. und Wette in den Motiven. Das juriftiich relevante 
©. joll nur des Gemwinnes beziehungsweife der Unterhaltung Willen getrieben, bie 
Wette nur zur Enticheidung einer Meinungsverfchiedenheit eingegangen werden. Gegen 
dieje Auffaſſung läßt jich einmwenden, daß bei der Wette nicht weniger ale beim ©. 
Zeitvertreib und Unterhaltung beabfichtigt fein fann und daß auch ein ©. zum 
Zwede der Entjcheidung einer Meinungsverichiedenheit eingegangen werden kann. — 
Brud (a. a. D. ©. 71) fcheidet aus der juriftiichen Betrachtung die S. zum Per: 
gnügen völlig aus. Solche ©., auch wenn fie um einen mäßigen Preis geipielt 
werden, haben die Gefeße zu allen Zeiten erlaubt. Anders verhält es fich aber, 
wenn Gewinn oder Berluft dem Vermögen droht, denn jet tritt das Spiel ala jog. 
Geld-S. in den Kreis der civiliftiichen Betrachtung und nun jcheidet fich genau das— 
jenige Berhältniß, welches das juriftiich relevante Moment in fich trägt, von dem 
unjuriftifchen. Dieſes juriftifche Verhältniß wird begründet durch einen Vertrag 
zweier Parteien, von welchen fich jede von beiden im Falle des Eintretens oder 
Nichteintretengs eines bejtimmten, aber für die Parteien noch ungewiffen That— 
umftandes verpflichtet, etwas an die andere verlieren zu wollen. Gine genauere 
Unterfuchung dieſes, das juriftiiche Moment des Geld-©. in fich tragenden Verhält— 
niffes ergiebt, daß in ihm alle charakteriftiichen Mtertmale der Wette enthalten find, 
ſodaß eine Scheidung des Geld-S. und der Wette dem Begriffe nach unmöglich iſt, 
indem das erjtere eine Spezies des leßteren ift. Geld-S. und Wette find alſo für 
den Yuriften völlig identische Begriffe; das eigentliche ©. (im Gegenſatze zum 
Geld-©.) hat für ihn gar feine Bedeutung, es iſt fein Nechtägeichäit, es wird 
vielmehr nur der in ihm liegenden Handlungen wegen betrieben, es iſt Selbſtzweck, 
der Gewinn ift durchaus nicht Zwed, vielmehr das Reſultat einer an das ©. ge 
fnüpften Wette, wonach die unterliegende Partei der fiegenden eine gewiſſe Summe 
veripricht. Das eigentliche ©. intereffirt den Juriſten dabei nur, inſofern e& ala 
eins der unzähligen Enticheidungsmittel des eigentlichen Rechtsgeſchäfts, der Wette, 


Spiel. 125 


gebraucht wird. Dieje iſt das Nechtögeichäft, das nicht um feiner ſelbſt Willen, wie 
dad ©., angejtellt wird, jondern das formell eine Meinungsverjchiedenheit vorausjekt, 
deren Enticheidung den Zweck diejes Gejchäftes realifirt, der in einem Vermögens— 
vortheil, gewöhnlich in einem Geldgewinn bejteht. Das Enticheidungsmittel braucht 
nicht immer ein ©. zu jein, daher ift es vergebliche Mühe, diefe mit dem Namen 
„S.“ zu bezeichnen, die nichts von dem eigentlichen ©. in fich tragen. Nicht minder 
bedeutungalos iſt an fi) das Motiv der Wette, ob in Folge eines zufällig ent- 
ftandenen Streites, oder ob aus NRechthaberei gewettet, oder ob der Meinungstampf 
provozirt wurde, um zu wetten, ebenjo der Umjtand, ob in dem MWettpreife des 
Siegerd ein Lohn für diejen oder eine Strafe für den Unterliegenden gejehen wird, 
ebenſo endlich der, ob die Wettſumme zu Gunjten Dritter verwendet wird. Bei 
Feitfegung der Lehre durch die Geſetzgebung follte daher nur von der Wette, die ja 
auch das Geld-S. begrifflich enthält, gehandelt werden. — Der Anfiht Brud’s 
find im Wejentlichen beigetreten Laband (in der Zeitichrift von Goldſchmidt 
XIX. ©. 639 ff.) und Grünhut (in feiner Zeitſchrift Jahrg. 1875 Börjen- und 
Maklerrecht). — 

Die Quellen des Deutichen Rechts find mit Ausnahme einer Reuterbejtallung 
vom Jahre 1570 ($ 211), eines Specialgefeßes, durchweg partitularrechtliche. Soviel 
läßt fich denjelben entnehmen, daß im älteren Deutjchen Recht bis zum 13. Jahr: 
hundert der ©.vertrag erlaubt und Eagbar war. Was im ©. verloren worden war, 
fonnte nicht zurüdgefordert werden. Dem Gewinner jtand eine Klage auf Zahlung 
des Gewonnenen gegen den Berlierer jelbit, wenn auch nicht gegen deffen Erben zu und 
ebenjo war es eriterem gejtattet, ſich auch außergerichtlich durch jofortige Prändung 
zu befriedigen. Allein jchon im 13. Jahrundert zeigt fich das Beftreben, die recht- 
liche Wirkung der S.ichulden einzujchränfen und ala der Anfang ſolcher Beichränfungen 
ift es anzufehen, daß die Quellen den Webergang jolcher Schulden auf die Erben 
ausschließen. Weitere Beichräntungen finden fich in einzelnen Stadtrechten hinfichtlich 
des Spielens mit Unmündigen und mit Kindern unter väterlicher Gewalt und in 
anderen Quellen allgemein für jeden, welcher wegen S.verluft in Anipruch genommen 
wird. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts finden fich zahlreiche Bejtimmungen, 
welche den S.jchulden geradezu und ganz allgemein die Klagbarkeit abjprechen. In 
hohem Maße einflußreich wurde bejonders die jtatutarische Gejeßgebung. In Folge 
der im 14. und 15. Jahrhundert wachjenden Xeidenichaft für das Spiel und der 
fih daran fnüpfenden argen Mißbräuche und Gewaltthätigkeiten ſahen fich die 
Dbrigfeiten an verjchiedenen Orten veranlaßt, das Spielen mit Strafe zu bedrohen. 
Bisweilen richtet fich die Gefeßgebung nur gegen gewiife Arten von ©., biäweilen 
verbietet fie mur das ©. „auf Borg“. Endlich finden fich eine Reihe von Be— 
ftimmungen, welche das ©. radikal verbieten. Wenn jedoch auch die S.jchuld nicht 
eingeflagt werden durfte, jo blieb fie — worauf Stobbe a. a. D. ©. 335 auf: 
mertjam macht — immer ein Debitum und, wenn fie einmal bezahlt war, wurde 
feine condictio indebiti gegeben. Berjchiedene Meinungen fiber die Geltung der 
Deutichrechtlichen Grundjäte entitanden durch die Rezeption des in mehrfacher Hinficht 
von diefem abweichenden Römischen Rechtes. Bis zur Rezeption fehlte es an einer 
gemeinrechtlichen Quelle für diefen Theil des Deutichen Vertragsrechtes. Es gab nur 
partifularrechtliche Normen, 

Nach Römischen Recht waren alle Geld-S. mit Ausnahme gewiffer Kampf-S. 
(ludi, qui virtutis causa fiunt) und das Spielen im häuslichen reife um dasjenige, 
quod in convivio vescendi causa ponitur (l.l. 2, 3; 1.4. pr. Dig. 11, 5) verboten. 
Die Uebertretung des S.verbotes hatte die Nichtigkeit des ganzen Vertrages und 
für den S.wirth (susceptor) ganz erorbitante Nachtheile zur Folge (1. 1 SS 1d und 
2 Dig. 11, 5). Dem Gewinner jtand feine Klage gegen den Berlierer wegen der 
S.jchulden zu und der Verlierer reip. der, in deſſen Gewalt der Verlierer jtand, 
fonnte das Verlorene mit der condictio indebiti zurüdverlangen. Dieſes Zurüd- 


726 Spiel. 


forderungärecht wurde fogar den Erben des Berlierers oder — falle dieſe es 
unterließen — den Profuratores, Deienfores, endlich jedem Bürger der Gemeinde, 
in der das ©. ftattgeiunden, im beitimmten alle jogar dem Fiskus gewährt und 
erft nach 50 Jahren trat eine Verjährung diejer Klage ein. Auch die wegen des 
©. geleistete Kaution ift nichtig und wird reftituirt. In Betreff des zum ©. ge 
gebenen Darlehns findet fich in den Quellen feine Vorichrift. Die bisweilen zum 
Nachweiie der Alagbarkeit des Darlehns angezogenen Stellen (1. 12 $ 11 Dig. mand. 
17, 1 und 1. 2$ 1 Dig. quar. rer. actio 44, 5) beziehen fich nicht auf dieſe 
Trage (vgl. Windicheid, Yehrb., 5. Aufl., II. 3 420 Note 7). Selbitveritändlicd 
fann der Darleiher nicht das Darlehn zurückfordern, wenn er jelbjt zu den Mit: 
ipielenden gehört und der Empfänger das Geld an den Darleiher verliert. 

Nach der Rezeption des Römiſchen Rechtes ergingen in Deutichland zwar auch 
noch zahlreiche Partifulargefege über das ©., aber es findet jet eine verhältniß— 
mäßig größere Uebereinftimmung ftatt. In denjenigen Gejeßgebungen, auf welde 
das Römische Recht Einfluß gewann, theilte man die S. in erlaubte und verbotene 
oder Glücdäfpiele (ludi, qui m aleae speciem cadunt); der Begriff der erlaubten ©. 
(ludi, qui virtutis causa fiunt) wird auch auf ©., welche der Uebung geiftiger 
Kräfte dienten, jog. Hunftipiele, ausgedehnt. Da aber bei dieſen der Zufall mehr oder 
weniger auf die Enticheidung zu wirken pflegt und eben diejer meiſtens das unbedingte 
Grlaubtiein der S. ausichloß, jo nahm man eine Mittelklafle, jog. gemifchte ©., an. 
Dieſe Dreitheilung der S. — ludi artis, fortunae, mixti — ift weder queilenmäßig 
noch praftifch, fie hat aber in viele Deutiche Gefeßgebungen Eingang gefunden. 

Bei dem Mangel allgemein gültiger reichögejeglicher Beltimmungen über das 
©. ift, wo nicht Partikulargefege ausdrüdlich das Gegentheil beftimmen, das Römiiche 
Recht als alleinige Enticheidungsnorm anzufehen. Es ergeben jich daher als geltendes 
gemeines Recht folgende Sätze: 

Nur S., qui virtutis causa fiunt, ubi pro virtute certamen fit, d. 5. melde 
zur Uebung des Muthes und körperlicher Gewandtheit dienen, find erlaubt uud 
flagbar. Ihre Zahl ift duch 1. 2 SS 1 und 3 Dig. de aleat. 11, 5 auf fünf 
beichränft und fann auf andere Arten von ©. nicht ohne Willtür ausgedehnt werden, 
alle übrigen ©. find verboten, der Verluſt fann mit der condictio indebiti zurüd- 
gefordert werden. Das Grlaubtjein oder Nichterlaubtfjein der ©. iſt der Grund der 
Klagbarkeit oder Alaglofigkeit derjelben. Windicheid (a. a. DO. $ 419, ©. 582) 
meint indeß, daß auf Grund eines allgemeinen Deutichen, täglich geübten Gewohn- 
heitrechts der S.vertrag auch dann für erlaubt erachtet werden müfje, wenn er dem 
Zwede gejelliger Unterhaltung dient und fich innerhalb der Grenzen derjelben hält. 

Hinfichtlich der Frage, ob das zu einem ©., gleichviel ob zu einem erlaubten 
oder unerlaubten gegebene Darlehn zurüdgefordert werden fünne, iſt gemeinrectlic 
allerdings eine Modifizirung des Römiſchen Rechtes anzunehmen und zwar derart, 
daß gemeinrechtlich nur das wifjentlich zu einem unerlaubten ©. Geliehene nicht 
zurüdgefordert werden darf. Der Code Napoleon (Code civil art.1966) hat die Römiſche 
Auffaffung faſt vollftändig vezipirt. In anderen Deutichen Partikulargeießgebungen, 
wie im Preußifchen Allg. WR. I. 11 88 577 ff. und Dejterreichiichen BGB. SS 1271, 
1272, ijt man von anderen Grundfäßen ausgegangen, die ſich aber ohne Zwang aud) 
nicht auf ältere Deutfchrechtliche Beitimmungen zurüdführen laſſen; fie haben weniger 
ein nationales Gepräge, wenn man überhaupt bei diefem Nechtsinftitut von einem 
folchen reden kann, als vielmehr einen internationalen, bei allen gebildeten Wöltern 
eingebürgerten, den Gewohnheiten, Sitten und Anichauungen der modernen Zeit 
‚entiprechenden Charakter. Das Preußiiche Allg. M. geht von dem Grundſatze 
aus, daß das eigentliche S. — das ©. zum Vergnügen, und dazu gehört aud 
mäßiges Geld-S. — eine für das Recht gleichgültige Handlung jet, daß demzufolge 
aus erlaubten Spielen weder eine Klage auf den freditirten Gewinn noch eine ſolche 
auf Rüderftattung des bezahlten Verluftes zu geitatten fei ($$ 577, 578, 866, 867, 


Spinoza — Spionage. 727 


Einl. $ 86). Nicht billigenswerth ift die im $ 581 enthaltene Beitimmung, wonach 
Gelder, die ausdrüdlich zum Spielen oder Wetten oder zur Zahlung des dabei ge= 
machten Berluftes verlangt und geliehen worden, nicht gerichtlich eingeflagt werden 
fönnen. Nach 8 578 darf der Spieler das im erlaubten S. Verlorene nicht zurück— 
fordern, e8 wird alſo die Leitung für gültig angefehen. Warum ift dann auch 
nicht das Darlehn zu diefer gültigen Zahlung gültig gegeben worden? — Das ver- 
botene ©. ijt, da das RStrafGB. Strafandrohungen gegen dafjelbe nicht enthält, 
nach dem Grundſatz nulla poena sine lege im Deutfchen Reich nicht ftrafbar und aus 
demjelben Grunde fönnen auch da, wo Gemeines Recht gilt, die ftrafrechtlichen Be— 
ftimmungen des Römifchen Rechtes Hinfichtlich de Susceptors (Konfiäfation des 
Haufes u. ſ. w.) feine Anwendung mehr finden. Nach 8 284 des RStrafGB. wird 
nur derjenige (mit Gefängniß bis zu 2 Jahren, neben welchem auf Gelditrafe von 
300 bis 6000 Mark ſowie auf Berlujt der bürgerlichen Ehrenrechte erfannt 
werden kann) bejtraft, der aus dem Glücks-S. ein Gewerbe macht, ferner nach $ 285 
(mit Gelditrafe bis zu 1500 Mark) der Inhaber eines öffentlichen Berfammlungs- 
ortes, welcher Glücks-S. dafelbjt gejtattet oder zur Berheimlichung folder ©. 
mitwirft. 

Quellen: Dig. 11, 5 de aleatoribus; Cod. 3 de aleatoribus et alearum lusu. — Preuß. 
un, F I. 11 88 577, 578, 581. — Defterr. BGB. 88 1271, 1272. — Code Nap. art. 
Lit: Wilda, Die Lehre vom Spiel, in der Tier. für Deutjches Recht, II. 2 ©. 133 
bi3 193 und VIII S. 200-239 (1839, 1843). — Ganz, Beiträge zur Revifion ber Preuß. 
———— ‚1 2 Nr. 14 (1830). — v. d. Pfordten, Cipil. Abhandlungen, S. 327—333 
(1840). — J Bruck, Ueber Spiel und Wette (Inaug. Diſſert. 1868). — Krügelſtein, 
Ueber ben begrifflichen Unterſchied zwiſchen Spiel und Wette (1869). — Heinzerling, Die 
Wette nach der Rechtſprechung des OberApp.Ger. in Darmſtadt, im Arch. f. prakt. Sechta: 
wiflenichaft, Neue Folge XI. e. 109-126. — Schujter, Das Spiel, jeine Entwidelung und 
Bebeutung im Deutichen Recht (1878). — Thöl, H.R., $$ 304—306. — v. Gerber, SS 193, 
194. — Beieler, $ 112. — Gengler, Lehrb., ©. 724—738. — Bluntſchli, SS 125, 
126. — Stobbe, Handbuch, III. SS 193—195. Felix Brud. 


Spinoza (d'Espinoza), Baruch, 5 24. XI. 1632 zu Amiterdam, 
wurde wegen Heterodoxie aus der jüdiichen Gemeinde ausgeftoßen, erwarb fich 
den Unterhalt durch Schleifen optifcher Gläſer, lehnte einen Ruf nach Heidelberg 
ab, * 21. II. 1677. 

Schriften: Ren. Cartesii philos., Amstel. 1663. — Tract. theol. politicus, Hamb. 
1670 (beutid von 3. A. Kalb, München 1826; von Kirchmann, Philof. Bibl. Bd. 35 
(Berl. 1870, 1871) und 36; von Ginäberg, 1875, engliſch Lond. 1689, 1737, 1862, 1868. — 
Tract. politicus, 1677 (franz. von Prat, Par. 1860). — Ethica. — Tract. de deo et homine 
(ed. von Vloten 1862, 1865, 1869), — De intellectus emendatione. — Epistolae. — 0. 

osturoa (ed. von Meyer, Amit. 1677). — Opera von Gfrörer, Stuttg. 1830, von 
res 1843— 1846. — Oeuvres par Saisset, Par. 1842, 1361, 1872; par Prat, Par. 
1863 ss. — Sämmtlihe Werke von Berth. Auerbad (2), Stuttg. 1872, aud von Kirch— 
mann und Schaarſchmidt (Philof. Bibl.). — Ethik, Briefwechfel und theol.-polit. Traftat 
von Hugo Ginsberg, Leipz. 1875 ff., herausgegeben. 

git.: Bluntſchli, Geſch. d. Staatsrechts, 101—107. — Mohl, 1. 235. — Geyer, 
Geichichte und Syſtem der Rechtäphilofophie, 42. — Walter, NRaturreht und Politif, 
$$ 259, 545. — Hinrich, Geichichte der Recht: und Staatsprinzipien, I. 186—216. — 
Berth. Auerbach, Spinoza, Ein Denkerleben, Mannh. 1855. — Horn, Spinoza’s Staat: 
lehre, Deſſau 1851, 2. Aufl. Dresden 1869. — van der vinde, Spinoza’3 Lehre und 
deren erſte Nachwirkungen in Holland, Gött. 1862. — J. van Vloten, Spinoza, zijn leven 
en Schriften, Amst. 1862, 2. druk Schiedam 1871. — Sigwart, ®. de Spinoza's neu- 
entdedter furzer Traftat von Gott, dem Menichen und beijen re Gotha 1866 und 
Züb. 1870. — Eoronel, B. Spinoza im Rahmen feiner Zeit, Bajel 1873. — H. Gins— 
berg, Leben und Gharafterbild B. Epinoza’3, Leipz. 1876. — Janet, 11. 365—378. — 
— Vergl. der Rechts- und Staatstheorie des Spinoza und Hobbes, Tüb. 1842. — 
Ueberweg, Gründriß der Geſchichte der Philoſophie, (5) 1880 III. 64-985. — Franck, 
Reformateurs et publicistes, 1881, p. 410—429. Zeihmann. 


Epionage nennt man diejenige Auskundſchaftung von Verhältniffen oder Ab- 
fichten einer Macht (Staat, Sriegspartei), welche auf deren Gebiet außerhalb eines 


728 Spittier — Sprudliite. 


amtlichen Berufs und mit verheimlichter Abficht im Intereffe einer anderen Macht 
vorgenommen wird. Man unterjcheidet militärifche und politifche ©. 

Als Militäripion wird betrachtet, wer in Bezug auf einen vorhandenen Kriegs— 
zuftand heimlich und außerhalb einer militärischen Funktion (3. B. in Verkleidung) 
Erkundigungen im Interefje einer Kriegspartei auf dem Operationsgebiete der anderen 
einzieht. Nicht unter den Begriff der ©. fallen demnach Refognoszirungen ; dei 
gleichen nicht die bloße Mittheilung offenkfundiger Thatſachen, die dem Kriegsfeinde 
von Nutzen jein können, obwol eine jolche Eriegärechtlic geahndet werden ann; 
ebenjowenig die Sammlung von Nachrichten zu Privatzweden. Die KHriegsipionage 
kann den Thatbejtand eines bürgerlichen Verbrechens enthalten, wenn fie gegen den 
eigenen Staat ausgeübt wird, oder, obwol von Ausländern übernommen, gegen 
ein Strafgeſetz deffelben veritößt. Im Uebrigen wird fie ala Hoftilität behandelt. 
Gegen den Kundjchafter, der auf der ©. betroffen wird, wird nach Kriegsrecht ver- 
fahren, er ift dem Tode verfallen, gleichviel ob er auf Beiehl und im Auftrage ge 
handelt hat oder nicht; ob jein Thun Erjolg hatte oder nicht; ob es durch Gewinn: 
fucht oder durch Patriotismus diktirt war. Da er für ein jeindliches Unternehmen 
nicht den Weg offenen Kampfes, jondern Betrug und Täufchung gewählt bat, jo 
ichließt ihm ein noch gegenwärtig anerkannter Kriegsgebrauch von dem Soldatentode 
aus. Sein Loos iſt der Strang. Für Deutjchland Fällt die ©. ala Kriegs— 
verrath unter die Militärgerichtöbarfeit. 

Politiſche (insbefondere diplomatijche) Kundjchaften dienen dazu, um über den 
innern Zuftand eines fremden Staates, wie über die Richtung jeiner Politik Nach— 
richten einzuziehen. Bejondere Mittel hiergegen zu reagiren, gewährt das Völkerrecht 
nicht; es jet denn, daß derlei S. mit einem bürgerlichen Verbrechen (Beitechung, 
Landesverrath) konkurrire. 


Quellen: Deutiches Straf®B. 88 91— 93. — RMilitärStrafGB. ss 5759; 66. 
Code pen. art. 78, 79, 83. — Instructions for the government of armies of the U. ge 
1863, art. 88 (Blunticli, Modernes Völferredht im Anhange). — Bal. Actes de la con- 
ference nd Bruxelles, 1874. — Projet d’une declaration internationale, art. 18—22. — 
Seances du 1. et du 26. Aoüt. 

git.: v. Tann. Beiträge zum Staatd- u. Völkerrecht, I. 63 (1815). — v. Martens, 
Erzählungen, I. Nr. 15 (1800). — Bluntihli, Modernes Kriegsrecht m 

v artitz. 


Spittler, Ludw. Tim. Freih. von, & 10. XI. 1752 zu Stuttgart, 
wurde 1779 Profeffor der Philofophie in Göttingen, 1806 Oberſtudiendirektor, 
i 14. IH. 1810. 

Schriften: Krit. Unterſuch. der 60 laodicäiſchen Kanons, Bremen 1777. — Geiſchichte 
bes Kanon. Rechts bis alte, alle 1778 (in ben Werten Bb. I.) — Grundriß d. Geichichte 
der chriftlichen Kirche, Gött. 1782, 5. Aufl. von Pland, 1818. — Bon ber ehemaligen 
een ber norbiichen Kirche an den Römiſchen Stuhl, Hann. 1797. — Vorleſ. über 

— des Papſtthums, von Gurlitt, 1824—1828. — Vorleſ. über Politik, herausgeg. 
von v. Wächter, Stuttg. 1828. — Saͤmmtl Werke, herausg. von v. Wächter, 1827—1337. 

Lit.: Planck Ueber S. als Hiſtoriker, Gött. 1811. — Schulte, Sehhichte, II.b 167 

(über Heinrich Anton Epittler, S. 169). Zeihmann. 


Sprudlifte (Dienitlifte, Liste de session) ift das Verzeichniß derjenigen zum 
Geihworenenamt Berufenen, aus denen während einer ganzen Schwurgerichtsperiode 
auf dem Wege der Ausloofung und Ablehnung für jede einzelne Sache die zwölf Ge 
Ichworenen ausgewählt werden, welche darüber zu enticheiden haben. Der Vorgang 
bei Anlegung der ©. ijt folgender: Späteftens vierzehn Tage vor Beginn der 
Schwurgerichtsperiode findet in öffentlicher Sitzung des Landgerichtes (in Dejterreich 
des Gerichtshofes erjter Inſtanz) die Ausloofung der Gejchworenen aus der Jahres: 
lite (f. diefen Art. und d. Art. Gejchworene) in Gegenwart des Präfidenten und 
zweier Mitglieder des Gerichtes und des Staatsanwaltes jtattl. (In Oeſterreich 
wird auch die Advofatenfammer eingeladen, zu diefem Akte ein Mitglied zu ent: 


Stantsangehörigleit — Staatsanleihen. 729 


jenden.) Im die Urne werden die Namen aller noch auf der Jahreslifte befindlichen 
Perfonen gelegt; der Präfident zieht das Loos, und verliejt die Namen der Gezogenen. 
Mit der Ausloofung wird jo lange fortgeiahren, bis die Lifte auf die gefeßliche Zahl 
(30 in Deutichland, 36 in Dejterreich) gebracht ift. (In Defterreich wird gleich- 
zeitig eine Lifte von 9 Ergänzungsgejchworenen auf gleiche Weije gebildet, — ſ. d. 
Art. Hülfsgejhworenen). Da der Angeklagte bei der Bildung der Geſchworenen— 
bank durch Ausübung des Ablehnungsrechtes (j. d. Art. Ablehnung der Ge— 
Ihworenen) fich betheiligen joll, ift e8 nothiwendig, daß ihm die Spruchlifte zugänglich 
gemacht wird. Nach $277 der Deutjchen StrafP OD. muß ihm diefelbe „vor dem Tage, an 
welchem die Hauptverhandlung beginnen ſoll“, zugeftellt werden, wenn er fich nicht 
auf freiem Fuße befindet, außerdem muß fie auf der Gerichtsjchreiberei zur Einficht 
für ihm niedergelegt werden. Veränderungen der Spruchlijte, die fpäter eintreten 
($ 277 Abi. 2, $ 279 Abi. 2, $ 280 Abi. 2 u. 3), müfjen ihm ebenjalld mitgetheilt 
werden. Die Unterlaffung folcher Mittheilungen und wejentliche Unrichtigfeiten der- 
jelben (außerordentlich reiche Caſuiſtik hierüber bietet das Franzöſiſche Recht, j.Helie 
VII. 347 ff.) geben dem Angeklagten ein Recht auf Ausfegung der Hauptverhand- 
lung ; fonnte er, weil die Unrichtigfeit nicht rechtzeitig entdedt wurde, diejes Recht 
nicht ausüben, jo ift das Urteil anfechtbar. — Nach $ 303 der Oeſterr. StrafPO. 
find die Namen der Haupt- und Ergänzungsgeſchworenen jedem Angeklagten bei 
jonftiger Nichtigkeit fpätejtens am dritten Tage vor demjenigen, an welchem die Haupt— 
verhandlung beginnen ſoll, mitzutheilen. | 
Sit. u. Gigb.: S. den Art. Gejhworene. Glajer. 


StantBangehörigkeit, j. Reichs- und Staatsangehörigfeit. 


Staatsanleihen. (Uligemeines.) Der Begriff der „Staatsanleihe” , welcher 
ebenjo jehr auf dem Gebiet der Volkswirthſchaft wie auf dem Rechtsgebiet jeine 
wichtige Bedeutung hat, ijt fein feſt begrenzter. Geht man von der neuerdings ge— 
machten Unterjcheidung zwiichen Verwaltungsjchulden und Finanzſchulden 
des Staats aus, jo begründet die ©. regelmäßig eine Finanzſchuld. Als ſolche er— 
ſcheinen z. B. auch die ſog. Schatzanweiſungen jedenfalls in rechtlicher Beziehung, 
während diefelben wirthſchaftlich den Charakter einer Verwaltungsſchuld haben. 

Unter S. iſt im Allgemeinen jede Benutzung des Staatskredits zu verſtehen, 
welche darauf abzielt, außer und neben den regelmäßigen Staatseinnahmen der 
Staatsverwaltung Geldmittel zu verjchaffen. Auf den bejonderen Berwendungszwed 
der Geldmittel kommt es für den Begriff der ©. ebenjowenig an, wie auf die privat- 
rechtliche Form, in welcher fich die Sreditoperation vollzieht und welche eine jehr 
verichiedene jein kann. Die Staatdanleihe fann in der Form eines privatrechtlichen 
Darlehns, einer Wechjelbegebung, eines Rentenverkaufs, einer Kreirung und Ausgabe 
von Wertbzeichen, eines Verkaufs von Obligationen u. j. w. erfolgen. Es haben 
fich jedoch gewijje, der Natur und dem Zwed der S. beionders entiprechende Formen 
der Kontrahirung und der Verwaltung derjelben ausgebildet. Von dieſen bejonderen 
Arten der ©. wird in Folgendem vorzugsweije die Rede jein. 

(Volkswirthſchaftliches.) Nach der volfswirthichaftlichen Seite der 
©. entiteht in erfter Linie die Frage: in welchen Fällen der Staat dazu greifen 
darf, jeine Geldbedürfnifje durch eine Staatsanleihe zu befriedigen. In der Theorie 
herrſcht hierüber wenig Einverjtändniß. Der Werth der dafür aufgejtellten Regeln 
ift nur ein relativer. Diejelben werden den berufenen Faktoren jedoch zum Anhalt 
dienen, um gewifjen durch die Erfahrung als gefährlich erfannten Ausſchreitungen 
in der Benutzung des Staatskredits vorzubeugen. 

Man kann dem allgemeinen Satz zuſtimmen, daß der Staat zur Erhebung von 
Anleihen ſchreitet, wenn er Kapitale zur Erweiterung oder zur dauernden Erhaltung 
des ſtehenden Nationalkapitals gebraucht (Dietzel). Es würden danach die regel— 


730 Staatsanleihen. 


mäßigen, gewöhnlichen Ausgaben zum Betriebe und zur Inftandhaltung des Staats- 
weſens und feiner einzelnen Anstalten durch gleichmäßige Beiträge aller Staatö- 
bürger, d. 5. durch Steuern (abgejehen von den Einnahmen aus den Domänen und 
Betriebsanftalten des Staats), aufzubringen fein. Alle Ausgaben dagegen zu 
dauernden Berwendungen in den Staat oder jeine Anjtalten und Imftitute, zur 
Erweiterung oder dauernden Erhaltung derjelben, wären durch S. aufzubringen. 
Demnach wären in leßterem Wege zu beichaffen namentlich die Koſten der Anlegung 
von Eifenbahnen, Kanälen, Flußregulirungen u. ſ. w., aber auch zum Zweck größerer 
Bauten, 3. B. von Gerichtegebäuden und Gefängniffen im Falle durchgreifender 
Reformen. 

Bejonderd angezeigt find ©., wenn in Fällen der Noth und de 
Zwanges Mittel von erheblichem Umfange erfordert werden. Dahin gehören vor 
Allem die Kriegskojten, welche, wenn der Krieg ein gerechter ift, zum Schub und 
zur Grhaltung der gefammten Boltswirthichaft und zur Herſtellung von Verhältnifien 
bejtimmt find, welche eine geſunde Entwidelung des ganzen Volfelebens gewährleiften. 

Somit ericheint e& als ein anomales, auf die Dauer unhaltbares Verhältniß, 
wenn zur Dedung eines Defizit® in den gewöhnlich wiederkehrenden Ausgaben 
(dem Ordinarium des Budgets) Anleihen aufgenommen werden müffen. 

Der volfswirtbichaftlichen Natur der ©. entipricht es hiernach namentlich, von 
denjelben zu produftiven Sweden Gebrauch zu machen. Sie find alfo in eriter 
. Reihe geeignet zu Ginrichtungen, welche unmittelbar zur Erzeugung von Gütern 
dienen (Bergwerke, Fabriken) oder theils ala Gewerbebetrieb theils ala Mittel zur 
Hebung des Volkswohlſtandes erfcheinen wie die Verfehrsanftalten (Eifenbahn, Poft, 
Telegraphie). Im Uebrigen ift es in abstracto jchwer zu beitimmen, ob eine jtaat- 
liche Aktion einen produftiven Charakter hat oder nicht. Auch der Kriegsaufwand 
und die Koften von Schul: und Gefängnißbauten können produftiver Natur fein. 

Der oft gehörte Sat, daß durch die Aufnahme von ©. die Laften auf die 
nachiolgenden Generationen abgewälzt werden, ift nur in bejchränftem Sinne richtig. 
An den Laſten der Verzinjung und Amortifation nehmen die nachfolgenden Genera- 
tionen unter allen Umftänden Theil. Aber im Uebrigen ift es unleugbar, daß 
gegenwärtige Bedürfniffe nur mit gegenwärtigen Mitteln beftritten werden können, 
„der Krieg verſchießt nicht aus zukünftigen Kanonen zufünitiges Pulver“ (Michaelis). 
Werden jene Mittel der übrigen Volkswirthſchaft entzogen, jo trägt die Gegenwart 
indireft die ganzen Laften der Anleihe. Nur wenn die Anleihe aus entbehrlichem 
Kapital oder aus ausländifchen Mitteln beftritten wird, hat jener Sa eine relative 
Wahrheit. 

Ueber den Vorzug inländifcher Anleihen vor ausländiichen divergiren die Ans 
fichten. Unzweifelhaft verdienen in Ländern mit fapitalreichen Gingelwirthichaiten 
die inländifchen Anleihen den Vorzug. In folchen Ländern, wie namentlich in 
Frankreich und England, auch in Deutichland, wendet fich der anleihende Staat in 
erster Reihe an das inländiiche Kapital. Andererjeits werden kapitalarme Länder 
des auswärtigen Kredits nicht entbehren können. Die Nachtheile ausländiicher An- 
leihen liegen vorzugsweife darin, daß die Schuldverjchreibungen derjelben bei irgend 
welchen nicht vorherzufehenden Veranlaffungen zurüditrömen und dadurch den in- 
ländifchen Geldmarkt unficher machen. Man hat diejes „das Heimweh der inter 
nationalen Papiere“ genannt. Politifch kann durch ausländische Anleihen ein Abs 
hängigfeitsverhältniß entftehen. Allein die Gefahr von Verluften für die Angehörigen 
des auswärtigen Staats bildet wieder eine Sicherung für den jchuldenden Staat. — 
Bei ausländijchen Anleihen werden die Schuldverjchreibungen oft in fremder Währung 
oder in hHeimifcher und fremder Währung auägeitellt. In letzterem Fall ift ein 
beſtimmtes Werthverhältniß zu firiren. Auch empfiehlt fich bei ausländiſchen An: 
leihen die Errichtung von Zahljtellen im Auslande. Ein Beiipiel bietet für Deutich 
land die Bundesfriegsanleihe auf Grund des Gefehes vom 29. November 1870, 


Staatsanleihen, 731 


welche nach näherer Maßgabe der Beſtimmungen jenes Gejeges zum Theil in Eng— 
liſcher Währung ausgegeben worden ift. 

Die Anleihen find in der Regel verzinslich. Unverzinslich find nur gewiſſe 
jog. jchwebende Schulden und folche Anleihen, welche in der Form des Staatäpapier- 
geldes aufgenommen find. Für die Höhe des Nominalzinsfußes find der jeweilige 
Geldmarkt, die Dringlichkeit des Bedürfniſſes und der Kredit des darleihenden Staates 
maßgebend. Das Verhältniß des Nominalzinsfußes zu dem landesüblichen Zins— 
fuß bedingt den Kurs der Anleihen, d. h. den Preis, welchen der KHapitalift für die 
Anleihe zahlt (al pari, über pari, unter pari). Für freditarme Staaten empfehlen 
fih Hochverzinsliche Anleihen, weil diefe die Möglichkeit geben, bei eintretender 
Beilerung der Berhältniffe den Zinsfuß zu reduziren, was jedogh die Kündbarkeit 
der Anleihen vorausſetzt. 

Die Kündbarkeit der Anleihen — früher die Regel — wird neuerdings für 
den Gläubiger durchweg ausgeſchloſſen und für den Staat nur in beſchränkter Weife 
zugelaſſen. Ausgeichlofien wird diejelbe regelmäßig auch für den Staat, wenn bie 
Anleihe in der Form einer Rente Eontrahirt wird. Umgekehrt jtellt die Unkündbar— 
feit eine Kapitalanleihefchuld einer Rentenſchuld gleih. Die Unfündbarkeit jchüßt 
den Gläubiger einerjeits vor einer Herabjegung des Zinsfußes, andererjeitö vor Zins— 
verlujten bei auägeloojten Papieren, ſowie vor einer unzeitigen Rüdzahlung des 
Kapitals und der Mühe anderweiter Anlegung, während die Möglichkeit der Wieder: 
einziehung des Kapitals durch die erleichterte Webertragbarkeit der Schulbtitel (In— 
baberpapiere) vermittelt wird. Die Kündigung, wo fie ftattfindet, ift eine theilweife 
(durch Ausloofung) oder eine vollitändige. 

Eine Umwandlung des Zinzfußes einer ©. bezeichnet die jog. Konverjion. 
In der Regel handelt es fich dabei um eine Herabjegung des Zinsfußes (England 
1823, Frankreich 1852, Preußen 1862). Gine Konverfion fann aber auch zum 
Zwed der Umwandlung niedrig verzinglicher in hoch verzinsliche jtattfinden. Letztere 
Maßregel fommt namentlich bei einer Unifizirung (Konjolidation) verichiedener ©. 
vor. Selbitverjtändlich hat in diefem Falle eine Ausgleichung der KHapitalbeträge 
unter Zuzahlung oder Schaffung neuer Schuldtitel zu erfolgen. Ein Beifpiel bietet 
das Preuß. Konjolidationsgeje vom 19. Dezbr. 1869, durch welches unter Anderm 
einige ältere 4°, Anleihen in der Art zur Einlöſung gelangten, daß für je 900 Thlr. 
Nominal der älteren Anleihen 800 Thaler der neuen 44, %, konſolidirten Anleihe 
gegeben würden. 

Früher galt die Feſtſetzung bejtimmter Modalitäten für die Tilgung der 
Anleihen ala Prinzip. Neuerdings erkennt man, namentlich) wo die Anleihe in der 
Form der Rentenſchuld erfolgt, eine Pflicht des Staates nach einem beftimmten 
Plan die Tilgung der Anleihe zu bewirken, nicht an. ine jolche Pflicht ift auch 
auszuschließen, wenn der Staat genöthigt ift, die Tilgungsmittel und feinen fonftigen 
Bedarf durch neue Anleihen unter größeren Opfern zu beichaffen. Als regelmäßige 
Tilgungsart verbleibt dann der Rüdkauf der Echuldtitel an der Börfe nach dem 
Kurs und nach Maßgabe der vorhandenen etatsmäßigen Mittel. Durch die Befeitigung 
der planmäßigen Tilgung einzelner Anleihen wird die Verwaltung vereinfacht und 
der Verkehr mit den Papieren erleichtert. Die Beibehaltung einer regelmäßigen 
Tilgung empfiehlt fich jedoch in allen denjenigen Beziehungen, in denen der Staat 
als Privatunternehmer ericheint, 3. B. ala Bergwerks- oder Hütteneigner, Fabrikant 
oder auch bei Unternehmungen gemijchten Charakters, wie den GEifenbahnen. Im 
Uebrigen geichieht die Tilgung nach vorgängiger Kündigung, welcher bei theilweijer 
Zilgung die Ausloofung vorhergeht, durch Nüdzahlung al pari. , 

(Staatsrehhtliches.) Die große Bedeutung eines geordneten Staatsfredit- 
wejens für die Eriftenz des Staates und die Wohlfahrt des Volkes hat veranlaßt, daß die 
neueren Beriaffungsgeiege durchweg die Aufnahme von ©. an die Genehmigung der 
Volksvertretung fnüpfen und die Verwaltung der Anleihen unter Kontrole jtellen. 


732 Staatsanleihen. 


Don den Deutichen Staaten beitimmte zuerst Bayern in der Verj. Urk. von 
1818 im Titel VII. $ 11: „Zu jeder neuen Staatsjchuld, wodurd die zur Zeit 
beitehende Schuldenmafle im Kapitalsbetrage oder der jährlichen Verzinſung ver: 
größert wird, ift die Zuftimmung der Stände des Neiches erforderlich.“ Aehnliche 
Beitimmungen enthalten die meiften übrigen Verfaffungen. Einzelne derjelben, 3. 8. 
Sachſen $ 105, geben der Regierung für befonders dringliche Fälle das Recht 
ein Anlehn auch ohne vorherige Zuftimmung der Stände aufzunehmen, jedoch vor 
behaltlich der Einholung nachträglicher Genehmigung, oder unter Anordnung einer 
beichränften Mitwirkung durch Ausſchüſſe, wie Baden, 88 5 und 63. 

Ausnahmsweiſe findet fich die Beitimmung, daß der Schatzanweiſungs— 
verkehr freigegeben ift. So beitimmt Baden $ 57, daß der Zuftimmung der Stände 
nicht unterliegen ſollen: „Anlehen, wodurch etatsmäßige Einnahmen zu etatsmäßigen 
Ausgaben nur antizipirt werden, jowie die Geldaufnahmen der Amortijationafafle, zu 
denen fie, vermöge ihres Funktionsgeſetzes, ermächtigt iſt.“ 

In Preußen beitimmte jchon die Verordn. vom 17. Januar 1820, welde 
den Staatjchuldenetat auf immer für geichloffen erflärte, daß künftig die Aufnahme 
neuer Darlehen „nur mit Zugiehung und unter Mitgarantie der künftigen reiche 
ftändischen VBerfammlung geichehen jolle“. Späterhin verordnete der Artifel 103 der 
Verf. Urk. vom 31. Januar 1850: „Die Aufnahme von Anleihen für die Staats 
faffe findet nur auf Grund eines Geſetzes ftatt. Daffelbe gilt von der Uebernahme 
von Garantien zu Laſten des Staates.“ 

Für dad Deutfche Reich beitimmt der — auf einem Zuſatz des Neichätage 
beruhende — Artikel 73 der RVerf.: „In Fällen eines auferordentlichen Bedürtnifiet 
fann im Wege der Neichögefeßgebung die Aufnahme einer Anleihe, ſowie die Ueber: 
nahme einer Garantie zu Laſten des Staates erfolgen.“ Im Reich ift ſonach ebenſo 
wie in Preußen die Aufnahme von Anleihen — in welcher Form, zu welchem Zwed 
und aus welcher Beranlaffung fie auch erfolgen möge — ohne Zuftimmung der 
Volksvertretung unzuläffig und kann diejelbe insbefondere nicht im Wege der octroyirten 
Verordnung ftattfinden. Das Reich hat von der Anleihebefugniß zuerſt zu Sweden der 
Erweiterung feiner Wehrfraft zur See und zum Küſtenſchutz (Bundesgeſ. vom 9. Nov. 
1867), zu Kriegszwecken (1870/71), zu internationalen Einrichtungen (Bau der St. Gott: 


hardbahn; Geſetz vom Er a) und neuerdings zu verichiedenen Verwaltungs: 


aweden Gebrauch gemacht. 

Die Verwaltung der ©. ift befonderen Staatsbehörden anvertraut und unter: 
liegt außerdem der Kontrole der allgemeinen Rechnung&behörden (Oberrechnungs: 
fammern). Im Deutichen Reich Lehmen fich die einfchlägigen Vorjchriften materiell 
und formell an die entiprechenden Einrichtungen in Preußen an. In Preußen er: 
ging nach) Emanation der Veriaffung das Gejeg vom 24. Februar 1850, betr. die 
Verwaltung des Staatsſchuldenweſens und die Bildung einer Staatsſchuldenkommiſſion. 
Die Verwaltung des Staatsjchuldenweiens leitet eine bejondere Behörde, die jog. 
„Hauptverwaltung der Staatsjchulden“. Diejelbe ift dem Finanzminiſter unterftellt, 
jedoch bezüglich gewiffer namentlich die Verwaltung der Anleihen betreffenden Funk— 
tionen jelbjtändig und unbedingt verantwortlich. Dahin gehören bejonders: die 
Ane und Ausfertigung und Ausreichung der verzinslichen und unverzinslichen Staats— 
jchuldendofumente, die regelmäßige Verzinfung und unverfürzte Verwendung der zur 
Schuldentilgung überwiejenen Fonds, die Löſchung, Kaflation und Aufbewahrung 
der eingelöften Dokumente bis zu deren Vernichtung. Die „Sauptverwaltung der 
Staatsſchulden“ iſt unter eine bejondere Staatichuldentommiflion gejtellt (SS 1 und 
10 des Geſetzes vom 24. Febr. 1850), welche aus je drei Mitgliedern des Herren— 
und Abgeordnetenhaujes und dem Wräfidenten der Oberrechnungstammer  beitebt. 
Dieje Kommiſſion fontrolirt den Gejchäftäbetrieb der Hauptverwaltung , inäbejondere 
der Staatsjchuldentilgungstafle, und eritattet beiden Häuſern des Yandtages ab» 





Staatsanleihen. 733 
geionderten Bericht behuis Grtheilung der Decharge der von jener Kaffe gelegten 
Rechnungen. 

Im Reich wurde anfangs die Einrichtung einer ſelbſtändigen Staatsſchulden— 
verwaltung beabfichtigt. Ueber die desfallfigen Entwürfe (1867 und 1868) kam in— 
defien eine Einigung mit dem Reichstage nicht zu Stande. Eine Aushülfe gewährte 
das Neichögejeß vom 19. Juni 1868, betr. die Verwaltung der nad Maßgabe de& 
Geſetzes vom 9. Nov. 1867 aufzunehmenden Bundesanleihe, welches die Kontrole 
der Verwaltung dieſer Anleihe der Preuß. Hauptverwaltung der Staatsſchulden 
übertrug und neben derjelben eine Reichsſchuldenkommiſſion, beftehend aus je drei Mit- 
gliedern des Bundesraths und des Reichstags, ſowie dem Präfidenten des Rechnungs» 
hofes, einjeßte. Für die fpäter aufgenommenen Reichsanleihen ift in den betreffenden 
Gejegen jedesmal die Anwendung des Geſetzes vom 19. Juni 1868 vorgefehen. 
Hervorzuheben ift, daß der $ 1 des letzteren Gejeges die unbedingte Verantwortlich- 
feit der Hauptverwaltung auch darauf erftredt, daß eine Konvertirung der Schuld» 
verichreibungen nicht anders als auf Grund eines Geſetzes und nach Bewilligung 
der erforderlichen Mittel vorgenommen werde. In Preußen beſtand hierüber ein 
aus Anlaß der Konvertirung von 1862 im Abgeordnetenhauſe entitandene Kon— 
troverje. 

Arten und Formen. — ©. find in allen Formen vorgefommen, in denen 
das Privatrecht die Benugung des Kredits zugelaffen hat. Es fünnen hier nur die 
Grundformen hervorgehoben werden, in denen die modernen Staaten ihre Schulden 
aufzunehmen pflegen. 

Zunächſt unterjcheidet man: ob die ©. eine jchwebende Schuld (dette 
flottante) oder eine fundirte Schuld begründen, welche eritere auf kürzere Zeit 
mit beſtimmtem oder durch freie Kündigung feſtzuſetzendem Termin, letztere dagegen 
für längere Zeit oder formell für immer fontrahirt werden. — Die wichtigfte hier 
in Betracht kommende jchwebende Schuld find die ſog. Schatzanweifungen. 

Die Anleihen find ferner unverzinsliche oder verzinsliche. Bei unver- 
jinslichen Anleihen kann eine Vergütung durch Emiſſion unter Pari oder Abzug 
des Diskonto's vom Nominalbetrage (letzteres auch bei Schatzanweiſungen ge= 
bräuchlich), oder durd; Gewährung einer Prämie der Rüdzahlung (Lotterieanleihen) 
gewährt werden. Bei Lotterieanleihen kommt auch Berzinfung (zu einem niedrigen Zins— 
fuß) und gleichzeitig Prämie vor. Die prinzipiell verwerflichen Prämienanleihen 
haben für Deutjchland durch das RGeſ. vom 8. Juni 1871, betr. die Inhaber: 
papiere mit Prämien, eine wejentliche Einſchränkung erfahren. Nach $ 1 diefes Geſetzes 
dürfen Inbhaberpapiere mit Prämien nur auf Grund eines NReichögefeges und nur zum 
Zwed der Anleihe eines Bundesftaates oder des Neiches ausgegeben werden. Der 
Handel mit neuen ausländischen Prämienpapieren ift durch jenes Gejeß verboten, 
und auch ältere ausländifche Papiere diefer Art von der behördlichen Abſtempelung 
im Inlande (bi 15. Juli 1871) abhängig gemacht — beides bei Strafe. Den 
wichtigiten Theil der umverzinslichen S.jchuld bildet das jog. Staatspapiergeld, 
d. h. auf einen beftimmten Geldbetrag lautende, unter öffentlicher Autorität aus— 
geitellte Werthzeichen. Das eigentliche Papiergeld iſt uneinlösbar und hat 
Zwangskurs, d. 5. ift gejeßliches Zahlungsmittel (Papierwährung). Beifpiele: Die 
Affignaten der Franzöſiſchen Revolutiongzeit, die Greenbads von Nordamerika 
(Gejeg vom 25. Februar 1862) ıc. Das eigentliche Papiergeld giebt der Staat 
entweder jelbit aus oder er verfieht die Noten feiner Hauptbanf mit Zwangskurs, 
wie 3. ®. gegenwärtig die Noten der Defterreichifchen und Italienifchen National« 
banf, zeitweife auch der Bank von Frankreich — Das uneigentlidhe Staats— 
bapiergeld dient neben Gewährung unverzinslichen Mredits zur Vermehrung anger 
mefjener Umtaufchmittel. Es hat keinen Zwangskurs für den Privatverfehr, wird 
aber von den Staatöfaffen zum Nennwerth in Zahlung angenommen oder gegen 
baares Geld umgetauscht. In diefem Sinne hat das Deutiche Reich durch Geſetz 


734 Staatsanleihen. 


vom 30. April 1874, betr. die Ausgabe von Reichskaſſenſcheinen, die Papiergeldfrage 
geregelt, und zwar unter Bejeitigung des Papiergeldes der Einzeljtaaten. Der Ge 
jammtbetrag der NReichsfaflenicheine von 120 Millionen Mark ift nach dem Maßitab 
der Bevölkerung unter die Bundesitaaten vertheilt. Die Reichskaſſenſcheine find von 
allen KHaflen des Reichs und der Bundesjtaaten in Zahlung zu nehmen, eine 
Pflicht zur bloßen Einlöjung (Umtaujch) hat nur die Neichshauptfafle. Der Privat: 
mann tt zur Annahme von Reichskaſſenſcheinen bei Zahlungen nicht verpflichtet. 

Endlich unterfcheidet man freiwillige (im weiteren Sinne) und Zwangs— 
Anleihen. Letztere find ihrer Entjtehung nach eine Art der Bejteuerung, ihrer 
Wirkung und Verwaltung nach jtehen fie anderen Anleihen gleih. Als ein ganz 
außergewöhnliches Mittel der Kreditbenußung erfolgt die Aufnahme derjelben jedesmal 
unter bejonderen, den Umitänden angepaßten Bedingungen. — Als Zwangsanleihe 
harakterifirt fich virtuell auch die Ausgabe von uneinlösbarem Staatspapiergeld mit 
Zwangsfurs. 

Als typiiche Formen, in welchen die neueren Staaten ihre Anleihen fontrabiren, 
ericheinen folgende: 

1) Shaßanweijungen (bons du Tresor public, exchequer bez. treasury 
bills). ®Diejelben enthalten das Verſprechen der Zahlung einer bejtimmten Summe 
zu einer bejtimmten (kürzeren) Zeit. Sie werden verzinslich und unverzinslich und 
in der Regel auf größere Beträge (100 Mark, 500 Francs, 100 M) auägefertigt. 
An der Börſe werden diejelben wie Wechſel gehandelt und al pari (zufäßlich der 
Zinjen) unter Abzug des jeweiligen Diskonto's begeben. Aus praftifchen Gründen 
empfiehlt fich die unverzinsliche Ausgabe. 

Schafanweilungen dienen zur Antizipirung von Ginnahmen, und zwar jowol 
ordentlicher wie außerordentlicher. In der Regel werden diejelben zur Ausgleichung 
der unregelmäßig eingehenden Ginnahmen bzw. zu leiftenden Ausgaben, — jur 
vorübergehenden Berftärfung der Betriebsffonds — bemußt. In diefer Geftalt er 
jcheinen dieſelben neuerdings alljährlich in den Gtatögejeßen des Neiches und in 
Preußen. Aber auch zur Dinausjchiebung von fundirten Anleihen auf eine für die 
Aumahme derjelben oder die Begebung von Iheilbeträgen derſelben günjtigere Zeit 
werden Schatzanweiſungen angewendet. Die Anleihegeieße des Deutichen Reiche: 
gewähren deshalb der Verwaltung regelmäßig die Beiugniß zur Beichaffung der 
eriorderlichen Summen, eine Anleihe aufzunehmen und Schaßanmweifungen auszugeben. 
In Preußen erfolgte die Ausgabe von Schatzanweiſungen zuerit auf Grund des 
Geſetzes vom 28. Septbr. 1866, im Weich auf Grund des Geſetzes dom 9, Novbr. 
1867. Die vom Deutichen Reich ausgegebenen Schakanmweifungen haben 
folgendes Formular: 


Vorderfeite. : 


Shah: ed Fällig am zwanzigiten Oktober 1880. Ser. IX, Lit. A. Nr. W. 


Deutfchen Reiches | Unverziusliche Schatz- Auweiſung des Deutſchen Reiches. 
über Geſehz, betr. die — des Reichshaushalts· Etats für das Etatsjahr 
000 Marf. 1880/81, vom — aͤrz 1880, 8 3. 


—— Die Königlich Preußiſche Staatöfchulden-Tilgungätafl e in 
Ser. IX. Lit. A. Berlin zahlt dem Inhaber diejer Schatz⸗Anweiſung drei Monate 











Fol. 0. nach heute den Betrag von 
u 00. | 000 Mark, ai 
Umlaufszeit vom in Worten: taufend Mar. S 
20. Juli bis | Eingetragen Berlin, den zwanzigiten Juli 1880. ” 
20. Oktober 1880. | Fol, 0 
| Kontrole = Staatöpapiere. = 
Stammleiſte. Reichsſchulden-Verwaltung. Ausgefertigt. 


Staatsanleihen. 735 


Rüdjeite. 
Cchag-Anweifung des Deutjchen Reiches. 

1) An dem umjeitig angegebenen Tage der Trälligfeit und weiterhin bis 
zum Ablauf der Verjährungsfriſt kann der in diefer Schat-Anweijung 
verjchriebene Kapitalbetrag außerhalb Berlins auch durch Vermittelung 
jämmtlicher Reichsbank-Hauptſtellen, infoweit die bei denjelben vorhandenen 
baaren Beitände dazu auäreichen, und nachden die betreffende Stelle 

© zuvor die bei ihr einzureichende Schag-Anweifung Behufs der Verifikation 
2 an die Staatsſchulden-Tilgungskaſſe eingeſendet, und deren Anweiſung zur 
Zahlung eingeholt hat, erhoben werden. 

2) Bei unterbleibender Einreichung dieſer Schatz-Anweiſung iſt der Kapital— 
betrag nach Ablauf von dreißig Jahren, vom Tage der Fälligkeit 
an gerechnet, zum Beſten der Reichskaſſe verfallen. 


000 


In Frankreich werden die Bons du tresor public verzinzlich auf den In— 
baber oder auf Namen (an Order) ausgejtellt; fie beruhen auf dem Dekret vom 
29. April 1814 und den Geſetzen vom 4. Auguft 1824, bzw. 24. April 1833. 

In England beitehen die Exchequer Bills jchon jeit 1695 und beruhen jetzt 
auf dem cap. 25. Vict. 29 (an act to consolidate and amend the several Laws 
regulating the Preparation, Issue and Payment of Exchequer Bills and Bonds 
18th May 1866). Sie werden verzinslich mit Coupons auf Fünf Jahre ausgeftellt. 
Neuerdings werden auch auf Grund der Treasury Bills Act vom 16. Mär; 1877 
(40 Vict. c. 2) Treasury Bills mit zmwölfmonatlicher Umlaufszeit und (nach den 
näheren Anordnungen des Schatzamts) verzinslich ausgegeben. Die Ausgabe und 
Ginlöfung der Exchequer und der Treasury Bills erfolgt durch die Bank von England. 

2) Staatsjchuldverjchreibungen. Dieſe bilden die in Deutichland her— 
fömmliche Art der Aufnahme von S. Sie find Schuldurkunden auf den Inhaber 
(jeltener auf den Namen) lautend über eine bejtimmte Summe nebjt Zinfen und mit 
Gouponsbogen verjehen, deren Coupons zu beftimmten Terminen (halbjährlich) zahlbar 
find. Der Gefammtbetrag einer Anleihe wird in eine größere Zahl von Stücken mit 
verjchiedenen Nominalbeträgen (jet mindeitens 200 Mark) zerlegt. Dieſe Form der 
Ausfertigung begünftigt die Mebertragbarkeit und die Leichtigkeit des Verkehrs mit den 
Papieren. Sie entitand in Deutichland, weil die einzelnen Staaten ſich an den Euro— 
päiſchen Geldmarkt wenden und deshalb Leicht verfäufliche Schuldtitel Herftellen 
mußten. Früher war für jede Anleihe die Tilgung obligatorisch und wurde Art, Um— 
fang und Zeit der Tilgung bei Emifjion der Anleihe von vornherein feſtgeſetzt. Es 
hatte diejes die Entſtehung zahlreicher verichiedener Schuldtitel zur Folge, was den 
Verkehr mit denjelben erjchwerte, die Papiere im Welthandel nicht auflommen lieh, 
dadurch aber den Kurs drücdte, und zumal bei der Verfchiedenheit der Tilgungs— 
modalitäten die Verwaltung weitläufig machte. Dieje Verhältniffe führten in Preußen, 
in nächjter Veranlaffung durch das zu Ende der jechziger Jahre hervorgetretene Defizit, 
zu der, wenn auch nicht volljtändigen Unifizirung der Staatsſchuld durch das jog. 
Konjolidationsgejeg vom 19. Dez. 1869 (Fyinanzminifter Gamphaufen). Durch 
diejes Gefe wurden eine Reihe älterer 41/,= und Aprozentiger Anleihen durch eine 
neue fonjolidirte Anleihe in 44, Prozent erſetzt. Das Charakteriftifche diejer neuen 
Anleihe war, daß — unter Abjegiwg der entiprechenden erheblichen jährlichen Til: 
gungsiummen dom Staatöbudget — von einer Tilgungspflicht abgejehen und nur 
der Ankauf von Schuldverichreibungen je nach dem Vorhandenfein disponibler Mittel, 
außerdem aber die Kündigung der jämmtlichen im Umlauf befindlichen Schuld» 
verjchreibungen — unter Ausfchluß diefer Kündigung bis zum 1. Januar 1885 — 
dem Staate vorbehalten wurde. Auf Grund jpäterer Anleihegejeße (zuerit Geſetz vom 
11. Yunt 1873), welche die Beitimmung des Zinsjates dem Finanzminiſter über: 
ließen, wurden vom Jahre 1876 auch 4prozentige Konjols ausgegeben. Auf gleichen 





u 


736 Staatsanleihen, 


Grundfäßen, wie die Preußische Eonfolidirte Anleihe beruht die Deutfche (jet nur 
4prozentige) Reichsanleihe, zuerit auf Grund des Gejekes vom 27. Januar 1875 
ausgegeben. Dieje Grundfäße find in den für den Nordbdeutichen Bund erlafjenen 
Geſetzen vom 9. Nov. 1867 und 6. April 1870 enthalten und werden in den einzelnen 
Anleihegejegen auf die neue Anleihe für anwendbar erflärt. Das Formular der 
Deutichen Reichsanleihe lautet: 

Anleibe 


des Deutichen Reihs vom Jahre 1879. 

Schuldverſchreibung 
Lit. E. über No. 00000 

Mark 200 Mart 

Zweihundert Mark 
Reihswährung 
verzinglich mit Vier vom Hundert, 

ausgefertigt nach den Beitimmungen der Gejehe vom 30. März 1879 (R.GBl. 
S. 121) und vom 15. Mai 1879 (R. G. Bl. ©. 139). 

Die Zinfen werden bei der Königlich Preußiſchen Staatöfchuldentilgungstafie 
in Berlin und außerdem bei den vom Reichskanzler zu bezeichnenden Stellen halb: 
jährlih am 1. April und am 1. Oktober an den Ueberbringer der fälligen, hierzu 
gehörigen Coupons berichtigt. Die Coupons find ungültig, wenn ihr Geldbetrag 
nicht binnen vier Jahren, vom Fälligkeitstermin ab gerechnet, erhoben worden iſt. 
Von vier zu vier Jahren werden zu dieſer Schuldverichreibung neue Zinscoupons 
mit Talon verabreicht. 

Die Tilgung des Schuldkapitals erfolgt in der Art, daß die durch den Reiche 
haushaltsetat dazu beftimmten Mittel zum Anlauf einer entiprechenden Anzahl von 
Schuldverfchreibungen verwendet werden. Dem Deutichen Reiche bleibt das Recht 
vorbehalten, die im Umlauf befindlichen Schuldverſchreibungen zur Ginlöfung gegen 
Baarzahlung des KHapitalbetrages binnen einer geſetzlich feftzuftellenden Friſt zu fün 
digen. Den Inhabern der Schuldverjchreibungen jteht ein Kündiqungsrecht gegen 
das Deutiche Reich nicht zu. 

Berlin, den 1879. 

L. 8. 
Reichsſchulden-Verwaltung. 
(Unterſchriften:) 
Beigefügt find die Coupons Serie I Nr. 1 bis 8 mit Talon. 
Kl. V. Fol. 000 Nr. 00000 Ausgetertigt . ..... 
200 
Eingetragen: 
Kontrole der Staatäpapiere 
(Anterſchrift:) 


Durch den Ausſchluß der Tilgungopflicht geht die Staatejchuldenverfchreibung 
in die Rentenjchuld über, die vollfommenjte Form der Staatsanleihen. 

3) Renten. — England und frankreich fontrahiren ihre Schulden in ber 
Form von Renten. Die Englijhe Rente wurde früher lediglich in das große 
Buch für eine beftimmte Perfon eingetragen, was die Einziehung der fälligen Raten 
jowol, wie die Nebertragung erſchwerte. Diejes wurde abgeändert durch die act 26 
Viet. cap. 28 („Stock certificate act 1863*). Die Beitimmungen diefer Acte find 
demnächſt in das die Hauptvorfchriften über die Englifche Nationalfchuld Eodifizirende 
vom 9. Auguft 1870 — The National Debt Act. 1870 (33 et 34 Vict. 
e. 71) — übergegangen. Danach hat jeder im-Great book Eingetragene das Redt, 
ſich gegen eine bejtimmte Gebühr anftatt jeines Kontos Obligationen auf dm 


Staatsanleihen. 737 


Inhaber oder auf Namen lautend — und mit Coupons auf mindejten® 5 Jahre 
verjehen, ausjtellen zu laffen. Die Formel diefer Obligationen lautet: 
„This is to certify, that the Bearer of this Certificate (Raum für Namen) — 
is entitled to Thousand (Fifty) Pounds (50 £ der niedrigfte, 1000 £ der höchite 
Betrag) Consolidated Three per Centum Annuities, subject to the Provision of 
the Statute 40th Victoria 71 and to the Regulations affecting the same. 
(Datum.) (Unterjchrift:) 
Die Franzöſiſche Rente beruht auf den Gefegen vom 24. Auguft 1793 und 
30. September 1797, durch welche die Errichtung des „Grand livre* angeordnet 
wurde. Ueber die Eintragung der Rente wurden „titres“ auf den Namen und auf 
den Inhaber ausgejtellt. In den titres iſt ausgedrüdt, welchem Kapitale und 
welchem Zinsfuße die Rente entjpreche. Xebteres Hat den Grund, weil fich der 
Staat zu dem Nennwerth (d. 5. je Hundert dem Betrage des Zinsfußes entiprechend) 
al® dem pari dag Kündigungsrecht und damit die Möglichkeit einer Zinsreduktion 
vorbehält. Der Zinsfuß ift verſchieden, meift zu 3%,, aber auch zu 4 und 41/, 9/,. 
Die Rentenſchuld von 1872 iſt 5%,ig.: Der niedrigite Betrag ift 5 France. 
Die Formeln lauten im Wejentlichen: 


(3,ige Rente auf Namen:) (Auszug aus den Geſetzen 
Dette Publique. vom 2. Aug. 1793 und 
Trois pour Cent. 24. April 1833.) 
Extrait d’inscription au Grand-Livre. 
No.... Serie... Rente... 
Le directeur de la Dette inscrite certifie que 
— Namen — 
est inscrit sur le Grand Livre des Trois pour cent pour une rente annuelle 
de — — avec jouissance des arrerages à compter du 1% 2844 
Paris, le — — 18.. 


(Unterjchrüften :) 


(5%, Rente auf den Inhaber.) 
Dette Publique, 
Cinq pour Cent. 





Loi du 21. Juin 1871. 


Le Directeur de la Dette inscrite certifie que le Porteur a droit à une Rente de 
Cinq francs. 
Avec jouissance du 16. Aoüt 1872. 
(Datum und Unterjchriften :) 


Durch das Kaiferliche Dekret vom 18. Juni 1864: „portant creation, pour 
les propri6staires de Rentes trois pour cent qui en feront la demande, de Titres 
nominatifs de sommes fixes et numis de coupons d’arrörages payables au porteur‘‘ — 
wurde es den Rentenbejigern bzw. den Befitern von titres au porteur freigejtellt, 
ihre Rente gegen Infkriptionen auf den Namen mit Coupons verjehen (titres mixtes) 
umzutaufchen. 


(Begebung oder Emijfion.) Die Rechtsverhältniffe, welche zwiſchen dem 
Staat und dem Gigenthümer jeiner Schuldtitel entftehen, geitalten fich nach der 
Art der Anleihen verichieden. Die gegenjeitigen Rechte und Pflichten ergeben fich im 
Allgemeinen jchon aus der vorhergehenden Darftellung. Bon bejonderer Wichtig: 

v. Holgendorff, Enc. II. Rechtslexiton III. 3. Aufl. 47 


738 Staatsanleihen. 


feit, und zwar privatrechtlich jowol, wie finangiell, ift die Art der Ausführung 
der Anleihen, die Begebung oder die jog. Emijjion. Es kann hier nur in Umriffen 
auf die verjchiedenen Formen hingewiejen werden, in denen neuerdings die Kontrahi— 
rung von Anleihen jtattzufinden pflegt. Früherhin war es allgemein gebräuchlich, 
daß eine Hauptobligation (mit Pfand- oder Hypothekenverſchreibung) für einen 
Dritten (Bantier, Konfortium), welcher entweder Selbjtverleiher oder Mandatar war, 
ausgeftellt und dieje in Theilbeträgen (Partial- Obligationen) zerlegt wurde. Gegen: 
wärtig bildet es die Negel, daß nur einzelne Schuldverichreibungen über gewiſſe 
Kapitalbeträge und Zinjenappoints oder über Nentenbeträge nebit Coupons ausgefertigt 
und an den Markt gebracht werden. Die Begebung der Anleihe (Emiffion) erfolgt 
entweder durch den Staat jelbjt oder durch eine Mittelsperſon, wie in dem eriteren 
Fall die Regel ift. Die Arten der Begebung find danach hauptjächlich folgende: 

Freihändiger Verkauf der Schuldverichreibungen jeiten® der Finanz— 
verwaltung direft oder durch Vermittlung eines Bankinſtituts. In diefer Weife find 
in der Negel gleichzeitig nur geringere Beträge unterzubringen. Sie empfiehlt ſich, 
wenn der Geldmarkt gut ijt und feine dringenden Bedürfniffe von großem Umfange 
vorliegen. Bejonders gebräuchlich iſt diefe Art der Begebung in England, wo die 
Finanzverwaltung von Zeit zu Zeit stocks (Rentencertififate) auf den Markt bringt. — 
Volksanleihen im Wege öffentlicher Subjkription. Im Prinzip ift dieſes die 
vollfommenjte Art der Begebung von ©., da fie fi) an die Gefammtheit wendet. 
Don derjelben wird namentlich in Zeiten patriotiicher Erhebung Gebrauch gemacht 
(Preußen 1859, Deutichland 1870), ihr Erfolg iſt aber oft zweifelhaft. Dieſe Art 
der Begebung bildet in Frankreich die Regel. Das Rechtsverhältnig zwiſchen Staat 
und Subjfribent richtet ſich nach den veröffentlichten Bedingungen. — Börfen: 
anleihen; — der Darleiher (in der Regel ein Konjortium) übernimmt einen 
bejtimmten größeren Anleihebetrag durch einen Vertrag, deſſen Modalitäten jehr 
verichieden fein können. In der Regel verpflichtet fich der Darleiher unter Kautions— 
bejtellung den Anleihepreis in bejtimmten Terminen gegen Aushändigung der Schuld- 
titel (oder Jnterimsfcheine) zu zahlen. Gr vertreibt die Schuldtitel unter der Hand 
oder an der Börſe, oder legt jelbit eine öffentliche Subfkription auf, welche letztere 
ihm im öffentlichen Intereſſe behufs Betheiligung des Gefammtpublitums in dem 
, Begebungsvertrage zur Pflicht gemacht fein kann. Bei dieſen Gejchäften ift zu unter: 
jcheiden zwifchen dem Begebungsfurs (dem Preis des Darleihers), dem Sub: 
jEriptionsfurs (dem Preis des zeichnenden Publitums) und dem Börſenkurs 
(dem wechjelnden Berkehrspreis). Nach der Differenz dieſer Kurſe richtet fich der 
Gewinn der Betheiligten. Die richtige Abmeffung des Begebungskurſes bildet hierbei 
die Hauptichwierigfeit für den Staat. — Als eine befondere Art der Börfenanleihen 
ericheinen die Anleihen im Wege Öffentliher Submijjion. Es iſt dieies ein 
Verding an den Höchitbietenden (in der Regel ein Konjortium). Gin Beispiel neuerer 
Zeit bietet die in Defterreich auf Grund des Geſetzes vom 25. März 1880 erfolgte 
Emiffion von 20 Millionen Gulden in Obligationen der durch Geſetz vom 18. Mär 
1876 gejchaffenen 4°, ,igen Goldrente, welche mit gutem Erfolge durchgeführt wurde. 
Welche Art der Begebung dem Staate am vortheilhafteften ift, richtet fich nad 
den jeweiligen Verhältniffen auf wirthichaftlichem und politifchem Gebiete. 

Lit: I Finanzwirthihaftlih: Nebenius, Der öffentliche Kredit, 2. Aufl, 
Karlar. 1829. — Diekel, Syftem ber Staatd:Anleihen, Heibelb. 1855. — Wirth, Grund: 
züge ber National-Detonomie, 3. Aufl., Bd. IL ©. 653 (1869. — Abd. Wagner, Akt. 
Staatsfchulden, in Bluntichli’3 Staatöwörterbuch (1867). — Naffe, Steuern und Staat# 
anleiben, in der rg Zeitichr. f. d. gefammte Staatswiffenihaft (1868), — Michaelis 
(Otto), Volkswirthſch. Schriften, Bd. II. ©, 183 ff. (Berlin 1873) — vd. Stein, Lehrbud 
der Finanzwiſſenſchaft, Bd. II. ©. 340 ff. (4. Aufl., Leipzig 1878), — Für Preußen: 
Krug, Geichidhte der Preuß. Staatsichulden, Breslau 1861. — Richter (Eugen), Tas 
Preuß, Staatsjhuldenweien, Breslau 1869; Derjelbe, Das Gejek betr. die Konſolidation 


ber Preuß. Staatsanleihen, Breslau 1870, — Bergius, Grundſähe der Finanzwirtbicaft, 
2. Aufl., Berlin 1871, S. 623 ff. — II Rechtswiſſenſchafthich: Laband, Das Finanz 


Staatsanwaltidaft. 739 


recht d. Deutjchen eur in N. : tg 1873, ©. 435 ff. — v. Rönne, Staatärecht 
bed Deutichen Reiches, 2 I y Bd. I 85 ff.; Derielbe, Staatärecht der Preußiichen 
Monarchie, 3. Aufl., 3b. L 1a F 1. 2 © 7 23 ff. — Für die privatrechtlide 
Seite: Brindmann, —8 ». Bandelsredte, $ 5 185 (1860), — Endemann, Deutſches 
andelsrecht, 3. Aufl., Heidelb. 1876, 3. Aufl.; 5 139 (bie ——— SR: $ 140 (b. 
miffionsgefhäft). — Gareid, Das Deutiche ER, Berlin 1880, S. 403 ff. R. 

Staatsanwaltſchaft (ministère public): eine ſtändige Bachs, zu deren 
wejentlichen Funktionen die Betreibung der Strafverfolgung im Namen des Staates 
gehört und welche außerdem in größerem oder geringerem Umfang, je nach den 
Organifationsprinzipien der Rechtspflege in verjchiedenen Ländern, auch eine Mit- 
wirkung im Giv. Prz. oder eine Thätigkeit als Auffichtsorgan der Juftizverwaltung 
ausübt. (S. Th. I. ©. 778.) 

Il Geſchichtliches. Das Altertfum kennt feine der heutigen S. analoge 
Einrihtung. Zwar finden fich im mittelalterlichen Prozeß Keime einer von Amts— 
wegen betriebenen und durch befonders beauftragte Perjonen wahrzunehmende Anklage: 
erhebung, insbejondere zur Geltendmachung fisfalischer Anfprüche. Doch gelangten 
diejelben nirgends, außer in rankreich, zu einer folgerichtigen, auf die Gegenwart 
binabgeführten Entwidelung. Der Urjprung der heutigen S. ijt in Frankreich zu 
fuchen. Im Anjchluß an die jtändigen Neichögerichte (Parlamente) bildet fich dort 
zur Seite des richterlichen Amtes eine jtändige Prozeßvertretung der Könige zur 
Betreibung der fisfaliichen Angelegenheiten (gens du roi, procureurs du roi). Auf 
Grundlage der durch die Formen der Schriftlichkeit und Mündlichkeit bedingten, in 
dem Unterſchiede der Anwaltichaft und Advofatur noch heute erhaltenen Arbeitö- 
theilung unterjchied man innerhalb diefer Amtsthätigfeit: procureurs du roi und 
avocats generaux. Die Häufigkeit der Konfisfationen und Geldbußen in der 
mittelalterlichen Strafrechtspflege und die zunehmende Verwaltungscentralijation in 
Frankreich erklären den allmählichen Entwidelungsgang der ©. jeit deren erſten An— 
fängen im XIV. Jahrhundert. Nach und nach verjchmolz fich das fisfalifche Intereffe 
der Krone mit dem Nechtöintereffe der öffentlichen Ordnung. In der Ordonnanz 
Karla’ VIII. (1493) und Ludwig’s XII. (1498) traten die Umriffe des dem ministöre 
public gegebenen Wirkungsfreifes bereits deutlicher hervor: Denunziation der Ver— 
brechensfälle bei den Gerichten, Scheidung der action publique oder Strafflage von 
der action privee, Mitwirkung beim Gange der Unterfuchung, Antragitellung be- 
züglich der zu verhängenden Strafe, Betreibung der Urtheilgvollitredung, Aufficht 
über den Gejchäftsgang der Gerichte. Unter den Generalprofuratoren bei den 
Parlamenten jtanden Profuratoren bei den königl. Amtsgerichten, Prevotalhöfen. 
Diejem Mufter nachgebildet, fungirten auch in der justice seigneuriale Profuratoren 
der großen Kronvafallen, jo daß die Patrimonialjuftiz den in den föniglichen Gerichts- 
böfen gegebenen Impulſen folgte. Bereit? im XVI. Jahrhundert ericheint die 
Grundgeftalt der S. vollendet. Bejonders hervorzuheben find die königlichen Or: 
donnanzen aus den Jahren 1522, 1539, 1553, 1586. Nicht zu überſehen ift, daß 
das ministöre public infofern eine unabhängige Stellung einnahm, als nach Ent» 
ziehung des königlichen Auftrags die Profuratoren in die Reihen der Advokatur 
zurüdtreten fonnten; im Uebrigen waren diejelben naturgemäß an empfangene Auf: 
träge ebenſo gebunden, wie Prozeßbevollmächtigte jchlechthin. Als Werkzeuge der 
königlichen Macht verhaßt, unterlag die ©. vorübergehend den gegnerischen Strö— 
mungen der revolutionären Bewegung, doch erklärten die Defrete vom 8. Mai und 
27. September 1790 die ©. für unabjeßbar (Gef. vom 1. Dez. 1790; Code des 
delits et des peines vom 3. brumaire IV; Gef. vom 27. ventöse VIII; S.C. vom 
28. flor6&al XI). Ihre moderne Form erhielt die ©. durch die Franz. StrafPO. 
vom 17. Nov. 1808 und das Organifationsgej. vom 20. April 1810. Bon gering- 
fügigen Wenderungen abgejehen, blieb die S., was fie unter Napoleon geworden 
war: eine abhängige, die Unabhängigkeit der Franz. Gerichte bedrohende, in alle 
Schwankungen der politischen Parteien Hineingezogene, im Straf: und Civ. Pry. 

47 * 


740 Staatsanwaltichaft. 


wejentlich betheiligte Jujtizverwaltungsbehörde. Für die Mehrzahl der Europätichen 
Staaten ward die Einrichtung der Franz. ©. vorbildlih: jo in Italien, Belgien, 
Holland und am linken Rheinufer, wo ſich das Franz. Recht erhielt. Nur in be» 
ichräntter Weiſe gelangte die ©. vor 1848 innerhalb der Deutichen rechtsrheiniſchen 
Gejeßgebung zur Anwendung (Bayern 1831, Württemberg 1843, Baden 1844, 
Preußen, Verordn. vom 28. Juni 1844 für Ghejachen). Nach 1848 wurde bie 
©. im Zujammenhang mit der Einführung eines öffentlichen und mündlichen Stra 
verfahrens und der Schwurgerichte ala Anklagebehörde zu einem wejentlichen 
Beitandtheile des reformirten Strafverfahrens, deſſen Schidiale fie in den Jahren 
der Bewegung vielfach theilte. Im Einzelnen bejtanden in den nach 1848 ergangenen 
Deutichen StrafPO. und Straiprogeßgejegen mannigiache Verichiedenheiten, je nachdem 
man Sich dem Franzöſiſchen Mufter mehr annäherte, oder nicht. So hat in 
Hannover und in Bayern die ©. ſehr weitreichende Funktionen erhalten, während 
in Sachſen und Braunfchweig der Wirkungsfeis derjelben mehr eingejchränft blieb. 
Die Juriftentagsverhandlungen, von 1860 beginnend, enthalten ein umfafjendes, die 
Organijation der ©. behandelndes Gejeggebungsmaterial. Die Berfuche, die S. 
wiederum zu bejeitigen, fanden ebenjfowenig Anklang und Unterjtügung, wie die 
Borichläge, die Rheinische Franzöfiichen Einrichtungen allgemein anzunehmen. Die 
Deutiche Straf? OD. und das GBG. haben den Typus der Yranz. ©. nicht venwiidt, 
in zahlreichen Einzelheiten aber das in Frankreich begründete Uebergewicht der ©. 
über die Richterfollegien und den Angellagten ermäßigt. Cine von Frankreichs 
Mufter völlig unabhängige Geftalt erhielt die Strafverfolgungsbehörde in Irland, 
Schottland und Nordamerifa. Nach langem Widerjtreben führte auch England 1879 
Öffentliche Ankläger unter dem Titel de Director of Public prosecutions cin. 
Der Unterjchied im Vergleich zur Schottifchen ©. zeigt fich darin, daß die Regierung 
für England eine centrale Amtöftelle mit einer Anzahl von Gehülfen ausrüftet zu 
dem Zwede, im Nothfalle einzufchreiten, wenn die Privatanklage dem Rechtszwecke 
ausnahmsweiſe nicht entiprechen jollte. Die ©. in England Hat aljo eine jubfidiäre 
Funktion, indem fie Unterlaſſungsfehler der grundſetzlich beibehaltenen Privatanklage 
forrigiren ſoll (42, 43 Victoria c. 22 Prosecution of oflences Act). Die Grund 
ſätze, nach denen die Neuordnung der ©. in Deutichland bei der Kodifikation der 
Prozeßgeſetze und der Gerichtöverfaflungsnormen erfolgte, beruhen auf einem doppelten 
Kompromiß, zunächit zwischen weitergehenden Reformforderungen, welche die Unab- 
bängigfeit der ©. oder der Einſchränkung durch allgemeine Zulaffung der jubfidiären 
Privatanflage befürworteten und dem adminiftrativen Intereſſe der Staatsregierung. 
Andererjeit8 zweitens fam die Schwierigkeit in Betracht, daß der einheitlichen Recht: 
iprechung des MNeichsgerichts gegenüber die Selbjtändigkeit der höchiten Juftizver- 
waltungsjtellen in den einzelnen Deutichen Staaten gewahrt werden follte. 

Daraus ergab fich die Unmöglichkeit der ftreng einheitlichen Durchführung 
einer gemeinjfamen Ordnung. Nur die Reichsanwaltichaft ift rechtlich und admini— 
jtrativ nach allen Richtungen Hin einheitlich innerhalb eines fachlich bejchränften 
Wirkungskreifes eingerichtet. Die ©. in den einzelnen Ländern folgt in ihren 
Funktionen theil® landesrechtlichen, teils reichsrechtlichen Normen. Letzteren injoweit, 
al® von Reichswegen den Landesgejeßgebungen Beichränfungen bezüglich der ber 
S. zu gebenden Verwendung auferlegt find, oder das einheitlich geordnete Gebiet 
der Strafprozeßfunktionen vor den ordentlichen Gerichten innerhalb ihrer reichsrechtlic 
jejtgeftellten Kompetenz in Betracht kommt. 

1. Funftionen der ©. Drei Hauptrichtungen find es, in denen die S. 
nach den Grundjäßen des Tranzöfiich-Deutichen Rechts wirfiam wird: 1) Civil— 
prozefſualiſche. Nach Franz. R. gilt das ministere public ala „Wächterin 
des Geſetzes“ und ift ſomit theils berechtigt, theils verpflichtet, den Richter zu 
fontroliren, für die Wahrung der NRechtseinheit zu jorgen und die äußere Ordnung 
des Gejchäftsganges zu Sichern. Aus diefem Gefichtspunfte erklärt fich die Hinein— 


Staatsanwaltidaft. 741 


jiehung der S. in den Giv.Prz. In einer Reihe genau bezeichneter Rechtsjachen 
ift die S. partie principale, um das mit den Parteianträgen möglicherweife kolli— 
dirende Intereſſe des Staats zu vertreten, in welchen Fällen fie gehört werden muß. 
Co in Bormundichaits- und Givilftandsjachen, Ehejcheidungen (Code civ. art. 83, 371, 
385, 394, 856, 858—860, 862, 863, 911, 914, 930). An allen anderen Streit= 
fällen kann die ©., infofern ihre Mitwirkung nicht pofitiv (wie im Friedensgericht, 
Handelögericht und Schiedsgericht) ausgeichloffen ift, ald Nebenpartei (partie jointe) 
ihre Anträge nach dem Schluffe der von den Progehgegnern gehaltenen Parteivorträge 
ftellen. Sie hat das Recht, die Nichtigkeitsbeſchwerde (dans l’intert de la loi) ein— 
zulegen. Bon diejen Normen des Franzöfifchen Nechts kann, wo daflelbe noch auf 
Deutſchem Gebiete gilt, joviel Landesrechtlich fortbeitehen, ala außerhalb der REPO. 
und ihrer Vorjchriften gelegen it (Vormundſchaftsweſen u. f. w.). Auch fann die 
©. landesrechtlich für die Intereffen der freiwilligen Gerichtsbarkeit verwendbar 
erklärt werden. Nach der in Deutichland vorwiegenden Anjchauung ift die ©. als 
partie jointe im Giv.Prz. durchaus entbehrlich. Die REPO. beruft die ©. zur 
Vertretung öffentlicher Intereffen nur in Ehe- und Entmündigungsjachen 
(ſ. diefen Art.). In der Literatur Hatten ſich Feuerbach, Mittermaier, 
Frey, Pland gegen, Berninger für die Zuziehung der ©. zur Mitwirkung in 
Givilfachen erklärt (j. auch Verh. des dritten Deutſchen Juriſtentags, ©. 28). Auch 
der Oeſterr. Givilprozeßentwurf von 1876 Hat darauf verzichtet, die ©. allgemein 
am Givilprogekverfahren zu betheiligen. 

2) Adminijtrative Funktionen der © als Organ der Juſtiz— 
aufſicht. In England iſt der fontinentale Begriff der Juftizaufficht nicht ver— 
wirflicht worden. Ein bejonderes Juftizminifterium fehlt; die Stellung der Anklage— 
behörde iſt den Gerichten gegenüber durchaus nicht verfchieden von derjenigen einer 
Prozeßpartei. Innerhalb der fontinentalen Scheidung von Juſtiz und Verwaltung 
wies man aber, an die alte UWeberlieferung der Gerichtäherrlichfeit anknüpfend 
(Hermann) oder den Begriff der Gerichtsbarkeit und Rechtſprechung auf das 
sententiam ferre oder die jurisdietio im engeren Sinne bejchränfend, der ©. die 
Stellung einer Juftizverwaltungsbehörde zu, der der Yuftizminijter einen Iheil feiner 
Auffichtsberechtigung über den Gejchäftsbetrieb der Gerichte delegiren konnte. Nach 
Franz. R. vermittelt die ©. den Verkehr des Juſtizminiſteriums mit den Gerichten 
und denjenigen der Gerichte untereinander, iſt zu regelmäßiger Berichterjtattung über 
den Gang der Nechtöpflege verpflichtet, übt die Aufficht über die Anwälte und 
Cubalternbeamten, leitet die Strafvollitrefung. Die Hannover'ſche StrafPO. 
hatte fich diefem Mufter am meijten genähert. Da der Grundjaß der richterlichen 
Unabhängigkeit durch die Kombination der Juftizauffichtsgefchäfte mit der perjön- 
lichen Antheilnahme an den Strafprozeßgeſchäften nicht nur gefährdet werden kann, 
jondern erfahrungsgemäß auf dem Gebiet des Franzöſiſchen Rechts beeinträchtigt 
worden it, hat das Deutiche GBG. die ©. ausdrüdlich von der Beauffichtigung 
der Gerichte ausgeſchloſſen ($ 152); damit ift gejagt, daß außerhalb des gerichtlichen 
Anftanzenzuges die ©. fein Recht Hat, Gnticheidungen der Gerichte oder Ab» 
ftimmungen einzelner Richter zum Gegenjtand einer Verwaltungsbeſchwerde zu machen, 
oder das amtswidrige Verhalten der Richter außerhalb ihrer Amtsfunktionen zum 
Gegenftande einer Rüge zu machen. Wo die ©. in Disziplinarfällen gegen richter- 
liche Beamte als Anklägerin mitzuwirken hat, ergiebt jich im Webrigen die Unmög- 
lichkeit, eine Einwirkung der S. auf das dienftliche Verhalten der Richter völlig 
abzufchneiden. Wie weit die verwaltende Thätigkeit der S. reicht, ift in der Haupt» 
fache nach den Beitimmungen der Yandesrechte zu bemefien, und fann von Tag zu Tag 
in Gemäßheit des Verordnnungsrechts der Yandesherren oder Gentralftellen in veränders 
lichem Umfange vergefchrieben werden. Bon Reichswegen ift die S. im Intereſſe 
der Strafrechtspflege verwaltungsrechtlich berufen, die Beamten des Polizei- 
und Sicherheitsdienjtes zu leiten ($ 153. des GVG.), wobei den Landesregie: 


742 Staatsanwaltidait. 


rungen vorbehalten ift, diejenigen Beamtenklaffen näher zu bezeichnen, welche ala 
Hülfsbeamte der ©. anzujehen find. In Preußen befteht nicht einmal Ueberein— 
jtimmung für die Bezeichnungsweije innerhalb der einzelnen Provinzen. Die Ber: 
ichiedenheit der fommunalen und provinzialen Verfaſſungen fommt dabei zur Geltung. 
Da die ©. reichärechtlich ala DVerwaltungsbehörde erjcheint, jo partizipirt fie aud 
ihrerfeit® an den Konjequenzen des Grundjaßes, wonach der Richter fich in Ber: 
waltungsgejchäfte nicht einmijchen darf. Auf der anderen Seite dürfen die Beamten 
der ©. feine richterlichen Geſchäfte wahrnehmen. 

3) Strafprozeſſualiſche Funktionen in Gemäßheit der Beitimmungen 
der RStrafPO. Unzweifelhaft find eben diefe unter allen Berrichtungen der ©., 
nicht blos in Deutjchland, jondern jelbit in frankreich als die wichtigjten anzufchen. 
Die ©. tft eine an der Strafrechtspflege wejentlich betheiligte, den 
Gerichten foordinirte Strafprozeßbehörde Wenn es ein Ungehorjams- 
oder Abwejenheitsverfahren gegen Angeklagte giebt, jo giebt es auf der anderen 
Seite fein Verfahren ohne Ankläger, deifen Mitwirkung in allen Stadien des Rechts 
gangs, deſſen perjönliche Gegenwart in der Hauptverhandlung, deffen Meinungs 
äußerung vor allen prozeßleitenden Verfügungen des Nichters unerläßlich ift. Lie 
Richtungen, in denen fich diefe prozefjualiiche Wirkſamkeit der ©. bewegt, find vor: 
nehmlich folgende: a. VBorermittelung von Strafthaten durch Erkundigung und 
Nachforſchung, theils in jelbjtändiger Weiſe unter Benutzung ihres polizeilichen Hülfs 
beamtenthums, theils unter nothwendiger Mitwirkung des Richters zu jolchen Akten, 
in denen die periönliche Freiheit oder wichtige Nechte des Staatsbürgers berührt 
ericheinen (Verhaftung, Beichlagnahme von Briefen u. j. w.), theils, wo Gefahr im 
Verzug obwaltet, unter Vorbehalt richterlicher Prüfung und Bejtätigung (ſog. Vor: 
verfahren, Ermittelungsverfahren, Sfrutinialverfahren). b. Tas 
Recht, Vorunterfuhungen bei dem fompetenten Gerichte zu beantragen, zu 
betreiben, von deren Gange jederzeit Kenntniß zu nehmen, jo daß in diefem Stadium 
die Bevorrechtung der ©. als Behörde gegenüber dem Angejchuldigten und jener 
möglicherweije eintretenden DVertheidigung im Franz. und Deutjchen Recht überall 
feftgeftellt if. c. Das Recht der Ankflageerhebung nad abgejchlofiener 
DVorunterfuhung auf Grund jelbitändiger Prüfung, Vertretung und Durchführung 
der öffentlichen Klage in den verjchiedenen Stadien der Vorprüfung, der Hauptverband: 
lung, der Rechtsmittelinftanzen. d. Die Yeitung der Strafvolljtredung oder 
die Mitwirkung an derjelben, wo die Gefängniffe unter der Aufficht anderer Behörden 
jtehen. 

Die wichtigiten Prozeßrechtsfragen beziehen fich innerhalb dieſes Wirkung: 
freifes auf die Prinzipien, in Gemäßheit welcher die Anklagethätigkeit der ©. nad 
erhobener Anklage und die prozefiualiiche Stellung der ©. gegenüber dem Richter 
und dem Angeklagten zu ordnen ift. 

4) Anklagethätigfeit und Anklagerecht der S. Die Strafverfolgung 
it feine Sache der bloßen Willkür für die ©. (f. d. Art. Opportunitäts- 
prinzip), alle Anzeigen hat die ©. jelbjtändig zu prüfen, ob die gejeßlichen und 
thatfächlichen VBorbedingungen eines Einfchreitens ſoweit gegeben find, daß eine Ver: 
urtheilung im einzelnen Falle wahricheinlich erreichbar ift. Fraglich ift aber vom 
gejegpolitifchen Standpunkt von jeher geweien: Soll die ©. allein berechtigt jein, 
zu enticheiden: ob eine anfcheinend vorliegende Straithat verfolgt werden oder un- 
beitraft bleiben joll? Nach dem affujatorifchen Prinzip iſt die Strafverfolgung 
Tarteijache entweder im Intereſſe des Beichädigten oder der ftaatsbürgerlichen 
Vertretung der öffentlichen Ordnung im Wege der actio popularis; nach dem 
inquifitoriichen Prinzip Rechtsſache im Sinne der Verpflichtung des Richters 
zum Ginfchreiten von Amtswegen; nach Franz. Recht Verwaltungsſache inner 
halb des ſtrafprozeſſualiſchen Formalismus, woraus folgt, daß pflichtwidrige Unter- 
laffung der Anklageerhebung regelmäßig in rechtlichen Formen nicht korrigirt werden 


Staatsanwaltidhaft. 748 


fann. In England und Schottland ift die Strafverfolgung Rechts- und Partei— 
ſache einer öffentlichen Behörde, erjteres injofern die Anklagebehörde einzufchreiten 
verpflichtet iſt; leßteres injofern, als Privatperfonen jubjidiär bei unterlafjener An— 
flageerhebung eintreten fünnen und überdies der öffentliche Ankläger an den Begriff 
der Parteijtellung prozefjualiich gebunden bleibt. Die Deutſche ©. betreibt ihre 
Thätigfeit als Strafverfolgungsbehörde nach Franz. Muſter. Sie hat das og. 
Anklagemonopol und übt es lediglich ala Verwaltungsſache, indem fie, wie 
andere DVerwaltungsbehörden, den Grundſatz der Gejegmäßigfeit des Einſchreitens 
formlos handhabt. Wenig bedeutende Korrekturen find gegenüber diejer Möglichkeit 
eines adminiftrativ durch unterlaffene Strafverfolgung geübten Begnadigungsrechts in 
folgender Weiſe geboten: a. Die VBerwaltungsbehörde kann in Fällen der 
Zumwiderhandlung gegen die Vorjchriften über die Erhebung öffentlicher Abgaben und 
Geiälle, wenn fie einen Strafbejcheid nicht erlaſſen und die ©. den an fic gerichteten 
Antrag auf Verfolgung ablehnt, ohne Weiteres jelbjt Anklage erheben und einen 
Beamten ihres Reſſorts oder einen Nechtsanwalt ala ihren Bertreter beftellen 
(StrafPD. $ 464). b. Die Privatanklage (ſ. diefen Art.) in Fällen der 
Körperverlegung und Beleidigung ($ 414), wobei aber der ©. vorbehalten it, in 
jeder Lage der Sache bis zum Gintritt der Nechtöfrait des Urtheils die Verfolgung 
zu übernehmen. c. Das Recht desjenigen, der die Erhebung der öffent» 
lichen Klage bei der ©. beantragt hat, ohne daß demjelben Folge gegeben 
wurde, unter Angabe von Gründen bejchieden zu werden, und in Gemäßheit der 
StrafPO. 8 170 bei der vorgejeßten Behörde der ©. Beſchwerde zu führen und 
äußeriten Falles eine gerichtliche Enticheidung herbeizuführen, wodurch der ©. die 
Erhebung der öffentlichen Klage aufgegeben werden kann. In Frankreich kann nach 
dem Geje vom 20. April 1810 durch das Plenum des Appellhofes aus eigener 
Initiative (ohne Beichwerdeführung eines Antragjtellers) dem ministere public die 
Erhebung der action publique aufgegeben werden. d. Die Berugniß des Unter- 
juhungsrihters in Gemäßheit des $ 189 von Amtswegen Unterfuchungshand- 
lungen vorbehaltlich der jpäteren Verfügung der ©. vorzunchmen. 

Dieje Beitimmungen zielen darauf ab, einer möglicherweife rechtsnachtheiligen 
Unterlaffung der ©. Abhülfe zu gewähren. In der pofitiven Richtung der Straf: 
verfolgung wird die ©. gehemmt durch die Antragäberechtigungen gewifjer Perjonen, 
durch das Grforderniß der Ermächtigung zum Ginjchreiten, durch die Nothwendigfeit 
einer Vorentſcheidung bei der ftrafrechtlichen Verfolgung der Beamten wegen be- 
gangener Amtädelitte (GVG. $ 11), die bejonderen, den Yandtagsmitgliedern gegen 
Strafverfolgungen eingeräumten Vorrechte u. a. m. 

5) Dispofitionsbeiugniß der Staatsanwaltſchaft. Wo das 
Anklageprinzip konſequent durchgeführt ift, fann in Grmangelung eines förmlichen 
Strafantrages vom Richter eine Strafe nicht ausgejprochen werden. Das Franz. 
Recht hat dieſen Grundjaß, obgleih die S. unabhängig vom Richter geftellt ift, 
nicht angenommen, vielmehr, der inquifitoriichen Maxime folgend, die einmal bei 
den Gerichten anhängig gewordenen Anklagen der Dispofition des ministere public 
entzogen. Der Richter ift an die Anträge der ©. nicht gebunden, kann aljo den 
Anträgen der ©. entgegen ftrafen. Es ift unzuläffig, daß die Anklage in der Haupt- 
verhandlung zurüdgezogen wird. Gbenjowenig iſt der Nichter an die Beweis— 
anträge der ©. gebunden. Diejen Grundfägen der Franz. ©. ift auch die Deutjche 
Reichsgeſetzgebung gefolgt, während das Oeſterr. Necht fich den Englischen Ueber- 
Lieferungen annähert. Die ©. in Defterreich wird von den Grundjäßen der Partei— 
jtellung beherrſcht; fie hat Verfügung über die Streitfache. Ohne und gegen ihren 
Antrag kann nicht bejtraft werden; eine Auffaſſung, die an fich forreft erfcheint, 
aber in der Praris, wenn fie ohne Nachtheil für die Strafrechtäpflege bleiben 
joll, die Zulaffung fonkurrivender Straiverfolgungsorgane im weiteren Umfang 
verlangt. 


744 Staatsanwaltihaft. 


6) Die progejjualifhe Stellung der ©. gegenüber dem Ridter 
und dem Angeklagten hängt von der Beantwortung der Vorfrage ab: it 
die ©. im StrafPrz. als eine Partei anzufehen oder nicht? Die darauf gegebene 
Antwort lautet jehr verschieden, je nachdem man fich durch den franz. Grund— 
fat des MWächteramts der ©. oder auch dadurch Blenden ließ, daß die ©. 
gleichzeitig für den Schuß Unfchuldiger zu forgen, oder Rechtsmittel zu Gunften 
eines Verurtheilten einzulegen berufen würde Wäre die ©. nicht der Gefahr ein: 
jeitiger Parteilichkeitt in höherem Maße als der Richter ausgejeßt, jo wären die 
ihon in dem Grmittelungsveriahren der S. gezogenen Schranken nicht zu recht: 
fertigen. Das Geſetz jelber kann den in der Natur der Dinge liegenden Partei: 
charakter der S. nur verdunfeln und verwijchen, aber durch anderweitige Bezeich⸗ 
nungen nicht aufheben (anderer Meinung: John). Die Stellung einer ſtändigen 
Behoͤrde ſchließt deren progefjualiichen Barteicharafter nirgends aus. Nur das it 
richtig, daß die ©. nicht in dem Sinne Parteiintereffen als eigene und perjönliche 
vertritt, wie der Angeklagte jelber. Dadurch, daß die ©. bei der Betreibung einer 
Anklage von der Suppofition der Schuld in einem noch ungewilfen Falle ausgeht 
oder eine dem Angeklagten nachtheilige Gejegesauslegung vor Gericht vertritt, wird 
fie nothwendig zur Prozeßpartei vor Gericht. Somit ergiebt fich, daß in der Haupt: 
verhandlung der Grundſatz der Gleichberechtigung unter den Prozekparteien gelten 
muß. Das Deutiche Strafprz.R. hat in diefen Stüden die erheblichiten Ungerechtig— 
feiten des Franz. Nechts ausgeglichen, und den Forderungen der jog. „Waffen— 
gleihheit‘ zwiichen S. und Vertheidigung wichtige Ginräumungen gemacht. 
die ©. während der Hauptverhandlung der Sitzungspolizei und in Fällen der Aus: 
ichreitung auch der Rüge des Gerichtsvorfigenden unterworfen jei, iſt ſchon in Frank— 
reich jtreitig gewejen und auch durch die Deutiche Straß D. nicht entfchieden worden. 
Daß in dem Nechte des Vorſitzenden, die Gerichtöverhandlungen zu leiten, die Be 
fugniß enthalten ift, jtörenden Ginflüffen auch jolcher Perſonen, die feiner Disziplin 
nicht unterjtellt find, mit geeigneten Mitteln hindernd entgegenzutreten, ericheint 
faum zu bezweifeln. Auf der anderen Seite folgt aus der Koordination der S. 
neben den Gerichten, daß Ordnungsitraien gegen diefelbe nicht verhängt werden. 

Was die Stellung der ©. zum Beichuldigten anbelangt, jo ift es theoretiſch 
jtreitig, ob Beamte der ©. abgelehnt werden fünnen. it die ©. ala Prozeh- 
partei gejeglich anerkannt, jo ergiebt jich daraus nothwendig, daß die Ablehnung 
unzuläffig jein müßte. Da das Franz. Recht auf der anderen Seite die Rechts— 
fiftion der Unparteilichfeit auf die S. überträgt, müßte diefe auch aus denjelben 
Gründen abgelehnt werden fünnen, aus welchen ein Richter an der Entſcheidung 
eines einzelnen Falles auszufchliehen ist. Aus unzureichenden Gründen ift in Deutic- 
land die Ablehnung ftaatsanwaltichaftlicher Perfonen ausgeichlofien. Richtiger iſt 
die Auffaſſung des Belg. GVBG. vom 18. Mai 1869, wonach den Beamten der ©. 
in den ihre Unparteiltchteit gefährdenden Fällen die Pflicht der Selbjtenthal: 
tung auferlegt wurde. 

III. Organijation der Staatsanwaltjchait. Nach den Grundſätzen 
des Franz. Rechts, denen man auch gegenwärtig in Deuffchland trog mannigfacher 
Bedenken treu geblieben ift, empfing die ©. eine ſog. büraufratijche, d. h. 
nicht Eollegiale, hierarchiſche Amtäverfaffung. Jeder ftaatsanwaltichaftliche Beamte 
ift verpflightet, den Weiſungen jeiner Vorgejeten nachzukommen und jeine perjönliche 
Ueberzeugung in der Beurtheilung eines einzelnen Nechtsfalles unterzuordnnen. Ebenio 
kann der Vorgejegte jede Sache aus den Händen feiner Untergebenen an fich ziehen; 
diefe Regel geht jedoch niemals jo weit, daß ein von der ©. geitellter Antrag durch 
vorgejeßte Beamte ungeichehen gemacht werden fünnte. ALS höchite vorgejegte Be— 
hörbe der Landes⸗S. erſcheint, wie in Frankreich, das Juſtizminiſterium, oder, wo 
ein ſolches in eigener Abgrenzung nicht beſteht, diejenige Landesregierungsſtelle, der 
die Aufſicht über den Gang der Rechtspflege obliegt. Im Uebrigen find die einzelnen 


Staatsanwalticdnit. 745 


Amtästellen folgendermaßen abgegrenzt: 1) Reichsanwaltſchaft bei dem Reichs— 
gericht unter der Leitung und Aufficht des Reichskanzlers, aber, abgejehen von den zur 
Kompetenz des Neichögerichts in erjter und letzter Inſtanz gehörigen Fällen, ohne 
leitende Berugniß gegenüber der ©. in den einzelnen Deutichen Staaten. 2) Die 
©. im engeren Sinne gegliedert nach dem Grundjate, daß bei jedem Gericht eine 
ftaatsanwaltjchaftliche Behörde bejtehen joll, deren örtliche Zuftändigfeit accefforifch 
beitimmt wird durch diejenige der betreffenden Gerichte und deren Mitglieder ohne 
Nachweis eines bejonderen Auftrags den erjten Beamten der ©. vertreten dürfen. 
Den ftaatsanwaltichaftlichen Titel im engeren Sinne führen nur die an den Ober: 
landesgerichten, Yandgerichten und Schwurgerichten fungirenden Beamten der Staats— 
behörde, deren QDualififation von denjelben Vorbedingungen abhängt, wie die richter- 
liche. Die bei den Amts- oder Schöffengerichten fungirenden, nicht nothivendig zum 
Richteramt befähigten Perfonen heißen Amtsanwälte, deren Zujtändigfeit im 
amtsgerichtlichen Verfahren zur Vorbereitung der öffentlichen Klage fi (GVG.$ 143) 
auf jchöffengerichtliche Sachen bejchränft. 


Quellen: Außer ben auf die Wahrnehmung ber Prozeßfunktionen bezüglichen, zerjtreuten 
Stellen der StrafPD.: GBG. Tit. X. SS 142 fi. — CRD. 88 569, 586—591, 595— 626. — 
Preuß. AG. zum GBG. vom 24. April 1878, 8 61.; Geſchäftsanweiſung für die Amts: 
anwaltichaften v. 28. Aug. 1879; Allg. Verf. v. 3., 4., 25. Aug., 15., 20. Sept., 28. Oft 1879. — 
Bayern, AG. vom 23. Febr. 1879 Art. 50 ff., 68, 69, 70—22; Notariatägef. vom 10. Nov. 
1873 Art. 124. — Oeſterreich, StrafPO. SS 29 ff.; Juftigminift.-Verordn. vom 19. Nov. 
1873, 88 87—114. — Frankreich, außer der Straf PD.: Gef. 20. April 1810, art. 6, 11, 
45, 47, 61; Dekret v. 6. Juli 1810 (bez. der Generaladvotaten); Gel. dv. 27. Januar 1873. — 
Belgien: Ge. 1. Juni 1869 sur l’organisation judiciaire. — England: Prosecution of 
offences Act 1379. 

Lit.: A. Geſch. Pr&vot, De la maniere de poursuivre les crimes et des lois criminelles 
de la France, 1730, 2 vol. — Delpon, Essai sur l’histoire de l’action publique et du 
ministere public, 1830, 2 vol. — He&lie, Traite de l’instr. crim. vol. I. s 74. — Warntönig 
und Stein, Franz. Staatd- u. Rechtsgeſch, Bb. II, ©. 481 fi. — Maurer, Geſch. des 
allgem. Gerichtsverfahreng, ©. 146 ff. — Savigny, Die Prinzipienfragen in Bezug auf die 
neue StrafPD., 1846 (Goltdammer’3 Arc. Bd. XIL)—B. Deutihland: Sundelin, Die 
©. in Deutichland, ihre jetzige Geftalt in d. Deutichen Sb. ihre Prinzipien: u. Bedürfniß— 
frage, 1860. — Berninger, Das Inftitut der S. im Verfahren über bürgerliche Rechts: 
ftreitigfeiten, 1861. — Hauihted, Die Organe für bie eng in ihren gegenwärtigen 
— 1862. — v. Holtzendorff, Die Reform der S. in Deutſchland, 1864; 
Derjelbe, Die Umgeftaltung der S. vom Standpunkte unabhängiger Strafjuſtiz, 1865. — 
Gneift, Bier Fragen — StrafPO., 1874. — Schütze, Das ſigatsbürgerl. Anklagerecht, 
1876. — Janka, Staatliches Anklagemonopol ober ſubſidiäre Strafklage, 1879. — 
Schwager im Gerichtsſaal XI ©. 3; XII. ©. 50. — Taufftirdyen, ebend. XII. 357. — 
Kayſer, Strafgerichtsverf., 1879, ©. 96 ff. — Geyer, Strafprogekreht. ©. 405—416. — 
C. Defterreidh: Keller, Die ©. in Deutichland, ihre Geſch, Gegenwart u. Zutunft, 1866. — 
Wachler in der Oeſterr. Gerichtägtg., 1860. — Ullmann, Oefterr. StrafPO. S. 256 ff. — 
D. Frankreich: Schenck, Traite sur le ministere public, 1813. — Molönes, Des 
l’actions du procureur du roi, 2. ed. 1843. — He&lie, Traite de l’instr. crim., I. 459, II. — 
geh, Franfreiha Civil: und tg mit Beziehungen auf England, 1851 (2. 

uflage); Derjelbe, S. in Deutſchland un er: — Örtolan et Ledeau, Le 

—— public en France, 2 vol, 1830, — Massabiau, Manuel du ministère public 
1587 ; Derielbe, Le Journal du ministöre public, Recueil —— 1858 u. fi. — 
Debacaq, De action du ministöre public en matiere civile, 1867. — Bageux, Recher- 
ches sur les origines de ministöre public, Orleans 1875. — Aglave, Action de ministere 
public, et theorie des droits d’ordre public en matiere civile et en matiöre criminelle, 
1875. — Mangin, Trait& de l’action publique et de l’action civile et matiöre crimi- 
nelle, 3. ed. (par Sorel) 1876. — Paringault, De l’ötablissement du min. p. pres les 
tribunaux de commerce, 1860. — 2 ge Haus, Principes de droit nal, II. 
z8 1086 ff. — Italien: Carcano, ll pubblico ministero, 1869. — Borsari, 
Azione penale. — Casorati, Il processo e la riforma, im Monit. dei Tribunali 1878 nr. 
21. — Arabia, Del supremo magistrato, Napoli 1872. — La Francesca, Del 
ubblico ministero nell’ ordine giudiziale, Napoli 1880. — England, Schottland und 

Jrland: Glajer, Dad — ——— Strafverf., 1850. — Mittermaier, Das Engl,, 
. Strafverfahren, 1851. — Gneiſt, Selfgovernment, 3. Aufl., 

©. 437—440. — North-American Review 1870, S. 757. — Elliot, Criminal Proce- 


Kottifche und Nordameri 
.4 
dure in England and Scotland, 1878. v. Holkendorff. 


746 Staatsbenmte. 


Stantöbeamte. Beamter ift derjenige, welchem die Verwaltung eines Amtes 
anvertraut worden. Je nachdem das Amt ein privates oder ein Staatsamt ift, werden 
Privat: und Staatsbeamte unterjchieden. Die Erklärung enthält jelbitredend eine 
Definition des Begriffs „S.“ nicht, da fie fich auf dem undefinirten Begriff eines 
Staatsamtes ſtützt. Es find von der Wiſſenſchaft und der Geſetzgebung vieliac 
Anstrengungen gemacht worden, eine erichöpiende Definition zu geben. So jagt 
3. B. Dernburg, $ 198, daß Staatsdiener derjenige fei, der zum Staate behuis 
Verwaltung von öffentlichen Aufgaben (?) in ein befonderes Dienftverhältnik getreten 
jei; ferner Schüße, $ 105, daß Beamter jei, wem ein vom Staate verjaſſungs— 
mäßig anerkanntes Amt (?) vom Staate jelbit oder deſſen dazu beftellten Organen 
anvertraut worden und zwar mit jelbjtändiger Werantwortlichkeit für die Amtsführung: 
und v. Hohltzendorff, daß unter einem ©. derjenige zu verſtehen jei, welcher die 
Berechtigung und Verpflichtung zur Vornahme gewifler auf den Staatszweck bezüg: 
licher, gejeglich vorgeichriebener oder zuläffiger Handlungen habe. Förſter dagegen 
verweiſt den Begriff eines ©. in das Staatärecht und bezeichnet als einen folchen 
denjenigen, welchem von dem mit der Memterhoheit befleideten Inhaber der Staats 
gewalt ein Amt (?) übertragen wird. Alle dieje Definitionen find nicht erichöptend. 
Das Röm. Recht hat eine Definirung nicht für nöthig erachtet, jondern fich begnügt, 
gewiffe Verpflichtungen zu bezeichnen, welche dem Beamten obliegen. Man wird 
auch jet von einer erjchöpienden und zugleich präziien Definition abjehen und ſich 
mit einer näheren Bezeichnung der Pflichten und Rechte eines Beamten, alfo einer 
Umschreibung feiner Stellung begnügen laffen müſſen. Der Staat nämlich bat 
jeinen Angehörigen gegenüber jowol Rechte wie Pflichten, die im Allgemeinen überall 
diefelben, in ihren Ausläufen aber, je nad) den einzelnen Staatärechten und Ber: 
faffungen, verjchiedene find. Die mit der Ausübung diefer Rechte und der Erfüllung 
der Pflichten betrauten Perfonen find die Staatsbeamten, oder, wie einzelne Yandes- 
rechte nicht unzutreffend fich ausdrüden, die Staatädiener. Diefem Gedanken folgend, 
bat das Preuß. Obertribunal in dem Erf. vom 25. März 1859 (Entſch. Bd. 42. 
©. 32) denjenigen für einen Staatödiener erklärt, welcher den beitimmten Beruf von 
dem Yandesheren oder einem anderen durch ihn dazu Berechtigten empfangen bat, 
für einen der ſog. Zwede des Staats thätig zu jein. Die charakteriftiichen Merkmale 
eines Beamten müflen jonach einestheil® in dem Umfange feines Berufs und dem 
Sinhalte feiner Pflichten, anderntheile in dem Akte bzw. der Art feiner Anftellung 
gefunden werden. 

Im Allgemeinen untericheidet man Militär- und Givilbeamte und bei den 
(eßteren wiederum unmittelbare und mittelbare ©., je nachdem der Inhaber der 
Staatsgewalt bei der Wahl und Ernennung derielben unmittelbar oder nur mittel 
bar betheiligt it. Die leßteren jtehen im Dienft von kommunalen und ftaatlichen 
Verbänden und Korporationen oder auch von Standesherren und unterjcheiden fi 
von anderen Bedienfteten diejer Korporationen und Perfonen dadurch, daß durch die 
ihnen obliegenden Pflichten und ihre Dienfte öffentliche Zwecke erfüllt werden follen. 
Die Militärbeamten gehören in Deutichland zur Zeit zu den Reichsbeamten und 
interejfiren daher bier nicht. Zu den Givilbeamten, und zwar zu den mittelbaren 
Staatödienern zählt das Preuß. LR. II. 11 $$ 19, 96 auch die Geiftlichen der 
evangeliichen und Fatholifchen Landeskirche. Diefe Auffafjung ift mit Necht angefochten 
worden (Schulze, Staatöreht, S. 314) und in neuerer Zeit aufgegeben. Die 
Neichögejete, 3. B. das StrafGB., die CPO. u. a. m., nennen die Religionsdiener 
neben den Beamten. Auch in den Maigejeen des Preuß. Landesrechts werben die 
Geiftlichen nicht ald ©. angejehen. Dennoc aber werden gewiffe Bedientejte privi- 
legirter Religionggejellichaften nach Analogie der ©. zu behandeln jein. 

Das die Stellung der ©. begründende Recht ift die Anftellung bzw. Ernennung. 
Das Weien und die Natur derfelben ift verjchieden, je nach der Perfon des Anitellen- 
den. Es hat nämlich die Staatsgewalt die Ausübung einzelner Rechte und Pflichten, 


Staatsbeamte. 747 


wie 3. B. die Erhebung gewiffer Abgaben, die zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit 
und Ordnung nöthige Polizeigewalt u. dgl. beftimmten Korporationen und Verbänden 
übertragen und ihnen damit auch das Recht verlichen, zur ſaktiſchen Ausführung 
diefer Nechte und Pflichten Perfonen jelbjt anzuftellen, indem fie fich bald ein 
Beitätigungsrecht vorbehalten, bald auch auf diejes verzichtet hat. Da num in diejer 
Verleihung eine Delegation des unveräußerlichen Rechts der Aemterhoheit nicht 
liegt, trägt die Anftellung diefer Perſonen einen etwas anderen Charakter als die der 
unmittelbaren S. Während bei diefen die Verleihung des Amtes ein Ausfluß jenes 
Hoheitörechts, ein rein jtaatsrechtlicher At ift, geht fie bei jenen nach einer gewiffen 
Richtung Hin in ein Vertragsverhältniß über. Früher hat man wol verfucht, die 
Vertragstheorie auch bei der Anstellung der unmittelbaren ©. zu verwenden, indem 
man in der Verleihung des Amtes die Annahme der don dem Bewerber gemachten 
Dfferte erfennen wollte und das jo gejchaffene Vertragsverhältniß bald als Mandat, 
bald als Bertrag über Handlungen definirte. Allein die Konjequenzen diefer Ans 
ihauung treten nach verichiedenen Seiten hin mit der dem Beamten zugewiejenen 
Stellung in jo grellen Widerfpruch, daß fie fich bald als unhaltbar erwies und der 
Anerkennung des rein jtaatsrechtlichen Charakters des Beamtenverhältniffes den 
Pla räumte. Wenn auch im Allgemeinen die lebenslängliche Anftellung eines 
Beamten als Regel gilt, it fie doch fein nothwendiger Beitandtheil der Ernennung: 
vielmehr kann diefe auch für einen bejtimmten Zeitraum, wie dies bei den mittel: 
baren Staatsbeamten theils gejegliche Vorjchritt, theils Gewohnheit ift, ja jogar auf 
Kündigung erfolgen, ohne daß dadurch das Wejen des Verhältniſſes eine Aenderung 
erleidet. Ebenſowenig ift die Entgeltlichkeit, alfo die Gewährung eines beitimmten 
Gehalts ein Erjorderniß; auch die unentgeltliche Berwwaltung eines Amtes giebt dem 
Derwaltenden die Eigenſchaft eines Beamten. Man Hat endlich auch noch die An— 
ficht vertheidigt, daß die Beamtenqualität nicht auf dem Aft der Verleihung des 
Amtes, jondern auf der Leiftung des Dienjteides beruhe. Allein durch fie wird nur 
der Zeitpunkt bezeichnet, mit welchem die Ausübung der Amtsfunktionen beginnt, 
ein Zeitpunkt, der nicht ausjchließt, daß jchon vorher die Eigenschaft des Beamten 
erworben war. Selbſt der Mangel der Leiſtung eines Dienjteides berührt diejen 
Erwerb nicht, noch entzieht er dem Angeftellten die Beamtenqualität (RStrafGB. 
8 359). Das Recht der Anftellung wird bei mittelbaren Staatsbeamten durch 
Diejenigen Organe ausgeübt, welche das Gefeß dazu bejtimmt, bei unmittelbaren 
aber durch den Träger der Staatsgewalt, aljo den Landesherrn, und zwar bald 
perfönlich, bald durch Andere, welche in jeinem Auftrage zu handeln berufen find, 
wie 3. B. in Preußen durch die Miniſter und höhere Provinzialbeamte (cf. 3. B. 
8 13 der Gerichtövollzieherordnung, nach welcher Gerichtsvollzieher durch den Prä— 
fidenten des Oberlandesgerichtd in Gemeinfchaft mit dem Oberjtaatsanwalt ernannt 
werden). Wie weit hierbei die Landesrechte auseinandergehen, zeigen die Vorſchriften 
über die Anjtellung der Gerichtsjchreiber, welche in Preußen nach dem Gejeß vom 
3. März 1879 durch den Juftizminifter, in Bayern nad) Art. 59 des Ausführungs- 
gejeßes durch den König ernannt werden. Durch den Eintritt in das Amt übernimmt 
der unmittelbare, wie der mittelbare Staatsbeamte eine Reihe von Pflichten, für 
deren Erfüllung er verantwortlich wird, und überfommt Rechte, die er geltend zu 
machen befugt iſt. Erſtere find theil® perjönlicher, theils vermögensrechtlicher Natur. 
Jene beichränfen fich nicht nur auf die Erfüllung der mit dem Amte verbundenen 
amtlichen Funktionen, jondern ergreifen die ganze Perjönlichkeit des Beamten während 
der Dauer jeiner Amtsverwaltung. Es joll der Beamte nicht allein alles dasjenige 
thun, was das Amt an fich erfordert, jondern er joll auch das mit demielben ver- 
bundene Anſehen und die ihm beigelegte Autorität durch fein ganzes Verhalten, 
ſowol während der amtlichen Ihätigfeit, wie außerhalb derjelben aufrecht erhalten 
und dem Anjehen und der Wirkung feiner Amtshandlungen nicht durch ein jeiner 
Stellung unmwürdiges Benehmen oder Leben jtörend und Hindernd entgegentreten. 


— 


748 Staatsbeamte. 


Nach beiden Richtungen hin unterfteht er der Aufficht und der Disziplin feiner vor— 
gejegten Behörde, deren amtlichen Weifungen er Folge zu leiften hat. Der Umfang 
diefer Pflichten findet in Preußen in den beiden Disziplinargefegen für richterliche 
und für nichterichterliche Beamte den übereinftimmenden Ausdrud dahin, daß fi 
der Beamte durch jein Verhalten in umd außer dem Amt der Achtung, des Ansehen: 
und des Vertrauens, die fein Beruf erfordert, würdig zu zeigen und die Pflichten zu 
erfüllen habe, die fein Amt ihm auferlegt. 

Die Pflichten vermögensrechtlicher Natur beftehen in dem Gria des Schadens, 
welchen der Beamte dem Staat oder der Behörde, in deren Dienjt er jteht, durch 
jein amtliches Verhalten verurjacht hat, jei es, daß der Schaden die Folge eines 
dolofen oder kulpoſen pflichtwidrigen Handelns oder einer Unterlaffung, wie 3. B. 
der VBernachläffigung einer ihn obliegenden Aufficht und Kontrole gewejen it. Als 
Regel gilt, daß der Schadensanfpruch nur im Wege des Prozeffes gegen ihn geltend 
gemacht werden fann. Gine Ausnahme bildet in einzelnen Sandesrechten das Defekten: 
verfahren, nach welchem der durch die vorgejeßte Behörde zu erlaffende Defektenbeſchluß 
jofort vollitrefbar wird, ein Verfahren, das jedoch nur gegen ſolche Beamte zur 
Anwendung gelangen fann, denen die Verwaltung einer Kaffe oder die Einziehung 
fremder Gelder anvertraut ift. 

Zur Rechtfertigung der Erfagpflicht des Beamten hat man wiederum auf die 
Vertragstheorie zurücdzugreifen verfucht und als Fundament der Erſatzklage ein 
Quafifontraftsverhältniß angenommen. Allein auch hier folgt die Verbindlichkeit 
nicht aus einem Vertrage und der Verlehung deffelben, jondern aus dem jtaatsrecht: 
lichen Gefichtspuntt, der auch in die Norm des Dieniteids Eingang gefunden, daß 
der Beamte die größtmögliche Sorgfalt auf die Erfüllung feiner Amtspflichten zu 
verwenden und deshalb auch jede culpa zu vertreten hat. Auch die Rechte, welche 
ihm zuitehen, find bald perfönliche bald vermögensrechtliche. Zu jenen gehört 
vor allen Dingen der Schutz, welchen der Staat ihm zur Abwehr von Angriffen 
gegen feine amtlichen Handlungen und gegen feine Autorität zu gewähren verbunden 
it, ein Schuß, dem in Anfehung der Vollitrefungsbeamten die SS 113 und 117 de 
RStrafGB. dienen. Diefe betreffen den Anipruch auf das mit dem Amte verbundene 
Gehalt (j. den Art. Gehaltsanſprüche) und auf die Penfion im alle ein 
getretener Dienftunfähigfeit (f. den Art. Benjionsberehtigung). Hier tritt 
die Verichiedenheit zwiichen dem unmittelbaren und mittelbaren Beamtenthum in 
den Vordergrund. Während bei jenem der Anfpruch aus der Verleihung des Amtes 
von ſelbſt folgt und jeine Höhe durch das Geſetz regulirt und bejtimmt wird, iſt es 
bei diefem der vor der Verleihung des Amtes gejchloffene Vertrag, der für ihn 
maßgebend wird. Gr jeht jowol die Höhe defjelben, wie jeine Zuläffigfeit in Au— 
jehung der Penſionirung feit. 

Die Eigenschaft eines Staatsbeamten geht verloren, jobald der Beamte definitiv 
aufhört, das ihm amvertraute Amt zu verwalten. Iſt die Unterbrechung der amt: 
lichen Thätigkeit nur eine vorübergehende, durch Urlaub, Krankheit oder fonitige 
Umftände veranlaßte, jo hat fie ebenjowenig den Verluſt der Eigenſchaft zur Folge, 
wie die Vertaufchung eines Amtes mit einem anderen, welches ihm jtatt jenes an: 
vertraut wird (j. den Art. Verſetzung). Dagegen tritt diefer Verluft ein: 1) bei 
dem Tode des Beamten; 2) bei der durch Dienftunfähigfeit bedingten Penftonirung, 
die ebenjowol eine freiwillige, wie eine erzwungene fein fann; 3) durch Stellung 
zur Dispofition, welche bei nichtsrichterlichen Beamten im Intereffe des Dienites, 
bei richterlichen Beamten aber nur ausnahmsweiſe in Fällen einer Organifation der 
Gerichtsverfaſſung zuläffig it; 4) bei freimwilligem Ausſcheiden aus dem Staats: 
dienst unter Verzicht auf den Penfionsanfpruch; 5) bei Beendigung der Dienitzeit, 
jobald der Beamte nicht auf Lebenszeit, jondern auf eine beftimmte Zeitdauer, wie 
3. B. in Preußen bei den höheren Kommunalbeamten, oder auf Kündigung angeitellt 
ift; 6) bei der Entlaffung aus dem Amte (Kaffation). Sie tritt entiweder ex lege 


Staatsgebiet. 749 


ein oder wird durch ein Disziplinarurtheil ausgeiprochen. Wenn nämlich gegen 
den Beamten wegen eines gemeinen Delikts auf zeitigen oder dauernden Verluſt der 
bürgerlichen Ehrenrechte oder auf Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter 
erfannt wird, hat diefe Nebenjtrafe den Verluſt des befleideten Amtes von jelbjt 
zur Folge. Diefem Falle fteht nach einzelnen Yandesrechten, und zwar in Preußen 
nach $ 6 des Disziplinargejeges für richterliche und nach $ 7 deſſelben Geſetzes für 
nicht = richterliche Beamte die rechtsfräftige Verurtheilung des Beamten zu einer 
längeren als einjährigen Freiheitsſtrafe gleih. Im Disziplinarverfahren fann bie 
Entlaffung des Beamten wegen des oben gedachten pflichtwidrigen Verhaltens aus— 
geiprochen werden. Bei einem ex lege eintretenden Verluste des Amtes geht auch 
das Recht unter, die verliehenen Titel und Würden weiter zu führen. Ob dies 
auch in Folge eines Disziplinarerfenntniffes eintritt, ift nach den Yandesgejegen zu 
beurtheilen, da der Eintritt einer folchen Folge einer ausdrüdlichen Vorjchrift bedarf. 
In Preußen iſt in den beiden Disziplinargefeßen $ 15 reip. $ 16 angeordnet, daß 
die Dienjtentlaffung den Verluft des Titels von felbjt nach fich > 

Lit.: Dernburg, mem Privatreht. — Förſter, Theorie u. Praxis. — Koch, 


Allgemeines ER. — v. Holkenborff, Encyklopädie ber Rechlswiſſenſchaft — Schütze, 
Deutſches Strafrecht. — Temme, Lehrbuch des Preußiſchen Strafrechts. — Meves in 
v. Holtzendorff's Handbuch' des ‚Strafredts. — Entſcheidungen bes fol. Preuß. OTrib. 


Meves. 

Stantögebiet. (Th. I. S. 1000—1003.) Zu jedem Staate gehört ein ©., 
weil ohne ein Land, auf welchem die Staatsangehörigen zujammenmwohnen, die den 
Staat erzeugende und durch die Staatsgewalt geordnete Koexiſtenz der Menfchen 
nicht gedacht werden fann: das ©. ijt die reale Grundlage der ftaatlichen Gemein- 
ichait. Hieraus ergiebt fich, daß die ungejchmälerte Grijtenz des Staates von der 
Integrität des ©. abhängt, eine Verkleinerung des Letzteren jomit eine partielle, eine 
vollitändige Abtretung des ganzen ©. an einen fremden Staat aber eine totale Ver: 
nichtung des Staates fein würde. Die gänzliche oder theilweife Veräußerung des 
©. widerspricht alfo den von der Staatägewalt zu realifirenden Zweden und muß 
daher den oberiten Willensorganen des Staates unterfagt fein. Diefe aus dem 
Weſen des Staates und der Zwedbejtimmung der Staatsgewalt hervorgehende For— 
derung ijt denn auch in jämmtlichen Deutjchen Berfaffungen durch die meiftens jchon 
in den Hausgeſetzen jejtgejeßte Bejtimmung anerkannt worden, daß das ©. untheilbar 
und unveräußerlich fein jolle. Nur zum Zwede einer Grenzregulirung ift meiſtens 
die Abtretung von Yandestheilen, deren Zugehörigkeit zu dem abtretenden Staate 
ftreitig ift, der Kandesregierung erlaubt, nach mehreren Berfafjungen jedoch nur nach 
vorher eingeholter Beiftimmung der Landftände Die Abtretung größerer Landes— 
theile in völferrechtlichen Verträgen widerjpricht ſonach dem Verfaffungsfage von der 
Untheilbarkeit und Unveräußerlichfeit des ©. und ift daher, wie auch die Koburg— 
Gothaiſche Verfaffung ausdrüdlich anerkennt, eine VBerfaffungsänderung, zu deren 
ftaatsrechtlicher Gültigkeit die Beobachtung aller für die Verfafjungsänderungen vor— 
geichriebenen Formen nothwendig if. Das Gleiche ergiebt fich für das Gebiet des 
Deutjchen Reiches aus Art. 1 der Reichöverfaffung, welcher den Umfang des Bundes- 
gebietes feſtſetzt und damit für einen Beſtandtheil der Reichsverfaflung erklärt. Wenn 
jedoch in Folge oder zur Abwehr eines von einem fremden Staate durch friegerijche 
Gewalt herbeigeführten Nothitandes, welcher die Eriftenz und Wohlfahrt des Reiches 
bedroht, der Kaiſer kraft jeines Rechts über Krieg und Frieden (vgl. Reichsverfaſſung 
Art. 11 Abſ. 1) einen Theil des Bundesgebietes abtritt, jo ift diefe Abtretung troß 
der in derjelben enthaltenen VBerfafjungsänderung auch ohne Konjens des Bundes— 
rathes und des Reichdtages gültig. 

Das ©. kommt aber nicht blos als Vorausfegung der Koeriftenz der Staats— 
angehörigen in Betracht, jondern überdies ala der mit feſten Grenzen umijchriebene 
Raum, auf welchem allein die Staatsgewalt thätig jein fann und darf: das ©. iſt 
die räumlich begrenzte Machtiphäre des Staatswillens. Nur die ausdrüdliche Er: 


750 Staatsgerichtshof. 


laubniß der Landesregierung, bzw. eine zu Necht beftehende Staatsjervitut fann die 
Behörden eines fremden Staates zu bejtimmten obrigfeitlichen Funktionen innerhalb 
des ©. autorifiren. Die Ausübung irgend eines Hoheitsrechtes durch eine fremde 
Regierung ohne eine jolche Berechtigung iſt eine Verletzung der Souveränetät des 
Staates und berechtigt zu der Anwendung aller der Mittel, welche das Völkerrecht 
einem in feinen Nechten gekränkten Staate gegen andere Staaten gewährt. 
Quellen: Deutjche Reichäverf. Art. 1, 11; Abf. 1, 3; Art. 4. — Preußen, Prig- 
Url. Art. 1, 2, 48. — Bayern: Vrfg.Ark. Tit. I. $ 1. — Sadjen: Prig..Irf. $ 2. — 
Württemberg: i 
Meiningen: Staatsgrundgeſ. SS 1,2. — Koburg-Gotha: Staatsgrundgeſ. 5 113. — 
Brauni weig: Neue Sandichatts-Grdn. s1l.— 1 


git.: v. Gerber, Ueber die Untheilbarteit der Deutichen S. (Zeitichr. für Deutiches 
Staatörecht, herauägeg. v. Aegidi, Bd. J. S. 5ff.) — K. V. fyrider, Dom S., Tüb. 1867. — 
v. Inama:Sternegg in ber Zeitichr. f. d. gel. Staatöwifjenich., Bd. XXV. Heft 3 u. 4. — 
Außerdem val. H. 4. —— Deutſches Staats- u. Bundesrecht, 3. Aufl., Bd. IL. SS 239, 
241, u. 9. yptı, Grundf. d. gem. Deutichen Staats-Rechts, 5. Aufl., Bd. II. SS 442444, 
rar mit SS — 397. — Yaband, Das Staatsrecht d. Deutichen Reiches, Bd. 1.55 20—22. — 
.Meyer, Lehrb. des Deutichen Staatärechtes, S 74 S. 1683, $ 87 ©. 191. — v. Rönne, 
Preuß. Staatärecht, 3. Aufl., Bd. 1. Abth. 1 S. 142—144, 480, 481 Note 6; Derjelbe, 
Das Staatärecht bes Deutichen Reiches, 2. Aufl., Bd. II. Abth. 2 S. 307—309. 
F. Brockhaus. 
Staatsgerichtshof. Unter dieſer Bezeichnung verſteht man Verſchiedenes: 
Entweder diejenigen Gerichte, welche, ſei es als ſtändige oder gelegentlich eingeſetzte, 
über Miniſteranklagen zu entſcheiden haben (f. d. Art. Miniſterverantwort— 
lichkeit), oder folche Behörden, die über die Kompetenzkonflikte zwiichen Juſtiz und 
Verwaltung erkennen (in Defterreich: Neichegericht nach dem Berfaffungsgeieg vom 
21. Dezember 1867) oder die Ausnahmejuftiz für jchwere politische Verbrechen. 
Letztere Bedeutung Hatte der Preußiihe ©. Die Neigung, politifche Berbrechen 
nicht nur durch harte Strafbeitimmungen im Kriminaltecht, jondern auch durch be 
jondere prozefjualiiche Abweichungen dem Rechtsgange nach auszuzeichnen, tritt in 
den Gejeßgebungen aller Völker hervor und zieht fich durch die Rechtögeichichte der 
Griechen, Römer und jämmtlicher neueren Kulturvölker hindurch. Bor und nad) 
der Franzöſiſchen Revolution ift die Verfaffungsgeichichte reih an Beifpielen für die 
doppelte Beftrebung, einerſeits die perfönliche Wreiheit im höheren Maße zu 
fichern durch Garantien gegen politische Verurtheilungen, andererſeits die öffentliche 
Ordnung zu wahren durch nachdrüdliche Geltendmachung der herrichenden Gewalt 
im Straiprogeß. Während des Beitandes des Deutjchen Bundes wurden zur Ab: 
urtheilung demagogifcher Umtriebe Ausnahmekommiſſionen eingefegt. Auch in 
Preußen ward 1835 das Hammergericht ald Spezialgerichtshof in Staatsverbrechen 
eingejeßt. Entgegen dem urjprünglichen Inhalt der Verf.Urf. vom 31. Jan. 1850 
beftimmte das Gejeg vom 21. Mai 1852 Art. 3, daß ein bejonderer Gerichtähot 
zur Aburtheilung ſchwerer politischer Verbrechen eingejeßt werden ſollte. In Aus 
führung diefer Beftimmung erging das Geſetz vom 25. April 1853, betreffend die 
Kompetenz des Kammergerichtes zu Unterfuchung und Entjcheidung wegen der Staat“ 
verbrechen und das dabei zur beobachtende Berfahren. (Ueber die Trage der Ber 
afjungsmäßigkeit j. Rönne, Staatsrecht der Preußifchen Monarchie, 2. Aufl., I. 
2, 270.) — Für das Deutfche Reich kamen die Art. 74, 75 der Bundesverfaflung 
in Betracht. Tür den Hochverrath und den Landesverrath gegen das Reich war das 
DOberappellationsgericht zu Lübeck als zuftändige Spruchbehörde in erjter und leßter 
Inſtanz bezeichnet. Das zur näheren Beitimmung des Verfahrens verheißene Geick 
unterblieb im Hinblick auf die einheitliche Ordnung des gefammten Prozefjes. Als 
©. fungirt nunmehr das Meichögeriht. Daffelbe ift in erfter umd letter 
Inſtanz zuftändig in Fällen de Hochverraths und Landesverraths, inſofern dieſe 
Verbrechen gegen den Kaifer oder das Reich gerichtet find (GVG. $ 136). — Ju 
Frankreich bejtand nach der Kaiferlichen Verfügung von 1852 art. 54, 55, dem S. 


Staatstaffenderwaltung. 751 


C. vom 1. Juli 1852 und vom 13. Juni 1858 die Haute cour de justice; dag 
Prinzip der politischen Spezialgerichtshöfe war, in Webereinftimmung mit der Praxis 
der Franzöſiſchen NRevolutionsperiode, durch die StrafPO. von 1808 gewahrt worden. 
(Ueber die Beitimmungen des älteren Franzöſiſchen Berfahrens j. Held, Art. ©. 
im Staatäler. XIII. ©. 594.) Die neuere jtaatärechtliche und progeffualifche Doktrin 
befämpft den Bejtand des S., ſoweit als es fich nicht etwa um Aburtheilung von 
Minifteranktlagen Handelt, und erkennt eine Ausnahmejuftiz über Verbrechen der 
Untertdanen nur im Kriegs- und Belagerungszujtande als gerechtfertigt an. 

Lit.: Ilſe, Geſch. ber polit. Unterfuchungen, welche durch die neben ber Bunbeäver- 
fammlung errichteten Kommilfionen zu Mainz und zu antun 1819—27 unb 1833—42 
gerahet worben find, 1860. — Buchner, Das Franzö iſche Revolutionstribunal und das 

ſchworenengericht, 1854. — Béranger, De la répression pénale, I. 82 ss. (1855). — 
Gneift, Heutiged Engl. Berfafjungs: und Verwaltungsrecht, I. 486. — Kaltenborn, Die 
Bolkävertretung und die — er Gerichte, beſonders des S., 1864. — Außerdem die 
von Miniſterverantwortlichkeit handelnden Schriften. v. Holtzendorff. 

Staatskaſſenverwaltung. Das Kaſſen- und Rechnungsweſen des Staates 
umfaßt hauptſächlich diejenigen Einrichtungen und Grundſätze, welche die Erhebung, 
Aufbewahrung und Verausgabung der Staatsgelder regeln. Die Zielpunkte deſſelben 
find: Ordnung, Sicherheit, Klarheit, — um dem Leiter der Finanzverwaltung jowol, 
wie dem Volke und deffen Vertretung die Weberficht über feine Mittel und die 
Möglichkeit zu gewähren, zwijchen den natürlichen Hiülfsquellen und den Ausgaben 
die Harmonie aufrecht zu erhalten und um die richtige Erhebung und Verwendung 
der Gelder zu kontroliren. — Bei der Betrachtung des Kaſſen- und Nechnungs- 
weſens des Staates thut man wohl, fich diefe allgemeinen Prinzipien, denen dafjelbe 
dient, von Anfang an vor Augen zu halten. Die bei den Juriften und den Ber: 
waltungsbeamten gleich wenig beliebte Beichäftigung mit dem Detail deſſelben Hat 
allerdings beim Beginn für die Meiften etwas Abitoßendes, und die Anwendung 
feiner Formen und Regeln im täglichen Geichäftsverfehr wird vielfach ala etwas 
Hemmendes und Beläftigendes empfunden. Und dennoch bildet die jtrenge Hand— 
habung dejjelben die erfte und in einem entiwidelten Staatswejen die nothmwendigite 
Bedingung der Verwaltung und eines gefunden Staatslebens überhaupt. Manches 
Auffallende in der feit 1870 tiefbewegten Verwaltung Frankreich wird fich aus 
feinem etwas fomplizirten und formaliftiichen, im Ganzen aber mufterhaft eingerich- 
teten Rechnungswejen (comptabilite) erklären laſſen. 

Die ©. (im engeren Sinne), deren Grundzüge bier kurz dargeftellt werden 
jollen, bildet nur ein bejtimmtes Glied in dem gefammten ftaatlichen Rechnungswejen. 

Vergegenwärtigt man fich die Formen, in denen ſich die Finanzwirthſchaft des 
modernen Staates bewegt, jo ergeben fich für diejelbe drei wejentlich zu unterjchei« 
dende Stufen: erſtens, die Aufjtellung und gejeliche Feſtſtellung des Etats, d. h. 
des Generalplanes, nach welchem die Finanzwirthſchaft zu führen ift; zweitens, 
die Ausführung des Etats und die Rechnungslegung über diejelbe, drittens, die 
Prüfung und Teititellung, ob der Etat richtig und in Webereinftimmung mit den 
Gejegen und Verwaltungsvorjchriften geführt worden ift (Rechnungsfontrole, Dechar: 
girung). Die maßgebenden und mitwirfenden Organe find auf der erften Stufe die 
legislativen Faktoren, auf der zweiten die erefutive Staatöverwaltung, vorzugsweiſe das 
Finanzminiſterium, auf der dritten bejtimmte Behörden (oberjte Rechnungsbehörden), 
welche theils jelbjtändig zu entjcheiden, theils die Verfügungen und Enticheidungen des 
Staatsoberhauptes beziehentlich die Beichlüffe der Landesvertretung vorzubereiten haben. 

Im Borliegenden faſſen wir vorzugsweiſe die zweite Stufe ins Auge, und zwar 
nur denjenigen Zweig derjelben, welcher die Gejchäftsthätigkeit der „Kaſſen“ (technifch: 
die Gebarung) zum Gegenjtand Hat. Zum Verſtändniß deffelben gehören aber ge= 
wiſſe Grundjäße, welche für das gefanımte Staatsrechnungswejen von Bedeutung find. 
Andererjeitö hängt das Rechnungswejen und damit auch die Organijation und Ver: 
waltung der Kaſſen auf das Innigſte mit der jeweiligen Geftaltung der ſtaats- und 


752 Staatslaflenverwaltung. 


finangrechtlichen Verhältniffe des einzelnen Staates zufammen, daß die Darftellung 
deſſelben ich, abgeiehen von gewiflen allgemeinen Regeln und formen, an die Ein« 
richtungen eines bejtimmten Staates zu knüpfen hat. Es fann hierfür darauf hin 
gewiejen werden, daß nach den neuejten Ummälzungen in Frankreich, welches auf 
diefem Gebiete das ausgebildetite Syſtem befigt, man alsbald eine Kommiffion er 
nannt bat behufs einer durchgreifenden Revifion der beitehenden Bejtimmungen, 
welche zuleßt in dem röglement general sur la comptabilits publique vom 31. Mai 
1862 kodifizirt worden find. Wir bejchäftigen uns hier vorzugsweife mit der ©. 
des Deutichen Neiches und Preußens, welches letztere jchon jeit Anfang des vorigen 
Jahrhunderts muftergültige, in praftiicher Sinficht den Franzöſiſchen vielfach über: 
legene Einrichtungen aufweilt. Beſonders beachtenswerth würden außerdem die Ein— 
richtungen des Rechnungsweſens — außer Frankreich — in Belgien, Deiter- 
reich, Baden und Bayern fein. 

Die Grundlage des Kaſſenweſens, wie des Rechnungsweiens überhaupt, würden 
geiegliche Vorichriiten über die Einnahmen und Ausgaben (Komptabilitäts-Etats- 
Geſetz) zu bilden haben, bejtimmt zur näheren Ausführung der das Staatäbudget 
und deſſen Ausführung betreffenden allgemeinen Berfaffungsbeitimmungen. An jolchen 
Gejegen fehlt es bisher im Deutichen Reiche. 

Durch) das Bundesgefeg vom 4. Juli 1868 wurde die Kontrole des Bundes 
baushaltes zunächit für die Jahre 1867 bis 1869 der Preußiichen Oberrechnungs- 
fammer übertragen und dieſe Delegation jpäter jährlich durch Reichsgeſetz (zulekt 
Geſetz vom 1. Juni 1881) erneuert. Als „Rechnungshof des Deutichen Reiches“ 
übt die Oberrechnungsfammer die ihr ala Preußifcher Revifionsbehörde zuitehenden 
Berugnifie aus. Ueber die von dem Bundesrath dem Reichstage (jeit 1872, zuletzt 
1877) wiederholt vorgelegten Entwürfe von Gejeßen über die Einrichtung eines 
Rechnungshoies des Deutichen Reiches und über die Einnahmen uud Ausgaben des 
Deutfchen Reiches (Komptabilitätsgejeg) hat bisher eine Einigung nicht erzielt werden 
fönnen. Die adminiftrative Leitung der Reichsfaffe (im weiteren Sinne) jällt dem 
durch SKHaiferlichen Erlaß vom 14. Juli 1879 errichteten Reichsſchatzamt anheim. 
Die Wahrnehmung der Gentral-Kaffengejchäfte des Norddeutichen Bundes (jpäter des 
Reiches) wurde zuerjt durch Erlaß vom 21. Januar 1868 der Preußijchen General 
ftaatäfaffe ald „Generalkaſſe des Norddeutichen Bundes“ übertragen. Durch den 
$ 22 des Bantgejeßes vom 14. März 1875 und den $ 11 des Reichsbankſtatuts 
vom 21. Mai 1875 (R.G.Bl. ©. 203 ff.) wurde der Reichsbank die Verpflichtung 
auferlegt für Rechnung des Reiches Zahlungen anzunehmen und zu leiften. Auf 
Grund diefer Beitimmungen wurde durch den Neichsfanzler eine bejondere Geichäfts- 
abtheilung bei der Reichsbank-Hauptkaſſe ala Gentralfaffenftelle des Neiches unter 
der Bezeichnung „Reichshauptkaſſe“ eingerichtet (Bekanntmachung des Reiche 
fanzlerd® vom 29. Dezember 1875; R.Centr. Bl. ©. 821) und bderfelben unterm 
30. Dezember 1875 eine Geichäftsanweifung ertheilt. Nach derjelben Liegt der 
Reichshauptfaffe nur die Buchführung und Rechnungslegung ob, die Zahlgeichäfte 
(Verkehr mit dem Publitum) vermittelt die Reichsbank-Hauptkaſſe. Im Uebrigen 
fommen als jelbitändige Kaſſen des Reiches hauptjächlich nur die Kaſſen der Mili- 
tär-, Marine, Poſt- und Telegraphenverwaltung in Betracht. Der Geldverkehr des 
Neiches mit den Bundesitaaten vermittelt fich durch die Landeskaſſen. Insbeſondere 
finden nad) Maßgabe bejonders erlafjener Beitimmungen zwijchen der Reich&haupt- 
kaſſe und den Landeskaſſen monatliche Abrechnungen ſtatt einerjeit® über die von den 
Bundesjtaaten für Rechnung des Reiches zu erhebenden Abgaben, der Averjen für 
die Zölle und Verbrauchsſteuern, der Matrifularbeiträge und jonftigen dem Reiche 
zuftändigen Ginnahmen, andererjeits über die Ausgaben der Bundesregierungen für 
Rechnung des Reiches. 

Auch in Preußen fehlt e& an gefeglichen Spezialbeftimmungen für das Etats— 
und Rechnungsweien mit Ausnahme des die Ginrichtung und die Berugnifje der 


Staatstafienderwaltung. 753 


Oberrechnungskammer betreffenden Gejehes vom 27. März 1872. Die Normen für 
die Rechnungsrevifion diefer Behörde find enthalten in der berühmten Inſtruktion 
für die Oberrechnungstammer vom 18. Dezember 1824 (vgl. diejelbe in Anlage A 
zu Nr. 148 der Drudjachen des Abgeordnetenhaufes von 1871—72). Dieje In— 
jtruftion iſt rückwärts wirkend die Grundlage für die Führung des Staatshaushalts 
und die Kaflenverwaltung geworden und enthält alles Wejentliche eines jog. Etats— 
(Komptabilitäts-)Gejeges, weshalb auch der dem Weiche vorgelegte Entwurf eines 
jolchen Geſetzes vorzugsweiſe an jene Inſtruktion fich anlehnt (vgl. Drudjachen Nr. 
15 und 16 des Reichstages für 1877). 

Gemäß dem Grundjage, daß alle Einnahmen des Staates in eine Kaffe fließen, 
aus welcher die Bedürfniffe für alle einzelnen Verwaltungszweige zu beftreiten find — 
jo daß aljo, von bejtimmten im Etat oder Spezialgefegen angeordneten Ausnahmen 
abgejehen, feine Einzelverwaltung ihre für gewiſſe Zwecke reſervirte Sondereinnahmen 
hat —, werden etats- und buchmäßig ſämmtliche Staatseinnahmen dem Finanz— 
minijter als Dedungsmittel für die Ausgaben überwiefen. Sämmtliche Einnahmen 
und Ausgaben vereinigen fich demnach rechnungsmäßig in einer Kaſſe — der General- 
jtaatäfaffe. Zur Vermittelung des Einnahme» und Ausgabegeichäfts dienen Unter- 
faffen. Die Gliederung ift folgende: 

Die Generaljtaatsfafje, die Hauptcentralfaffe; — Provinzialftajjen — 
für einzelne Ginnahmezweige (Provinzialfteuer-, Oberbergamtsfafjen) oder für alle 
Einnahmen und Ausgaben (Regierungshauptkaflen); — Spezialfajien — für 
die einzelnen Berwaltungszweige (Domänen-, Forſt-, Steuer, Bergamtstafjen zc.). 
Zwijchen den erjten beiden Sategorien bejtehen für einzelne Ginnahme= oder Aus— 
gabezweige noch Gentrallaffen, jogen. Generalfajjen, 3. B. Generallotterietafje, 
Staatsjchuldentilgungsfaffe, Generalkaſſe des Minifteriums der Geiftlichen ꝛc. An— 
gelegenheiten. Das Perjonal diejer Kaffen beiteht aus dem Rendanten, dem Kon— 
troleur, Kaſſirer, Buchhalter, Unterbeamten, bei den Spezialkaſſen blos aus dem 
Rendanten, bei den größeren noch dem SKontroleur. Daneben bejteht zur Kontrole 
die jog. Kafjenkuratel, welche in der Regel von einem höheren Beamten (Kaſſen— 
rath) geführt wird und fich namentlich in den gewöhnlichen (monatlichen) und 
außergewöhnlichen Kajfenrevijionen äußert (Kab.Ordre vom 19. Aug. 1823). — 
Zur GSicherjtellung der Kaſſen Haben die Hauptkaſſenbeamten die Pflicht zur 
Kautiongbeitellung (Reichögejeg vom 2. Juni 1869 und Preuß. Gejeß vom 
26. März 1873 nebjt Verordnung vom 10. Juli 1874 ıc.). Außerdem haben die 
Spezialkaſſen ihre Ueberſchüſſe pünktlich an die höhere Kaffe abzuliefern. Allgemeine 
Injtruftionen für ſämmtliche Kaſſen beftehen in Preußen nicht. Hervorzuheben ift 
das Regulativ wegen fünftiger Einrichtung des Kaſſenweſens vom 17. März 1828 
(v. Kamptz, Annalen, ©. 285) und die Geſchäſtsanweiſung für die Regierungs- 
hauptkafſen vom 1. Juni 1857. Außer dem eigentlichen Zahlgeichäit ift die 
Hauptthätigfeit der Kaſſen die Buchrührung und die Rechnungslegung. Die 
Buchführung iſt eine chronologiſche und eine fyftematifche, erſteres durch die 
Sournale, leßteres durch die Manuale. Beide müfjen übereinjtimmen und in jedem 
Moment eine vollftändige Ueberficht über den Kaſſenverkehr und den Kaffenbeitand 
geben. — Etwaige Kaſſendefekte werden durch einen ſummariſchen Beſchluß der 
Auffichtsbehörde jejtgejtellt und erefutivifch eingezogen (Preuß. Verordn. vom 24. Jan. 
1844 und Reichabeamtengejeg vom 31. März; 1873, SS 134 ff.). 

Um der Finanzleitung eine fortlaufende Weberficht über die Ergebniffe der ©. 
und über die Lage des Staatshaushalts zu verichaffen, war früher die jogen. General= 
£ontrole eingerichtet (Verordn. vom 3. November 1817), welche jpäter einjchließlich 
der jogen. Staatsbuchhalterei aufgehoben wurde (Kab.Ordre vom 29. Mai 1826 
und 19. Juli 1849). Durch Injtruftion des Finanzminifters vom 15. Dezember 
1858 ift zu dem gedachten Zwed im Finanzminifterium die jogen. Hauptbuch— 
halterei eingerichtet. An diefe werden von allen General, Provinzial- und 

v. Holgenbdorff, Enc. II. Rechtslexikon III. 3. Aufl. 48 


754 Staatsfaflenverwaltung. 


Spezialkaſſen, die eine jelbjtändige Rechnung legen, allmonatlich nach vorgejchriebenen 
Formularen Abichlüffe eingereicht, welche alle in dem Monat (bzw. den vorhergehenden 
Monaten des Etatsjahres) vorgefommenen Einnahmen und Ausgaben, die verbliebenen 
Reſte, Vorſchüſſe und Kaſſenbeſtände nachweisen. 

Hierdurch wird die Finanzleitung in den Stand geſetzt, jederzeit für die Be— 
ſchaffung der Mittel und den Ausgleich unter den verſchiedenen Kaſſen zu ſorgen. 
Eine ähnliche Einrichtung beſteht auch für das Deutſche Reich. Dabei mag hier 
erwähnt werden, daß zur Aufrechthaltung eines pünktlichen Kaſſenverkehrs und zur 
Vermeidung von Stodungen der Gentralfafle eiferne Bejtände, jogen. Betriebs: 
fonds, überwiejen find. Wie die gedrudten Gtats ergeben, beträgt der Betriebs 
fonds der Preuß. Generaljtaatsfajle 30 330 000 Mark, der Betriebsionds der Reichs: 
hauptkaſſe (einjchließlich der eifernen Beitände der Militär: und Poftverwaltung, jo: 
wie der Legationskaſſe) 30 060 000 Mark. — Zur vorübergehenden Stärkung der 
Betriebsfonds wird in der Regel durch das mit dem Gtat alljährlich erlaſſene 
Finanzgejeg die Ausgabe von Schatzſcheinen bis zu einer beitimmten Gejammt: 
jumme vorgejehen (vgl. 3. B. Neichsgefeg vom 28. März 1881). Diefe Schatz: 
jcheine charakterifiren fich ald Mittel für antizipirte Einnahmen. Vgl. oben d. Art. 
Staatsanleihen. 

Um ein annäherndes Bild darüber zu erhalten, wie fich in dem vorjtehend be 
ſchriebenen Nahmen die Geſchäftsthätigkeit bewegt, find im Nachfolgenden noch die: 
jenigen Hauptgrundjäße der Kaſſenverwaltung und die Gauptabjchnitte des Rechnungs: 
verfahrens zufammenzufaflen: 

Die Grundlage der ©. bildet der durch Vereinbarung der geſetzgebenden Fak⸗ 
toren feſtgeſtellte Staatshaushaltsetat einſchließlich der ſogen. Spezialetats. Cine 
jede Kaſſe erhält, nach Feſtſtellung des Staatshaushalts, einen in der Form des 
legteren (nach Kapiteln und Titeln) angefertigten Kaſſenetat, welcher die Spezial: 
einnahmen und =Nusgaben der Kaſſe enthält. Hauptetats (3. B. die Gtats der 
Minijterien) werden vom Könige vollzogen, die Vollziehung der Spezial-(Kaſſen- 
Etats erfolgt in der Regel unter Mitwirkung des Finanzminiſters. 

Der Staatöhaushaltsetat wird für einen bejtimmten Zeitraum (Gtatöperiode, 
exereice) aufgeſtellt. Diefer Zeitraum ift auch für die KHaflenführung und Rechnungs: 
legung maßgebend. Derjelbe fiel früher im Reich und in Preußen mit dem sta: 
lenderjahr zufammen. Auf Grund des Neichsgejeßes vom 29. Februar 1876 und 
des Preußiichen Gejeßes vom 29. Juni 1876 läuft nummehr dag Etatsjahr vom 
1. April des einen bis zum 31. März des folgenden Jahres. Nach Ablauf des 
Gtatsjahres jchließen die Kaſſen ihre Bücher ab (Finalabſchluß) und jtellen die 
Rechnung auf. 

Alle Einnahmen und Ausgaben gehören demjenigen Etats-(Rechnungs-)jahr 
an, in welches diejenigen Ihatjachen fallen, welche das Einnahmerecht und die Aus 
gabepflicht des Staates begründen. Um die Liquidation und Erhebung bmw. 
Auszahlung noch bewirken zu fünnen, iſt der Abjchlußtermin für die verjchiedenen 
Kaſſen über den Jahresichluß hinaus eritredt. Danach erfolgen in Preußen jegt die 
Finalabjchlüffe der Spezial», Provinzial-, Haupt: und Gentralfaffen, jowie der General: 
jtaatäfafje bzw. am 26. und 30. April, am 10. und 30. Mai und am 15. Juni. 

Einnahmen, welche bis zum Abjchluß nicht erhoben werden konnten, und Aus: 
gaben, deren Rechtsgrund feitjteht, welche aber vor dem Abjchluß nicht geleitet 
werden fonnten, gehen ala Reſte in das folgende Gtatsjahr über. Ueberichüfi: 
nach Abzug etwaiger Reſte werden als eripart verrechnet, fofern nicht ein bejtimmter 
Ausgabefonds durch Etat oder Gejeg als in das folgende Etatsjahr übertragbar 
bezeichnet ift. In dieſem Falle bleibt der Ueberſchuß zur Verfügung der Ver: 
waltung und mwächit dem Musgabeetat des folgenden Jahres zu. 

Die Ginnahmerejte vereinigen ich rechnungsmäßig mit den Ginnahmen des 
folgenden Jahres, die Neitausgaben dagegen find bejonders zu verrechnen. Weit: 


Staatstaflenverwaltung. 755 


ausgaben aus nicht übertragbaren Fonds können nicht zur Dedung der laufenden 
Ausgaben des folgenden Gtatsjahres verwendet werden. Sind die Reſtausgaben 
am Gnde des zweiten Jahres nicht geleitet, jo werden die Reſte ala erjpart ver- 
rechnet und die Ausgaben aus laufenden Fonds beitritten. Die jog. Reſtverwal— 
tung, wie fie nach dem PVBorhergehenden in Preußen bejteht, hat im Weich 
wejentliche Modififationen erfahren. In Frankreich iſt fie gänzlich unbekannt, 
weshalb dort die Abichlußtermine erheblich weiter über den Jahresſchluß eritredt 
find (für das ordonnancement bis zum 31. Juli, für die Zahlung bis zum 
31. Auguit). 

Jede Ausgabepofition des Etats? (Ausgabefonds) bildet einen Kredit, welcher 
dem Chef derjenigen Verwaltung, für welche die dem Staatöhaushaltsetat bei— 
gegebenen Spezialetats aufgejtellt find, eröffnet ift. Der Verwaltungschef ift der 
zur Verfügung über dieſe Fonds Berechtigte. Seine Zahlung darf ohne eine An— 
weilung des zur Verfügung berechtigten Cheis oder des von dieſem beauftragten 
Beamten geleiftet werden. Soweit die Safjenetat3 den Empfangsberechtigten be= 
zeichnen, enthält derjelbe den Gemeralauftrag an die Kaſſe zur Zahlung. Im 
Mebrigen ift die Fondsverwaltung durch Inſtruktionen geregelt, 3. B. durch die 
Verfügung des Justizminifters, betreffend die Vorſchriften über die Fondsverwaltung 
bei den Juſtizbehörden, vom 28. September 1879. Die Generalanweiiung durch 
den Kaſſenetat bildet eine wejentliche Vereinfachung gegen das umſtändliche Ver- 
fahren bei dem ordonnancement, wie es in Frankreich üblich ift, ohne der Sicherheit 
Eintrag zu thun. Jede Ausgabe — und entiprechend die eine folche anordnende 
Anweifung — muß dem Zwede entiprechen, für welchen die Bewilligung im Gtat 
erfolgt ift. Die Leiftungen von Ausgaben aus dem einen Fonds zu Zwecken eines 
anderen fonds (jog. Uebertragungen) find unzuläſſig. Mehrzahlungen über die etats- 
mäßigen Summen oder außerhalb eines beitimmten etatsmäßigen Zwedes erfordern 
eine bejondere Behandlung. 

Da nämlich) der Staatshaushaltsetat nur einen „Voranſchlag“ der Einnahmen 
und Ausgaben enthält, jo kann die Austührung defjelben Mehr: und Mindereinnahmen 
und -Ausgaben zur Folge haben. Bon bejonderer Wichtigkeit find die Mehraus— 
gaben, d. h. die Gtatsüberfchreitungen, welche fich gegen die Titeljummen der von 
dem Landtage beichlofienen Spezialetats ſowol, wie gegen dieje Etats überhaupt 
(außeretatsmäßige Ausgaben) ergeben. Zu jolchen Gtatsüberichreitungen ijt im 
Kaufe der Verwaltung die Zuftimmung des Finanzminifters und die Genehmigung 
des Königs erforderlih. Außerdem ift eine Nachweifung derfelben im nächiten 
Sahre, nachdem fie entitanden find, dem Landtage zur Genehmigung vorzulegen. 
Dieje Nachweifung wird dem Landtage alljährlich in der „Ueberficht von den 
Staatseinnahmen und -Ausgaben“ vorgelegt, welche auf Grund der dem Finanz— 
miniſter zugehenden Finalabſchlüſſe aufgeftellt wird. 

Nach dem Abſchluß Hat jede Kaſſe ihre Rechnung aufzuitellen, welche in den 
einzelnen Anſätzen (Etatsjoll, Mehr oder Minder, Reſte) das bei dem Abjchluß feſt— 
geitellte Ergebniß der Kafjenbücher wiederzugeben hat. Die Rechnungen find — 
nach erfolgter Vorprüfung (Abnahme) durch die VBerwaltungsbehörden — nebit den 
Belägen der Oberrechnungsfammer einzureichen. Gbendahin gelangt auch die von 
dem Finanzminifter auf Grund der Spezialrechnungen aufgeftellte allgemeine 
Rechnung über den Staatshaushaltäetat. 

Die Revifion der Oberrechnungsfammer hat fich zunächit auf eine kalkulatoriſche 
Prüfung und Juftifizirung der Rechnungen und der Beläge zu eritreden; außerdem 
aber namentlich) darauf: 

ob bei der Erwerbung, der Benutzung und der Beräußerung von Staatseigenthum 
und bei der Erhebung und Verwendung der GStaatseinfünfte, Abgaben und 
Steuern, nach den beitehenden Gejegen und VBorjchriften, unter genauer Beachtung 
der maßgebenden Verwaltungsgrundjäße verfahren worden ift, und 

48* 


756 Staatsrath. 


ob und wo nach den aus den Rechnungen zu beurtheilenden Ergebniffen der 
Verwaltung zur Beiörderung des Staatözwedes Abänderungen nöthig oder rath: 
jam find. 

Werden die Rechnungen richtig befunden, jo ertheilt die Oberrechnungstammer 
den rechnungsführenden Beamten Quittung (Decharge). Stellen fid) Vertretungen 
der Rechnungsführer oder anderer Beamten heraus, deren Dedung durch die Notaten- 
beantwortung nicht nachgewiejen wird, jo hat die Oberrechnungsfammer die weitere 
Verfolgung, welche der vorgejeßten Behörde obliegt, nöthigenfall® durch Eintragung 
in das Soll der Einnahmen anzuordnen ($ 17 des Preuß. Gef. vom 27. Mär 
1872 und ähnlich der dem Reichstag vorgelegte Entwurf). Diefe Beitimmung läßt 
nicht klar erfennen, welche Stellung das Geſetz der Oberrechnungsfammer gegenüber 
den Berwaltungsbehörden — welche nicht Rechnungsleger find — namentlich den an: 
weiienden Beamten und bejonders den Verwaltungächeis hat einräumen wollen. In 
Frankreich gilt der Grundjaß, daß der oberjte Rechnungshof fich in feiner Weiſe eine 
Jurisdiftion über die anmweifenden Beamten (ordonnateurs) beilegen fann. Der ent 
gegengejegte Grundjag würde, jo ſegensreich auch eine Kontrole der Verwaltung bei 
Gelegenheit der Rechnungsrevifion fein mag, leicht zu Kollifionen und zu einer 
Hemmung der Grefutive führen fünnen. Das Richtige wird jein, wenn die Kontrole 
der Verwaltung durch die Bemerkungen zur allgemeinen Rechnung und durch den 
dem Könige zu eritattenden Gefchäftsbericht geübt wird. 

Die allgemeine Rechnung über den Staatshaushaltsetat, welche alljährlich dem 
Zandtage vorzulegen ift, hat nämlich die Oberrechnungsfammer mit ihren Be 
merfungen zu begleiten, welche fich namentlich über etwaige Abweichungen von den 
Beitimmungen des Etats oder der Titel der Spezialetats oder den damit verknüpften 
Bemerkungen oder endlich von Fyinanzgejeßen überhaupt verbreiten. Auf Grund 
dieſes Materials fpricht der Landtag die Entlaftung der Staatsregierung aus oder 
beanstandet diejelbe. 

Endlich eritattet die Oberrechnungsfammer alljährlich dem Könige Bericht über 
die Ergebniſſe ihrer Gefchäftsthätigkeit, verbunden mit Vorfchlägen darüber: ob und 
inwieweit nach den aus den Rechnungen fich ergebenden Refultaten der Verwaltung 
zur Beförderung der Staatözwede Reformen nothwendig oder rathjam ericheinen. 

In diefer Weife vollendet fich der Kreislauf der zur Ausführung des Staats 
haushaltsetats dienenden Operationen der S. — 


git.: v. Rönne, Staatsrecht, 3. Aufl., Bd. II. 2 ©. 722 ff. — Gneift, Verwaltumg, 
u Rechtsweg, $ 30 ©. 320. — Kieſchke, Grundzüge zu einer zweckmäßigen Einrichtung 
a 


des atäfaffen: und Rechnungsweſens, Berlin 1821. — Graaf, Handbuch des Etatäfafien: 
und Rechnungsweſens, Berlin 1831. — Herrfurth, Das gefammte Preußiſche Etatslaſſen— 
und Rechnungsweſen, Berlin 1881. — Meiner, Die dad Rechnungsweſen des Preußiſchen 


Staates umfafenden Gefege und Berorbnungen, Berlin 1878. — Laband, Das Finanzrecht 
db. Deutichen Reihe (Hirth’3 Annalen 1873, ©. 523 ff.). — Ezörnig, Darftellung der Ein: 
richtungen über Budgete, Staatörehung und SKontrole u. |. w., Wien 1866. — Fahr: 
bacher, Das Zahlungsweſen der allgemeinen Finanzverwaltung in Bayern, Ansbach 1876. — 
Hod, Finanzverwaltung Frankreichs, Stuttgart 1857, ©. 85 ff. — M. Block, Diction- 
naire de l’administration frangaise, s. v. Comptabilit& publique. R. 
Staatsrath. Der S. ericheint in den monarchiichen Verfaffungen Europa’ 
als die Eollegialifche Formation des höheren Berufsbeamtenthums zur jtetigen Be 
rathung des Staatsoberhauptes in den höchſten Staatsangelegenheiten, zur Vor 
berathung der Gefegentwürfe und Verordnungen, zur rechtlichen Begutachtung der 
Verwaltungstonflitte und Beichwerden. Er ift die höchſte Formation de 
berufsmäßigen Beamtenthbums und nur aus diefem heraus verftändlic. 
Schon in den erjten Anfängen unjerer ftaatlichen Entwidelung haben die Ger: 
manijchen und Romanifchen Völker einen Berufsſtand für die humanen Aufgaben 
und Kulturzwede des Staates gebildet in der Hierarchie der Römijchen Kirche. Aut 
einer jpäteren Entwickelungsſtufe bildet das weltliche Beamtenthum, Hand in Hand 
mit der Rezeption eines neuen jtaatsbildenden Rechtes, einen Beamtenſtand, deflen 


Staatsrath. 757 


bedeutungsvoller, weltgefchichtlicher Beruf die Ueberwindung der ftändifchen Gegen- 
fäße der Europäifchen Welt geworden ift. Ueberall erjcheint nun in den größeren 
Staaten ein „Geheimrath“, Staatsrath oder analoger Körper, welcher Anfangs 
die Spiten der geiftlichen und weltlichen Stände mit den Hohen Beamten aus 
perjönlichem Vertrauen vereinigt, in welchem dann aber da8 reine Beamtenelement 
das Mebergewicht behält. Wie die Bildung der ftehenden Armee die phufiiche 
Macht, jo verleihen diefe „Conseils* des Landesheren der aufmwachjenden Monarchie 
die rechtliche und fittliche Macht, welche die geichiedenen Elemente des Volkslebens 
zur höheren ftaatlichen Einheit führt. Auf dem Kontinent geht mit Ueberwältigung 
der jtändijchen Verfaffungen daraus die abjolute Monarchie hervor. In England 
ift der endliche Ausgang ein entgegengejeßter. In allen Kulturländern Europa’s 
aber bewegt fich der Verfaſſungsſtreit jeit dem Ende des Mittelalter8 in dem gegen- 
feitigen Verhältniß zwijchen diefem föniglichen Rath und den ftändifchen Körper: 
ſchaften wie in einem Brennpunkt. 

In England erjcheint der ©. als „consilium continuum“ zuerft in dem 
Menſchenalter nach der Magna Charta. Die Monarchie, im Streit mit den befiten- 
den Klafjen, jah fi genöthigt, die höchiten Kronbeamten zu einer jtehenden Behörde 
zufammenzufaffen, um aus dem Syſtem der perjünlichen Regierung zu einem jtetigen 
gejegmäßigen Gang der Staatögefchäfte zu gelangen. In dem Jahrhundert Eduard’s I., 
II. und III. gewinnt der jtehende Rath die Initiative einer großen Gejehgebung. 
In vereinigten Sigungen mit den hervorragenden Prälaten und weltlichen Herren, 
al® „Magnum Consilium“ oder Parliamentum, find von dieſer Körperichaft die 
grundlegenden Geſetze der heutigen Engliſchen Staatöveriaffung ausgegangen, — in 
einer Zeit, in welcher das Unterhaus noch eine jehr untergeordnete Stellung einnahm. 
Noch einmal in der fpäteren Epoche der Reformation hat der königliche Rath ala 
„Privy Couneil* die Initiative der Gejehgebung jowie die außerordentlichen 
Regierungd- und Gtrafgewalten erhalten, welche die Durchführung des jchweren 
Werkes der jtaatäfirchlichen Reformation erforderte. Die Periode der Tudors bildet 
den Höhepunft des Privy Couneil, neben welchem das Parlament zeitweije feine 
Gelbitändigfeit zu verlieren jcheint. Im folgenden Jahrhundert aber bekämpft die 
Dynajtie der Stuarts mit dem Privy Council die Parlamentsverfaffung überhaupt, 
mit dem Verordnungsrecht die Geſetzgebung, mit der Verwaltungsjuſtiz des Council 
das jtändifche Steuerrecht und die lokale Selbftverwaltung. In diefem Kampf fiegt 
das Parlament in Folge der gejellichaftlichen Harmonie, welche die drei Stände in 
gleichem Recht, in gleicher Steuerpflicht und wejentlich gleichen Intereſſen vereinigte. 
Das befiegte Königthum wird gezwungen, auf die Verwaltungsjuſtiz des Council 
(Stetnfammer) und auf die gemißbrauchten außerordentlichen Gewalten zu verzichten. 
Die Geſchäfte des Privy Council geben damit auseinander Die 
Verwaltungsgerichtsbarfeit fonfolidirt fich in den Behörden des selfgovernment unter 
Kontrole der Reichagerichte. Die Initiative der Geſetzgebung und der Regierungs- 
maßregeln fällt dagegen in einen engern Ausihuß des Staatsraths (Cabinet, 
Miniſterrath), welcher jchon unter den Stuarts gebildet, jet die eigentliche Hand— 
babe der parlamentarifchen ‘Parteiregierung wird. Die Minifter üben ihre Gewalten 
noch Heute ala „Staatsräthe”, welche mit einem befonderen Departement betraut 
find, und bleiben in der Regel lebenslänglich Mitglieder des Privy Council, deſſen 
Mitgliederzahl allmählich bis auf 200 gewachſen ift. Diefe Berfammlung wird aber 
nur jelten zu Geremonialacten geladen. Für die wirklichen Regierungsgeichäfte er— 
geht die Ladung nur an die Mitglieder des zeitigen Miniſterraths. Die heutigen 
Orders in Couneil find alſo der Sache nach nur Beichlüffe des Staatäminifteriums. 
Die alten Hauptgefchäite des S. haben fich vertheilt unter Minifterrath, Parlament, 
Reichsgerichte und die Berwaltungsgerichte des Selfgovernment. Nur für die Kolonial« 
und firchlichen Angelegenheiten bleiben noch Reſte einer wirklichen Jurisdiktion des 
Privy Couneil übrig. 


758 Staatsrath. 


An Frankreich dagegen erjcheint das Conseil du Roi ſchon jeit dem 
15. Jahrhundert ala der ftändige Hauptkörper der Staatäregierung, mit welchem 
das Königthum Stände und Parlamente überwindet. In das Conseil fällt die 
Initiative der Gejeßgebung und das PVerordnungsrecht des Königs, welches für die 
zerriſſene ſtändiſche Gejellichaft immer ausfchließlicher die gefeßgebende Gewalt über: 
nehmen muß. Dieſe zeitgemäße, ftetig fortichreitende Verordnungsgewalt jchiebt die 
geießgebenden und jteuerbewilligenden Stände allmählich ganz bei Seite, und giebt 
der Vollziehungsgewalt die jtetige Geftalt, in welcher fie die ſtändiſchen Sonderrecte 
und Privilegien zu überwinden vermag. Cine abichließende Ordnung giebt das 
Edikt vom 3. Jan. 1687, und es entjteht nun jener gewaltige Körper „tout à la 
fois cour supr&me de justice, tribunal supr&me administratif, conseil du gouverne- 
ment, qui discute et propose la plupart des lois, fixe et repartit l’impöt, établit 
les rögles gönerales, qui doivent diriger les agents du gouvernement“ (Tocque- 
ville), — der ftetige Körper einer durch Berufsbeamte geführten Staatsregierung. — 
Im Kampf gegen das ancien regime hob die Revolution im Gele vom 25. Mai 
1791 zwar den ©. auf, und übertrug feine Funktionen auf den Minifterrath, zum 
Eleinen Theil auf den Kaflationshof. Allein jeder durch ein Berufsbeamtenthum aus 
ichließlich verwaltete Staat bedarf diejer ftändigen Formation für die Stetigfeit 
jeiner Verwaltungsordnung. Die Konfularverfaffung jtellt ihn wieder her, mit der 
Befugniß „de rediger les projets des lois et les reglements d’administration 
politique, et de resoudre les difficultes, qui s’elevent en matière administrative“, 
mit einer höchjten Kompetenz zur Interpretation der Berwaltungsgelege, Enticheidung 
der ftreitigen Verwaltungsfragen und der Konflikte zwiſchen Juſtiz und Verwaltung. 
Alle Franzöfiichen Berfafjungen find auf diefe Formation zurüdgelommen , die zwar 
gegen den Willen eines Machthaber oder einer regierenden Partei ohne dauernde 
Widerſtandskraft, doch dem berrichenden Syſtem die Ordnung der Geichäfte, die 
einheitliche Aktion der Organe gewährleiftet. Das Conseil in jeiner durch Defret 
vom 14. Jan. 1852 erneuten Geftalt bejteht aus einem Präfidenten, 40—50 Staat 
räthen zum ordentlichen Dienft der 6 Sektionen, 18 Staatsräthen, welche feiner 
Sektion zugetheilt find, ungefähr 20 Mitgliedern im außerordentlichen Dienit, 
40 Staatörathäreferenten (maitres des requetes) und 80 Referenten (auditeurs). 
Er vereinigt in fich die Verwaltungsfapazitäten des Landes, wie der Kaſſationshof 
die Juftizkapazitäten, jogar auf Koften des Minifterialigitems. Neben dem unver 
antwortlichen Conseil d'état ſinken die Minifter zu blos ausführenden Departements- 
leitern herab, das mittlere und niedere Beamtenthum zu geichidten Inſtrumenten, von 
welchen eine prompte, taftvolle Vollziehung, aber feine Selbitändigfeit des Gedankens 
und Willens erwartet wird. Im Verhältniß zum Monarchen iſt das Conseil d’etat 
als jeine „pensee en delib6eration* , der Minifter als die „pensee en ex6&cution* 
gedacht. Auch in den hHöchjten Enticheidungen über die Kompetenzkonflifte giebt 
diefer ©. nur Gutachten, welche der Souverän bejtätigen oder amendiren mag. Wie 
in der Gerichtöverfaffung find es insbeſondere die ſtets verichiebbaren Ab» 
theilungen mit einem jährlich vorbehaltenen Wechiel, welche die Jurisdiktion 
über das öffentliche Recht hier ebenjo unfelbjtändig machen, wie die Entjcheidungen 
der wechjelnden Gerichtsabtheilungen. Auch die neue Republit hat das Conseil 
d’etat nicht zu entbehren vermocht, nunmehr aber die Stellung deſſelben als Ver— 
waltungsgericht der ordentlichen Gerichtöverfaffung aſſimilirt. 

In Deutichland Hat die S.bildung ähnliche Formen und Kompetenzen, 
aber, wie dad Beamtenthum jelbit, einen verschiedenen Charakter entwidelt. In 
Oeſterreich, Kurbrandenburg und in den übrigen größeren Staaten gewinnt der 
„Geheimrath“, „Hofrath“ und analoge ftändige Körperſchaften eine jtetig wachiende 
Bedeutung auf Koiten der verfallenden Yanditände Das reine Beamtenelement 
verdrängt die Anfangs noch darin aufgenommenen jtändiichen Elemente. Am deut: 


Staatsrath. 759 


lichjten erkennbar wird die Bedeutung diefer Einrichtungen in dem furbranden- 
burgiichen Geheimen S. Es fam darauf an: 

1) die dem neuen Staatöwejen nothwendigen Gewalten, insbejondere die 
Militär, Finanz-⸗, Polizeie und Kirchengewalten, im Widerjpruch mit dem her— 
gebrachten Rechtszuſtand, doch in möglichiter Schonung der Rechte und Intereffen 
der herrichenden Klaſſen durchzuführen. Unter dem Titel der „von Gott gejeßten 
Obrigkeit“ Schafft fich die Staatsregierung jchrittweife und experimental zuerjt die 
nothwendigen Finanz und Militärkräfte, ordnet fich durch das „Oberaufſichtsrecht“ 
die ſtändiſchen, geiftlichen und ftädtifchen Korporationen als Organe der Staats— 
gewalt unter, und verbindet mit den ausführenden Organen zugleich die Entſcheidung 
über die Kollifionen zwifchen dem neuen und alten Recht, im Geiſt einer Ver— 
waltungsjurisdiftion. Der ©. bildet dafür eine höchitbegutachtende, de facto 
regelmäßig enticheidende Behörde, in unmittelbarer Korreipondenz mit dem Landesherrn. 

2) Mit dem FFortichritt diefer Regierungsweife bilden fich jefte Normativ- 
beitimmungen für die Ausübung der Staatögewalten: der ©. wird durch feine 
Stellung zugleich berathende Behörde für Gejege und Berordnungen. 

Die Hauptichwierigfeit damaliger Verhältniffe lag in der Ungleichartigfeit der 
jujammengefügten Zandgebiete und ihrer Rechte, die zu einem gemifchten Syitem 
von Real» und Provinzialverwaltung und zu erheblichen Ummwandlungen der Organi- 
jation führte. Das Streben nach Stetigfeit und Gerechtigkeit gab dem höchſten 
Regierungskörper in wejentlichen Punkten die Geſtalt der jtändigen follegialijchen Ober: 
gerichte. Diefe Organifation erſtreckt fich auch auf die Mittelinftanz in zahlreichen 
jtändigen Kollegien. Nachdem auch die Lofalobrigfeit den ftändigen Charakter des Lande 
rathsamtes erhalten hat, iſt der Parallelismus zwifchen Verwaltung und Justiz vollendet. 

Allein fo jehr dieje jurisdiktionelle Geftalt der Staatäregierung den Deutichen 
Rechtsanſchauungen entiprach, jo jchwerfällig wurde fie allmählich für die wachjenden 
Bedürfniffe einer neuen Zeit. Schon am Schluß der Regierung Friedrich's des Großen 
eritarrte der Geheime S. mit jeinen unförmlichen Abtheilungen zu einem geijtlojen 
Körper, der mit den Jdeen und Bebürfniffen der Epoche der Franzöftichen Revolution 
nicht mehr Schritt zu halten vermochte. Die Stein-Hardenberg'ſche Reform hat 
diefen monſtröſen Körper zerfchlagen und ein einfaches, durchgreifendes, der neuen 
Reformgeießgebung entiprechendes Miniſterialſyſtem an feine Stelle gejegt. Daneben 
follte ein „S.“ rejtaurirt werden, trat aber erſt jpäter und nur als gejeßberathender 
Körper wieder ind Leben. Troß einzelner mufterhafter Gefegesarbeiten vermochte 
derjelbe feine feſte Stellung mehr gegen die Miniftergewalten zu gewinnen, wurde 
jelbjt bei Privatrechtögejegen umgangen und von Friedrich Wilhelm IV. als ein 
Hauptfi der ihm mißliebigen „Büreaufratie* angefehen. Grit in jpäter Stunde 
wurde eine S.jurisdiktion über die „Kompetenzkonflikte“ hergejtellt, welche äußerlich 
dem Franzöſiſchen Mujter folgte, der Sache nach aber durch den definitiven Charakter 
jeiner Enticheidungen und durch Anerkennung der Geſetze ala abjolute Norm, doch 
mehr den Charakter der Deutjchen Gerichtsbarkeit annahm. Die übrige Verwaltungs» 
jurisdiftion verblieb den Departementsminiflern in leßter Inſtanz. 

An dies Syitem der Staatsverwaltung jchloß fich nun jeit 1848 eine Verfaſſung 
nach Belgiſchem, Franzöſiſchem und Engliſchem Mufter an, ohne Rüdficht darauf, daß 
dieje fremden Verfaſſungen einevon der Minijterverwaltung unabhängige 
Verwaltungsjurisdiktion vorausfegen. Man glaubte, daß die „Minifterverantwortlich- 
feit“ die Stelle der Rechtiprechung über das öffentliche Recht erjegen könne, Hatte 
aber weder den Muth noch den ernften Willen, eine jolche zu realifiren. Die völlige 
Unficherheit und Schußlofigfeit der Verfaſſungs- und Verwaltungsgejeße hat lange 
Zeit die öffentliche Meinung (ſelbſt bei der Krifis vom Jahre 1866) zu feinem erniten 
Entichluß einer Beichräntung des departementalen Abjolutismus zu beivegen vermocht. 

In heutigen Berhältnifjen findet die Öeritellung eines gejegberathenden ©. 
anscheinend noch ein Hinderniß darin, daß Kompetenz und Formation dafür jchwer 


760 Staatsſchatz — Staatsihulden. 


zu finden ift, jo lange das Verhältniß zwiſchen Reichs- und Landesverfaffungen fich im 
Fluß befindet. Nothwendiger ald je war dagegen die Herſtellung einer von der 
Minifterverwaltung unabhängigen Jurisdiftion über die ftreitigen fragen der 
Auslegung der Berfaffung, der Anwendung des Verwaltungsrechts, — und dieje ließ 
fih nur in einem jachverftändigen, kollegialifchen Beamtenkörper finden, während eine 
Jurisdiktion durch Behörden des Geligovernment erſt von Unten herauf neu zu 
ichaffen war. Alle Eiferfucht gegen das Berufsbeamtenthum mußte daher unter 
dem einen oder anderen Namen auf eine S.bildung für die Verwaltungs: 
jurisdiftion zurückkommen. Die Preußifche Gejeßgebung ift jeit 1875 zu einem 
dem Weſen der Deutichen Gerichtsverfaffung entiprechenden „Oberverwaltungsgerichts- 
hof“ gelangt, der aber an die Gentralverwaltung noch nicht heranreicht. 

Ginen bedeutungsvollen Theil der Staatsentwidelung Defterreichs bildet 

auch der dortige ©., deſſen Gejchichte von dem Freiherrn v. Hod kurz vor feinem 
Tode begonnen war. Die neuejte Gejeßgebung beichränft fich auch bier auf einen 
Verwaltungsgerichtshof. Wichtig für das konftitutionelle Verhältnig des ©. find 
namentlich auch die Formationen in Bayern und Württemberg, im Zufammen: 
bang mit einem relativ gut entwidelten Verwaltungsrecht. 
Lit.: — der Staatsrathebildungen in allen europäiihen Ländern von Bra delli 
in feinem Jahrb. für Geſetzkunde und Statiftif, 1862, S. 170 f. — Malchus, Politik der 
inneren Verwaltung, I. SS 18 ff. — für kl Gneift, Engl. Verwaltungsrecht, 1866 
bis 1867; I. $S 21, 32, 37, 43; II. SS 44—75. — für Frankreich: Dareste, Justice ad- 
ministrative, 1862. — M. Block, Dictionnaire de la politique, v. Conseil d’Etat. — Für 
Deutſchland und ——— Recht: L. dv. Stein, Die Verwaltungslehre, 1869, 1. €. 
177—197. — vd. Rönne taatsrecht, Regifter voce ©. — Godmar u. Glaproth, Der 
fgl. Preuß. u. furfürftl. Brandenburgiidhe eheime ©., Berl. 1805. Gneift. 

Staatsſchatz, j. Reichskriegsſchatz. 

Staatsſchulden. I. Begriff. (Verwaltungsſchulden und Finanzſchulden). 
Unter S. im weiteren Sinne verſteht man alle begründeten Forderungen, welche an 
irgend eine Staatskaſſe gemacht werden. Es beſteht aber ein ſehr weſentlicher Unter: 
ſchied zwiſchen den Schuldverbindlichkeiten der Staatöverwaltung und den ©. im 
eigentlihen und engeren Sinne. Man kann jene mit Zaband Berwaltungs- 
ichulden, dieje Finanzſchulden nennen, oder mit dv. Stein jene als Finanzkredit, 
dieje als Staatsfchuldenweien bezeichnen. Und zwar find Verwaltungsſchulden die: 
jenigen nicht unverzüglich berichtigten Forderungen an die laufende Verwaltung, 
welche im Etat vorgefehen find, aber ihre Dedung erjt in einer fpäteren Ginnahme 
finden, zu deren Beitreitung die Mittel in der Kaffe augenbliclich nicht ausreichen, 
die jedoch in der laufenden Tyinanzperiode wieder ausgeglichen werden, indem ledig: 
lich etatsmäßige Ausgaben zu etatsmäßigen Einnahmen antizipirt find. Dieſe Ber: 
waltungsjchulden bewegen ſich alfo innerhalb der budgetmäßigen Summen und be 
zweden nur die zwedmäßige gegenfeitige Ordnung von Einnahmen und Ausgaben; 
fie würden überhaupt gar nicht entjtehen, wenn die Einnahmen und Ausgaben des 
ganzen Jahres an einem einzigen Tage erfolgen könnten; fie entjtchen aber dadurd, 
daß die Einnahmen und Ausgaben fich unregelmäßig vertheilen, und zwar jo, daß 
ein Theil der Ausgaben früher zu leiften ift, als ein Theil der Einnahmen erhoben 
wird, wie ſich denn namentlich bei der Militärverwaltung herausgeſtellt hat, daß 
ein zeitweiliger Mehrbedarf, und zwar jehr erheblich über den monatlichen Durch— 
ihnittsbedarf in den Wintermonaten eintritt und daß ziemlich in derielben Zeit die 
BZolleinnahmen Hinter dem Durchjchnitt zurücbleiben. Einen ganz anderen Gharafter 
haben aber die Tyinanzichulden, die eigentlichen S. Diefe haben ihren Grund nicht 
in laufenden Einnahmen, jondern in den Ausgaben, fie jchaffen eine fehlende Cuelle 
von Einnahmen, und zwar entweder in der Weile, daß die Nothwendigfeit einer 
derartigen Schuld fich jchon bei FFeititellung des Budgets herausſtellt oder erit im 
Zaufe des Verwaltungsjahres ſich ergiebt, indem die Ausgaben den PVoranichlag 
überjchreiten, während die Einnahmen Hinter demjelben zurüdbleiben. Dieſer Unter: 


Staatsihulden. 761 


ichied von Verwaltungs- und Finanzſchulden Hat num aber auf die gefammte recht- 
liche Behandlung derjelben den allerweientlichiten Einfluß. Denn während die Ver: 
waltungsjchulden eine Maßregel der Finanzverwaltung find und durch die derjelben 
innewohnende Verordnungsgewalt geichaffen, geordnet und getilgt werden, fo find 
dagegen die Tyinanzichulden ein Gegenftand der Gejekgebung, jowol in Bezug auf 
Kontrahirung als in Bezug auf Verwaltung. Es verhält fich Hinfichtlich der Ver— 
waltungs- und FFinanzichulden in diefer Hinficht ganz Ähnlich, wie Hinfichtlich des 
Verwaltungs- und Finanzvermögens in Bezug auf defjen Veräußerung; denn während 
jenes ala Hülfsmittel bei Ausübung jonftiger Staatsfunktionen einfeitig von der 
Berwaltung veräußert werden kann, die eben ihrem Schwerpunkte nach nicht beim 
Landtage liegen joll, jo find die Veräußerungen diejes, welches eine Einnahmequelle 
bildet, im Prinzip an die Zuftimmung des Landtages gebunden. Die in einigen 
Beriaffungsurfunden ausdrüdlich der Verwaltung beigelegte Berugniß zur Kontrahi- 
rung don Berwaltungsfchulden (Baden, Weimar) verſteht fich auch da von jelbit, 
wo dieje Beiugniß wie in Preußen nicht ausdrüdlich ausgeſprochen ift. Die Ver: 
waltungsfchulden jcheiden mithin aus der Darftellung aus; zur Kontrahirung der- 
felben bedarf die Regierung keiner Autorifation, denn fie find die unmittelbare Folge 
des Etatsgeſetzes, und die Verwaltung diefer Schulden ift recht eigentlich die Auf— 
gabe der Finanzverwaltung. 

I. Arten der Finanzſchulden. 1) Man unterfcheidet zunächjt die ver— 
zinälihe und die unverzinsliche S. Unter unverzinzlicher ©. verjteht man die 
lediglich auf den Staatäfredit fundirten Staatänoten. Dieje unverzinsliche Schuld 
bildeten bisher in Preußen die jog. Kaſſenanweiſungen, die in Appoints von 1 Thlr. 
und 5 Thlr. von der Hauptverwaltung der S. auögegeben wurden, deren Geſammt— 
betrag fich in Tyolge des Gefehes vom 19. Mai 1851 auf 30 Millionen belief, 
durch Gejeh vom 7. Mai 1857 auf die Summe von 15 842 347 Thlr. reduzirt 
wurde, durch Einziehung des Kurheifiichen und Naſſauiſchen Papiergeldes aber wieder 
auf ca. 18 Millionen erhöht worden war. Die Kafjenanweifungen mußten bei allen 
föniglichen Kaffen zum vollen Nennwerthe angenommen werben, hatten aber feinen 
Zwangskurs (vgl. über die Frage des Zwangskurſes Voigtel, Das Geld und 
die Geldpapiere, in Hinfchius’ Zeitichr. ſ. Gejeßgebung und Nechtöpflege Bd. I. 
(1867) ©. 445 ff.; Keyßner, Dom Preuß. Papiergelde a. a. O., Bd. II. (1868) 
©. 101 ff.; Hartmann, Ueber den rechtlichen Begriff des Geldes, Braunfchweig 
1868, ©. 97 ff.; v. Rönne, Staatörecht, Bd. II. Abt. 2 ©. 371). Die weitere 
Vermehrung alles einzelftaatlichen Papiergeldes ift dann reichgfeitig durch das Geſetz 
vom 16. Juni 1870 injofern inhibirt worden, al& vorgejchrieben wurde, daß bis 
zu definitiver reichögejeßlicher Feſtſtellung der Grundſätze über die Emiffion von 
Papiergeld (RVerf. Art. 4 Nr. 3) von den Bundesftaaten nur auf Grund eines 
auf den Antrag der betheiligten Landesregierung erlaffenen Bundesgeſetzes Papier: 
geld ausgegeben oder deſſen Ausgabe gejtattet werden dürfe. Das Münzgejeg vom 
9. Juli 1873 hat dann aber Art. 18 angeordnet, nicht blos, daß das von den 
einzelnen Bundesjtaaten ausgegebene Papiergeld bis zum 1. Jan. 1876 einzuziehen 
und ſechs Monate vor diefem Termine öffentlich aufzurufen jei, jondern auch daß 
nach Maßgabe eines zu erlaffenden Neichsgefeßes eine Ausgabe von Reichspapier— 
geld ftattfinden werde. Das Reichsgeſetz, betr. die Ausgabe von Reichskafjenjcheinen, 
vom 30. April 1874 hat endlich bejtimmt, daß Reichafaffenjcheine zum Gejammt- 
betrage von 120 Mill. Mark in Abjchnitten zu 5, 20 und 50 Mark anzufertigen und, 
vorbehaltlich des in $ 3 beſonders geregelten Falles, unter die Bundesftaaten nach 
Maßgabe ihrer durch die Zählung vom 1. Dezbr. 1871 feftgeftellten Bevölkerung 
zu vertheilen jeien, daß dagegen die Bundesjtaaten das von ihnen jeither ausgegebene 
Papiergeld jpäteftens bis zum 1. Juli 1875 zur Einlöſung öffentlich aufzurufen 
und thunlichit fchnell einzuziehen haben, und daß endlich die Reichskaſſenſcheine bei 
allen Kaſſen des Neiches und jämmtlichen Bundesftaaten nach ihrem Nennwerthe in 


762 Staatsihulden. 


Zahlung angenommen und von der Reichshauptkaſſe für Rechnung des Reiches jeder 
Zeit auf Erfordern gegen baares Geld eingelöft werden müſſen, ſowie daß im Privat: 
verfehr ein Zwang zu ihrer Annahme nicht jtattfindet. 

2) Man unterjcheidet ferner die verzinsliche ©., je nachdem fie auf jog. Staats: 
ichuldicheinen oder auf Schafanweifungen beruht. Die Staatsfchuldicheine zeichnen 
fich durch ihre Unfündbarkeit aus, die feitens des Gläubiger eine abjolute it, 
jeitens des Schuldners unter gewiffen Borausfegungen zwar jtatthaft ift, doch jo 
daß ſtets eine längere Dauer des Schuldverhältnifjes in Ausficht genommen üt. 
Die Staatöjchuldicheine werden auf jeden Inhaber lautend auägeitellt, jo daß fie 
bei der llebertragung feiner Geifion bedürfen, im Gegenſatz zu der Franzöſiſchen Rente. 
Dagegen haben die jog. Schaganweifungen, indem fie alle jonjtigen wejentlichen 
Momente (Derzinslichkeit, auf den Inhaber lautend) mit den Staatsfchuldjcheinen 
gemein haben, das Gigenthümliche, daß fie von vornherein nur äuf furze Dauer ber , 
meſſen find, indem ihre Ginlöfungszeit höchitens neun Monate beträgt; fte werden 
in Abjchnitten von verjchiedenen Beträgen ausgegeben, und es bleibt der Finanz— 
verwaltung überlaffen, den Zinsſatz, ſowie die Dauer der Umlaufszeit innerhalb der 
geſetzlich zuläffigen Grenzen den Verhältniffen entiprechend feſtzuſetzen; eine genauere 
Beichreibung der Form der Schabanweifungen findet fich 3. B. ala Anlage zu der 
Bekanntmachung des Kanzlers des Norddeutichen Bundes vom 19. Juli 1868 (in 
Hirth's Annalen, Jahrg. 1869, S. 299). Ihre Anwendung empfiehlt ſich 
namentlich dann, wenn zwar an fich die Nothwendigkeit einer eigentlichen Finanz— 
ichuld vorliegt, aber zugleich die Wahrjcheinlichkeit vorhanden iſt, daß dieſe im nicht 
zu langer Zeit durch vermehrte Einnahmen abgetragen werden kann, indem e& in 
jolhem Falle unzwedmäßig fein würde, den zeitweiligen Bedarf durch eine erit in 
entfernter Zukunft zu amortifirende Anleihe zu deden. Dabei iſt es keineswegs 
nothwendig, daß die Schaßanweifungen beim Ablauf der erjten Umlaufszeit gänzlich 
getilgt werden, wenn nur in Ermangelung derartiger parater Mittel die Ermächtigung 
zur Ausgabe neuer Schaganweifungen an Stelle der eingelöften alten gegeben it. 
Man hat ich diefer Form der Beichaffung von Staatsanleihen zum erſten Male 
auf Grund des Preuß. Geſetzes vom 28. Septbr. 1866, betr. den außerordentlichen 
Geldbedarf der Militär- und Marineverwaltung, bedient; jeitdem finden fie fich in 
jedem Gtatögejege erwähnt, indem dem Finanzminiſter immer von Neuem die Be 
fugniß ertheilt wird, an Stelle der im Laufe des Gtatsjahres einzulöfenden alten 
Schaßanweifungen neue bis zu bejitimmtem Betrage auszugeben, wie 3. B. das 
Geſetz vom 26. Februar 1874, betreffend die Tyeititellung des Staatshaushalts pro 
1874, anordnet, daß in diefem Jahre Schatanmeifungen bis zur Höhe von 10 
Millionen, welche vor dem 1. Oftober 1875 verfallen müffen, wiederholt ausgegeben 
werden können, und daß die auf Grund des vorjährigen Gtatögejehes vom 24. Mär 
1873 auögegebenen Schabanweifungen bei eintretender Fälligkeit einzulöfen find. 
Aber auch die Finanzpraxis des Norddeutichen Bundes und des Deutichen Reihe 
hat von den Schatzanweiſungen den umifafjenditen Gebrauch gemacht; in&belondere 
beitimmt das Geſetz vom 5. Juli 1873, betr. die Feititellung des Haushaltaetats 
des Deutichen Reiches für das Jahr 1874, dab der Reichskanzler ermächtigt wird, 
jur vorübergehenden Verſtärkung des ordentlichen WBetriebsionds der Reihahauntlafie 
nach Bedarf, jedoch nicht über den Betrag von 8 Millionen hinaus, und behus 
Beichaffung eines Betriebstonds zur Durchführung der Münzreform bis zum Betrage 
von 50 Millionen Schatanweifungen auszugeben, mit der Makgabe, dab dem 
Reichsfanzler die Beſtimmung des Zinsiages und die Dauer der Umlaufszeit, die 
jedoch den 30. Juni 1875 nicht überichreiten darf, überlaflen wird, und dab audı 
der Betrag der Schakanmweifungen wiederholt, jedoch nur zur Dedung der in Ver 
fehr gelegten, innerhalb dieſes Zeitraums ausgegeben werden darf; jelbit die Be 

ı iIchaffung der für die Zwede der Marine aufgenommenen Anleihe des Norbbeutichen 
4 Bundes, jowie ein Theil der KAriegsanleihen tt auf diefem Wege erfolgt. 


nn . 
1J 





Staatsihulden. 763 


3) Man unterjcheidet die Staatsjchuldicheine, je nachdem fie einer im Voraus 
beitimmten regelmäßigen Tilgung unterliegen, oder diefe abhängig ift von der Lage 
des Staatöhaushalts. Jenes war das ältere Preuß. Syſtem; insbejondere Hatte 
der 5 5 der Berordnung wegen der künftigen Behandlung des gejammten Staats- 
ihuldenwejen® vom 17. Januar 1820 verordnet, daß zur allmählichen Mbtragung 
aller verzinslichen Schulden ein Prozent jährli von der damaligen Höhe des 
Schuldfapital® zu einem allgemeinen Tilgungsfonds für immer bewilligt werben jollte, 
dem auch die aus der allmählichen Abtragung der Schuld entjtehenden Zinserſparniſſe 
binzutreten; dieſe Grundjäße waren aber auch im Betreff der jpäteren Anleihen 
durch die über deren Aufnahme erlafjenen bejonderen Gejege jpeziell angeordnet, jo 
3. B. in dem Gejeße vom 17. Febr. 1868, betr. die Aufnahme einer Anleihe von 
40 Millionen; die Einzelheiten regelten fich nach dem Gejege vom 23. März 1852, 
betr. die Ueberweiſung der in Gemäßheit des Gejeßes vom 7. Dezember 1849 aufs 
zunehmenden Staatsanleihe an die Hauptverwaltung der ©., jowie die Tilgung 
diefer Anleihe. Hier war insbeſondere vorgejchrieben, daß zur Tilgung jährlich ein 
Prozent des Schuldfapitals zu überweifen und daß die durch allmähliche Abtragung 
des Schuldkapitals erjparten Zinjen dem Tilgungsfonds in ununterbrochener Zeit- 
folge zumwachien. Darüber, ob die Tilgung vermittelit Ankaufs der betr. Staats— 
papiere zum Tageskurſe oder durch Auslooſung jtattfinden foll, haben die Gejehe 
geichwantt; indeffen hat jowol die Verordnung vom 17. Januar 1820 ala auch das 
Geieg vom 23. März 1852 fejtgejeßt, daß der Tilgungsfonds zunächft zum Ankauf 
eines entiprechenden Betrag von Schulddofumenten zu verwenden jei, daß jedoch, 
infoweit der Ankauf nicht unter dem Nennwerthe bewirkt werden fann, öffentliche 
Auslooſungen jtattzufinden haben. Ein ganz neues Syſtem der Schuldentilgung 
it nun aber durch das Gejeß vom 19. Dezember 1869, betr. die Konfolidation 
Preußischer Staatsanleihen, in® Leben geführt, infofern die Tilgung diejer fonjolidirten 
Anleihe nur jobald und ſoweit erfolgt, als etatsmäßige Weberjchüffe der Staats— 
einnahmen über die Staatsausgaben fich ergeben, und ſoweit über diejelben im 
Staatshaushaltsetat nicht anderweitig verfügt wird. Die eventuelle Tilgung ges 
ihieht in der Art, daß die dazu beftimmten Mittel zum Ankauf eines entiprechenden 
Betrages von Schulddofumenten verwendet werden. Dem Staate bleibt jedoch das 
Recht vorbehalten, vom 1. Januar 1885 ab die im Umlauf befindlichen Schuld- 
verjchreibungen zur Einlöfung gegen Baarzahlung des Kapitalbetrags zu kündigen. 
Dieſe Grundſätze haben aber auch auf die jpäter aufgenommenen Anleihen Anwendung 
gefunden, indem 3. B. das Geſetz vom 11. Juni 1873, betr. die Aufnahme einer 
Anleihe in Höhe von 120 Millionen, hinfichtlich der Tilgung derjelben auf die Vor— 
ichriften des Geſetzes vom 19. Dezember 1869 einfach verweift. Die günitigen 
Finanzverhältniffe in den eriten Jahren nach der Emanation des Konſolidations— 
gejeßes haben allerdings die Folge gehabt, daß, wie fich aus einer Vergleichung der 
verichtedenen Staatshaushaltsetats ergiebt, die Tilgungsjummen von 1868 bias 1872, 
und zwar von 7966766 Thaler auf 9497799 Thaler ftetig geftiegen find, und 
daß außerdem theils im Grtraordinarium des Staatshaushaltsetats (3. B. pro 
1878), theils durch bejondere Gejege mehrfache außerordentliche Schuldentilgungen 
itattgefunden haben, wie bei der Auflöfung des Staatsjchates durch das Gejeg vom 
18. Dezbr. 1871, jo auch durch das Geſetz vom 13. März 1873, vom 5. Juni 
defjelben Jahres (betr. die aus der Kriegsentſchädigung an Preußen gelangenden 
Geldmittel) und vom 26. Mai 1874. — Eine befondere Abart der Staatsjchuld- 
icheine find noch diejenigen, in welchen allen Gläubigern oder einem Theile derjelben 
außer der Zahlung der verichiedenen Geldſummen eine Prämie dergeftalt zugefichert 
wird, daß durch Ausloofung oder durch eine andere auf den Zufall gejtellte Art der 
Grmittelung die zu prämiirenden Schuldverjchreibungen und die Höhe der ihnen zu— 
fallenden Prämie bejtimmt werden jollen. Dieje, die jog. Lotterie-Anleihen, dürfen, 
wie Inhaberpapiere mit Prämien überhaupt, nach dem Reichsgejege vom 8. Juni 


764 Staatsichulden. 


1871 innerhalb des Reichs nur auf Grund eines Neichsgejeges und mur zum Zwecde 
der Anleihe eines Bundesjtaates oder des Reichs ausgegeben werden, während die 
ausländifchen Jnhaberpapiere mit Prämien, deren Ausgabe vor dem 1. Mai 1871 
erfolgt ift und die demgemäß überhaupt im Verkehr zuläffig find, einer bejonderen 
Adjtempelung zu unterwerien find. 

II. Die Kontrahirung der Staatsfhulden In Preußen fonnte 
die Aufnahme neuer Darlehen jchon nach der Verordnung vom 17. Januar 1820 
nur mit Zuziehung und unter Mitgarantie der künftigen reichsſtändiſchen Verſamm— 
fung geichehen. Das Patent vom 3. Tyebruar 1847 überwies diefe Mitwirkung 
dem Vereinigten Yandtage mit der Einfchräntung, daß, wenn im Falle eines zu 
erwartenden, oder auögebrochenen Kriegs die Einberufung des Vereinigten Landtags 
nicht zuläffig befunden werden follte, an Stelle derjelben die Deputation für das 
Staatsfchuldenweien, welche im Allgemeinen die ftändifche Mitwirkung bei Per: 
zinfung und Tilgung der Staatsjchuld auszuüben Hatte, treten ſollte. Der Art. 
103 der Berfaffungsurtunde bat dann aber ganz allgemein und ohne jede Ein 
ichränfung bejtimmt, daß die Aufnahme von Anleihen nur auf Grund eines Geſetzee 
(unter Zuftimmung aller drei Faktoren) erfolgen könne, und daß daffelbe bei der 
Uebernahme von Garantien zu Laften des Staates gelte. In Gemäßheit des Art. 
62 al. 3 muß ein derartiger Gefeßentwurf zuerjt dem Haufe der Abgeordneten vor: 
gelegt werden, da es fich um einen Finanzgeſetzentwurf handelt. 

Ganz analog ijt in Art. 73 der Verfaſſung des Norbdeutichen Bundes und 
des Deutichen Reichs die Aufnahme einer Anleihe auf den Weg der Bundes reip. 
Reichsgeſetzgebung verwieſen worden. 

Das Alles bezieht ſich endlich nicht blos auf die verzinslichen, ſondern auch 
auf die unverzinslichen S. 

IV. Die Verwaltung und Kontrole des Staatsſchuldenweſens. 
1) In Preußen. Auch in dieſer Beziehung hatte ſich die Krone bereits zur Zeit 
der abjoluten Monarchie eine freiwillige Beichränfung auferlegt; die Garantie ruhte 
jedoch wejentlich in der Hand des Beamtenthums, indem die im Jahre 1820 
errichtete Hauptverwaltung der ©. für die Erfüllung der damals gegebenen Bor: 
ichriften im ganzen Umfange verantwortlich gemacht wurde. Seit der Gmanation 
der Verfaſſungsurkunde, insbefondere jeit dem Gefeße, betr. die Verwaltung des 
Staatsjchuldenmweiens und Bildung einer Staatsjchuldentommiffion, vom 24. Febr. 
1850 ift die fönigliche Gewalt weiter eingeichränft worden. Die Hauptverwaltung 
der ©. ift eine von der allgemeinen Finanzverwaltung abgejonderte ſelbſtändige 
Behörde, beftehend aus einem Direktor und drei Mitgliedern, welche gleiche Berug 
nifje und gleiche WVerantwortlichkeit haben. Der Direktor und die Mitglieder leiten 
vor Antritt ihres Amts in öffentlicher Siung des Oberverwaltungsgerichts (Gel. 
vom 29. Yan. 1879) (früher des Obertribunals) einen Eid, daß fie weder einen Staats: 
ſchuldſchein noch irgend ein anderes Staatöfchuldendofument über den in den 
bejtehenden oder in Zukunft zu erlaffenden Geſetzen bejtimmten Betrag hinaus aus 
ftellen, oder durch Andere ausftellen laſſen, auch mit allem Nachdruck darauf halten 
und dafür forgen wollen, daß die ihrer Verwaltung anvertraute Staatsichuld prompt 
und regelmäßig verzinit, das Kapital aber in der durch die Geſetze vorgejchriebenen 
Art getilgt werde, und daß fie fich von der Erfüllung diefer Pflichten und der 
übrigen ihnen mit eigener Berantwortlichkeit übertragenen Obliegenheiten durch feine 
Anmweifungen und Verordnungen irgend einer Art abhalten laffen wollen. Die 
Hauptverwaltung der ©. iſt wieder unter die fortlaufende Aufficht einer bejonderen 
Staatsſchuldenkommiſſion geitellt; diejelbe bejteht aus je drei Mitgliedern beider 
Häufer des Landtags, welche mit abjoluter Stimmenmehrheit auf drei Jahre gewählt 
werden, und aus dem Präfidenten der Oberrechnungsfammer; die vom Landtage ge 
wählten Mitglieder werden vom Präfidenten in öffentlicher Siyung unter Hinweiſung 
auf ihren ala Abgeordnete geleisteten Eid (Verfaffungsurtunde Art. 108), der Präfident 





Staatsihulden. 765 


der Oberrechnungsfammer in öffentlicher Situng des Oberverwaltungsgerichts (früher 
des Obertribunals) unter Hinweiſung auf jeinen Amtseid, auf Grfüllung ihrer 
beionderen Obliegenheiten verpflichtet; die Kommiſſion wählt aus ihrer Mitte einen 
BVorfigenden und einen Stellvertreter, zur Beichlußfähigkeit gehört die Anmwejenheit 
von wenigſtens vier Mitgliedern. Die Staatsjchuldenfommilfion erhält von der 
Hauptverwaltung der ©. die Monatd- und Jahresabjchlüffe, und Hat, jo oft fie es 
für angemefjen erachtet, wenigjteng aber einmal halbjährlich, außerordentliche Revifionen 
vorzunehmen; ſie ift befugt, über Alles, was den Beitand, die Verzinfung und 
Tilgung der Staatsjchuld betrifft, von der Hauptverwaltung Auskunft zu erfordern 
und derjelben ihre Bemerkungen und Anfichten zur Beichlußnahme mitzutheilen. 
Bei dem regelmäßigen jährlichen Zufammentritt des Landtags erjtattet die Staats— 
ihuldenftommiffion den beiden Häuſern Bericht über ihre Thätigkeit, ſowie über die 
Grgebnifje der unter ihre Aufficht gejtellten Verwaltung des Staatsſchuldenweſens 
in dem verfloffenen Jahre; mit diefem Berichte find auch die Rechnungen der Staats- 
ihuldentilgungsfaffe, nachdem fie von der Oberrechnungsfammer revidirt und feſt— 
geitellt, von der Staatsſchuldenkommmiſſion geprüft find, zu überreichen. Die ein- 
gelöften verzinslichen Staatsſchuldendokumente werden jährlich nach erfolgtem Rechnungs 
abichluffe von der Staatsfchuldentommilfion und von der Hauptverwaltung der ©. 
in gemeinschaftlichen Verichluß genommen und nach ihren Litten, Nummern und 
Geldbeträgen zur öffentlichen Kenntniß gebradht. Sobald dann die betreffenden 
Rechnungen von dem Landtage dechargirt find, werden die eingelöften verzinglichen 
Staatsjchuldendofumente von Kommifjarien der Staatsfchuldentommiffion und der 
Hauptverwaltung der ©. durch Teuer vernichtet. — 2) Was jodann die Verwaltung 
des Bundes= reſp. Reichsſchuldenweſens betrifft, jo war bereit3 vor Emanation des 
Geſetzes vom 9. Novbr. 1867, durch welches die erjte Bundesanleihe zu Marine- 
und Küjtenvertheidigungszweden bewilligt wurde, dem Reichstag ein Gejegentwurf 
über die Verwaltung des Bundesſchuldenweſens vorgelegt, darauf berechnet, für die 
Verwaltung aller vom Bunde etwa aufzunehmenden Anleihen im Allgemeinen Vor— 
jorge zu treffen, feinem Inhalte nach dem Preuß. Gejege vom 24. Febr. 1850 
durchaus nachgebildet. Die vom Neichdtage neu hinzugefügte Beitimmung in Be— 
treif der Berantwortlichkeit der Beamten der Bundesjchuldenverwaltung, dahin lautend: 
„Grheben fich gegen die Dechargirung Anjtände oder finden fich ſonſt Mängel in 
der Verwaltung des Bundesfchuldenwejens, jo können die daraus hergeleiteten Ans 
iprüche ſowol vom Reichätage als auch vom Bundesrathe gegen die verantwortlichen 
Beamten jelbjtändig verfolgt werden. Der Reichstag fann nöthigenjalls mit der 
gerichtlichen Geltendmachung die von ihm gewählten Mitglieder der Bundesichulden- 
fommiffion beauftragen.“ — fand nicht die Zuftimmung des Bundesrathe, „denn 
io gewiß jeder Beamte für die Erfüllung jeiner Dienjtpflicht verantwortlich und 
durch Nachläffigkeit oder Treulofigfeit zur Entichädigung verpflichtet ift, jo ift, wenn 
der Entſchãdigungsanſpruch dem Fiskus zuſteht — und nur in ſolchen Fällen wird 
bon einem durch Bundesorgane zu verfolgenden Anfpruche die Rede jein —, das 
Klagerecht wie bei jeder andern dem Fiskus zuſtehenden Forderung allein von dem 
verfaſſungsmäßigen Vertreter des Fiskus, alſo im vorliegenden Falle auf Grund 
des Art. 17 der Bundesverfaſſung von dem Bundeskanzler, auszuüben.“ Dieſe 
Differenz hat die Folge gehabt, daß es vorläufig zu einer allgemeinen geſetzlichen 
Regelung des Bundesſchuldenweſens nicht gelommen iſt. Zur Ermöglichung der 
inzwiſchen genehmigten Bundesanleihe iſt das Geſetz vom 19. Juni 1868, betr. die 
Verwaltung der nach Maßgabe des Geſetzes vom 9. Novbr. 1867 aufzunehmenden 
Bundesanleihe, ergangen. Danach iſt die Verwaltung diefer jpeziellen Anleihe bis 
zum Grlaß eines definitiven Gejeges über die Bundesichuldenverwaltung der Preußischen 
Dauptverwaltung der S. nad) Maßgabe des Gejehes vom 24. Februar 1850 über: 
tragen; die WVerantwortlichkeit eritredt fid — wie auch in den neueren Preuß. 
Anleihegeſetzen ausdrüdlich geiagt it — auch darauf, daß eine Komvertirung der 





766 Staatsferbituten. 


Schuldverfchreibungen nicht anders als auf Grund eines Gejeges und nachdem die 
etwa erforderlichen Mittel bewilligt find, vorgenommen wird. Der Direktor umd 
die Mitglieder der Hauptverwaltung der ©. haben zu Protokoll zu erklären, daß 
fie den von ihnen nach $ 9 des Geſetzes vom 24. Februar 1850 geleiteten Eid 
auch für die durch das gegenwärtige Geſetz ihnen übertragene Verwaltung ala maß: 
gebend anerkennen. Die Geſchäfte der Staatsjchuldentommiffion werden von einer 
Bundesichuldentommiffion wahrgenommen, welche aus drei Mitgliedern des Bundes: 
raths, und zwar aus dem jedesmaligen Vorfitenden des Ausschufles für das Rechnungs: 
wejen und zwei Mitgliedern diefes Ausichuffes, ferner aus drei Mitgliedern des 
Reichstags und aus dem Prälidenten der MRechnungsbehörde des Nordd. Bundes, 
bis zu deren Errichtung aber aus dem Ghef-Präfidenten der Preuß. Oberrechnungs: 
fammer, welcher beionders zu vereidigen ift, beiteht. Der Bundesrath wählt die 
Mitglieder von Sefjion zu Seſſion, der Reichätag auf drei Jahre; den Vorfig führt 
der Vorſitzende des Ausichuffes des Bundesraths für das Nechnungswejen oder bei 
deſſen Behinderung ein anderes dem Bundesrathe angehöriges Mitglied der Kommiſſion; 
zur Beichlußfähigkeit gehört die Anweſenheit von mindeftens fünf Mitgliedern. Die 
Bundesichuldentommiffion Hat dem Bundesrathe und dem Reichstage gegenüber die: 
jelben Verpflichtungen, welche der Preußijchen Staatsſchuldenkommiſſion gegenüber 
den beiden Häufern des Preußifchen Landtags obliegen. 

Miederum gelten für die Verwaltung und Kontrole der unverzinslichen ©. 
die analogen Grundjäße und Ginrichtungen. (Vergl. insbeſ. das Reichsgeſetz, betr. 
die Ausgabe von Neichalaffenicheinen, vom 30. April 1874, SS 6, 7.) 

Der thatlächliche Zujtand des gefammten Schuldenweiens ijt endlich aus den 
jährlich dem Landtage reip. dem Neichstage zu erjtattenden Berichten der Staats: 
reip. der Reichsſchuldenkommiſſſon auf das Genauejte zu erſehen. Diejelben finden 
fih in den Anlagen zu den Stenographiichen Berichten; beifpielsweife der 25. Ber 
richt der Preußiſchen Staatsjchuldentommijfton vom 24. Januar 1874 (für das 
Jahr 1872) in Bd. IV. der Anlagen zu den Stenographiichen Berichten des Ab- 
geordnetenhaufes 1873/74, Nr. 300; die Berichte der Bundes- und der Reichs 
ſchuldenkommiſſion auch in Hirth's Annalen, Jahrg. 1871, ©. 665 ff. und Jahre. 
1872 ©. 1359 ff. 

Lit.: Kletke, Lit. über das Finanzweſen bed Preußiſchen Staates, 3. Aufl. 1876, ©. 
a1 — v. Rönne, Tas Stoatsreät be re Monardie, 3. Aufl., Bd. I. Abtb. 1 

eb, Bd. II. Abth,. 2. ©. — Richter, Das Preußiſche Staatsihuldenweien 
und die Preußiichen Else Du 1869. — gaband, Das Finanzrecht des Deutfchen 
Reiches (Hirth'3 Annalen 1873, ©. 437 fi.) — v. Rönne, Das Staatsrecht d. Deutſchen 
Reiches, 2. Aufl. 1876/77, Bd. L ©. 310 fj., Bb. II. Abth. 1 ©. 85, 266 ff. — 8.0. Stein, 
Lehrbuch ber ——— 4. Aufl. 1878, Bd. II. ©. 455 ff. Jet ne — Rau: 


Wagner, Lehrbuc der Finanzwiſſenſchaft, 7. Aufl. 1877, Th. 1. 4. — Wagner, 
Art, S. in ver Handmwörterbuch u. in Bluntihlt‘ ä te — Michaelis, 
Ueber Staatdan A (Boltewirthichaftl. Schriften, Bd. II. 1873). Ernſt Meier. 


Staatsjervituten (öffentliche Servituten, Th. I. S. 1001) iind 
dauernde reale Beichränkungen der Ausübung der Staatöhoheit eines unabhängigen 
Staates im Antereffe eines anderen Staates. Die hierbei in Betracht fommenden 
Subjekte find zwei von einander unabhängige Staaten. Ausnahmsweiſe fannı freilich 
auch ein einzelner Menſch berechtiates Subieft fein, der aber bier nicht als Unter- 
than eines beitimmten Staates in Betracht fommt, jonden als ein „unter Dem 
Schuße des Wölferrechts Ttehendes Individuum” (Heffter). Ein Beilpiel darür 
bot früher dar das den Fürften Thum und Taris zuftehende Poftreht. Auf feinen 
wall bedingt es das Wejen der ©., dat der aus denfelben hervorgehende Vortheil 
dem berechtigten Staat unmittelbar und ausschließlich zutommt; er fann zunädhit 
den Unterthanen dejlelben zugute fommen, Der Begriff der ©. wird nicht Der 
ündert, wenn die beiden Staaten Glieder eines und deflelben Staatenbumdbes oder 
Bundesſtaates iind, obwol man in dieſem Falle dieſelben jtaatsrechtliche Seror 





Stantsiervituten. 767 


tuten im Gegenſatz zu völferrechtlichen genannt hat. Der Gentralgewalt gegenüber 
fönnen gleichjall® einzelnen Bundesgliedem S. auferlegt fein. Als folche dürfen 
aber niemals diejenigen Beſchränkungen aufgefaßt werden, denen in Folge der 
Bundesverfafjung ſämmtliche Bundesglieder unterworfen find, fondern nur die be- 
jonderen Beichränfungen einzelner Staaten (Beifpiel: die Bundesfeſtungen im ches 
maligen Deutjchen Bunde). Wie der Inhalt der Servituten überhaupt entweder 
in patiendo oder non faciendo bejteht, jo auch der der ©. Entweder fann der 
berechtigte Staat bejtimmte Handlungen, welche Ausfluß der Staatshoheit find, auf 
dem Gebiete des verpflichteten Staates vornehmen, oder der verpflichtete muß gewiſſe 
Akte, die er an fih auf Grund der Staatshoheit vornehmen dürfte, unterlaflen. 
Sp unterjcheidet man affirmative und negative S. Mit Rüdficht auf die beiden 
Subjefte der Servituten unterfcheidet man aktive und paſſive S. Aktiv ift die 
Servitut mit Rückſicht auf den Staat, der fie auf dem Gebiet des anderen aus— 
üben darf; paſſiv mit Nüdficht auf den, der fich diefe Ausübung gefallen lafien muß. 
Es kann auch zwei Staaten gegenjeitig eine Servitut derjelben Art zuftehen. Gegen- 
ftand der ©. find Hoheitärechte und Regalien; auch Privatrechte fünnen es fein, 
jedoch immer nur in Verbindung mit Staatähoheitsrechten, niemals für fich allein. 
Beijpiele für die ©. bieten dar das Gtappenrecht (und umgekehrt als pajfive Ser: 
vitut die Gtappenlaft), das Recht, auf dem Gebiete eines fremden Staates Eiſen— 
bahnen zu bauen, Bojtanjtalten, Zelegraphenlinien und »Stationen zu unterhalten, 
das Recht, in einem anderen Territorium eine Feſtung zu haben, und das Be— 
ſatzungsrecht in einzelnen Pläßen defjelben, dag Bergregal in einem Bergdiftrift des 
anderen Staates; jodann (ala servitutes in non faciendo) das Recht, die Anlage 
von Feitungen oder die Aufitellung größerer Heeresmaſſen in gewiffen Theilen des 
verpflichteten Staates zu unterſagen. Das Recht, welches den Gegenjtand der Ser: 
vitut bildet, muß dem berechtigten Staat unabhängig von der Gtaatähoheit 
des verpflichteten Staates zuitehen. Auf der anderen Geite darf das dem berech- 
tigten Staate eingeräumte Recht nicht ein derartiges fein, daß dadurch die Selbit- 
jtändigkeit des verpflichteten völlig aufgehoben würde. Ueber die Grenzen find die 
Schriftiteller nicht einig. Während Heffter es für außreichend erflärt, wenn der 
verpflichtete Staat als halbſouveräner bejtehen kann, ift Klüber der Anficht, daß 
hierdurch bereits der Begriff der Staatsfervitut überjchritten fei. Letzterem wird man 
fich anschließen müffen. Die ©. entitehen durch völferrechtlichen Vertrag; doch jteht 
diefem die unvordenfliche Zeit gleich. Nach dem Anhalt des Vertrages richtet ſich 
auch der Umfang der Servitut. Die Ausübung muß hier, wie bei den Servituten 
überhaupt, eiviliter gejchehen; auch darf dadurch die Verfaſſung des verpflichteten 
Staates niemals verlegt werden. Die Bornahme derfelben Handlungen, welche den 
Anhalt der Servitut bilden, ift dem verpflichteten Staate nicht verwehrt, eg müßte 
denn dieg mit dem Weſen der Servitut unvereinbar, oder das Gegentheil ausdrücdlich 
vertragsmäßig feitgejeßt fein. Die ©. gehen unter durch Verzicht des Berechtigten, 
durch den Untergang der Sachen, an denen die Ausübung jtattfand, Eintritt der 
etwaigen Rejolutivbedingung oder des Endtermins, durch Konfolidation, endlich da= 
durch, daß der Herrſcher des berechtigten oder verpflichteten Territoriums Unterthan 
des Herrichers des anderen wird. 

Außer diejen eigentlichen (vertragsmäßigen) ©. werden noch erwähnt natür- 
lihe S. Man verjteht darunter Beichränfungen der Staaten in der Hewichait 
über das Gebiet, welche aus der natürlichen Yage der Nachbarftaaten hervorgehen, 
als die Nothwendigfeit, das fließende Waſſer des Nachbaritaates aufzunehmen, und 
umgefehrt das das eigene Gebiet durchftrömende Wafler wieder in den Nachbarftaat 
binauszulajfen. Allein in Wahrheit find dies (mie auch einige Schriftiteller an— 
erfennen) ebenjowenig Servituten, als die Nachbarrechte im Givilrecht. 

Die Lehre von den ©. gehört in das Völkerrecht, nicht in das Staatäredht. 


Pr 


VER 


768 Stabel — Städtereinigung. 


: Gönner, Entwidelung des Begriffd und ber rechtlichen Berhältnifie Deutjcher 
——— Erlangen 1800. — Klüber, Oeffentliches Recht des Deutſchen 
Bundes, $8 559562. — Zahariä, Deutiches Staats: u. Bundesrecht, II. $ 240. — Heffter, 
Das europätiche Dölkerreht, S 48. Lewis. 

Stabel, Anton, & 9. X. 1806 zu Stockach, ſtudirte in Freiburg u. Heidel- 
berg, wurde 1832 Obergerichtsadvolat in Mannheim, 1841 Prof. in Freiburg, 
1849 Staatsrath und Präfes des Juſtizminiſteriums, 1851 geheimer Rath, 1852 
Präfident der 1. Kammer, trat 1866 in Ruheſtand, jedoch 1867 wieder ala Juftiz- 
— ein, 1868 penfionirt, T 20. III. 1880. 

riften: Vorträge über ‚Srana. uub Bad. Civilrecht, freiburg 1848. — en der 
Zeit 7 . Bad. Rechtspflege, Freiburg 1844. — Vorträge * ben bürgerl. Proze eibelb. 
1845, — Inftitutionen des franz. ge Mannh. 187 
git.: Augsb. er 1880, ©. 1288, — ehrt Fugelt, Hanbb. des Franz 
Civilrechts, Heibelb 1874, 1. 29. — v. Mech, Biogr., II. Zeihmann. 

Stüdtereinigung. Die Entiernung der — aus dem Bereiche 
ſtädtiſcher Wohnplätze hat man ſeit früheſter Zeit — wie ſchon aus dem alten 
Teſtamente zu erſehen — als Gegenſtand öffentlicher Fürſorge anerkannt, und die 
zum Theil noch heute ihrem Zwecke dienenden großartigen Kloakenkanalbauten der 
Römer laſſen erkennen, welch hohen Werth dieſelben auf Reinhaltung ihrer Städte 
legten. Gine viel wichtigere Bedeutung aber hat diefe Aufgabe für die Gefundheits- 
polizei getvonnen durch die Forjchungsergebniffe der Neuzeit über die Beziehung der 
fäulnißfähigen Schmußjtoffe zur Entjtehung und Verbreitung der jogen. zymotiſchen 
Krankheiten, des Typhus, der Cholera ıc. Seitdem ein naher Zujammenhang 
zwiſchen dem Auftreten diefer Seuchen und der Ueberfättigung des Wohnbodens mit 
jenen Stoffen, namentlich mit jolchen von erfrementieller Herkunft, fich herausgeſtellt 
bat, ift die Aufgabe einer Bekämpfung diefer Schädlichkeitäquelle durch öffentliche 
Mahnahmen eine der dringenditen, freilich zugleich jchwierigiten in unjeren großen 
jtädtifchen Gemeinwejen geworden, deren rajches Anmwachien ohnehin das Uebel noth— 
wendig zu einer früher nicht gefannten Ausdehnung jteigern mußte. Manche Städte, 
deren häusliche und gewerbliche Abfälle ehedem ein durchläffiger Untergrund oder 
ein durchfließender Strom ohne Anftoßerregung aufzunehmen und in unjchädliche 
DOrydationsprodufte umzufegen vermochten, überladen bei ihrer jeßigen Einwohner: 
zahl und Induftrieentwidelung jene natürlichen Schmußbefreier derart, daß Boden 
und Flußufer zu Herden frantmachender Ausdünftungen werden und die öffentlichen 
Ströme alle Verwendbarkeit ihres Waſſers zu Genußzwecken einbüßen. Andererjeits 
weifen gerade die neueren Unterfuchungen auf die Wichtigkeit einer ſchleunigen 
Gntiernung der Ausmwurfjtoffe vor dem Eintritte ihrer Fäulniß 
bin, jo daß jede Aufipeicherung derjelben im Bereiche menjchlicher Athemluft un— 
jtatthaft erfcheint. 

Zu diejen Erwägungen fanitärer Art tritt endlich ala weiterer, wenn auch ver: 
hältnigmäßig untergeordneter Gefichtspunft die Bedeutung derjelben Auswurfitoffe 
als Mittel zurBodendüngung, welche in gleichem Maße mit der zunehmenden 
Dichtigkeit der Bevöllerung und der dadurch gebotenen intenfiveren Bodenkultur an 
Merth für den allgemeinen wirthichaftlichen Wohlitand jteigen müffen. 

Aus dem Bemühen der Berwaltung und der Technik, diefen mannigfachen 
Gefichtapunften möglichite Rechnung zu tragen, iſt eine Anzahl verichiedener Syſteme 
von ©. hervorgegangen, deren jedes feine eifrigen ausjchließlichen Verfechter gefunden, 
zwifchen denen aber die jebesmalige Wahl, je nach den bejonderen örtlichen Verhält- 
niffen nicht überall gleich ausfallen kann. Das ältejte und einfachite Syſtem, wie 
es noch in der Mehrzahl der Eleineren Städte überwiegend angetroffen wird, bilden 

1) die Sentgruben, d. 5. in die Erde vertiefte Sammel» und Verſickerungs- 
jtätten für entweder nur den flüffigen Theil oder gar auch für den gejammten Un— 
rath, deren Wandungen mit Mauerwerk bekleidet find, deren Boden dagegen in eine 
möglichit durchläffige Schicht, wo möglich bis unter den Grundwafjeripiegel verlegt 


Städtereinigung. 769 


wird. Dieje Senf» oder Schlinggruben („puits absorbants‘‘) fünnen bei jehr durch— 
läffigem Boden und bei tiefem, einiger Strömung unterworfenem Grundwaſſer wol 
eine befriedigende Entfernung und Unſchädlichmachung der Schmußjtoffe leiften, wenn 
legtere in verhältnigmäßig geringer Menge den tieferen Bodenjchichten überantwortet 
werden und wenn man an das dadurch verunreinigte Grundwafler feinerleiAniprud 
einerBerwendung ald Genußwaſſer erhebt. Entnimmt man dagegen mittels 
Brunnen einem ſolchen ſtädtiſchen Grundwaſſer den Bedarf an Trink- und Kochwafler, 
wie e8 bis zur Anlage der neueren jtädtiichen Wafjerwerfe in den meiften auch größeren 
Städten geichah, jo läuft die Bevölkerung Gefahr, ihre eigenen erfrementiellen Aus— 
wurfitoffe in theilweife noch unzerſetztem Zuftande und mit ihnen vielleicht die Keime 
infeftiöjer Krankheiten zu genießen. Sobald daher das Grundwafler als Wafjer- 
bezugsquelle benußt werden joll, oder jobald die Senkgruben nicht in eine jolche 
Tiefe geführt werden fünnen, daß die Erdoberfläche vor Ausſtrömung der Zerjegungs- 
dünfte gefichert bleibt, bilden jolche Anlagen in Städten eine Quelle öffentlicher 
Gefundheitsgefährdung, deren Bedeutung mit der Dichtigkeit der Bevölkerung und 
mit dem Wachsthum des Stadtumfanges zunehmen muß. Zieht man hierzu die 
errahrungsgemäße Thatjache in Betracht, daß nur an wenigen Orten der Boden eine 
io hochgradige und dauernde Durchläffigkeit darbietet, daß nicht nach fortgefeßter 
Ginlaffung fäfaler Maffen in denjelben eine allmähliche Berkittung und Undurchläffig- 
feit der uriprünglich lockeren Geröllichichten entftehen, jo muß auch, abgejehen von 
der Irinkwaflerfrage, das Syitem der Senfgruben als ein für jtädtijche 
Wohnungenüberall bedenklichesund an den meiften Orten abjolut 
unzuläjjiges Verfahren bezeichnet werden. Für landwirthichaftliche Zwecke 
find bei diefer Einrichtung die ftädtifchen Düngjtoffe jo gut wie ganz verloren. 

2) Die Anjammlung in wajjerdidhten Gruben oder Behältern 
mit regelmäßiger Entleerung bietet den Vortheil einer vollfommenen Ver— 
werthbarfeit der Düngftoffe, aber den janitären Nachtheil eines permanenten Herdes 
fauliger Gährung, deffen unmittelbare Nachbarschaft bei den Wohn- und Schlaf- 
räumen zur Gefahr werden kann, jobald die Entleerung des Behälters nicht mit 
größter Negelmäßigfeit und Häufigkeit gejchieht. Außerdem ift erfahrungsgemäß die 
Herſtellung dauernd wafjerdichter gemauerter Grubenbehälter unmöglich, jo daß die 
Gefahr oberflächlicher Bodenverjauchung dabei ſtets beitehen bleibt. 

Für die Entleerung folder Sammelbehälter in Städten hat die neuere 
Technik Einrichtungen geichaffen, welche eine möglichit forrefte Ausführung diejer 
Operation mit größerer Sicherheit und Öffentlicher Kontrole gewährleiften, als dies 
ehedem der Fall war. Namentlich Leiftet die pneumatiſche Entleerung mittels luft— 
verdünnter Räume, die mit dem zu entleerenden Behälter in [uftdichte Verbindung 
gejeßt werden (Liernur's Syſtem in Dortrecht, Leiden, Amfterdam), in diefer Hinficht 
gute Dienfte. Es bleibt aber dann die Sorge für raſche Weiterbeförderung der aus 
den Häuſern zunächit nach einem centralen Sammelbaffin entleerten Stoffe vor 
ihren Uebergange in Fäulniß aus dem Bereiche der Stadtluft heraus, damit nicht 
neue bedenkliche Gentralherde der Quftverunreinigung in der Nähe menjchlicher Woh— 
nungen gejchaffen werden. Dieje letere Aufgabe erwächit auch bei 

3) Der Anjammlung und Abfuhr in beweglichen Tonnen oder 
Kaſten („fosses mobiles‘ zu Paris), welche mitteld eigens fonjtruirter Wagen in 
regelmäßigen Zwifchenräumen, am beten allnächtlich, gewechſelt und entleert werden. 
Bei dichter Konftruftion und jtrenger Aufficht bietet dies Verfahren große Vorzüge 
und gewährt namentlich die denkbar ſicherſte Gewährgegen jede Boden- 
dverunreinigung. Dabei giebt auch ein weiterer Transport jolcher hermetiſch ge= 
ichloffener Behälter bis zu den jchließlichen Bejtimmungsorten, wo fie einer direkten 
landwirthichaftlichen Verwerthung oder zunächjt der Düngerfabrifation dienen, zu keinerlei 
Uebelftänden Anlaß. Die ſchwache Seite diejes in manchen Deutſchen Städten (Heidel- 
berg, Graz u. a.) mit gutem janitären Grfolge durchgeführten Verfahrens liegt in 

v. Holtzendorff, Enc. II. Rechtslexiton III. 3. Aufl. 49 





770 Städtereinigung. 


den vergleichsweije hohen Kojten des Abruhrbetriebes, welche durch die bis jet von 
den Landwirthen für die Düngjtoffe gezahlten Preife keineswegs gededt werden. 

4) Anfammlung mit Desinfektion in Gruben oder beweglichen Be 
bältern, mit dem Zwecke, die koſtſpielige tägliche oder doch jehr häufige Wieder: 
holung des Transports zu eriparen, Unter den vielen dazu vorgeichlagenen und 
ausgeführten hemijchen Verfahren bat feines fich derart bewährt, daß cs die 
längere Anfammlung bejonders fäfaler Mafjen inmitten jtädtiicher Wohnplätze mit 
Sicherheit unschädlich erjcheinen ließe. Am meiften verdienten Beifall Hat namentlich 
in England das jog. Erdflojetiyftem gefunden, welches durch ummittelbare 
Vermiſchung der friichen Fäkalien mit geſiebter trodener Erde eine mit völliger 
Seruchlofigkeit verbundene Desinfektion erzielt und zugleich den Vortheil bietet, eine 
vortreffliche, unmittelbar zu Sulturzweden verwerthbare Dungerde zu erjeugen. 
Tür kleinere Orte ift dies Syſtem um jo brauchbarer, je höher die Nachfrage nad 
Dungitoffen in der nächſten Umgebung fich ftellt; in größeren Städten ift das Per 
fahren jchon deshalb feiner allgemeinen Anwendung fähig, weil außer den höheren 
Abfuhrkoſten ſchon die maſſenhafte Einfuhr der erforderlichen trodenen Erde zu 
fojtipielig würde. Das Englifche Gefundheitsamt räth daher zur Anwendung von 
Erdkloſets nur in Städten bis zu einer Bevölkerung von 10 000 Einwohnern. 

5) Die Wegleitung der Auswurfftoffe durch Wafier. Neben dem 
poröfen Boden it das fließende Waſſer ein von der Natur jelbit angewieſenes 
Reinigungsmittel für bewohnte Erdflächen und als jolches jeit den älteſten Zeiten 
auch unter Zuhülienahme methodiicher Einrichtungen benußt worden. Cine Reini: 
gung findet dabei nicht blos im mechantjchen Sinne vermöge der Wegführung und 
Verdünnung der Schmußjftoffe jtatt, jondern auch in chemifchem Sinne dermöge der 
in jedem fließenden Wafler jehr lebhaften Oxydation aller organifcher Stoffe, wo: 
durch eine UWeberführung derjelben in ganz unſchädliche Zerjegungsprodufte ohne 
eigentliche Fäulnikvorgänge vermittelt wird. Mit welcher Intenfität diejer Selbit- 
reinigungsprozeß im Flußwaſſer vor fich geht und wie auch die jtärfjte Verun— 
reinigung aus demjelben nach längerem Yaufe völlig verichwindet, beweiſen die amt: 
lichen Unterfuchungen des Seinewaſſers von Paris bis Meulon (60 km), die Ve 
richte über ähnliche Unterfuchungen von Frlüffen in Deutichland (Iſar, Main), 
Nordamerifa (Bladitone, Merrimac) und England (Trent). 

Das Abijhwemmen der Schmußitoiie in Öffentliche Waſſer— 
läufe widerfpricht daher weder den natürlichen Geſetzen, welche die Verhältnifie 
der Erdoberfläche reguliren, noch auch dem öffentlichen Gefundheitsintereffe, jo lange 
die Umstände dasjjelbe geitatten — d. 5. fo lange die Menge der Schmut— 
jtoffe nicht in jo jtarfem Mifverhältnifje fteht zur Menge und zur Stromgejchwindig: 
feit des Wafjers, daß die zumächit ftromabwärts gelegenen Orte, an denen das Wafler 
in noch ſtark verumreinigtem Zuſtande vorbeifließt, dadurch beläftigt werden. Ein 
folches Mißverhältniß jtellt jich bei dem raschen Anmwachien der Städte und bet der 
Zunahme der mit vielen Abrälleproduften verbundenen Induſtrien an jehr vielen 
Orten heraus, welche ehedem im Stande waren, fich ihrer Auswurfitoffe vermittelt 
der Flüſſe ohne allen Nachtheil für die Uierbewohner zu entledigen. In einigen 
jolchen Fällen hat fic) das Ausfunftsmittel als genügend ergeben, den flüffigen In: 
halt der jtädtiichen Kanäle als ifolirten Strom bis zu einer unbewohnten Wferitrede 
des Fluſſes oder des Meeres fortzuleiten und dort einmünden zu laffen. Für vide 
Städte aber ijt auch diejer Ausweg verichloffen, und da überdies bei der Ab: 
jchwemmung in Fluß oder Meer der gefammte Dungwerth für die Bodenkultur 
verloren geht, jo veriuchte man zunächit das Kanalwaſſer von jeinem Gehalte an 
feiten Stoffen vor feinem Einlaſſe in öffentliche Waſſerläufe zu beireien. Wlan be 
diente und bedient fich noch heute dazu in mehreren Englischen Städten theils der ſpon— 
tanen Sedimentirung in großen Behältern, theils der Ausſcheidung durd 
chemiſche Zufäße, unter denen bejonders Miſchungen von Alaun, Thon, Hall, 


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Städtereinigung. 771 


Karbolſäure und ähnlichen Stoffen zur Verwendung gelangten. Alle dieſe zum Theil 
recht koſtſpielige Prozeduren haben nicht zu dem gewünſchten Ziele geführt, und die 
Etablirung ſolcher größerer Sammelbaffins mit gährendem Schmutzwaſſer hat ſich 
überall als eine für die Nachbarſchaft ſehr unliebſame, unter Umſtänden ſanitär 
bedenkliche Anlage herausgeſtellt. Da man andererſeits die beſten Erfahrungsgründe 
hatte, an dem Prinzipe einer raſchen Entfernung aller Auswurfſtoffe und 
bejonders der Fäkalien auf naffem Wege aus den Wohnungen und aus dem Stadt- 
bereiche heraus fejtzuhalten, jo bemühte man fich nun, das Kanalwaſſer mitjammt 
feinen feſten Stoffen unmittelbar der Erdrinde in einer fruchtbringenden Weife zu über: 
mitteln, indem man größere aufnahmefähige Bodenflächen damit beriefelte. Solche 
Beriejelungsanlagen find zuerit in England (Edinburgh, Croydon, Alder: 
ſhot 2c.), dann in Paris, Danzig und Berlin mit meift jehr günftigem Erfolge aus- 
geführt worden. Die dabei noch hin und wieder zu Tage getretenen Webeljtände 
(ſtellenweiſe Berfumpfung der beriefelten Terrains) find, wie die Erfahrung gelehrt, 
durch jorgfältigere vorgängige Drainirung und durch richtigere Anpaffung der Terrain» 
größe zur Menge des aufzunehmenden Rieſelwaſſers überall vermeidbar. Unter 
allen bis jet befannten Verfahren der S. bildet daher eine methodifche Durch- 
ihwemmung der Häufer, Höfe, Straßen und Pläbe mittels reichlicher Waſſerzufuhr 
und eine Beriefelung nahe gelegener Bodenflächen mit dem hingeleiteten Kanalwafler 
das nach allen Richtungen rationellite, welches überall da den Vorzug verdient und 
daher auch 3. B. von der höchjten Preußischen Sanitätsbehörde überall da empfohlen 
wird, wo die örtlichen Verhältniffe die Ausführung irgendwie möglich machen. 

Ein mit dem Schwemmkanalſyſtem verbundener jehr hoher janitärer Vorzug, 
welchen feines der übrigen Reinigungsfyiteme in gleicher Weiſe bietet, liegt in der 
leichten Anbringung von Waſſerverſchlüſſen in den Wohnungen, durch welche der 
Rüdtritt von Gafen und Fäulnißprodukten aus den Sammel- und Leitungsappa= 
raten in die Wohnräume mit Sicherheit verhütet werden fann. — 

Die ©. ift eine Aufgabe, für deren richtige Erfüllung nicht blos die jtädtijche, 
jondern auch die jtaatliche Verwaltung, — und zwar im weiteren Sinne ala be— 
züglich der bloßen örtlichen Sanitätsaufficht, — verantwortlich ijt, da bei derjelben 
nicht blos die Intereſſen jedes einzelnen jtädtijchen Gemeinwejens, jondern auch die— 
jenigen der benachbarten Gemeinden und beſonders aller flußabwärts gelegenen Ort- 
ichaften in Betracht fommen. Namentlich ift dies in ſolchen Flußgegenden der Fall, 
deren Bevölkerung noch ihr Genuß: und Wirthichaitswafler dem Fluſſe unmittelbar 
zu entnehmen genöthigt ift. Eine jolche Bevölkerung hat berechtigten Anſpruch darauf, 
daß ihr die gewohnte Bezugsquelle des umentbehrlichiten aller Lebensmittel nicht 
infizirt werde, und der Staat hat die Anerkennung diejes Nechtes gegen etwaige 
Uebergriffe ftädtifcher Verwaltungen geltend zu machen. Die Trage, unter welchen 
Umftänden und unter welchen Vorbehalten in jedem Einzelialle die Hineinleitung 
ftädtifcher Abfallwäſſer in öffentliche Waſſerläufe zu geitatten fei, hat bis jet in 
Deutjchland Feine allgemeingültige Beantwortung gefunden, und es bleibt daher 
Aufgabe der jtaatlichen Auffichtsbehörde, jeden einzelnen zweifelhaften Fall mit 
Hülfe ihrer technifchen Beiräthe zu prüfen und für fich zu entjcheiden. Um bezüglid) 
der hierbei zu Grunde zu Legenden allgemeinen Prinzipien zu größerer wiſſenſchaft— 
licher Klarheit zu gelangen und um eine größere Gleichmäßigfeit des Verfahrens, 
namentlich auch zwiſchen den Uferjtaaten eines und deſſelben Stromes, 3. B. der 
Elbe oder des Rheines herbeizuführen, wird von jachveritändigen Stimmen allgemein 
das Bedürfniß betont, daß über den Zuftand der verunreinigten Flüſſe 
in Deutſchland und über die janitären wie wirthichaftlichen Folgen diefer Ver: 
unreinigungen eine umfaſſende technijche Unterſuchung angeitellt werde, je 
nach deren Ergebniffe dann eine reichsgeſetzliche Regelung diejer wichtigen 
Frage ähnlich wie in England ftattfinden möge. 


49* 





772 Stahl — Stammgüter. 


Den in diefem Sinne wiederholt und namentlich von dem Deutjchen Berein 
für öffentliche Gejundheitspflege an die Reichöregierung gerichteten dringlichen An- 
trägen iſt eine Berückſichtigung bis jetzt nicht zu Theil geworden. — 

Lit.: H. Barrentrapp, Ueber Entwäſſerung d. Städte, Berl. 1880. — R. Virchow, 
Ranalifation ober Abfuhr, Berlin 1869. — €. Biber, Die Reinlichteit in ben Städten ꝛc, 
Leipzig 1876. — zn of a Committee appointed to inquire into the modes of treati 
town sewage, London 1876. — M. v. Pettenkofer, Vorträge über Kanalifation u 
Abfuhr, Münd. 1876. — Virchow, Generalbericht zc., Berl. 1873. — Al. Müller, Ueber 
den gegenwärtigen Stanb ber Städtereinigungsfrage ꝛc. ve 1873. — W. Roth und R. 
ger, Handbuch der Milit.-Gefundbheitspfl., Berlin 1872, 1 . Bb., 6. Abſchnitt. — Finleln— 
burg, Die öffentliche Geſundheitspflege En lands, Bonn 11874. — Prefecture de la Seine. 
Assainissement de la Seine etc., Paris 1 71. Finkelnburg 


Stahl, Friedrich Julius, & 16. I. 1802 zu München, trat 1819 zur 
evangeliichen Kirche über, ftudirte in Würzburg, Heidelberg, Erlangen, wurde 1827 
Privatdozent in München, 1832 aufßerordentl. Profeflor in Erlangen, dann ordentl. 
Profeffor in Würzburg, wieder in Grlangen, 1840 in Berlin, Führer der Reaktions 
partei, Mitglied des Oberfirchenraths, Geh. Juftizrath, F 10. VIII. 1861 im Bade 
— 

Schriften: Ueber das ältere Röm. —— a Münd. 1827. — Philoſophie des Rechts 
.. geichichtl. Anficht, Heibelb. 1830—87 1878. (Storia della filosofia del diritto 

nn = Torre ed. annot. da R. Conforti, Torino 1853. Hist, de la philosophie ri 
— = er, Par. 1880.) — Die Kirchenverfaſſung nah Lehre und Recht 
ber } voteftan en, Erl. 1840, 2. Ausg. Erl. 1862. — De matrimonio ob errorem rescindendo 
commentatio, Berol. 1841. — Ueber Kirchenzucht, 1845, 2. Aufl. 1858. — Ueber das monard). 
Prinzip, 1846. — Der crifil. Staat und ER Berhältnih zum Deismus und Jubdenthum, 
1847. — Reben, Berl. 1851, 1856, 1862. — Die Revolution und die fonftit. Monarchie, 
Berl. 1849, 2, Aufl. 1849. — Mas ift Revolution? 1—83. Aufl., Berl. 1853. — Gebädtnik: 
rede am 3. Aug. 1853, Berl. 1835. — Rechtswiſſenſchaft sgoltsberuhtiein 1848. — 
Der Proteftantismus ala pol. Prinzip, Berl. 1853, 4. Aufl. 1854. — Die fathol. Wider 
legungen, Berl. 1854. — Ausführungen über das &befheibun ng, Berl. 1855. — lieber 
Zoleranz, 1855. — Ueber evangel. atholicität, 1857. ie lutheriſche Kirche und bie 
Union, 1857. — Die AT Parteien in Staat unb Kirche, Berlin 1863, 2. Auflage 
1868. — Wider Bunjen, 1856. — Friedrich Wilhelm IIL, 1853. — Friedrich Milhelm ® 
1861. — Aufjäpe in er 8 Kirchen Eur 

git.: Bluntſchli, StaatsWörtB. X. 1 Derielbe, Geichichte des Staat 
rechts, S. 630—644. — Unſere Zeit VI. 419. — Th ilo, Die theologijirende Rechts: und 
Staatälehre, Lpz. 1861. — van Limburg-Brouwer, Stahl redivivus? Haag 1362. — 
Groen van Prinsterer, Ter — van Stahl, Amst. 1862. — Pernice, Savignd, 
Stahl, Berl. 1862, S. 69—115. — Bluntidli, Charatter und Geift der pol. Parteien, 
Nördl. 1869, ©. 7-8, — Walcker, Kritit der Parteien in Deutichland, Berlin 1865, 
©. 120—169. — Brodhaud, Das Yegitimitätäprin ip, a S. 161—232. — e 
droit international XIII. 115. — Schulte, Geld, 204—207. — Mohl, 

218, 226, 232, 241, 255, 286, 292, 333; IL. 456. — Be —— IV. 473. 
IR TZeihmann. 

Stammaltien, j. Prioritätsaftien. 


Stammgüter. Der Ausdrud wird in der Literatur in einer doppelten Be: 
deutung gebraucht. Im weiteren Sinne heißen ©. alle diejenigen, in der Familie 
bereitö vererbten, unbeweglichen Güter, bei welchen die Berugniß des Gigenthümer: 
zu freiwilligen Veräußerungen bejchränft ift durch die Nechte der nächiten Erben 
überhaupt oder einer bejtimmten Klaffe von Erben. Dieje Einſchränkung ift eine 
Nachwirkung, ein im Kampfe gegen das Römische Recht erhaltener Weberreft des 
mittelalterlichen Beifpruchsrechts, welches, wie neuere Forſchungen ergeben haben, 
bei den einzelnen Volksſtämmen weder gleichzeitig entjtanden ift, noch ſtets in 
gleichem Umfange und mit gleichen Rechtswirkungen gegolten hat. Aber auch die 
Grundanjchauungen, aus welchen das Beilpruchsrecht zu erklären ift, traten allmählich 
in den Hintergrund; das Grundeigenthum behauptete nicht mehr die politische und 
joziale Wichtigkeit, die 8 im Mittelalter gehabt hatte, — die Fahrhabe, das 
Kapital, gewann dagegen an fteigender Bedeutung, — die Bedürfniffe des Verkehr: 
drängten zu größerer Wreiheit auch in Beziehung auf Dispofitionen über Im— 


Stammgüter. 773 


mobilien, und jo verlor fich das Beifpruchsrecht der Erben theils ganz, theils ward es 
herabgedrüdt zu einem, gegenwärtig auch jchon mehr und mehr verichwindenden 
Näherrecht der Familtengenoffen. Nur in gewifjer Weiſe erhielt es ſich, wie bemerkt, 
bei den ©. im weiteren Sinne, zu welchen die bürgerlichen Erbgüter und die 
(adeligen) Stammpgüter im engeren Sinne zu rechnen find. Beiden Arten ge— 
meinfam war, daß die Güter der Familie erhalten werden jollten, alſo eben die 
DVeräußerungsbeichränfung zu Gunften der Erben, — unterfchieden waren fie aber 
dadurch, daß dieje Beichränkung bei den Erbgütern zu Gunjten der Intejtaterben 
ohne Unterjchied des Geichlechts galt, bei den ©. nur zu Gunften der Söhne, reip. 
der Agnaten. Es hing dies zujammen mit dem weiteren Unterjchiede, daß die ©. 
nicht wie die Erbgüter der gemeinen Erbfolge unterlagen, jondern ausſchließlich auf 
männliche Erben übergingen. Dieſes ausjchließliche Succeffionsreht de8 Manns 
ftammes war dem älteren Stammgutsſyſtem nicht eigenthümlich, es beruht auch 
feineswegs auf Gemeinem Deutjchen Recht des Mittelalters, jondern hat fich erſt jeit 
dem 14. Jahrhundert als ein beionderes Recht des Adels entwidelt, in deffen In— 
terefie es lag, wie die Lehngüter, jo auch die Allodialgüter, wenigjtens die er— 
erbten, ausfchließlich den Söhnen zu erhalten und dadurch den Trägern des Namens 
und Wappens die Möglichkeit zu gewähren, die politische und foziale Bedeutung der 
Familie aufrecht zu erhalten. Dieſes Beftreben zeigte fich Schon unter der Herrichait 
des einheimifchen, äußerte fich aber bewußter und entjchiedener ſeit der Reception 
des Römifchen Rechts. Hatte früher der hohe Adel dieſes Ziel dadurch zu erreichen 
gejtrebt, daß die Töchter zu einem Verzicht auf die Erbgüter beftimmt wurden, jo 
wurde jeht das ausjchließliche Erbrecht der männlichen Dejcendenz in Hausgeſetzen 
angeordnet, in Tyamilienverträgen anerkannt, oder e8 wurde wenigſtens bejtimmt, daß 
die ausgeſteuerten Töchter auf die Erbgüter verzichten müßten. Ebenſo wurde es 
bei der Reichöritterichaft zu einer in deren Statuten geficherten Obſervanz, daß die 
Töchter bis auf den ledigen Anfall zu verzichten Hätten. Der landjäffige Adel end» 
lich juchte die ©. den Söhnen dadurch zu erhalten, daß die Töchter zu freiwilligen 
DVerzichten veranlaßt wurden; häufig fprachen aber auch die Landesgeſetze die Aus» 
Ihließung der Weiber von der Succeffion in alle adeligen ©. aus, und nicht jelten 
ward derjelbe Grundſatz gewohnheitsrechtlich anerkannt. Bei den ©. des hohen 
Adels und der Reichsritterichait beruhte alſo die Ausichließung der Weiber auf ver- 
pflichtenden Hausgejegen und jtatutarifchen Teitjegungen, bei denen des niederen 
Adels aber nur zum Theil auf Landesgefegen; wo es an jolchen Landesgejehen oder 
unjtreitigen Gewohnheitsrechten fehlte, waren Erbverzichte der Töchter jchlechterdings 
nöthig, um dem Mannsftamme die Erbfolge zu fichern. Indem aber die Töchter 
objervanzmäßig verpflichtet wurden, einen jolchen Verzicht zu leiften, gelangte man 
dahin, diefen Verzicht auch bei den Gütern des niederen Adels als einen fachlich 
überflüffigen zu erachten: — die Ausfchließung der Weiber ward zu einer bei allen 
Arten von ©. geltenden Rechtenorn. Daß defjenungeachtet noch jehr häufig aus— 
drüdliche Erbverzichte gefordert wurden, geſchah aus bejonderen Gründen, welche 
Bejeler (Erbverträge, III. 278) nachgewiefen hat. 

Stäbdtifche Erbgüter finden fich im modernen Recht nicht mehr anerkannt, wol 
aber die adeligen ererbten ©., überwiegend freilich in den Streifen des hohen Adels 
und der ehemaligen Reicharitterichaft, aber partifulär doch aud) noch Hier und da 
für den niederen Adel. Man wird jagen können, S. im eigentlichen Sinne jeien 
jolche Güter des hohen und niederen Adels, welche ausſchließlich auf männliche 
Grben übergehen und bei welchen der jedesmalige Eigenthümer in Beziehung auf 
Beräußerungen beſchränkt ijt durch die Rechte des nächjten Erben oder der Agnaten. 
Aber eine bejtimmte Neihe gemeinrechtlich geltender NRechtönormen für die ©. läßt 
fich nicht aufftellen. Wieweit insbejondere die obenerwähnten Beſchränkungen reichen, 
hängt von den rechtlichen Bejtimmungen ab, die überhaupt für das betreffende Gut 
maßgebend find; nach denjelben Rechtänormen ift auch zu beurtheilen, welche Arten 


774 Stampe — Standesregiſter. 


der Veräußerung dem Gigenthümer geftattet find oder nicht, — ob die Güter theil— 
bar jeten oder Andividualfucceflion jtattfinde; — u. a. m. 

Aus dem Worſtehenden ergiebt fi, daß das Stammgut wejentlich denjelben 
politifchen und fozialen Zweden dient, welchen auch das Familienfideikommiß ge 
widmet ift. In der That fmüpft auch die Rechtsgeichichte des letzteren an die alten 
S. an, und ſehr Häufig find dieſe vertragsmäßig in Fideikommiſſe umgewandelt 
worden. Aber wejentlich verichieden find beide Rechtsinititute doch. Einmal gründet 
fich die Eriftenz des Familienfideikommiſſes auf eine beiondere, ausdrüdliche Privat: 
dispofition, — die des Stammgutes dagegen auf Gejeß oder Herkommen. Bei leh- 
terem ift die Berechtigung des jedesmaligen Gigenthümers beſchränkt durch die 
Rechte der Söhne und etwa noch der zur Zeit der Alienation lebenden Agnaten, — 
das Fideikommiß ift durchaus und für alle Zeit unveräußerlich: die Rechte der An— 
wärter find erheblich ausgedehnter, eine Verfchuldung des Gutes mit der Wirkung, 
daß die Subitanz angegriffen werden dürfe, ijt nicht geitattet, wogegen das Stammgut 
beim Konkurſe des Eigenthümers zur Befriedigung der Gläubiger verfauft werden 
darf. Endlich ift die Erbfolge in das Fideilommiß eine successio ex pacto et pro- 
videntia maiorum, — die in dad Stammgut aber die gemeinrechtliche in das Ver: 
mögen des lebten Gigenthümers, weshalb die Wirkungen des Grbüberganges bier 
andere find ala dort. (Der zuleßt erwähnte Unterfchied wird freilich von Ginigen 
eleugnet.) 
— dt. Ueber bad Beilpruchärecht ber Erben vgl. Sandhaad, Germanift. er 
(1862), ©. 165 ff. — Zimmerle, Das Deutihe Stamm utefpftem (1857), bei. ©. 160 fi. — 
Lewis, Die ur des Erben (1864), S. 7—70. — Vernice in ber ‚Rrititgen Viertels 
jahräfchrift IX ©. 67—82. — Schröder, nn für = tsgeſch. IX 410 fi. — 
v. Gerber, Gefammelte jurift. Abhandl., Ban Nı.4 ©. # — —— De 
retractu ] ali, speciatim gentilicio, Berlin 1869. — Fipper, Be Beiſpruchsrecht nad alt: 
jä filcern Recht Breslau 1879, — Für die Geichichte ber ©. insbeſ. bie — des 
Erbrechts der Weiber, ſ. Beſe ler, Erbverträge, III. 279 ff. — Zimmerle, ©. 263, Ti. — 
Lewis, Das Recht des Semilienfibeitommi es, S. 18 — Für das ——— Recht vgl. 
Kohler, Privatfürftenreht, SS 66 .— Daubolbd, Sädfi che3 Privatrecht, $ 367. — 
v. Gerber, $ 832. — unticli, g 67. — —— ss 465 fi. — Beleler, ss 175, 
176. — Stobbe, II. $ 137. — Neubauer, Zujammenftellung bes in Deutſchland ‚geltenden 
Rechts, betr. bie — ter, Berlin 1879. — Ueber die ga ra Jochen in Stamm: 
güter vgl. oben d. Art. Allobifilation umd die dort un eführte Lit. — Ueber bürger: 
lie Stammgüter, 5. B. in Württemberg, vgl. Lang, Sadenredit, II. Een. 

ran n. 

Stampe, Henri St de, & 29. I. 1713 in Sammer bei Mess 
befuchte das Gymnaſium (borg, 1728 zu Kopenhagen immatrifulirt, 
machte 1731 das theologische Gramen, jtudirte 1737—40 Rechtöwiflenichaft in 
Marburg, wo er zwei Jahre in dem Haufe des Profeſſor Wolf lebte, Straßburg, 
Paris, Orford, London, Leiden und Göttingen, 1741 Profeffor der Philoſophie, 
1742 Mitglied der Dänifchen Geſetzeskommiſſion, 1743 Aſſeſſor der juriftiichen Fa— 
fultät, 1746 des Oberadmiralitätsgerichte, 1748 Generalauditor des Seeetats, 1749 
Mitglied der Däniſch-Schwediſchen Grenztommiffion, 1753 Profeſſor publ. juris na- 
turae et gentium, $eneralprofurator, 7 10. vll. 1789. 

Schriften: Svar of Stampe og Sevel pä nogle Sjörgsmäl til det juridiscke Facultet, 


Kebh. 1792. — Erkleringer, Breve og Forestillinger Generalprocureur ambraet 
radkommende 1743—82, 1—6 udg of J. L. Rottbell, Kebh. In 
Secher. 


Standesregiſter. Das Geſchichtliche iſt bereits oben im Artitel Fami— 
(tenitand angerührt, und es bleibt hier nur noch die neuere Entwidelung in 
Deutichland nachzutragen. 

Ten Anſtoß, unter staatlicher Nontrole und von bürgerlichen Behörben zu 
führende ©. einzurichten, gab die im Jahre 1848 aufgefommene Loſung der Zren- 
nung der Mirche vom Staat. Unter dem Ginfluß dieſer Parole wurde in Die 
Deutſchen Grundrechte (in SS 20, 21) die Beitimmung aufgenommen: „bie bürger- 
liche Gültigkeit der Che iſt nur von der Vollziehung des Givilaftes abhängig . . 


® 








Standesregliter. 175 


Die Standesbücher werden von den bürgerlichen Behörden geführt“, — und eine 
gleiche Vorschrift in den in den Jahren 1848 und 1849 erlaffenen Verfaſſungs— 
gejegen einzelner Deuticher Staaten (jo Preußens, Oldenburgs, Schwarz- 
burg-Sondershaujens, Waldecks, .Medlenburgs, Reuß- Schleiz 
und Anhalt-Bernburgs) wiederholt. Die gedachten Verfaffungsurfunden hatten 
aber meiſtens nur eine kurze gejeßliche Dauer, und daher fam es nicht zur Aus— 
führung der betreffenden Anordnungen. Blos in wenigen £leineren Staaten wurden 
damals Gejeße, welche die bürgerliche Civilſtandsregiſterführung und die obligatorifche 
Givilehe einführten, erlaſſen; von diejen behielten aber allein die beiden Gejeße der 
ehemals freien Stadt Frankfurt a. M. eine dauernde Geltung. ferner wurde 
für die Diffidenten mit der Einführung der Givilehe für diefe in Anhalt, 
Württemberg, Najjau, Sadhjen- Weimar, ın der Provinz Hanno— 
ver, in Bayern, Reuß jüngere Linie, in Sachſen-Koburg-Gotha, 
im Königreich Sachſen und in Shwarzburg-Sonderähaujen während des 
Zeitraumes von 1851 bis 1872 eine bürgerliche, bald den Kommunalbehörden, bald 
den Gerichten übertragene Givilftandsregifterführung eingerichtet. Daſſelbe erfolgte 
endlich in den wenigen Staaten, welche, wie 3. B. Braunfchweig (1849), die Ehe 
zwifchen Juden und Chriſten in der Yorm der Givilehe durch bejondere Geſetze er— 
möglichten, für jolche Ehen und die aus ihnen entipringenden Kinder. 

Dhne die im Jahre 1861 eingeführte fafultative Givilehe zu befeitigen, erließ 
jodann die Stadt Hamburg im Jahre 1865 ein Gejeß, welches die gefammte 
Givilitandsregijterführung in die Hände befonderer bürgerlicher Beamten legte, da— 
neben aber die Berufung der Geijtlichen zu derartigen Funktionen nicht ausſchloß, 
und diejelben Einrichtungen beitanden (auch jchon zum Theil jeit älterer Zeit) in 
Bremen und Fübed. 

Mejentlich beeinflußt durch die Konflikte mit der katholifchen Kirche wurde 
zuerit in Baden, welches durch Geſetz vom Jahre 1860 die Notheivilehe eingerührt 
hatte, durch Gejeg vom 21. Dezember 1869 und demnächſt in Preußen durch Geſetz 
vom 9. März 1874 die endgültige Auseinanderfegung zwifchen Staat und Kirche 
vollzogen. Beide Gejeße übertrugen den Gemeindebehörden forwol die ausjchließliche 
Führung der Giviljtandsregifter al3 die Vornahme der Eheſchließungen, mit ſtaatlich 
bindender Kraft. Das Preußiſche Geſetz ließ aber die bisherigen, auf gleichem Prinzip 
ruhenden Einrichtungen im Bezirk des Appellationsgerichtes zu Köln, wo die Vor— 
ſchriften des Code civil fortdauernd Geltung behalten Hatten, und nicht minder bie 
im Bezirk der Stadt Frankfurt a. M. (f. oben) beftehen. 

Schon im Jahre 1872 war im Deutjchen Reichätage die Einführung von ſtaat— 
lichen Giviljtandsregiftern und der obligatorischen Givilehe in ganz Deutjchland an- 
geregt worden, und im Jahre 1873 und 1874 brachten die Abgeordneten Völk 
und Hinſchius jedesmal einen von dem lebteren verfaßten desfallſigen Ent— 
wurf ein, von denen der erjte wegen Schluß der Seifton nicht zur Erledigung fam, 
der leßtere aber angenommen wurde. Auf Grund defjelben legte dann der Bundes— 
rath im Jahre 1875 dem Neichstage einen neuen, auch das materielle Eherecht zum 
Theil mit umfafjenden Entwurf vor, und diefer ift nach ertheilter Zuftimmung des 
Reichdtages zum Neichägejeß „über die Beurkundung des Perjonenjtands und Die 
Eheichließung“ vom 6. Februar 1875 erhoben worden. 

Dadurch ift die Nechtseinheit im Deutjchen Reich für die fragliche Materie her- 
beigeführt worden. Die wichtigften Vorſchriften find folgende: 

Die Bildung der Standesamtsbezirke und die Beitellung der Standes— 
beamten, bzw. der Stellvertreter erfolgt durch die höhere Verwaltungsbehörde. Als 
Regel ift vorausgejet, daß jede Gemeinde einen Standesbezirt bildet und der Ges 
meindevorjteher, bzw. defien Stellvertreter die Funktionen des Standesbeamten voll- 
zieht, jedoch kann die Gemeindebehörde die Anitellung bejonderer Standesbeamten 
beichließen, und auch die höhere Verwaltungsbehörde jolche beitellen (68 2—7, 10). 


776 Standgericht. 


Geiſtlichen und anderen Religionsdienern dürfen aber die betreffenden Funktionen 
nicht übertragen werden. 

Die ſächlichen Koſten der Standesregiſterführung liegen den Gemeinden ob, nur 
die Regiſter und Formulare zu Regiſterauszügen werden koſtenfrei von der Gentral- 
behörde des Bundesftaates geliefert (SS 8, 9). 

Die Aufficht über die Standesbeamten jteht den Verwaltungsbehörden zu, joweit 
die Landesgeſetze nicht andere Auffichtsbehörden bejtimmen; wegen Ablehnung von 
Amtshandlungen geht die Beichwerde jedoch an das Gericht (S 11). 

Jeder Standesbeamte hat zu führen: 1) ein Geburtäregijter, 2) ein Heirathe— 
regilter und 3) ein Sterberegifter. In diefe follen die Eintragungen unter fort: 
laufenden Nummern und ohne Abkürzungen, die wejentlichen Zahlenangaben mit 
Buchitaben erfolgen. Jede Eintragung it durch den Standesbeamten zu unter: 
ichreiben. Zuſätze, Löſchungen oder Abänderungen find am Rande zu vermerken und 
befonders zu vollziehen. Von jeder Eintragung ift eine zu beglaubigende Abichriit 
in ein Nebenregijter einzufchreiben, welches nach Ablauf des Kalenderjahres der Auf: 
fichtsbehörde zur Prüfung und von diejer dem Gerichte zur Aufbewahrung zugeitellt 
wird (SS 12—14). 

Die ordnungsmäßig geführten S. beiveifen die Thatjachen, zu deren Beurkun: 
dung fie beitimmt und welche in ihnen eingetragen find, bis der Nachweis der Fäl— 
chung, der unrichtigen Gintragung oder der Unrichtigfeit der Anzeigen und Feſt— 
jtellungen, auf Grund deren die Eintragung ſtattgefunden hat, erbracht iſt (S 15), 
eine Vorjchrift, welche durch das EG. zur Deutichen PD. $ 16 Nr. 1 ausdrüdlic 
aufrecht erhalten worden ijt. 

Die Führung der ©. und der darauf bezüglichen Verhandlungen erfolgt kojten- 
und jtempelfrei; nur für die Einficht und für Auszüge find fehr mäßig angeiehte 
Gebühren zu zahlen (S 16). 

In Betreff der näheren Details, namentlich wegen der Anzeigepflicht der Ge 
burtö- und Sterbefälle, der Anzeigefrijten ıc., muß auf das Gejeß jelbit verwieſen werden. 

Lit: Friedberg, Das Recht der E eihliehung, Leipzig 1875, ©. 655 fl. — F. Phi— 
lippi, Die Givilftandsgeiehe in ber Preuß. Rheinprovinz, 3. Aufl., Elberfeld 1865. — Kah, 
Die Ehe u. d. bürgerl. Standesamt nad Bad. R., 2. Auf, Heidelb. 1872. — P. Hinidius, 
a. Sek, Geſetz über die Beurkundung d. Perfonenftands x. mit Romment., Berlin 1874; 

Derjelbe, Dad Reichsgeſ. über die Beuekundung des Perſonenſtands ꝛc. mit Kommeni, 
2. Aufl., Berl. 1876. — v. Sicherer, Reichsgeſ. über bie Beurkundung zc., Erl. 1879. 
V. Binichius. 

Standgericht: eine Art der mit der Ausbildung der Militärrechtspflege nad 
und nach jeit dem 16. Jahrhundert entitandenen Ausnahmegerichte für Soldaten. 
„Standrecht“ ward vielfach für Kriegsrecht gebraucht, joweit jelbiges auf die einem 
Kriegsherrn unterworienen Perjonen Anwendung findet, was entweder regelmäßig 
gegenüber den Perfonen des Goldatenjtandes, oder ausnahmsweiſe gegenüber aut 
ſtändiſchen Unterthanen oder feindlichen, in bejeßt gehaltenen Gebietötheilen weilenden 
Staatsangehörigen der Fall ift. 

Die Norddeutiche (ehemals Preußische) Mil.StrafPO. von 1845 untericheidet 
($ 82) Kriegägerichte für die zur höheren und ©. für die zur niederen Gerichts 
barfeit gehörenden Straffälle. Angeordnet wird das ©. von dem Beichlähaber, dem 
die Beitellung des Unterfuchungsgerichts zuitand. Kriegsgericht und ©. zählen im 
Gegenja zu dem leßteren zu den Spruchgerihten. Die ©. beitehen aus fünf 
Nichterflaffen, von denen der Präjes eine Klaſſe bildet, und aus einem Auditeur 
oder unterfuchungrührenden Offizier als Referenten. Weber die Richterflaffen und ihr 
nach dem Range des Angeichuldigten verſchiedene Zuſammenſetzung beſtimmt 5 87 
a. a. O.; über das Verfahren, bei welchem eine Vereidigung der Richter nicht ſtatt— 
findet, Sg 448, 452; über die Beltätigung der Erkenntniffe, welche regelmäßig Sadı 
des das Spruchgericht bejtellenden Befchlähabers ift, $ 486. Ueber die Ausdehnung 
des Kriegärechts auf Privatperjonen j. d. Art. Belagerungszuftand. Bejonder 





Standihaft. 717 


Regeln gelten für Bayern. Die Deiterr. StrafPO. Handelt ausführli vom 
ftandgerichtlichen Verfahren. Der Minifter des Innern und der der Justiz konkur— 
riren bei der Anordnung des Standrecht3 in gewiffen Tyällen. 

In England werden die Funktionen de ©. durch Courts martial ausgeübt, 
deren Einjegung auf bejondere Ermächtigung der Krone durch die vom Parlament 
zu beichließende Mutiny act beruht. Man unterjcheidet dort einen General court 
martial, aus nicht weniger als 13 Offizieren beftehend, mit der Befugniß, auf die 
ihwerften Strafen (Todesitrafe — Penal servitude) zu erfennen; einen District 
oder Garrison court martial, mit einer Bejeßung von 7 Offizieren, ohne Kompetenz 
gegen Offiziere und ohne Befugniß, die ſchwerſten Strafen zu verhängen; einen Re- 
gimental oder Detachment court martial, mit 5, im Nothfall 3 Offizieren bejett, 
mit der Berugniß, auf Körper: und Ffreiheitäftrafen zu erfennen. Gin Detachment 
general court martial für im Auslande jtehende Truppen fann auch über Vergehen 
der Truppen gegen Bewohner eines fremden Landes erfennen. Für die Marine gelten 
befondere, im Ganzen aber ähnliche Beitimmungen. 

Welche Perjonen ala zum Heere gehörig anzufehen und deswegen den Kriegs— 
gejegen und ©. zu unterwerfen find, richtet fich nach der Heeresverfaſſung der ein— 
jelnen Staaten. 

Quellen: Außer der Mil.StrafGer.Orbn. Kab.D. v. 21. Sept. 1820, 27. April 1837, ' 
9. Dezember 1835. — Bayern, StrafGB. v. 1813, Art. 441—456; (für die rechtärhein. 
Gebiete) Art. 3 Ziffer 12 des Ausf.Geſ. zum RStrafPO. — Defterreih, StrafPO. v. 
1873, 58 429 ff. — England, 25. u. 26. Viet. cap. 65. 

Lit.: he Kommentar über dad StrafGB. für dad Preuß. Heer, II. Theil 1870. — 
Ueber das Geihichtlihe: Laurentius, Don den Kriegs ahren der alten Deutſchen, 1753. — 
Friccius, Geichichte des Deutichen, insbeſ. des Preuß. Kriegsrechte, 1849. — Budder in 
v.Holtzendorff's Allg. Deutſcher Strafrechtäz. 1870, Heft 9—11. — Frankreich: Cham- 
Boudry, Manuel des Tribunaux des armees de terre et de mer, 1878. — Ueber Englanb: 

neift, Engliiches Verwaltungsrecht, S. 963, 1053, 1072.— Simmons, On Courts martial. — 
Thring, Criminal Law of the Navy. v. Holtzendorff. 

Standihaft (Thl. I. ©. 859). Zu den Zeiten de8 Deutjchen Reiche gab 
es eine dreifache ©.: ReichsS., Kreis. LandS. 

Reichs. bedeutet Si und Stimme auf den Reichstagen. Diejelbe jtand zu 
den geiftlichen und weltlichen Fürſten (Bijchöfen, Aebten, Fürften, Grafen und 
Herren, vorausgeſetzt, daß fie nicht jelbjt der Herrichait eines Anderen unterworfen 
waren). Auch den Neichsjtädten gebührte feit dem jpäteren Mittelalter die ReichsS., 
welche fie durch Mitglieder ihres Rathes ausüben ließen. Seit dem J.R.A. von 
1654 wurde zum Erwerb der ReichsS. außer der faijerlichen Verleihung und dem 
Befiß einer reichsunmittelbaren Herrichaft noch vorausgejeßt die Kooptation feitens 
des Kurfürſtenkollegiums, jowie des Kollegiums und der Bank, in welche der Be— 
treffende aufgenommen werden ſollte. Die ReichsS. jet eine dingliche Unterlage, 
reichsunmittelbaren Länderbefit voraus. Die Folge davon war, daß bei einer Thei- 
lung deö Territoriums allen Theilhabern zufammen nur Eine Stimme zuftand, der 
Inhaber mehrerer Territorien dagegen auch mehrere Stimmen führte. Doch galt 
diejeg Prinzip nur in den lebten Zeiten des Reichs; bis in das 17. Jahrhundert 
hinein hatte der entgegengejegte Grundſatz gegolten, waren die Stimmen perjönlich. 
Die ReichsS. ging unter durch Reichsacht, durch Mediatifirung (Unterwerfung unter 
einen Mitjtand), wennſchon einige Familien troß der Mediatifirung fih im Beſitz 
der ReichsS. behaupteten, durch Verluſt des Territoriums, auf welchem die ReichsS. 
ruhte. Auf den Erwerber eines jolchen Zerritoriums ging an und für fich die 
ReichsS. nicht über. 

Unter KreisS. veriteht man Sit und Stimme auf den Hreistagen, den Ver: 
fammlungen der Zerritorialherren innerhalb der einzelnen reife, in welche das 
Deutiche Neich feit dem Jahre 1500 getheilt war. Die Kompetenz der Streistage, 
welche anfänglich die Polizei zu handhaben und die Erkenntniſſe der Reichögerichte 
zu vollitreden hatten, wurde fpäter auch auf andere gemeinjfame Angelegenheiten 


778 Stara — Statutariiche Erbportion. 


ausgedehnt. Die KreisS. ftand den Reichsitänden zu, doch konnten auch die In— 
haber reichsunmittelbarer Herrichaften, die nicht zugleich; ReichsS. beiaßen, unter die 
Kreisftände aufgenommen werden. 

LandS. bezeichnet Sig und Stimme auf den Landtagen der einzelnen Teri: 
torien. Diejelbe gebührte den bevorrechteten Ständen, die einzeln forporativ orga 
nifirt waren, und alle zufammen wieder eine Korporation (die Landſchaft) bildeten, 
und jo ala ein Ganzes dem Landesherrn gegenübertraten und Antheil an der Lande: 
regierung beanjpruchten und erhielten. Dieje Stände (Landjtände) find regelmäßig 
drei: die Prälaten, Ritter und Städte, von denen die leteren ihr Necht, wie die 
Reichsftädte, durch Mitglieder ihres Rathes ausübten. Nur jehr vereinzelt hatte 
auch der Bauernitand LandS. erlangt. Dagegen gebührte überall, wo es einen 
landjäffigen Herrenſtand gab, diefem die LandS., wennjchon derjelbe zumeilen mit 
den Prälaten zufammen Cine Kurie des Landtages bildete. Die LandS. gewährte 
nicht überall die gleichen Rechte; vielmehr war der Umfang dieſer letzteren im den 
verichiedenen Territorien und zu den verfchiedenen Zeiten ein jehr verjchiedener. 
Denn es berubten diejelben auf befonderen Privilegien, welche die Stände bei Ge 
legenheit der Bewilligung neuer Steuern vom Landesherrn fi) ausgewirft hatten. 
Ueberall ſtand den Ständen, jo lange ihre Kraft noch nicht gebrochen, das Steuer: 
bewilligungsrecht zu, auch durften Landesgeſetze ohne ihre Mitwirkung nicht exlafien 
werden. An und für fich vertreten die Landftände — und darin befteht der Haupt: 
unterschied der ftändijchen Verfaffung von der Repräfentativverfaffung — blos ihre 
eigenen Intereffen, und nicht die des ganzen Landes; und nur mittelbar nehmen fe 
auch die Intereſſen der gefammten Bevölkerung wahr. Dies erklärt fich daraus, 
daß die ©. fraft eigenen Recht? und nicht auf Grund eines Mandat der Bevöl: 
ferung zujteht. 

Die ReichsS. und die KreisS. find mit dem Untergange des Deutjchen Reichs 
verschwunden, und auch in der Verfaffung der einzelnen Deutichen Staaten hat das 
ftändijche — dem Repräſentativſyſtem weichen müſſen. 

Lit.: v. Campe, Die Lehre von den Landſtänden nach allgem. Deutſchen Staatsrechte, 
un. es Detmold 1864. — Gierte, Das Deutiche Genofienichaftsrecht, I. (Berlin 1868), 

. 54-581 u. ©. 822. — Böpfl, Grundfäße des gem. Deutichen Staatsrechts (5. Aufl), 
F 8 90 92, 88 325—328. Lewis. 

Stara, Giuſeppe, Conte, 55. IX.1795 bei Vercelli, 1823 Richter in Cagliari, 
jpäter Mitglied der Geſetzgebungskommiſſion, 1847 erfter Senatöpräfident in Zurin 
und Gonte, 1862 Staatsminifter, 1868 Präfident des Kaffationshofes, zog fich 1871 
zurüd, + 15. VI. 1877. 

git.: Nouv. Revue hist. 1878, p. 101—120. — Reineri, cenni biogr., Tor. 1855. — 
Torti, Ricordi, Tor. 1878. — Bulletin de la Societ@ de legisl, comparee, X. annde (1879, 
. 281. Teichmann. 

Statutariſche Erbportion (Eherecht). Das Deutiche Recht des Mittelalters 
hatte ala gewohnheitsrechtlichen Niederichlag entiprechender Eheverträge fajt allgemein 
ein Ehegattenerbrecht ausgebildet, das fich bald auf den Mobiliarnachlaß oder einen 
Theil defjelben beichränkte, bald auch das Jmmobiliarvermögen oder doch den An 
theil des verjtorbenen Ehegatten an der Jmmobiliarerrungenichaft, und zwar bald 
zu Leibzuchtsrecht, bald zu Eigenthum, umfaßte. Derartige erbrechtliche Anſprüche 
drangen mehr und mehr auch in das Gebiet des Sadjjenfpiegels ein und erichienen 
bier, da der legtere im Anfchluffe an das Altgermanifche Recht nur vertragsmäßigt 
Zuwendungen und fein Erbrecht der Ehegatten kannte, als partifularrechtliche Aus 
nahmen von dem „Gemeinen Sachenrecht“. Mehr noch trat diefer partitularrechtlice 
Charakter, zumal dieje Anjprüche im Einzelnen jo verjchieden gejtaltet waren, nad 
der Rezeption des Römifchen Rechtes hervor. Die Römifchen Einrichtungen, da? 
jubfidiäre Erbrecht des überlebenden Ehegatten hinter jämmtlichen Berwandten-dei 
veritorbenen (bonorum possessio unde vir et uxor) und der von Juftinien 
relative Anspruch der armen Wittwe an dem Nachlaffe ihres wohlhabenden 


Statutariihe Erbportion. 779 


vermochten die in den Deutſchen Partitularrechten anerfannten Erbanfprüche des über: 
febenden Ehegatten vielfach jelbjt dort nicht zu verdrängen, wo im Uebrigen die reine 
Römische Erbiolgeordnung angenommen wurde. So war für jenen, das gemeine Erb- 
recht durchbrechenden partilularrehtlichen Grbantheil jchon in der Doftrin des 
17. Jahrhunderts die Bezeichnung ala ©. E. in Gebrauch, eine Bezeichnung, die 
um jo paflender ericheinen mußte, ala die ©. E. durchaus den Gharakter eines 
außerordentlichen Erbrechtes trägt und neben der (vertragamäßigen, leßtwilligen oder 
gejeglichen) Erbfolge in das übrige Vermögen des verjtorbenen Ehegatten felbitändig 
einhergeht; höchitens zeigt fich hier und da in Bezug auf den Umfang der ©. €. 
eine Verfchiedenheit je nach der Stellung des fonfurrirenden Erben. Das Vor— 
handenfein eines jolchen konkurrirenden Erben gehört zum Weſen der S. E., das 
Univerjalerbrecht der Ehegatten, auch wo es günftiger ala im Römifchen Recht ge: 
orbnet iſt, Fällt nicht unter diejen Begriff. Iſt der überlebende Ehegatte ein Bluts— 
verwandter des veritorbenen, jo behält er neben dem Ghegattenerbrecht jein Ver— 
wandtenerbrecht. — Von der ©. E. iſt Alles zu unterjcheiden, was der überlebende 
Ehegatte aus dem bisher vereinigten Vermögen nach den Grundjäßen des ehelichen 
Güterrechtes ala fein Vermögen zu beanfpruchen hat, fie unterjcheidet fich nicht 
minder von dem Nußungsrecht, das ihm kraft väterlicher Gewalt an dem Vermögen 
der Kinder zufteht. Insbeſondere ift weder der bei allgemeiner oder partifulärer 
Gütergemeinschaft dem überlebenden Ehegatten zufallende Antheil an dem Sammtgute, 
noch der ihm aus der fortgejegten Gütergemeinfchaft erwachiende Vortheil für ©. €. 
zu erachten. Daffelbe gilt von allen Bortheilen, welche der überlebende Ehegatte 
als gefeßliche Entichädigung für Theile feines eigenen Vermögens erhält, 3. B. von 
der altjächfiichen Gerade, dem KHeergewäte und dem vielfach ftatt Rückgewähr des 
beweglichen Frauengutes eingeführten Mobiliarantheil, ebenfo von der 5. B. im 
Märkiſchen Erbrecht auf Grund einer mißverjtändlichen Deklaration der Joachimiſchen 
Grbrechtsfonftitution geltenden Berugniß des überlebenden Ehegatten, gegen Ein- 
werfung jeines eigenen Vermögens eine Quote des auf diefe Weile bergeitellten 
Sammtgutes zu nehmen. Dieje jog. „Gütergemeinjchaft von Todes wegen” iſt 
ebenfo aus einer Mißbildung der ehelichen allgemeinen Gütergemeinjchaft entjtanden, 
wie die in manchen Gegenden durch eine verkehrte Doktrin und ihr entiprechende 
Praris geichaffene jog. „Gemeinschaft des Zugewinnftes“ aus einer Mikbildung der 
ehelichen Errungenſchaftsgemeinſchaft. Alle diefe Ansprüche, auch wenn fie erit von 
Todes wegen hervortreten, wurzeln in dem Güterrecht der Ehegatten und find einzig 
nach dieſem zu beurtheilen; hat daher während der Ehe ein Wechiel des Wohnſitzes 
jtattgefunden, jo ijt in diefer Beziehung im Zweifel das Recht des erſten Wohnſitzes 
maßgebend. Dafjelbe wird nad) Wiürttembergiichem Recht auch hHinfichtlich der 
eigentlichen S. E. angenommen; die leßtere gehört aber ausichließlich dem Gebiete 
des Erbrechtes an und richtet jich daher nach dem Rechte des legten Wohnfiges. Das 
Preußische Allg. ER. gewährt dem überlebenden Ehegatten die Wahl zwiichen dem 
Rechte des eriten und dem des legten Wohnſitzes. — Die ©. E. findet nur unter 
Ehegatten Anwendung, hat aljo eine bürgerlich gültige Ehe zur Vorausſetzung (nach 
manchen Rechten, 3. B. dem Württembergifichen, auch noch die Vollziehung des ehe— 
lichen Beilagers) und fommt nad) einer Eheicheidung oder Nichtigfeitserflärung der 
Ehe in Wegfall. YXebenslängliche Trennung von Tisch und Bett hat die gleiche 
Wirkung im Deutjchen Reiche nur, wenn fie vor dem Neichögefeß über die Ber 
urfundung des Perfonenitands und die Eheichließung vom 6. Febr. 1875, oder wenn 
ſie im Auslande nach dem dort geltenden Rechte verhängt worden ift. Nach manchen 
Rechten geht die S. E. im Falle der Wiederverheirathfung ganz oder zum Theil 
verloren. — Die S. €. iſt heute noch vielgejtaltiger als im Mittelalter. Häufig 
it fie Für dem überlebenden Dann eine andere wie für die Frau. Zuweilen er- 
greift fie nur einzelne Nachlaßitüde, zumal Gegenjtände des Hausrathes (in diefem 
Sinne erjcheint ſchon der Mußtheil des Sachjenipiegels als ©. E.), oder fie be— 





780 Sted — Stedbriefe. 


ſchränkt ſich auf ein gejegliches Keibzuchtärecht oder auf bloßen Nießbrauch an dem 
Nachlaffe oder einer Quote deijelben, häufig beiteht fie aber geradezu in einer Grb= 
Ichaftsquote und hat dann Hinfichtlich des Schuldenüberganges diejelben Wirkungen 
wie jedes andere Erbrecht. Dabei ift der Einfluß des Juftinianiichen Rechtes der 
armen Wittwe infofern bemerkbar, ala eine große Zahl von Rechten in Ueberein— 
ftimmung mit diefer die Quote auf ein Viertel oder bei drei und mehr Kindern 
auf einen Kindestheil Teitfegen. — Die Unentziehbarkeit der oft tälichlih als ©. ©. 
angejehenen Anfprüche aus dem ehelichen Güterrecht und der Schuß des Juſtinianiſchen 
Rechtes der armen Wittwe gegen lehtwillige Verfügungen des Ehemannes hat dahin 
geführt, daß, von dem Defterreichiichen Rechte und der Mehrzahl der Bayriſchen 
Partifularrechte abgejehen, die ©. €. faft überall ganz oder theilweije den Charakter 
als Pflichttheil angenommen hat; fie fann daher, joweit nicht durch Ehe: oder Erb— 
vertrag darauf verzichtet ift, entweder überhaupt nicht oder doch nur aus beitimmten 
gejeglichen Gründen entzogen werden. — Grbichaften, welche dem verjtorbenen Ehe— 
gatten bereit3 angefallen, aber wegen eines daran beitehenden Leibzuchtsrechts dritter 
Perjonen noch nicht in feine Gewalt gefommen waren („hinterfällige Güter“), werden 
nach dem altdeutichen Rechtsfprüchwort „Zucht fällt nicht auf Zucht“ von der ©. €. 
—— ergriffen. 

Gigb. u. Lit.: Preuß. Allgem LMR., 2 1 $$ 495 ale 623 fi., 639, 642, 644 fi. — 
eg BER. SS 757 fi., 796. — Babdilch. ER. Art. 738, — Sächſ. BEB. 35 2049 ff., 
2578 fi. — Schmitthenner, Deutſch. —— d. —*8 170 fi. — Neubauer, Dai 
in —— a ehel. Güterrecht, 1879. — Schreiber, Die ehel. Güterrechte der 
Schweiz, 1880. — Roth, Syftem bes Deutfchen Pridatrechta, II. ss 110, 122 fi, 143 ff. — 
Stobbe, Hanbb. db. Deutichen — I. 210. — Roth, Baper. Givilrecht I. (2. Aufl.) 
161, 474 ". 477, 515 fi., 530 ff. — Renlder, MWürttemb. tivatrecht III. 92 #.— Grefe, 

annovers Recht, II. 57 fi. — — und Meibom, Kurheſſiſches Privatrecht, 41 ff. — 

eimbad, Xebrb. d. Ri; Privatrechts d. Oberappellationsgerichten Jena u. Zerbſt ver: 
einten Länder, 524—88. — Erbmann, r terr. db. Eheg. n. d. Prov. R. Liv- Gitb: u. Kur⸗ 
lands, 185 ff, 215 ff. 243, 250. — Jeydbemann, Die Elemente ber Jo achimi ſchen Kom: 
ftitution, 319 fi. — Kraus in d. Zeitſchr. f. Deutfches Recht XII. 125 A — Die Lehr: 
bücher d. Deutfchen Privatrechtä. R. Schröder. 

Steck, Joh. Chriſt. Wild. von, & 6. I. 1730 zu Diedelöheim, 1754 
Profeſſor in "Halle, 1758 in Frankfurt a. O. 1767 Geheimer Tribunalsrath in Berlin, 
1776 geadelt, 7 8. X. 1797. 

Seine Schriften bei Pütter, Litt., II. 105. — Schulte, Geſchichte, III. b ©. 150. — 


Meuſel, XII. 307-311. — Engelmann, Biblioth. jurid. (2) Lpzg. 1840, S 413, 414. 
Teihmann. 


Steckbriefe, litterae patentes arrestatoriae, nennt man im StrafPrz. (John, 
Th. I. Suppl. ©. 35) offene, an alle Gerichte und Behörden des In- und Aus— 
landes gerichtete Sülfsschreiben, einen flüchtigen, nach der Deutichen StrafPO. aud) 
einen fich verborgen haltenden, Beichuldigten im Betretungsfalle verhaften und an 
das erjuchende Gericht oder die jonft genannte Behörde, nach der StrafPD. an ein 
beitimmtes Gefängniß, abliefern zu wollen. Die Bezeichnung der ſtrafbaren Handlung, 
ohne welche namentlich ausländifche Behörden von der Verhaftung abjehen würden, 
und das jog. Signalement oder die Angabe der Merkmale, an welchen die Berion des 
Beichuldigten erkannt werden fann, werden dem ©. eingefügt. Als Aufforderungen 
zu verhaften haben ©. diejelben Vorausfegungen, wie Haftbeiehle. Nach der Deutichen 
StrafPO. find fie auf Grund eines Haftbefehls vom Richter oder der Staatsanwalt» 
Schaft zu erlaffen, e8 fei denn, daß ein vorläufig Feitgenommener aus dem Gefängnik 
entfprungen wäre oder jich der Bewachung font entzogen hätte, wo auch die Polizei: 
behörde den ©. erlafjen darf. Außerdem können zur Vollſtreckung erfannter Frei— 
heitsftraien ©. von der Staatsanwaltichatt bzw. dem Amtärichter ohne Weiteres 
erlaffen werden. Die Defterreichiiche Stra MO. beichränft die S. auf dringenden 
Verdacht verübter Verbrechen, bei welchen die Rathskammer, der Unterfuchungsrichter 
dagegen nur in dringenden Fällen, den S. u erlaffen befugt tft; auch wirb wiſchen 
der Öffentlichen Wefanntmachung des S. durch die Zeitungen, für welche beiondere 





Stellgeichäft. 781 


Umftände vorliegen müfjen, und feiner bloßen Mittheilung an die Behörden und 
Beamten in der Umgebung und in weiterem Kreiſe unterjchieden, — im Anjchluß 
wol an das Franzöſiſche Recht, welches ftatt der ©. fich der gleichen Mtittheilung des 
Haftbeiehl8 bedient. Bei Vergehen ijt eine öffentliche Kundmachung in Dejterreich 
ausgejchloffen. — Wer auf Grund des ©. ergriffen wird, muß in Oeſterreich fofort 
von dem Richter oder der Polizeibehörde, welche ihn in Verwahrung nimmt, verhört 
und, wenn ein Grund zu weiterer Feſthaltung fich nicht ergiebt, ſofort freigelaffen 
werden. Nach der Deutichen StrafPD. kann er, es fei denn, daß er jpätejtens am 
Tage nach der Ergreifung vor den zuftändigen Richter geführt werden könnte, jo- 
tortige Vorführung vor den nächjten Amtärichter fordern, der ihn fpäteftens am Tage 
nach der Ergreifung vernehmen und feine Freilaffung verfügen muß, wenn er be— 
weiſt, daß er nicht der Berfolgte oder daß die Verfolgung durch die zuſtändige 
Behörde aufgehoben ift. — Die Erledigung eines ©. iſt, auch wo fie nicht vor- 
geichrieben ijt, befannt zu machen, damit nicht auf Grund derfelben in die Freiheit 
Anderer eingegriffen werde. Auch find S. immer nur ala fubfidiäres Siſtirungs— 
mittel, wenn jedes andere erfolglos jcheint, anzuwenden, da fie, wenn der Verfolgte 
freigefprochen werden follte, auf ungerechtiertigte Benachtheiligung feiner Ehre, joweit 
öffentliche Kundmachung mit ihnen verbunden ijt, hinauskommen. 

Quellen: nm StrafPÜ. SS 177, 414 fi. — Deutſche StrafPO. 
$$ 131, 132, 489; Mot. S. 78, — Prot. der Reihetagstommilfion r 176 ff., 869 ff. 

Lit: Bauer, Lehrb., S 2. — Mittermaier, StrafrVerf., 1. $ 78. — Komment. 
Deutichen Stra D.l. von Löwe, —— v. Schwarge u. A. er, Strafßer. Wert, 
©. 170. — v. Holtzendorff, Hbbch. d . StrafPrz.R., I. ©. 362 ff. K. Wieding. 

Stellgeihäft (TH. I. S. 538). Das ©., —S ne Geben und Nehmen”, 
„Stellage* genannt, ijt ein Prämiengejchäft, bei welchem der Prämiengeber (der 
„Wähler“) am Stichtage die Wahl hat, ob er ein beftimmtes Lieferungsgeichäft als 
fiefernder oder als beziehender Theil abgeichloffen und erfüllt willen wolle, mit 
anderen Worten das Recht hat, nach feiner Wahl, welche er an einem bejtimmten 
Zeitpunfte oder innerhalb einer jeftgefeßten Friſt treffen muß, die behandelte Waare 
(meiftens Effekten) dem Prämiennehmer („Steller” genannt) zu liefern oder fie von 
diefem zu beziehen. (Ueber den Begriff Prämiengeſchäft j. diefen Art.) 
Vom zweifchneidigen Prämiengeſchäft unterfcheidet ſich das ©. dadurch, 
daß die Wahl des abjoluten Nichtwollens bei dem S. ausgeichlofien iſt; da bei 
diefem demnach jedenfalls eine Erfüllung des je nach Enticheidung des Wählers im 
S. abzuichließenden Vertrages einzutreten hat, wird die Prämie zwedmäßig und 
gewöhnlich in der Bereinbarung von zwei verichiedenen Kaufpreifen ausgedrüdt, 
eines niedrigeren für den Fall, daß der Wähler wählt zu liefern, und eines höheren 
für den Fall, daß fich diefer liefern läßt. Da Hierbei die Prämie nicht ſelbſtändig 
fichtbar und in den Schlußbriefen nicht befonders genannt wird, jehen Manche im 
©. fein Prämiengeſchäft; ſo Nebenius, Bender; daß hierbei das innere Weſen 
des S. überjehen und verfannt wird, bemerkt dagegen mit Recht Thöl 
(a. a. O. Note 3). Bejtritten ift, welche Rechtäfolge eintritt, wen der Wähler feine 
oder keine rechtzeitige Wahl trifft; Böhmer, Bender, Yadenburg und Ende— 
mann behaupten, alsdann gehe das Wahlrecht auf den Steller über, eine Anficht, 
deren Unhaltbarkeit und MWillkürlichfeit von Gad und ausführlicher von Gareis 
nachgewiejen ift. Der Steller kann vielmehr vom nichtwählenden Wahlberechtigten 
lediglich das pofitive Vertragsintereffe wegen Verlegung des im Abjchluffe des ©. 
entjtandenen pactum de contrahendo fordern, darf aber der Berechnung diejes In— 
tereffes nicht, wie Gad annimmt, die ihm, dem Steller, alinitigere Konjunktur zu 
Srunde legen, jondern muß davon ausgehen, daß der Wähler, wenn er gewählt 
hätte, jedenfalls nach Maßgabe der ihm und nicht dem Steller günjtigeren 
Konjunktur gewählt haben würde. Dies folgt aus der jeitftehenden Natur 


— 


und Intention des S.; hierüber Gareis a. u. a O. ©. 162—167 und die A 


dort cit. Lit. Theilweiſen Bezug oder theilwerie Selbitlieferung der Gifekteug 





782 Stellvertretungstoiten. 


dari der Wähler nicht wählen; ſ. Bender und Thöl, anderer Anfiht it Böh— 
mer. Nach den Uebungen der Berliner Fondsbörſe könnte über die anzunehmende 
Erklärung allenfalls die Deputation der Sachverſtändigen-Kommiſſion der Fonds— 
börſe entſchieden. 

Lit.; Nebenius, Der — Kredit, — ſtarlsr. 1829, ©. 564. — Böhmer 
im Archiv für civil. Praris, Bd. IX., 1826, ©. 415 fi. — Benber, Berlehr mit Staatä: 
papieren, 2. Aufl. Gött. 1830, 3 94, S. 407 n — — verlehr mit Staatäpapıeren 
(Göttingen 1835), SS 45, 46; Derjelbe, H.R. 6. Aufl., S 291. — Ladenburg in Gohd— 
e dia. BR Bo. ll. ©, 499,497. — Gab, Dandb. d. „ag. Deuticen 

NR. (Berlin 1863), © 55—56, — Endemann, R., 3. Auil., % at 1—592. — 
rünhut, Börjen: und Maklerrecht 1875 (audy in einer Zeitichr. für d Scivat, und ft. 
Recht, 1875) ©. 69. — — in Siebenhaar's Ardiv für Deutiches DW. und H.R., 
Bd. XVII. 1869, Heft 2, ©. 134, 159—168. — James Mojer, Die Lehre von ben Zeit 
eihäften, Berlin 1875, ©. 9, Bu — 6rf. d. — a —— Wien u. Referat hierüber 
Goldſchmidt's Zeitichr. f. d. geſ. H.R. Bb. 155—16 hr Betreff der oben⸗ 
ermähnten Uebungen ber Berliner Fondsborſe er le für — F derſel ben 

3. Febr. 1873, 8 13, A. 3 a. E., mitgetheilt von ae er in d. Zeitichr. ei. DR. 
Si. "XVII. ©. 502 fi; Bd. XXI. ©. 269; Bd. XXIV. 538 ff., * lee 
Ulancen in Goldihmidt' 8 Zeitichr. für "das gel. HR. x Kriv 585 fi., insbe. 
€. 531. (Die Börfenujancen überhaupt find unter d. Art. Zeitfauf Gareis. 

Stellvertretungsfoften (TH. I. ©. 861). Die Frage, ob ein Staats- 
beamter die Koften für feine Stellvertretung in dem von ihm verwalteten Amte 
dann zu zahlen Habe, wenn er zum Mitgliede des Yand» oder Reichstags gewählt 
worden und durch feine Thätigkeit als jolches an der Verwaltung jeines Amtes ge— 
hindert ift, fann durch die einfache Behauptung, die Annahme einer Abgeordnetens 
wahl jei die Ableiftung einer öffentlichen oder ftaatsbürgerlichen Pflicht und dürfe 
deshalb nicht mit pefuniären Nachtheilen verbunden fein, nicht als beantwortet gelten, 
weil der Staat die dem Einzelnen aus der Ableiftung öffentlicher Pflichten, wie der 
militärifchen Dienftpflicht, des Schöffene und Geſchworenendienſtes u. j. mw. er: 
wachjenden Vermögensnachtheile überhaupt nicht oder doch nur im beichräntteiten 
Umfange vergütet, ſowie weiter, weil der Staat auch denjenigen Abgeordneten, 
welcher fein Staatsamt bekleidet, nicht gegen den ökonomiſchen Schaden jchüst, 
welcher für denfelben aus der Iheilnahme an den landjtändiichen Verhandlungen 
und aus der hierdurch bewirften Verhinderung an dem Betriebe feiner Berufs- 
geichäfte entiteht, und endlich, weil auch nicht der geringite Zwang zu der Annahme 
einer Wahl zum Abgeordneten vorliegt, vielmehr die Uebernahme der Thätigfeit und 
Pflicht eines a ausschließlich dem freien Ermeflen des Gewählten über: 
laſſen ift. 

Gine richtige Begrndung der Freiheit gewählter Staatsbeamten von Zahlung 
der ©. kann nur dann gefunden werden, wenn man, wie in&bejondere auch 
v. Rönne thut, von dem in vielen Deutichen Verfaffungen zum Schuße der paffiven 
Wahlfähigkeit der Staatsbeamten aufgeftellten Satze ausgeht, daß ein Staats 
beamter zum Gintritte in die Volfsvertretung feinen Urlaub nöthig habe (Preußen, 
Goburg-Gotha, Deutsche Reichsverfafiung), bzw. daß ihm der Urlaub nicht (Bayern, 
Braunfchweig) verweigert werden dürfe. Der juriftiiche Kern diefer VBerfaffungs- 
bejtimmung fann nämlich nur der jein, daß mit der Annahme der Wahl der ge 
wählte Staatsbeamte auf Grund des Gejeßes don der Verwaltung ſeines Amtes 
zeitweilig dispenfirt fein jolle. Wie num aber feine Gehaltsverfürzung zum Zwecke 
der Beitreitung der ©. dann ftattfindet, wenn der Beamte, gleichviel aus welcher 
Ursache, von ferner vorgelegten Behörde einen unbedingten Urlaub erhält, jo fann 
auch ein Abzug vom Gehalte dann nicht itattfinden, wenn das Gejek den Beamten 
tm ‚salle der Wahl zum Abgeordneten entweder unmittelbar beurlaubt oder ihm den Ur: 
laub ausdrücklich zufichert, wenn er um denjelben bei der vorgejeßten Behörde einfomme. 

So iſt es denn auch als die Rückkehr ju der richtigen Behandlung der Frage 
zu bezeichnen, wenn die Preußiſche Negierung im Jahre 1867 die ©. für die in dan 
Reichstag umd jeit 1869 für Die in das Abgeordnetenhaus gewählten Beamten auf 





Stemam — Stempeljteuer. 783 


die Staatsfaffe übernommen hat, nachdem fie jeit 1863 die betreffenden Gelder vom 
Gehalte der Gewählten abgezogen hatte. 

Ebenſo —— das Reichsgeſetz v. 31. März 1873, 8 14, und die kaiſerliche 
Verordnung dv. 2. Novbr. 1874, $ 6, den richtigen Standpunkt ein, indem fie be= 
ftimmen, daß die Koften für die Stellvertretung der Reichsbeamten im Falle einer 
Wahl zum Reichdtage der Reichskaſſe zur Lat fallen follen. Nach demjelben Prinzip 
verfahren auch andere Regierungen (3. B. Bayern) Hinfichtlich der Wahlen zum 
Land- und Reichätag. Endlich haben noch einige Wahl: und Staatödienergejeße 
(Sachjen, Braunfchweig, Schwarzburg-Sonderöhaufen, Schaumburg-Lippe) die Ueber: 
nahme der ©. für die zum Yandtag gewählten Staatsbeamten auf die Staatskaſſe 
ausdrüdlich vorgeichrieben. 

In gleicher Weife muß die Frage auch da entichieden werden, wo die Verfafjung 
den Eintritt eines Staatsbeamten in den Landtag an eine vorgängige Urlaubsertheilung 
bindet und lediglich die Verficherung giebt, daß der Urlaub nur aus erheblichen, dem 
Landtage mitzutheilenden (Sachſen, Meiningen) aber von diefem zu genehmigenden 
Gründen (Oldenburg) verjagt werden dürfe; denn auch hier fann die Staatsregierung 
den Urlaub nicht verweigern, wenn der Yandtag die Gründe der Urlaubsverweigerung 
nicht anerkennt: der Urlaub iſt alfo auch hier ein nothwendiger und darf daher nicht 
durch Gehaltsabzüge bedingt werden, jofern die Landesgeſetzgebung nicht eine entgegen- 
gejegte Beſtimmung enthält (wie Neuß ä. Y.). 

Da wo die Verfaffung bzw. die Wahlgefege Nichts über den Urlaub der zum 
Landtag gewählten Beamten beftimmen, oder wo die Beurlaubung lediglid vom 
Ermeſſen der vorgejeßten Behörde abhängig ift, kann die Trage nad) den ©. mur 
auf Grund der Vorjchriften der Staatödienergefeße über die bei Urlaubsertheilungen 
zuläfligen Gehaltsabzüge beantwortet werden, und zwar find, wie insbejondere 
6. Meyer bervorhebt, die Beamten von den ©. für befreit zu erachten, wenn Ge— 


haltsabzüge nur bei einem zu privaten Zwecken nachgejuchten Urlaube — find. 

git.: 9. N. 98 Deutſches Staats- und Bundesrecht, 3. Aufl., Bd. I. ©. 644, 
Note 14 — H. Zöpfl, Grundiäße des gem. Deutichen Staatsrechts, 5. Aufl, Band II. 
ss 354, 355. — Thudidı um, Berfafiungsrecht des Norddeutſch. en 154, 155. — 

nabejondere v. Rönne, Staatsrecht der Mreukifcen Monardie, 3. Aufl, BD. I Abth. 2 
. 375 ff.; Derjelbe, Staatsrecht de Deutichen Reich, 2. Aufl. BL. €. 245, 246. — 
Laband, Staatäredht des Deutichen Reichs, Bd. I. S 49 S. 551. — ©. Meyer, Lehrb. des 
a Staatsrechls, $ 150, ©. 381. F. Brodhaus. 
temann, Chrijtian Ludwig Ernjt von, & 14. III. 1802 zu Stopen- 
bagen, 1826 Dr. jur. in fiel, 1849 Departementächer in der Schleswigichen Regierung, 
1852 Präfident des Appellationsgerichtes, 1864 von dem Preußiichen Civilkommiſſar 
abgejegt, Geheimeconferentsraad, Kammerherr, 7 14. III. 1876. 

Scdriften: De veterum dotis actionum = — atque ex stipulatu differentiis, 
1826. — Ebers, Themie, Neue ‚Bolge I. 248, — Falck's Archiv II. 513, 529. — 
Sell's Jahrbb. III. 225, 368. chleswigs Recht und Gerichtäverfafiung im 17. Jahr⸗ 
hundert, 1855. — Das Güterrecht der Ehegatten im Gebiete des Jütichen Love, Kopenhagen 
1857. — Slesvigſte Provindfialefterretniger III. 145, 249, 595. — Geld. d. öff. und Privat: 
— Schleswigs, Kopenh. 1866, 1867. —— für d. —— d. Herzogthümer IX., 

X.; Date |. .d. Yandestunde d. Herzogthümer, I. II. III IV. — Den Banife Netshiftorie 
indtil Chr Lov, Kbhon. 1871. — Urkundl. Beiträge zur Geich. der Gerzogtbümer, aus 
dem Nachlafſe herausgegeben von Rechtsanwalt, Notar G. dv. Stemann, Huſum 1879. 

Lit.: Krit. BJ.Schr. XV. 167. — Schlyter, Glossarium, Lund 1877, p. XII. sg. 

Teihmann. 

Stempelftener. Gejeggebung und Praris haben den Begriff einer jog. ©. 
aufgejtellt. Diejer Begriff iſt jeboch ein rein äußerlicher, infofern die Erhebung 
gewiffer Abgaben in der Form eines jog. Stempels, d. h. durch Verwendung eines 
Stempelpapiers oder in neuerer Zeit einer Stempelmarfe, geichieht. Der Begriff 
der ©. als einer bejondern Steuerart iſt jedoch unhaltbar, da unter diefer Form 
ganz verjchiedenartige Abgaben, insbejondere einerjeits Gebühren und andererjeits 
Verkehrsſteuern, erhoben werden, feine derjelben aber, weder Gebühren noch Verkehrs: 
fteuern, im ganzen Umfange jtempelmäßig erhoben wird. 


⸗ 





754 Stempeliteuer. 


Was zunächſt die jog. Gebühren betrifft, jo verſteht man darunter finanz- 
mwifjenichaftlich jolche Abgaben, welche von den Einzelnen als Entgelt eines ihnen 
jtaatsjeitig geleifteten bejonderen Dienftes oder einer zu ihren Gunjten gejchehenen 
ftaatlichen Aufwendung erhoben werden, zum Zwede, die Betriebskoſten der frag: 
lichen Verwaltungszweige ganz oder theilweife zu deden. Es gehören zu den Ge— 
bühren in diefem Sinne einerjeit3 Eingaben und Amtsjchreiben in Sachen Einzelner, 
insbefondere auch in Givilftreitigfeiten, die Ausftellung von Päſſen, Legitimations— 
papieren aller Art, die Einfchreibungen der Givilitandsämter, die Erfindungspatente, 
die Patente für Adel und Orden; es gehören dahin aber auch andererjeits die 
Poſt- und Telegraphengebühren, die Eichgebühren, die Schulgelder, die Prüfungs— 
gebühren. Der Gebührenftempel wird aber feineswegs im ganzen Umſange des 
Gebührenmwejens in Anwendung gebracht; in einigen Beziehungen it derjelbe neuer— 
dings bejchränft (Gerichtsfoften), in anderen ausgedehnt (Pojt- und Telegraphen- 
marfen). Andererſeits fommt aber der Stempel auch als eigentlicher Steueritempel 
vor, namentlich in jolchen Fällen, wo es fich um Webertragung eines beweglichen 
oder unbeweglichen Gegenjtandes im privatrechtlichen Vermögensverfehr handelt; es 
gehört dahin insbejondere der Stempel bei Verträgen über Immobilien (der übrigens 
zum Theil auch den Charakter einer Steuer trägt), der Spielkarten-, Kalender-, 
Zeitungs, Wechjel- und Erbichaftsftempel, auch der Stempel von Privatquittungen, 
3. B. bei Rechnungen. 

In Preußen ift die Entwidelung in großen Zügen folgende gewejen. Die 
Preußifche Stempelgefeßgebung beruht noch heute im Wejentlichen auf dem Geſetze 
wegen der ©. vom 7. März 1822 und auf dem diefem Geſetze beigefügten alpha 
betifch geordneten Tarite. Dieſe Gejeßgebung erjtredte ſich ganz allgemein auf alle 
Arten von Abgaben, welche in Stempelform erhoben werden, jowol auf den Gebühren- 
als auch auf den eigentlichen Steuerftempel. Es wurde nun zunächſt durch das 
Geſetz vom 10. Mai 1851, ergänzt durch das Gejeh vom 9. Mai 1854, die Er— 
bebung der Gerichtsfoften in der Weife, daß die Stempelform dabei nicht mehr zur 
Anwendung kommt, meu regulirt. Es wurde ferner die Erhebung der ©. von 
Zeitungen, Zeitjchriften und Alnzeigeblättern, ſowol einheimifchen als auch aus 
ländiichen, durch die Gejege vom 29. Mai 1861 und 26. Septbr. 1862 andermeit 
geordnet. Die Verwendung von Stempelbogen durch die Beiejtigung von Stempel- 
marfen auf dem fteuerpflichtigen Schriftjtüde wurde endlich durch das Geſetz vom 
2. Septbr. 1862 eingeführt. 

Dieje Altpreußifche Geſetzgebung ift dann auf die neuen Landestheile nicht 
einfach übertragen worden. Es fam zwar damals im MWejentlichen nur auf die 
Herjtellung einer gewiſſen Gleichmäßigfeit zwiichen den alten und neuen Landes— 
theilen und den neuen Landestheilen unter einander an. Indeſſen ift doch eine 
Aenderung in materieller Hinficht gegenüber dem bisherigen Preußifchen Rechte» 
zuftande infofern erfolgt, als einerjeits die ©. auf Zeitungen, Kalender, Spielkarten 
und Erbſchaften aus der bisherigen engen Verbindung mit der übrigen ©. gelöft 
und andererſeits die Erbichaftsjteuer in mehrfacher Beziehung neu regulixt wurde. Was 
das Einzelne betrifft, jo wurde zumächjt durch vier Verordnungen vom 4. und 5. 
Suli 1867 die Erhebung der ©. von Spielkarten, die Erhebung der Zeitungs-S,, 
die Einrichtung der ©. von Kalendern und die Erhebung der Erbichaftsabgabe 
geregelt. Das ſonſtige Stempelmweien, insbefondere die Erhebung des Urkunden 
ſtempels, wurde für Hannover, Kurheffen, Naflau und die bayerifchen Gebietätheile 
durch die Verordnung vom 19. Juli 1867 unter Mufrechthaltung der biäherigen 
Yandesgefege in weiten Umfange, und erit durch die Gejehe vom 5. März 1868 
rür Heſſen-Naſſau (mit Ausnahme von Frankiurt a. M.) und vom 24. Febr. 1869 
fiir Hannover nach durchtweg neuen Grundiägen geregelt. Die Normirung der ©. 


— 


für Schleswig-Holſtein erfolgte durch die Verordnung vom 7. Aug. 1867, für die 





Stempeliteuer, 785 


Großherzoglih und Landgräflich Heſſiſchen Gebietstheile durch den Erlaß vom 14. 
August 1867, für Frankfurt a. M. durch die Verordnung vom 15. Auguſt 1867. 
Die Gründung des Norddeutfchen Bundes reſp. des Deutjchen Reichs bat dann 
zur Folge gehabt, daß durch das Norddeutiche Bundeögejeg vom 10. Juni 1869 
reſp. durch die Verfailler Verträge (für Württemberg und Baden), das Geſetz vom 
22. April 1871 (für Bayern) und das Geſetz vom 14. Juli 1871 (für Elſaß— 
Lothringen) die Wechjel-©., unter mehrfacher Aenderung der bisherigen Preußijchen 
Beitimmungen, zu einer Bundes= refp. Reichsſteuer erhoben worden: ift. 

Im weiteren Verlaufe der Preußischen Entwidelung ift dann zunächſt die Erb» 
ichaftsabgabe für den ganzen Umfang des Staates durch das Geſetz vom 30. Mai 
1873 (gültig jeit 1. Januar 1874) neu regulirt worden, indem unter gänzlicher 
Aufhebung der bisherigen Verbindung zwiſchen Erbſchaftsabgabe und ©., jo daß 
auch der Gebrauch von Stempelmaterialien bei Entrichtung der Erbichaftsabgabe in 
Wegfall gefommen ift, einerjeit3 eine Mebertragung der Bearbeitung der Erbichaits- 
fteuerfachen von den Gerichten auf die Behörden der Steuerverwaltung (wie bisher 
ihon in der Rheinprovinz und in der Stadt Berlin) jtattgefunden hat und anderer- 
jeits eine Befeitigung der Steuer jeitens des überlebenden Ehegatten eingetreten 
ift, während die als Wequivalent vorgeichlagene Erhöhung der Steuer für die De- 
jcendenten von Gejchwiltern die Zuftimmung des Landtags nicht gefunden hat. Für 
das Einzelne ift auf das Geſetz jelbft und auf den diefem Geſetze angehängten 
Tarif zu verweiſen. 

Die Aufhebung des Zeitungs- und Kalenderſtempels ift, nachdem zahlreiche 
Anträge, Nejolutionen und aus der Initiative des Abgeordnetenhaufes hervor- 
gegangerre Gejegentwürfe, namentlich in den Jahren 1872, 1873 und 1874, ohne 
Griolg geblieben waren, durch das Deutjche Reichsgeſetz über die Preffe vom 7. Mai 
1874 erfolgt, welches für den ganzen Umfang des Reiche, mit Ausnahme von 
Eljaß-Lothringen, wo die Einführung einem bejonderen Geſetze vorbehalten wurde, 
mit dem 1. Juli 1874 in Kraft getreten ift, indem der $ 30 al. 2 dahin lautet: 
„Borbehaltlich der auf den Landesgeſetzen beruhenden allgemeinen Gewerbejteuer 
findet eine befondere Befteuerung der Preffe und der einzelnen Preßerzeugnifie 
(Zeitung&= und KHalenderjtempel, Abgabe von Inferaten) nicht ftatt.‘ 

Endlich ift dann in dem Geſetze vom 26. März 1873 eine Ermäßigung und 
Aufheburig gewiſſer Stempelabgaben, namentlich jolcher, die zwar bejonders drüdend, 
aber doch für die Geftaltung des Budgets ohne wejentlichen Einfluß waren, deren 
Wegfall auch einer künftigen prinzipiellen Neugeftaltung des Stempelweſens nicht 
präjudizirte, herbeigeführt worden; insbeſondere ijt gänzlich aufgehoben die Be— 
fteuerung von Gefuchen, Bejcheiden und Protofollen in Privatangelegenheiten, 
während die Steuer von Geburts, Trau= und Todtenfcheinen bedeutend ermäßigt ift. 

Es ift jedoch alljeitig anerfannt, daß es einer viel umfaffenderen Reform, 
namentlich auch in der Richtung auf Herabjegung der Beträge für den Rechtsver— 
fehr mit Immobilien, bedarf, und es ift eine folche generelle Reviſion auch jeitens 
der Regierung ausdrüdlich zugejagt. 

Was die finanzielle Seite der ©. betrifft, jo war fie im Staatshaushaltsetat 
pro 1874 mit 8600000 Thaler in Anfchlag gebracht. In diefer Summe war ins— 
bejondere auch die Zeitungsftener mit etwa 900000 Thaler enthalten. Dagegen 
bildete die Erbichaftäfteuer einen befonderen Pojten mit 1400000 Thaler, dieje Ein- 
nahme ijt im Vergleich mit anderen Ländern eine jehr geringe; inſofern die Erb- 
Ichaftsfteuer in Preußen noch nicht 2 Sgr. auf den Kopf beträgt, während fie fich 
in Frankreich und Belgien auf 2 Franc und in England auf Y!/,, Sch. beläuft. 

Lit: J. ©. Hoffmann, Die Lehre von ben Steuern mit beionderer Rüdficht auf den 
Preuß. Staat, Berl. 1849. — X. v. Stein, Lehrb. d. Finanzwiflenid., 2. Aufl., Lpzg. 1871, 
S. 215 ff., bei. ©. 466 ff. — Rau:Wagner, Lehrb. der Fınanzwifjenich., 6. Aufl., Leipzig 

v. Holtenborff, Gne. II. Rechtöleriton III. 3. Aufl. 50 


Pr 


786 Stephani — Steuerpflicht. 


1872, ©. 244 ff., bei. S. 264 ff. — Faucher, B.I.Sch. f. Vollswirthſch, Jahrg. I. Bb.IL 
©. 42 ff.; Jahrg. IT. Bb. III. ©. 51 ff. — Hoyer, Die Preub. Stempelgeiepgebung für die 
alten und neuen XYanbeätheile, 2 Bde, Berlin 1869—1873, 2. Aufl. 1874; Derjelbe, Tu 
Deutliche — über die Wechſelſtempelſteuer ꝛc, Berlin 1871. — Die Stenographiſchen 
Berichte und Druckſachen des Preuß. Landtags an ben einſchlagenden Stellen. — Klette, 
Literatur über das Finanzweſen des Preußiſchen Staats, 3. Aufl. 1876, ©. 299 ff. 
Grnft Meier. 

Stephani, Joahim, & zu Pyrig, 1577 Doktor, 1578 Prof. der Rechte 
in Greifswald, berzoglicher Rath, Syndifus der Univ. 7 14. I. 1623. 

Sein Bruder Matthias, 5 1570 zu Pyrik, 1624 ord. Prof. zu Greiie- 
wald, t 26. VIII. 1646. 

Diefer ihrieb: Comm. in Novellas, 1630, 53 ed. Brunnemann 1700. — Tract. de 
jurisdictione, Fef. 1610, 1611, 1623. — Synopsis Jurispr., Rost. 1624. — Disc. academici 


ex jure publico, Rost. 1624. — Tract. de jure patronatus, Fef. Lips. 1631, 1639, 1701, 
Gothae 1672, 


git.: Schulte, Geſch. III. b 30 u. 34. — Rojegarten, I. 218. — v. Stinking, 
Geſch. d. Deutichen Rechtäwifjenich. (1880), I. 729. — Nütter, gitt., L159. — Landsberg, 
Ueber d. Entftehung d. Regel quidquid non agnoscit glossa, nec agnoscit forum, Bonn 188%. 
Teihmann. 

Steuerfredit kann in Deutichland für Tabaks-, Riübenzuder-, Salz und 
Branntweinjtener angejeffenen Kaufleuten, Fabrikanten und Gewerbtreibenden gewährt 
werden. Mit Ausnahme der Nübenzuderjteuer, deren Betrieb an und für fich 
größere Steuerbeträge zur Folge hat, hängt die Gewährung des S. von einer 
gewiſſen jährlichen Steuerzahlung ab, welche für die Salziteuer 3000 Mark, für die 
Branntwetnjteuer 1800 Mark und für die Tabafafteuer nach dem Gewichte 100 Mark 
zum Mindeiten beträgt. Die in dem jteueramtlichen Kreditfonto eingejchriebene 
Steuer muß innerhalb einer bejtimmten Friſt vom Kreditnehmer einbezahlt werden. 
Dieje Friften find bei jeder Steuerart verjchieden bemefjen. Während nämlich für 
die Nübenzuderiteuer und Branntweinjteuer eine jechamonatliche Friſt gewährt werden 
fann, beträgt diejelbe für die Salziteuer nur drei Monate. Bezüglich dev Tabak— 
gewichtsjteuer aber ift beitimmt, daß die, bei der erjtmaligen Veräußerung ober 
jpätejtens bis 15. Juli des, auf das Grntejahr folgenden, Jahres fällige Steuer 
bis zum 15. Oftbr. d. 3. freditirt werden fan, Außerdem kann auch Demjenigen, 
der inländiichen Tabak zur Verjteuerung aus Niederlagen abmeldet, geitattet werden, 
daß er die Tabafgewichtsiteuer, jtatt an dem im $ 17 Abſ. 1 des Gejehes von 1879 
beitimmten Zeitpunfte, erſt am 25. des dritten, darauf folgenden, Monats entrichtet. 
Die Beſtellung voller Sicherheit für jede KHreditgewährung ift zwar Regel, doc kann 
zuverläffigen Leuten diefelbe ganz oder theilweije erlaffen werden. Der Kredit wird 
auf Rechnung und Gefahr der einzelnen Bundesjtaaten, in deren Bereich die Gewerb- 
treibenden bzw. Sreditnehmer fich befinden, durch die Steuerbehörden gewährt. Dem 
Reiche gegegüber wird der ©. erjt nach feiner Fälligkeit ald Baarzahlung in Anz 
rechnung gebracht. 

Quellen: Gel über Beſteuerung des Rübenzuders von 1876. — Beſchluß db. Bundes 
rathes vom 2. Juli 1869 ($ 126) wegen der Rübenzuderfteuer. — Bundesrathsbeſchluß vom 
28. Mai 1868 ($ 140) wegen ber Salzfteuer. — Beichlu des Bunbdesraths dom 3. Juli 
1869 wegen der Branntmweinfteuer. — Geſetz vom 16. Juli 1869 8 16 Abf. 2 und S 17 


und Kreitregulativ von 1880 wegen ber Tabaläfteuer. — Außerdem bie Kreditregulative ber 
einzelnen Bunbdesftaaten. 

or Se Hirth's Annalen des Deutichen Reiches v. 1873 u. 1880 u. v. Aufieh, 
Die Zölle und Steuern des Deutichen Reiches v. 1880. — Gentralblatt für Abgaben zc. für 
die Preuß. Staaten, Gentralblatt des Deutſchen Reiche, Jahrbücher der Zollgeſetzgebung. — 
Verwaltung des Deutihen Zoll: u. Handelövereind, 1854— 1875. (S. aud die Art. Zoll» 
frebit, Rübenzuder:, Zabafd:, Branntwein:, Salz: Steuer) v. Aufſeß. 


Steuerpfliht. Die überaus langjame Entwidelung der Idee einer all: 
gemeinen, gleihen ©. in Deutjchland hat ihren Grund nicht nur in nationalen 
Eigenthümlichkeiten,, jondern in allgemeinen gejellichaftlichen Verhältniſſen. Wenn 
Tacitus als Eigenthümtlichkeit der Germanen bemerkt, daß fie ihren Obrigfeiten nur frei— 


Steuerpflicht. 787 


willige Geichente darbringen, jo beruht dies darauf, daß die damaligen Germanen 
fih noch auf der erjten Stufe der Anfiedelung befanden, während die antite Welt 
durch die rajche Entialtung ihres jtädtifchen Lebens frühzeitig in ein geregeltes Steuer- 
fyitem übergegangen war. Den erobernden Horden, wo fie in einem fejten Landgebiet 
Fuß faßten, kam es weniger auf Landbeſitz an, ala auf den Dienjt menſch— 
licher Kräfte, um den Boden nutzbar zu machen. Der Entwidelung des Privat: 
eigenthums am Boden geht daher voran die Entwidelung eines Herrichaftsverhältnifjes 
über die Bebauer des Bodens. Dienfte und Naturalabgaben bilden den eigentlichen 
Anhalt der Herrichait; an alle Abgaben knüpft fich daher die Idee einer per— 
ſönlichen Unfreiheit, welche das Germanifche Leben in einer länger als taujend- 
jährigen Gejchichte nur langjam überwunden hat. 

Die Karolingiſche Monarchie, auf deren Grundlage die mitteleuropätfche 
Melt erwachſen ift, hat daher feine geordnete Steuerverfafjung. Der „Fiskus“ ift 
bei den Franken nicht Staatsvermögen, jondern Vermögen des Königs. Die könig— 
lichen Einkünfte beruhen auf den großen, aus Groberung und Konfisfation ent= 
ftandenen Domänen, auf den Bußen der Friedensbrüche, den Bannbußen, den bei: 
behaltenen Grunde und Kopfſteuern der Romaniſchen Unterthanen, den Tributen 
unterworfener Völkerſchaften. Das Karolingiſche Finanzweſen gleicht dem Haushalt 
eines großen Gutsheren, in welchem die Unterhaltung des Königs und feines großen 
Hofftaates die Hauptausgabe bildete, während die Kriegsrüſtung, der Gerichtsdienit 
und die fonjtigen Ausgaben des heutigen Staates fich ala perjönliche Leiftungen 
unter die freien Unterthanen vertheilten. Dieje ökonomische Geftaltung des Staats— 
weſens mußte Schritt für Schritt. in das Lehnsweſen überführen. Jedes Heer— 
führeramt und jedes Richteramt bedingte anjehnliche Bermögensverwendungen von 
Seiten jeines Träger, welche weder durch die Heeres oder Gerichtspflicht der 
Unterthanen gededt waren, noch durch Zahlungen des „Fiskus“ gededt werben 
fonnten. Das Amt bedurfte deshalb einer dauernden Ausjtattung mit einem nuß- 
baren Beſitz, der naturgemäß von Vater auf Sohn übergehend, die Amtsftellung zu 
einer exblichen macht und aus den höheren Aemtern der Karolingifchen Zeit nach 
etwa ſechs Menfchenaltern den Stand der Dynajten, den „hohen Adel“ Deutichlands 
gebildet hat. Das Karolingiiche Amt, verbunden mit der Tragung der anjehnlichen 
Koſten für Heerbann, Gericht und Friedensbewahrung, hat dann ebenfo die Herren— 
ftellung der Biſchöfe und Aebte, und etwas jpäter auch die Stellung der regierenden 
Körperjchaften in den Reichsſtädten erzeugt. 

Liegt in dem Lehnsweſen einerjeit3 eine DVermengung des reinen Amtscharakters 
der SKtarolingifchen duces, missi, comites, centenarii mit Verhältniſſen des Privat: 
eigentgums, jo liegt darin andererjeit3 eine Veredelung der Verhältnifie 
von Herrſchaft und Dienst, welche dies Mijchverhältnig von Privat und 
öffentlichem Recht zu einer nothwendigen Uebergangsſtufe gemacht hat. Die auf 
der perjönlichen Verpflichtung zum Kriegsdienſt beruhende Abhängigkeit gewinnt ein 
Bewußtjein gemeinfamer friegeriicher Ehre, gegenfeitiger True, gegen— 
feitiger Verpflichtungen, welches nunmehr mit der Würde des freien Mannes 
vereinbar gilt. Und eben damit vereinbar erjcheint nun auch ein Syitem feudaler 
Abgaben: Abgaben bei Aenderungen in der herrichenden oder dienenden Hand, zur 
Auslöfung aus der Gefangenschaft und in gewiſſen Ehrenfällen, — ein Syitem, aus 
deſſen Erweiterung und Berallgemeinerung in England die jpäteren parlamentarifchen 
Subfidienbewilligungen hervorgegangen find, während in Deutjchland das feudale 
Abgabenſyſtem innerhalb des Lehnsnexus ſtehen bleibt und mit diefem allmählich 
abgeftorben ift. Das Kaiſerthum aber iſt damit feiner Regierungsrechte, die zu 
eigemen Rechten der Stände geworden, immer weiter entkleidet. In Wechjelwirkung 
damit ift das Reichsgut durch Verleihungen immer weiter gejchmälert und während 
des Interregnums nahezu ganz verloren gegangen, ohne daß das Kaiſerthum einen 
Griat für feine verichwimdene Finanzkraft zu finden vermochte. 

50 * 


* 





788 Steuerpflicht. 


Glüdlicher war inzwifchen die Kirche in der Schöpfung eines Steuerjyitems 
geweien. Der jtärfite Beweis für die Macht der kirchlichen Staatäidee im Mittel: 
alter ift ficherlich die Durchjegung ihres Anfpruchs auf den Kirchenzehnten. Tie 
Idee einer Unfreiheit heftete fich nicht mehr an Abgaben und Dienftleiftungen, welde 
Gott, einem Heiligen oder feinem Stellvertreter auf Erden geleiitet wurden. Gö 
bereitete fih damit die jpätere Idee vor, daß Abgaben und Steuern an bie ideale 
Perſon des „Staates“ feine Beeinträchtigung der perfönlichen Freiheit und Ehre 
enthalten. Eine erite gewiffermaßen verſuchsweiſe Ausführung fand dieſe Idee zur 
Zeit der Kreuzzüge, in Verlauf welcher auf Anmahnung der Kirche wiederholt fteuer- 
artige Yeiftungen zur Augrüftung der Kreuziahrer aufgebracht worden find, — Ans 
läufe, die indeffen mit den Kreuzzügen wieder verichwunden find. 

Grit im 15. Jahrhundert beginnen die Anfänge der Deutſchen Reichs— 
fteuern mit den Huffitenkriegen. Es ift noch einmal die Noth der chriit- 
lichen Kirche, welche die Reichsftände bewogen hat, den „gemeinen Piennig“ zu 
bewilligen, als eine Vermögens, Einkommen- und SKopfjteuer, welche um 1421 
zum eriten Mal aufgebracht wurde. Noch war die Idee des Kaiſerthums ſoweit 
lebendig, daß dieſer Nothforderung gegenüber regierende Stände und Unterthanen 
fich gleichmäßig zu fteuerartigen Leiſtungen verpflichteten. Trreilich trug die Art der 
Steuervertheilung das Gepräge roheiter, primitiver Verjuche. Der gemeine Piennig 
wurde jtet3 widermillig geleiftet, blieb weit Hinter den Anfchlägen zurüd, und bei 
jeder Wiederholung ſchien diefer Widerwille zu wachen. Die Hlaffe der mittel» 
alterlichen Herren war nun einmal durch Verdinglichung der Karolingiſchen Aemter 
zu erblichen „Oberkeiten“ geworden, die nicht mehr im Gericht neben den gemeinen 
Yeuten zu Necht ftehen, noch weniger aber Schulter an Schulter mit ihren Unter: 
thanen Abgaben an einen höheren Herrn zahlen wollten. Gben deshalb ichite 
dem Kaiſer auch jedes geeignete Organ zur Abichägung und Gintreibung von Ein- 
fommenjteuern in der Bevölkerung des Neichd. An dem MWiderftand des Reich 
adeld und der Reichsritterſchaft jcheitert nochmal® auch diefer Anlauf zur Gin 
führung einer allgemeinen perfönlichen Steuerpflicht. Der gemeine Piennig Hört im 
16. Jahrhundert wiederum auf. 

Un die Stelle tritt nunmehr die Steuererhbebung nah Römer: 
monaten als eine der jtändifchen Ordnung entiprechende Steuervertheilung 
nach „Land und Leuten“. Nach derfelben Analogie werden jeit 1548 auch die 
ordentlichen Beiträge zur Erhaltung des Reichsfammergerichts (die Kammerzieler) 
erhoben. Dieſe Steuererhebung richtet ſich nicht unmittelbar an die Unterthanen, 
fondern an die ftändifchen Körper, deren Gefammtheit fich in Kaiſer und Reich 
daritellt. Sie werden bewilligt von den regierenden „Ständen“ und von dieſen 
aufgebracht „nach Herfommen“. Dies Herfommen verpflichtete freilich den Landes— 
herren zur Bejtreitung zunächit aus jeinen Kammergütern, Regalien und Gefällen. 
Da diefe aber in der Mehrzahl der Gebiete fchon für die Landesausgaben nicht 
mehr ausreichten, die Leitung für das Neich aber doch beichafft werden mußte, io 
ergab fich daraus folgerichtig eine Heranziehung der Unterthanen fo, „daß eine jede 
Obrigkeit alle ihre Unterthbanen, die fie vermöge der Rechte und alten befiß- 
lichen Herkommens zu beiteuern und zu belegen hat, durch eine Steuer oder Anlage 
einlegen und einziehen möchte.“ Das in dem R.A. von 1543 8 24 in diefer Weiſe 
formulirte „ius collectandi* wurde fortan als ein in der Landeshoheit 
liegendes Recht zur Besteuerung der Unterthanen für alle von Reichs— 
wegen nothwendigen Ausgaben angejehen. Den Unterthanen wird dagegen nur in 
jehr allgemeinen Ausdrüden ein Recht der Beichwerde an Kaifer und Reich beigelegt 
wider ungebührliche oder unverhältnigmäßige Anforderungen, worüber dann das 
Reichsfammergericht, bzw. die Reichsſtände im Beſchwerdewege zu enticheiden hatten. 
Die Idee der Unfreiheit verband fich aber allerdings nicht mehr mit Steuerforberungen, 
die unter Autorität des Neiches mit Zuſtimmung der Reichsſtände beichlofien waren. 








Mit der Franzöſiſchen Revolution it die Unnatur der ftändifchen 
Privilegien zum gewaltiamen Bruch gelangt, nach welchem ebenjo die Natur der 
Staatöpflichten wie die Freiheit des Befiges und Erwerbes in der Privatwirthichait 
in normale Verhältniffe zurüdtreten. Was den ſtändiſchen Vorurtheilen der Zeit 
als ein gewaltfamer Bruch menschlicher und göttlicher Ordnungen erichien, war doch 
der Sache nach nur Serftellung normaler Grundjäge in Staat und Gefellichaft, 
welche durch die reichd- und landſtändiſche Gefeßgebung zu Gunften der mächtigen 
Klaffen verichoben worden waren. Xießen fich die Hochgefteigerten Bedürfnifie des 
Neiches, der Staaten und der Kommunen nicht mehr durch ein Domanium und 
durch Regalien beftreiten, jo mußten fie beftritten werden durch verhältniß- 
mäßige Beiträge von dem Eigentum und Erwerb der Privatwirthichaft. Die 
Franzöſiſche Revolution ftellt demgemäß den normalen Bedarf des Staats auf eine 
direfte Beſteuerung des Befißes, und zwar (in Nachwirkung der phyfiofratiichen 
Theorien) zunächit des Grund befiges. Bei der Ausführung ergab fich alabald die 
Unmöglichkeit mit bloßen Grundfteuern auszureichen und daher eine Ergänzung durch 
Zölle vom Gejammtverbrauch der Nation, jowie durch Spezialobjeft-, Erwerbs— 
und Verbrauchäfteuern, jedoch unter Vermeidung einer Bejteuerung nach dem Ge— 
jammteinfommen, die nach der Geftaltung des Trranzöfiichen Gemeindelebens unaus— 
rührbar erichien. Unter allem Wechjel der Regierungsiormen bat fich in Frankreich 
das neue Steuerſyſtem als der fonjervativfte Theil der Staatöverfaffung erhalten. 

Die Steuergrundfäße diefer neuen Gejellichaitsordnung find von Frankreich aus 
jchrittweife und fchonend in die Deutihen Zerritorialjtaaten. übergegangen. 
Die Rheinbundsacte ftellt mit großem Nachdrud le droit d’impöt als Theil der 
Souveränetätörechte der Deutjchen Fürften in ihrer neuen Stellung an die Spige. 
Jede Schranke diefes Rechtes aus der älteren ſtändiſchen Reichsverfaffung war jetzt 
bejeitigt. Nicht nur die Auflegung von Zöllen und Spezialfonjumtionsjteuern, 
fondern auch die Auflegung allgemeiner Grund, Vermögens: und Einfommen- 
jteuern galt jet unbeftritten als Theil der neuen Verwaltungsordnung, die in vielen 
Rheinbundjtaaten mit Umficht und Energie durchgeführt wurde. Zunächit war 
man bauptjächlich auf Befeitigung der Befreiungen und Privilegien in den bis 
herigen Steuerverfaffungen bedacht, während man übrigens die Staats- und Kommunal» 
jteuern jchonender behandelte als andere Theile des Verwaltungsrechts. Auch in 
Defterreich wurde, troß der Beibehaltung der ftändifchen Verfaſſungen, eine energiiche 
Ausgleihung der Grundfteuern zu Stande gebracht. Als umfaſſende Aufgabe ſah 
die Preuß. Gefeßgebung jeit dem Edikt vom 27. Oktober 1810 „die Tragung 
der Abgaben nah gleihen Grundjäßen von Jedermann“ als ihre 
Aufgabe an, die dann durch eine Reihe von jpäteren Gefeßen, namentlich durch 
Geſetz vom 30. Mai 1820, insbejondere durch Einführung einer allgemeinen Klafjen- 
und Gewerbejteuer zur Ausrührung kam. Die Grweiterung der Klaffenfteuer zu 
einer gleichmäßigen Einfommenjteuer ift indeffen erſt 1851 erfolgt, die ein volles 
Menichenalter verichobene Ausgleihung der Grund- und Gebäudejteuern erit 1861. 

Der Grundjaß der vollen gleihen Steuerpflicht der Perjonen und 
Sachen ift demnach erft im 19. Jahrhundert zur Geltung gekommen. Gine ernſte 
ftaatliche Auffaffung ftellt in Deutichland den Grundrechten die allgemeinen „itaats- 
bürgerlichen Pflichten” mit gleicher Energie gegenüber, an erfter Stelle die all- 
gemeine Pflicht zum Heerdienſt und zur Steuerzahlung ala Sauptgrundlagen der 
heutigen Repräjentativverfaffung. 

Hand in Hand mit diefer Auffaffung geht die fortichreitende Einficht, daß auch 
das Gemeindefteueriyftem fich nicht mehr aus den Theilnahmrechten an der 
Korporation oder aus einer nüßlichen Verwendung für die einzelnen Mitglieder der 
Gemeinde, genügend ableiten läßt, daß vielmehr die Armenpflege, die Schul=, Wege- 
und andere Zaften der Kommunen allgemein jtaatliche Verpflichtungen daritellen, 
bie nur aus Gründen des DVerwaltungsorganismus dezentralifirt find. Es ergiebt 





Steuervergehen — Steuerverwaltung. 791 


ſich daraus folgerichtig die Nothwendigkeit allgemein gejeglicher Regelungen auch der 
Kommunaljteuerpflichten in Harmonie mit dem Staatäjteuerfyitem, zu welchem fie 
nun in einem Verhältniß relativer Ergänzung ftehen, ebenjo wie die den Kommunen 
auferlegten öffentlichen Laften zu den allgemeinen Pflichten des Staats. 

Bei jo gewaltigen, in das volfswirtbichaftliche Leben tief eingreifenden Reformen 
treten erfahrungsmäßig allerdings auch einjeitige Strömungen ein. Die jchwer er- 
rungene Anerkennung einer allgemeinen ©. hat zeitweije eine einjeitige Vorliebe für 
die Einfommenfteuern herbeigeführt, während die vieljeitigen mafjenhaften Bedürf- 
nifje des Staates und der Gemeinden einer gegenjeitigen Ergänzung der Zölle mit 
den inländifchen Subjekt: und Objektbejteuerungen nicht entbehren fünnen. Das an 
diefer Stelle zu fjuchende Gleichgewicht beruht indefjen unabänderlic” auf der An— 
erfennung der ©. ala „allgemeiner Bürgerpflicht“. Vgl. oben den Art. Beiteuerung. 

Lit. des Steuerrechts inäbejondere: G. H. von Jufti, Syitem db. Finanzweſens, 1766. — 
8. H. Rau, Grundfäße der Finanzwiſſenſchaft (neu bearbeitet duch Ad. Wagner). — ®. 
v. Stein, Lehrbuch ber Finanzwiſſenſchaft. — Gneift, Die Preußiiche ar ir ae 

neiſt. 

Steuervergehen bzw. Uebertretungen, ſ. d. Art. Zollvergehen 
und Defraudakion. 


Steuerverwaltung. Die S. iſt ein Theil der Finanzverwaltung und hat 
die Aufgabe, die aus den jog. direkten und indirekten Steuern und Abgaben fließen- 
den Staatsabgaben zu veranlagen, zu erheben und zu verwalten. Je nachdem die 
©. direft auf die Steuerquellen losgeht und fie jelbjt ermittelt, indem fie jämmt- 
liches Vermögen und Ginfommen, jämmtliche Bermögenshauptbejtandtheile und 
Hauptarten des Einkommens nad ihrem Bejtande bei allen Steuerjubjetten in der 
laufenden Steuerperiode aufſucht, bemißt und belaftet, oder je nachdem fie anderer= 
jeitt3 den Vermögens oder Einfommenzftand der Steuerfubjette gar nicht ermittelt, 
fondern die Steuerquelle nur mittelbar (indirekt) in der lebendigen Bewegung des 
Gntjtehens und der Verwendung einzelner Theile des Vermögens und Ginfommens, 
nicht bei dem Steuerträger jelbit, jondern bei einem dritten formellen Steuerjubjefte, 
bei dem Nechtsvorgänger oder Rechtänachiolger des Steuerträgers erfaßt, hat die 
Steuerverwaltung mit der Veranlagung, Erhebung und Verwaltung der direkten 
oder indireften Steuern zu thun. 

Zu der eriten Gattung find zu rechnen die Grund-, Häufer-, Einfommen=, 
Kapitalrenten=, Gewerbejteuer, welche mit Ausnahme der Kapitalrentenjteuer in allen 
Staaten Deutichlands und Oeſterreichs eriftiren. Als indirekte Steuern find anzu— 
jehen die jog. Verbrauchäfteuern für Getränke (Bier-, Branntwein-, Weinjteuer), oder 
für Nahrungs= und Genußmittel (Zuder:, Tabak-, Salz, Mehl: und Schlachtjteuer) 
oder die Gebühren, Zaren und Stempel, welche für Nechtögeichäfte aller Akt, 
Prozeßſachen, Befikveränderungen von Liegenſchaften, für Erbichaiten, für Börſen— 
geichäfte und Spielkarten erhoben werden. 

Je nachdem die Verwaltung und Erhebung von direkten oder indirekten Steuern 
in Frage ſteht, ift der Verwaltungsorganismus, find die Organe der Verwaltung 
in Deutichland verjchieden. 

Die direkten Steuern werden unter der Oberaufficht der Bezirköregierungen in 
den einzelnen Staaten durch bejondere Organe, wie 3. B. in Preußen durch die 
Steuerfaffen, in Bayern durch) die Rentämter veranlagt und erhoben, ebenjo 
zum Theil diejenigen indirekten Steuern, welche nicht zu den Berbrauchaiteuern 
ehören. 
en Ein großer Theil der indireften Abgaben und die Verbrauchäfteuern werden 
durch die Hauptſteuer- oder Hauptzollämter und die denſelben untergeordneten 
Steuer- und Unterjteuerämter, jowie im Grenzbezirke durch die Nebenzollämter ver- 
waltet und erhoben. Als vorgejegte Behörden dieſer Aemter fungiren in Preußen 
die Provinzialiteuerdireftionen, in den übrigen Staaten die Generaldireftionen für 


Pr 





792 Steuerberweigerung. 


Zölle und indirekte Steuern als die Zoll- und Steuerdireftionen, welche dem Tyinany- 
minifterium, ebenjo, wie die Regierungen ala die Organe für die Erhebung der 
direften Steuern, unmittelbar untergeordnet find (j. das Nähere im Artikel Zoll: 
verwaltung). In Preußen werden die Stempel durch die Organe der indirekten 
Steuerverwaltung verwaltet rejp. verfauft, von den Stempelfisfalen der Provinzial: 
jteuerdireftionen aber fontrolirt und bei den betreffenden Behörden geprüft. Die 
Erbſchaftsſteuern werben von bejonderen Erbichaftäiteuerämtern unter der Leitung von 
Stempelfisfalen fejtgejegt und von den Hauptſteuerämtern erhoben und vermehrt. 

In Bayern werden Stempel, Taren, Erbichaftsjteuer und Gebühren von den 
Rentämtern verkauft, bzw. erhoben und verrechnet. Die Wechjelitempel werden in 
ganz Deutichland durch die Poftbehörden verkauft. 

Das gejegliche Recht der Steuerverwaltung zur erefutorijchen Eintreibung der 
Steuern, zur Unterfuchung und Entjcheidung der Unterfuchungen wegen Uebertretungen 
gegen die Steuergefeße ift durch die $$ 5 und 6 des EG. zur StrafPO. für das 
Deutiche Reich vom 1. Febr. 1877 garantirt. Die richterliche Entjcheidung fann 
außerdem vom Angejchuldigten unter gewiſſen Borausjegungen angerufen werden. 
Das Verfahren ift durch SS 459—469 der StrafPD. näher geregelt. 

Bezüglich der Frage, ob und in welcher Höhe eine Steuer zu entrichten jei, 
enticheiden die Beitimmungen der einzelnen Steuergeſetze. Diefe Frage wird aber 
in der Negel von der Verwaltung entjchieden, wie e& in den Geſetzen befonders be: 
ftimmt ift. Bei den direkten Steuern entjcheiden öfters beſonders hierzu bejtimmte 
Kommilitonen. Der Rechtsweg ift in der Regel bei Feſtſtellung der Steuern aus 
geichloffen. 

Schriften: Gaupp, Die Preuß. Stempelgefeßgebung. Kommentar für ben praftiichen 
Gebrauch, Berlin u. Leipzig 1881. — Kletle, Ziteratur über das Finanzweſen des Deutichen 
Reiches, Berlin 1876, enthält eine genaue er aller einjchlägigen Schriften und genaue 


Angabe aller Quellen. — Frhr. dv. Stengel, Das Gebührenwejen des Deutichen Reiches und 
KHönigr. Bayern, Nördlingen 1880. v. Aufjer. 


Steuerverweigerung. Die S. — eine ber bejtrittenjten ragen des fon: 
jtitutionellen Staatsrechts nächſt der Minifterverantwortlichkeit — ſetzt eine Kette 
von Vorfragen voraus, auf deren Verjchiedenheit aller Streit beruht. 

Es gab eine Zeit, in welcher die Germanische Volksanſchauung ſich alle Be 
jteuerung nur ala ein Verhältniß von Herren und Knechten, nicht als ein Recht der 
Obrigkeit gegen den freien Mann zu denfen vermochte. Auch nach den Eroberungen 
hielt der Germane den Gedanken der freiwilligen Gabe (donum) an jeine Häupt— 
linge jet. Auch die Karolingiſchen Berfaffungen, welche jonjt die Grundlage aller 
ftaatsrechtlichen Verhältniffe der Europäifchen Kulturwelt geworden find, enthalten 
noch fein Steuerſyſtem (vgl. d. Art. Steuerpflicht). 

Grit im 15. Jahrhundert entjtehen in der Noth der Huffitenkriege die erften 
Reichsſteuern und ungefähr gleichzeitig damit entwidelt fich ein Syitem der Landes- 
jteuern, welche unter zahlreichen Barianten folgende gemeinfame Grundzüge dar: 
bieten: 

1) Diefe Bewilligungen gelten als außerordentliche, vorübergehende 
Aushülfen (Subfidien), welche womöglich nicht wiederkehren follen; fie find daher 
Gegenitand völlig freier Bewilligung oder Berweigerung. Nur die Beiträge zum 
Reichsfammergericht werden von den Reichsſtänden als dauernde Steuern bewilligt; 
in vielen Territorien entjtehen durch Vertrag oder Herfommen „nothwendige Steuern“, 
und nach dem dreißigjährigen Krieg fommt der Grundjaß zur Geltung, daß im Fall 
die Landjtände die für die laufende Landesverwaltung nothwendigen Beihülfen ver: 
weigern, ihr Konſens durch das Neichsfammergericht „ſupplirt“ werden könne. 

2) Da die bejigenden Klaffen in der jog. Feudalperiode die ordentlichen Laften 
des Heerbanns, des Gerichts und der ?jriedensbewahrung als dauernde Laſten dee 
Grundbeiies übernommen haben und durch „Verdinglichung”“ der KHarolingiichen 


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Steuerbermweigerung. 793 


Aemter zu „permanenten” Obrigfeiten geworden find, jo erfcheint es als ein natür= 
licher Rechtsanipruch, daß zu den neuen außerordentlichen Subfidien die „Unter- 
thbanen“ beitragen jollen. 

3) Obgleich die alte Weije der Stellung des Heeres, der Verwaltung des Ge— 
richtes und der Triedensbewahrung immer unzureichender und unpraktiſcher wird, die 
neuere Weiſe der Aufbringung der bewaffneten Macht, der Gerichtd: und Polizei— 
verwaltung immer erhöhte, bald vervielfältigte Geldleiftungen bedingt, bleiben die 
ftändifchen Vorſtellungen dabei ftehen, daß die regierenden Klaſſen ihre normalen 
Staatälaften bereits tragen, die neuen außerordentlichen Beihülfen alſo von den 
Unterthanen aufzubringen jeien. 

Die Steuerbewilligungen des Adels, der Prälaten und der Stadtobrigfeit führen 
daher in Deutfchland zu einer Häufung der Staatälaften auf die nichtvertretenen 
Stände, in erjter Linie auf dad Bauernthum, in zweiter auf die ſchwach vertretenen 
Städte. Die landesherrlichen Regierungen werden dadurch zu einem Syſtem indi- 
refter Steuern gedrängt, für welche jchon das 18. Jahrhundert eine zuſammenhän— 
gende Steuergejeßgebung entwidelt. Für die direkten Steuern gelangte erſt das 19. 
Jahrhundert zu einer außgleichenden Regelung, welche das Bewußtſein gleicher 
Pflichten, gleicher Rechte und Antereffen zurüdtührt, und damit ein Repräjentativ- 
ſyſtem in verjüngter Geftalt auf dem Boden der Rechtsgleichheit erzeugt (vgl. 
d. Art. Steuerpflicht). Gleichzeitig kehrt der Anspruch der Geſellſchaft auf die 
Mitbeichließung der Geſetze und die „unverjährbaren” Tyreiheitsrechte für Perfon und 
Vermögen zurüd. 

Diefe Neubildung konnte ihr Vorbild nicht in der altſtändiſchen Gefellichait 
und ihren Sonderrechten finden. Sie fand in Europa nur ein entwideltes Vorbild 
in England, wo die Normannijche Eroberung zu einer gleichmäßigen Vertheilung der 
Staatslajten geführt und aus der gleichen Steuerlaft das gleiche Steuerintereffe, aus 
dem Steuerinterefje die Parlamentsverfaffung des 14. Jahrhunderts gebildet Hatte. 
In der Sturm- und Drangperiode der Franzöſiſchen Revolution ergriff die 
Gejellichaft aus diefem Staatsweſen den ihr leicht verftändlichen Gedanken, 

daß alle Ginnahmen und alle Ausgaben des Staateövon fahr 

zu Jahr von einer gewählten Bolfävertretung frei zu bewil— 

ligen oder zu derjagen jeien. 

Es iſt einleuchtend, daß durch dies Recht die Volksvertretung in ihrer augenblid= 
lichen Geftalt unmittelbar Herrin der Staatögewalt wird, welche Heute in jedem 
Drgan und jeder Bewegung auf Geldmittel angewiefen ift. Es ift dies in dem 
Make einleuchtend, daß eine der eigenen Staatäthätigfeit entfremdete Gejellichaft 
naturgemäß dieſen Gedanken zuerſt in fich aufnimmt. Der theoretifirende Politiker 
jah alle übrigen Elemente der Parlamentsverfaffung daneben ala ſekundär an. Auch 
in Deutichland galt länger als ein Menjchenalter jener Sat ala das Grund— 
prinzip der Eonjtitutionellen Berfaffung, ala die notorifche Eſſenz der „Lonftitutio- 
nellen“ Regierung. Das Unrichtige in jenem angeblichen Prinzip ift feine behauptete 
Allgemeinheit. Ein Bewilligungsrecht für alle Einnahmen und Ausgaben des 
Staats hat in jener Parlamentöveriaffung (ebenfo wie in der Deutichen Reichd- und 
Landesverfaffung) niemals beitanden, jondern nur ein Recht der Bewilligung neuer 
Einnahmen und der Zuftimmung zu neuen Ausgaben, welches auch noch heute 
nur den beweglichen Theil des Staatshaushaltes umfaßt. 

Die im 14. Jahrhundert entwidelte Steuerbewilligung der Parlamente bezog 
ſich nur auf die „extraordinary revenue“. Die laufenden Ausgaben der Staats- 
regierung waren noch gededt durch eine erbliche Revenue der Krone, ergänzt durch 
gewifje, dem König auf Lebenszeit bewilligte Zölle. Die „Subfidien” des Parla- 
ments dienten nur zur Dedung don Kriegskoſten und außerordentlichen Bedürfniffen, 
welche nur jelten von Jahr zu Yahr, in ruhiger Zeit erit nach langen Zwiſchen— 
räumen, auftraten. Es gab noch feine Parlamentsfontrole der Ausgaben, noch fein 


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794 Steuerverweigerung. 


parlamentarisches Budget. Die Verwendung der Staatägelder blieb auch nach dem 
Bürgerkrieg lediglich Sache der Staatsverwaltung. Erſt die Mißbräuche diefer Ber: 
waltung führen gegen Gnde des 17. Jahrhunderts zu den ſog. „Appropriations- 
klauſeln“, durch welche das Parlament die Verwendung der von ihm bewilligten 
Gelder zu bejchränfen und zu fontroliren beginnt. Es entwidelt fi) daraus eine 
zuſammenhängende Berathung zwiichen der Staatöregierung und dem Parlament, 
zuerst über die Staatsausgaben, dann über die Dedungsmittel, welche ſich im 18. 
Jahrhundert zu dem Begriff des „Budget“ geitaltet. Auch dies neuere Budgetrecht 
nimmt 1) für die Staatsausdgaben feinen Ausgang nur von den neuen Aus 
gaben. Freilich traten die neuen Ausgaben jofort mafjenhaft ein, da man die Koften 
des Heeres und der Marine nach Vertreibung der Stuarts dem erblichen Kron— 
einfommen abnahm und auf die vom Parlament bewilligten Subfidien übertrug. 
Die Staatsbedürfniffe wuchfen dann fortichreitend in dem Maße, daß das Ausgabe- 
bewilligungsrecht in der Ihat die Hauptmafje der Ausgaben umfaßte. Aus Gründen 
des Staatöfredits und der Rechtsordnung entjchloß ſich indefjen das Parlament doch 
wieder, bedeutende neue Ausgaben — die Zinjen der Staatsjchuld, die Richter: 
gehalte, gewiffe Dotationen und Penfionen — auf den Staatsihag (konſolidirten 
Fond) anzumweilen, Im Kaufe des 19. Jahrhunderts beichränft fich danach die 
Ausgabebewilligung auf etwas mehr ala die Hälfte der Staatsausgaben. 
Das Parlament nimmt dabei den Grundſatz an, die Jmitiative für jede neue 
Ausgabe ausichließlich der Staatsregierung zu überlaffen. Länger ala ein Jahr: 
hundert erfolgte die Bewilligung auch unter nur wenigen allgemeinen Ru: 
brifen, welche der Verwaltung den breitejten Spielraum zu Uebertragungen ließen. 
Grit unter der gegenwärtigen Regierung hat eine Spezialijirung des Ausgabe- 
etats in beinahe 200 votes (Titel) begonnen, welche aber hauptjächlich die außer: 
ordentlichen Ausgaben betrifft, während die laufenden Hauptbedürfnifje der Militär: 
und Givilverwaltung noch immer in wenigen großen Poſten zufammengefaßt werden. 
Die Machtjtellung des Parlaments war durch jo viele andere Kompetenzen ge 
fichert, daß fie von dDiejer Seite aus nicht gefucht wurde. In der langen Reihe 
der Budgetverhandlungen iſt eine Hergebrachte Berwaltungsausgabe oder das Gehalt 
eines permanenten Amts noch niemals verjagt worden. — 2) Bon der Seite der 
Ginnahmen aus bezieht fich das Budgetreht nur auf die neu bemilligten 
Ginnahmen. Auch im Laufe der Englifchen Revolutionen ijt niemals der Antrag 
erhoben worden, eine „dauernde Einnahme der Krone“ zum Gegenjtand einer Jahres— 
bewilligung zu machen. Das wachiende Staatsbedürfniß führte freilich von Jahre 
zehnt zu Jahrzehnt, nicht jelten von Jahr zu Jahr, zu der Nothwendigfeit neuer 
Bewilligungen, und machte damit einen großen Theil der Staatseinnahmen zum 
Gegenitand freier Bewilligung oder Verjagung. Aus Gründen der Rechtsordnung und 
der Staatswirthichaft entichloß fich aber das Parlament nunmehr, die dazu geeigneten 
Ginnahmen durch dauernde Gejege zu firiren, jo daß bis zum Schluß des 18. Jahr: 
hunderts alle älteren Steuern in den Gang der Gefeßgebung gebracht, ihre 
Erträge auf den Staatsfchat angewiejen und damit von der Parlamentsbewilligung 
unabhängig geitellt find. Grit durch Neubewilligung entitand in immer verjüngter 
Gejtalt wieder ein beweglicher Theil des Staatseinfommens, welchen das Par: 
lament frei bewilligt oder verſagt. Gr beichränft jich jet auf die (ergänzende) 
Einkommenſtener und auf einige Artikel des Zolltarits, in manchen Jahren nur auf 
einen einzigen Artikel des legteren, im Ganzen etwa oder !/, der Staatseinnahmen. 

Wenn bei diejer neueren Behandlung der Staatsausgaben und Einnahmen von 
dem Recht einer „allgemeinen ©." gejprochen wurde, jo beruht dies auf einer 
Berwechjelung der mittelalterlichen Bewilligung außerordentlicher Subfidien mit 
dem davon verichiedenen Verhältm einer Beritändigung über die Staat®- 
ausgaben, die ein völlig neues Verhältniß darftellt. Die Errüllung der ver— 
iafjungs= und geießmäßigen Pflichten des Staates, die Aufrechterhaltung und Fort- 


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Steuerverweigerung. 795 


führung feiner geſetzlichen Jnjtitutionen ift die oberjte Pflicht der Diener der Krone. 
Die Vertheilung und Verwendung der Staatägelder dafür it Mittel zum Zweck, 
Sache der Ausführung, d. 5. der Verwaltung, die in England altherfömmlich durch 
königliche Ordres an das Schakamt geregelt wurde (mie noch Heute). Zur über- 
fichtlichen Ordnung diejer Geldverwendungen pflegte jeit den Zeiten der Tudors der 
Schaßfanzler häufig ein Etatsentwurf vorzulegen, der vom König durch eine General= 
ordre genehmigt wurde. Im 18. Jahrhundert erit wird es üblich, daß die Minijter 
vor Erlaß dieſer Generalordre fic) mit dem Parlament verjtändigen und dejjen Zus 
jtimmung einholen. Cine Zeit lang berricht dabei noch eine wechjelnde Praxis, jo 
daß in einzelnen Jahren jene Verſtändigung unterbleibt. Erſt in der zweiten Hälfte 
des 18. Jahrhunderts ift aus der gewöhnlichen Praris eine feſte Regel geworden. 
Unverändert dagegen ift das rechtliche Verhältniß geblieben, einer Ausführungs— 
norm für die Minijterverwaltung. Wie im Fall des Widerfpruches die Verordnung 
dem Geſetz, die Ausführungsnorm dem organischen Geſetz nachſteht, jo gilt dies auch 
im Fall des Widerjpruchs zwiichen dem Geldbeichluß und dem Gejeh. Hätte das 
Parlament je einmal Richtergehalte, Zinjen der Staatsfchulden, Gehalte der Ge— 
jandten und andere gejeßlich feititehende Ausgaben verweigert: jo würde eine Mi— 
niſteranklage nicht wegen der Yeijtung, jondern wegen der Unterlajjung folcher 
Ausgaben zu erheben geweſen jein! Die Autoritäten des Engliſchen Staatsrechte, 
namentlih Hatſell's Precedents erörtern daher dieje Frage überhaupt nicht 
diret, weil ihre Entjcheidung ſich aus den Grundfäßen von 
Geje und Ausführungsnorm jelbjtverjtändlich ergiebt. Die Ber- 
weigerung des gejammten Yahresbudgets würde deshalb rechtlich ein actus inanis 
fein, den ein Engliſches Parlament niemals verjucht oder auch nur ernftlich an— 
gedroht hat. 

Es ift erflärlich, wie diefe Marimen einer Eonfolidirten Staats und Gejell- 
ichaftsordnnung in der Franzöſiſchen Sturm- und Drangperiode nicht unbefangen 
gewürdigt werden fonnten. Auch bei dem Dynajtiewechjel von 1814 und 1830 
behielt fich die Gejellichaft eine Neubewilligung aller Staatseinnahmen an die 
neueingejeßte Regierung vor. Denjelben Verlauf nahm das Budgetrecht bei Ein- 
jegung der neuen Dynajtie in Belgien. Gbenjo wußte diefe Richtung nicht Leicht 
ein Maß zu finden in der Spezialifirung der Ausgabetitel; jedes Mehr darin galt 
als eine noch korrektere „tonjtitutionelle Marime“. Die Verfagung der Geldbewil- 
ligung für geſetzlich beftehende Einrichtungen ift jedoch auch in frankreich kaum 
jemals vorgefommen. (Vgl. die Nachweifungen in Gneift, Gejeß und Budget.) 

Auch Deutichland wird ſich von jener angeblich konftitutionellen Tradition 
losmachen, je mehr unjere parlamentariichen Verſammlungen nach praftiicher Er— 
fahrung ihre Bedeutung unbefangener würdigen. Es war entjchuldbar, wenn die 
berrichende Meinung in den Stimmungen von 1848 es als einen ſelbſtverſtänd— 
lichen Anjpruch der „gemäßigt fonjtitutionellen“ Partei anjah, daß die Krone die 
althergebrachten Einkünfte der Domänen, Forſten und Regalien, fämmtliche Erträge 
der geiegmäßigen indirekten und direkten Steuern fi fortan von Jahr zu Jahr 
„bewilligen”“ laſſen müſſe. In Preußen vermochte die octroyirte Verfafjung vom 
Dezember 1848 dagegen nur die Rejervation durchzujeßen, daß (bis zum Grlaß 
einer revidirten VBerfafjung) die beitehenden Steuern jorterhoben werden. Bei 
Revifion der Verfaffung änderte jich der Sinn dieſes Vorbehalts durch veränderte 
Stellung dahin, daß das gejegliche Steuerrecht bis zur Aenderung durch Geſetze 
fortdauern jol. Das Nechtöbewußtjein der Nation wird fich in dem neuen Deutichen 
Staat wol flarer darüber werden, daß die Deutiche VBerfaffung nicht auf dem 
Boden der gejellichaftlichen Revolution und des Dynajtiewechjels jteht, um dem Staat 
die Zumuthung einer jährlichen Bewilligung jeiner gejegmäßigen Einnahmen zu 
machen, — ein Anjpruch, welchen die Engländer auch nach zwei Revolutionen nicht 
erhoben haben. Die in furzen Zwiichenräumen unabänderlich wiederkehrende Noth- 





796 Stiheoupon — Stiftmäßig. 


wendigfeit neuer Steuerregulirungen und Anleihen fichert auch von dieſer Seite aus 
den Volfövertretungen ihre rechtmäßige Machtitellung, ohne durch ein Togenannte 
„Budgetrecht“ die gefegliche Ordnung des Rechtsſtaats fortwährend in Frage zu itellen. 

Tür die Seite der Ausgaben freilich beiteht das Bewilligungsrecht in den 
meiften Deutichen Berfaffungen nad dem Buchitaben ziemlich unbeſchränkt. Die 
Mäßigung der Kammern bei Streichung herfömmlicher Poften ift aber um jo 
mehr motivirt, ala die fonftitutionelle VBerfaffung einen geordneten Staatshaushalt 
in Deutichland nicht erft geichaffen, fondern vorgefunden hat, ala Schöpfung der 
Monarchie. Auch in dem heftigſten Verfaffungstonflitt haben fich die Preußiichen 
Kammern darauf bejchräntt, neue Ausgaben für gefeglich nicht fundirte neue Eins 
richtungen zu ftreichen. Eine Verweigerung geſetzlich nothwendiger, oder für bie 
Aufrechthaltung der beftehenden Staatseinrichtungen thatlächlich nothwendiger Aus— 
gaben wäre dagegen ein Mißbrauch der Gemwalten, der nur diejelben Folgen haben 
fann, wie der Mißbrauch der monarchifchen Gewalt. Cine „Verweigerung des ge 
jammten Budgets* läßt ſich in ihrem Sinn oder Nichtfinn nur vergleichen dem 
Verſuch einer „Arbeitseinftellung“ der gefammten Staatsregierung. 

Dad Refultat diefer Gefichtspunfte ift eine unbedingt freie Bewilligung 
oder Verjagung der neuen Ginnahmen und der neuen Ausgaben des Staats, — 
dagegen eine rechtliche Unwirkſamkeit einer Verſagung von gejeglich oder zur Auf: 
rechterhaltung beitehender Staatseinrichtungen nothwendigen Ausgaben. Das da— 
jwijchenliegende Gebiet fällt dem Gefichtspunft politifcher Erwägung und Verein— 
barıng zu. Die Ueberſchätzung der Steuerbewilligung ala Mittel der Erfämpfung 
politischer Freiheitsrechte beruht auf der Auffaffung des Staats ala eines Mecha- 
niamus, während die politiiche Freiheit auf einer dauernden Arbeit der Selbit- 
verwaltung und der Gejeßgebung beruht. Die bequeme Weiſe einer „Eonjtitutio- 
nellen“ Regierung, welche von Jahr zu Jahr von der zweiten Kammer eine Voll 
macht zu ihrer Forterifteny zu erbitten hätte, macht die Minifter nicht zum Mittel: 
punkt einer jtetigen organischen Gefjeßgebung und einer Regierung nach Gejegen, 
fondern macht fie zu Dienern der beherrichenden Geſellſchaft mit den ungemeffenen 
Sewalten einer centralifirten Adminiftration. Alle Verfaffungen mit einem folchen 
Artikel — daher den Keim der Auflöſung in na 

git.: Eine MHeberfiht über die beftehenden Budget:Berhältnifie der Grohftaaten giebt 
v. Czoernig, a von Großbritannien, antik Preußen, Defterreih, Wien 1869. — 
rg über die obige frage: Gneift, Budget und Geſetz, Berl. 1867. — Laband, 
Das Budgetrecht, Berlin 1871. — Gneift, Geleh und Bubget, 1879. Gneift. 


Stichcoupon, j. Talon. 


Gtiftmäßig. In der Zeit des alten Deutfchen Reiches dienten die Kanonikate 
der reichöfreien Hochitifter thatfächlich zur Berforgung der jüngeren Söhne des 
Adels Deutfcher Nation. Insbeſondere waren die Rheinifchen und Fränkischen Dom- 
jtifter vorzugsweife mit Mitgliedern reichgritterichaftlicher Familien beſetzt. Bei 
eintretenden Vakanzen pflegten die Kapitel nur Standesgenoffen der Majorität zu 
fooptiren. Schließlich bildete fich in diefer Beziehung ein bejtimmtes Herfommen aus, 
welches die Stifter nicht jelten mit Erfolg geltend machten, um das Einichieben 
päpftlicher Kreaturen ausländifcher Herkunft zu verhindern. Einige Hochitifter haben 
für das ausfchließliche Recht des alten Adels jogar päpftliche Privilegien zu er— 
werben gewußt. Die Zahl der adeligen Ahnen, welche der Aufzunehmende nach— 
weifen mußte, ſchwankte in den einzelnen Stiftern von vier bis zweiundreißig. Nicht 
jelten verlangte man jechzehn Ahnen. Das Eriorderniß der Ahnenprobe ift, ſoweit 
es früher an den Deutjchen Hochitiftern und einzelnen Kollegiatitiftern gegolten hat, 
bejeitigt worden, für Preußen durch päpftliche Bulle vom 16. Juni 1821, für 
Bayern durch Art. 10 des Bayrifchen Konkordats. 

Nichtödejtomweniger hat die S.feit oder Stiftsfähigkeit nicht alle und jede praf- 
tiiche Bedeutung verloren. In Erbeinigungen und Fideilommißjtatuten, welche der— 








Stiftungen. 797 


zeit noch in Kraft find, wurde nämlich nicht jelten das Erforderniß einer ebenbürtigen 
Ehr durch die Zugehörigkeit zu einer ftiitmäßigen Familie beftimmt und die 
Abfammung aus folcher Ehe zur Bedingung der Nachfolge in das Fideikommiß 
oder Stammgut gemacht. Beijpiele bei v. Kamp, Jahrbücher für Preuß. Gejet- 
gebuny XXXXVII. ©. 221, 281, 237. Soweit die S.keit noch in Frage fommt, iſt 
für Diep(pe der Nachweis alten Adels (mindeftens 4 Ahnen) oder die Abjtammung aus 
einem fiftmäßigen jtädtiichen Patriziergejchlecht erforderlih. Der Unterjchied, von 
reiheiem und landjäffigem Adel kommt bei der Ahnenprobe nicht in Betracht. 

ramer, pag. 246 ss.: nec minor umquam fuit nobilium mediatorum quam 
immediatorum existimatio in ludis equestribus, ordinibus militaribus et collegiis 
canonicorum cathedralibus, quae aeque ac alii nobilitatis 
avitae honores landsassiis equitibus hodie etiam patent. Aller— 
dings fuchten die Kapitel einzelner Stifter die Stiftsfähigkeit möglichjt einzufchränten, 
indem fie reichsritterjchaftlichen Adel oder gar die Zugehörigkeit zur Reichsritterjchaft 
eines bejtimmten Ritterkreiſes verlangten. Allein diefe beabfichtigten Beſchränkungen 
find nicht Rechtens geworden. Nachdem jchon Art. V, 8 17 des MWeitfälifchen 
Friedens beftimmt Hatte, es folle dafür geforgt werden, daß Adelige, Patrizier, 
Graduirte und andere taugliche Perjonen, ubi id fundationibus non adversatur, 
nicht ausgejchloffen werden, erging am 25. Juni 1737 eine Gntjcheidung des 
Reichshofrathes gegen das Kapitel des Erzſtiftes Mainz, welches fich geweigert hatte 
mehrere Adelige aufzunehmen, weil fie ihre Abjtammung vom reichgunmittelbaren 
Adel in Schwaben, Franken und am Rhein nicht nachweijen fonnten. Dieſes Er— 
fenntniß Spricht aus, daß das behauptete Herfommen unerweislicy und jedenfalls 
af ungegründet ei. „Seine Kaijerl. Majeftät könne auch nicht zugeben, daß durch 
dergleichen vermeintliche Objervantien oder Statuten der objchon mediate, doch uralte 
und rittermäßige Deutiche Adel wegen der etwa ermangelnden Reichsimmediatät von 
ein und anderen Erz: und Etiftern gänzlich ausgeichloffen und allerhand Verbitte— 
rungen im Röm. Teutſchen Reiche angerichtet würden” (Kerner, III. p. 196 ff.). 
Demgemäß kann der Nachweis reichgritterlicher Ahnen nicht ala Vorausſetzung ſtift— 
mäßiger Herkunft gelten, joweit diefer Begriff in ragen des Ehe- und Erbrechts 
adeliger Familien heute noch praftifche Bedeutung hat. Mit dem Erforderniß der 
jtiitmäßigen Ehe it übrigens das Eriorderniß der blos ftandesmäßigen Ehe nicht 
zu verwechieln. 

Zit.: Cramer, De iuribus et praerogativis nobilitatis avitae, 1739. — J. G. ferner, 
Staatäredht der unmittelbaren freyen Reicharitterichaft in Schwaben, Tranten und am Rhein, 
1789. — Pfeiffer, Verſuch eined ausführlichen Privatrecht3 be? teutichen Reichsadels, 
1787. — 3. 3. Mojer, Teutſches Reichsſtaatsrecht, XIX. $ 131. — Zelgmann, Von ber 
Ahnenzahl. — Runde, Grundjäße bes gem. Deutihen Privatredhts, $ 402. — Eichhorn, 
Einleitung in dad Deutiche Privatrecht, S 65. Heinrih Brunner. 





Stiftungen, milde (pia corpora, piae causae), d. 5. Vermögensmajlen, 
welche zu einem frommen oder wohlthätigen (urfprünglich mit den Aufgaben der 
Kirche im Zufammenhange ftehenden) Zweck bejtimmt find. Sowol nad) Röm,, 
wie nach Han. Recht konnten dergleichen S. unabhängig von der Kirche nicht zu 
Stande fommen. Wurde das betreffende Vermögen nicht gerade einem beitimmten 
Gotteshaufe oder Klofter zu Eigenthum unter Auferlegung des betreffenden Modus 
überwiejen, jondern jelbftändig dem vorgefchriebenen Zwed unter Errichtung einer 
bejonderen Anftalt, 3. B. eines Kranken-, Armen ıc. Haufes gewidmet, jo hatte 
doch der Biſchof entweder die NAdminiftration oder, wenn der Stifter andere Ber: 
walter ernannt hatte, unter allen Umftänden die Aufficht über die Geſchäftsführung 
der leßteren. Wegen diefes Zufammenhanges mit der Kirche galten die den ©. 
gehörigen einzelnen Vermögensſtücke als Kirchengut und genofjen auch die Privilegien 
des leßteren, Seit dem 16. Jahrh. und namentlich, jeitdem der Staat die Erfüllung 
einer Reihe von Aufgaben auf fich genommen Hat, welche früher allein von der 


798 Stödhardt. 


Kirche in das Auge gefaßt wurden, bat fich auch jener Zufammenhang der ſog. 
frommen ©. mit der Kirche gelöft, und ſeitdem hat der Rechtsſatz Anerkennung 
gefunden, daB es Jedem freifteht, ©. zu religiöfen und Wohlthätigfeitszweden zu 
errichten, auch ohne daß irgend welche Betheiligung der Kirche bei der Berwartung 
oder jonft nöthig wäre. Die moderne Stiftung bedari alfo feiner von der Kirche 
abgeleiteten Perfönlichkeit mehr, um rechtlich zu eriftiren. . Da aber ganz dafielbe 
für andere ©., welche nicht zu den corpora pia im NRömijchen und Ka oniichen 
Sinne gerechnet werden können, 3. B. Kunftinjtitute, nach modernem Re lt, 
jo liegt heutzutage fein Bedürfniß vor, die jog. milden ©. als eine eigene, befon 
rechtlichen Normen unterworfene Klaffe zu behandeln. Die allgemeine Rechtötheorie 
der S. überhaupt iſt ebenfalls auf fie anwendbar. Für fie befteht alfo aud die 
heute noch nicht zum Austrag gebrachte Streittrage, ob die ©., ſofern nicht ihre 
Zwede durch Eigenthumsübertragung mit einem Modus an andere Perfonen erfüllt 
werden Sollen, als juriftiiche Perfonen oder die für Stiftungszwecke ausgeſetzten 
Vermögensmaſſen ala jog. Zwedvermögen aufzufaflen find. Ueber die Entitehung 
der jog. milden ©., die Verwaltung und den Untergang derjelben müſſen ebentalls 
die allgemeinen Regeln zur Anwendung fommen. Dagegen fann der Grundiat, 
daß ihr Vermögen die Privilegien des KHirchengutes genießt, nicht mehr ala gemein 
rechtlich geltend angejehen werden, weil die bezüglichen Vorjchriften fich nicht auf 
die modernen, von der Kirche unabhängigen ©. beziehen. Dieſen Standpunkt nimmt 
in allen Beziehungen das Sächſ. BGB. ein (j. 88 52, 150 ff., 260 ff.), während 
das Preuß. Allg. LR., welches überhaupt die juriftischen Perfonen nirgends im 
Zuſammenhang behandelt, wenigitens den „vom Staate ausdrüdlich oder ftill- 
jchweigend genehmigten Armen: und Berforgungsanftalten” hinfichtlich ihres Ver— 
mögens die Rechte der Kirchengüter beilegt (Ih. II. Tit. 19 88 41, 43), und auch 
nah dem Defterr. BGB., das die Negeln über die S. in „die politifchen Ver— 
ordnungen“ vertiefen hat ($ 646), wohl dem Stiftungsvermögen die Privilegien der 
ss 1472, 1485 (betreffend die Verjährung) beizulegen find. 

Quellen: 11.35, 42, 46 C. de episc. et cleric. 1, 3; Nov. CXXXIL c. 10, 11; 


c. 2 X. de relig. dom. III. 36; Clem. 2 h. t. III. 11; conc. Trid. Sess. XXI. c. 8 ss. de 
reform. 

Lit.: Brendel, Das Recht u. die Verwaltung der milden Stiftungen, Zeipz. 1814. — 
Pfeifer, Die Lehre von den juriftiihen Perfonen nad Gemeinem und Württemb. Redt, 
Tüb. 1847. — Roth, Ueber Stiftungen, in vd. Gerber's u. Jhering’3 Jahrb. f. Dogmatif 
des Fre Privatrechts, I. 189 ff. — Brinz, Lehrb. ber Pandelten, 2. Abth. S. 979 fi. — 
9. Böhlau, Rechtsſubjekt und Perfonenrolle, Weimar 1871. — €. Zitelmann, Begrif 
und Weſen der fog. jurift. Perfonen, Leipz. 1873. — Bolze, Der Begriff der juriftiichen 
Perjon, Stuttg. 1879, ©. 185. sl. Hinſchius. 


Stöckhardt, Heinrich Robert, 5 11. VIII. 1802 zu Glauchau, lehrte ale 
Dozent 1824—1828 in Leipzig, wo er neben der jur. auch die philoj. Doktorwürde 
erwarb, dann Sachwalter in Bauben, 1831 als ord. Prof. d. Röm. Recht und 
K. Ruf. Hofrath an das K. Pädag. Hauptinftitut in St. Petersburg berufen, 
1835 auch an der K. Rechtsſchule angeftellt, T 10. X. 1848, 


Schriften: Die Wiſſenſchaft des Rechtes oder das Naturrecht, Leipz. 1825. — Tafeln 
der Geſchichte des Römischen Rechts, Leipz. 1828. — Tab. illustr. doctr, de cognat. et 
adfinit, inserviens, Leipz. 1830. — De juris Justinianei in generis humani cultum insign! 
merito oratio, St. Petersb. 1834. — Allgem. juriftiiche Fundamentallehre, 1838. — Juriſt. 
Propäbeutit 1838, 2. Aufl. 1843. — De recta jurisc. eruditione prax. justit. fonte oratio, 
1340. — De fructibus iis quos, qui jeti. non sunt, e jprud. percipere possunt, 1845. — 
Hauboldi memoria, 1847. — Themis von Elvers, II. (1830) 265—292. — Krit. Jahrb. von 
Richter und Schneider, 1840 ©. 75 fi., 659 ff., 951 ff.; 1841 ©. 328 ff, 412 ff.; 1842 
S. 91 ff.; 1843 ©. 574 fi, 673 ff.; 1845 ©. 572 fi, 859 fie; 1846 ©. 1115 fi; 1 
e. 762 fi.; 1848 ©. 372 ff. 

Kit: Richter und Schneider’'3 Krit. Jahrb. XXIV. 956—958. 

Teichmann.